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German Pages 209 [219] Year 2014
Michael Jungert/Elsa Romfeld/ Thomas Sukopp/Uwe Voigt (Hrsg.)
Interdisziplinarität Theorie, Praxis, Probleme 2. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., durchgesehene und um ein aktuelles Vorwort erweiterte Ausgabe © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Additive Farbmischung der Grundfarben – © PROBilder – fotolia.com Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26256-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-26287-8 eBook (epub): 978-3-534-26288-5
Inhaltsverzeichnis Geleitwort von Klaus Mainzer: Interdisziplinarität und Schlüsselqualifikationen in der globalen Wissensgesellschaft......................................................................................... VI Vorwort zur zweiten Auflage......................................................................................... IX Vorwort zur ersten Auflage........................................................................................... XII
Theorie der Interdisziplinarität MICHAEL JUNGERT Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität ................................................................. 1 THOMAS SUKOPP Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte ............................................................................................ 13 UWE VOIGT Interdisziplinarität: Ein Modell der Modelle ............................................ 31 GERHARD VOLLMER Interdisziplinarität – unerlässlich, aber leider unmöglich? .......... 47
Praxis der Interdisziplinarität ULRICH FREY Im Prinzip geht alles, ohne Empirie geht nichts – Interdisziplinarität in der Wissenschaftstheorie ............................................................. 77 HILARY KORNBLITH Erkenntnistheorie und Kognitive Ethologie ................................ 89 BERTOLD SCHWEITZER „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“: Wissenschaftstheorie und interdisziplinäres Arbeiten ............ 109 BERNULF KANITSCHEIDER Epikur als Wegbereiter einer interdisziplinären Ethik ..... 129 ELSA ROMFELD Über die Rolle des Moralphilosophen in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien ....................................................... 143
Probleme interdisziplinärer Zusammenarbeit WINFRIED LÖFFLER Vom Schlechten des Guten: Gibt es schlechte Interdisziplinarität? ...................................................................................................... 157 THOMAS POTTHAST Epistemisch-moralische Hybride und das Problem interdisziplinärer Urteilsbildung .................................................................................. 173 IAN HACKING Verteidigung der Disziplin ................................................................... 193 Autorenverzeichnis ...................................................................................................... 207
Geleitwort: Interdisziplinarität und Schlüsselqualifikationen in der globalen Wissensgesellschaft Interdisziplinarität ist kein unverbindlicher Wunsch für akademische Festreden. Im weltweiten Wettbewerb globaler Märkte sind besonders hoch entwickelte Gesellschaften wie diejenige der Bundesrepublik Deutschland auf die Innovationsdynamik ihrer Menschen angewiesen. Innovation setzt Kreativität voraus, die sich zunehmend in interdisziplinären Forschungsclustern bündelt. Innovationen entstehen heute vorwiegend fachübergreifend an den Schnittstellen traditioneller Fächergrenzen. Die Probleme dieser Welt kümmern sich nämlich nicht um traditionelle Organisationsstrukturen von Disziplinen und Fakultäten. Umwelt, Klimawandel, Energie, Materialforschung, Life Science und Gesundheit, um nur einige zu nennen, sind problemorientierte Forschungsgebiete, die viele Fächer interdisziplinär verbinden, über traditionelle Fächergrenzen hinausgehen und in neuen Forschungsclustern zusammenwachsen. Man spricht daher auch von transdisziplinärer Forschung. Damit erlebt der traditionelle Begriff der Interdisziplinarität einen Bedeutungswandel. In der Vergangenheit wurden Plattformen für interdisziplinäre Dialoge geschaffen, um den Erkenntnisgewinn durch den Austausch von Wissen zwischen den Disziplinen zu fördern. Heute zielt problemorientierte („transdisziplinäre“) Forschung darauf ab, aus der Grundlagen- und angewandten Forschung zur Gestaltung neuer Produkte und neuer Handlungskompetenz zu kommen. Sie wird damit zu einem entscheidenden Faktor für die Sicherung zukünftiger Märkte und der Lebensqualität einer Gesellschaft. Diese Entwicklung hat wiederum Konsequenzen für unser Bildungssystem, für die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit in Unternehmen wie auch für die öffentlich getragene Forschung. Kurzum: Inter- und transdisziplinäre Forschung führt heute zu Innovation und neuen Märkten. Ausbildung hat diesem Anforderungsprofil Rechnung zu tragen. Inter- und Transdisziplinarität werden zur Schlüsselqualifikation. In einer komplexen und globalen Welt reicht eine hoch spezialisierte Fachausbildung mit regionaler Orientierung nicht aus. Strategische Voraussetzung sind vielmehr Interdisziplinarität und Interkulturalität. Im Rahmen der Bologna-Vorgaben sind in jedem Studiengang bestimmte Creditpoints für fachübergreifende Veranstaltungen vorgesehen. Hier muss sich die Philosophie neu aufstellen. Sie ist seit der Antike der Ursprung der Wissenschaften, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter spezialisiert haben. Noch Newton als Begründer der neuzeitlichen Physik hatte einen Lehrstuhl für Naturphilosophie (natural philosophy) inne, während sein Landsmann Adam Smith als Begründer der Wirtschaftswissenschaften einen Lehrstuhl für Moralphilosophie (moral
Geleitwort
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philosophy) besaß. Philosophie fragt auch heute noch nach den Prinzipien (Ursprüngen) unseres Wissens und seinen fachübergreifenden (interdisziplinären) Zusammenhängen in den verschiedenen Disziplinen, um so verantwortungsvoll entscheiden und handeln zu können. Daher gehören Logik, Grundlagen der Wissenschaften und Ethik seit der Antike in der Philosophie zusammen. Problem- und praxisorientierte interdisziplinäre Vernetzung mit den Wissenschaften macht das besondere Profil der Philosophie in der globalisierten Wissensgesellschaft aus. Entscheidend dabei ist, dass Philosophie und Wissenschaftstheorie in den einzelnen Fächern der Ingenieur-, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften verankert sind. Nur durch den ständigen Forschungs- und Lehrkontakt wird nämlich verhindert, dass Philosophen in den Wolken der Abstraktion abheben, sich in der Historie der Disziplin verkriechen und den Kontakt zur Wissenschaft verlieren. Nur so wird aber auch die notwendige Grundlagendiskussion in den Wissenschaften von Seiten der Philosophie angeregt. Das setzt allerdings in z.B. Mathematik, Informatik, Physik, Biologie, Soziologie und BWL entsprechend ausgebildete Philosophen voraus, die in diesen Disziplinen als kompetent akzeptiert werden (was in der deutschen Berufungspraxis der Philosophie leider zu wenig berücksichtigt wird). Ein aktuelles Beispiel für ein interdisziplinäres und interkulturelles Zentralinstitut ist die Carl von Linde-Akademie der Technischen Universität München, die in der Forschung eng mit dem Institute of Advanced Study (IAS) zusammenarbeitet. Dabei werden Philosophen mit methodisch-erkenntnistheoretischen und/oder ethischen Fragen in Exzellenzcluster der interdisziplinären Forschung eingebunden. Damit eröffnet sich eine neue Qualität der Kooperation von Philosophie und Wissenschaft. Traditionell arbeitete z.B. ein physikalisch kompetenter Philosoph über Interpretationen der Quantenmechanik oder Grundlagen der Mathematik. Diese Aufgaben bleiben natürlich auf hohem Niveau bestehen. In interdisziplinären Forschungsclustern der Medizin (z.B. Aging Society), Life Sciences (z.B. Systembiologie), Robotik (z.B. Cognition in Technical Systems), Neurowissenschaften (z.B. Theory of Mind), Umwelt- und Innovationsforschung (z.B. Innovation und Nachhaltigkeit), Risiko- und Komplexitätsforschung etc. sind Philosophen aber teilweise selber an der Theorieentwicklung oder an Strategiedebatten über Ausrichtung von Forschung beteiligt oder in Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz oder in der ethischen Beratung gefordert. In diesen interdisziplinären Forschungsclustern zeichnet sich die Universität von morgen ab. Sie liegen quer zu den traditionellen Fakultätsunterscheidungen von Technik-, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Hinter diesen veralteten Fakultätsgrenzen stehen häufig überholte Begriffsunterscheidungen aus früheren Jahrhunderten wie z.B. „Geist“ und „Materie“, „Materialismus“ und „Idealismus“, die diffus und leer wurden und den Kontakt zur Forschungsrealität längst verloren haben. Weder ist „Materie“ ein Grundbegriff z.B. der Physik (bestenfalls „Masse“), noch wird „Geist“ in den Neuro- und Kognitionswissenschaften untersucht (bestenfalls durch Beobachtung, Experiment und Messtechnik bestimmte kognitive Prozesse). Zudem entstammt diese metaphysische Unterscheidung der abendländischen Tradition und wurde in anderen Erdteilen keineswegs geteilt. Hier kommt eine immense Arbeit auf Philosophie und Wissenschaftstheorie zu, damit ihre Begriffsanalyse auch in der modernen Forschung greift.
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Klaus Mainzer
Der vorliegende Sammelband möchte Theorie, Praxis und Probleme der Interdisziplinarität behandeln und sich dadurch dieser Herausforderung auf angemessene Weise stellen: Er beschäftigt sich mit grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Themen, der Bedeutung unterschiedlicher Interdisziplinaritätsbegriffe oder adäquaten Modellen interdisziplinärer Beziehungen. Zudem greift er konkrete interdisziplinäre Forschungsfragen auf, etwa nach der Rolle der Philosophie in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien oder nach Möglichkeiten und Limitationen einer naturalistischen Wissenschaftstheorie. Im „Problemteil“ gilt es, die spezifischen Schwierigkeiten und Grenzen interdisziplinärer Kooperation zu beleuchten und dadurch zu einer Sensibilisierung für entsprechende Probleme beizutragen. All dies findet in der bisherigen wissenschaftstheoretischen Literatur vergleichsweise wenig Berücksichtigung; die folgenden Beiträge sind Schritte auf dem Weg, diese Lücke zu schließen. München im November 2009 Klaus Mainzer
Vorwort zur zweiten Auflage Als vor gut drei Jahren die erste Auflage dieses Sammelbandes erschien, war es das Anliegen der Herausgeber1, eine Forschungslücke zu schließen. Dass diese Lücke tatsächlich bestand und der Band eine rege Forschungsdiskussion in Gang gesetzt hat, zeigt neben mehreren Rezensionen und der Rezeption in zahlreichen Veröffentlichungen auch die Notwendigkeit einer zweiten Auflage nach so kurzer Zeit. Mit diesem Vorwort möchten wir die Relevanz und Aktualität der vielfältigen Debatten im Kontext von Interdisziplinarität vor dem Hintergrund der neuesten Entwicklungen im Fachdiskurs und in öffentlichen Diskussionen noch einmal verdeutlichen. Nach wie vor stellt sich die Aufgabe, neu und gründlich über Interdisziplinarität nachzudenken;2 sie steht unvermindert im Zentrum kontroverser Debatten, und dies aus mehreren Gründen: Zum einen wächst das Bewusstsein dafür, dass mit der immer stärker werdenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen und Teildisziplinen auch deren wechselseitige Abhängigkeit zunimmt, wodurch die einzelnen Fächer gezwungen werden, ihre Identität innerhalb eines komplexen und dynamischen wissenschaftlichen Beziehungsnetzes zu überdenken. Eine solche Reflexion möglichst aller Disziplinen kann dazu beitragen, den immer wieder von einzelnen Wissenschaften formulierten Anspruch auf eine Führungs- und Leitbildrolle zu relativieren. Dies wirkt nicht zuletzt der Gefahr vorschnell ausgerufener „science wars“3 entgegen. Die Kandidaten für Wissenschaften, denen intern oder extern eine Führungsrolle zugetraut wird, sind nach wie vor zahlreich: Gegenwärtig werden etwa Neurowissenschaften, Nanowissenschaften, die Genetik im Speziellen oder die Biologie im Allgemeinen genannt. Die Ökonomie wird gelegentlich als „imperialistische Sozialwissenschaft“4 bezeichnet, der Physik im Vergleich zur Chemie eine hierarchische Überlegenheit zugeschrieben. 5 Nur eine unaufgeregte und sachliche Diskussion der wechselseitigen methodischen und inhaltlichen Beziehungen zwischen den Wissenschaften vermag dieser Tendenz entgegenzuwirken und die tatsächliche oder vermeintliche Kluft zwischen vor allem den 1
Wenn hier und in der Folge gelegentlich ein Ausdruck im Maskulinum verwendet wird, wo auch ein Femininum oder eine neutrale Form stehen könnte (oder umgekehrt), geschieht dies ausschließlich um der sprachlichen Ökonomie willen. 2 Vgl. Gloria Origgi / Fréderic Darbellay (Hg.) (2010): Repenser l’interdisciplinarité. Genf: Editions Slatkine. 3 Siehe etwa Keith M. Parsons (Hg.) (2003): The Science Wars. Debating Scientific Knowledge and Technology. Amherst: Prometheus Books. 4 Gerhard Kirchgässner (2009): „Ökonomie: Die imperialistische Sozialwissenschaft“. In: Peter Rusterholz / Rut Meyer Schweizer / Sara Margarita Zwahlen (Hg.): Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 59-95; hier S. 59ff. 5 Carsten Reinhardt (2011): „Habitus, Hierarchien und Methoden: ‚Feine Unterschiede‘ zwischen Physik und Chemie“. In: N.T.M 19/ 2, S. 125-146; hier S. 136f. und S. 142.
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Michael Jungert, Elsa Romfeld, Thomas Sukopp, Uwe Voigt
Geistes- und Naturwissenschaften zu überwinden. 6 Ein erster Schritt in diese Richtung kann sein, auch in den sich als klassische Geisteswissenschaften verstehenden Fächern eine Vielfalt an Methoden und Modellbildungen zu erkennen, die nicht als exklusiv „geisteswissenschaftlich“ erachtet werden können. Die Geschichtswissenschaften etwa greifen auf Methoden und Ergebnisse der Archäologie und der Ökonomie zurück. Literaturwissenschaftler verwenden nicht nur Erkenntnisse und Theorien der Geschichtswissenschaften und der Philosophie, sondern nutzen beispielsweise für die Analyse der Beziehung von Erinnerung und Identität in literarischen Werken oder für die Fundierung von Narrativitätskonzepten auch naturwissenschaftliche, speziell kognitionspsychologische Befunde.7 Zudem überschreiten einige Disziplinen die alten Grenzen zwischen Natur-, Geistes- und Sozial- bzw. Kulturwissenschaften. Ein Beispiel dafür ist die Psychologie, die als Hybrid aus Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften angesehen werden kann. Da Wissenschaftler oft an gemeinsamen Problemen arbeiten, stellt sich insbesondere bei sehr komplexen Themen die fächerübergreifende Kooperation als wichtige Voraussetzung für Interdisziplinarität dar. Prominente Beispiele sind etwa Kognitionswissenschaften, Nachhaltigkeitsforschung und Nanowissenschaften, bei denen die Frage nach den Unterschieden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften – wenigstens idealiter – zum Wohle einer gemeinsamen Problemlösung zurücktritt. Zum anderen besteht noch immer die Gefahr, dass Interdisziplinarität nur als äußerlicher, rein wissenschaftspolitischer Anspruch – als „Interdisziplinierung“8 – für Forschung und Lehre erscheint. Hier ist es nach wie vor wichtig, zwischen Lippenbekenntnissen und tatsächlich angestrebter oder gar erfolgreich umgesetzter Interdisziplinarität zu unterscheiden. Es mag zwar richtig sein, dass Interdisziplinarität oft gefördert und noch öfter gefordert wird. Allein die Verwendung des schmückenden Beiworts interdisziplinäre Forschung macht Forschung aber noch nicht besser. Daran ändern auch die Impulse aus dem im weitesten Sinne (wissenschafts-)politischen Bereich wenig, die Interdisziplinarität als unverzichtbar, ja geradezu als überlebensnotwendig darstellen. Der Sonntagsreden wahrer Kern: Die gemeinsame Gestaltung einer globalen Weltgesellschaft in einer fragilen Umwelt kann nur interdisziplinär geleistet werden, und zwar gerade so, dass dies auch die Reflexion über die Komplexität nicht zuletzt der interdisziplinären Beziehungen selbst mit umfasst. Das Desiderat einer grundsätzlichen, philosophischen Beschäftigung mit Interdisziplinarität scheint daher zunehmend stärker zu werden: Immer wenn sich Disziplinen im Dialog befinden, wenn sie wechselseitig ihre Theorien und Modelle diskutieren, wenn Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen kooperieren möchten, dann ist das Nachdenken über die Kooperationsbedingungen als Voraussetzung für interdisziplinäre Zusammenarbeit essenziell. Dabei geht es um grundlegende Aspekte: etwa um die Frage, wo sich Theorie- und Modellbildungen in6 Siehe Edward Slingerland / Mark Collard (Hg.) (2012): Creating Consilience. Integrating the Sciences and the Humanities. Oxford: Oxford University Press. 7 Siehe etwa Birgit Neumann (2005): „Literatur, Erinnerung, Identität“. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. Berlin: De Gruyter, S.149-178. 8 Siehe Jutta Weber (Hg.) (2010): Interdisziplinierung? Zum Wissenstransfer zwischen den Geistes-, Sozial- und Technowissenschaften. Bielefeld: transcript.
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nerhalb der Disziplinen unterscheiden, wie Begriffe möglichst verlustfrei übersetzt werden können und ob die Beteiligten jeweils über gleiche oder mindestens über ähnliche Gegenstände sprechen. Diverse Anregungen für eine solche Reflexion, welche die vielfältigen Chancen der Interdisziplinarität ergreift, ohne blind für ihre Risiken zu sein, finden sich im vorliegenden Band. Die Herausgeber möchten noch einmal allen Autoren danken, deren facettenreiche Beiträge den Erfolg des Bandes ermöglicht haben. Den Rezensenten der ersten Auflage ist für die positive Resonanz ebenso zu danken wie den vielen Kolleginnen und Kollegen, die, trotz mancher kritischer Kommentare, die Herausgeber insgesamt in ihrer Einschätzung der Notwendigkeit und Bedeutung des Bandes bestärkt haben. Frau Cana Nurtsch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft gebührt unser herzlicher Dank für ihr Engagement bei der Gestaltung dieser zweiten Auflage. Bonn, Mannheim, Siegen und Augsburg im April 2013 Die Herausgeber
Vorwort zur ersten Auflage Die gegenwärtige Wissenschaftstheorie gilt weithin als eine Disziplin, deren Anliegen es ist, die Verfahrensweisen der Wissenschaften philosophisch zu reflektieren und dabei insbesondere auf ungelöste Fragen und kritische Punkte der Wissenschaftsentwicklung einzugehen. So verstandene Wissenschaftstheorie sollte sich auch und gerade mit den grundlegenden Problemen beschäftigen, die sich den Wissenschaften in ihrem aktuellen Vollzug stellen. Zu diesen Problemen zählt offenkundig die Interdisziplinarität: Obwohl Interdisziplinarität seit einigen Jahrzehnten von vielen Seiten gefordert, gefördert und – zumindest dem Anspruch nach – auch praktiziert wird, bleibt es nach wie vor notorisch unklar, was darunter überhaupt zu verstehen ist (vgl. dazu die Beiträge von Michael Jungert, Thomas Sukopp und Uwe Voigt). Diese Unklarheit bewegt sich nicht in dem für einzelwissenschaftliche Begriffe üblichen Rahmen, der einen pragmatischen Umgang mit nicht restlos geklärten Begriffen duldet und vielleicht sogar ratsam erscheinen lässt. Im Fall der Interdisziplinarität verhält es sich anders: Fehlende Klärung dessen, was unter Interdisziplinarität zu verstehen ist, behindert den Prozess wissenschaftlicher Forschung: Angefangen von trivialen Missverständnissen – ein lehrreiches Beispiel dafür ist die Darstellung naturwissenschaftlicher Sachverhalte durch einen dezidiert geisteswissenschaftlichen Theoretiker (siehe den Beitrag von Gerhard Vollmer) – über massive Konflikte in Forschungsgruppen bis hin zum Scheitern ganzer Sonderforschungsbereiche. Angesichts solcher Misslichkeiten gerät der Begriff der Interdisziplinarität selbst unter den Verdacht, ein bloßes Werkzeug wissenschaftspolitischer Rhetorik zu sein, das der Wissenschaft keinen Nutzen bringt, sondern sie nur belastet. Zur Bewältigung derartiger prinzipieller begrifflicher Schwierigkeiten beizutragen, ist seit jeher eine Aufgabe der Philosophie. Dies trifft insbesondere im Fall der Interdisziplinarität zu, in dem ja explizit nicht nur eine einzelne Disziplin betroffen ist und der daher eine Meta-Disziplin erfordert, die über die üblichen disziplinären Grenzen hinauszuschauen vermag. Mit dem Anspruch, dies leisten zu können, tritt Philosophie für gewöhnlich auf. Und da es sich beim Problemfeld um die Wissenschaften handelt, steht hier eindeutig die Wissenschaftstheorie als philosophische Disziplin in der Pflicht. Eine klärende Antwort auf die Frage, was Interdisziplinarität ist, wäre demnach eine ebenso dringend erforderliche wie geschuldete Dienstleistung der Wissenschaftstheorie für die Einzelwissenschaften. Dieser Aufgabe kommt die Wissenschaftstheorie jedoch allem Anschein nach kaum nach. Diesen Befund bestätigt ein Blick in beliebige wissenschaftstheoretische Werke neueren Datums, in denen Interdisziplinarität meistens überhaupt nicht oder nur am Rande erwähnt wird. Die ausdrückliche Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität geschieht gegenwärtig weitgehend in den verschiedenen Einzelwissenschaften, etwa in der Literaturwissen-
Vorwort
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schaft, Mentalitätsgeschichte, Physik, Politologie oder Soziologie. Dabei kommen zwar immer wieder auch wissenschaftstheoretische Ansätze zur Anwendung; die einzelnen Standpunkte sind aber – völlig legitimerweise – von den jeweiligen einzelwissenschaftlichen Perspektiven geprägt, daher aber auch der Gefahr ausgesetzt, diese je eigenen Vorgaben gegeneinander durchsetzen zu wollen. Das Fehlen eines allgemeinen, zu bestmöglicher Reflexion verpflichtenden Forums, wie es ein philosophischer bzw. wissenschaftstheoretischer Diskurs über Interdisziplinarität sein könnte und sollte, macht sich dabei bemerkbar. Wie aus den Autoreninformationen hervorgeht, sind die Herausgeber dieses Bandes auf den Arbeitsfeldern der Philosophie tätig, und zwar auch und gerade so, dass sie dabei aktiv interdisziplinäre Beziehungen pflegen. Daher haben sie dieses Desiderat bemerkt und versuchen, ihm mit vorliegendem Band zu begegnen. Zwar liegt damit nicht die zunehmend als längst überfällig geforderte wissenschaftstheoretische Monographie zur Interdisziplinarität vor. Es wird aber stattdessen weniger und mehr geboten: Weniger, insofern mit diesem Band nicht der Anspruch verbunden ist, einen einzigen oder vielleicht sogar den einzigen wissenschaftstheoretischen Standpunkt zu bieten, was Interdisziplinarität betrifft. Mehr, da gerade dadurch eine Vielfalt von Positionen zur Sprache kommt. Wer auch immer die dringend erforderliche Monographie zur Wissenschaftstheorie der Interdisziplinarität schreibt, wird sich mit diesen Positionen auseinandersetzen müssen und kann von ihnen Anregungen beziehen. Es liegen hier Beiträge vor, die sich entweder unmittelbar aus wissenschaftstheoretischer Perspektive auf ihren Gegenstand richten, oder diese Perspektive doch wenigstens implizit berücksichtigen. Dabei ergibt sich folgende Gliederung, wobei die Beiträge innerhalb der Sektionen nach systematischen Kriterien sortiert sind: Theorie – Praxis – Probleme: Im ersten Teil (mit den Beiträgen von Michael Jungert, Thomas Sukopp, Uwe Voigt und Gerhard Vollmer) geht es um philosophisch-wissenschaftstheoretische Vorklärungen. Ist Interdisziplinarität überhaupt möglich? Was wird in verschiedenen Kontexten unter diesem Begriff verstanden? Warum wird er nicht auf die eigentlich erforderliche Weise geklärt, wie könnte es zu einer derartigen Klärung kommen, und was wäre deren mögliches Ergebnis? Die Theorie muss, wie immer in der Wissenschaftstheorie, von einem kundigen Blick auf die Praxis begleitet und mit geleitet werden. Diesen Blick an Beispielen zu schärfen, ist Anliegen des zweiten Teils (mit den Beiträgen von Ulrich Frey, Hilary Kornblith, Bertold Schweitzer, Bernulf Kanitscheider und Elsa Romfeld), der zugleich Fragen der Beziehungen zwischen konkreten Einzeldisziplinen behandelt und insbesondere auch die Philosophie in diesem Zusammenhang zu positionieren sucht. Ein wichtiges Anliegen war den Herausgebern nicht zuletzt der dritte Teil zu den Problemen der Interdisziplinarität (mit den Beiträgen von Ian Hacking, Winfried Löffler und Thomas Potthast), da es in dieser Publikation auf keinen Fall zu einer unkritischen Verherrlichung von Interdisziplinarität kommen sollte. Auch die Schwierigkeiten dieser Konzeption – wenn es denn eine Konzeption bzw. eine Konzeption ist – sowie ihre möglichen Grenzen gilt es zu erkunden und zur Diskussion zu stellen. Wenn diese Beiträge dabei helfen, Interdisziplinarität als ein wichtiges Forschungsobjekt innerhalb der Wissenschaftstheorie zu verankern, dann hat dieser Band sein Ziel
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erreicht. Dass an verschiedenen Orten bereits auf dieses Ziel hin gearbeitet wird, geht auch aus dem Geleitwort von Klaus Mainzer hervor. Ihm gilt unser herzlicher Dank ebenso wie den folgenden beteiligten Personen und Institutionen: Die Herausgeber danken E. Ribes-Iñesta, J. Burgos und der University of Guadalajara Press für die Genehmigung der deutschen Erstübersetzung von Hilary Kornbliths Epistemology and Cognitive Ethology. (Alle anderen hier versammelten Aufsätze sind Originalbeiträge.) Herrn Dr. Bernd Villhauer gebührt Dank dafür, dass er als zuständiger Lektor diesen Band in das Programm der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft aufgenommen und sein Entstehen umsichtig begleitet hat. Dem Metanexus Institute danken die Herausgeber für die finanzielle Unterstützung bei der Publikation des Bandes. Für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts danken wir Sebastian Schleidgen, Izabela Zerebjatjew, Maurizio Spada, Nikolai Roskinski und Alexander Klimo sowie Torben Quasdorf und Hannes Rusch für die Übersetzung der Beiträge von Ian Hacking und Hilary Kornblith. Cambridge (Mass.), Mannheim, Braunschweig und Augsburg im November 2009 Die Herausgeber
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Was zwischen wem und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdisziplinarität 1. Vorbemerkungen Es gibt nur wenige Begriffe in der aktuellen Wissenschaftsdiskussion, bei denen die Diskrepanz zwischen Verwendungshäufigkeit und theoretischer Reflexion so groß ist wie im Fall der Interdisziplinarität. Kaum ein Kontext, in dem sie nicht als förderlich erachtet, kaum ein Tag, an dem sie nicht in wissenschaftspolitischen Debatten als unverzichtbare Schlüsselkompetenz1 postuliert wird. Angesichts dieser Fülle alltäglicher Verwendungen und Forderungen erstaunt die starke „wissenschaftsphilosophische Zurückhaltung“ (Schmidt 2005, S. 12) in Sachen Interdisziplinarität: In vielen wissenschaftstheoretischen Werken wird sie gar nicht oder nur knapp und häufig implizit behandelt (vgl. den Beitrag von Uwe Voigt in diesem Band), ihr begrifflicher Gehalt sowie die unterschiedlichen Dimensionen, in denen ihr Bedeutung zukommen kann, bleiben oft unscharf. Dieser Beitrag hat das Ziel, einige Bedeutungsfacetten und grundsätzliche Problemdimensionen des Interdisziplinaritätsbegriffs zu skizzieren. Dazu gehören die Analyse verschiedener Interdisziplinaritätsbegriffe und -auffassungen sowie Fragen nach Art, Gegenstand und Motiven interdisziplinärer Zusammenarbeit. Dadurch soll ein begrifflicher Rahmen für den vorliegenden Band geschaffen und ein Überblick über einige „Baustellen“ im Kontext von Interdisziplinarität gegeben werden.
2. Was? Multi-, Pluri-, Cross-, Inter- und Transdisziplinarität – die verwirrende Vielfalt von Interdisziplinaritätsbegriffen Die Unschärfe des Interdisziplinaritätsbegriffs beginnt schon damit, dass neben ihm zahlreiche „konkurrierende“ Begriffe existieren, die ebenfalls in irgendeiner Weise mit dem Verhältnis wissenschaftlicher Disziplinen zueinander zu tun haben, sich in ihrer Bedeutung teilweise überschneiden und sehr uneinheitlich gebraucht werden: „The literature on interdisciplinarity issues is often confusing. One reason is that the authors who concern themselves with interdisciplinarity do not use a uniform terminology“ (Kockelmans 1979, S. 123). Zwar stammt dieses Zitat von Joseph Kockelmans aus dem 1 Natürlich ist die Interdisziplinarität selbst keine Kompetenz, sondern vielmehr die Fähigkeit zum interdisziplinären Arbeiten, die in wissenschaftspolitischen Debatten häufig für „zukunftsweisende“ Forschung gefordert wird.
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Jahr 1979, die Problematik terminologischer Konfusionen besteht jedoch bis heute. Neben die Vielfalt verschiedener Begriffe im Kontext „disziplinenübergreifende[r] Wissenschaftspraxis“ (Balsiger 2005, S. 142) treten zudem unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs der Interdisziplinarität. Wir beginnen daher mit der Charakterisierung und Klassifizierung von Begriffen, die (im weiteren und engeren Sinne) mit disziplinübergreifender Zusammenarbeit zu tun haben.2 Der Begriff der Multidisziplinarität findet sich bereits seit den 1950er Jahren in der Literatur (vgl. Luszki 1958 und Balsiger 2005). In der Mehrheit seiner Verwendungsweisen impliziert er ein disziplinäres Nebeneinander auf demselben bzw. einem ähnlichen Themengebiet ohne (strukturierte) Zusammenarbeit oder fachübergreifende Synthesebemühungen der einzelwissenschaftlichen Ergebnisse. Die beteiligten Disziplinen widmen sich zwar dem gleichen Thema, jede Disziplin für sich jedoch nur jenen Teilaspekten des Problems, die sich in ihrem genuinen Gegenstandsbereich befinden, ohne dabei von fachübergreifenden forschungsleitenden Fragestellungen auszugehen. Die Einzelergebnisse solcher Forschung können zwar wichtige Beiträge zur Erhellung bestimmter Aspekte liefern, gleichwohl fehlen Motiv und Methodik, um diese aufeinander zu beziehen und nach der wechselseitigen Bedeutsamkeit disziplinärer Erkenntnisse zu fragen (vgl. Balsiger 2005, S. 152–156). Der Unterschied zu rein disziplinärer Forschung liegt jedoch darin, dass zumindest eine minimale Kenntnisnahme der Forschungsbemühungen anderer Fächer erfolgt,3 wie sie sich etwa häufig in gerne mit „interdisziplinär“ betitelten Sammelbänden findet, in denen die Vertreter verschiedener Disziplinen ihre Ergebnisse zwar mit dem Bewusstsein um die Existenz andersartiger Annäherungen an den Forschungsgegenstand aneinanderreihen, ohne dabei jedoch ernsthafte Versuche der Bezugnahme oder gar Integration zu unternehmen. Natürlich kann auch diese vergleichsweise schwache Form der Kooperation zu guten Ergebnissen führen, indem sie zur Perspektivenerweiterung der beteiligten Wissenschaftler beiträgt oder – etwa im Fall multidisziplinärer Expertengremien – praktische Entscheidungsfindung ermöglicht. Pluridisziplinarität wird häufig synonym mit Multidisziplinarität verwendet. Einige Autoren grenzen jedoch beide voneinander ab und bezeichnen Pluridisziplinarität als „die erste Stufe eigentlicher Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen“ (Balsiger 2005, S. 147). Als Unterscheidungsmerkmal dient dabei, dass das bloße Nebeneinander von Disziplinen im Sinne von Multidisziplinarität um die Absicht ergänzt wird, „to enhance the relationship between them“ (Jantsch 1970, S. 411). Diese Art der Kooperation beinhaltet keine speziellen Koordinationsbemühungen und findet zumeist zwischen „verwandten“ Fächern auf gleicher hierarchischer Ebene statt. Als Beispiel lassen sich disziplinär jeweils homogene Forschergruppen aus unterschiedlichen Fächern anführen, die innerhalb ihres Fach- und Methodenspektrums an gemeinsamen Themen arbeiten und zwischen denen ein loser, nicht koordinierter oder strukturierter 2
Dieser Überblick ist freilich nicht vollständig. Für eine ausführlichere Analyse von Interdisziplinaritätsbegriffen vgl. Balsiger 2005, S. 133-188 sowie, speziell für den Begriff der Transdisziplinarität, Pohl/Hirsch Hadorn 2008. 3 Man könnte hier jedoch auch einwenden, dass diese reine Wahrnehmung anderer Disziplinen bereits im Fall disziplinärer Forschung zutrifft.
Grundsatzfragen der Interdisziplinarität
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Austausch von Ergebnissen und Problemen stattfindet, ohne dass dies Einfluss auf die disziplinäre Matrix (im Sinne Thomas Kuhns, vgl. Kuhn 1977) der beteiligten Fächer hätte oder die disziplinäre Identität der beteiligten Fächer in irgendeiner Weise zur Disposition stünde. Ein (vor allem in der deutschsprachigen Literatur) selten anzutreffender Terminus ist der der Crossdisziplinarität (vgl. Balsiger 2005, S. 143f., Jantsch 1970, S. 18 sowie Kockelmans 1979, S. 81–85). Bei Erich Jantsch, der als einer der ersten den Versuch einer Systematisierung von Interdisziplinaritätsbegriffen unternahm, steht sie zwischen Multi- und Pluridisziplinarität auf der einen, sowie Inter- und Transdisziplinarität auf der anderen Seite. Er charakterisiert sie wie folgt: „The axiomatics of one discipline are imposed upon other disciplines at the same hierarchical level, thereby creating a rigid polarization across disciplines towards a disciplinary axiomatics“ (Jantsch 1970, S. 411). Bei dieser Form disziplinären Miteinanders werden Methoden oder Forschungsprogramme einer anderen Disziplin für das eigene Fach übernommen. Die Verschmelzung bestehender oder die Ausformung neuer Disziplinen ist dabei jedoch kein Ziel. Der Unterschied zu Multi- und Pluridisziplinarität besteht in der Nutzung „fremder“ Ansätze und Erkenntnisse für den eigenen disziplinären Forschungsbereich. Allerdings erweist sich bereits der Versuch, adäquate Beispiele für diesen Typus wissenschaftlicher „Kooperation“ zu finden, als schwierig. So ist etwa im Fall der biologischen Psychologie zwar die Nutzung zahlreicher „fremder“ Methoden (u.a. aus Physik, Medizin und Mathematik) sowie der Verbleib in der „Mutterdisziplin“ gegeben, von einer „rigid polarization“ in Richtung einer spezifischen Axiomatik kann dagegen kaum die Rede sein. Betrachtet man dagegen die Biophysik, so findet sich dort eher solch eine Fokussierung auf spezifische (physikalische) Methoden, jedoch gehen die gegenseitigen fachlichen Wechselwirkungen sowie die Tendenzen zur Bildung einer eigenen Disziplin über Jantschs Konzeption hinaus. Als mögliches Beispiel könnte jedoch die sog. „Formale Erkenntnistheorie“ angeführt werden, die sich zum größten Teil mathematischer Methoden bedient, disziplinär aber im Bereich der Philosophie verbleibt. Kockelmans erweitert den Crossdisziplinaritätsbegriff um die Idee eines „common ground“: „[...] the search for a common ground is the fundamental element of all crossdisciplinary investigation. Without such a common ground there would be no overarching conceptual framework, and thus genuine communication between those who participate in the discussion would be impossible“ (Kockelmans 1979, S. 82). Mit diesem Kriterium geht Kockelmans deutlich über Jantschs Konzeption hinaus, indem er eine fächerübergreifende Basis in Form von gemeinsamer Begrifflichkeit und theoretischem Rahmen als notwendig ansieht. Sind wir mit solch einer starken Konzeption aber inhaltlich nicht schon beim Begriff der Interdisziplinarität angelangt? Tatsächlich sieht Kockelmans sein Crossdisziplinaritätskonzept als mit diesem nah verwandt an, allerdings mit einem Unterschied: „The difference between the two consists primarily in the goal the researcher attempts to achieve. Interdisciplinarians attempt to develop new research fields that eventually will lead to new disciplines. Crossdisciplinarians wish to solve important and urgent problems that cannot be defined and solved from the perspective of any one of the existing disciplines“ (ebd., S. 82). Kockelmans zufolge ist der Hauptunterschied zwischen beiden Kooperationsformen also darin zu sehen, dass inter-
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disziplinäre Zusammenarbeit darauf zielt, neue Forschungsgebiete zu erschließen, die möglicherweise in die Ausdifferenzierung neuer Disziplinen münden, wohingegen crossdisziplinäres Vorgehen innerhalb vorhandener Fächergrenzen verbleibt. Vergleicht man diese Unterscheidung mit dem Großteil alltäglicher (wissenschaftspolitischer) Verwendungsweisen von „Interdisziplinarität“, so fällt auf, dass letztere zumeist auf den Aspekt zielen, den Kockelmanns als zentral für „Crossdiziplinarität“ ansieht (Lösung komplexer Probleme durch Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen) und weniger die Bildung neuer Disziplinen im Blick haben. Seine Begrifflichkeit scheint daher zumindest quer zur Alltagsverwendung von „Interdisziplinarität“ zu liegen. Nachfolgend werfen wir deshalb einen genaueren Blick auf einige Definitionsversuche zum Interdisziplinaritätsbegriff, um dessen unterschiedliche Verwendungsweisen zu erhellen. Balsiger beginnt sein Kapitel zum Begriff der Interdisziplinarität mit dem Hinweis auf die verwirrende Vielfalt von Interdisziplinaritätskonzeptionen, die „allein schon [...] den Verdacht weckt, hier würde das Scheitern eines definitorischen Unternehmens vorliegen“ (Balsiger 2005, S. 157). Weiter schreibt er: „Vielfach bleibt eine Analyse des Begriffs bei der Feststellung stehen, der Begriff sei sehr vage“ (ebd.). Neben die oben aufgezeigten (partiellen) Bedeutungsüberschneidungen mit alternativen Begriffen, wie etwa dem der Crossdisziplinarität, tritt also die Problematik der Binnendifferenzierung des Interdisziplinaritätsbegriffs. Wir werfen zunächst einen knappen Blick 4 auf einige Definitionsversuche und Verwendungsweisen5, wobei auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Begriffs der Transdisziplinarität verdeutlicht werden sollen. Bei Heckhausen findet sich folgende Ausgangsbestimmung von Interdisziplinarität: „Die Rede von der ‚interdisziplinären Forschung‘ besagt gewöhnlich nicht mehr, als daß einige Wissenschaftler, die verschiedenen Fächern angehören, zusammen an einem Problem arbeiten, das so allgemein, alltagsnah oder fachfremd betitelt ist, daß noch kein Vertreter der beteiligten Fächer bereits das Problem unter den Aspekten seiner eigenen Fachlichkeit eingegrenzt und definiert hätte“ (Heckhausen 1987, S. 129). Es fällt sogleich der Aspekt des gemeinsamen Arbeitens an einem Problem auf. Im Fall der Multiund Pluridisziplinarität beschränkt sich das „gemeinsam“, wie wir gesehen haben, auf ein dem Namen nach gleiches Forschungsthema bzw. auf (schwache) Formen gegenseitiger Kenntnisnahme. Im Fall der Interdisziplinarität soll es im Gegensatz dazu um kooperatives wissenschaftliches Handeln, um gemeinschaftliches Forschen gehen. Um einer Antwort auf die Frage näher zu kommen, welche Formen solch gemeinsames Arbeiten anzunehmen und auf welchen Ebenen es sich abzuspielen vermag, haben einige Autoren Binnendifferenzierungen des Interdisziplinaritätsbegriffs vorgeschlagen. Heckhausen unterscheidet die folgenden sechs Erscheinungsformen (Heckhausen 1972, S. 87–89):6
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Für eine ausführlichere Taxonomie von Interdisziplinaritätsbegriffen vgl. Balsiger 2005, S. 157–173. 5 Wir beschränken uns hierbei auf den Bereich der Wissenschaft und lassen andere Verwendungsweisen (wie etwa die Rede von „interdisziplinären Sportarten“ (vgl. Balsiger S. 157)), die Eingang in die Alltagssprache gefunden haben, für unsere Zwecke außen vor. 6 Die deutschen Übersetzungen stammen von Balsiger (Balsiger 2005, S. 159f.).
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1. „Unterschiedslose Interdisziplinarität“ („Indiscriminate Interdisciplinarity“): Heckhausen führt als Beispiel für diesen Typus die Idee des „Studium generale“ an, bei dem Grundlagen verschiedener Fächer „nebeneinander“ gelehrt werden, um Engführungen und zu hoher Spezialisierung im Fachstudium vorzubeugen. Diese Form des Studiums verschafft den Studierenden einen Einblick in verschiedene, z.B. für die Arbeit eines späteren Sozialarbeiters relevante Fachbereiche (etwa Recht, Psychologie, Soziologie). Die Fächer selbst jedoch verbleiben dabei innerhalb ihrer disziplinären Grenzen, wissenschaftsübergreifende Kooperation bzw. Forschung findet nicht statt. 2. „Pseudo-Interdisziplinarität“ („Pseudo-Interdisciplinarity“): Bei Pseudo-Interdisziplinarität handelt es sich nach Heckhausen um die irrige Vorstellung, dass bereits die Tatsache, dass sich verschiedene Disziplinen derselben theoretischen Modelle oder Methoden bedienen, zu „intrinsic interdisciplinarity“ (Heckhausen 1972, S. 87) zu führen vermag. Dabei wird übersehen, dass der Besitz gemeinsamer Methoden bzw. das Arbeiten mit den gleichen theoretischen Modellen bei weitem nicht ausreicht, um die starken Unterschiede der Fächer bezüglich Gegenstandsbereich und theoretischem Integrationsniveau7 so zu überbrücken, dass von gemeinsamer und disziplinübergreifender Forschung gesprochen werden kann. 3. „Hilfsinterdisziplinarität“ („Auxiliary Interdisciplinarity“): Bei dieser Spielart geht es speziell um den Gebrauch „fremder“ Methoden für die eigene Disziplin. Die „Zusammenarbeit“ beschränkt sich hier auf das „Entleihen“ und Nutzen der Methoden für eigene Forschungsfragestellungen. Als klassisches Beispiel lassen sich die sog. „Historischen Hilfswissenschaften“ (u.a. Numismatik, Paläografie, Historische Informatik) in der Geschichtsforschung anführen. Heckhausen nennt die Nutzung psychologischer Tests in der Pädagogik sowie neurophysiologischer Verfahren in der Psychologie (vgl. Heckhausen 1972, S. 88). Das interdisziplinäre Moment beschränkt sich hier auf das partielle Lernen und Anwenden fachfremder Methoden, ohne dass sich dadurch der Gegenstandsbereich oder das theoretische Integrationsniveau der „entleihenden“ Disziplin verändert. 4. „Zusammengesetzte Interdisziplinarität“ („Composite Interdisciplinarity“): Heckhausen vergleicht diese Art von Interdisziplinarität mit einem Puzzle. Drängende praktische Probleme motivieren eine Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen, etwa in der Friedensforschung oder auf dem Gebiet der Städteplanung, wo solch unterschiedliche Disziplinen wie Architektur, Ökonomie, Psychologie, Biologie und Ingenieurswissenschaften zusammenarbeiten. Dabei überlappen weder die Gegenstandsbereiche der jeweiligen Fächer ernsthaft noch deren Methoden oder theoretische Integrationsniveaus. Zusammengehalten wird dieses eigentlich (auf theoretischer Ebene) unverbundene Fachensemble durch die Interdependenzen des komple7 Mit theoretischem Integrationsniveau ist dabei das zugrundeliegende theoretische Paradigma gemeint, mit dem die jeweiligen Forschungsgegenstände analysiert werden. Im Fall vieler Geisteswissenschaften wäre beispielsweise von einem hermeneutischen Integrationsniveau im Gegensatz zum molekularen Integrationsniveau einiger Naturwissenschaften (etwa der Biochemie) zu sprechen.
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xen, akuten Problembereichs, der die Einbeziehung aller Perspektiven erforderlich macht. 5. „Ergänzende Interdisziplinarität“ („Supplementary Interdisciplinarity“): Diese Art von Interdisziplinarität entwickelt sich nach Heckhausen in den Grenzgebieten einer Disziplin, beispielsweise der Psycholinguistik, Psychobiologie oder Psychophysiologie. Zwar sind die theoretischen Integrationsniveaus der kooperierenden Fächer deutlich verschieden, jedoch findet der ernsthafte Versuch statt, Strukturbeziehungen zwischen diesen Niveaus herzustellen. Im Bereich der Psycholinguistik werden so etwa traditionell linguistische Fragen nach den Strukturen und Funktionsweisen natürlicher Sprachen mit Fragen nach den zugrundeliegenden physiologischen Mechanismen verbunden. 6. „Vereinigende Interdisziplinarität“ („Unifying Interdisciplinarity“): Der letzte Typus in Heckhausens Schema schließlich ist charakterisiert durch eine Annäherung bzw. Verschmelzung der theoretischen Integrationsniveaus und Methoden verschiedener Disziplinen. Als Beispiel dient ihm der „irresistable [sic!] trend towards the unification of physics, chemistry and biology at the theoretical integration level of physics.“ (Heckhausen 1972, S. 89) Zumindest mit den letzten beiden Interdisziplinaritätstypen nach Heckhausen8 sind wir nun bereits in die Nähe des Begriffs der Transdisziplinarität gelangt, der gemeinhin als der „stärkste“ der geläufigen Kooperationsbegriffe gilt und abschließend betrachtet werden soll. Jürgen Mittelstraß hat den Begriff der Transdisziplinarität seit den 1980er Jahren in der wissenschaftstheoretischen Diskussion prominent gemacht und in jüngerer Zeit wie folgt zu fassen versucht:9 Während wissenschaftliche Zusammenarbeit allgemein die Bereitschaft zur Kooperation in der Wissenschaft und Interdisziplinarität in der Regel in diesem Sinne eine konkrete Zusammenarbeit auf Zeit bedeutet, ist mit Transdisziplinarität gemeint, daß Kooperation zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung führt. Dabei stellt sich Transdisziplinarität sowohl als eine Forschungs- und Arbeitsform der Wissenschaft dar, wo es darum geht, außerwissenschaftliche Probleme, z.B. […] Umwelt-, Energie-, und Gesundheitsprobleme, zu lösen, als auch ein innerwissenschaftliches, die Ordnung des wissenschaftlichen Wissens und der wissenschaftlichen Forschung selbst betreffendes Prinzip. In beiden Fällen ist Transdisziplinarität ein Forschungs- und Wissen8 Es gilt hier zu beachten, dass Heckhausens starke Differenzierung des Interdisziplinaritätsbegriffs die Existenz „konkurrierender“ Begriffe, wie wir sie oben analysiert haben, ersetzen soll. Offen bleibt an dieser Stelle die spannende Frage nach dem (möglichen) Verhältnis der verschiedenen „Interdisziplinaritäten“ zueinander. 9 Der Begriff stammt allerdings nicht von Mittelstraß, sondern taucht bereits früher vereinzelt in der Diskussion auf (etwa bei Jantsch 1970). Für eine Übersicht zu Transdisziplinaritätskonzeptionen vgl. Balsiger 2005, S. 175–181 sowie Völker 2004, S. 13–20.
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schaftsprinzip, das dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird (Mittelstraß 2003, S. 9f.). Die Unterscheidungsmerkmale des Transdisziplinaritätsbegriffs gegenüber dem der Interdisziplinarität bestehen demnach zum ersten in der Dauerhaftigkeit der Kooperation, zum zweiten in der Transformation disziplinärer Orientierungen und zum dritten in der Beschäftigung mit außerwissenschaftlichen Problemen. Während sich der Aspekt der Dauerhaftigkeit auch in einigen Interdisziplinaritätskonzepten findet, verweisen der zweite und dritte Punkt auf die über das „inter“ hinausgehenden „trans“-Merkmale. Überschritten (bzw. partiell aufgelöst) werden dabei sowohl die Grenzen zwischen Disziplinen, als auch die Grenzen zwischen Wissenschaft und „Außenwelt“. Bezüglich Ersterem spricht Mittelstraß auch explizit von der Überwindung historisch gewachsener Grenzen „zugunsten einer Erweiterung wissenschaftlicher Wahrnehmungsfähigkeiten und Problemlösungskompetenzen […]“ (Mittelstraß 1996, S. 329), die „die ursprüngliche Idee einer Einheit der Wissenschaft […]“ (ebd.) wieder erkennbar werden lässt. Damit sind wir mit unseren Überlegungen an einem Punkt angelangt, an dem die Frage nach den Instanzen und Ebenen, zwischen denen Wissenschaftskooperation erfolgt, genauer betrachtet werden sollte.
3. Zwischen wem? Die Dimensionen von Disziplinarität und Interdisziplinarität In unseren bisherigen Betrachtungen stand der Begriff der Disziplin ohne weitere Erläuterung für die Partner, zwischen denen die verschiedenen Formen von Wissenschaftskooperation stattfinden. Um der Frage nach den möglichen Formen und Graden von Interdisziplinarität – hier verstanden als Sammelbegriff, der die verschiedenen oben genannten Kooperationsarten umfasst – näher zu kommen, werfen wir daher einen genaueren Blick auf die möglichen Instanzen interdisziplinärer Beziehungen. Abgesehen vom Aspekt des historischen Gewordenseins der Disziplinen existieren verschiedene Vorschläge für systematische Kriterien, nach denen sich Disziplinarität bestimmen lassen soll. Diese sind als Abgrenzungs- bzw. Bestimmungskriterien problematisch, worauf wir an dieser Stelle allerdings nicht näher eingehen können (vgl. dazu aber z.B. Gutmann 2005, S. 71f.). Für unsere Zwecke genügt es jedoch, einige dieser Kriterien, die allesamt eine (hier nicht näher zu bestimmende) Rolle für das Bestehen von wissenschaftlichen Disziplinen spielen, auf ihre „Inter“-Relation hin zu untersuchen: 1. Gegenstände: Eine geläufige Idee ist die Annahme, Disziplinen konstituierten sich durch den Bezug auf einen bestimmten Gegenstandsbereich. Diese Idee ist freilich unzulänglich, weil zahlreiche Gegenstandsbereiche (etwa der Bereich des Lebenden oder des menschlichen Handelns) offenkundig von verschiedenen Disziplinen bear-
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beitet werden. Interdisziplinarität würde auf dieser Ebene im „Teilen“ von Untersuchungsgegenständen bestehen. Das bloße Gemeinhaben von Untersuchungsgegenständen, wie weiter oben am Beispiel von als „interdisziplinär“ betitelten (eigentlich multidisziplinären) Konferenzen oder Sammelbänden gezeigt, ist jedoch alleine keine Grundlage für die Rede von „Interdisziplinarität“ im Sinne einer Kooperation zwischen Disziplinen, weil außer der semantischen Ähnlichkeit von Forschungsobjekten keine inhaltlichen oder anderweitigen Bezugspunkte bestehen. 2. Methoden: Auch die Vorstellung, dass spezifische facheigene Methoden konstitutiv für Disziplinarität seien, ist problematisch, zeigt doch ein genauerer Blick, dass in den meisten Disziplinen Methoden verschiedener „Herkunft“ genutzt werden und manche Disziplinen darüber hinaus kaum „eigene“ Methoden zu besitzen scheinen (vgl. dazu das Beispiel der Biologie in Gutmann 2005, S. 71). Würde also bereits die Nutzung „fremder“ Methoden Interdisziplinarität bedeuten, so wären wir bei einem sehr schwachen Begriff der Kooperation, der im Import und der anschließenden Nutzbarmachung von Methoden anderer Disziplinen für die eigenen Forschungsinteressen bestünde. 3. Probleme: Interessanter wird es mit Blick auf wissenschaftliche Probleme. Karl Popper schreibt dazu: „Wir studieren ja nicht Fächer, sondern Probleme. Und Probleme können weit über die Grenzen eines bestimmten Gegenstandsbereichs oder einer bestimmten Disziplin hinausgreifen“ (Popper 2000, S. 97). Interdisziplinarität bestünde hier im disziplinübergreifenden Angehen (und evtl. Lösen) von Problemen, die sich aufgrund ihrer Beschaffenheit und Komplexität nicht von Einzeldisziplinen bearbeiten lassen. Zahlreiche der großen aktuellen Probleme und Forschungsfragen, etwa globale Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung, fallen in diese Kategorie. Durch diese Art von Problemen zeigen sich die Grenzen der „Reduktion eines Erkenntnisganzen“ (Balsiger 2005, S. 57), die aber grundsätzlich, u.a. in Form der Ausbildung von Disziplinen mit spezifischem Methodenrepertoire und Gegenstandsbereich, unerlässlich ist, da „[o]hne eine solche Reduktion […] keine Erkenntnisleistung zu erbringen [ist]“ (Balsiger 2005, ebd.). Die zu Interdisziplinarität oder, im Fall der Ausbildung neuer Disziplinen als Reaktion auf neuartige Probleme, zu Transdisziplinarität führenden Probleme können dabei sowohl innerhalb der Wissenschaften generiert (etwa im Fall der stark interdisziplinär arbeitenden Kognitions- und Nanowissenschaften), als auch von außen an sie herangetragen werden (beispielsweise bei Fragen globaler Verteilungsgerechtigkeit). 4. Theoretisches Integrationsniveau: Wie wir bereits weiter oben gesehen haben, zeichnen sich nach Heckhausen verschiedene Disziplinen durch unterschiedliche theoretische Integrationsniveaus aus. Darunter ist der spezifische Umgang einer Disziplin mit einem Gegenstandsbereich in Form der Betrachtungsebene inklusive Methoden, Modellen und Theorien zu verstehen. Heckhausen veranschaulicht dies am Beispiel der Psychologie: Das theoretische Integrationsniveau, auf das hin in der Psychologie alle psychologischen Gegenstandsaspekte, d.h. Phänomene des Verhaltens und Erlebens, entworfen werden, sind in der Regel be-
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schreibende oder erklärende Konstrukte und daraus zusammengesetzte Wirkungsgefüge, die die Entwicklung und das ‚Funktionieren‘ des Menschen als einer intakten Persönlichkeit verständlich machen können. Analyse-Einheit ist deshalb der individuelle Mensch […]. Im Unterschied dazu bestehen die theoretischen Integrationsniveaus in der Physiologie in den organstrukturellen Funktionsweisen und letztlich auch in den chemophysikalischen Prozessen, die das Funktionieren der zum Lebenserhalt […] erforderlichen Prozesse ermöglichen (Heckhausen 1987, S. 132). Der „Abstand“ zwischen den theoretischen Integrationsniveaus verschiedener Disziplinen ist nun auch ein entscheidender Faktor bezüglich der Möglichkeit von Interdisziplinarität. Je näher diese beieinander liegen, desto leichter fällt die Zusammenarbeit (vgl. Heckhausen 1987, S. 133). Und je weiter sie auseinanderfallen, umso schwieriger wird es, den für Interdisziplinarität (die ernsthaft über Multidisziplinarität hinaus gelangen möchte) wichtigen gemeinsamen Nenner zu finden, da neben den üblichen Unterschieden in den jeweiligen Wissenschaftssprachen und -kulturen grundsätzliche Differenzen in der Art des theoretischen Zugangs und der Integrationsebene auf den Plan treten.10 5. Personen/Institutionen: Da wissenschaftliche Erkenntnis immer auch an Personen und Institutionen gebunden ist, ist die Ebene personaler und institutioneller Kooperation eine weitere wichtige Dimension interdisziplinären Forschens. Auf dieser Ebene sind zahlreiche soziale und institutionssoziologische Faktoren, etwa adäquate Ausbildung der beteiligten Forscher, Bereitschaft zur fachübergreifenden Zusammenarbeit oder die Anerkennung anderer Disziplinen als solche, wichtige Grundvoraussetzungen von Interdisziplinarität. Die Bandbreite reicht dabei von gemeinsamen Arbeitsmittagessen zwischen zwei Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen bis hin zu mehrere tausend Wissenschaftler umfassenden Forschungsclustern. Die kurze Analyse dieser möglichen Ebenen interdisziplinärer Bezugnahme macht klar, wie unterschiedlich und vielfältig die Herausforderungen und Hindernisse auf dem Weg zu interdisziplinärer Kooperation sind. Hinzu kommt, dass bei tatsächlichen Projekten stets komplexe „Mischformen“ dieser Ebenen verhandelt werden müssen.
10 Dieser wichtigen Problematik kann an dieser Stelle leider nicht weiter nachgegangen werden. Die Beiträge von Gerhard Vollmer und Winfried Löffler in diesem Band vertiefen jedoch einige dieser Aspekte.
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4. Warum eigentlich? Motive und Gründe interdisziplinären Forschens Wir sind nun bei der dritten und letzten unserer Titelfragen und damit beim „Warum?“ und „Wozu?“ von Interdisziplinarität angelangt. Mögliche Motive für Interdisziplinarität können dabei in wissenschaftsinterne und wissenschaftsexterne unterteilt werden: 1. Wissenschaftsexterne Motive für Interdisziplinarität Offenkundig entstammen viele und zumeist die lautesten der zahlreichen Rufe nach Interdisziplinarität nicht den Wissenschaften selbst, sondern werden aus Politik und Gesellschaft an diese herangetragen. Dies resultiert z.B. aus der Wahrnehmung komplexer nationaler oder globaler Probleme (beispielsweise gerechte Ressourcenverteilung, Wasserarmut, Klimaveränderung), die sich aufgrund ihrer Vielschichtigkeit der Lösung durch einzelne Disziplinen entziehen. Hier, so die Idee, müsse der interdisziplinär (bzw. eigentlich a-disziplinär) strukturierten Wirklichkeit auch mit interdisziplinärer Forschung begegnet werden. Ähnliche Argumente werden aus ökonomischer Perspektive vorgebracht: Da sich technische Entwicklungen immer mehr an den Schnittstellen verschiedenster Disziplinen vollziehen und Märkte nach anwendungsbezogenen, verschiedene disziplinäre Ansätze umfassende Lösungen verlangen, scheint es notwendig, interdisziplinäre Forschung zu forcieren (vgl. Holzinger 2002, S. 57 und Schmidt 2005, S. 13). 2. Wissenschaftsinterne Motive für Interdisziplinarität Ausgangspunkt wissenschaftsinterner Interdisziplinaritätsbemühungen ist zumeist die Feststellung von Nachteilen bzw. Grenzen disziplinärer Segmentierung bei der Arbeit an (neuartigen) Problemen. Ist ein Forschungsgegenstand mit den eigenen Methoden und Theorien nicht (oder nur partiell) zu ergründen, so verspricht die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen Erkenntnisgewinn und Horizonterweiterung. Mittelstraß spricht von einer „Reparaturvorstellung, die auf Umwegen, und sei es auch nur auf Zeit, zu einer neuen, Forschung und Lehre förderlichen Ordnung führen soll“ (Mittelstraß 2001, S. 91). In manchen Fällen findet sich auch die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur verloren gegangenen Einheit der Wissenschaft als Motiv, deren Bedeutung und Wünschbarkeit freilich separat diskutiert werden müsste (vgl. Mittelstraß 2001, S. 97–102). Zur Frage nach den Motiven und Gründen für Interdisziplinarität müsste natürlich mehr gesagt werden, was an dieser Stelle nicht geschehen kann, aber auch nicht geschehen muss, da sich zahlreiche Überlegungen dazu in diesem Band bei Thomas Sukopp, Gerhard Vollmer, Uwe Voigt und Winfried Löffler finden.
5. Fazit Mit dem in diesem Beitrag unternommenen Überblick über die Bedeutungsdimensionen von Interdisziplinarität sind jede Menge wichtiger wissenschafts- und erkenntnistheore-
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tischer Fragen aufgeworfen worden, ohne dass freilich auch nur der Versuch einer Beantwortung unternommen werden konnte. Ziel war es vielmehr aufzuzeigen, welche Definitionen von Interdisziplinarität und angrenzenden Konzepten existieren, was disziplinenübergreifende Kooperation bedeuten und auf welchen Ebenen sie stattfinden kann und welche Gründe für sie angeführt werden. Vielen der dabei offen gebliebenen Fragen wird in den nachfolgenden Beiträgen nachgegangen. Gerhard Vollmer zeigt die diversen Probleme und Hindernisse von Interdisziplinarität auf und bei Winfried Löffler finden sich Überlegungen zur Möglichkeit und Form „schlechter“ Interdisziplinarität. Im Beitrag von Uwe Voigt wird schließlich die wichtige Frage nach angemessenen Modellen von Interdisziplinarität eingehend untersucht, die an die hier angestellten Überlegungen zu den verschiedenen Ebenen (Gegenstände, Methoden, Kooperation) disziplinübergreifender Bezugnahme anknüpft.
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Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte Dieser Beitrag hat einige bescheidene Ziele: Ich versuche zu zeigen, dass wir ohne terminologische Klarheit die ohnehin großen Schwierigkeiten auf dem Weg zu interund transdisziplinärer Zusammenarbeit noch vergrößern und diskutiere einige Begriffserklärungen von „Interdisziplinarität“ und „Transdisziplinarität“ sowie einige Voraussetzungen für entsprechende Kooperationsformen. „Interdisziplinarität“ ist ohne Zweifel ein großes und beliebtes Wort. Auch wenn das Wort „Inter-“ oder „Transdisziplinarität“ affirmativ verwendet wird – was nicht immer der Fall ist – sollten einige Schwierigkeiten inter- oder transdisziplinärer Zusammenarbeit nicht verschwiegen werden (Abschnitt 1). Dann sehen wir, dass unser Gegenstand, Interdisziplinarität, entweder nicht expliziert (oder definiert) wird und dass voneinander abweichende oder gar einander widersprechende Bedeutungen von „Interdisziplinarität“ und verwandten Begriffen kursieren. Mehr noch: Einige Versuche, erst einmal terminologische Ordnung zu schaffen, scheitern (Abschnitt 2). Wann Interdisziplinarität fruchtbar oder gar notwendig ist, wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Ein Allheilmittel ist sie nicht. Beispiele für interdisziplinäre Problemlösungen, wie sie im vorliegenden Band z.B. von Ulrich Frey, Gerhard Vollmer oder Bert Schweitzer gegeben werden, motivieren erhöhte Anstrengungen, die nötig sind, um eine theoretische Fundierung von Interdisziplinarität zu erreichen. Eine Voraussetzung, um Modelle (siehe Uwe Voigt, ebenfalls in diesem Band) oder gar Theorien gelungener interdisziplinärer Zusammenarbeit zu diskutieren, ist sicher die Diskussion verschiedener Explikationen und Definitionen von Interdisziplinarität, Transdisziplinarität und verwandter Begriffe. Diese Diskussion wird in Ansätzen im Schlussteil geführt (Abschnitt 3).
1. Kummer mit der Interdisziplinarität? Gründe, warum interdisziplinäre Zusammenarbeit schwierig ist Wer in Zeiten von Forschungsclustern, Synergieeffekthascherei und ernsthaften interdisziplinären Anstrengungen fragt, ob Interdisziplinarität immer gut ist, ob sie enge Grenzen hat oder schlicht überschätzt wird, wird nicht mit der Zustimmung der meisten Fachkollegen rechnen können. Mir kommt es zunächst nur darauf an zu zeigen, dass a) Interdisziplinarität oft gefordert, aber selten betrieben wird, b) dass im Falle interdisziplinärer Zusammenarbeit dieser Kooperation durchaus enge Grenzen gesetzt sind, und c) dass Interdisziplinarität ganz und gar nicht immer wünschenswert bzw. notwendig ist. Vor unseren terminologischen Klärungsversuchen verstehen wir „Interdisziplinarität“ zunächst in einem weiten Sinn als fächerübergreifende Zusammenarbeit, die z.B. die
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Anwendung von Theorien, Modellen oder Methoden eines Faches für ein anderes bzw. in einem anderen Fach umfasst. Die Möglichkeit, dass sich einige Kooperationsformen verschiedener Fächer oder Disziplinen gerade von Interdisziplinarität abgrenzen (siehe z.B. Heckhausen 1987, S. 139f.), bleibt davon unberührt.
1.1. Interdisziplinarität wird oft gefordert, aber selten betrieben. Gemeint ist, dass Interdisziplinarität aufgrund vieler Schwierigkeiten1 bei der disziplinenübergreifenden Zusammenarbeit seltener, als es wünschenswert wäre,2 auch tatsächlich betrieben wird. Warum Interdisziplinarität schwierig ist, legen einige Autoren im vorliegenden Band (z.B. Winfried Löffler oder Gerhard Vollmer) dar. Eine Reihe von Belegen, dass Interdisziplinarität schwierig ist, und Gründe, warum sie schwierig ist, finden wir an vielen Stellen in der einschlägigen Literatur.3 So wird etwa argumentiert, dass die jeweils in einem Fach vorherrschenden spezifischen Methoden4 interdisziplinäre Zusammenarbeit5 hemmen. Das belegt z.B. die Auswertung einer Befragung von Blättel-Mink et. al. (2003, S. 30ff.) auf der Basis von ca. 50 Fragebögen. Disziplinäre Codes/Sprachen werden ebenfalls als eher hinderlich bis stark hemmend empfunden (Immelmann 1987, S. 86f.; Voßkamp 1987, S. 99; Blättel-Mink 2003, S. 30ff.). Der Mehraufwand für die Kommunikation zwischen den Fächern und für Übersetzungen bei gleichzeitig knappen (zeitlichen) Ressourcen verschärfe aus Sicht der Befragten das Problem. 67,3 % der Interviewten gaben an, dass der zeitliche Mehrauf-
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Viele der praktischen Hindernisse werden hier nicht eingehender behandelt (siehe dazu auch Russell / Wickson / Carew 2008, S. 466f.), etwa die Praxis, dass Forschungsprojekte zeitlich zu sehr begrenzt sind, so dass Mitarbeiter, die gut eingearbeitet sind, aus einem Projekt ausscheiden müssen (Feichtinger / Mitterbauer / Scherke 2004, S. 11). Eine Folge ist, dass informelle Informationen oft nicht ausreichend gesichert werden und verloren gehen. 2 Forderungen nach Interdisziplinarität (und Transdisziplinarität) finden wir in vielen unterschiedlichen Disziplinen: Hartmann 2005, S. 343 fordert Wissenschaftstheoretiker auf, transdisziplinär zu denken. Mittelstraß 2005, S. 18ff. sieht in Transdisziplinarität eine konsequente Fortführung und Weiterentwicklung von Interdisziplinarität. Weitere Beispiele bieten Weingart 1997, S. 523 sowie Feichtinger / Mitterbauer / Scherke 2004, S. 11ff. (Zusammenarbeit von Geistesund Sozialwissenschaftlern) oder Stokols et al. 2003, S. 21–39 und Gräfrath / Huber / Uhlemann 1991, S. 177f. 3 Siehe dazu etwa Stehr 2000, S. 1ff.; Blättel-Mink et al. 2003, S. 30f.; Feichtinger / Mitterbauer / Scherke 2004, S.11; Miller et al. 2008, S. 1ff. 4 Stehr (2000, S. 3) schreibt etwas entmutigt: „Obwohl Inter- und Transdisziplinarität als Forderung in aller Munde ist, geht es in der Praxis fast immer um eine Konfrontation und Bestätigung existierender Wissenschaftstraditionen. Keiner der Wissenschaftsblöcke ist bereit, sich aufzugeben, indem er seine Objekte aufgibt.“ 5 Weitere interessante Fragen können hier nicht diskutiert werden: In welcher Weise wird nun Interdisziplinarität gefordert? Welche Gründe geben diejenigen an, die interdisziplinäre Zusammenarbeit grundsätzlich für wünschenswert halten? (Siehe dazu Kocka 1987, Wingert 1997, Hartmann 2005.)
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wand enorm sei. Hier stellt sich für einige die Frage, ob dieser Mehraufwand gerechtfertigt ist. Ähnliches gilt für disziplinäre Weltbilder bzw. Paradigmen, die als unhintergehbar gelten bzw. nicht angetastet werden. Als Beleg zitieren Blättel-Mink et al. (2003, S. 31): „Nein: [Es wird nicht über Transdisziplinarität diskutiert] weil Volkswirtschaftler andere Disziplinen grundsätzlich nicht anerkennen und sich daher nicht mit ihnen beschäftigen.“ An gleicher Stelle finden wir die Einschätzung, dass „Scheuklappen von Projektgebern“ häufig und einer interdisziplinären Annäherung abträglich seien (auch Stehr 2000, S. 3). Ähnlich dieser Arroganz einzelner Disziplinen beobachten Stokols et al. (abgemildert Stehr 2000) einen „Chauvinismus“ (2003, S. 32) einzelner Fakultäten und heftige Auseinandersetzungen über die vorherrschenden Weltanschauungen. Die Kontrahenten sind zumeist auf der einen Seite die biologischen und medizinischen Wissenschaften, auf der anderen Seite Sozial- und Verhaltenswissenschaften, so Stokols et al. (2003, S. 32). Auf eine weitere Schwierigkeit macht Krüger (Krüger 1987, S. 108) aufmerksam. Da es uns schon schwerfällt, Elemente der Disziplinarität zu bestimmen und weil gute Disziplinarität eine Voraussetzung für gelungene Interdisziplinarität darstellt, ist es wenig verwunderlich, dass wir uns mit Interdisziplinarität (oft) schwer tun. Wir kommen auf diesen Punkt in 3.1. zurück und belassen es hier bei einem Hinweis: Wenn etwa Erkenntnisinteressen innerhalb einer Disziplin entweder nicht benannt werden können oder es mehrere voneinander abweichende Erkenntnisinteressen gibt, dann liegt es nahe, bei verschiedenen „Wissenskulturen“6 (Snow 1959), die aufeinanderprallen (Stokols et al. 2003, S. 32), erhebliche Verständigungsschwierigkeiten zu erwarten. Bereits diese Ausführungen legen nahe, warum Interdisziplinarität seltener betrieben als gefordert wird. Darüber, dass es so ist, herrscht in der Literatur seltene Einigkeit (siehe etwa Hartmann 2005 und viele der Beiträge in Kocka 1987). Diese Feststellung legt nahe, dass es schwer ist, guten Vorsätzen in der wissenschaftlichen Praxis auch gute Taten folgen zu lassen. Anders gesagt: Interdisziplinarität hat oft ausschließlich programmatischen Charakter (Wingert 1997, S. 421ff.; Defila / Di Giulio 1999; Hartmann 2005).
1.2. Interdisziplinäre Zusammenarbeit hat (enge) Grenzen. Diese These knüpft an die o.g. Feststellung an, dass es einige Schwierigkeiten gibt, wenn Forscher interdisziplinär arbeiten wollen.7 Einige wichtige begrenzende Faktoren sind: 6 Was damit gemeint ist, beschreibt Stehr (2000) so: Auf dem Weg zur Vergesellschaftung der Kultur und Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse hin zur Wissensgesellschaft ist für die Klimaforschung eine „soziale Naturwissenschaft“ nötig, die die „einseitige Fixierung […] auf die Natur (Naturalisierung des Klimas) und die der Sozialwissenschaften auf die Gesellschaft (Klima als soziales Konstrukt) zu überwinden“ (S. 3) hilft. 7 Lélé und Norgaard (2005, S. 968ff.) sprechen von „barriers to interdisciplinarity“ und nennen u.a. Wertzuschreibungen in der Forschung (epistemische und andere Werte), den Gebrauch un-
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x Mangelnde Zeiteffizienz durch „fruchtlose Diskussionen. [Es gibt] einen hohen organisatorischen Abstimmungsbedarf ohne daraus folgende Effizienzgewinne“ (BlättelMink 2003, S. 33). Außerdem werde Zeit darauf verwendet, „‚Einführungsvorlesungen‘ für die Projektpartner aus den jeweils anderen Disziplinen [abzuhalten], damit sie wenigstens ungefähr verstehen, was in den anderen Projektbereichen gemacht wird.“ x Stokols et al. (2003, S. 31) nennen mangelnde Erfahrung der Universitäten mit interund transdisziplinären Forschungseinrichtungen als einen Faktor, der Interdisziplinarität begrenzt. x Miller et al. (2008, S. 4) sehen transdisziplinäre Zusammenarbeit zweifach beschränkt: Erstens rücken die einzelnen Disziplinen nur sehr unwillig von ihren erkenntnistheoretischen Ansprüchen ab, d.h. davon, was sie als harten Kern ihrer Wissensbestände ansehen. Zweitens verringert die Tatsache, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit oft angewandte Interdisziplinarität ist, eher die Bereitschaft, über theoretische Grundlagen zu reflektieren, z.B. darüber, was die Rolle von Erkenntnistheorien ist, worin die Relevanz der Prozesshaftigkeit von Erkenntnis besteht, was die Merkmale von Nichtwissen bzw. mangelndem Wissen in Entscheidungssituationen sind etc.
1.3. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist nicht immer wünschenswert oder gar notwendig. Diese These ist weder neu noch besonders originell. Doch sagen uns die Verzichtserklärungen auf Inter- und Transdisziplinarität viel darüber, wie wir heute Inter- und Transdisziplinarität verstehen können. Schon aus heuristischen oder methodologischen Gründen wäre es ratsam, im Vorfeld prüfen zu können, wann wir besser auf interdisziplinäre Ansprüche verzichten sollten. Balsiger (2004, S. 408) stellt heraus, dass wissenschaftspolitische Forderungen nach Interdisziplinarität in Kontrast stehen zur eher bescheidenen wissenschaftlichen Nachfrage. So verzichteten die Forscher/Wissenschaftler des vom Schweizerischen Nationalfond finanzierten Programms „Landscapes at the Habitats of the Alp“ komplett auf einen disziplinenübergreifenden Anspruch. Kaufmann (1987, S. 77) stellt ernüchtert fest: „Interdisziplinäre Problemstellungen drängen sich für Wissenschaftler, die voll in einer bestimmten Disziplin verankert sind, nur ausnahmsweise auf.“ Als Gründe für seine Einschätzung nennt er den Voraussetzungsreichtum für gelungene interdisziplinäre Kooperation (siehe 3.4.). Selbst wenn wir weniger pessimistisch urteilen als Kaufmann, so wird man in der Normalforschung (hier verstanden in Anlehnung an Kuhn) eher disziplinär als interdisziplinär arbeiten. Es gibt auch gute Gründe dafür, dass bei näherem Hinsehen reale Forschung oft nicht interdisziplinär funktionieren kann. So schreibt etwa Heckhausen (1987, S. 139f.):
verträglicher Erklärungsmodelle und epistemologische Differenzen (Methodenwahl, Wahrheitsansprüche, Gültigkeit und Wahl von Belegen, die eine Hypothese belegen etc.).
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Wir dürfen nicht übersehen, dass Forschung im Sinne schärfster Erkenntnis nur intradisziplinär8, d.h. monodisziplinär im Hinblick auf das theoretische Integrationsniveau des gewählten Fachs unvermengt betrieben werden kann. Mit der monodisziplinären Betrachtung müssen konkurrierende Sichtweisen anderer Disziplinaritäten mit ihren abweichenden theoretischen Integrationsniveaus unvermeidlicherweise ausgeblendet werden. [Ausblendung] ist der Preis, der für die Möglichkeit vertiefter und wissenschaftlich ‚disziplinierter‘ Erkenntnis zu zahlen ist. […] Denn diese Fächer isolieren einzelne Faktoren, um deren Wirkung in planmäßiger Bedingungsvariation oder Bedingungskontrolle zu prüfen. Diese Sicht verdiente eigentlich eine ausführlichere Stellungnahme, worauf wir in diesem Rahmen aus Umfangsgründen verzichten müssen. Tatsache ist, dass sich hier jemand, der sich intensiv mit interdisziplinärer Forschung beschäftigt hat, sehr zurückhaltend gegenüber ihren Möglichkeiten äußert.
2. „Doch ein Begriff muss bei dem Worte sein“: Was Inter- und Transdisziplinarität nicht ist Noch nie war Wissenschaft so spezialisiert wie heute. Bereits 1987 gab es laut einer Zählung des deutschen Hochschulverbandes 4000 Fächer (Mittelstraß 1987, S. 152). Das erhöht zwar die numerischen Möglichkeiten fächerübergreifender Kooperation, sagt aber wenig über den Anstieg gelungener Kooperationen. Wir sollten – so meine These – nicht immer darauf vertrauen, dass Forscher im Allgemeinen auch dann gut inter- und transdisziplinär zusammenarbeiten, wenn sie keine, eine wenig reflektierte, einander widersprechende oder irreführende Vorstellungen davon haben, was Interoder Transdisziplinarität heißen kann. Dem Titel dieses Abschnitts folgend, stellen wir fest, dass längst nicht alle Versuche, auch nur ungefähr zu sagen, was unter „Interdisziplinarität“ oder „Transdisziplinarität“ zu verstehen ist, als gelungen gelten können. Dazu einige Beispiele: In einem Arbeitsbericht von Blättel-Mink et al. (Blättel-Mink, Kastenholz, Schneider, Spurk 2003, S. 22), der einigen Voraussetzungen und der Praxis transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung gewidmet ist, wurde eine deutschlandweite Fragebogenerhebung ausgewertet (ebd., S. 21ff.). 87 Befragte legten ihr Verständnis von Transdisziplinarität dar. Die folgenden (anonymisierten) Aussagen mögen verwundern: Erstens finden wir unvollständige und zu ungenaue Auskünfte, wie etwa die, Transdisziplinarität bestehe darin „[zuzulassen], dass die Arbeit in der eigenen Disziplin durch Ideen anderer Disziplinen beeinflusst wird“ oder dass „[…] Menschen mit prag8
Die These, dass Interdisziplinarität nicht immer notwendig oder nicht immer wünschenswert ist, soll auch einer „Interdisziplinaritäts-Hypertrophie“ (Immelmann 1987, S. 137) entgegen wirken. Es ist in Immelmanns Sicht durchaus vertretbar, intra- und multidisziplinäre, aber dennoch fächerübergreifende Projekte durchzuführen (Immelmann 1987, S. 133–138).
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matischem Ansatz (Verwaltung, Behörde), wissenschaftlichem Ansatz, planerischem Ansatz und Bürger [zusammenarbeiten]“. Bereits diese Antworten zeigen, dass es mit der terminologischen Präzision und Reflexion nicht immer weit her ist. Wessen Arbeit wird nicht durch Ideen aus anderen Disziplinen beeinflusst? Auch der hochspezialisiert arbeitende Forscher, z.B. ein Mikrobiologe, der das Verhalten von Helicobacter pylori im physiologischen Milieu menschlicher Mägen untersucht, wird biochemische und physiologische Fakten und „Ideen“ wahrnehmen müssen. Mir ist keine akademische Ausbildung bekannt, in der nicht auch „Ideen“ anderer Disziplinen vermittelt werden, auch wenn diese dann „nur“ als „Hilfswissenschaften“ dienen. Während wir die oben genannten Explikationsversuche als reparabel verbuchen können, so werden die jetzt folgenden irreführenden und falschen Vorstellungen über Transdisziplinarität echte Bauchschmerzen bereiten. Transdisziplinarität wird danach als „Informationsaustausch“ (das ist natürlich viel zu wenig) oder als „Dilettantismus in Bereichen, die man nicht beherrscht“ angesehen. „Sie wird regelmäßig nur von Personen gefordert, die nicht selbst wissenschaftlich arbeiten.“ (siehe jeweils Blättel-Mink et al. 2003, S. 23) Dazu sei nur angemerkt, dass ganze Forschungseinrichtungen wie etwa das ZIF („Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ in Bielefeld) oder das „Center for the Study of Interdisciplinarity“ (CSID) tatsächlich inter- und transdisziplinär forschen oder wenigstens über derartige Forschungen reflektieren. Dutzende von Journalen und Forschungseinrichtungen beschäftigen sich mit inter- und transdisziplinär orientierten Forschungsgebieten, es gibt sogar entsprechende Studienabschlüsse (z.B. den „Bachelor of Interdisciplinary Sciences“ (B.I.S.) an der Arizona State University). Zum Dilettantismus-Vorwurf sei außerdem gesagt, dass Doppelausbildungen und Doppelqualifikationen längst dafür gesorgt haben, einem schadhaften Dilettantismus vorzubeugen. Im Übrigen ist eine gründliche Einarbeitung in ein beliebiges Gebiet durchaus üblich und möglich. Sicher kann Transdisziplinarität wie ein „Modewort“ (eine weitere Antwort) gebraucht werden. Doch liegt das eher an der inflationären oder gar beliebigen Verwendung dieses Begriffs. In 3.2. werden wir sehen, wie viel Substanzielles und Dauerhaftes mit Transdisziplinarität verbunden ist. Ich möchte vorab darauf hinweisen, dass aus der Sicht vieler praktisch tätiger Forscher einige der schwierigsten und herausforderndsten Probleme nur inter- und transdisziplinär zu lösen sind (Stokols et al. 2003, S. 21–39; Hartmann 2005, S. 3). Ein Beispiel ist etwa die Lösung ökologischer Probleme; siehe auch Abschnitt 3.2. Was sind nun die Konsequenzen der eben genannten missglückten Explikationsversuche? Wir haben in Abschnitt 1 gesehen, dass Interdisziplinarität auch bei gutem Willen aller Akteure schwierig ist. Diese Schwierigkeiten werden verschärft, wenn sich pejorative Voreinstellungen oder mangelnder Wille zu terminologischer Klarheit gesellen. Es darf angenommen werden, dass ein halbwegs klares und reflektiertes Verständnis davon, welche Formen der Kooperation mehrerer Fächer oder Disziplinen als gute inter- oder transdisziplinäre Praxis gelten, hilfreich ist. Der kaum aufregende Umkehrschluss ist, dass wenig hilfreiche Explikationen von Inter- und Transdisziplinarität sicher nicht zu einem Klima gedeihlicher Kooperation führen. Die Frage liegt also nahe, was unter Inter- und Transdisziplinarität sinnvoller Weise verstanden werden kann.
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3. Disziplinarität, Interdisziplinarität, Transdisziplinarität: Terminologische Abgrenzungen und Zusammenhänge 3.1. Fächer, Disziplinen und Disziplinarität Nach einem verbreiteten und naiven Bild, das wir uns vom Wissenszuwachs machen, gleicht das Wissen der Luft in einem aufgeblasenen Luftballon. Diese Metapher ist sicher nicht sehr belastbar, sie kann aber z.B. zeigen, dass die Grenzflächen des Nichtwissens mit anwachsendem Wissen größer werden. An solchen Grenzen, sozusagen im Anflug an die Innenseite des Ballons, entstehen neue Fächer (Joos 1987, S. 146ff.). Beispiele dafür sind Psycholinguistik, Neuroethik, Neurolinguistik, Neuroökonomie, Historische Soziologie oder Verwaltungswissenschaften. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Fächern und Disziplinen (Heckhausen 1987, S. 130f.) besteht nun darin, dass es innerhalb einer Disziplin, etwa der Physik, viele, methodisch und experimentell ähnlich vorgehende Fächer gibt. Heckhausen schätzt die Anzahl der Disziplinen – oder „Disziplinaritäten“, wie er es nennt – auf 20 bis 30. Es seien hier nur wenige Fächer genannt, die jeweils einer Disziplin zugeordnet werden können. Bereits im Ausbildungsgang und wegen des rasant anwachsenden technischwissenschaftlichen Wissens erscheint eine innerdisziplinäre Ausdifferenzierung in verschiedene Fächer unumgänglich. Innerhalb der Medizin gibt es z.B. – als Subdisziplin – die Klinische Medizin. Ausschließlich für die Diagnose und Therapie der Erkrankungen einzelner Organe zuständig sind Nephrologen, Pulmologen, Kardiologen etc. Ähnliche Aufzählungen lassen sich in anderen etablierten Wissenschaften machen, seien es Natur- oder Geisteswissenschaften, wenn wir diese alte Unterscheidung gebrauchen wollen. Man denke z.B. an Physik, Chemie oder Soziologie. Es liegt nahe, dass gute Disziplinarität eine Voraussetzung für gute Interdisziplinarität ist (Krüger 1987, S. 108f.). Mit guter Disziplinarität ist zunächst gemeint, dass etwa die oben genannten medizinischen Fächer in diagnostischen und Therapiefragen zusammenarbeiten, wie es – bei bestimmten Krankheitsbildern – üblich ist oder mindestens üblich sein sollte. Krüger gibt eine – in meiner Sicht plausible – Erklärung dafür, warum wir uns mit Disziplinen und mit Interdisziplinarität so schwer tun, d.h. warum es uns bereits schwer fällt, Disziplinen voneinander abzugrenzen (siehe 3.1.). Wenn das so ist, dann dürfte es noch schwerer sein zu sagen, was (gute) Interdisziplinarität ausmacht. Welche Elemente zeichnen Disziplinarität also aus? Alle vier Charakteristika (Krüger 1987, S. 108f.) sind hoch problematisch, wie anhand der kurzen Kommentare deutlich wird. 1. Gegenstand9: Das ist offenbar falsch, denn mit Phänomenen des Lebens bzw. mit lebendigen Systemen beschäftigen sich beispielsweise mehrere Disziplinen, etwa Bi9
Dagegen etwa auch Popper (1999, S. 84): „Es gibt keine Gegenstandsbereiche; keine Lernoder, vielmehr Forschungsfächer: es gibt nur Probleme und das Bestreben, sie zu lösen.“ Damit
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ologie, Medizin oder auch Soziologie; hier wäre eine Präzisierung hinsichtlich der Komplexität der betrachteten Forschungsobjekte oder der theoretischen Integrationsniveaus (Immelmann, siehe unten) notwendig. 2. Methoden: Eine Reihe von Disziplinen verwenden gleiche oder ähnliche Methoden; Messungen der Strahlung radioaktiver Isotope bzw. entsprechende Bestrahlung sind für Mediziner, Archäologen oder Chemiker von Bedeutung. Eine Identifizierung von Kernmethoden bzw. eine Feindifferenzierung der Methoden wäre hier hilfreich. 3. Spezifisches Erkenntnisinteresse: Das ist sicher ein heuristisch, erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch interessanter Aspekt, denn die technische Verwertbarkeit naturwissenschaftlichen Wissens im Gegensatz zur geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung ist sicher (immer noch) ein weit verbreitetes Vorurteil und wissenssoziologisch von großer Bedeutung. Allerdings merkt z.B. Krüger (1987, S. 113) an, dass wir Erkenntnisinteressen und Disziplinen „fast beliebig“ (ebd.) kombinieren können und dass hinter vermeintlich feststehenden Erkenntnisinteressen „wandelbare historische Präferenzen“ (Krüger 1987, S. 114) zu finden sind. 4. Theorien und deren systematische und historische Zusammenhänge : Von den Fragen/Problemen einer Disziplin in Kombination mit den Gegenständen einer Theorie und dem Entwicklungsstand einer Disziplin hängt wesentlich die Tiefe und Breite entsprechender Theorien ab. Vereinfacht gesagt könnten Theorieentwürfe 10 oder Paradigmen im Sinne von Leitbildern oder Theoriekernen viele der Elemente integrieren, wie sie eben in 1 bis 3 genannt wurden. Da wir es gerade hier mit historisch gewachsenen Strukturen zu tun haben, sollten wir nicht in allzu unverrückbaren disziplinären oder subdisziplinären Strukturen denken. Das berechtigt zur Hoffnung, dass verrückbare disziplinäre Grenzen und disziplinäre Überlappungen Einfallstore für inter- und transdisziplinäre Kooperation bieten. Als Konsequenz dieser Einteilung können wir, anders als oben beschrieben, einem Fach wie auch einer Disziplin mehrere Disziplinaritäten zuordnen, da dort auf verschiedensten Integrationsniveaus gearbeitet wird. Ein Beispiel bieten Wissenschaften, die sich als „Wissenschaften vom Menschen“ verstehen und die auf verhaltensmäßigen, physiologischen, anatomischen oder molekularen Integrationsniveaus, deren Systeme („Gegenstände“) also z.B. auf molekularer Ebene angesiedelt sind und die entsprechend in einer molekularbiologischen (und chemischen) Theorie beschreiben werden. baut Popper zwar manche Brücken für eine fächerübergreifende Forschung, allerdings ist die Rede von Gegenständen und Gegenstandsbereichen nicht völlig überholt oder fruchtlos. Elementarteilchenphysiker und Musikwissenschaftler haben es eben auch mit deutlich verschiedenen „Gegenständen“ zu tun. 10 Eine Erweiterung dazu bietet der Vorschlag Immelmanns (1987, S. 132), nach dem Disziplinarität mehr als ein Theorieentwurf ist: „Was die Disziplinarität eines Faches ausmacht, ist […] das 'theoretische Integrationsniveau', auf das das materiale Feld der Erfahrungsgegenstände eingegrenzt wird, um die Phänomene und Ereignisse der ausgewählten Gegenstandsaspekte in Theorieentwürfen, Als-Ob-Modellen oder anderen Arten von Rekonstruktion fasslich und für das Denken operabel zu machen, um letztlich die betreffenden Sachverhalte der Wirklichkeit zu verstehen, zu erklären, vorherzusagen, praktisch zu nutzen, zu ändern.“ (Der Begriff „theoretisches Integrationsniveau“ wurde in den 1970er Jahren von Heckhausen eingeführt.)
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Eine umfassende und sowohl für Philosophen als auch für Forscher verständliche Definition findet man bei Defila / Di Giulio (1998, S. 112f.): Danach besteht das Identitätsstiftende einer Disziplin in a) „einem relativ homogenen Kommunikationszusammenhang von […] Forschern (‚scientific community‘)“, b) einem Bestand an Wissen („Aussagen, Erkenntnissen, Theorien“), c) relevanten Forschungsproblemen, d) einer Menge bestimmter anerkannter Methoden und Problemlösungen, e) einer „spezifischen Karrierestruktur mit institutionalisierten Sozialisationsprozessen […]“. Mit anderen Worten besitzt jede Disziplin spezifische Auffassungen über das „richtige Vorgehen“ zur Strukturierung der Wirklichkeit und über das, was als wissenschaftlich gilt (und was nicht).
3.2. Interdisziplinarität und Transdisziplinarität Dieser Abschnitt dient dazu, verschiedenen Formen von Inter- und Transdisziplinarität11 zu nennen sowie einige Voraussetzungen herauszuarbeiten.
Was ist Interdisziplinarität? Analog zur Terminologie von Mittelstraß (1989, 2005) können wir theoretische, praktische und methodische Interdisziplinarität voneinander unterscheiden: Auf eine Reihe weiterer Interdisziplinaritätsbegriffe kann ich hier nicht näher eingehen. 12 Theoretische Interdisziplinarität meint eine Kooperation aufgrund ähnlicher theoretischer Entitäten in verschiedenen Disziplinen bzw. Strukturgleichheit in Disziplinen. 11
Folgende Begriffe werden nicht weiter erläutert, finden sich allerdings in der Literatur auch nicht allzu häufig: Polydisziplinarität, Pluridisziplinarität, Kondisziplinarität. Zur Erläuterung von Multidisziplinarität und Pluridisziplinarität siehe Holzhey 1976, S. 477. Cross-Disziplinarität wird etwa von Jantsch 1970, S. 403 ff., Chimären-Disziplinarität von Heckhausen (1987, S. 139) expliziert. Im vorliegenden Band bespricht Michael Jungert einige der terminologischen Fragen rund um diese Begriffe. 12 Genannt seien a) okkasionelle Interdisziplinarität: Hier macht sozusagen Gelegenheit Interdisziplinarität. Auf Kongressen, in Zeitschriften, in Instituten arbeiten Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen vorübergehend und anhand eines konkreten Anlasses zusammen. Ein Beispiel bietet die Zeitschrift EWE (Erwägen – Wissen – Erkenntnis); b) temporäre Interdisziplinarität: In zeitlich befristeten Projekten arbeiten Wissenschaftler zusammen, die anschließend wieder intradisziplinär arbeiten; c) generelle Interdisziplinarität: In einem bestimmten Forschungsfeld wird nicht anders als interdisziplinär gearbeitet. Ein Beispiel ist die Biophysikalische Chemie (etwa bei zellulären Grenzflächenproblemen); d) Grenzfeldinterdisziplinarität: Eine Zusammenarbeit drängt sich wegen des Gegenstandsbereichs, der von verschiedenen Fächern bearbeitet wird, auf, z.B. arbeiten Biologen und Chemiker an biochemischen Problemen; e) Gewerkedisziplinarität „[…] meint „die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die nicht zu einer […] Befruchtung der beteiligten Disziplinen führt, so wie es seit langem in der Zusammenarbeit der verschiedenen Gewerke beim Bau eines Hauses üblich geworden ist“ (Deppert / Theobald 1997, S. 538ff.). Weitere Formen seien ohne Erläuterung genannt: Regionale Interdisziplinarität, Konzept-, Objekt-, Methoden- und Probleminterdisziplinarität (siehe Wasser 1986, S. 101, der einige Interdisziplinaritätstypologien untersucht).
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Paradigmen wie „Evolution“, „Katalyse“ oder „Information“ werden disziplinen- und theorieübergreifend verwendet (Evolution in Biologie, Ökonomie, in vielen Gebieten der Philosophie etc.). Praktische Interdisziplinarität spiegelt sich auch in der Praxis der Interdisziplinarität, etwa bei neuen Forschungscentern wie dem „Center for Imaging and Mesoscale Structures“ oder dem „Center for Genomics and Proteomics“ (beide Harvard) wieder. Hier stehen Fragestellungen im Vordergrund, bei denen es wenig sinnvoll ist, sie einem bestimmten Fach oder einer bestimmten Disziplin zuzuordnen. Es geht um Strukturen, bei Erstgenanntem etwa um Phänomene einer bestimmten Größenordnung mit all ihren Facetten, nicht um disziplinäre Gegenstände (vgl. Mittelstraß 2005, S. 20). Methodische Interdisziplinarität meint zunächst nicht mehr als eine disziplinenübergreifende methodische Kontinuität oder Übereinstimmung, so dass, etwa aufgrund gemeinsam genutzter experimenteller Einrichtungen, ähnlicher oder gleicher Methoden der Planung, Durchführung oder Auswertung von Experimenten interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert wird. Beispielsweise nutzen Onkologen, Populationsökologen und Versicherungsmathematiker zur Berechnung von Wachstumsprozessen ähnliche oder gleiche mathematische Modelle zur Prozess-Simulation, die wiederum von Informatikern operationalisiert werden.
Voraussetzungen für Interdisziplinarität Hier sind sowohl die Voraussetzungen13 auf der Seite eines Forschungsgegenstandes bzw. Problems als auch auf der Seite der Fächer/Disziplinen gemeint, die Interdisziplinarität fördern bzw. erst möglich machen. Dass die Messlatte für interdisziplinäre Zusammenarbeit vielleicht doch nicht so hoch liegt, wie die vielen genannten Schwierigkeiten und Einschränkungen in Kapitel 1 und 2 nahe legen, macht z.B. die Einschätzung von Jürgen Mittelstraß deutlich (siehe auch Ian Hackings Beitrag in diesem Band). Interdisziplinarität ist danach weder neu noch originell, allerdings auch nicht die normale Form wissenschaftlicher Forschung (vgl. Mittelstraß 2005, S. 19). Fächer und Disziplinen sind historisch gewachsen. Disziplinen lassen sich zudem von methodischen und theoretischen Vorstellungen leiten, die sich keiner Disziplin fügen, wie etwa Gesetz, Kausalität, Erklärung etc. Gegenstände allein definieren keine Disziplin, „sondern die Art und Weise, wie wir theoretisch mit ihnen umge-
13 Welcher erkenntnistheoretischen Voraussetzungen in Zusammenhang mit einem epistemischen Pluralismus Interdisziplinarität bedarf, erläutern Miller et al. (2008, S. 1ff.): „We first argue that most academic knowledge production remains, at present, entrenched in strictly disciplinary approaches. Despite decades of attempts to encourage interdisciplinarity, many stakeholders are holding on to a system framed by disciplinary boundaries. Following this, we examine the philosophical foundation for epistemological pluralism, examining the tensions between different epistemologies. With an eye toward the real-world challenge of sustainability, we then present a way of reorganizing research in an academic setting on a philosophical and practical level that may be applied across many scales – individual researchers, research projects, disciplines, etc.“
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hen.“ Interdisziplinarität ist nichts über den Disziplinen stehendes, sie behebt „disziplinäre Engführungen“ und ist „in Wahrheit Transdisziplinarität“ (Mittelstraß ebd.). Nehmen wir an, dass diese Einschätzung grundsätzlich richtig ist, dann lassen sich daraus einige Voraussetzungen für interdisziplinäre Zusammenarbeit ableiten: a) Grundlagenforscher, die eben an den Grenzen (bzw. über die Grenzen) dessen forschen, was eine theoretische Entität wie „Gesetz“ ausmacht, arbeiten eher interdisziplinär zusammen als – nennen wir sie – „die Detailarbeiter“, die im Zentrum einer Disziplin arbeiten; b) für viele der experimentell arbeitenden Naturwissenschaftler gilt sicher, was Joos (1987, S. 147) postuliert: Großgeräte induzieren Interdisziplinarität. Ich erweitere und schließe umgekehrt: Großforschungseinrichtungen sind oft eine notwendige Bedingung für Interdisziplinarität und sie sind eine ihrer Voraussetzungen. (Als Beispiele seien genannt: das CERN in Frankreich oder die PTB oder GBF in Deutschland). 14 Etwas allgemeiner fasst Heckhausen eine wichtige Voraussetzung (Heckhausen 1987, S. 133f.): Wir haben oben (3.1.) gesehen, dass Integrationsniveau, Gegenstandsaspekt und materialer Aspekt Disziplinarität bestimmen. Wenn verschiedene, aber nahe verwandte Zwillingsdisziplinen wie Vergleichende Verhaltensforschung und Psychologie der Verhaltensentwicklung und Sozialpsychologie zusammenarbeiten, dann treten eben wegen der Ähnlichkeiten einige Schwierigkeiten nicht auf und ein Gelingen 15 der interdisziplinären Zusammenarbeit wird wahrscheinlicher.
Was ist Transdisziplinarität? Die meisten Autoren, die an theoretischen – seien es wissenschaftstheoretische, methodologische, forschungsheuristische oder epistemische – Problemen interessiert sind, sehen zwischen Inter- und Transdisziplinarität Übergänge, verweisen darauf, dass Transdisziplinarität weiterentwickelte und in diesem Sinne „bessere“ Interdisziplinarität ist oder argumentieren, Transdisziplinarität erfordere eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen und führe schließlich zur Überschreitung und Verschmelzung verschiedener Disziplinen (etwa Baer (2010); Schwarzwald o.J., S. 1). In Schwarzwalds Sicht hebt eine transdisziplinäre Herangehensweise den „gemeinsamen Gehalt, der die Disziplinen untereinander, möglicherweise sogar in ihrem Anliegen, verbindet“ hervor. Enge Zusammenhänge zwischen Inter- und Transdisziplinarität werden auch von Mittelstraß (2005) oder Völker (2004) gesehen. Nach Mittelstraß bedeutet Interdisziplinarität konkrete Zusammenarbeit auf Zeit, wohingegen transdisziplinäre „Kooperation […]
14 Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Interdisziplinarität Großforschungseinrichtungen voraussetzt, sondern, dass faktisch in vielen Großforschungseinrichtungen interdisziplinär gearbeitet wird, insbesondere in naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungszentren. 15 Was „gelingende“ Interdisziplinarität ist, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden (siehe etwa Mansilla / Gardner 2003). In epistemischer Perspektive bieten Mansilla / Gardner 2003, S. 2, Kriterien zur Evaluation an: „We delineate three core epistemic 'symptoms' of quality interdisciplinary work emerging from our analysis: consistency, balance, and effectiveness.”
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zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung“ führe (Mittelstraß 2005, S. 19).16 Was Transdisziplinarität ist, wird durchaus unterschiedlich aufgefasst.17 Balsiger (2005, S. 185) charakterisiert Probleme, die (allenfalls) transdisziplinär gelöst werden können. Für solche Probleme gilt: x Sie sind meist im außerwissenschaftlichen Bereich (Ökonomie, Politik, Lebenswelt) entstanden. x Dort werden ihre Lösungen als dringlich empfunden. x Sie werden von der Öffentlichkeit als relevant angesehen. x Sie werden über institutionelle Wege (Forschungsaufträge, Projektfinanzierung) an die Wissenschaft herangetragen. Balsiger (2005, S. 187) fasst zusammen: Gemäß der […] vorgeschlagenen Begriffsbestimmung von ‚Transdisziplinarität‘ richtet sich transdisziplinäre Forschung auf Probleme bzw. Problembereiche, die nicht unbedingt im Bereich der Wissenschaften entstehen und deren Lösung hauptsächlich von öffentlichem oder zumindest nicht individuell bestimmbarem Interesse ist. Sicher werden so wichtige Forschungsgebiete genannt, die – so scheint es jedenfalls – dann auch gute Beispiele für transdisziplinäre Zusammenarbeit sind: Nanotechnologie (dagegen: Schummer 2004), Umwelttechnologien und Kognitionswissenschaften. Im deutschsprachigen Raum hat vor allem Mittelstraß (2005)18 terminologische Fragen besonders gründlich behandelt. Er sieht Transdisziplinarität als Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das überall dort wirksam wird, „wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird“ (Mittelstraß 2005, S. 20). Methodische Transdisziplinarität (Mittelstraß 2005, zugleich Teil des Aufsatztitels) kann nur dann richtig verstanden werden, wenn wir davon ausgehen, dass Transdisziplinarität ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip ist, aber weder ein Theorieprinzip noch eine Methodenform (Mittelstraß 2005, S. 21). Mittelstraß (2005, S. 23) rekonstruiert anhand eines Beispiels19 einige methodische Stufen der Arbeit: 16 Mittelstraß betont, dass Mischformen aus Fachlichkeit, Disziplinarität und Transdisziplinarität die Regel der Praxis sind und nicht die Reinformen. 17 Eine klassische Definition gibt etwa Holzhey (1976, S. 477): Transdisziplinarität „mise en œuvre d'axiomatique commune à un ensemble de disciplines“, d.h. also, dass Transdisziplinarität einer Gruppe verschiedener Disziplinen eine gemeinsame axiomatische Basis bietet. Weitere Explikationen bieten etwa Wendt (2003, S. 1ff.); Stokols et al. (2003, S. 23f.); Wickson / Carew / Russell (2006, S. 1048–1052). 18 Siehe dazu auch Gräfrath / Huber / Uhlemann (1991, S. 182–185), die im wesentlichen Kocka (1987) und Mittelstraß (1989) referieren. 19 Diese transdisziplinäre Arbeitsgruppe, die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gebildet wurde, hatte die Aufgaben, Gesundheitsstandards zu formulieren, zu
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[D]isziplinärer Ansatz, Einklammerung des Disziplinären, Aufbau interdisziplinärer Kompetenz, ‚Entdisziplinierung‘ im Argumentativen, Transdisziplinarität als argumentative Einheit. Entscheidend ist der Gesichtspunkt des Argumentativen bzw. der Umstand, dass sich der ganze Prozess, in einem nicht-trivialen Sinne, im argumentativen Raum abspielt; im angeführten Beispiel: Die gesuchte Einheit, hier die Bestimmung von Gesundheitsstandards bzw. die Bestimmung von Maßen für ein gesundes Leben, wurde über unterschiedliche Disziplinen hinweg und gleichzeitig durch diese hindurch argumentativ erzeugt. (ebd.) Diese methodische Transdisziplinarität, die etwa bei der Bearbeitung ökologischer Probleme20 greift, zeichnet aus, dass verschiedene Disziplinen beteiligt sind und dass es sich – wenigstens in Teilen – um außerwissenschaftliche Probleme handelt. Außerwissenschaftlich sind die Probleme insofern, als dass sie außerhalb der Wissenschaften entstanden sind und ihre Lösungen in einem gesellschaftlich-politischen Rahmen verhandelt werden müssen. Theoretische Transdisziplinarität hingegen entsteht aus der Lösung innerwissenschaftlicher Problemstellungen. Hier ist die Strukturforschung ein prominentes Beispiel. Viele Probleme sind hier nicht von außen (durch die Gesellschaft oder „die Welt da draußen“) gegeben, sondern werden innerwissenschaftlich erzeugt und gelöst. Die Erzeugung, Analyse, Aufklärung und Nutzbarmachung von Strukturen 21 verschiedener Größenordnungen werden unter chemischer, physikalischer, biologischer, computerwissenschaftlicher, materialwissenschaftlicher, geologischer und medizinischer Perspektive behandelt. Zu den Voraussetzungen von Transdisziplinarität 22 sei hier nur in Stichworten genannt (Mittelstraß 2005, S. 22f.): a) Der gegenseitige Wille zu lernen und die eigenen disziplinären Vorstellungen zur Disposition zu stellen (was erst einmal reflektiert bzw. offen gelegt werden muss); b) Die Erarbeitung eigener interdisziplinärer Kompetenz, in „produktiver Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen“; c) Die Fähigkeit zur begründen und zu etablieren. In der Sicht von Mittelstraß ist die dort umgesetzte methodische Transdisziplinarität zugleich praktische Transdisziplinarität. 20 Hier sind mindestens Physik, Chemie, Biologie, Klimatologie, Soziologie und Psychologie beteiligt. 21 Einige Hinweise mögen genügen: Beschichtungen im Nanobereich ermöglichen neue Oberflächeneigenschaften und die Herstellung von Biomembranen; die klassische chemische Strukturaufklärung, z.B. mittels NMR (Kernspinresonanzspektroskopie) ist für die Strukturaufklärung von Biopolymeren wichtig und damit für eine Reihe von transdisziplinären Fragestellungen relevant. Ein Beispiel ist die Frage nach der Synthese von Biopolymeren in Prothesen. 22 Andere Voraussetzungen nennt etwa Bruder (1994, S. 61): „A transdisciplinary approach requires the team members to share roles and systematically cross discipline boundaries. The primary purpose of this approach is to pool and integrate the expertise of team members so that more efficient and comprehensive assessment and intervention services may be provided. The communication style in this type of team involves continuous give-and-take between all members (especially with the parents) on a regular, planned basis.“ (Hier geht es um transdisziplinäre Ansätze innerhalb einer Pädagogik der frühen Kindheit.)
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Reformulierung eigener Ansätze im Lichte der gewonnenen interdisziplinärer Kompetenz; d) Die Erstellung eines gemeinsamen Textes, in dem die Einheit der Argumentation (‚transdisziplinäre Einheit‘) an die Stelle eines Aggregats disziplinärer Teile tritt.
4. Zusammenfassung Der vorangegangene Überblick verdeutlicht, wie reichhaltig die Begriffsnuancen der verschiedenen maßgebenden Begriffe, in diesem Beitrag also „Fächer“, „Disziplinen“, „Inter-“ und „Transdisziplinarität“ sind, wie voraussetzungsreich inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit ist, dass sie nicht immer gewünscht, nötig oder ganz zwingend ist, dass aber einige Forschungsbereiche andererseits ohne inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit nicht vorangebracht werden können. Im Einzelnen: Es ist sicher auch eine Frage optimistischer oder weniger optimistischer Einschätzung, ob – und wenn ja, unter welchen konkreten Bedingungen – interdisziplinäre Arbeit gelingt. Die folgenden, in Abschnitt 1 belegten Thesen, mögen vor zu hohen Erwartungen oder gar Interdisziplinaritäts-Euphorie warnen: a) Interdisziplinarität wird häufiger gefordert als umgesetzt; b) Interdisziplinarität hat (enge) Grenzen; c) Interdisziplinarität ist zuweilen weder wünschenswert noch notwendig. Wer meint, wir wüssten schon ungefähr, was Interdisziplinarität sei, begibt sich auf sehr dünnes Eis (Abschnitt 2): a) Angesichts der teilweise einander widersprechenden, zu engen oder zu weiten Begriffsbestimmungen wird klar, dass man mindestens eine diskussionsfähige Arbeitsdefinition braucht. Diese muss tragfähiger sein als manche der in Kapitel 2 gemachten Vorschläge; b) Wer Interdisziplinarität zu anspruchsvoll definiert oder dem Begriff eine abwertend gemeinte Bedeutungskomponente belegt, der darf sich nicht wundern, wenn kaum eine gelungene interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich ist; c) Offensichtlich kommt „Interdisziplinarität“ weder ein Prädikat „besonders wertvoll“ noch umgekehrt Disziplinarität ein Prädikat „veraltet und langweilig“ zu. Fächer und Disziplinen sind nicht identisch (Abschnitt 3.1.). Wie immer die Form der Kooperation zwischen den Disziplinen aufgefasst wird bzw. welche Disziplinen auch immer interdisziplinär zusammenarbeiten: Wer von Disziplinarität nicht sprechen möchte, sollte über Interdisziplinarität schweigen. In der Reihung Disziplinarität – Interdisziplinarität – Transdisziplinarität wird die Kooperation zwischen den Disziplinen größer bis hin zur Verschmelzung bzw. Auflösung disziplinärer Grenzen. Dabei wird Transdisziplinarität oft als konsequente und am weitesten entwickelte „Interdisziplinarität“ verstanden. Insbesondere bei besonders komplexen Problemen, die zudem oft noch gesellschaftlich-politisch relevant sind, werden transdisziplinäre Vorgehensweisen und entsprechende institutionelle Organisationsstrukturen gefordert. Prominente Beispiele sind Probleme der Kognitionswissenschaften, Umweltprobleme oder Probleme der Nanotechnologie. Die Tragfähigkeit interdisziplinärer Konzepte, die mehr als nur programmatischen Charakter haben, hängt nicht zuletzt von begrifflichen Vorentscheidungen ab. Mindestens das sollte dieser Beitrag zeigen.
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Interdisziplinarität: Ein Modell der Modelle 1. Einleitung Wie im Vorwort zum vorliegenden Band erwähnt, befasst sich die Wissenschaftstheorie kaum mit dem Thema „Interdisziplinarität“. Gerade „[s]ystematische Arbeiten zum Begriff“ der Interdisziplinarität sind dünn gesät (Sedmak 2003, S. 6; vgl. auch Deinhammer 2003, S. 51) – und dies trotz der vielfachen, ebenfalls im Vorwort angesprochenen Probleme, die mit dieser begrifflichen Unklarheit zusammenhängen (vgl. Blaschke 1976, Loibl 2005 und Münch 2007, S. 311). Woran liegt das? Dieser Beitrag vertritt dazu folgende These: Bei Interdisziplinarität handelt es sich, ihrem möglichst allgemeinen Verständnis nach, um ein Gefüge aus Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen. In der Wissenschaftstheorie kursieren nun jeweils schon bestimmte Ansichten darüber, wie sich derartige Beziehungen gestalten und gestalten sollten (vgl. dazu den Beitrag von Jungert in diesem Band). Diese Ansichten lassen sich ihrerseits als mehr oder weniger abstrakte Darstellungen von Beziehungsgefügen und damit in einem sehr weiten Sinn als Modelle verstehen (vgl. Bischof 1995, S. 11f.). Diese Modelle wiederum bleiben weitgehend implizit, weil sie in den grundlegenden Annahmen der Wissenschaftstheorie darüber verankert sind, worum es sich bei der Wissenschaft bzw. den Wissenschaften eigentlich handelt. Weil und insofern jene Modelle aber implizit bleiben, behindern sie die Reflexion über Interdisziplinarität: Als das – vermeintlich – immer schon Bekannte wird sie nicht zum Gegenstand ausdrücklicher Erkenntnisbemühungen (vgl. Hegel 1988, S. 25). Die impliziten Modelle spielen daher in der Wissenschaftstheorie die Rolle von Bildern, die sie gefangen halten (vgl. Wittgenstein 1997, §115) bzw. die sie der Interdisziplinarität gegenüber in unreflektierter Befangenheit erhalten. Sie tun dies wegen ihres impliziten Charakters, der zwar, wie ein – in diesem Fall ziemlich großer – blinder Fleck, vordergründige Klarheit und Orientierung schafft, damit zugleich aber auch den Blick verengt. Die Rede von Bildern hat hier übrigens nicht nur metaphorischen Charakter: Jene Modelle werden in der einschlägigen Literatur, wenn auch nicht thematisiert oder reflektiert, so doch gerne in Form von Diagrammen oder sonstigen Abbildungen dargestellt bzw. als Beschreibungen von Bildern präsentiert. (Beispiele dafür finden sich unten unter Punkt 3.). Modellhafte Vorstellungen dessen, wie wissenschaftliche Disziplinen sich aufeinander beziehen können, sind allerdings nicht per se hinderlich, sondern nur, solange sie nicht als solche erkannt und diskutiert werden. Daher ist es zunächst erforderlich, sie „explizit zu machen“ (vgl. Brandom 2000). Es geht also, um bei dem gerade angestellten Vergleich zu bleiben, nicht darum, den blinden Fleck zu entfernen – was wahrnehmungstechnisch auch gar nicht wünschenswert wäre. Es geht vielmehr darum, seine
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Existenz zu erkennen, ihn bei der Auswertung entsprechenden Materials zu berücksichtigen und nach Möglichkeit sogar effektiv einzusetzen. D.h.: Sind die Modelle erst einmal als solche erkannt, gestattet dies, sie zu analysieren und auf dieser Grundlage nach ihrer jeweiligen Brauchbarkeit zu fragen.
2. Vorklärungen Um Modelle von Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen ausfindig machen zu können, sind einige Vorklärungen erforderlich: Was sind überhaupt wissenschaftliche Disziplinen, und wie können sie sich aufeinander beziehen? Dabei ist darauf zu achten, die Antworten auf diese Fragen möglichst so allgemein zu geben, dass keines der möglichen Modelle dadurch ausgeschlossen wird. Um bei den Relata anzusetzen, aus denen die Relationen der Interdisziplinarität bestehen: Wissenschaftliche Disziplinen – zumindest diejenigen, die wir kennen und anhand derer wir uns überhaupt einen entsprechenden Begriff machen können – sind besondere Formen menschlicher Aktivitäten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf eine gewisse Weise ein in möglichst hohem Grade gesichertes Wissen gewährleisten: indem sie sich einem bestimmten Gegenstandsbereich mittels einer bestimmte Methode bzw. mittels einer Menge bestimmter Methoden widmen (Detel 2007, S. 89–91). Damit es eine Beziehung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen geben kann, müssen demnach zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Da eine Relation jeweils eine Mehrzahl von Relata voraussetzt, muss es zum einen mehrere, voneinander verschiedene wissenschaftliche Disziplinen geben. Zum anderen müssen sich diese verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen aufeinander beziehen können, und zwar als solche. Wenn ein Wirtschaftswissenschaftler als Gutachter des Kuratoriums einer Universität das Budget des dortigen astrophysikalischen Instituts kürzen lässt, stellt dies freilich keine interdisziplinäre Beziehung zwischen Ökonomie und Astrophysik dar. Auch eine psychologische Studie über die Einstellungen von Ökonomen zur Astrophysik ist noch kein interdisziplinäres Projekt in irgendeinem interessanten Sinne. Eine interdisziplinäre Beziehung liegt nur dann vor, wenn es sich um eine Beziehung handelt, die sich in der Aktivität der wissenschaftlichen Disziplinen vollzieht. Dieser Vollzug kann nach den genannten Bestimmungsstücken (Gegenstand, Methode und besondere Form menschlicher Aktivität) zum einen darin bestehen, dass sich verschiedene Disziplinen gemeinsam auf ein und denselben Gegenstandsbereich richten; zum anderen kann er als gemeinsame Anwendung einer Methode geschehen. Darüber hinaus ist die auf Wissenserwerb abzielende wissenschaftliche Aktivität als solche zu berücksichtigen. Denn diese Aktivität vollzieht sich zwar im Hinblick auf bestimmte Gegenstandsbereiche und in der Anwendung bestimmter Methoden, ist aber an deren jeweilige konkrete Ausprägungen nicht völlig gebunden, wie die Dynamik der Wissenschaftsgeschichte zeigt (Gähde 2007). Gerade das Suchen nach Wissen führt dazu, Gegenstandsbereiche zu erweitern, zu verengen oder zu verändern und Methoden zu modifizieren, neu zu entwickeln und aufzugeben. Eine derartige Aktivität als konstitutiver Bestandteil einer interdisziplinären Beziehung soll in der Folge als „Kooperation“ bezeichnet werden.
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Es gibt demzufolge drei Typen interdisziplinärer Beziehungen: interdisziplinäre Beziehungen im Hinblick auf den Gegenstandsbereich, auf die Methode oder auf die Kooperation. Diese Einteilung ist nicht völlig disjunkt, denn wissenschaftliche Disziplinen können sich sowohl im Hinblick auf Gegenstandsbereich als auch im Hinblick auf ihre Methode aufeinander beziehen, und dies geschieht immer im Rahmen einer Kooperation (wenngleich nicht umgekehrt). Wenn ‚verschiedene‘ wissenschaftliche Disziplinen einander in Bezug auf ihren Gegenstandsbereich und ihre Methode allerdings völlig gleich wären, so würde es sich jedoch nur um eine einzige wissenschaftliche Disziplin handeln. Soll eine Beziehung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen möglich sein, ist daher ein Unterschied auf mindestens einer jener Ebenen vorauszusetzen. In der Folge werden idealtypisch Fälle betrachtet, in denen sich wissenschaftliche Disziplinen primär durch Besonderheiten auf einer Ebene voneinander abgrenzen, also primär jeweils im Hinblick auf Gegenstandsbereich oder Methode. Die so entstehende Übersicht kann auch auf gemischte Fälle angewandt werden; die dabei denkbaren Modifikationen sind allerdings so vielfältig, dass sie aus Orientierungsgründen keine Berücksichtigung finden. Die genannten drei Typen interdisziplinärer Beziehungen heben sich ab von Fällen, in denen es keine derartigen Beziehungen gibt. Diese Fälle bestehen zum einen darin, dass die Zahl wissenschaftlicher Disziplinen kleiner als zwei, also entweder eins oder null ist. Ein weiterer Fall interdisziplinärer Beziehungslosigkeit wäre gegeben, wenn es zwar eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen gäbe, diese sich aber im Hinblick auf die erwähnten Bestimmungsstücke überhaupt nicht berühren würden. All diese Fälle sind hier auch mit zu berücksichtigen, da sie den Hintergrund darstellen, von dem sich jene Typen abheben und vor dem sie sich zu bewähren haben. Zudem lässt die Annahme nur einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin, wie noch zu zeigen ist, zumindest interdisziplinäre Beziehungen in abgeschwächter Form zu. Ebenso kann eine Beziehungslosigkeit zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen selbst als – zugegebenermaßen eigenartige – „Beziehung“ zwischen ihnen aufgefasst werden. Die entsprechenden Modelle sowie die weiteren erwähnten Fälle gilt es nun nicht einfach nebeneinander zu betrachten, sondern in ihrem systematischen Zusammenhang. Einen solchen Zusammenhang soll das „Modell der Modelle“ stiften. Es entwickelt die einzelnen Modelle von grundlegenden Fragen her, auf die jeweils Ja/Nein-Antworten möglich sind. So entstehen binäre Verzweigungen, die aufzeigen, welche Möglichkeiten durch ein bestimmtes Modell realisiert bzw. ausgeschlossen worden sind. Das Realisieren von Möglichkeiten lässt sich dabei als ein Nutzen des jeweiligen Modells verstehen, während das Ausschließen von Möglichkeiten für die damit verbundenen Kosten steht. Über Kosten bzw. Nutzen eines Modells entscheidet dabei auch, welche prinzipielle Reichweite es jeweils besitzt – ob es nur regional funktioniert, d.h. die Beziehungen einzelner Disziplinen betrifft, oder ob auch eine globale Anwendung auf alle Disziplinen sinnvoll möglich ist. Diese Kosten-Nutzen-Analyse soll lediglich zeigen, wodurch der Übergang von einem Modell bzw. von einer Gattung von Modellen zu den Alternativen motiviert sein kann und dient nicht einer abschließenden Bewertung, um die es in diesem zunächst auf Überblick angelegten Beitrag nicht geht.
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Bei der nun anstehenden Ausgestaltung der einzelnen Modelle und ihres Zusammenhangs wird die von John Rawls (1979, S. 66f.) eingeführte Methode des ÜberlegungsGleichgewichts angewandt: Den Ausgangspunkt bilden die gerade angestellten Überlegungen. In deren Licht werden die faktisch vorgefundenen Disziplinen und deren Beziehungen betrachtet, was es wiederum erlaubt, die allgemeinen Erwägungen konkreter zu gestalten.
3. Ein Modell der Modelle Die Ausgangsfrage für ein Modell der Modelle interdisziplinärer Beziehungen lautet: Gibt es überhaupt wissenschaftliche Disziplinen? Wer diese Frage verneint, bestreitet zusammen mit der Existenz der Relata auch die Möglichkeit jeglicher zwischen ihnen bestehender Relationen, also die Möglichkeit von interdisziplinären Beziehungen überhaupt (Finkenthal 2001 und 2008). Diese dezidiert postmoderne Option beruft sich darauf, dass es sich bei der Einteilung von Wissenschaft in verschiedene Disziplinen um einen lediglich historisch und kulturell bedingten Vorgang handelt, der dem Gegenstand der Wissenschaft – der einer in sich selbst äußerst komplexen Wirklichkeit – wenn überhaupt noch von einer Wirklichkeit gesprochen werden kann – nicht gerecht wird. Was sich jener Position zufolge in vermeintlich interdisziplinären Kontakten tatsächlich ereignet, ist der allmähliche Abbau der beliebig gesetzten Grenzen zwischen den Disziplinen. Diesen Prozess bezeichnet Finkenthal als „Multidisziplinarität“. Mit ihren Grenzen aber lösen sich auch die Disziplinen selbst auf. An deren Stelle tritt demnach eine in sich grenzenlose, wenngleich nach wie vor höchst komplexe Wissenschaft. In jenem komplexen Ganzen gibt es keine in sich abgeschlossenen Einheiten mehr, die sich als einzelne, wohl bestimmte Disziplinen untereinander absondern. Im Hinblick auf die Disziplinarität von Wissenschaft als eine Grundvoraussetzung für Interdisziplinarität kann dieses Modell „nihilistisch“ genannt werden. Der Nutzen dieser Variante besteht darin, dass sie zum einen global ist – sie bezieht sich, wenngleich in negativ-kritischer Weise, auf jegliche Form interdisziplinärer Beziehung – und dass sie zum anderen die vielfältigen Schwierigkeiten erklärt, mit denen derartige Beziehungen verbunden sind: Solche Probleme beruhen demnach darauf, dass etwas als statische Beziehung zwischen distinkten Elementen angesehen und gestaltet wird, was in Wirklichkeit ein Fusionsprozess ist. Dass es derartige Verschmelzungen einzelner Disziplinen tatsächlich gibt, ist unbestritten. Dass solche Vorgänge jedoch zwingend zur völligen Auflösung von Disziplinarität überhaupt führen, ist nicht erwiesen. Das klassische Beispiel, die Integration der Optik in die Physik mit Hilfe von Brückengesetzen, führte zwar zum Ende der Optik als einer eigenständigen Disziplin, tat aber dem disziplinären Status der Physik keinen Abbruch, sondern trug vielmehr dazu bei, diesen Status zu bekräftigen. Die Verneinung des Bestehens von wissenschaftlichen Disziplinen hat daher zwar durchaus regionalen Stellenwert – und ist dann ein Aspekt der weiter oben thematisierten Reduktion bzw. Elimination. Dafür, dass sie zugleich auch das globale Modell interdisziplinärer Beziehungen, bzw. das globale Modell für das Überwinden derartiger Beziehungen, stellen könnte, fehlt es jedoch wenigstens
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gegenwärtig an belastbaren Indizien. Stattdessen gibt es gute Gründe dafür, dass das Konzept der einzelnen wissenschaftlichen Disziplin eine Berechtigung besitzt und sie auch in Zukunft behalten wird (vgl. die Beiträge von Hacking und Sukopp in diesem Band). Daher ist es durchaus angebracht, die Eingangsfrage zu bejahen, also davon auszugehen, dass es überhaupt wissenschaftliche Disziplinen gibt. Aber: Wie viele wissenschaftliche Disziplinen gibt es? Eine insbesondere im frühen und mittleren 20. Jahrhundert einflussreiche Antwort hierauf lautet: Es gibt nur eine einzige. Damit verbunden ist das Schlagwort „unity of science“. Dadurch wird ein Bereich von Modellen eröffnet, der als „monistisch“ deklariert werden kann. Diese Position wurde zu jener Zeit im Wiener Kreis (vgl. Stöltzner / Uebel 2006, S. LX–LXV) und der von ihm beeinflussten analytischen Philosophie insbesondere in Gestalt des Physikalismus vertreten, dem zufolge es sich bei der einen und einzigen bestehenden wissenschaftlichen Disziplin um die Physik handelt. Diese Position ist unter den weit verbreiteten Voraussetzungen plausibel, dass sich die Physik mit den grundlegenden Gegebenheiten der materiellen Wirklichkeit beschäftigt und dass alle weiteren Wirklichkeitsbereiche, vom Biologischen über das Psychische bis zum Sozialen und Kulturellen, auf diesen Gegebenheiten aufbauen und deren Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Konkurrenzlos ist die Physik als Kandidatin für eine Einheitswissenschaft allerdings nicht. Auch und gerade in neuerer Zeit gibt es, explizit oder implizit gegen den Physikalismus gerichtete, Bekenntnisse zu einer anderen Einheitswissenschaft: etwa zu einer Soziologie, welche die Physik als Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Selbstverständigung umgreift (Luhmann 1990) oder zu einer philosophisch reflektierten konstruktivistischen Kulturwissenschaft (Janich 1992). All dies ist hier nur am Rande zu vermerken, denn es geht in diesem Beitrag nicht um die inhaltliche Besetzung der Rolle der Einheitswissenschaft, sondern darum, welche formalen Folgen die Annahme einer Einheitswissenschaft für die Frage nach den interdisziplinären Beziehungen zeitigt. Die am schwersten wiegende Folge dieser Annahme besteht darin, dass es interdisziplinäre Beziehungen in einem engeren Sinne gar nicht geben kann, da keine voneinander verschiedenen Relata existieren, zwischen denen derartige Beziehungen bestehen könnten. Anstelle der vielen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es demnach nur die eine, einzige Wissenschaft. Hieraus ergibt sich auch schon ein wichtiger Vorteil dieser Position: Die Einheit jener Wissenschaft – wenn es sie denn gibt – gewährleistet zugleich auch die Einheit des Wissenschaftsbegriffs und scheint damit auch die Wissenschaftstheorie auf eine solide begriffliche Grundlage zu stellen: Sie beschäftigt sich demnach mit dem einen Begriff der einen Wissenschaft und muss sich nicht mit Problemen begrifflicher Mehrdeutigkeiten im Hinblick auf ihren Gegenstand befassen. Ein weiterer, wissenschaftstheoretisch sekundärer Vorteil dieses Modells liegt darin, dass die eine Wissenschaft ihm zufolge auch als in sich geschlossene Institution auftreten kann, wenn es darum geht, nach ihrem Vorbild und unter ihrer Anleitung die Gesellschaft zu verbessern – ein wichtiges Anliegen der zumeist sozialreformerisch engagierten Mitglieder des Wiener Kreises (vgl. Stöltzner / Uebel 2006, S. XVII–XVIII).
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Das Modell der Einheitswissenschaft sieht sich jedoch mit einem gravierenden Problem konfrontiert: Ihm steht, zumindest dem Anschein nach, das massive Faktum gegenüber, dass die ‚real existierende‘ Wissenschaft als eine Vielzahl von Disziplinen auftritt, die sich zudem in wachsender Spezialisierung immer weiter verzweigen (vgl. Poser 2001, S. 279–287). Die Frage nach den interdisziplinären Beziehungen stellt sich daher auch für die Vertreter jenes Modells erneut in gewandelter Form: Wie verhält sich die eine, einzige Wissenschaft zu der zumindest scheinbar gegebenen Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen? Aus der Perspektive des fraglichen Modells gibt es darauf zwei mögliche Antworten. Eine von ihnen lautet: Jene Disziplinen – zumindest einige von ihnen – sind auf eine noch nicht durchschaute Weise mit der Einheitswissenschaft bzw. mit Teilen derselben identisch – dann gibt es interdisziplinäre Beziehungen wenigstens in Gestalt von Identitäts-„Relationen“. Diese Relationen bilden aber kein stabiles Strukturgefüge, sondern sind gewissermaßen dynamisch zu verstehen, als Bahnen, auf denen sich die scheinbar von der Einheitswissenschaft verschiedenen Disziplinen auf sie zubewegen und schließlich auch institutionell mit ihr verschmelzen – anschaulich wird hier von „consilience“ gesprochen (vgl. den englischen Originaltitel von Wilson 1998), wobei es letztlich nur die vielen verschiedenen Disziplinen sind, die auf die Einheitswissenschaft hin ‚zusammenspringen‘. Diese Varianten des monistischen Modells lassen sich als „reduktiv“ bezeichnen. Diese Position kommt auch, wie bereits erwähnt, in soziologischen, kulturalistischen und theologischen Fassungen vor; in neuerer Zeit wird sie jedoch meistens als ein reduktiver Materialismus bzw. Physikalismus vertreten. Als Standardbeispiel für eine gelungene Reduktion hin zur Physik gilt dabei die Art und Weise, wie die bis dahin als eigenständige Disziplin fungierende Optik durch das Aufstellen elek-trodynamischer Brückengesetze zur Teildisziplin der Physik wurde, wodurch das Licht seinen Status als besonderer, vom gewöhnlichen Physischen scharf abgetrennter Gegenstandsbereich verlor (vgl. Nagel 1961). Monistisch-reduktive Modelle erklären, warum es trotz der angenommenen Einheit und Einheitlichkeit der Wissenschaft scheinbar viele verschiedene Wissenschaften gibt. Der Anschein besteht nur dadurch, dass faktische Identität verkannt wird, und er verschwindet, sobald diese erkannt wird. Reduktive Modelle werden daher bevorzugt innerhalb der Auseinandersetzung mit der Identitätstheorie in der Philosophie des Geistes diskutiert (vgl. Beckermann 2000, S. 101–114; zur Anwendung in der Wissenschaftstheorie im Allgemeinen vgl. aber auch Hoyningen-Huene 2007, S. 178–191). Von diesen Modellen wird für die Einheitswissenschaft ein klares Ziel gesetzt: alles in sich zu absorbieren, was den Namen „Wissenschaft“ verdient. Damit wird jedoch auch deutlich: Derartige Modelle ‚lösen‘ das Problem der monistischen Modelle nur, indem sie seine bevorstehende Auflösung ankündigen. Diese Ankündigung hat – zumindest auf dem heutigen Stand der Wissenschaftsentwicklung – den Charakter einer Verheißung, die von beobachtbaren Trends konterkariert wird. Gerade als Verheißung lässt sie sich davon zwar nicht unmittelbar widerlegen, denn Trends können sich auch umkehren; aber gerade Modelle einer auf Reflexion angelegten Disziplin wie der Wissenschaftstheorie sollten ihre Überzeugungskraft nicht in erster Linie aus ihrem Verheißungscharakter beziehen, was hier jedoch durchaus der Fall zu sein scheint.
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Die Frage, wie sich die Einheitswissenschaft und die vielen wissenschaftlichen Disziplinen zueinander verhalten, lässt sich noch auf andere Weise beantworten: Bei jenen Disziplinen – zumindest bei einigen von ihnen – handelt es sich gar nicht um wissenschaftliche Disziplinen, sondern um pseudowissenschaftliche Phänomene. Gerade weil sie nicht mit der einen, einzigen Wissenschaft identisch sind, sind sie überhaupt keine Fälle von Wissenschaft. Interdisziplinäre Beziehungen bestehen in dieser Sichtweise bestenfalls als Beziehungen einer noch unentdeckten radikalen Verschiedenheit, deren Entdeckung das Ende jeweils eines Relatums im Hinblick auf dessen institutionellen Rang als Wissenschaft bedeutet. Als klassische Beispiele hierfür werden die Aussonderung der Alchemie und der Astrologie aus dem Kanon der Wissenschaften angeführt. Solche monistischen Modelle können als „eliminativ“ benannt werden. Diese Modelle werden ebenfalls bevorzugt im Rahmen der Philosophie des Geistes besprochen (vgl. Beckermann 2001, S. 245–266). Ein Standardwerk dieser Position ist Churchland 1986. Auch in den eliminativen Modellen gibt es interdisziplinäre Beziehungen nur auf eine abkünftige Weise, als Dynamik der Enttarnung und Entfernung von nur vermeintlichen Wissenschaften. Und auch monistisch-eliminative Modelle haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sie angesichts der gegenwärtigen Wissenschaftsentwicklung lediglich auf einer kontrafaktischen Verheißung zu beruhen scheinen. Einen gewissen Wert besitzen sowohl die reduktiven als auch die eliminativen Variationen der monistischen Modelle jedoch in rein regionaler Anwendung, da es eben durchaus geläufige Beispiele für die Reduktion einer Disziplin auf eine andere und auch für das Ausscheiden einer Pseudodisziplin aus dem Bereich der Wissenschaften gibt. Die globale Anwendung jener Modelle würde eigentlich erst zur Bestätigung der These führen, auf der sie beruhen, nämlich dass es lediglich eine einzige Wissenschaft gibt; gerade ob sich eine solch globale Verwendung durchführen lässt, bleibt jedoch zweifelhaft. Deshalb liegt es nahe, die Frage, ob es mehr als eine Wissenschaft gibt, mit „Ja“ zu beantworten. In Absetzung von den einheitswissenschaftlichen Modellen mehren sich dementsprechend seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Publikationen, die von „disunity of science“ handeln (vgl. Fodor 1974/1980; Margolis 1987; Rosenberg 1994). Dies lässt Positionen aufkommen bzw. erneut aufleben, denen zufolge interdisziplinäre Beziehungen in einem engeren Sinn möglich sind, da eine Vielzahl von Disziplinen eine notwendige Bedingung für Beziehungen zwischen diesen Disziplinen ist, und zwar für Beziehungen, die sich weder in bloßer Identität noch in bloßer, den Wissenschaftscharakter einzelner Relata letztlich aufhebender Verschiedenheit erschöpfen. Die von diesen Positionen vertretenen Modelle können als plurale Modelle gelten. Allerdings ist diese notwendige Bedingung für interdisziplinäre Beziehungen nicht auch schon eine hinreichende. Es lässt sich durchaus die Situation denken, dass es zwar verschiedene wissenschaftliche Disziplinen gibt, zwischen ihnen aber keine Beziehungen herrschen. Die nächste Frage ist also: Gibt es Beziehungen zwischen jenen vielen wissenschaftlichen Disziplinen? Die Verneinung dieser Frage führt zu pluralistischen Modellen. Diese Modelle scheinen zwar, angesichts durchaus bestehender interdisziplinärer Beziehungen, ähnlich kontraintuitiv zu sein wie die monistischen, wurden aber insbesondere im 19. und im
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frühen 20. Jahrhundert durchaus vertreten, und zwar zu einem bestimmten Zweck: um die Geisteswissenschaften vor den wachsenden Geltungsansprüchen der Naturwissenschaften zu schützen und ihnen einen unantastbar eigenen Wirkungsbereich zu sichern (vgl. Seiffert 1996 sowie die Beiträge in Simon-Schaefer 1975). Es handelt sich also um eine Reaktion auf Versuche, mittels reduktiver oder eliminativer Modelle eine naturalistische Einheitswissenschaft durchzusetzen. Diesen Versuchen soll folgendes Bild – also folgendes Gegenmodell – Einhalt gebieten: Es gibt zwei völlig verschiedene Typen von Wissenschaft, die auf ganz unterschiedlichen Grundlagen beruhen, sei es von der angewandten Methode her – naturwissenschaftliches Erklären bzw. nomothetische Untersuchung allgemein-gesetzlicher Zusammenhänge auf der einen, geisteswissenschaftliches Verstehen bzw. ideographische Einzelfallanalyse auf der anderen Seite – oder aufgrund radikal verschiedener Gegenstände wie eben der kausal-determinierten Natur bei den Naturwissenschaften und dem von Freiheit gekennzeichneten Geist bei den Geisteswissenschaften. In einer zugleich abgeschwächten und erweiterten Form begegnen uns derartige pluralistische Modelle auch in späteren Kontexten, die eigentlich von einem weithin akzeptierten Naturalismus geprägt sind (und in denen die oben angeführte Rede von „disunity of science“ beheimatet ist): Emergenztheorien (vgl. Stephan 2007) erkennen zwar den Gegenstandsbereich der Physik als grundlegende, alles andere tragende Wirklichkeitsschicht an, postulieren aber für die sich auf ihnen aufbauenden, komplexeren Gegenstandsbereiche etwa der Biologie, Psychologie, Soziologie usw. neue, sich ‚von unten‘ her nicht erschließende Gesetzmäßigkeiten und damit wiederum eine letzten Endes beziehungslose Pluralität von Wissenschaften. Der Funktionalismus innerhalb der Philosophie des Geistes, zumindest in seiner klassischen Fassung (vgl. Fodor 1974/1980, der ausdrücklich schon im Titel von „disunity of science“ spricht, sowie Beckermann 2000, S. 141–180), will mentalen Phänomenen zumindest eine eigene Beschreibungsebene zusprechen, auf der sich das Vokabular der Informationsverarbeitung, nicht aber dasjenige der Physik oder auch der Neurobiologie anwenden lässt. Die verschiedenen, entweder radikalen oder gemäßigten pluralistischen Modelle lassen sich als leicht unterschiedliche Bilder interdisziplinärer Beziehungslosigkeit verstehen: Radikale Pluralisten begreifen wissenschaftliche Disziplinen bzw. deren übergeordnete Typen als geschlossene Kreise, die einander nicht berühren. Gemäßigte Pluralisten sehen hier eher Schichten, die in irgendeiner Weise hierarchisch aufeinander angeordnet sind, einander aber nicht überlappen oder durchdringen. Der Vorteil pluralistischer Modelle ist zweifellos, dass sich mit ihnen unberechtigte – oder zumindest als unberechtigt empfundene – reduktive oder eliminative Ansprüche seitens einer vermeintlichen Einheitswissenschaft zurückweisen lassen. Dafür muss jedoch ein hoher Preis bezahlt werden, was den Wissenschaftsbegriff angeht: Er büßt seine Einheit ein, da er, je nach Anzahl der separaten Wissenschaften, in mindestens zwei völlig verschiedene Begriffe zerfällt. Nach pluralistischem Verständnis sind ja die einzelnen Disziplinen bzw. Disziplinengruppen von jeweils ganz anderen Voraussetzungen bestimmt. Jene verschiedenen Begriffe bewegen sich sogar in völlig unterschiedlichen Kontexten, die Snow (1967) als zwei einander befremdet gegenüberstehende Kulturen gedeutet hat. Inwieweit ist es angesichts dessen noch möglich, von Wissenschaft im Singular zu sprechen? Und woher kommt dann die Berechtigung, die
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untereinander so abgrundtief verschiedenen Disziplinen doch jeweils noch als, allerdings sehr verschiedene, „Wissenschaften“ zu bezeichnen? Der englische Sprachraum bietet dafür die bequeme, vielleicht allzu bequeme Lösung, im Fall der Naturwissenschaften den Ausdruck ‚sciences‘ zu verwenden, die klassischen Geisteswissenschaften dagegen als ‚humanities‘ zu bezeichnen. Damit zeichnet sich aber auch schon eine Gefahr für pluralistische Modelle ab: Weil die einzelnen Typen von Wissenschaften sich hier beziehungslos gegenüberstehen und durch keinen gemeinsamen Begriff vermittelt werden, liegt es nahe, dass sich jeweils ein Typ von ihnen als die Wissenschaft par excellence versteht und die Wissenschaftlichkeit des anderen abwertet oder sogar negiert. So kann es zur Wiedergeburt der monistischen Modelle aus dem Geist der pluralistischen kommen – sei es in Gestalt einer Naturwissenschaft, welche den Wissenschaftscharakter aller nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen bestreitet, sei es in Gestalt einer sich auf die Traditionen der Geisteswissenschaften stützenden dekonstruktivistischen Strömung, welche die Geltungsansprüche der Naturwissenschaften angreift. Ein Beispiel für diese Dialektik stellt die Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie vom Wiener Kreis über Quine und Davidson zu Rorty dar (vgl. Tietz 1995). Ein zweites Manko pluralistischer Modelle ist der Umstand, dass das Verhältnis zwischen verschiedenen Wissenschaftstypen de facto nicht durchgehend von bloßer wechselseitiger Abgrenzung geprägt ist. Zudem wird zunehmend klar, dass eine solche Abgrenzung auch überhaupt nicht sinnvoll oder auch nur möglich wäre. Spätestens seit Thomas S. Kuhn ist in den Naturwissenschaften das Bewusstsein dafür gewachsen, dass sie ihr eigenes Selbstverständnis nur dann gewinnen und bewahren können, wenn sie sich einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung ihrer eigenen Genese öffnen (vgl. Gähde 2007). Und die Geisteswissenschaften unternehmen derzeit den Versuch, sich als Kulturwissenschaften neu zu erfinden, für die gerade nicht der Unterschied von, sondern die Anlehnung an und die enge Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften charakteristisch ist (vgl. Fauser 2003, S. 12–32). Es kann deswegen durchaus angemessen sein, die Frage, ob es Beziehungen zwischen den Wissenschaften gibt, positiv zu beantworten. Damit sind Modelle erreicht, die derartige Beziehungen darzustellen versuchen, und die in der Folge Kontaktmodelle genannt werden. Soll ein solches Modell erstellt werden, ist weiter zu fragen: Worauf beruht überhaupt der Kontakt zwischen verschiedenen Wissenschaften? Gemäß dem Vorbegriff von Wissenschaft als einem methodischen Vorgehen, das auf einen Gegenstandsbereich gerichtet ist, bieten sich hier zunächst zwei Antworten an: Kontakte zwischen Wissenschaften beruhen entweder auf einem gemeinsamen Gegenstandsbereich (Gegenstands-Kontakt-Modelle) oder auf einer gemeinsamen Methode (MethodenKontakt-Modelle). Die Auffassung, dass sich Wissenschaften primär über ihre Gegenstände bestimmen – und also auch Beziehungen zwischen Wissenschaften primär darauf beruhen, dass sich Wissenschaften gemeinsam, wenn auch aus je verschiedener Perspektive, mit gleichen Gegenständen beschäftigen –, kann als Ausdruck eines klassischen, auf eine objektive Realität bezogenen Wissenschaftsverständnisses verstanden werden, wie es sich unter je anderen Vorzeichen schon bei Platon und Aristoteles findet (vgl. Oehler 1985, S. 28f.). Diese Position begegnet uns in der neueren Literatur in zweifacher Form. Die
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entscheidende Frage ist hierbei: Gibt es einen zentralen Gegenstandsbereich, um den sich die anderen Gegenstandsbereiche herum gruppieren, oder gibt es diesen Bereich nicht? Die Annahme eines zentralen Gegenstandsbereiches führt zu hierarchischen Gegenstands-Kontakt-Modellen. Der hierarchische Aufbau dieser Modelle stellt gewissermaßen einen Nachhall der monistischen Modelle unter pluralen Bedingungen dar: Zwar ist der zentrale Gegenstandsbereich hier nicht mehr ein einziger, dem sich eine einzige Wissenschaft widmen würde; doch ist er derjenige Gegenstandsbereich, mit dem sich eine grundlegende Disziplin bzw. eine Gruppe solcher Disziplinen beschäftigt und mit dem sich direkt oder indirekt auch alle anderen Disziplinen zu befassen haben. Ausdrucksvoll wird dies in einem Diagramm von G. Schurz veranschaulicht, das die Gliederung der Realwissenschaften zum Inhalt hat (vgl. Schurz 2008, S. 38): Den ‚harten Kern‘ bilden die sezierenden Disziplinen, die sich den elementaren Bestandteilen der physischen Wirklichkeit widmen und diese auch manipulieren; darum herum lagern sich die experimentellen Wissenschaften, die ihre Gegenstände zwar beeinflussen, aber nicht auseinandernehmen, an; einen weiteren Kreis bilden diejenigen Disziplinen, die nur beobachten, nicht aber auf ihre Gegenstände Einfluss nehmen können. Umgeben ist diese Struktur aus konzentrischen Kreisen gleichsam von einer mittels Schraffur dargestellten Atmosphäre, die für die spekulativen Wissenschaften stehen soll. Die zentrale Position der sezierenden Wissenschaften besagt dabei offenbar: Alle anderen Disziplinen sind auf deren Gegenstände und die darauf bezogenen Erkenntnisse angewiesen, gehen aber – anders als bei reduktiven Modellen – nicht darin auf. Auch werden sie im Unterschied zu eliminativen Modellen von diesen nicht in die Sphäre der Unwissenschaftlichkeit abgestoßen. Dies ist die bildhafte Darstellung eines nicht-reduktiven Physikalismus. Gerade diese Position ist jedoch in eine Krise geraten, da bislang nicht plausibel dargelegt wurde, wie andere Wissenschaften auf den als grundlegend gedachten naturwissenschaftlichen Disziplinen aufbauen und zugleich ihnen gegenüber ihre Eigenständigkeit wahren können (vgl. Kim 1989). Dies motiviert die Entscheidung gegen einen zentralen Gegenstandsbereich und für nicht-hierarchische Gegenstands-KontaktModelle. Ihnen zufolge stehen die Gegenstandsbereiche verschiedener Wissenschaften zwar einander sehr nahe, berühren sich gewissermaßen, ohne dass aber einer von ihnen dabei eine dominante Stellung einnähme. Ein solches Modell enthält beispielsweise der Ansatz der „Ecological History“, bei McCormick (2003) entfaltet am Beispiel der Untersuchung der Pest im Mittelalter: Sie kann zum Gegenstand werden für Historiker, Epidemologen, Psychologen und zahlreiche andere Disziplinen, und erst in deren gleichberechtigtem Austausch entsteht ein umfassendes wissenschaftliches Verständnis dieses Gegenstandes. Demzufolge wird die Art und Struktur der interdisziplinären Beziehungen also von dem jeweiligen Gegenstand bestimmt, der in ihrem Zentrum steht und sich den einzelnen Disziplinen aus je unterschiedlicher Perspektive darbietet. Dieses Modell, wie auch sein zentralistischer Konkurrent, setzt jedoch voraus, dass es derartige Gegenstände unabhängig von ihrer Betrachtung und Behandlung durch die einzelnen Wissenschaften gibt, denn nur dann können die Gegenstände als koordinierender Fokus interdisziplinärer Beziehungen dienen. Diese Voraussetzung ist jedoch gemäß dem neuzeitlichen Verständnis von Wissenschaft fragwürdig. Ihm zufolge wer-
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den Gegenstandsbereiche wissenschaftlicher Disziplinen erst durch deren methodischen Ansatz konstituiert. Daher kann der Kontakt zwischen Wissenschaften auch nicht primär über Gegenstände vermittelt sein, die diesem Kontakt – und damit auch dem im Kontakt stattfindenden jeweiligen methodischen Vorgehen der Disziplinen – vorausgehen könnten. Diese Überlegungen stellen einen Grund dafür dar, sich gegen ein Gegenstands-Kontakt-Modell und für ein Methoden-Kontakt-Modell zu entscheiden: Wenn die jeweils angewandte Methode für die Gegenstände einer Wissenschaft konstitutiv ist, dann doch wohl auch für die Beziehungen dieser Wissenschaft zu anderen Disziplinen. Diese Sichtweise bietet gegenüber den Gegenstands-Kontakt-Modellen auch noch den positiven Vorzug, dass sich von ihr her interdisziplinäre Beziehungen nicht eher zufällig dadurch ergeben, dass verschiedene Disziplinen auf ein und denselben Gegenstand ‚stoßen‘ und aus diesem Anlass mit der wechselseitigen Zusammenarbeit beginnen; vielmehr ist laut den Methoden-Kontakt-Modellen diese Zusammenarbeit schon in der jeweiligen Methode der Wissenschaften angelegt. Auch diese Modelle sind einerseits von den Nachwirkungen des Ideals der Einheitswissenschaft und andererseits von gegenläufigen Absetzbewegungen bestimmt, d.h.: Auch hier erhebt sich die Frage, ob es eine zentrale Methode gibt, welche die interdisziplinären Beziehungen ermöglicht, oder ob es eine derartige Methode nicht gibt. Die Methoden-Kontakt-Modelle zerfallen dementsprechend in hierarchische und nichthierarchische Typen. Für hierarchische Methoden-Kontakt-Modelle spricht, dass die eine, zentrale Methode als koordinierende Instanz der vielfältigen interdisziplinären Beziehungen fungieren kann: Indem jede einzelne Wissenschaft diese eine übergeordnete Methode anwendet, findet sie dadurch zugleich den Platz in einem von eben dieser Methode grundgelegten System der Wissenschaften. Die alte Einheitswissenschaft kehrt dabei quasi in geläuterter Form wieder als diejenige Disziplin, die sich unmittelbar mit der übergeordneten Methode beschäftigt und dadurch zur Leitdisziplin aller anderen Wissenschaften wird, freilich ohne diese auf sich zu reduzieren. Diese Disziplin sitzt dann wie die Spinne in einem Netz interdisziplinärer Beziehungen, das sie selbst gewoben hat und das sie kontrolliert (vgl. die Abbildung bei Meister / Lettkemann 2004, S. 133, nach einer sowjetischen Vorlage aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts). Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte die Erwartung vor, dass sich die Kybernetik als die Lehre von allgemeinen Steuerungs- und Regelprozessen zu einer solchen Leitwissenschaft entwickeln und alle interdisziplinären Beziehungen gestalten würde. Diese Erwartung fußte auf der Annahme, alle Wissenschaften könnten die von der Kybernetik bereitgestellte Methode der mathematischen Modellierung rückgekoppelter technischer Systeme übernehmen, ohne sie abwandeln zu müssen. Diese Erwartung wurde jedoch enttäuscht, da die Kybernetik bzw. die Systemtheorie als ihre Weiterentwicklung sich im Kontakt mit den einzelnen anderen Disziplinen nicht zu deren übergeordneter Führungsinstanz entwickelte, sondern sich im Gegenteil in eine Vielzahl von den jeweiligen Wissenschaften angepassten Teildisziplinen aufspaltete. Damit war zumindest faktisch die Entscheidung zugunsten eines nicht-hierarchischen Methoden-Kontakt-Modells gefallen, wonach die Beziehungen zwischen den Disziplinen nicht von einer einzigen Methode gestaltet werden, sondern darauf beruhen, dass die einzelnen Disziplinen spezifische Ausprägungen einer Methode verwenden und
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gerade dadurch auf wechselseitige Ergänzung angewiesen wie auch zu ihr befähigt sind. An einem wiederum bildhaften Beispiel bei Meister / Lettkemann (2004, S. 118): Ökonomie, Spieltheorie, Soziobiologie, Primatenforschung usw. wenden jeweils auf sie selbst zugeschnittene Varianten der Kybernetik bzw. Systemtheorie an und können genau deshalb im Bemühen um das Konstruieren sozial intelligenter Roboter miteinander kooperieren. Der Vorteil derartiger nicht-hierarchischer Methoden-Kontakt-Modelle besteht darin, dass sie auf die aktuelle Wissenschaftsentwicklung angewandt werden können, ohne den ungedeckten Wechsel einer vermeintlich aufkommenden Disziplin der einen zentralen Methode zu benötigen. Jedoch hat in der neueren Wissenschaftstheorie Feyerabend (1976) eindringlich davor gewarnt, den Stellenwert der Methode für die Wissenschaften zu überschätzen, und an einen charakteristischen Grundzug wissenschaftlichen Arbeitens erinnert: zur Modifikation bzw. zum Wechsel der Methode bereit zu sein, wann immer dies Erkenntnisgewinn verspricht. Wenn nun Wissenschaften und damit ihre wechselseitigen Beziehungen nicht primär von ihren Gegenständen, aber auch nicht von ihren Methoden her zu verstehen sind, von woher sind sie es dann? Was bleibt noch übrig? Nach der Entscheidung gegen Gegenstands-Kontakt-Modelle und gegen MethodenKontakt-Modelle bleibt meines Erachtens immer noch eine Alternative übrig: die Entscheidung für ein Kooperations-Kontakt-Modell, wie es im Ansatz von Gläser u.a. (2004) vorgelegt worden ist. Dieses Modell trägt dem bereits erwähnten Umstand Rechnung, dass wissenschaftliches Arbeiten zwar jeweils auch von seinen Gegenständen und Methoden bestimmt ist, in ihnen aber nicht völlig aufgeht. Jenseits dieser Momente bleibt noch das wissenschaftliche Arbeiten als solches, das sich in interdisziplinären Beziehungen jeweils konkret als Kooperation vollzieht. Von ihren Vorgängern her gesehen, fallen Kooperations-Kontakt-Modelle zunächst durch ihren scheinbar negativen Charakters auf: Sie beruhen weder auf der Annahme eines gemeinsamen Gegenstandsbereichs noch auf der Annahme einer gemeinsamen Methode. Wissenschaften werden hier vielmehr primär als Versuche verstanden, Wissen zu gewinnen – ob nun in eher theoretischen oder eher praktischen Kontexten. Und eben weil diese Versuche jeweils aus begrenzten Perspektiven heraus stattfinden, sind sie dazu bestimmt, sich gegenseitig zu ergänzen. Ob diese Ergänzung auch tatsächlich stattfindet und gelingt, muss sich innerhalb der Kooperation zeigen, bzw.: Die andauernde Kooperation selbst ist der Aufweis solchen Gelingens. Dieser Aufweis ist keinen ihm externen Kriterien unterworfen, denn er besteht ja in dem Versuch, das bisher vertraute Feld von Gegenstandsbereichen und Methoden zu erweitern. Ob es sich bei dem jeweiligen Kooperationspartner überhaupt um eine andere wissenschaftliche Disziplin handelt, zeigt sich ebenfalls erst in der gelingenden Kooperation und kann nicht anhand von Maßstäben entschieden werden, die der Kooperation vorausgehen. Da dies für alle Disziplinen in gleicher Weise gilt, bedeutet es: Interdisziplinäre Kooperation, und nur sie, stellt die genuine Form wechselseitiger Anerkennung als wissenschaftliche Disziplin dar. Das Bild, das in diesem Modell implizit herrscht, ist dasjenige eines Netzes, dessen Knotenpunkte von den sie verbindenden Fäden immer auch erst konstituiert werden, aber nichtsdestoweniger als Knotenpunkte eine eigene, nicht auf die Verbindungen reduzierbare Funktion haben. Interdisziplinarität wäre demnach keine nachträgliche Tätigkeit
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der Disziplinen; interdisziplinäre Kooperation – oder zumindest die prinzipielle Fähigkeit dazu – wäre vielmehr ein konstitutiver Faktor von Wissenschaft überhaupt. Damit ist der Überblick über verschiedene Modelle von Interdisziplinarität in gewisser Weise zum Ausgangspunkt, den nihilistischen Modellen, zurückgekehrt, denn auch nun kommt dem Netz der interdisziplinären Beziehungen ein gewisser Vorrang vor den Disziplinen selbst zu: nur dass bei den Kooperations-Kontakt-Modellen das Netz der wechselseitigen Beziehungen das Vernetzte nicht in sich aufsaugt, sondern begründet und fördert. Kooperations-Kontakt-Modelle haben den Vorteil, dass sie ohne den theoretischen Ballast der Gegenstands- und Methoden-Kontakt-Modelle auskommen. Als Nachteil könnte ihnen angerechnet werden, dass sie die geläufige Vorstellung von einer wissenschaftlichen Disziplin als einer Instanz verletzen, die ihren Beziehungen zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen vorausgeht. Dieser vermeintliche Nachteil könnte sich jedoch als ein Vorzug erweisen, falls denn die Schwierigkeiten mit der theoretischen Reflexion über interdisziplinäre Beziehungen eben darauf beruhen sollten, dass sie diesen Perspektivwechsel meistens nicht vollzogen haben, und wenn er sich dazu als förderlich erweisen sollte.
4. Fazit Der oben gegebene Überblick sollte die vielfältigen Modelle interdisziplinärer Beziehungen zu allererst in den Blick bringen und anhand ihrer jeweiligen Vorteile und Nachteile ihre faktische Entwicklung zugleich als einen rationalen Entscheidungsprozess darstellen. Ob dieser Entscheidungsprozess die Entwicklung auch tatsächlich wenn nicht gelenkt, so doch mitbestimmt hat, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, ob diese Erwägung uns Gründe dafür an die Hand gibt, uns für das eine oder andere der in dieser Entwicklung entstandenen Modelle zu entscheiden. Der so geschaffene Überblick legt nahe, dass es sich bei den aussichtsreichsten Kandidaten um die Kooperations-Kontakt-Modelle handelt. Gerade weil sie im Hinblick auf Gegenstandsbereich und Methode offen bleiben, schließen sie keinen möglichen Fall interdisziplinärer Beziehungen aus und lassen sich daher durchgängig global anwenden. Sie erlauben es auch, bis zu einem gewissen Grad Modelle anderer Typen zu rekonstruieren, wenngleich jeweils nur mit regionaler Reichweite: Eliminative Modelle greifen demnach dann, wenn eine „Disziplin“ zu keiner anderen wissenschaftlichen Disziplin in Kontakt treten kann und ihr dadurch die Anerkennung verweigert wird. Reduktive Modelle können verwendet werden, wenn eine Disziplin a nur als Teil oder in Gestalt der Disziplin b mit anderen interagieren kann – so, wie beispielsweise heute die Optik nur als eine Teildisziplin der Physik in Kontakte mit anderen Disziplinen treten kann. Ebenso finden Gegenstands- und Methoden-Kontakt-Modelle ihre partielle Berechtigung als Kooperations-Kontakt-Modelle, in deren Leerstellen gleichsam die Bezeichnungen konkreter Gegenstände oder Methoden eingesetzt worden sind. Gläser u.a. (2004) verstehen ihre Rede von „heterogener Kooperation“ (Titel ebd.) ausdrücklich als einen alternativen Entwurf zum Diskurs über Interdisziplinarität. Dies
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rührt offenbar daher, dass dieser Diskurs, sofern er überhaupt geführt wird, einseitig jeweils von der mehr oder weniger impliziten Verwendung anderer Modelle geprägt ist. Ob die Verwendung von Kooperations-Kontakt-Modellen die Wissenschaftstheorie voranbringen, ihr vielleicht das wichtige Thema „Interdisziplinarität“ neu erschließen kann, muss sich zeigen – wenn möglich auch in interdisziplinärer Kooperation.
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GERHARD VOLLMER
Interdisziplinarität – unerlässlich, aber leider unmöglich? 1. Interdisziplinarität ist unerlässlich 1.1. Die Welt ist komplex Ich kann mich noch gut erinnern: Im Physikunterricht lernten wir, wie ein Akkumulator funktioniert. Der Lehrer, Fachlehrer für Mathematik und Physik, schrieb eine Formel an die Tafel: 2 H2SO4 + PbO2 + Pb + Energie ֖ 2 PbSO4 + 2 H2O (Wird der Akku geladen, im Auto beispielsweise über die Lichtmaschine, so entsteht aus Schwefelsäure H2SO4 und Blei Pb Bleisulfat PbSO4 und Wasser H2O; beim Entladen ist es umgekehrt.) Ich war fassungslos: Das war doch eine chemische Reaktionsgleichung! Wieso konnte der Physiklehrer auf einmal Chemie? Das war doch gar nicht sein Fach! Haben Physik und Chemie etwa irgendetwas miteinander zu tun? Im Studium habe ich später ein Praktikum zur Physikalischen Chemie besucht. Es war einfach faszinierend zu erleben, wie eng Physik und Chemie miteinander verwoben sind, wie sehr sie zusammengehören! Das ist die einfachste Form von Interdisziplinarität: Ein Gegenstand hat Eigenschaften, die von verschiedenen Wissenschaften erforscht werden. Sie gehören in mehrere Disziplinen. Dann müssen diese Disziplinen zusammenarbeiten, wenn wir solchen Eigenschaften gerecht werden wollen. Aber es ist auch eine Binsenweisheit: Unsere Welt ist komplex. Und fast alle Teilsysteme dieser Welt sind ihrerseits schon komplex. Dabei ist es nahezu gleichgültig, welches Komplexitätsmaß wir zugrunde legen. Der Alltagsvorstellung am nächsten kommt der Komplexitätsbegriff der algorithmischen Komplexitätstheorie: Wie lange muss man reden, um das fragliche System zu beschreiben? Je komplexer ein System ist, desto mehr Eigenschaften hat es. Wer in dieser Welt etwas beschreiben, erklären, voraussagen, verändern, bewirken oder verhindern will, muss mit dieser Komplexität und mit dieser Vielzahl von Eigenschaften fertig werden. Auch das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld wirbt für seine Aktivitäten mit den Worten: Wissenschaftliche Forschung ist durch wachsende Spezialisierung und zunehmende Differenzierung gekennzeichnet. Die Wirklichkeit hingegen, auf die sich die Forschung richtet, ist vielschichtig
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und komplex und nicht in Disziplinen eingeteilt. Deshalb können die meisten Fragen der Forschung nicht aus den einzelnen Fächern heraus gelöst werden. Sie verlangen vielmehr die Zusammenarbeit „zwischen“ den Disziplinen: inter disciplinas. Wir sehen: Interdisziplinarität ist unerlässlich, weil die meisten Systeme unserer Welt komplex sind.1
1.2. Interdisziplinarität zwischen mehreren Wissenschaften Wenn man Glück hat, gehören alle Eigenschaften eines Systems, für die man sich interessiert, in dieselbe Disziplin: Die Eigenschaften eines Elementarteilchens – Masse, Ladung, Spin, magnetisches Moment – sind sämtlich physikalische Eigenschaften. Das gilt auch für Atomkerne und für Atome. Bei Ionen, also elektrisch geladenen Atomen und Molekülen, wird es kritisch. Auf jeden Fall hat schon ein Molekül außer physikalischen noch chemische Eigenschaften. Das gilt erst recht für Kristalle, allgemein für Festkörper, Flüssigkeiten und Gase. Deren Eigenschaften können immerhin noch weitgehend auf physikalische Eigenschaften zurückgeführt werden. Ein Lebewesen hat physikalische, chemische und biologische Eigenschaften. Jedes Lebewesen hat eine Masse; es gehorcht dem Gravitationsgesetz, dem Energieerhaltungssatz und dem Entropievermehrungssatz, den Gesetzen der Reibung, der Adhäsion und der Viskosität. Alle Stoffe, aus denen ein Lebewesen besteht, genügen natürlich auch den Gesetzen der Chemie, insbesondere der organischen Chemie. Aber es kommen eben noch weitere Eigenschaften hinzu: Sie haben Stoffwechsel, wachsen und sterben, tragen genetische Information, vermehren sich, unterliegen Mutationen und der natürlichen Auslese. Einige belebte Systeme haben darüber hinaus Bewusstsein; sie haben also physikalische, chemische, biologische und psychologische Eigenschaften. Auch sie haben Masse, reagieren mit Säuren und Laugen, haben Stoffwechsel und vermehren sich; doch darum kümmert sich die Psychologie wiederum nicht. Schon diese kurze Liste zeigt: Es wäre verfehlt zu sagen, die Physik kümmere sich nur um die unbelebten Systeme, wie das oft genug geschieht. Nein, sie betrifft alle realen Systeme, also – nach naturalistischer Auffassung – alle raumzeitlichen materiellenergetischen Systeme, und ihre Gesetze müssen für alle realen Systeme gelten. Dabei kümmert sie sich um einige Eigenschaften dieser Systeme nicht. Man könnte auch mit Tieren Fallexperimente machen; das erweist sich aber als viel mühsamer als mit Stahlkugeln und wäre in vielen Fällen auch moralisch verwerflich. Als die Sowjets 1957 die Hündin Laika mit Sputnik 2 und die Amerikaner 1961 den Schimpansen Ham mit Mercury-Redstone 2 in den Weltraum schickten, wollten sie nicht testen, ob Tiere den Ge1 Wir verwenden hier einen naiven Interdisziplinaritätsbegriff. Terminologische Überlegungen, Abgrenzungen gegenüber verwandten Begriffen, Klassifikationen findet man in anderen Arbeiten, z. B. in Jan C. Schmidt 2002, S. 55–72.
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setzen von Galilei, Kepler und Newton gehorchen – das unterlag überhaupt keinem Zweifel, sondern ob Lebewesen die Schwerelosigkeit vertragen: Laika starb wenige Stunden nach dem Start, vermutlich an Überhitzung oder Stress; Ham dagegen überlebte seinen Flug und starb erst 1983. Die Chemie untersucht alle Stoffumwandlungen, und ihre Gesetze müssen für alle einschlägigen Systeme gelten, also auch für belebte und für bewusste Systeme. Und die Biologie gilt für alle belebten Systeme vom Einzeller über den Pottwal bis zum Menschen. Die Eigenschaften wiederum, die mit dem Bewusstsein zusammenhängen, überlässt sie der Psychologie. Wenn also Bruno Latour in vielen Systemen Hybride, Mischwesen, sieht, so ist das zumindest irreführend (Latour 2000). Es legt nämlich die Vorstellung nahe, dass die realen Systeme, insbesondere die nichtphysikalischen, aus verschiedenen Teilen bestünden, die sich einzelnen Wissenschaften zuordnen ließen. Es sind nicht verschiedene Teile, sondern es sind einheitliche Systeme mit verschiedenen Eigenschaften. Die Wissenschaften, die dabei zusammenarbeiten, können und wollen ihr Objekt auch gar nicht zerlegen; sie betrachten wirklich dasselbe System.
1.3. Schwierigkeiten bei Einteilungen Das schließt nicht aus, dass man einen Organismus tatsächlich mit technischen Teilen ausstattet oder ein technisches Gerät mit organischen Elementen zu einem Cyborg erweitert.2 Wann immer wir eine Aufteilung vornehmen, gibt es auch Grenzfälle. Beispiele sind: x Himmelskörper zwischen Stern und Planet, zum Beispiel Braune Zwerge (entdeckt 1995); x Himmelskörper zwischen Planet und Planetoid (nach neuerer Nomenklatur gehört Pluto nicht mehr zu den Planeten, sondern zu den Zwergplaneten wie auch die Objekte Sedna und Quaoar; Planeten müssen ihre Bahn von Fremdkörpern freigeräumt haben, Zwergplaneten nicht); x Systeme zwischen unbelebt und belebt, zum Beispiel Viren; x Systeme zwischen Ein- und Mehrzeller, zum Beispiel die Zellkolonie Pandorina (16 Grünalgenzellen ohne Arbeitsteilung), die Alge Eudorina (32 Zellen mit geringfügiger Spezialisierung), der Schleimpilz Dictyostelium (zahlreiche Einzeller, die sich gelegentlich zur Sporenbildung zu einem pilzförmigen Objekt zusammenschließen), und Volvox, der einfachste echte Mehrzeller (bis zu einigen 1000 Algenzellen mit deutlicher Arbeitsteilung); x Lebewesen zwischen Pflanze und Tier, also zwischen autotroph und heterotroph, zum Beispiel Euglena, das Augentierchen (eine einzellige Alge, die sich normalerweise durch Photosynthese ernährt, bei Strahlungsmangel aber – meist irreversibel – auf Heterotrophie umschalten kann); 2
Zu der Möglichkeit, Gehirne mit Computern zu verbinden, vgl. etwa Gary Stix: LOG-IN ins Gehirn. Spektrum der Wissenschaft, April 2009, S. 88–93.
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x zwischen Reptil und Vogel, zum Beispiel der Urvogel Archäopteryx oder Ichthyornis; x zwischen Reptil und Säugetier, nämlich die ausgestorbenen Therapsiden und besonders Diarthrognathus (als Abgrenzungskriterium dienen die aus dem Kiefergelenk eingewanderten Gehörknöchelchen im Mittelohr: Reptilien haben eines, Säugetiere drei); x zwischen männlich und weiblich, zum Beispiel der Borstenwurm Ophryotrocha puerilis; x zwischen ein- und zweigeschlechtlich, zum Beispiel das Pantoffeltierchen. x Kann man ein bisschen schwanger sein? Diese Frage wird in der Regel verneint; sie gilt sogar als Paradepferd eines klaren Entweder-Oder, eines perfekten Ja oder Nein. Aber auch hier ist die Sache so einfach nicht. Bei einigen Gürteltierarten können die Weibchen den männlichen Samen oder sogar befruchtete Eizellen mehrere Monate im Körper aufbewahren, bevor die Einnistung erfolgt. Diese Merkwürdigkeit hat Heinz Säring bewogen, ein Gedicht über das Gürteltier zu schreiben, aus dem wir zitieren: Manch Weibchen, das kann bis zu mehreren Jahren den männlichen Samen im Körper bewahren. […] Und ist es ein Weibchen, dann richtet sichs ein, schon selber ein klein wenig schwanger zu sein. 3 Ähnliches gilt für Marder, Reh, Dachs und Braunbär. „Ein bisschen schwanger“ – es geht also doch! x Sogar beim geometrischen Dimensionsbegriff, der doch zunächst ganzzahlig definiert ist, kann man Zwischenstufen einführen, die so genannten Fraktale. Da gibt es den Cantor-Staub (Dimension z. B. 0,63), die Koch-Kurve (Dimension z. B. 1,26), den Sierpiński-Teppich (Dimension z. B. 1,89) oder den Menger-Schwamm (Dimension z. B. 2,73) (Mandelbrot S. 1987). Diese Beispiele zeigen zweierlei: Erstens gibt es fast bei jeder Zweiteilung Grenzfälle, die nicht eindeutig zugeordnet werden können. Und zweitens erfordert die Beschäftigung mit einem Objekt aus der „Grauzone“ einer Unterteilung oft Kenntnisse aus beiden Bereichen. Auch hier entsteht also Bedarf an Interdisziplinarität.
1.4. In der Evolution nimmt die Komplexität zu, in den zugehörigen Wissenschaften deshalb auch Nun wissen wir aber auch, dass alle realen Systeme Ergebnisse einer universellen Evolution sind. Dabei ist in der Regel das Komplizierte aus dem Einfacheren entstanden. Somit ist es kein Wunder, dass die komplizierteren Systeme im Allgemeinen auch später entstanden sind als die einfachen. Dazu bedarf es keines Strebens nach Komplexität, 3
www.e-stories.de/gedichte-lesen.phtml?85926 (21.4.2009).
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keiner Teleologie, keines Zieles der Evolution. Komplexe Systeme waren eben erst möglich, als ihre einfachen Teilsysteme vorhanden waren, also immer erst nach diesen. (Der Holist ist hier anderer Meinung.) In der biologischen Evolution kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu: Sind die ökologischen Nischen für einfache Systeme erst einmal besetzt, so können sich neue Systeme nur durchsetzen, wenn sie komplizierter sind als die bisherigen. So ist es zu erklären, dass wir auch und gerade die komplizierten Lebewesen erst später finden. Allerdings gibt es Ausnahmen von dieser Regel. Manchmal entstehen einfache Systeme auch über kompliziertere Vorstufen. Viren zum Beispiel haben keinen eigenen Reproduktionsapparat. Sie können sich nur dadurch vermehren, dass sie den Reproduktionsapparat höherer Organismen, etwa von Bakterien, ausnützen. Sie können also erst entstanden sein, als es mindestens schon Bakterien gab. Vermutlich sind sie degenerierte Bakterien, die ihren Reproduktionsapparat verloren haben. Hier sind also die einfacheren Systeme erst nach und aus den komplizierteren entstanden. Warum hat sich dann unter den neuzeitlichen Wissenschaften die Physik als erste entwickelt? Ganz einfach: Weil sie – unter anderem – die einfachsten Systeme und Prozesse betrachtet, die es überhaupt gibt: Systeme, die sich leicht isolieren lassen und dann nur einer Kraft oder doch nur wenigen Kräften unterliegen; Prozesse, die sich entweder von selbst wiederholen wie die Planetenbewegung oder gezielt wiederholen lassen wie der freie Fall oder der Wurf. Das war also weder Ergebnis eines willkürlichen Beschlusses noch einer wohlüberlegten Strategie. Vielmehr bestand schon damals und schon immer der Wunsch, auch die komplizierteren Systeme zu verstehen; aber gelungen ist es zunächst bei den einfachen Systemen, und das waren eben nicht solche mit Bewusstsein, nicht die belebten Systeme, nicht die mannigfachen Stoffe und Stoffumwandlungen der Chemie, sondern die unbewussten, unbelebten, unveränderlichen Systeme und die wiederholbaren Prozesse der himmlischen und der irdischen Physik. So entstand um 1687 die neuzeitliche Physik durch Newton, um 1789 die neuzeitliche Chemie durch Lavoisier, Priestley und Scheele, um 1859 die neuzeitliche Biologie durch Darwin, um 1879 die neuzeitliche Psychologie durch Wilhelm Wundt. Dass die Wissenschaften von den komplizierteren Systemen immer erst später entstanden, ist natürlich ebenfalls kein Zufall und auch von den Forschern und Wissenschaftlern nicht so geplant; es war aus Einfachheits- bzw. Komplexitätsgründen gar nicht anders möglich. Wenn nun aber fast alle Systeme Gegenstand mehrerer Wissenschaften sein können, dann sind für eine vollständige Beschreibung oder gar Erklärung auch mehrere Wissenschaften nötig.
1.5. Mehr Interdisziplinen als Disziplinen Das Spektrum der Disziplinen kann man dabei immer mehr verfeinern: Am häufigsten werden „benachbarte“ Disziplinen zusammenarbeiten, und die Disziplin, die dabei entsteht, steht dann tatsächlich zwischen den Ausgangsdisziplinen. Oft schlägt sich das in ihrem Namen nieder, und wir haben eine Physikalische Chemie (und sogar eine Chemi-
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sche Physik), eine Biophysik, eine Biochemie, in Göttingen sogar ein Max-PlanckInstitut für biophysikalische Chemie. Manche Namen darf man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Psychophysik untersucht u.a. die Beziehung zwischen physikalischer Schallstärke und empfundener Lautstärke, die Ethnomedizin die Vorstellungen über Gesundheit, Krankheit und Heilung in nichtwestlichen, meist traditionellen Kulturen, die Musiksoziologie die sozialen Einflüsse auf das Schaffen und Bewerten von musikalischen Kunstwerken und damit auf die Geschichte der Musik. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennen wir als weitere Brückenfächer Biogeografie, Wirtschaftsgeografie, Psychobiologie, aber auch Biopsychologie, Soziobiologie, Sozio- oder Verhaltensökologie, medizinische Physik, Biomedizin, Biotechnik (oder Bionik), Optogenetik (Miesenböck 2009, S. 48–55) (seit 2006), Psychogenetik (Bauer 2009, S. 58–65), Neurodidaktik (Herrmann / Westerhoff 2008, S. 36ff.), Neurolinguistik4, Neuroethologie (Bischof 1990), Neuroökonomie, Neuropsychologie, Neurotheologie, Musikpsychologie, Religionssoziologie, Psycholinguistik, Soziolinguistik, Archäometrie (dazu später), kognitive Archäologie. Besonders viele Teilgebiete hat die Völkerkunde: Ethnobiologie, Ethnohistorie, Ethnolinguistik, Ethnomathematik5, Ethnomedizin, Ethnopsychologie (Donald 1991 und 2008; McPherson Smith 2009, S. 12–16), Ethnopsychiatrie. (Alle diese Ethno-Disziplinen außer der Ethnomathematik stehen im Brockhaus!) Ganz ähnlich entstehen viele Gebiete der angewandten Mathematik: mathematische Physik, Biomathematik, Bioinformatik, Biometrie, Finanzmathematik, Technomathematik, Wirtschaftsmathematik, Ökonometrie. Sie gehören zur Mathematik; ihre Ergebnisse müssen aber von den Anwendern gelernt werden. Ähnlich sind fast alle Disziplinen, die mit -philosophie enden, philosophische Disziplinen: Bio-, Existenz-, Geschichts-, Kultur-, Lebens-, Natur-, Rechts-, Religions-, Sozial-, Sprach-, Staats-, Technik-, Wissenschaftsphilosophie, nicht allerdings Alltags- und Firmenphilosophie. Es versteht sich von selbst, dass man auch dazu auf beiden Gebieten, die im Namen des Faches vertreten sind, vertiefte Kenntnisse haben muss. In den meisten Fällen kann man sich darauf verlassen, dass der zweite Wortteil, wie in der deutschen Sprache üblich, die Hauptbedeutung, hier also das Hauptfach angibt, während der erste Wortteil eine nähere Bestimmung liefert. So ist die Soziobiologie eine biologische Disziplin, die das Sozialverhalten von Lebewesen, genauer von Tieren und Menschen untersucht. Von dieser Regel gibt es allerdings Ausnahmen. Die Neuropsychologie untersucht die neurologischen Grundlagen psychischer Eigenschaften, Zustände und Vorgänge und ist damit eher Neurowissenschaft als Psychologie, sollte also deutlicher Psychoneurologie heißen. (Diesen Ausdruck gibt es ebenfalls.) Auch die Neurotheologie ist keine Theolo4
Ein Paradebeispiel aus der Neurolinguistik ist das „Sprachgen“ FOXP2, das sich bei Menschen, Affen, Krokodilen und Vögeln findet. Menschen müssen ihre Sprache, Zebrafinken ihren Gesang erlernen. Mutationen an FOXP2 können bei Menschen wie bei Vögeln zu schweren Sprach- bzw. Gesangsstörungen führen. Dazu Sebastian Haesler: Also sprach der Zebrafink. Gehirn & Geist Dossier 1/2009, S. 34–39. 5 Ethnomathematik. Spektrum der Wissenschaft Spezial 2/2006, ganzes Heft.
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gie, keine Gotteslehre, sondern eine Neurowissenschaft, welche die neuronalen Grundlagen von Glaube und Glaubensbereitschaft, von Religion und Religiosität untersucht. Und Biopolitics (Flohr / Tönnesmann 1983) ist schon gar keine Politik, sondern eine besondere Art von Politikwissenschaft: Sie möchte die biologische Herkunft und Prägung des Menschen berücksichtigen, legt also ein evolutionsbiologisches Menschenbild zugrunde und sieht das evolutionäre Erbe des Menschen auch in der Politik am Werke.
2. Gelungene Interdisziplinarität Wie viele Veranstaltungsreihen, Ringvorlesungen, Vortragszyklen, Seminare, Ferienakademien mit interdisziplinärem Anspruch haben wir schon veranstaltet? Unerlässlich, aber leider unmöglich! So könnte man die Ergebnisse und die Aussichten dieser Bemühungen zusammenfassen. Gewiss, manchmal klappt es auch. Aus Erfolgen kann man lernen. Wir studieren einige Fälle, in denen es geklappt hat. Wir unterscheiden dabei gelungene Interdisziplinarität in einer Person und Interdisziplinarität zwischen mehreren Personen.
2.1. Interdisziplinarität in einer Person Am besten gelingt Interdisziplinarität noch bei einer einzigen Person. Einstein war kein großartiger Mathematiker. Nachdem Herbert Minkowski (1864–1909) die vierdimensionale Formulierung der Relativitätstheorie vorgelegt hatte, meinte Einstein: „Seitdem die Mathematiker in die Relativitätstheorie eingebrochen sind, verstehe ich sie selbst nicht mehr.“6 Aber es gelang ihm, jeweils die Mathematik auszusuchen und sich anzueignen, die er brauchte; insbesondere ließ er sich die nichteuklidische Geometrie bzw. die Tensoranalysis, die er für die Allgemeine Relativitätstheorie brauchte, von seinem Freund Marcel Grossmann erläutern. Aber wer ist schon so genial wie Einstein? Außerdem hat die Mathematik in solchen Fällen lediglich Werkzeugcharakter. Sie steht allen Disziplinen zur Verfügung, wird aber von den Naturwissenschaften am meisten gebraucht, vor allem natürlich von der theoretischen Physik. Ein anderes Beispiel für erfolgreiche Interdisziplinarität ist die Entwicklung von Sortier-Algorithmen. „Die jahrzehntelangen Bemühungen, Umkehrsortierprobleme zu lösen, sind ein Modellfall für gelungene interdisziplinäre Zusammenarbeit“, schreibt der Autor eines Artikels über solche Algorithmen (Haynes 2008, S. 86). Da es um genetische Mutationen ging, war das Problem zunächst nur für Biologen interessant, weckte dann aber das Interesse von Mathematikern und Computerwissenschaftlern. Immerhin hält es der Autor für bemerkenswert, dass hier Interdisziplinarität tatsächlich gelungen ist. Weckt das nicht den Verdacht, dass sie in vielen anderen Fällen nicht gelingt?
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Zitiert in Ronald W. Clark: Albert Einstein. Leben und Werk. München: Heyne 1976, S. 91 (englisch 1973).
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Besonders erfreulich und besonders verdienstvoll ist es, wenn zwei zuvor getrennte Gebiete verbunden werden. So ist es Paul Krugmann, Nobelpreis 2008 für Wirtschaftswissenschaften, gelungen, die Handelstheorie und die ökonomische Geografie, also zwei Gebiete der Wirtschaftswissenschaften, unter einem gemeinsamen theoretischen Dach zu vereinigen (Pöppe 2008, S. 18f.). In diesen Fällen bedurfte es vertiefter Kenntnisse aus zwei Disziplinen. Es gibt aber viele Probleme, zu deren Lösung auch zwei Disziplinen noch nicht genügen. In den folgenden Fallstudien wird das besonders deutlich.
Fallstudie 1: Warum essen Juden und Moslems kein Schweinefleisch? Weil Jahwe in der Bibel und Allah im Koran es verboten haben? Aber warum eigentlich? Ist ihr Ratschluss unerforschlich, sollte aber trotzdem oder eben deshalb befolgt werden? Gibt es denn keine rationale Erklärung? Weil Schweine schmutzige Tiere sind? Aber Schweine, sauber gehalten, sind reinliche Haustiere. Und Rindfleisch ist nicht verboten, obwohl Kühe auf engem Raum sich ebenfalls in eigenem Urin und Kot sielen. Weil Schweinefleisch ungesund ist, wie im 12. Jahrhundert der jüdische Arzt, Theologe und Philosoph Moses Maimonides vermutet? Weil insbesondere, wie man seit Mitte des 19. Jahrhundert weiß, mangelhaft gekochtes Schweinefleisch Trichinen enthalten kann? Aber an Trichinose stirbt man nicht. Dagegen übertragen Schaf und Ziege das lebensgefährliche Maltafieber (Brucellose), und unzureichend gekochtes Rindfleisch liefert Bandwürmer, die den Körper erheblich schwächen. Und viele Haustiere übertragen den lebensgefährlichen Milzbrand, Schweine jedoch nicht! Der Zusammenhang zwischen Milzbrand bei Tier und Mensch war sogar schon im Altertum bekannt: Im 2. Buch Mose, Kap. 9 bilden die „Blattern“ die sechste von zehn Plagen, die Gott über Ägypten hereinbrechen lässt. Warum ausgerechnet kein Schweinefleisch? Weil Schweine ursprünglich heilig waren, wie der Ethnologe James Frazer 1959 vermutet? Aber im Vorderen Orient wurden doch auch Schafe, Ziegen und Rinder verehrt, insbesondere das Goldene Kalb; verzehrt wurden sie trotzdem! Gibt es wirklich keine einleuchtende Erklärung? Es gibt sie. Gegeben hat sie der Kulturanthropologe Marvin Harris in seinem fantastischen Buch Fauler Zauber. Wie der Mensch sich täuschen läßt. Er hat gezeigt, dass im Vorderen Orient die Schweinezucht in biblischen Zeiten aus ökologischen Gründen gefährlich war. Und zwar, so merkwürdig es klingt, letztlich deshalb, weil Schweine nicht schwitzen können! Bis etwa 1300 v. Chr. waren die Israeliten Hirtennomaden in der Trockenzone zwischen den Flusskulturen Ägyptens und Mesopotamiens. Für den Ackerbau sind diese Gebiete zu regenarm und zu schwer zu bewässern. Rinder, Schafe, Ziegen sind Wiederkäuer und können Zellulose, also Gras und Blätter verdauen; Schweine können das nicht. Sie brauchen Nüsse, Früchte, Knollen, Getreide und werden dadurch zu Nahrungskonkurrenten des Menschen. Sie eignen sich nicht als Milchquelle, taugen nicht als Trag-, Reit- oder Zugtiere und können keine größeren Entfernungen zurücklegen. Und gerade in trockenheißen Gebieten sind sie von Kühlung besonders abhängig. Sie
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können aber nicht schwitzen! Deshalb müssen sie, um sich zu kühlen, ihre Haut von außen befeuchten, am liebsten in sauberem Schlamm, notfalls eben auch in eigenem Urin und Kot. Deshalb gilt: Je höher die Temperaturen und je trockener das Klima, desto „schmutziger“ die Schweine. Schweine zu halten, war im Vorderen Orient ökologisch nicht empfehlenswert, jedenfalls ein Luxus. Aber warum musste der Verzehr von Schweinefleisch dann religiös tabuisiert werden? Das Hausschwein ist etwa ab Mitte des 7. Jahrtausends im Fruchtbaren Halbmond nachweisbar. Zwischen 7000 und 2000 v. Chr. vermehrte sich jedoch die Bevölkerung in der Region auf das Sechzigfache. Die Entwaldung schritt voran; die bis 1500 v. Chr. übliche Schweinehaltung wurde immer aufwendiger, die Versuchung durch das wohlschmeckende Fleisch aber gerade deshalb immer größer. Und mindestens im Bereich der Sexualität, insbesondere der Inzucht und des Ehebruchs, gilt als Regel: Je größer die Versuchung, desto eher werden religiöse Tabus verhängt. So wurde nicht nur der Verzehr, sondern aller Kontakt mit Schweinen zum gottgewollten Tabu erklärt. Überblickt man diese Erklärungskette, so fällt auf, wie viele Disziplinen daran beteiligt sind: Anthropologie, Geschichte, Archäologie, Ethnologie, Geografie, Klimakunde, Zoologie, insbesondere Tierphysiologie, Ökologie, Medizin, Religionswissenschaft. Niemand kann alle diese Gebiete beherrschen. Um eine solche Antwort geben zu können, muss man sich das jeweils einschlägige Wissen erst einmal erarbeiten. Man sieht der Antwort an, dass sie einem nicht in den Schoß fällt; aber Harris zeigt, dass es möglich ist. Unter anderem klärt er auch, warum die Hindus die Kuh als heilig verehren (als Überlebensreserve für Arme), warum die Maring auf Neuguinea von und mit Schweinen leben und doch gelegentlich fast alle schlachten (lange Waffenruhe), warum fast überall Patriarchat herrscht (positive Rückkopplung männlicher Aggressivität), warum die Yanomami in Brasilien untereinander ständig Kämpfe austragen, die Leben und Gesundheit gefährden (Proteinmangel), warum die Indianer in Amerikas Nordwesten den verschwenderischen Potlatch betreiben, ein Dorffest, bei dem Reichtümer aller Art verschenkt oder sogar vernichtet werden (Erzeugung und Verteilung von Reichtum), warum die Eingeborenen in den Bergen Neuguineas den Cargo-Kult pflegen (Konflikt mit den reichen Weißen), warum Frauen und Männer der Hexerei bezichtigt und verbrannt wurden (Hexen als Sündenböcke), warum Hexen auf Besen „reiten“ (Atropin als Rauschmittel). So ist der englische Titel, wie so oft, viel sprechender als die deutsche Übersetzung: Cows, pigs, wars and witches. The riddles of culture. Harris diskutiert auch Alternativ-Hypothesen und erläutert, warum er sie für falsch hält. Ich habe selten so viel gelernt wie aus diesem unscheinbaren Buch mit einem so unscheinbaren (und leider so irreführenden) Titel. Ob Harris’ Erklärungen alle richtig sind, ist interessant, aber nicht unser Thema. Für uns wesentlich ist die Einsicht, wie hilfreich Interdisziplinarität sein kann und zugleich, wie nötig und wie schwierig sie ist. Nötig ist sie, weil keine Disziplin allein ausreicht, die vorgelegten Probleme zu lösen; schwierig, weil sie hier viele Disziplinen verbindet, und zwar auch und gerade solche, die weit voneinander entfernt sind, insbesondere Natur- und Geisteswissenschaften.
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Fallstudie 2: Warum haben sich Wissenschaft und Kunst gerade im Abendland so weit entwickelt? Unter Gebildeten wird sehr häufig diskutiert, warum sich die wissenschaftlichtechnische Kultur, die heute die ganze Welt umfasst, gerade in Europa entwickelt hat. Wie kam es zu dem „europäischen Sonderweg“, wie ihn der holländische Historiker Jan Romein nennt, oder zu dem „Wunder Europa“, von dem der Wirtschaftshistoriker Eric L. Jones spricht? In einer Besprechung eines Buches von Mitterauer (Borgolte 2003) wird dieses Problem sogar als Europas Gretchenfrage bezeichnet. Gerhard Engel (Engel 1990, S. 171 und 2001, S. 111–127) nennt es das Webersche Problem. Es gibt darauf verschiedene Antworten. Wir wollen vier von ihnen vorstellen. Beliebt ist die These, Europa habe dieses Alleinstellungsmerkmal den alten Griechen zu verdanken. Sie haben die Demokratie erfunden; sie haben Philosophie und Wissenschaft entwickelt; sie haben in der Mathematik strenge Beweise gefunden und fortan verlangt; sie haben mit dem griechischen Alphabet die erste Lautschrift unter Einschluss der Vokale entwickelt, die – im Gegensatz etwa zur Bilderschrift – das analytische Denken begünstigt habe (Havelock 1990); sie haben – nach magisch-animistischen und mythisch-religiösen Weltbildern – als Erste rationale Weltbilder entworfen, die sich zwar nicht beweisen, aber wenigstens argumentativ verteidigen ließen. Aber wenn das so ist: Warum haben ausgerechnet die Griechen diese Schritte getan? Und wenn es gar nicht die Griechen waren, sondern die Ägypter, die Mesopotamier, die Phönizier: Warum haben gerade sie das Licht entzündet? Der Sozialgeschichtler Michael Mitterauer (Mitterauer 2003) gibt eine andere Antwort. Er sieht die entscheidenden Weichenstellungen im frühen Mittelalter. Wurde im Westen Roggen, Hafer und anderes Getreide angebaut, so konzentrierte sich die islamische Welt auf den Gartenbau, China auf den Reis mit seiner Nassfeldkultur. Getreide erfordert Ackerbau, Zugtiere, Dreifelderwirtschaft, Mühlen, Wagentransport und Straßen, Waldwirtschaft. Der Garten braucht Bewässerungstechnik, aber keine Mühlen, keine Lastwagen, nur Esel und Kamel. So entsteht eine ganz andere Infrastruktur. Auch der Reis bedarf keiner Mühlen. Die Wassermühle war den Chinesen lange vor den Europäern bekannt, wurde aber überflüssig und verschwand weitgehend. Aber wenn das so ist: Warum wurde hier Getreidewirtschaft, dort aber Gartenwirtschaft betrieben und anderswo Reis angebaut? Der Religionssoziologe Max Weber (1864–1920) erklärt Europas Sonderstellung damit, dass die verschiedenen Religionen auch verschiedene Haltungen zu Arbeit, Geld und Wohlstand nahelegen, also unterschiedliche Wirtschaftsformen und Arbeitsethiken bedingen (Weber 1984). Der Protestantismus, insbesondere der Calvinismus, hat den Kapitalismus begünstigt. Hier ist nämlich mein wirtschaftlicher Erfolg ein Zeichen dafür, dass ich von Gott zum Heil bestimmt bin, und so kann ich durch Fleiß und Disziplin mir zwar nicht das Heil sichern, mich aber schon in diesem Leben vergewissern (und anderen zeigen!), dass ich zu den Erwählten gehöre. Wenn ich dagegen als Hindu in eine niedere Kaste geboren wurde, dann sollte ich gar nicht erst versuchen, durch Ehrgeiz, Arbeit und Fleiß in eine höhere Kaste aufzusteigen; denn zur Strafe für diesen Verstoß gegen die Weltordnung muss ich dann im nächsten Leben auf noch tieferer
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Stufe vegetieren. Wenn – in Marxscher Terminologie – die Religion zum Überbau gehört, dann bestimmt hier also nicht die ökonomische Basis den Überbau, sondern – entgegen Marx – der Überbau die Basis, bestimmt auch das Bewusstsein das Sein. Aber wenn das wirklich so ist, bleibt doch wieder eine entscheidende Frage: Warum sind ausgerechnet in dem kleinen Europa überhaupt so viele verschiedene Religionen entstanden? Nun sind wir an einem entscheidenden Punkt: bei einer vierten Antwort, die wir vor allem dem Wirtschaftshistoriker Eric L. Jones verdanken (Jones 1991; vgl. auch Engel 2000, S. 175–195; Elsenhans 2007). Europa ist zwar klein, aber geografisch sehr stark gegliedert – durch Gebirge, Flüsse und Meere. Inseln wie Sizilien oder Großbritannien und Halbinseln wie der Balkan, der italienische Stiefel, die Iberische Halbinsel, Jütland oder Skandinavien sind durch das Meer geschützt und können leichter verteidigt werden. Dadurch ist es möglich, kleine Reiche zu gründen und zu schützen; umgekehrt ist es schwierig, ein einheitliches Reich aufzubauen und zu halten. So entsteht Konkurrenz zwischen den Staaten, zwischen Regierungs- und Wirtschaftsformen, aber auch zwischen Religionen, zwischen wissenschaftlichen, künstlerischen und anderen Traditionen. Bürger, die sich in einem Land oder Staat nicht wohlfühlen, zu viele Abgaben oder zu viel Blutzoll entrichten müssen oder gar bedroht, verfolgt und bestraft werden, können vorübergehend oder auf Dauer in einen Nachbarstaat ausweichen. Da dies in der Regel die beweglichsten Bewohner sind, verliert ein Herrscher oder Staat, der seine Bürger schlecht behandelt, seine besten Leute. Er muss also mehr Freiheiten gewähren als ein Großreich, das keiner verlassen kann, insbesondere Religionsfreiheit. Die Einschränkung von Willkürherrschaft aber erleichtert Produktivität und Wachstum. Es entstehen Märkte für Waren und Ideen und für Arbeitskräfte. Durch freie Märkte werden Innovationen und Unternehmergeist belohnt. Im Gegensatz zu den vorherigen Antworten – griechischer Logos, Landwirtschaft, Religionen –, die sich auf historische oder anthropologische Gegebenheiten stützen, sind wir mit dieser Erklärung nicht bei anthropologischen, sondern bei geografischen Bedingungen angelangt. Zwar dürften wir auch dafür wieder nach einer Erklärung suchen – des Fragens ist ja bekanntlich kein Ende –; aber Europas geografische Struktur ist kein Kulturprodukt. Kontinente und Subkontinente sind nicht von Menschen gestaltet; ihre Form hat zwar Folgen für den Menschen, aber nicht umgekehrt. Schon hier zeigt sich, dass zur Erklärung zahlreiche Disziplinen herangezogen werden: neben der Geschichte vor allem Geografie, Ökonomie und Ökologie, Politologie und Religionswissenschaft.
Fallstudie 3: Warum sind einige Völker reich, andere arm? Der amerikanische Biologe Jared Diamond (*1938) hat diesen geografischen Ansatz – offenbar ohne Kenntnis von Jones‘ Überlegungen – noch einmal stark verallgemeinert (Diamond 2000). Für die so deutlichen Unterschiede in der Entwicklung der Menschheit sind danach nicht etwa rassische Unterschiede verantwortlich, aber auch nicht entsprechende Beschlüsse oder der bloße Zufall. Es sind die geografischen und damit auch
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die klimatischen Unterschiede seit der letzten Eiszeit, also vor rund 13 000 Jahren, die das Schicksal der Menschen in den verschiedenen Weltgegenden bestimmten. Entscheidend ist, ob und wie schnell Haustiere, Nutzpflanzen und andere Errungenschaften gewonnen werden und sich ausbreiten können. Das ist in Ost-West-Richtung leichter als in Nord-Süd-Richtung, weil in Ost-West-Richtung keine neuen Klimazonen erschlossen oder durchquert werden müssen. Insbesondere kamen im Vorderen Orient die verwertbaren Pflanzen und Tiere aus Asien, Europa und Afrika zusammen, also aus der größten zusammenhängenden Landmasse unseres Planeten. Nehmen wir die Haus- und Nutztiere. Für die meisten Arten sind die Zeitpunkte und Orte ihrer Domestikation einigermaßen bekannt. Am ältesten ist der Hund (10). (Die Zahlen in Klammern geben die Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung an, für welche die Domestikation belegt ist.) Im Folgenden berücksichtigen wir jedoch nur Pflanzenfresser. Fleischfresser werden zwar auch manchmal gegessen; der Wirkungsgrad ist jedoch sehr gering: Schon Pflanzenfresser fressen etwa zehnmal so viel, wie sie wiegen, und Fleischfresser fressen wiederum zehnmal so viel Fleisch, wie sie selbst liefern. Fleisch von Fleischfressern ist also ein Luxus, den sich kaum jemand leisten kann. Tatsächlich sind – außer dem Hund – alle Nutztiere Pflanzenfresser! Alle Haus- und Nutztiere wurden mit dem Entstehen sesshafter bäuerlicher Gesellschaften gezähmt und in Gefangenschaft gezüchtet. Die Domestikation der größeren Säugetiere beginnt mit Schaf (8), Ziege (8) und Schwein (8) und geht über Kuh (6), Pferd (4), Esel (4) und Wasserbüffel (4) bis zu Lama (3,5), Kamel (2,5) und Dromedar (2,5). Für vier weitere Großsäuger – Rentier (nur im nördlichen Eurasien und in Alaska), Yak (nur im Himalaja und in Tibet), Gaur (Wildform: Dschungelrind) und Banteng (Wildform: Balirind) – sind die Daten bisher nicht gut belegt. Die Domestikation der 14 größeren Säugetiere war jedenfalls vor 4 500 Jahren abgeschlossen. Bei den 134 übrigen Großsäugern sind offenbar alle Domestikationsversuche gescheitert. Und nun sehen wir sofort, dass den Völkern Eurasiens, wozu wir hier einfachheitshalber auch Nordafrika zählen, außer dem Lama alle domestizierten Großsäuger zur Verfügung standen, den Völkern im Fruchtbaren Halbmond davon immerhin sieben, den Völkern Amerikas nur das Lama, den Afrikanern südlich der Sahara und den Australiern dagegen gar keine! Ähnlich ungleich verteilt sind die Nutzpflanzen. Am besten eignen sich großsamige, einjährige, selbstbestäubende Pflanzen, so genannte „Supergräser“. Davon gab es insgesamt 56 Arten, allein im Fruchtbaren Halbmond schon 32, in Ostasien nur 6, im südlichen Afrika nur 4, in Amerika 11 und in Nordaustralien sogar nur 2! Auch zeigt sich, dass mediterranes Klima die besten Voraussetzungen für die Landwirtschaft bot. Kein Wunder, dass die Völker Vorderasiens als erste mit der Domestikation von Pflanzen begannen, dass sie mehr und ertragreichere Arten züchteten und dass ihre intensiveren Formen der Landwirtschaft höhere Bevölkerungsdichten ermöglichten! So lässt sich die kulturelle Führungsrolle Vorderasiens erklären: Es waren nicht rassische, sondern geografische und klimatische Gründe: die Ausstattung mit domestizierbaren Wildpflanzen und Wildtieren und die Tatsache, dass technische Neuerungen wie das Rad, Kulturtechniken wie die Schrift und ansteckende Krankheiten wie die Pest sich über den ganzen Großkontinent ausbreiten konnten. Ja, so paradox es klingt: Die
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leichte Ausbreitung von Seuchen, die ja in der Regel von Tieren ausgehen (Vogelgrippe, Aids, Schweinegrippe) führte – über viele Opfer – auch dazu, dass die Eurasier gegen eben diese Krankheiten ausreichend immun wurden, weil eben nur resistente Eurasier die Epidemien überlebten. So wurden bei der Eroberung Amerikas viel mehr Indianer von europäischen Seuchen dahingerafft – etwa 95 Prozent! – als umgekehrt, eine Regel, von der nur die Syphilis eine berüchtigte Ausnahme bildet. Wie viele wissenschaftliche Gebiete muss man durchforschen, um eine solche Antwort geben zu können? Wieder sind es Geografie und Klimakunde, Anthropologie und Geschichte, Archäologie, Ethnologie, Zoologie und Botanik, aber auch Paläozoologie und Paläobotanik, Züchtungsforschung an Pflanzen und Tieren, Geoökologie und Politologie, Medizin und Epidemiologie. In seinem Buch Kollaps hat Diamond noch ein weiteres Problem untersucht: Warum brechen Staaten zusammen, warum verschwinden Kulturen, warum gehen Gesellschaften unter? (Diamond 2005) Hier kommen noch einige andere Disziplinen hinzu, insbesondere Politikwissenschaften. Aber darauf kommt es nun schon gar nicht mehr an. Klar ist, dass derartige globale Probleme nur interdisziplinär bearbeitet und gelöst werden können. Was lernen wir daraus? Wir lernen, dass für manche Probleme sehr viele Disziplinen gebraucht werden, also auch sehr viel Interdisziplinarität erforderlich ist. Die Kunst besteht dabei nicht darin, möglichst viele Disziplinen zu studieren. Das wäre zwar nützlich, aber zu aufwendig. Vielmehr kommt es darauf an, zu erkennen, was alles eine Rolle spielen kann, und sich jeweils an der geeigneten Stelle einzuarbeiten bzw. sich an geeigneten Quellen Information zu holen.
2.2. Interdisziplinarität zwischen mehreren Personen In den bisherigen Beispielen handelte es sich immer noch um den einfachsten Fall von Interdisziplinarität, eben um Interdisziplinarität in einer Person. Viel schwieriger wird es, wenn Fachleute aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten sollen. Fermats letzter Satz (Fermat’s Last Theorem, FLT) über die ganzzahlige Lösbarkeit oder besser Unlösbarkeit von Gleichungen der Form an + bn = cn mit n>2 wurde von Pierre de Fermat (1601–1665) etwa 1660 formuliert, aber erst 1670, also nach seinem Tode veröffentlicht. Fermat selbst glaubte, einen Beweis dafür zu besitzen. Vermutlich dachte er dabei an eine elegante Beweismethode, die so genannte descente infinie, den unendlichen Abstieg. Tatsächlich eignet sich diese Methode für die Fälle n = 3 und n = 4, nicht jedoch für größeres n. Über drei Jahrhunderte haben Generationen von Mathematikern den Beweis vorangetrieben. Aber erst 1995 wurde der Satz von Andrew Wiles allgemein bewiesen. Zusammenarbeit gab es hier in doppeltem Sinne: Und Wiles hat „praktisch alle bahnbrechenden Erkenntnisse der Zahlentheorie des 20. Jahrhunderts zusammengetragen und sie in einen allumfassenden Beweis eingebaut“ (Singh 1998, S. 311f.). Insbesondere hat er die Welt der elliptischen Gleichungen mit der Welt der Modulformen vereint. Aber schließlich waren doch alle Forscher, die an dem Projekt mit-
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arbeiteten, immer nur Mathematiker, entstammten also derselben Wissenschaft. (Nur Fermat selbst war Jurist.) Kernspaltung und Kernkettenreaktion sind zwar physikalische Prozesse an Atomkernen; um die Spaltprodukte zu identifizieren, braucht man jedoch chemische Nachweismethoden für die zugehörigen Atome. Tatsächlich: Lise Meitner war Physikerin, Otto Hahn Physiko-Chemiker, Fritz Strassmann Chemiker. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit, wofür auch Lise Meitner den Nobelpreis verdient hätte, ungerechterweise aber nicht erhielt. Es gibt auch eine andere Art der Zusammenarbeit: Nicht nur Faktenwissen, auch Methoden können sich ergänzen. Konrad Lorenz (1903–1989) unterscheidet in der Wissenschaft den „Seher“, der gute Einfälle hat, vom „Analytiker“, der solche Einfälle kritisch prüft (Lorenz 1963, S. 148f.). Er selbst sieht sich dabei eher als „Seher“ mit ausgeprägter Gestaltwahrnehmung, und auch andere billigen ihm das zu. So meint sein Schüler und Mitarbeiter Norbert Bischof (Bischof 1991, S. 21): „Er schwelgte in Einfällen.“ Auch Bert Hölldobler, Ameisenforscher und Koautor von Edward O. Wilson, meint in einem ausführlichen Interview, in ihrer Zusammenarbeit sei Wilson der Visionär, er dagegen der Mann fürs Detail (Breuer 2009, S. 51). Verwandte Polaritäten sind die zwischen Anschauung und Abstraktion, oder zwischen Lernen am Beispiel und Lernen an allgemeinen Gesetzen. Norbert Bischof spricht hier sogar von Denkstilen (ebd., S. 19ff.). In allen Fällen ist es natürlich am besten, beide Kompetenzen zu besitzen – soweit das überhaupt geht! Leuchtende Vorbilder sind hier anscheinend der Physiker Enrico Fermi (1901–1954) und der Physiologe Erich von Holst (1908–1962). Solche Menschen sind vermutlich eher die Ausnahme. Damit mag sich mancher zu Recht trösten. Entscheidend ist offenbar nicht, dass man alle Denkstile beherrscht, sondern dass man Mitarbeiter findet, die bestehende Einseitigkeiten und Defizite ausgleichen.
Fallstudie 4: Wozu ein interdisziplinäres Bauchzentrum? Auslöser war ein neues Abrechnungssystem für Krankenhäuser. Es wurde in den USA entwickelt und dort ab 1983, in Australien ab 1992, in Deutschland ab 2003 eingesetzt. Mit den Versicherungen abgerechnet wird jetzt nicht mehr nach den tatsächlich erbrachten Leistungen des Krankenhauses, sondern nach Krankheitsfällen (DRG, Diagnosis Related Groups, diagnosebezogenen Fallgruppen). Das Krankenhaus muss also die Leistung in hoher Qualität, so effektiv wie möglich und in ausreichender Fallzahl erbringen. Damit die Qualität der Behandlung darunter nicht leidet, muss die Organisation immer weiter optimiert werden. Dazu gehört die Bildung von Zentren, die ihrerseits auf bestimmte Fallgruppen ausgerichtet sind. Solche Zentren entstehen in den letzten Jahren in großer Zahl. In Gehrden bei Hannover etwa gibt es seit 2005 am Robert-Koch-Krankenhaus ein Bauchzentrum. Es geht neue Wege in Diagnose und Behandlung (Memming 2006, S. 223–232). Baucherkrankungen werden von mehreren klinischen Fachrichtungen behandelt: Internisten, Chirur-
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gen, Onkologen, Radiologen. Nach dem neuen Modell arbeiten die Fachärzte bei allen Patienten auf einer interdisziplinären Station zusammen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat sich diese neue Organisationsform bewährt: Die Patientenversorgung wurde verbessert; die Zahl der Operationen pro Woche hat sich erhöht; der notorische Freitagnachmittag-„Verschluss“ ist verschwunden; die Abläufe, insbesondere in dringenden Fällen, wurden beschleunigt. Die Spannung zwischen Ökonomie und ärztlichem Auftrag wird dadurch gelindert, allerdings nicht beseitigt.
3. Interdisziplinarität ist leider unmöglich Obwohl es ganz natürlich erscheint, dass sich auf diese Weise zwei oder mehr Disziplinen miteinander verbinden oder verbünden, gibt es doch genug Schwierigkeiten. Wo liegen die Probleme, die Gefahren, und wie gehen wir damit um? Wir teilen die Schwierigkeiten in vier Gruppen: Interdisziplinarität erfordert viel Wissen. Interdisziplinarität erfordert Vereinfachungen; diese führen zu Verfälschungen. Interdisziplinarität führt zu Verständnisschwierigkeiten, diese zu Missverständnissen. Interdisziplinarität leidet unter Selbstüberschätzung einer oder mehrerer Parteien.
3.1. Interdisziplinarität erfordert viel Wissen. Wir haben bereits gesehen, vor allem in den Fallstudien 1 bis 3, wie viel Wissen interdisziplinäres Arbeiten manchmal erfordert. Wir wissen aber auch, dass niemand mehr alles Wissen beherrschen kann. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mag der letzte Universalgelehrte gewesen sein; Hermann von Helmholtz (1821–1894) der letzte umfassende Naturwissenschaftler, William Thomson (1824–1907, später Lord Kelvin) der letzte universale Physiker, Wolfgang Pauli (1900–1958) der letzte umfassende theoretische Physiker. Je mehr wir wissen, desto enger wird der Bereich der eigenen Disziplin, und je schmaler die eigene Disziplin, desto notwendiger wird Interdisziplinarität. Aber was notwendig ist, wird nicht immer wirklich. Nicht immer haben wir die Zeit und die Kapazität, uns das erforderliche Wissen auch tatsächlich zu erarbeiten. So sind wir auf Rand- und Fremdgebieten viel anfälliger für Irrtümer. Charles Darwin (1809–1882), der sich nicht nur mit Biologie, sondern auch viel mit Geologie beschäftigte, schrieb 1839 eine Arbeit über die „Parallelstraßen“ von Glen Roy, lange waagerechte Stufen in einem Felstal in Schottland. Er führte sie auf die Einwirkung des Meeres zurück, wofür er durchaus Argumente hatte. Zwei Jahre später zeigte sein Schweizer Kollege Louis Agassiz (1807–1873), dass nicht das Meer, sondern die Gletscher der Eiszeit diese Stufen ausgehobelt haben. In seiner Autobiografie (ab 1876) räumt Darwin ein, dass er falsch lag, und meint: „Diese Abhandlung war sehr verfehlt, und ich schäme mich ihrer.“ (Darwin 1982, S. 66) Dass Darwin sich vierzig Jahre später noch schämt, mag ehrenwert sein; sinnvoll ist es nicht. Alle Wissenschaft-
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ler irren sich gelegentlich. Und natürlich irrte auch Darwin sich noch öfter, vor allem mit seiner Pangenesis-Theorie der Vererbung; aber das hat er nicht mehr erfahren. Hätte er sich dafür auch geschämt? Es kann nicht darauf ankommen, keine Fehler zu machen, sondern unsere Fehler zu suchen, zu erkennen und zu beseitigen. Auch andere dürfen uns auf unsere Fehler und Irrtümer aufmerksam machen. Wir sollten aus unseren Fehlern lernen und es beim nächsten Mal besser machen. Nicht „Wir müssen alles richtig machen!“ sei unsere Devise, sondern „Wir irren uns empor.“ (Vollmer 2007, S. 357–366) Es gibt Leute, die meinen oder sogar behaupten, immer recht zu haben. Meistens sind es keine angenehmen Zeitgenossen. Dass wir uns alle irren können, ist eine alte Einsicht. Dass wir uns aber tatsächlich oft irren, wollen wir nicht wahrhaben. Aber was hat das mit Interdisziplinarität zu tun? Ganz einfach: Bei interdisziplinärer Arbeit stellen wir oft fest, dass andere sich irren. Bei uns selbst merken wir das viel seltener, einfach deshalb, weil dazu mindestens zwei gehören. Bei der Bewertung fremder Irrtümer spielt es jedoch eine große Rolle, dass wir den Irrtümern anderer mit Toleranz begegnen. Und dazu kann das Wissen um die eigene Irrtumsanfälligkeit beitragen. In der folgenden Fallstudie stellen wir deshalb zahlreiche Irrtümer zusammen. Sie sollen durch ihre bloße Vielzahl überzeugen, auch wenn sie nicht alle durch Interdisziplinarität entstehen.
Fallstudie 5: Jeder kann sich irren! Es gibt viele Bücher, die Irrtümer richtig stellen. Es begann 1966: Damals erschien von Gerhard Prause (1926–2004), Literaturwissenschaftler und Historiker, das wunderbare Buch Niemand hat Kolumbus ausgelacht. Fälschungen und Legenden der Geschichte richtiggestellt (Prause 1978). Unter dem Pseudonym Tratschke war er viele Jahre Autor der Rätselserie „Wer war’s?“ und verfasste das Lexikon für Besserwisser, beide in der ZEIT (Prause 1984). 1996 erschien das herrliche, nämlich zugleich lehrreiche und vergnügliche Lexikon der populären Irrtümer von Walter Krämer und Götz Trenkler, dem schon 2000 ein weiterer Band folgte (Krämer / Trenkler 1996 (1998); Krämer et al. 2000). (Einer meiner Söhne, damals noch Schüler, schätzte diese Bände sehr und konnte damit seine Lehrer nerven – was diese wiederum nicht so sehr schätzten.) Inzwischen gibt es viele weitere Lexika mit gesammelten Irrtümern in der und über die Bibel, über Allgemeinbildung, Alltagsgefahren, Berlin, Bildung, Bodybuilding (nur im Netz), Ernährung, Fitness, Geld, Geschichte, Männer und Frauen, Medizin, Ökologie und Umwelt, Österreich, Paraphänomene, Pflanzen und Tiere, Psychologie, Recht, Religionen, Sachsen, die Schweiz, Sex, Sprache, Verschwörungen, Wein, Wetter, Zahlen, Zufall und Wahrscheinlichkeit. Ähnlich aufklärend sind die Bücher von Brednich über moderne Legenden und Großstadtmythen.7 Eine besondere Herausforderung stel-
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Rolf Wilhelm Brednich: Die Spinne in der Yucca-Palme. München: Beck 1990 und mindestens fünf Folgebände. Von anderen Autoren gibt es ähnliche Sammlungen.
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len Bücher (und Kalender!) dar, bei denen man zu einer Menge von zitierten Behauptungen selbst beurteilen soll, ob sie zutreffen oder nicht. 8 Um ein solches Lexikon zusammenzustellen, muss man nicht nur lange sammeln und sich dann doch kurz fassen und dabei auch noch verständlich formulieren. Wenn das Thema allgemein genug ist, dann ist auch die Arbeit am Lexikon ausgesprochen interdisziplinär. Aber nicht nur das: In solchen Fällen ist es unvermeidlich, dass man sich bei einem Gebiet, auf dem man nicht so bewandert ist, selbst wieder irrt. So passierte es dem oben genannten „Besserwisser“ Tratschke bzw. seinem genialen geistigen Vater Gerhard Prause, dass er den bekannten Holzschnitt „Der Mensch durchbricht das Himmelsgewölbe und erkennt die Sphären“, oft auch „Unendlichkeit“ genannt, in einem Kapitel über Kopernikus auf 1530 datierte. Das war vorher schon vielen so gegangen, auch Hoimar von Ditfurth (1921–1989) in seinem Buch Im Anfang war der Wasserstoff (von Ditfurth 1975, S. 346 (Kap. 21)). Seit 1973 wissen wir aber, dass diese zeitliche Einordnung falsch ist. In einem Aufsatz, der von Gelehrtheit geradezu überquillt, hat Bruno Weber (Weber 1973, S. 381–408; vgl. auch Putscher 1975, S. 290–295; Singer 1998, S. 793–827) das Rätsel überzeugend gelöst: Der Holzschnitt erscheint erstmals bei dem seinerzeit sehr berühmten französischen Astronomen Camille Flammarion (1842– 1925), und zwar in seinem populären Buch L’atmosphère, météorologie populaire (Paris 1888, S. 163). Er wurde von Flammarion selbst entworfen, vielleicht sogar gefertigt, und trägt den Untertitel: „Un missionnaire du moyen âge raconte qu'il avait trouvé le point où le ciel et la terre se touchent. Ein Missionar des Mittelalters erzählt, dass er den Punkt gefunden hat, wo Himmel und Erde sich berühren.“ In der Folgezeit, vor allem ab 1950, wurde das Bild oft abgedruckt, seine Quelle aber unterschlagen oder falsch angegeben, seine wirkliche Herkunft und Absicht vergessen. Eine spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Herkunft passte eben gar zu gut in das Bild, das man sich um 1900 vom „dunklen“ Mittelalter macht. Das sollte für alle, die etwas zu wissen glauben, und vor allem für die, die manches oder sogar alles besser zu wissen glauben, eine Lehre sein: Wir können uns irren; tatsächlich irren wir uns oft; und beim interdisziplinären Arbeiten ist diese Gefahr besonders groß! Interdisziplinarität ist, wie wir wissen, besonders schwierig; eben deshalb kann gerade sie uns Bescheidenheit lehren.
3.2. Interdisziplinarität erfordert Vereinfachungen; diese führen zu Verfälschungen. Der Physiker und Einstein-Biograph Philipp Frank (1884–1966) schreibt an einer Stelle, an der es um die populäre Darstellung der Relativitätstheorie geht: „Jeder, der eine komplizierte Sache populär darstellen will, muß sich einige Vereinfachungen erlauben. Diese bringt aber jeder Autor nach seinem Geschmack oder nach seiner Ansicht über 8
Hierzu verweise ich nur auf die Bücher von Christoph Drösser: Stimmt’s? Moderne Legenden im Test. Hamburg: Rowohlt, ab 1998, inzwischen mindestens fünf Bände.
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den Geschmack seiner Leser an verschiedenen Stellen an. Wenn man dann jede Äußerung eines solchen Popularisators wörtlich nimmt, so müssen Widersprüche entstehen. Das hat aber mit der Richtigkeit der Einsteinschen Theorie gar nichts zu tun.“ (Frank 1979, S. 286) Das Problem der Vereinfachung stellt sich jedoch nicht nur bei der Popularisierung; es ist ein ganz allgemeines didaktisches Problem. Um Vereinfachungen kommen wir in der Lehre nicht herum. Das gilt aber auch für interdisziplinäre Unternehmen: Um einer fachfremden Person etwas aus dem eigenen Fach zu erklären, muss man vereinfachen. Vereinfachen heißt aber verfälschen. Und je stärker man vereinfacht, desto größer ist der mögliche Fehler. Die Forderung oder der Vorsatz, nur Richtiges zu erzählen, ist dann unerfüllbar. Die Maxime lautet deshalb: Fehler muss man nicht um jeden Preis vermeiden; man muss sie aber verantworten können (Vollmer 1993, S. 109–129).
3.3. Interdisziplinarität führt zu Verständnisschwierigkeiten und zu Missverständnissen. Wenn alle sich spezialisieren, dann werden sie einander nicht mehr verstehen, und zwar desto schlechter, je weiter ihre Disziplinen voneinander entfernt sind. Geradezu sprichwörtlich ist die Schwierigkeit, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu vermitteln. Raghavendra Gadagkar, indischer Verhaltensbiologe und Fachmann für soziale Wespen, hat die unterschiedliche Arbeitsweise von Natur- und Geisteswissenschaftlern am Wissenschaftskolleg in Berlin beobachtet und verglichen: Geisteswissenschaftler sitzen beim Vortragen, Naturwissenschaftler stehen. Erstere lesen ihre Vorträge ab, Letztere reden frei. Naturwissenschaftler benutzen selbstverständlich visuelle Hilfsmittel wie Powerpoint, Geisteswissenschaftler nicht oder eher zögerlich. Naturwissenschaftler wiederum zitieren intellektuelle Vorfahren eher selten und meist nur in der Einleitung – die Daten ihrer Experimente sollten für sich sprechen. Geisteswissenschaftler hingegen leben davon, ihren Ausführungen mit Zitaten meist verstorbener Geistesgrößen mehr Gewicht oder Glaubwürdigkeit zu geben. (Gadagkar 2006, S. 167–180) Unter dem Schlagwort Clash der Wissenschaftskulturen ergänzt der Evolutionsbiologe Axel Meyer: In den Naturwissenschaften ist es wichtig, was gesagt wird, und weniger wichtig, wie es gesagt wird. […] Im gefühlten Unterschied zu den Geisteswissenschaften wollen Naturwissenschaftler Klartext reden […] Experimente und Daten allein zählen. Bei den Geisteswissenschaften dagegen hat man manchmal den Eindruck, dass es mindestens ebenso wichtig ist, wie und vor allem von wem etwas gesagt wird. (Meyer 2009, S. 9)
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Bei diesen Bemerkungen spürt man allerdings, dass er ganz auf der Seite der Naturwissenschaften steht. Das ist verständlich und legitim; doch wird sich ein Geisteswissenschaftler dabei unfair beurteilt fühlen. Das eben ist das Problem – oder wenigstens eines der Probleme: Vertreter der einen Gruppe, Schule, Disziplin, Wissenschaftskultur verstehen nicht nur nicht, was die anderen tun oder sagen; sie haben auch keine Verständnis dafür, wie die anderen sich fühlen. Als Physiker und Philosoph, also als Natur- und Geisteswissenschaftler, kann ich beide Seiten wenigstens ein Stück weit verstehen. Wichtig ist mir die Einsicht, dass beide etwas Sinnvolles tun und dass jede Seite einiges besser kann als die andere – und natürlich auch einiges weniger gut. Der Psychologe Robert Schurz hat die Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern empirisch untersucht und Snows These von der Bipolarität der akademischen Kulturen in sehr deutlichen Ergebnissen weitgehend bestätigt: Es gibt verschiedene Schreibstile und vor allem Denkstile, aber auch verschiedene Einstellungen und Interaktionsformen. Für den Naturwissenschaftler bedeutet Interdisziplinarität Verzicht auf Effektivität, und die Einführung von Hemmungen; für den Geisteswissenschaftler bedeutet sie Disziplinierung und das Ignorieren von Kontexten. Kommunikation und Metakommunikation – also Austausch über Kriterien, Argumente und Argumentationsweisen, Beleglage und Beweispflicht – werden vom Naturwissenschaftler klar getrennt, vom Geisteswissenschaftler nicht (Schurz 1995, S. 1080–1089). Der Geisteswissenschaftler hält die Geschichte nicht für einen zufälligen Prozeß, […] kann sich die Welt eher ohne Newtonsche Mechanik als ohne Gedichte vorstellen, und findet nicht, dass klare Begriffe das wichtigste an einer Unterhaltung sind – ebenso wenig wie er der Ansicht ist, daß jedes Problem lösbar ist, das klar genug beschrieben wird. […] Der Naturwissenschaftler lebt demnach in einer Welt der Machbarkeit, des Funktionellen und der Präzision – der Geisteswissenschaftler umgekehrt in einer Welt der Skepsis, des Unvollständigen und des Ambivalenten (ebd.). Angesichts all dieser Unterschiede, die wir leicht vermehren könnten, ist es kein Wunder, dass es bei der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften Schwierigkeiten gibt. Zunächst kann es viele Missverständnisse geben. Bei einer Tagung über mathematische Methoden der Soziologie wird ein Vortrag über Gruppentheorie angekündigt – was ist damit gemeint? Wie viel Mathematik muss ein Soziologe können, um zu wissen, dass die Gruppentheorie eine mathematische Disziplin ist? Zudem eine Disziplin, die mit dem landläufigen und dem soziologischen Begriff der Gruppe nichts, aber auch gar nichts zu tun hat? Horst Harreis, als Physikdidaktiker Natur- und Geisteswissenschaftler in einer Person, meint, emotionale Störungen in der Beziehung zwischen den beiden „Lagern“ kämen erschwerend hinzu. Es helfe nichts, wenn die eine Seite die Erfolge der anderen abwerte und sich zum alleinigen Träger der Kultur ausrufe (Harreis 1988, S. 77).
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Vermittlungsversuche werden bemerkenswerterweise leicht von den betroffenen Geisteswissenschaftlern als Herabwürdigung empfunden, weil sie für sich in Anspruch nehmen, die Vertreter der eigentlich sinnstiftenden Wissenschaften zu sein. […] Die ‚Aggressivität‘ der Naturwissenschaftler gegenüber den Geisteswissenschaftlern [kommt daher], daß die Naturwissenschaftler die beweislosen Argumentationsketten des hermeneutischen Prozesses, wie sie in den Geisteswissenschaft üblich sind, für unwissenschaftlich erachten und das insbesondere an dem nach Bedarf immer wieder neu verstandenen Begriff […] festmachen. Dieses Gleiten ist dem Naturwissenschaftler eine derartige Ungeheuerlichkeit, daß es ihn aus der Reserve lockt, ihn emotional reagieren lässt (Rottländer 1998, S. 214). So könnten wir fortfahren. Aber noch so viele Unterschiede sagen noch nichts darüber, ob und wie die Kommunikation zwischen Natur- und Geisteswissenschaftler denn nun gelingen kann. Deshalb widmen wir diesem Problem wieder eine Fallstudie.
Fallstudie 6: Archäometrie als Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften Archäologie oder Altertumskunde ist in erster Instanz eine historisch orientierte Geisteswissenschaft. Sie könnte auch historische Kulturanthropologie heißen. Sie erforscht und erzählt uns, was bei früheren Menschen der Fall war. Um das aber herauszufinden, genügt es nicht, Herodot zu lesen. Hier bedient man sich zunehmend naturwissenschaftlicher Methoden. Vor allem in der Archäometrie arbeiten Physiker und Chemiker mit Historikern zusammen, also ausgesprochene Naturwissenschaftler mit ausgesprochenen Geisteswissenschaftlern. „Archäometrie ist eine Querschnittswissenschaft“, meint deshalb der Vorsitzende der Gesellschaft für Naturwissenschaftliche Archäologie in einem Interview (Wagner 2001, S. 93f.), und in einem Porträt wird Ernst Pernicka, führender Experte für Archäometrie in Deutschland und derzeit zugleich Grabungsleiter in Troja, als ausgesprochener Grenzgänger bezeichnet (Linsmeier 2009, S. 58–64). Selbst der Brockhaus charakterisiert die Archäometrie in einem besonders ausführlichen Artikel als interdisziplinäres Bindeglied zwischen Naturwissenschaften und historischen Wissenschaften und zeigt in einer eigenen Grafik, wie sich hier Geowissenschaften, Physik, Chemie und Biowissenschaften einerseits mit Archäologie, Kunstgeschichte und Denkmalpflege andererseits überschneiden. 9 Der Archäometrie hat Spektrum der Wissenschaft 2000 einen Schwerpunkt mit vier Beiträgen gewidmet (Spektrum-Report 2000, S. 82–91). Typische Aufgaben sind: Lokalisierung von Fundstätten, auch im Infrarot- und Radar-Bereich; Ortung über Ultraschall; physikalisch-chemische Analyse von Metallob9
Brockhaus Enzyklopädie. Leipzig/Mannheim 2006, Stichwort Archäometrie.
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jekten, Urneninhalten, Abfällen, Asche, Schlacke, Glas; bei organischen Materialien Trennung und Nachweis von Bestandteilen, DNA-Analyse; Herkunft von Objekten und Rohstoffen, Rekonstruktion von Klima, Ernährung, Landschaften, handwerklichen Techniken; Altersbestimmung und Datierung, etwa über Jahresringe (Dendrochronologie) oder die C-14-Methode. Typische Fragen sind: Welche Handelswege gab es in vorschriftlicher Zeit? Warum gab es im Altertum zwar Anfänge der Physik, aber keine Anfänge der Chemie? Woher stammt das Zinn der trojanischen Bronze, also der ersten gezielt hergestellten metallischen Legierungen? Woher stammt das Gold der Agamemnon-Maske? Ist jene aztekische Goldmaske echt? Um so etwas herauszufinden, müssen sich Historiker und Archäologen mit Geologen, Physikern, Kristallographen und Chemikern zusammentun (Wagner 2007). Kann das gutgehen? Ein Physiker berichtet von seinen Messungen zur Altersbestimmung und gibt in seinem Bericht, wie üblich, Fehlergrenzen an. Der Historiker fragt daraufhin: „Wenn man schon weiß, wie groß die Fehler sind – warum korrigiert man diese Fehler dann nicht gleich?“ Was kann der Physiker antworten? Er kann darauf hinweisen, dass ‚Fehler‘ hier nur ‚möglicher Fehler‘ oder ‚Messunschärfe‘ heißt und dass er den tatsächlichen Fehler nicht kennt, aber gerade deshalb den möglichen Fehler angibt. Mit der Akzeptanz naturwissenschaftlicher, insbesondere quantitativer Ergebnisse in den Geisteswissenschaften, hat sich Rolf Rottländer, früher Vertreter der Archäometrie und als Chemiker und Historiker selbst leidgeprüfter Grenzgänger, vielfach befasst. Er schildert, wie traditionell orientierte Archäologen quantitative Angaben ablehnen, verachten, bekämpfen. Der Archäologe Vladimir Milojčić (1918–1978) habe „bei Grabungen Holzkohle und sonstiges organisches Material beseitigen lassen, um der verhaßten Kohlenstoff-Datierung zu entgehen“ (Rottländer 1991, S. 8). Bis zu seinem Tode habe er gegen diese Datierung gestritten. Und Rottländer zeigt an weiteren Beispielen, wie unterschiedlich Natur- und Geisteswissenschaftler argumentieren. Die Gründe dafür sieht Rottländer auf vier Ebenen unterschiedlicher Tiefe: Erstens und oberflächlich gesehen gibt es, wie überall, persönliche Vorlieben und Abneigungen. Zweitens ist beim Geisteswissenschaftler mit dem Abitur die naturwissenschaftliche Ausbildung in aller Regel beendet. Drittens haben Natur- und Geisteswissenschaften unterschiedliche Methoden, ja Erkenntnisweisen. (Als Stichworte dienen „Experiment“ hier, „Hermeneutik“ dort.) Und viertens beanspruchen Geisteswissenschaftler und gerade Archäologen gern, dem Humanum, dem eigentlich Menschlichen auf der Spur zu sein – eben dem Geist. Zuletzt formuliert Rottländer, unter welchen Voraussetzungen interdisziplinäre Zusammenarbeit – trotz aller Schwierigkeiten – möglich ist (ebd., S. 18). Es sind drei innere Einstellungen: Erstens kann weder die Naturwissenschaft die Geisteswissenschaft beaufsichtigen oder ihr ihre Methoden aufzwingen noch umgekehrt. Zweitens muss man sich mit der Ausdrucksweise, der Terminologie und den Methoden der anderen Seite vertraut machen. Drittens muss man dem Partner aus der anderen Disziplin seine Ergebnisse zunächst einmal glauben. Das heißt nicht, dass man alles vorbehaltlos schlucken muss: Kompetenzen können sich überschneiden, und man kann durchaus
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prüfen, wer seinen Kompetenzbereich überschritten hat; aber von den Thesen des Partners muss angenommen werden, dass sie auf verantwortbare Weise gewonnen wurden. Alles zu wissen, ist unmöglich. Die Kunst besteht darin, zu wissen, wo und wie man etwas findet, wen man fragen kann, von wem zuverlässige Auskünfte zu erwarten sind. Eine noch höhere Kunst wäre es, auch noch zu wissen, welche Fragen überhaupt beantwortbar und welche davon bereits beantwortet sind. In dieser Kunst kann man sich üben; aber Meister wird man darin so leicht nicht. Interdisziplinarität steht also vor einem Dilemma: Je näher die Gebiete, die Fächer, die Kompetenzen liegen, desto einfacher ist die Verständigung; dafür wird aus der Zusammenarbeit nicht viel Neues hervorgehen. Für das andere Extrem gilt: Je entfernter die Gebiete, desto besser ergänzen sie sich; aber hier ist die Kommunikation besonders schwierig. Interdisziplinarität kann somit aus zwei Gründen unfruchtbar sein: Die Partner sind einander zu ähnlich und brauchen sich dann gar nicht; oder sie sind einander zu fremd und verstehen einander nicht. Zwischen Skylla und Charybdis scheint die freie Durchfahrt nicht besonders breit zu sein. Offenbar muss man gut navigieren können, wenn man Schiff und Ladung heil nach Hause bringen will.
3.4. Interdisziplinarität leidet unter Selbstüberschätzung einer oder mehrerer Parteien. Gerne definiert man den Experten als jemanden, der auf seinem Gebiet alle Fehler schon einmal gemacht hat. Man kann auf einem Gebiet Experte sein, vielleicht auch auf zweien, aber nicht auf allen. Die Folge ist, dass man bei interdisziplinären Unternehmungen immer auch Amateur ist. Da man dort noch nicht alle Fehler gemacht hat, ist die Gefahr groß, dass man das beim Versuch, interdisziplinär zu arbeiten, unfreiwillig nachholt. Wie wir schon betont haben, sollten wir uns immer wieder klarmachen, dass wir fehlbar sind, dass wir uns irren können und immer wieder irren – im Denken wie im Handeln. Dafür sollten wir andere nicht tadeln und uns selbst nicht schämen. Das aber will einigen nicht in den Kopf. Die jeweils anderen phantasieren ja nur; aber ich habe doch alles so oft und so genau durchdacht! Ein Irrtum meinerseits ist so gut wie ausgeschlossen!
Fallstudie 7: Was passieren kann, wenn man in fremden Revieren wildert In seinem Buch Bildung – alles, was man wissen muss meint Dietrich Schwanitz (1940– 2004): „Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.“ (Schwanitz 1999, S. 482; 2002, S. 618) Es ist nicht ganz klar, ob Schwanitz feststellt, dass das in unserer Öffentlichkeit eben so ist, oder ob er wertend festlegt, dass das auch so sein soll. Jedenfalls enthält sein umfangreiches Buch (700 Seiten!) fast nichts über die Naturwissenschaften: nur dreieinhalb Seiten über Evo-
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lution und nur drei Seiten über Einstein und die Relativitätstheorie. Dabei muss man entsetzt feststellen, dass selbst diese wenigen Bemerkungen voller Fehler stecken. So charakterisiert er Darwins Hauptwerk Die Entstehung der Arten ausdrücklich durch drei Annahmen, die neu und schockierend gewesen seien. Wir zitieren diese angeblichen Annahmen in Kurzform und schließen unsere Kritik gleich an. x „Die Bibel ist nicht das Wort Gottes, sondern eine windige Ansammlung von Legenden.“ Kritik: Darwin hätte sich gehütet, in seinem Buch so etwas zu schreiben. Über Gott und die Bibel findet man in diesem Buch nichts! Erst in seiner Autobiografie, die er 1876 schreibt und in den Folgejahren noch ergänzt und die erst nach seinem Tode, nämlich 1887, teilweise und erst 1958 vollständig veröffentlicht wird, meint er, das Alte Testament erzähle eine offensichtlich falsche Weltgeschichte und die Wundererzählungen im Neuen Testament seien unglaubhaft. x „Der Mensch ist nicht aus der Hand Gottes entsprungen, sondern entstammt peinlicherweise der Familie der Affen.“ Kritik: In seinem Hauptwerk erwähnt Darwin den Menschen nur mit einem einzigen Satz! Über die Abstammung des Menschen hat er erst zwölf Jahre später geschrieben; da war diese These längst nicht mehr neu. Erwogen wurde sie schon von Benoît de Maillet (1656–1738) in seinem 1748 posthum erschienenen Telliamed und vor allem von Jean Baptiste de Lamarck (1744–1829) in seiner Philosophie zoologique von 1809. In Büchern vertreten wurde sie nach dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk vorwiegend von anderen, vor allem von Thomas H. Huxley 1863 und von Ernst Haeckel 1866. x „Die Welt ist nicht 60 000 Jahre alt, wie man bisher immer geglaubt hat, sondern Jahrmillionen.“ Kritik: Die erste Zahl ist wohl ein Druckfehler: Seit Jahrhunderten, vor allem seit den „Berechnungen“ von Johannes Kepler (1571–1630), René Descartes (1596–1650) aus dem Jahre 1644 und des anglikanischen Erzbischofs James Ussher (1580–1656) aus dem Jahre 1654, die sich auf biblische Angaben stützten, hatte man nämlich angenommen, die Welt sei rund 6 000 Jahre alt. Ussher datiert den Beginn der Schöpfung sogar ganz genau auf den 26. Oktober 4004 v. Chr., morgens 9 Uhr! (Buffon war dann auf 75 000 Jahre gekommen, hatte aber kein Gehör gefunden.) Vor allem aber gilt: Dass die Welt viel älter sein müsse als 6 000 oder auch als 60 000 Jahre, war nicht eine Annahme, sondern eine unabweisbare Folgerung des Evolutionsgedankens. Mit genauen Zahlenangaben ist Darwin sehr vorsichtig. Ein Weltalter, das er für plausibel hält, liegt zwischen 200 und 400 Jahrmillionen. Dagegen hält der Astronom John Herschel (1792–1871) schon 1836 in einem an den Geologen Charles Lyell (1791–1875) gerichteten Brief, der in Darwins Umgebung viel diskutiert wurde, ein Weltalter von „vielen tausend Millionen Jahren“ für möglich (Desmond / Moore 1994, S. 247). Mit diesen Fehlern ist es bei Schwanitz noch längst nicht getan. Falsch ist, dass Darwin der Durchbruch nur deshalb gelungen ist, weil er ein wissenschaftlicher Außenseiter war. Alfred Russel Wallace (1823–1913) gelang der Durchbruch ebenfalls, und der
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war gerade kein Außenseiter, sondern Zoologe vom Fach! Falsch ist, dass Darwin auf der Fahrt zu den Galapagos-Inseln Malthus gelesen hat, also schon 1835 oder wenigstens irgendwann auf seiner Reise um die Welt 1831–1836. Wie er in seiner Autobiografie selbst schreibt, las er Malthus erst lange nach seiner Weltumseglung, nämlich erst im Herbst 1838, und zwar „zufällig zur Unterhaltung“ (Darwin 1982, S. 93). So konnte er – entgegen Schwanitz – die Fülle der Arten auf Galapagos noch nicht mit Malthus‘ Augen sehen und eben gerade nicht „heureka!“ rufen. Auch die berühmten „Darwin-Finken“ hat er zwar von den Galapagos-Inseln mitgebracht, aber 1837 mit anderen Bälgen der Zoologischen Gesellschaft des Londoner Museums und damit einem ausgewiesenen Fachmann, dem Ornithologen John Gould (1804–1881) überlassen. Dieser wiederum entdeckte zunächst an den „ausgeliehenen“ Spottdrosseln, dass sie je nach Insel drei verschiedenen Arten angehörten, und erst danach das Gleiche an den Finken mit dreizehn verschiedenen Arten. Jetzt erst erkannte Darwin, dass Arten veränderlich sind und sich an ihre Umwelt anpassen. Das Prinzip der natürlichen Auslese entdeckte er dann noch einmal eineinhalb Jahre später. Falsch ist, dass man sich einen Prozess, der nicht geplant ist, aber auch nicht chaotisch verläuft, schlechterdings nicht vorstellen konnte. Die deterministischen Prozesse der Newtonschen und der Laplaceschen Physik sind weder geplant noch chaotisch und doch gut vorstellbar; dazu brauchen wir nur einen fallenden Stein zu beobachten. Die Schwierigkeit bei der Evolution liegt woanders, nämlich darin, dass wir uns das Zusammenwirken zweier so ungleicher Faktoren wie blinder Variation und gerichteter Selektion nicht so recht vorstellen können. Deshalb wird von der einen Seite immer wieder eingewandt, Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Natur könnten doch nicht das Ergebnis blinden Zufalls sein (das sind sie ja auch gar nicht), und von der anderen Seite, die vielen Formen und Geschehnisse in der belebten Natur könnten doch nicht alle kausal bedingt, determiniert oder gar prädestiniert sein (das sind sie ebenfalls nicht). Auch Darwin spricht in seiner Autobiografie von „der äußersten Schwierigkeit oder vielmehr Unmöglichkeit, einzusehen, dass dieses ungeheure und wunderbare Weltall das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit sei“ (ebd., S. 72f.). Hier gibt es kein EntwederOder; man muss eben lernen, dass beide zusammenwirken können. Eben dies bildet die Grundstruktur der Darwinschen Evolutionstheorie. Falsch ist die Behauptung, der Sozialdarwinismus sei deshalb verfehlt, weil „die Konkurrenz zwischen verschiedenen Arten nicht auf die Beziehungen innerhalb derselben Art übertragen werden darf“. Im Gegenteil: Natürlich besteht – bei Pflanzen und Tieren – nicht nur zwischenartliche, sondern immer auch innerartliche Konkurrenz, und dieser Konkurrenz hat die Evolution ihre Geschwindigkeit zu verdanken. Die Konkurrenz zwischen verschiedenen Arten kann zeitweise ausfallen, wenn eine Population eine neue ökologische Nische besetzt oder bildet. Dagegen fällt die innerartliche Konkurrenz fast nie aus, nämlich allenfalls dann, wenn ausnahmsweise paradiesische Zustände herrschen, so dass es keine Wachstumsbeschränkung gibt; aber ein solcher Zustand hält nie lange an. Der Sozialdarwinismus ist also nicht falsch als Beschreibung vieler biologischer Prozesse. Falsch ist vielmehr der Schluss, weil in der Natur innerartliche Konkurrenz herrscht, sei dies auch beim Menschen gut oder sogar förderungswürdig. Allein
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daraus, dass etwas in der Natur vorkommt, kann man eben weder schließen, dass es gut, noch, dass es schlecht ist. Noch mehr Fehler enthalten die drei Seiten zur Relativitätstheorie. Schwanitz meint, deren entscheidende Pointe sei: Alles ist irgendwie relativ (Schwanitz 1999, S. 367; 2002, S. 470). Nichts ist falscher als das, und kein Naturwissenschaftler hat das je behauptet! So schreibt auch Max Planck in seiner Wissenschaftlichen Selbstbiographie 1948: „Der oft gehörte Satz „Alles ist relativ“ ist ebenso irreführend wie gedankenlos.“ (Planck 2001/1948, S. 70) Zwar zeigt Einstein, dass einige Größen, die man mit Newton für absolut gehalten hatte, in Wahrheit vom Bezugssystem abhängen: räumliche Entfernungen, Zeitdauern, Gleichzeitigkeit, träge Masse. Entgegen Schwanitz kommt es aber nicht auf den Standpunkt des Beobachters an, sondern auf seine Relativgeschwindigkeit. Nicht umsonst heißt Einsteins entscheidende Arbeit von 1905 Zur Elektrodynamik bewegter[!] Körper. Und vor allem zeigt Einsteins Theorie, welche Größen dann eben doch absolut sind: vierdimensionale Raum-Zeit-Intervalle, Lichtgeschwindigkeit, Lichtkegel, Zeitordnung bei kausaler Verknüpfung, der Unterschied von Raum und Zeit, Ruhelänge, Eigenzeit und Ruhemasse. Der Name Relativitätstheorie hebt nur die eine, die neuere Seite hervor; mit gleicher Asymmetrie könnte man auch von Einsteins Absoluttheorie sprechen (in der dann natürlich auch nicht alles absolut ist). Schließlich erweckt Schwanitz mit seinen fantasievollen Formulierungen den Eindruck, er stelle auch Grundgedanken der Allgemeinen Relativitätstheorie dar; das ist jedoch – zweifellos zu des Lesers Glück – in keiner Weise der Fall. Was hätte Schwanitz tun können, wenn er den Lesern diesen Unsinn und sich diese Blamage hätte ersparen wollen? Er hätte sich viel genauer informieren können. Nein, nicht nur können: müssen. Er hätte jemanden hinzuziehen können, der sich auf den angesprochenen Gebieten auskennt, um den Text zu korrigieren oder gleich selbst zu verfassen. Er hätte schreiben können, dass er diese Gebiete für Bildungsgut hält, sich aber nicht in der Lage sieht, sie angemessen darzustellen. Er hätte, nachdem ihn jemand auf die Fehler in der ersten Auflage aufmerksam gemacht hat, es in späteren Ausgaben besser machen können. Es ist nicht ehrenrührig, wenn jemand die Grundlagen der Evolutionstheorie oder der Relativitätstheorie nicht beherrscht. Wer sie aber mit dem überheblichen Gestus des Universalgelehrten zum unerlässlichen Bildungsgut erklärt, der sollte sich doch wenigstens vergewissern, ob er sie richtig verstanden hat. Und es wäre wohl auch einiger Erläuterungen wert, warum man von den Naturwissenschaften ausgerechnet Evolutionstheorie und Relativitätstheorie als Bildungsgut hervorhebt und sonst nichts: nicht Geografie, nicht Meteorologie, nicht Astronomie, nicht Kosmologie, nicht Quantentheorie, nicht Molekularbiologie, nicht die Neurowissenschaften. So hat sich Ernst Peter Fischer (*1947) veranlasst gesehen, in einem eigenen Buch zusammenzustellen, was man von den Naturwissenschaften wissen sollte (Fischer 2001). Das gleiche Motiv hat Ganten, Deichmann und Spahl zu einem ähnlichen Buch angeregt (Ganten et al. 2003). In einem wenigstens dürfen wir Schwanitz recht geben: Darwin dachte interdisziplinär! Er interessierte sich für Geologie, Meereskunde, Botanik, Zoologie, Verhaltensforschung, Anthropologie, Ethnologie. Dabei muss man bedenken, dass „die Biologie“ damals noch gar kein zusammenhängendes Fach war. (Selbst das Wort wurde erst um
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1800 eingeführt!) Erst durch Darwins Evolutionstheorie wurde sie zu einer umfassenden Disziplin, bekamen alle Biowissenschaften eine gemeinsame Grundlage. (Ähnliches leistet etwa gleichzeitig die allgemeine Zellenlehre von Schleiden und Schwann und im 20. Jahrhundert die Molekularbiologie.) Das erklärt auch, warum Darwin nach der Rückkehr von seiner Weltreise mit der Beagle so lange brauchte, um die Evolutionstheorie zu formulieren: Er hatte einfach zu viele Interessen! Er lebte Interdisziplinarität vor. Aber freilich: Um das zu erfahren, hätten wir Schwanitz nicht gebraucht.
4. Fazit Was lernen wir aus all unseren Überlegungen? Eine eindeutige Botschaft ergibt sich nicht. Der Titel des Aufsatzes ist offenbar bewusst übertrieben: Auf der einen Seite kommen viele Wissenschaftler ohne Interdisziplinarität aus und sind dabei doch äußerst erfolgreich. Auf der anderen Seite ist Interdisziplinarität auch nicht unmöglich; wir haben ja zahlreiche gelungene Fälle zitiert. Aber oft genug klappt es eben nicht. Interdisziplinarität ist nötig und möglich, aber schwierig. Das sollte diejenigen eines Besseren belehren, die meinen, Interdisziplinarität sei überflüssig; es sollte denen Mut machen, die sich fragen, ob Interdisziplinarität überhaupt funktionieren kann, und es sollte jene warnen, die sich einbilden, Interdisziplinarität funktioniere von selbst.
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Im Prinzip geht alles, ohne Empirie geht nichts – Interdisziplinarität in der Wissenschaftstheorie 1. Die Unverzichtbarkeit einer interdisziplinären Arbeitsweise Vielfach wurde schon festgestellt: Interdisziplinarität lässt sich zwar leicht fordern, aber schwer umsetzen. Ein wichtiger Grund ist – neben Kommunikationsproblemen mit Kollegen anderer Fachwissenschaften aufgrund anderer Methoden und Voraussetzungen – vor allem die ausbildungsbedingte Schwierigkeit, andere Gebiete überhaupt als relevant zu erachten. Dies geschieht, sei es aus Zeitdruck, sei es wegen des gigantischen Lesepensums im eigenen Fachgebiet selten genug. Noch rarer sind diejenigen Fälle, in denen Wissenschaftler andere Fachgebiete tatsächlich in ihre Arbeit integrieren oder sie sich gar selbst zu Eigen machen. Einige berühmte Beispiele zeigen aber, dass Erträge interdisziplinärer Zusammenarbeit oft hoch sind, denn es werden überproportional oft wichtige und aufsehenerregende Durchbrüche erzeugt: x Anwendung der Spieltheorie auf die Evolutionsbiologie durch Maynard-Smith und Price x Mathematische Ausarbeitung der Einstein'schen Theorie durch Minkowski x Mathematische Ausarbeitung der Hypothese von Trivers zum Geschlechterverhältnis durch den Mathematiker Willard, was die Soziobiologie revolutionierte x Entdeckung der Kernspaltung durch Zusammenarbeit der Physikerin Lise Meitner mit den Chemikern Otto Hahn und Fritz Straßmann Nun sind erfolgreiche interdisziplinäre Projektbeispiele kein Beleg für die Notwendigkeit, fachübergreifend zu arbeiten, da es natürlich ebenso erfolgreiche innerfachliche Beispiele gibt. Erhellender ist es, nicht nur erfolgreiche Durchbrüche zu betrachten, sondern vielmehr „normale“ Forschung im Kuhn'schen Sinne. Kann sie ohne interdisziplinäres Denken überhaupt funktionieren? Die Antwort aktueller Forschung hierauf dürfte inzwischen immer öfter ein klares „Nein“ sein. Diese Behauptung wird im Folgenden anhand eines Beispiels belegt – die Argumentation gilt stellvertretend für viele ähnliche Forschungsfragen. Um nun nicht in den Verdacht zu geraten, gerade ein besonders passendes Beispiel für die Behauptung ausgewählt zu haben, dient die altehrwürdige philosophische Kant'sche Frage „Was dürfen wir hoffen?“ als Ausgangspunkt. Diese lässt sich – wie es gerade in der aktuellen Forschung geschieht – in spezifische Teilfragen umformulieren: Was ist Religion? Wie entsteht sie? In welchen Formen liegt sie vor? Was ist Religiosität? Was sind die Grundlagen von Religion?
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Um diese Fragen zu beantworten, was bis vor wenigen Jahren in das nicht interdisziplinäre Deutungsmonopol der Theologie fiel, macht man zur Zeit vermehrt von empirischen, disziplinenübergreifenden (crossdisciplinary) Ansätzen Gebrauch. Diese Ansätze stützen sich auf eine enorme Bandbreite von Fachgebieten, um auf obige und nah verwandte Fragen zu antworten: x Sind sich Religionen ähnlich? Gibt es Gemeinsamkeiten? Was sind die Unterschiede? Notwendiges Fachgebiet: Ethnologie x Ist Religiosität ein rein menschliches Verhalten? Gibt es Tiere, die etwas Ähnliches zeigen? Notwendiges Fachgebiet: Zoologie (insbesondere Primatologie) x Haben religiöse Gemeinschaften Vorteile gegenüber nicht-religiösen? Notwendiges Fachgebiet: Evolutionsbiologie x Sind Kinder von sich aus religiös? Lernen sie ihren Glauben von ihren Eltern? Notwendiges Fachgebiet: Entwicklungspsychologie x Wie kommt es, dass Menschen in allen Völkern an Geister oder Ähnliches glauben? Notwendiges Fachgebiet: Kognitionspsychologie x Wie haben sich religiöse Gruppen in der Geschichte entwickelt? Notwendiges Fachgebiet: Demographie und Geschichtswissenschaft x Welche Auswirkungen haben Religionen auf das Gruppenverhalten? Erfüllt Religion hierbei eine besondere Funktion? Notwendiges Fachgebiet: Sozialpsychologie und Forschung zu Kooperationsproblemen x Welche Inhalte haben Religionen? Notwendiges Fachgebiet: Theologie und vergleichende Religionswissenschaft Diese bei weitem nicht vollständige Liste von Fragen und Disziplinen ist ein typisches Beispiel für eine wissenschaftliche Fragestellung, die auf viele Disziplinen verweist. Es zeigt deutlich, dass eine nicht-interdisziplinäre Arbeitsweise oft nicht mehr denkbar ist. Sollte man gar – was der Normalfall sein dürfte – mehrere dieser Fragen und Antworten in eine Theorie integrieren, ihre Wechselwirkungen studieren, ihre gegenseitigen Abhängigkeiten abwägen wollen, dann ist ein interdisziplinärer Zugang vollends unverzichtbar.
2. Interdisziplinäre und empirische Wissenschaftstheorie Gibt es diese Notwendigkeit einer interdisziplinären Herangehensweise nun auch für die Wissenschaftstheorie? Die Antwort eines geschulten Wissenschaftstheoretikers lautet vermutlich „Nein“, weil sie sich als Metawissenschaft gerade nicht der empirischen Methodik derjenigen Wissenschaften bedient, die sie untersucht; auch sind ihre methodischen Instrumente, etwa der Theorienanalyse, auf ihr eigenes Gebiet beschränkt und somit nicht interdisziplinär. Diese Antwort ist in der Tat so bisher gegeben worden. Als Aufgabe der Wissenschaftstheorie galt die logische und sprachanalytische Untersuchung von Theorien und
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Sätzen, sowie deren Verknüpfungsregeln. Oft genug galt auch der Entdeckungszusammenhang (context of discovery) als nicht untersuchenswert, weil wissenschaftstheoretisch bedeutungslos. Im Folgenden wird versucht zu zeigen, dass dieser Ansatz zumindest für deskriptive Wissenschaftstheorie unvollständig ist. Ganz analog zu dem eben genannten Beispiel einer empirisch und interdisziplinär ausgerichteten Religionswissenschaft kann auch deskriptive Wissenschaftstheorie nur dann ein „progressives“ Forschungsprogramm bleiben, wenn sie sowohl Methodiken aus den Erfahrungswissenschaften übernimmt als auch Fallstudien verwendet, um ihre Hypothesen empirisch zu prüfen. Davon weitgehend unberührt bleiben etwa Kriterien zur Evaluation von Theorien. Im Gegensatz dazu fragt normative Wissenschaftstheorie, ob es zweckrational ist, bestimmten Normen im wissenschaftlichen Vorgehen zu folgen. Natürlich verwendet auch die deskriptive Wissenschaftstheorie Kriterien, um zu Bewertungen zu kommen – aber auch diese entstehen in einem Wechselspiel von Empirie und Theorie, in einer Art Aufwärtsspirale, die anfangs krude Bewertungsmaßstäbe immer weiter verfeinert, wie es bereits Aristoteles gesehen hat.
2.1. Warum Erfahrungswissenschaften wichtig für die Wissenschaftstheorie sind Betrachten wir einige typische wissenschaftstheoretische Fragestellungen, wie etwa die folgenden: x Warum wird eine Erklärung einer anderen vorgezogen? Wie lässt sich dieser Prozess beschreiben? x Weshalb werden jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt einige Theorien anderen vorgezogen? Was macht sie attraktiver, welche Faktoren beeinflussen die Theoriewahl? x Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen historisch und fachlich getrennten Entdeckungen? Hier besteht ein enger Zusammenhang mit den Erfahrungswissenschaften, denn bei solchen oder anderen genuinen Fragen der Wissenschaftstheorie kann es sinnvoll sein, auf deren methodische Instrumente zurück zu greifen. Das soll anhand einer in der Wissenschaftstheorie eher seltenen Herangehensweise kurz skizziert werden. So untersucht Dunbar (Dunbar 1997) mehrere molekularbiologische Laboratorien in ihrer Arbeit. Besonderes Augenmerk schenkt er kognitiven Mechanismen wie Analogiebildung, Induktion und Deduktion, Gruppendenken (distributed reasoning). Wichtig sind ihm auch für die Theoriebildung bestimmende Ereignisse, wie der tägliche Umgang mit Anomalien und die in der Arbeitsgruppe wirkenden Faktoren des Theorienwandels. Entscheidend ist, dass diese Phänomene nun in Hinblick auf die Kognitionspsychologie geprüft werden. Gehen die Wissenschaftler so vor, wie es viele Experimente aus diesem Gebiet vorhersagen? Dies ist in der Tat der Fall.
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Diese Herangehensweise ist aber nur dann möglich, wenn Erkenntnisse und Methoden der zu Grunde liegenden Disziplinen einbezogen werden. Dunbar folgert denn auch, dass kognitive Prozesse für wissenschaftliches Arbeiten bedeutsam sind. Wichtig für uns ist hier sein Ergebnis bezüglich des Theoriewandels, das herkömmlich arbeitende Wissenschaftstheoretiker mit ihren Methoden gar nicht zu Gesicht bekommen können: Thus, much of the online cognitive processes that went into the conceptual change [welche Denkmuster benutzt wurden; wie die Gruppe zusammenarbeitete] would have disappeared without a record if I had not taped the original meeting. (Dunbar 1997, S. 15, Hervorhebung U. F.) Der wissenschaftstheoretische Versuch zu verstehen, warum einige Theorien oder Erklärungen positiver bzw. fruchtbarer als ihre Konkurrenten eingeschätzt werden, verweist also sogar in zweierlei Hinsicht auf die Erfahrungswissenschaften: Erstens sind die Prozesse entscheidend, durch die diese Entscheidungen getroffen werden. Das heißt, man muss soziale Faktoren wie Gruppendynamik, Zielsetzungen des Laboratoriums usw. in Betracht ziehen – man muss also die abstrakte Ebene der Sätze, der „fertigen“ Theorien verlassen. Neben sozialen Faktoren ist das kognitive Verhalten der Forscher von herausragender Bedeutung (etwa: Wie werden Entscheidungen bewertet? Wie wird der Entscheidungsprozess beendet?). Zweitens wird klar, dass man die Methodik der Erfahrungswissenschaften (besonders der Kognitionswissenschaften) benötigt, um diese Prozesse zu analysieren. Erst dadurch erhält man fundierte Antworten auf Fragen etwa bezüglich Theoriewahl und Forschungsprozess. Das gilt nun für fast alle beschreibenden Fragen der Wissenschaftstheorie. Die Erfahrungswissenschaften sind aber nicht nur wegen ihrer Ergebnisse (etwa: Weshalb entscheiden sich Wissenschaftler für eine Hypothese?) wichtig, sie verweisen auch eindringlich auf die zentrale Bedeutung einer empirischen Datengrundlage. Auch dies gilt analog für die Wissenschaftstheorie, wenn sie denn zu einer „sicheren“ Wissenschaft werden will. Wenn man wissenschaftstheoretische Schlüsse ziehen will, benötigt man zunächst Daten. Deshalb ist der nach Kant abgewandelte Satz fundamental: Wissenschaftsphilosophie ohne Wissenschaftsgeschichte ist leer; Wissenschaftsgeschichte ohne Wissenschaftsphilosophie ist blind. (Lakatos 1978/1982, S. 108) Ohne Beispiele und Untersuchungen aus der Geschichte und experimentell erhobene Daten – beides empirische Daten, wenngleich erhebliche Unterschiede bestehen – bleibt eine solche Frage unbeantwortbar. Zieht man die Wissenschaftsgeschichte aber zu Rate, dann schließen sich recht schnell Fragen nach den Ursachen einiger Phänomene an. So etwa, wenn man Gemeinsamkeiten bei unabhängigen Entdeckungen feststellen kann. Auch diese Ursachenforschung verweist – wenn historische und fachliche Gemeinsamkeiten durch die Wahl der Fallbeispiele (etwa Physik des 20., Biologie des 19. und Medizin des 18. Jahrhunderts) – ausgeschlossen werden können, auf die empirische Forschung, was Sozialwissenschaften einschließt: Denn es bleiben nur Gemeinsamkeiten
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der Forscher (der Menschen) überhaupt als mögliche Ursachen übrig – worauf wiederum die Evolutionsbiologie (Was ist ihnen gemeinsam und warum?) und die Kognitionswissenschaften (Wie lösen Menschen Probleme?) antworten. Ein sozialwissenschaftlicher Erklärungsversuch, der auf kulturelle Gemeinsamkeiten verweist, erscheint zwar prinzipiell möglich, hat aber wohl Schwierigkeiten, die sehr spezifischen Befunde zu erklären. Deskriptive Wissenschaftstheorie muss also mindestens die Geschichtswissenschaften und die Anthropologie im weiteren Sinne bemühen, um vollständig zu sein. Aber es ist gerade das Fehlen einer empirisch orientierten Arbeitsweise in der Wissenschaftstheorie, die uns immer wieder zurückwirft. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden.
2.2. Einige bekanntere wissenschaftstheoretische (und falsche) Spekulationen Prinzipiell gibt es fünf Zugänge, um Wissenschaft zu studieren, genauer gesagt, um deskriptive Wissenschaftstheorie zu betreiben – also um zu verstehen, welche Faktoren an wissenschaftlichen Prozessen beteiligt sind (nach Klahr und Simon 1999): 1. Wissenschaftsgeschichtliche Studien (etwa Faradays Laborbücher) 2. Beobachtung aktueller Forschung (etwa in führenden molekularbiologischen Labors) 3. Nachstellung von Forschungssituationen in kontrollierten psychologischen Experimenten 4. Simulation von Entdeckungen durch Computerprogramme bzw. in Modellstudien (etwa durch Programme wie: BACON, KEKADA, DENDRAL, STAHL, GLAUBER, DALTON) 5. Wissenssoziologische Studien (Beachtung politischer und sozialer Kräfte bei wissenschaftlichen Entdeckungen) Klahr und Simon betonen zu Recht, dass keiner dieser Zugänge den Königsweg für sich beanspruchen kann. Nur Kombinationen sind in der Lage, die jeweiligen Stärken zu nutzen und die jeweiligen Schwächen auszugleichen. Ohne die Zugänge 1, 2, und 5 wäre Wissenschaftstheorie leer – denn ohne Datengrundlage gibt es keine beschreibende Wissenschaft. Die Punkte 3 und 4 zeigen, dass erfahrungswissenschaftliche Zugänge z. B. aus den Kognitionswissenschaften und der Informatik wertvolle Erkenntnisse liefern können: Denn wer hätte gedacht, dass Computerprogramme (z. B. BACON) mit einigen simplen Rechenregeln eine ganze Reihe von zentralen Gesetzen „entdecken“, wenn man ihnen die entsprechenden Daten zur Verfügung stellt? BACON findet selbsttätig durch Suche nach Konstanten unter anderem Boyles Gesetz, Keplers drittes Gesetz, das Ohm'sche Gesetz u. v. m. – nur durch versuchsweise Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division (siehe auch Schmidt / Lipson 2009 für aktuelle erstaunliche Ergebnisse). Ebenso bemerkenswert ist die neueste Generation von Robotern und künstlicher Intelligenz: Selbstständiges Generieren und Testen von Hypothesen ist z. B. in der Genetik inzwischen möglich geworden (King et al. 2009) – neue, vorher unbekannte Problemlösungen wurden gefunden.
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Wer hätte gedacht, dass fünf von acht Wissenschaftlern Plancks „Jahrhundertproblem“ in abstrakter Einkleidung in unter drei Minuten lösen? Wer hätte gedacht, dass Studenten – bei hinreichenden mathematischen Kenntnissen – Keplers Gesetz in etwa einer Stunde „finden“? Wer hätte gedacht, dass ein Student mit den Daten, die auch Balmer 1885 zur Verfügung standen, ohne Vorwissen nach sechs Wochen Teilzeitarbeit an diesem Problem ebenfalls die Formel für das Wasserstoffspektrum entdeckt (Klahr und Simon 1999)? Diese Stichpunkte können nur ansatzweise demonstrieren, wie fruchtbar ein an empirischer Forschung interessierter Ansatz sein kann. De facto dominiert in der deskriptiven Wissenschaftstheorie aber der unter Punkt 1 genannte alle anderen fast uneingeschränkt. Meist wird aus einem historischen Fallbeispiel ein Modell generiert, wie wissenschaftliche Entdeckungen, Theoriebildung, o. ä. allgemein funktionieren sollen. Nur all zu oft sind solche Verallgemeinerungen nicht zutreffend. Wie bei den interdisziplinären Religionswissenschaften und den oben genannten kognitionswissenschaftlich orientierten Untersuchungen von Dunbar wollen wir uns auch jetzt in Bezug auf empirisches Arbeiten nicht nur ansehen, wie positiv die Resultate ausfallen, wenn man dies tut, sondern auch wie negativ, wenn dies nicht der Fall ist. Am eindrucksvollsten geschieht dies, wenn man solche Negativbeispiele bei den einflussreichsten Wissenschaftstheoretikern der letzten fünfzig Jahre nachweisen kann, nämlich bei Thomas Kuhn und Imre Lakatos. Zwar belegen Kuhn und Lakatos ihre Hypothesen mit Fallstudien, und Kuhns Beispiele gelten mittlerweile sogar als Klassiker, dennoch ist eine Einordnung in das Lager empirisch arbeitender Wissenschaftstheoretiker nicht ganz ohne Probleme. Denn schon eine relativ kleine Sammlung von Fallstudien verschiedener Autoren belegt (was übrigens das Problem der zur Theorie passenden historischen Studien vermeidet), dass die überwiegende Mehrheit an Hypothesen von der wissenschaftlichen Wirklichkeit nicht bestätigt wird (diese Fallstudien findet man in Donovan et al. 1988). Im Folgenden einige Beispiele für zwar bekannte und vertretene, aber bereits klar widerlegte Hypothesen von Kuhn und Lakatos: x x x x
Der Erfolg von Theorien hängt von deren Vorhersagekraft ab, Probleme werden jahrelang „archiviert“, paradigmatische Annahmen werden nicht geändert oder berichtigt, neue Hintergrundannahmen tauchen nur auf, wenn die alten in die Kritik geraten sind, x verschiedene wissenschaftliche Lager können nicht miteinander kommunizieren, x erfolgreiche neue Theorien lösen alle Probleme der Vorgängertheorie und zusätzlich einige neue Probleme, x der Erfolg (die Annahme) einer neuen Theorie hängt von einigen wenigen Experimenten ab. Einige andere, ebenfalls zum wissenschaftstheoretischen „Standardrepertoire“ gehörende Hypothesen konnten dagegen durch die eben genannten empirischen, wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, die explizit diese Hypothesen überprüfen sollten, bestätigt werden. Dazu gehören unter anderem:
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x Die Annahme / der Erfolg einer Theorie hängt von den gelösten Problemen ab; genauer ob damit verbundene Theorien Probleme lösen können, ob diese Theorien auch Probleme außerhalb ihres Bereiches lösen können, ob einige empirische Probleme der Konkurrenztheorien gelöst werden, ob Probleme gelöst werden, die andere Theorien nicht lösen können, x die Theorie kann Probleme lösen, für die sie nicht entwickelt wurde, x die Theorie kann Gegenbeispiele in gelöste Probleme verwandeln (Donovan et al. 1988). Hier zeigt sich der Wert empirischer Untersuchungen ganz deutlich; eben die Kraft, zwischen „zutreffend“ und „unzutreffend“ bei spekulativen Hypothesen zu unterscheiden. Hinzu kommt noch ein dritter Bereich, nämlich die durch diese Fallstudien noch nicht entscheidbaren Hypothesen. Dazu gehört etwa, ob der Erfolg von Theorien von ihrer empirischen Genauigkeit abhängt.
2.3. Die missliche Lage der Wissenschaftstheorie Die nicht entscheidbaren Fälle weisen auf die etwas missliche Lage einer fehlenden empirischen Datengrundlage hin. Diese Grundlage ist die Wissenschaftsgeschichte, die ihrerseits empirische Daten hervorbringt. Zwar gibt es zahlreiche wissenschaftshistorische Einzeluntersuchungen, aber meines Wissens keine Systematik, wie sie in anderen Wissenschaften üblich ist. So wäre es trotz der Verschiedenartigkeit einzelner Fallbeispiele durchaus möglich, eine einheitliche, standardisierte Beschreibung einzuführen, nach der Fallbeispiele katalogisiert werden könnten. Resultat wäre eine sofortige Vergleichbarkeit der einzelnen wissenschaftshistorischen Studien nach übergeordneten Gesichtspunkten. Die politische Wissenschaft macht das etwa in einer Datenbank vor, die von Elinor Ostrom und Mitarbeitern in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut wurde (Ostrom 1994), in der Daten – egal, ob sie nun Bewässerung in Sri Lanka, Reisanbau in Thailand oder Naturschutz in Kenia betreffen – nach standardisierten Kriterien erfasst und kodifiziert werden. Aufgrund dieser Daten können dann theoretische Fragen der Politik (insbesondere Allmendeproblemen und Kooperationsfragen) bearbeitet werden. Das macht dann übrigens neben methodisch sauberen Vergleichen auch statistisches Arbeiten und Metaanalysen möglich – bislang undenkbar in der Wissenschaftstheorie. Damit ist nur die Problematik einer einheitlichen Datengrundlage und deren Analyse nach statistischen Gesichtspunkten angesprochen, nicht aber das Festschreiben von Forschungsmethodologien, was bekanntermaßen auch negativ sein kann (Feyerabend 1976; Mitroff 1974). So lässt sich denn auch das Fehlen einer empirischen Wissenschaftstheorie festhalten, also die systematische Verwendung von Methoden und Ergebnissen aus den Erfahrungswissenschaften. Einige Ausnahmen (Dunbar, Tweney, Nersessian, Wimsatt) bestätigen die Regel, denn auch hier beschränken sich die Ansätze auf einzelne fachwissenschaftlich inspirierte Ideen oder Konzepte. So ist Nersessian (Nersessian 2002) eher an
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der Rolle der Analogien bei wissenschaftlicher Modellbildung (im Sinne der „mental models“) interessiert, also an einem einzelnen kognitiven Mechanismus, nicht aber an einer kognitiven Grundlegung überhaupt. Am ehesten sind es noch Wimsatt (Wimsatt 1980, 1986) und Dunbar (Klahr et al. 1993; Dunbar 1997, 2002), die auf Grund von Befunden aus den Erfahrungswissenschaften Rückschlüsse auf wissenschaftliches Arbeiten ziehen. Wimsatt nimmt die Tatsache ernst, dass Menschen Probleme mittels Heuristiken lösen und versucht, Heuristiken in historischen Fallbeispielen nachzuweisen. Dunbar wiederum untersucht die kognitiven Grundlagen von Forschungsprozessen und integriert Erkenntnisse aus der Kinderpsychologie und den Kognitionswissenschaften. Tweney (Tweney et al. 1981) untersucht neben Denkfehlern (z. B. confirmation bias) bei Kindern und Wissenschaftlern vor allem Denkprozesse und Problemlösungsstrategien, die bei wissenschaftlichen Aufgaben verwendet werden, und wirft Psychologen und Wissenschaftstheoretikern gegenseitige Ignoranz vor: […] the cognitive activity that constitutes the heart of scientific activity. While some lip service has been paid to this goal, there has been no systematic effort to understand the reasoning processes of scientists […]. (Tweney et al. 1981, S. 2) Es fällt im Übrigen auf, dass zwei der vier genannten Autoren (Tweney, Dunbar) nicht aus der Philosophie, sondern aus dem empirisch orientierten Fach der Kognitionspsychologie stammen, während Wimsatt und Nersessian neben Philosophie eine Doppelqualifikation aus den Erfahrungswissenschaften besitzen.
2.4. Empirische Wissenschaftstheorie in der Praxis Wie sähe nun die praktische Durchführung eines solchen empirisch-interdisziplinären Ansatzes aus? Das wollen wir im Folgenden knapp skizzieren – anhand der Frage nach Gemeinsamkeiten bei den Entdeckungen von Vitaminmangelkrankheiten. Dieses Beispiel zeigt besonders gut, wie sich eine kognitive Gemeinsamkeit herauspräparieren lässt, obwohl es sich um historisch nicht zusammenhängende Muster handelt. Obwohl James Lind nicht nur als Entdecker der Mangeltheorie bei Skorbut gilt, sondern auch eines der ersten kontrollierten Experimente der Medizingeschichte durchführte (um 1750 auf englischen Schiffen), zeigt ein etwas genauerer Blick, dass Lind nicht von einem Mangel ausgeht, sondern von einem gestörten Gleichgewicht, hervorgerufen durch Klima und blockierte Hautatmung (Carpenter 1986). Bei einer weiteren Vitaminmangelkrankheit, Beriberi, die vor allem durch einseitige Reisernährung auftritt, ging man von Miasmatheorien, Vergiftung oder Infektion als Ursache aus. Beriberi verschärfte sich um 1900 in Asien dramatisch durch das Aufkommen dampfbetriebener Reispoliermühlen, die das thiaminreiche Silberhäutchen an Reiskörnern entfernten. Bei Pellagra, das im 18. Jahrhundert in Europa und im Süden der USA durch Mangel an Niacin auftrat, dachte man eher an verdorbenes Getreide (Mais) als an Infektionen; auch Vererbung schloss man als Ursache nicht aus.
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Erst unser heutiges Konzept rückt diese Krankheiten zusammen, denn die 1753 von Lind gemachte Entdeckung, dass Zitronen Skorbut auf Schiffen verhinderten, haben nichts mit Hühnerfütterungsexperimenten zu Beriberi auf Sumatra um 1900 oder einseitiger Maisernährung im Süden der USA um 1914 gemeinsam. Damals unterschied die Medizin Skorbut, Beriberi, und Pellagra sowohl nach Zeit und Ort als auch nach Einordnung, Ätiologie und Bekämpfung. Einige verblüffende Gemeinsamkeiten lassen sich bei diesen Mangelkrankheiten trotzdem feststellen (übrigens auch bei Rachitis): x Eine Mangeltheorie wird praktisch nie vertreten (selbst von den Entdeckern nicht!), x einwandfrei belegte Mangeltheorien, die jeweils erst sehr spät aufkommen (nach 1900), können sich nicht durchsetzen, x Konkurrenztheorien werden trotz gravierender Schwächen vorgezogen, x trotz bekannter Heilung werden die Zusammenhänge extrem spät aufgeklärt, x bekannte und verbreitete Heilungsmethoden geraten in Vergessenheit. Trotz dieser extrem knappen Skizze kann man festhalten: es scheint eine Art „Blockadehaltung“, „Widerstand“ oder „Widerwillen“ gegen Mangeltheorien gegeben zu haben, die mit historischen Ansätzen schwer zu erklären ist, da Mangelkrankheiten in der Medizingeschichte weder konzeptuell, noch geographisch, noch zeitlich in Verbindung stehen (für eine detaillierte Darstellung siehe Frey 2007). Eine Möglichkeit bietet sich an: Vielleicht spielt hier ein Faktor eine entscheidende Rolle, der allen Menschen gemeinsam ist? Und tatsächlich legt die Besonderheit dieser Fallstudie nahe, das Konzept „Mangel“ genauer zu untersuchen, und zwar in Form einer kognitionswissenschaftlichen Untersuchung des Kausalitätsdenkens. Hier lässt sich feststellen: Das menschliche Kausalitätsschema benötigt als Ursache ein Agens (Objekt, Person), das eine Wirkung auslöst. Greift diese Standardzuordnung wie in diesem Fall (Mangel) nicht, sind also die Auslösebedingungen nicht gegeben, dann erwarten wir Schwierigkeiten, wie sie sich in heftigem Widerstand und verzögerter Entwicklung dann auch tatsächlich in der Wissenschaftsgeschichte nachweisen lassen – und zwar bei allen Mangelkrankheiten und den Entdeckern selbst. Hieran soll vor allem eines klar werden: Manche Fragestellungen können nur mit Blick auf erfahrungswissenschaftliche Hintergründe (hier: kognitionspsychologische, experimentell unterfütterte Beschreibung des Kausaldenkens) beantwortet werden. Auch für Anschlussfragen, wie „Warum ist unser Kausaldenken so beschaffen?“, ist eine empirische Arbeitsweise unabdingbar, denn diese Frage führt in die Evolutionsbiologie. Für weitere, empirisch durchgeführte, wissenschaftstheoretische Analysen siehe Frey (2007).
3. Fazit: Keine progressive Wissenschaftstheorie Im Artikel wurde die Notwendigkeit für die Wissenschaftstheorie herausgestellt, sowohl interdisziplinär als auch empirisch zu arbeiten. Das wurde einerseits damit begründet, dass sich in der Praxis aktueller Wissenschaftsforschung entstehende allgemeine Frage-
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stellungen meist schnell in Spezialfragen auftrennen, die sinnvollerweise von den dafür entwickelten Fachgebieten gelöst werden. Darüber hinaus sind viele Teilaspekte wissenschaftlicher Forschung überhaupt nur über Erfahrungswissenschaften zugänglich – etwa Problemlösungsprozesse im Labor. Als Wissenschaftstheoretiker muss man also nicht nur die Ergebnisse kennen, sondern sich oftmals auch erfahrungswissenschaftlicher Methodik bedienen, um zum Ziel zu gelangen. Zusätzlich ist auch die Anwendung dieser Resultate empirisch abzudecken – nämlich durch wissenschaftshistorische Fallstudien. Nur so lassen sich Spekulationen und unzulässige Verallgemeinerungen vermeiden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wissenschaftstheorie im konventionellen Sinne nicht als „progressive“ Wissenschaft im Sinne von Imre Lakatos bezeichnet werden kann. Das kann man auch an einem anderen Punkt festmachen. Denn obwohl sowohl Wissenschaftstheoretiker als auch die meisten Wissenschaftler darin übereinstimmen, dass die theoretische Reflexion über Wissenschaft bedeutsam und notwendig ist, ist das Ansehen der Wissenschaftstheorie bei letzteren erstaunlich gering. Ein Grund ist sicherlich, dass Erfahrungswissenschaftler in ihren Nützlichkeitserwartungen enttäuscht werden. Denn Erfahrungswissenschaftler erhoffen sich kritische Reflexion, Anregungen, Aufklärung über den Wissenschaftsprozess als solchen und Angabe von Kriterien für gute Wissenschaft. Die meisten der hier genannten Hoffnungen werden Wissenschaftstheoretiker aber mit dem Hinweis ablehnen, dies sei nicht Aufgabe der Wissenschaftstheorie. Die anderen werden in der Regel nicht so beantwortet, dass Wissenschaftler damit etwas anfangen können. Wissenschaftstheorie ist ja schließlich keine „Wissenschaftsberatung“. Das ist sie in der Tat nicht, aber sie kann es – selbst wenn sie es wollte – zur Zeit noch gar nicht sein. Den Grund dafür hat Giere (Giere 1985) genannt: The main thesis is that the study of science must itself be a science. The only viable philosophy of science is a naturalized philosophy of science. (Giere 1985, S. 355) Um unter anderem die Forderung nach solcher Nützlichkeit zu erfüllen, wie sie ihre Untersuchungsobjekte stellen, muss sie zur Wissenschaft werden. Um die Forderungen zu erfüllen, die die Wissenschaftstheorie an sich selbst stellt, muss sie ebenfalls zur Wissenschaft werden. Und dieses Ziel kann sie nur erreichen, wenn sie sich konsequent empirisch und interdisziplinär ausrichtet. Ein minimaler Forderungskatalog an moderne deskriptive Wissenschaftstheorie beinhaltete demnach: x x x x x x
Verwendung der Methodiken aus den Erfahrungswissenschaften Verwendung von Ergebnissen aus den Erfahrungswissenschaften Verwendung von empirischen Daten (Fallstudien) zur Hypothesenüberprüfung Systematisierung und Standardisierung von Fallstudien Anwendung statistischer Analysen und Metaanalysen Genuin interdisziplinärer Zugang zu ihren Problemstellungen
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Nur so könnten die Einzeldisziplinen der Wissenschaftstheorie von „degenerierenden“ zu „progressiven“ Forschungsprogrammen werden.
Literatur Carpenter, K. J. (1986): The History of Scurvy and Vitamin C. Cambridge: Cambridge University Press. Carruthers, P. / Stich, S. / Siegal, M. (2002) (Hg.): The cognitive basis of science. Cambridge: Cambridge University Press. Donovan, A. / Laudan, L. / Laudan, R. (1988): Scrutinizing Science: Empirical Studies of Scientific Change. Baltimore: John Hopkins University Press. Dunbar, K. (1997): „How scientists think: On-line creativity and conceptual change in science“. In: Ward, T. B. / Smith, S. M. / Vaid, S. (Hg.): Conceptual structures and processes: Emergence, discovery and Change. Washington: APA Press, S. 461–493. Dunbar, K. (2002): „Understanding the role of cognition in science: the Science as Category framework“. In: Carruthers, P. / Stich, S. / Siegal, M. (Hg.): The cognitive basis of science. Cambridge: Cambridge University Press, S. 154–170. Feyerabend, P. K. (1976): Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Frey, U. (2007): Der blinde Fleck – Kognitive Fehler in der Wissenschaft und ihre evolutionsbiologischen Grundlagen. Heusenstamm: Ontos. Giere, R. N. (1985): „Philosophy of Science Naturalized“. In: Philosophy of Science 52 (3), 331–356. King, R. D. / Rowland, J. / Oliver, S. G. / Young, M. / Aubrey, W. / Byrne, E. / Liakata, M. / Markham, M. / Pir, P. / Soldatova, L. N. / Sparkes, A. / Whelan, K. E. / Clare, A. (2009): „The Automation of Science“. In: Science 324, 85–89. Klahr, D. / Fay, A. L. / Dunbar, K. (1993): „Heuristics for Scientific Experimentation: A Developmental Study“. In: Cognitive Psychology 25 (1), 111–146. Lakatos, I. (1978/1982): „Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme“. In: Worrall, J. / Currie, G. (Hg.): Philosophische Schriften, Band 1. Braunschweig: Vieweg. Mitroff, I. I. (1974): The subjective side of science: A Philosophical Inquiry into the Psychology of the Apollo Moon Scientists. Amsterdam: Elsevier. Nersessian, N. (2002): „The cognitive basis of model-based reasoning in science“. In: Carruthers, P. / Stich, S. / Siegal, M. (Hg.): The cognitive basis of science. Cambridge: Cambridge University Press, S. 133–47. Ostrom, E. / Gardner, R. / Walker, J. (1994): Rules, Games, and Common-Pool Resources. Ann Arbour: University of Michigan Press. Schmidt, M. / Lipson, H. (2009): „Distilling Free-Form Natural Laws from Experimental Data“. In: Science 324, 81–85. Tweney, R. D. / Doherty, M. E. / Mynatt, C. R. (1981): On Scientific Thinking. New York: Columbia University Press.
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HILARY KORNBLITH
Erkenntnistheorie und Kognitive Ethologie* Die klassische Erkenntnistheorie hat kein Interesse an den Ergebnissen empirischer Kognitionswissenschaften. Während naturwissenschaftliche Untersuchungen uns darüber Aufschluss geben können, wie Informationsverarbeitung geschieht, ist die philosophische Erkenntnistheorie, zumindest wie sie traditionell betrieben wird, schlichtweg nicht daran interessiert, die Dinge auf derart detaillierter Ebene zu betrachten. In Platons Theaitetos zum Beispiel fragt Sokrates, was Wissen sei, und Theaitetos antwortet, sie sei „die Geometrie und all die anderen Wissenschaften, die du eben nanntest, und dann gibt es die Fertigkeiten der Schuster und der anderen Werkleute. All dies ist Wissen und nichts anderes“. Sokrates hat darauf eine kurze Antwort: „Du bist wahrlich großzügig, mein werter Theaitetos – so freigiebig, dass du, wenn man dich nach einem einzigen einfachen Ding fragt, eine ganze Vielheit von Dingen anbietest“ (Plato 1961, 146d). Sokrates zufolge suchen wir als Philosophen nach einer allgemeinen Erklärung dafür, was alle diese Dinge zu Wissen macht; wir wollen die Natur des Wissens ergründen. Theaitetos sagt nichts zu der Frage, was Wissen ist; stattdessen gibt er uns eine bloße Aufstellung einiger Beispiele für Wissen, ohne eine allgemeine Erklärung dafür, was all diese Beispiele zu Fällen von Wissen macht. Dieses Problem mit Theaitetos’ Antwort auf Sokrates’ Frage besteht – zumindest nach traditioneller philosophischer Auffassung – ebenso bei Versuchen, naturwissenschaftliche Kognitionsstudien auf erkenntnistheoretische Fragen zu beziehen. Der Philosoph sucht eine Erklärung der Natur der Erkenntnis selbst, aber alles, was uns naturwissenschaftliche Untersuchungen liefern können, ist eine Liste unterschiedlicher Prozesse, die faktisch involviert sind, wenn Menschen mit der Welt interagieren. In diesem Kontext stellen sich mindestens zwei Probleme. Das erste hat mit dem Abstraktionsgrad zu tun, der der jeweiligen Art von Untersuchung angemessen ist. Ebenso wie die Antwort des Theaitetos viel konkreter ist als das, was Sokrates sucht, bescheren uns naturwissenschaftlichen Kognitionsstudien einen Detailreichtum, der für philosophische Untersuchungen schlicht irrelevant ist. Neurowissenschaftler interessieren sich zum Beispiel für die physikalischen Mechanismen, mit deren Hilfe Kognition funktioniert, die philosophische Untersuchung von Wissen bzw. Erkenntnis hat mit den Details dieser Mechanismen jedoch gar nichts zu tun. Wenn man die Frage stellt, was Wissen an sich ist, spielt es wirklich keine Rolle, wie die chemische Umgebung beschaffen ist, die es elektrischen Signalen erlaubt, zwischen neuronalen Synapsen übertragen zu werden. Naturwissenschaftler sind so gesehen daran interessiert, einzelne Bäume zu verstehen, während Philosophen dagegen daran interessiert sind, den Wald als Ganzen zu begreifen. *
Dem Publikum in Guadalajara bin ich für wertvolle Hinweise zu Dank verpflichtet.
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Diese Analogie sollte indes klar machen, dass das Problem des Abstraktionsgrades nicht der einzige Grund sein kann, jeglichen naturwissenschaftlichen Beitrag zu philosophischen Untersuchungen zurückzuweisen. Im Falle von Wäldern und Bäumen können wir schließlich alle zugestehen, dass man im Zuge des Studiums einzelner Bäume den Blick auf den Wald verlieren darf. Das heißt aber nicht, dass man nichts über Bäume zu wissen braucht, wenn man den Wald verstehen möchte. Auch wenn naturwissenschaftliche Kognitionsstudien sicherlich auf einem ganz anderen Abstraktionsniveau stattfinden als philosophische Untersuchungen, so könnte es doch nützlich sein, die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungen kognitiver Prozesse zu betrachten, um zu sehen, was sie gemeinsam haben. Auch wenn wir also zugestehen, und das sollten wir tun, dass die Erkenntnistheorie Fragen über Kognition auf einem höheren Abstraktionsniveau behandelt als die naturwissenschaftliche Kognitionsforschung, macht dies alleine naturwissenschaftliche Erkenntnisse sicherlich nicht für philosophische Untersuchung irrelevant. Es gibt allerdings noch ein zweites Problem. Die kognitionswissenschaftliche Forschung arbeitet, so wird häufig behauptet, rein deskriptiv, während die philosophische Erkenntnistheorie auch normative Fragen mit einbezieht. Wenn Kognitionsforscher die vielfältigen Prozesse untersuchen, durch die Überzeugungen gebildet werden, stellt sich für sie nicht die Frage, ob diese Prozesse als gut, schlecht oder neutral anzusehen sind. Die Kognitionsforschung bleibt als naturwissenschaftliche Disziplin gleichgültig gegenüber Wertfragen. Die Erkenntnistheorie dagegen befasst sich gerade mit derartigen Fragen. Sie versucht nicht, die Prozesse zu beschreiben, durch die wir zu unseren Überzeugungen gelangen; sie sucht vielmehr nach einer Antwort auf die Frage, wie wir zu unseren Überzeugungen gelangen sollten. Aus diesem Grund wurde traditionell angenommen, naturwissenschaftliche Kognitionsstudien seien schlichtweg irrelevant für erkenntnistheoretische Belange. Auch hier ist allerdings die Behauptung der Irrelevanz weitaus stärker als es die vorgestellten Überlegungen erlauben. Selbst wenn die Kognitionswissenschaft in normativen Angelegenheiten neutral bliebe und selbst wenn sich die Erkenntnistheorie einzig und allein um normative Belange kümmerte, wäre dies noch weit entfernt von dem Nachweis, dass die Entdeckungen der Kognitionswissenschaft keinen Einfluss auf die normativen Fragen haben, denen sich die Erkenntnistheorie widmet. Sollten naturwissenschaftliche Untersuchungen aufdecken, dass bestimmte Prozesse der Überzeugungsbildung, die von Erkenntnistheoretikern als zentral angesehen werden, eine bemerkenswerte Tendenz besitzen, irrtümliche Überzeugungen hervorzubringen, könnten die Erkenntnistheoretiker solche Ergebnisse nicht einfach übergehen und sie bei der Bewertung eben dieser Prozesse außer Acht lassen. Gute normative Bewertung ist nicht blind gegenüber relevanten Fakten. Ich werde hier meine Ansicht verteidigen, dass die Kognitionswissenschaft der Philosophie viel zu bieten hat und dass wir nur dann in der Erkenntnistheorie Fortschritte machen, wenn wir zulassen, dass naturwissenschaftliche Kognitionsstudien Einfluss auf ihre Theoriebildung haben können. Insbesondere werde ich die Auffassung vertreten, dass wir durch die kognitive Verhaltensforschung eine Menge über die Natur der Er-
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kenntnisgewinnung lernen und Fortschritte in Richtung einer umfassenden Erklärung von Wissen erzielen können, wie Sokrates sie suchte. Von allen in Frage kommenden Gebieten der Kognitionswissenschaft mag die kognitive Verhaltensforschung als eines erscheinen, das bezüglich erkenntnistheoretischer Einsichten am wenigsten aussichtsreich ist. Philosophen haben sich oft speziell der Natur menschlicher Erkenntnis verschrieben. Und auch diejenigen Philosophen, die ihren Untersuchungsgegenstand nicht so klar eingrenzen, haben sich häufig auf Aspekte von Erkenntnis konzentriert, die vermutlich exklusiv menschlich sind. Gerade die Aspekte von Erkenntnis, die erkenntnistheoretisches Interesse erregen, so meinen viele, sind solche, die wir nicht mit anderen Lebewesen teilen. Deshalb erscheint die naturwissenschaftliche Untersuchung nicht-menschlicher Kognition vielen als doppelt irrelevant für philosophische Belange. Ich weiß um diese Punkte und gebe zu, dass selbst unter denjenigen Philosophen, die naturwissenschaftliche Kognitionsstudien als relevant für erkenntnistheoretische Fragen ansehen, die Bedeutung kognitiver Verhaltensforschung bislang alles andere als klar ist. Ich werde jedoch argumentieren, dass der traditionelle Schwerpunkt, den Philosophen auf die menschliche Erkenntnis gelegt haben, die Erkenntnistheoretiker dazu gebracht hat, exklusiv menschliche Aspekte von Wissen fälschlicherweise als essenzielle Merkmale von Wissen im Allgemeinen anzusehen. Es mag noch mehr überraschen, wenn ich argumentiere, dass Art und Weise, wie Erkenntnistheoretiker traditionellerweise die Natur des Wissens untersucht haben, nicht nur zu einem fehlerhaften Verständnis von Wissen im Allgemeinen, sondern auch speziell von menschlichem Wissen geführt hat. Das Einbeziehen der kognitiven Verhaltensforschung, so lautet zumindest meine Behauptung, dient daher als nützliches Korrektiv für die traditionellen Auffassung von menschlichem Wissen.
I Die Philosophen der analytischen Tradition nutzen eine Standardmethode, um sich Fragen der Art zu nähern, wie sie Sokrates bezüglich des Wissens gestellt hat. 1 Wenn wir einen Erklärungsansatz dafür entwickeln möchten, was Wissen ist, müssen sich notwendige und hinreichende Bedingungen dafür angeben lassen, was etwas zu einem Fall von Wissen macht. Wenn jemand einen solchen Vorschlag macht, lässt sich dieser testen, indem wir eine Vielzahl hypothetischer Fälle durchspielen. Wenn man einen hypothetischen Fall konstruiert, wird das Nachdenken darüber zumeist zu einer Intuition bezüglich der Frage führen, ob der geschilderte Fall einen Fall von Erkenntnis darstellt oder nicht. So beschrieb bekanntermaßen beispielsweise Edmund Gettier 1963 einen Fall, in dem eine Person zu einer gerechtfertigten, wahren Überzeugung gelangt, bei der 1
Hier wie auch bereits im vorhergehenden Abschnitt kann man bei der Übersetzung von „knowledge“ als „Wissen“ bzw. „Erkenntnis“ von der Sache her nicht immer klar unterscheiden. Wann eine Erkenntnis Wissen ist bzw. den Wissensstatus zu Recht beansprucht, ist Gegenstand lebhafter Debatten in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie (Anm. des Übersetzers).
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jedoch beinahe jeder die starke Intuition hat, dass es sich dabei nicht um Wissen handelt (Gettier 1963). Diejenigen, die Wissen als gerechtfertigte, wahre Überzeugung definiert hatten, sahen dies als Widerlegung ihrer Definition; das Beispiel zeigte, dass es noch mehr bedarf, um eine Überzeugung zu Recht als einen Fall von Wissen anzusehen. George Bealer hat diese Methode – das Testen vorgeschlagener Analysen gegen unsere Intuitionen in hypothetischen Fällen – als die Standardmethode der Philosophie bezeichnet (Bealer 1993). Ich denke, dass er damit Recht hat, was auch immer man davon halten mag. Ein Großteil der analytischen Philosophie stützt sich auf genau diese Methode. Es ist deshalb nötig, zunächst etwas darüber zu sagen, was diese Methode erreichen und auf welchem Weg dies geschehen soll. Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge ist die Methode der Berufung auf Intuiti2 onen legitim, da die eigentliche Aufgabe der Philosophie in der Analyse von Begriffen besteht. Ziel der Philosophie ist es demnach, unsere Begriffe zu verstehen. Durch die Untersuchung unserer intuitiven Reaktion auf hypothetische Fälle gewinnen wir ein Verständnis der Begriffe, die wir implizit verwenden, wenn wir über die Welt nachdenken. Der Erkenntnistheoretiker ist nach diesem Verständnis an unserem Begriff der Erkenntnis (bzw. des Wissens) interessiert, der Ethiker an unseren Begriffen vom Guten und vom (moralisch) Richtigen; wer sich mit der Philosophie des Geistes befasst, ist an unserem Begriff des Geistes interessiert, und so weiter. Nach Meinung der meisten Philosophen, die diese Methode verteidigen, ist die Philosophie eine LehnstuhlDisziplin: Anders als im Fall der Naturwissenschaften erfordert es die Untersuchung unserer Begriffe nicht, dass wir die Welt betrachten, da diese nicht der Gegenstand unserer Untersuchung ist; es sind unsere eigenen Begriffe, die wir zu verstehen versuchen, und dies erfordert nicht mehr als die Analyse unserer Intuitionen. Alvin Goldman (1992; ders. 2005; ders. 2007) hat kürzlich eine interessante Variante dieser Idee vorgebracht. Zwar stimmt er der Auffassung zu, dass die Untersuchung unserer Begriffe ein zentrales Ziel der Philosophie ist, sieht dies jedoch nicht als eine Lehnstuhl-Unternehmung an. Während Goldman glaubt, dass unsere intuitiven Reaktionen auf hypothetische Fälle uns einige echte Einsichten in die Natur unserer Begriffe liefern, glaubt er im Gegensatz zu traditionelleren Philosophen nicht, dass diese Intuitionen die einzigen für Philosophen relevanten Daten sind. Vielmehr glaubt er, dass unsere Intuitionen weitestgehend von den Eigenschaften unserer Begriffe verursacht werden: Aus diesem Grund bieten sie einen guten ersten Ausgangspunkt für eine Begriffsanalyse. Er glaubt allerdings, dass es noch andere Faktoren gibt, die eine Rolle bei der Produktion intuitiver Reaktionen auf hypothetische Fälle spielen könnten, deren komplexe kausale Interaktionen zu entschlüsseln Aufgabe der Kognitionswissenschaft sei. Goldman zufolge ist Begriffsanalyse ein Teil der experimentellen Untersuchung menschlicher Kognition. Goldman ist optimistisch, dass die Ergebnisse dieser experimentellen Untersuchungen weitgehend die Ergebnisse der Lehnstuhl-Analysen bestätigen werden; wenn auch einige Korrekturen der Lehnstuhl-Ergebnisse unvermeidlich sind, so glaubt er doch, dass die Begriffsanalysen, zu denen die Philosophen vom Lehnstuhl aus ge2
Das englische ‚concept(s)’ wird durchgehend mit ‚Begriff(e)’ übersetzt (Anm. d. Übersetzers).
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langt sind, wahrscheinlich eine ziemlich genaue Beschreibung der realen Eigenschaften unserer Begriffe liefern. Goldman und traditionellere Theoretiker stimmen demnach darin überein, dass die Gegenstände philosophischer Analyse menschliche Begriffe sind; sie sind sich jedoch uneinig darüber, wie man am besten zu einem Verständnis dieser Begriffe gelangt. Nun hat Goldman sicherlich damit Recht, dass wir uns, wenn wir ein Verständnis menschlicher Begriffe erlangen möchten, nicht alleine mit den Lehnstuhl-Untersuchungen zufrieden geben können, auf die sich Philosophen traditionell verlassen haben. Denn wenn wir die Idee ernst nehmen, dass Philosophen versuchen, unsere Begriffe zu verstehen, erscheinen die Methoden, die sie traditionell verwendet haben, tatsächlich denkbar schlecht für diese Aufgabe geeignet. Die meisten Philosophen unternehmen zum Beispiel kaum mehr, als ihre eigenen Intuitionen zu befragen, und stellen keine ernsthaften systematischen Versuche an, die Intuitionen anderer mit einzubeziehen. Frank Jacksons Kommentare zu diesem Aspekt sind aufschlussreich: Ich werde manchmal gefragt – in einem Ton, der andeutet, dass die Frage einen bedeutenden Einspruch indiziert –, weshalb ich, wenn sich die Begriffsanalyse doch darum bemüht, unsere klassifikatorische Praxis zu erhellen, nicht dafür eintrete, Meinungsumfragen zur Reaktion der Menschen auf verschiedene Fälle durchzuführen. Meine Antwort ist, dass ich das tue – wenn es nötig ist. Jeder, der Gettiers Fälle einer Gruppe von Studierenden vorstellt, betreibt damit ein Stückchen Feldforschung, und wir alle kennen die Antwort, die man in der großen Mehrheit der Fälle bekommt. (Jackson 1998, S. 36f.) Aber die Art, in der Philosophen ihren Studierenden hypothetische Fälle präsentieren, ist schlicht eine Verhöhnung guten experimentellen Vorgehens. Reaktionen werden typischerweise durch Handzeichen ermittelt, wodurch die Möglichkeit unterminiert wird, unabhängige Beiträge von den verschiedenen Teilnehmern zu erhalten. Es gibt typischerweise eine ausführliche Vorbereitung, bei der andere Fälle präsentiert werden, die Wichtigkeit verwandter Begriffe betont wird, und der Zielbegriff zumindest vorläufig, von eng verwandten Begriffen unterschieden wird. Dieses Vorgehen ignoriert natürlich schlicht den Einfluss von „Priming“ und Reihenfolgeeffekten („Order effects“) ganz. Zudem werden die Ergebnisse normalerweise nicht aufgezeichnet oder quantifiziert und keiner statistischen Analyse unterzogen. Wenn Philosophen, wie Jackson meint, ernsthaft versuchen, zu den Begriffen zu gelangen, die die meisten Menschen von Erkenntnis, Geist und so weiter haben, dann leisten sie dabei extrem schlechte Arbeit. Sie versuchen tatsächlich, sich an psychologischer Forschung zu beteiligen, ohne über irgendeine verantwortbare Methodologie zu verfügen. Der Vorschlag, die philosophische Standardmethode könne gewissenhaft kontrollierte Experimente ersetzen, macht aus der Philosophie eine schlecht betriebene Sozialwissenschaft. Goldmans Ansatz nimmt diese Art von Kritik ernst, denn er versteht die philosophische Untersuchung unserer Begriffe als durchgehend mit der experimentellen Forschung in den Kognitionswissenschaften verbunden. Letztendlich, so glaubt Goldman,
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muss jede vorgebrachte Begriffsanalyse den empirischen Tests und Standards standhalten, die in dieser experimentellen Forschung routinemäßig angewendet werden. In der Tat geht Goldman eine empirische Wette ein: Aus seiner Sicht sind die Eigenschaften, die untersucht werden, wenn wir Begriffsanalyse betreiben, so robust, dass sogar die grobschlächtigen experimentellen Methoden der Philosophen – nämlich die Befragung unserer Intuitionen zu hypothetischen Fällen – ausreichen, um ein einigermaßen akkurates Bild der Phänomene zu erhalten. Wenn diese Wette Erfolg hat, so Goldman, kann so die Integrität der traditionellen philosophischen Vorgehensweise gewahrt werden, auch wenn diese einiger Feinabstimmung bedarf. Goldmans Ansatz stellt meiner Meinung nach eine wesentliche Verbesserung der Überzeugung dar, die philosophische Methode benötige keinerlei Hilfe aus der Kognitionswissenschaft. Gleichzeitig denke ich allerdings auch, dass dieser Ansatz unhaltbar ist. Wenn der Gegenstand philosophischer Analyse – wie Goldman es sieht – unsere Begriffe sind, und wenn die endgültige Entscheidungsinstanz bezüglich der Beschaffenheit unserer Begriffe, wie Goldman anerkennt, in den sorgsam kontrollierten experimentellen Forschungsergebnisse der Kognitionswissenschaften besteht, dann ist es äußerst unwahrscheinlich, dass etwas so Vages wie die traditionelle philosophische Analyse als geeignet angesehen werden wird. Zum ersten sind da die eben aufgeworfenen methodologischen Bedenken. Die traditionelle philosophische Methode des Befragens der eigenen Intuitionen ist ein extrem stumpfes Instrument. Sie bezieht keine großen Fallzahlen mit ein; tatsächlich zieht sie typischerweise nur die Intuitionen einer einzigen Testperson heran. Sie ignoriert Reihenfolgeeffekte und die Priming-Problematik. Sie ignoriert die Tatsache, dass die einzige Testperson – der Philosoph oder die Philosophin selbst – typischerweise Ansichten darüber hat, was eine korrekte Begriffsanalyse ist, und dass diese Ansichten wahrscheinlich einen beachtlichen Einfluss auf die Intuitionen haben, die diese Testperson 3 hinsichtlich der hypothetischen Fällen hat. Goldmans empirische Wette, dass die untersuchten Phänomene so robust sind, dass solche Probleme in der Praxis nur wenig Einfluss auf sie haben werden, sieht, schon bevor wir überhaupt mit irgendwelchen empirischen Studien begonnen haben, nach einer sehr schlechten Wette aus. Zum zweiten werden diese Bedenken bestätigt, sobald wir die experimentelle Arbeit in diesem Bereich betrachten. Die Beschaffenheit unserer Begriffe zu bestimmen, hat sich als ein kniffliges Unterfangen herausgestellt, das nach sorgfältiger experimenteller Arbeit und der Beachtung feiner Details verlangt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass 3
Philosophen sprechen oft von der Wichtigkeit „ungeleiteter Intuitionen“, gerade weil sie das hier angesprochene Problem sehen. Aber auch wenn die allgemeine Rede von „ungeleiteten Intuitionen“ sicherlich von einem gewissen Problembewusstsein zeugt, wird dieses in keiner Weise auf die Praxis übertragen. In dem Standardbegründungsverfahren, auf das Bealer sich bezieht, konsultieren Philosophen ihre eigenen Intuitionen. Jemand, der das hier diskutierte Problem ernst nähme, würde Philosophen jedoch als die schlechtesten aller möglichen Testpersonen ansehen, gerade weil ihre Intuitionen höchstwahrscheinlich durch ihre theoretische Position beeinflusst sind. Nähmen Philosophen diese Sorge ernst, so würden sie die Intuitionen von Personen befragen, die nie philosophischem Denken ausgesetzt waren, anstatt ihre eigenen intuitiven Reaktionen auf Fallbeispiele zu untersuchen.
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Philosophen, die sich nur auf ihre Intuitionen stützen, ein auch nur in groben Zügen zutreffendes Konzept der Natur unserer Begriffe hervorbringen. Aber schließlich, und das ist das Entscheidende, gibt es eine kanonische Standardform, in der philosophische Analysen durchgeführt werden – einen Satz notwendiger 4 und hinreichender Bedingungen einer bestimmten Art – und diese Form beinhaltet substanzielle Annahmen darüber, wie Begriffe gebildet werden. Die Art von Analysen, die diese Philosophen anbieten – und den Kern der Arbeit Goldmans bilden – werden von Psychologen als „die klassische Sichtweise“ bezeichnet. Der Begriff des Wissens zum Beispiel könnte wie folgt charakterisiert werden: S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p (2) S hat Gründe, zu glauben, dass p (3) p ist wahr Eine vierte Bedingung, so hoffen viele Philosophen, wird später noch hinzugefügt werden. In ähnlicher Weise würde eine Analyse des Begriffs des Vogel-Seins in etwa so aussehen: B ist ein Vogel, gdw. (1) B hat Flügel (2) B hat Federn (3) B hat einen Schnabel Oder sie würde einen vergleichbaren Satz von Bedingungen anführen, von denen jede jeweils notwendig für die Kategorienzugehörigkeit ist, und die alle zusammen als hinreichend dafür erachtet werden. Das ist eine reizvolle und sehr alte Idee, die allerdings durch und durch unterminiert wurde. Gregory Murphy (2002, S. 38) schreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch dazu: „Zu einem beachtlichen Grad hat sie einfach aufge5 hört, ein ernsthafter Kandidat in der Psychologie der Begriffe zu sein.“ Die gegenwärtige Forschung in diesem Bereich untersucht eine Reihe anderer Formen, durch die Begriffe repräsentiert sein könnten, aber die klassische Sichtweise, die von der philosophischen Standardanalyse vorausgesetzt wird, ist nicht mehr dabei. Wenn wir also die Idee ernst nehmen, dass Philosophen versuchen, unsere Begriffe zu analysieren, dann müssen wir, wie es Goldman anmahnt, die empirischen Ergebnisse der Psychologen zu eben diesem Thema ernst nehmen. Wenn wir das jedoch tun, stehen die besten verfügbaren Theorien in diesem Bereich völlig im Widerspruch zu der Art von Analysen, die die Philosophen angeboten haben, und sind, anders als Goldman es vermutet, weit davon entfernt, die Art von Resultaten zu unterstützen, zu denen die Philosophen gelangt sind (vgl. auch Stich 1998, S. 108).
4 Diese Charakterisierung ist wichtig, da genau genommen jede Darstellung von Begriffen eine Darstellung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Gattungszugehörigkeit bietet. Die klassische Position geht davon aus, diese notwendigen und hinreichenden Bedingungen hätten eine bestimmte Form, und es ist diese Form, die von der traditionellen philosophischen Analyse vorausgesetzt wird. 5 Tatsächlich wird die klassische Ansicht seit den 1970er Jahren weithin als brauchbarer Ansatz angesehen. Vgl. die Diskussion in Smith / Medin 1981.
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Was ist hier schief gelaufen? Ich habe darauf hingewiesen, dass das Problem nicht darin besteht, dass Goldman der empirischen Arbeit in den Kognitionswissenschaften Rechnung tragen möchte. Goldman hat ganz klar Recht, wenn er diejenigen Philosophen kritisiert, die das philosophische Unternehmen als eines der Begriffsanalyse begreifen, sich aber dennoch weigern, das wohletablierte empirische Forschungsprogramm zu berücksichtigen, das darauf ausgelegt ist, die Natur unserer Begriffe zu erhellen. Genau das Thema, an dem diese Philosophen vorgeblich ein echtes Interesse haben, ist bereits seit Jahrzehnten Gegenstand ausführlicher experimenteller Forschung und es genügt einfach nicht, schlicht seine Augen vor den Ergebnissen dieser Nachforschungen zu verschließen. Was ich hier betonen möchte ist, dass Goldman und seine aprioristischen Gegner beide falsch damit liegen, unsere Begriffe als die Ziele philosophischer Analysen anzusehen. Erkenntnistheoretiker sind, so glaube ich, nicht an unserem Begriff der Erkenntnis bzw. des Wissens interessiert; es ist die Erkenntnis bzw. Wissen selbst, was sie interessiert. In der Philosophie des Geistes geht es nicht um unseren Begriff des Geistes; vielmehr versuchen die Philosophen auf diesem Gebiet, den Geist selbst zu verstehen. Wir verkennen die Natur und Integrität des philosophischen Unternehmens, wenn wir es als auf die Eigenschaften unserer Begriffe gerichtet ansehen, statt auf die Phänomene, von denen unsere Begriffe Begriffe sind (vgl. Kornblith 2002; ders. 2006b). Betrachten Sie den Fall einer natürlichen Art [‚natural kind‘], zum Beispiel Gold. Die Begriffe, die viele Menschen von Gold besitzen, könnten auf zwei wesentlich unterschiedliche Weisen inadäquat sein. Ihre Begriffe könnten unvollständig sein, indem sie gewisse wesentliche Eigenschaften von Gold außer Acht lassen; und ihre Begriffe könnten fehlerhaft sein, indem sie gewisse Eigenschaften beinhalten, die Gold in Wirklichkeit gar nicht hat. Befasst man sich mit natürlichen Arten wie Gold, so wissen viele, tatsächlich wohl die meisten Menschen nicht um seine wesentlichen Eigenschaften; und viele haben gewisse falsche Vorstellungen davon, was dieses Material wirklich ist. In der Frühphase wissenschaftlicher Untersuchungen gibt es wahrscheinlich niemanden, der über einen Begriff des Gegenstandes dieser Untersuchungen verfügt, der sowohl angemessen als auch vollständig ist. Stattdessen gibt es gewisse Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands, die uns auf ihn aufmerksam werden lassen – im Fall von Gold etwa seine charakteristische Farbe und sein Gewicht –, und die Forscher sind in der Lage, wenigstens einige Proben des Materials zu erkennen, um es weiterer Untersuchung zugänglich zu machen. Diese anfänglichen Erkennungsfähigkeiten sind weit von Perfektion entfernt. Die zunächst als Gold ausgewählten Proben enthalten wahrscheinlich einige Proben, die gar kein Gold sind, und einige Proben des Materials werden wahrscheinlich fälschlicherweise übergangen. Es wird daher vermutlich sowohl FalschPositive als auch Falsch-Negative geben, wenn am Anfang Proben für weitere Untersuchungen gesammelt werden. Aber die anfängliche Erkennungsfähigkeit, obwohl unvollkommen, muss zumindest grob auf den Untersuchungsgegenstand abzielen. Will man die Forscher zutreffend als auf der Suche nach einem angemessenen Verständnis von Gold befindlich beschreiben können, müssen sie am Anfang zumindest die Fähigkeit besitzen, es irgendwie erkennen zu können.
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Sobald die Proben gesammelt sind, kann daran gearbeitet werden, herauszufinden, was diesen wirklich gemein ist. Im Zuge dieser Untersuchung werden sich einige der Proben als Falsch-Positive herausstellen: Sie waren in Wirklichkeit nicht von derselben Art wie die meisten anderen. Weiterhin werden sich, sobald ein besseres Verständnis dessen erlangt wird, was diese Proben tatsächlich gemeinsam haben, einige der augenfälligsten Eigenschaften, die das anfängliche Interesse der Forscher angezogen hatten, als sehr unvollkommene Indikatoren der natürlichen Art herausstellen. Es kann eine ganze Weile dauern, bis man letztlich herausfindet, was diese Proben wirklich gemeinsam haben. Aus eben diesem Grund können selbst die bestinformierten Forscher Begriffe von ihrem Untersuchungsgegenstand besitzen, die diesem einfach nicht gerecht werden. Diejenigen, die weniger gut informiert sind, besitzen natürlich mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit Begriffe, die die Art vollständig und zutreffend beschreiben. Es ist ein Teil des Ziels von Wissenschaft, Begriffe zu entwickeln, die den untersuchten Phänomenen angemessen sind. Dies ist eine wichtige Leistung wissenschaftlicher Untersuchungen; es ist keine Voraussetzung für das Beginnen solcher Untersuchungen. Nun ist die Idee, dass unsere Begriffe von natürlichen Arten dabei versagen könnten, den realen Eigenschaften dieser Arten gerecht zu werden, ein Allgemeinplatz in der 6 Philosophie. Aus genau diesem Grund kann jemand, der zum Beispiel an der Natur von Gold interessiert ist, nicht so vorgehen, dass er unseren Begriff von Gold untersucht. Die Untersuchung von Common-Sense-Begriffen [‚folk concepts‘] wird uns zeigen, was normale Menschen über Gold denken; aber das muss uns nicht viel über Gold selbst verraten. Selbst die Begriffe der fähigsten Forscher können, wie wir gesehen haben, ein Produkt sowohl ihres Unwissens als auch ihrer Fehler sein. Wer ernsthaft daran interessiert ist, die Natur von Gold zu verstehen, muss natürlich die Welt betrachten, also Gold selbst, und nicht unsere Begriffe. Die Analyse unserer Bergriffe ist bestenfalls ein indirekter und unvollkommener Weg, zu den Eigenschaften natürlicher Arten zu gelangen. Darüber hinaus können wir nur dann, wenn wir die Welt selbst untersuchen, überhaupt irgendeine Hoffnung haben, die Unzulänglichkeiten unserer gegenwärtigen Begriffe zu überwinden. 7 So verhält es sich, glaube ich, auch mit allen Versuchen, Erkenntnis zu verstehen. Erkenntnistheoretiker streben danach, die Natur der Erkenntnis bzw. des Wissens zu verstehen. Wenn man sich dieses Ziel setzt, reicht es nicht, Common-Sense-Begriffe von Erkenntnis zu untersuchen, da sie, genau wie Common-Sense-Begriffe von Gold, 6
Besonders seit den bahnbrechenden Arbeiten von Hilary Putnam und Saul Kripke zu diesem Thema. Vgl. dazu die gesammelten Aufsätze in Putnam 1975, besonders „Is Semantics Possible?“, „Explanation and Reference“ und „The Meaning of ‚Meaning’“ und Kripke 1980. 7 Diese Fälle sind meiner Meinung nach ebenbürtig, da Erkenntnis tatsächlich eine natürliche Art ist. Dafür habe ich ausführlich in Kornblith 2002 argumentiert. Nun haben einige versucht, die Idee, dass eigentliche Ziel erkenntnistheoretischer Untersuchungen sei tatsächlich unser Begriff von Erkenntnis, zu retten, indem sie argumentieren, Erkenntnis sei keine natürliche, sondern eine sozial konstruierte Art; die im Text angeführte Analogie von Erkenntnis und natürlichen Arten, so wird argumentiert, sei nicht zutreffend. In Kornblith 2006b argumentiere ich, dass selbst dann, wenn Erkenntnis eine sozial konstruierte Art wäre, dies nicht die Ansicht plausibel machte, dass unser Begriff der Erkenntnis und nicht die Erkenntnis selbst der eigentliche Gegenstand erkenntnistheoretischer Forschung ist.
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mit hoher Wahrscheinlichkeit das Produkt von Unwissenheit und Irrtum sind. Und nicht nur sind Common-Sense-Begriffe von Erkenntnis nicht das Ziel philosophischer Untersuchungen. Das eigentliche Ziel ist nicht der Begriff, den jedermann von Erkenntnis hat, sondern vielmehr die Erkenntnis selbst. Im Folgenden werde ich versuchen zu erklären, wie Erkenntnis selbst ein Gegenstand der Forschung sein kann. Darüber hinaus hoffe ich zu zeigen, wie die kognitive Verhaltensforschung zu einer solchen Forschung beizutragen vermag.
II Wissen sollte als natürliches Phänomen angesehen werden. Es gibt viele Fälle davon in der Welt, und wenn wir Wissen verstehen möchten, müssen wir anfangen, indem wir diese Fälle betrachten, genauso wie wir eine Untersuchung der Natur von Gold damit beginnen, eine Vielzahl von Proben davon zu überprüfen. Ebenso wie Gold einige hervorstechende Eigenschaften hat, die uns auf es aufmerksam werden lassen und es uns erlauben, es zumindest versuchsweise ausfindig zu machen, gibt es Eigenschaften die Fälle von Wissen besitzen, die uns darauf aufmerksam werden lassen und uns erlauben, es zumindest ausfindig zu machen. Diese Fälle müssen wir untersuchen und versuchen herauszufinden, was sie gemeinsam haben. Wissen ist eine Unterart von Überzeugung [‚belief‘], und obwohl die Erforschung menschlicher Kognition wichtige Fortschritte im Bezug auf das Verständnis von Überzeugungen gemacht hat, gibt es hier keinen Grund dafür, ausschließlich den menschlichen Bereich zu betrachten wenn man am Verständnis von Überzeugung und ihren Unterarten interessiert ist. Kognitionsforscher beziehen sich bei der Erklärung menschlichen Verhaltens auf Überzeugungen, weil Versuche, dieses Verhalten vollständig durch niedrigere Erklärungsebenen („lower level categories“) zu erklären und vorauszusagen, unweigerlich gescheitert sind. Das Gleiche gilt, so scheint es, auch für einen guten Teil tierischen Verhaltens, und obwohl es berechtigte AnthropomorphismusBedenken gibt, so ist es heute doch weitgehend Konsens, dass solche Bedenken nicht den Versuch rechtfertigen, alles tierische Verhalten ohne Rückgriff auf Überzeugungen zu erklären. Ein Beispiel wird hier hilfreich sein. Betrachten wir Daniel Povinellis Arbeiten darüber, ob Affen einen Begriff von „Sehen“ haben (Povinelli / Eddy 1996). Es scheint, zumindest auf den ersten Blick, recht verlockend, Schimpansen Überzeugungen darüber zuzuschreiben, was jemand gerade sieht. Immerhin folgen Schimpansen Augenbewegungen. Wenn man im Zoo in die Ecke eines Schimpansenkäfigs starrt, wird der Schimpanse ebenfalls in diese Ecke blicken, um zu sehen, was dort ist. Es gibt eine nahe liegende Erklärung für dieses Phänomen: Der Schimpanse bemerkt, dass man in die Ecke sieht; er glaubt, dass etwas dort unsere Aufmerksamkeit hervorgerufen haben muss; dort muss etwas sein, dass man sieht; dann schaut der Schimpanse in die Ecke, um zu sehen, was dies sein könnte. Diese einleuchtende Erklärung setzt eine beachtliche kognitiver Differenziertheit auf der Seite des Schimpansen voraus. Insbesondere erfordert sie es, dass der Schimpanse über einen Begriff des Sehens verfügt. Das unterstellt
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nicht nur, dass Schimpansen mentale Zustände besitzen; es setzt sogar voraus, dass sie einen Begriff mentaler Zustände haben. Povinelli argumentiert, dass diese nahe liegende Erklärung nicht korrekt ist, und dieses Verhalten besser erklärt wird, wenn man den Schimpansen weitaus weniger kognitive Differenziertheit zuschreibt. Interessanterweise konnte er zeigen, dass sich Schimpansen nicht auf die Weise verhalten, die man erwarten würde, wenn die naheliegende Erklärung korrekt wäre. Wenn sich zum Beispiel zwei Experimentatoren mit Futter einem Schimpansen nähern, von denen einer einen blickdichten Eimer über den Kopf gestülpt hat, während der andere einen solchen Eimer auf seiner Schulter trägt, zeigt der Schimpanse keine Präferenz für denjenigen Experimentator, der ihn tatsächlich sehen kann, sondern bettelt bei beiden gleichermaßen nach Futter. Auf der Grundlage dieses und einer großen Anzahl verwandter Experimente argumentiert Povinelli, dass die Erklärung, die dem Schimpansen mentale Zustände zweiter Ordnung zuschreibt – also Überzeugungen bezüglich der mentalen Zuständen der Experimentatoren –, zurückgewiesen werden und eine Erklärung auf niedrigerer Ebene bevorzugt werden sollte. Nun möchte ich mich nicht in die Kontroverse darüber einmischen, ob Povinelli damit Recht hat. Es gibt, glaube ich, ziemlich schwierige Probleme, die gelöst werden müssen, bevor dieser Streit beigelegt werden kann. Ich bringe diese Kontroverse vielmehr zur Sprache, da die Art, in der Povinelli versucht, die naheliegende Erklärung des Verhaltens von Schimpansen zu unterminieren, in der Literatur zur kognitiven Verhaltensforschung allgemein üblich ist und von einigen zum Anlass genommen wird, zu bezweifeln, dass Schimpansen und andere Tiere überhaupt mentale Zustände besitzen. So spricht zum Beispiel Sara Shettleworth von einer starken menschlichen Tendenz, andere Spezies zu anthropomorphisieren, der selbst professionelle Verhaltensforscher nicht immer widerstehen können. Ihr Einfluss zeigt sich implizit in den Titeln populärer Bucher wie When Elephants Weep (Wenn Elefanten weinen, The Human Nature of Birds (Die menschliche Natur der Vögel) und The Secret Life of Dogs (Das heimliche Leben der Hunde), und sie ist nicht gerade der schwächste Antriebsgrund für kognitive Verhaltensforscher. Das Verhalten anderer Menschen als Ausdruck dahinter liegender Überzeugungen und Intentionen zu verstehen, ist Teil der Volkspsychologie („folk psychology“) oder einfach des intuitiven Menschenverstand. Volkspsychologie ist eine nützliche Vorhersagehilfe für das Verhalten anderer Menschen und könnte sich aus diesem Grund entwickelt haben. Von uns auf andere Spezies zu verallgemeinern kann auch ein einfacher und nützlicher Weg sein, um Verhalten vorherzusagen. Die Tendenz, Volkspsychologie auf Tiere anzuwenden, könnte eine menschliche Anpassungsleistung zum Jagen und gegen Feinde sein. Tatsächlich ist es für die meisten Studienanfänger im Bereich tierischer Verhaltensforschung, von Lesern populärer Bücher ganz zu schwei-
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gen, sehr schwierig, sich vorzustellen, dass andere Spezies möglicherweise eine ganz andere Art haben, die Welt zu verstehen und sich angepasst zu verhalten, als wir. Es bedarf eines echten Sprungs der Vorstellungskraft, um zum Beispiel zu verstehen, dass eine Ratte ihren Weg nach Hause nicht deshalb findet, weil sie ‚weiß, wo sie ist‘, sondern weil sie unbewusst von Stimuli getrieben und gelenkt wird, denen sie unterwegs begegnet. (Shettleworth 1998, S. 478f.) Nun gibt es kaum Zweifel daran, dass Povinellis Hypothesen über das Verhalten von Schimpansen eben diese Art von „Sprung der Vorstellungskraft“ beinhalten, von der Shettleworth spricht. Es gibt eine natürliche Tendenz, zu denken, Schimpansen hätten eine Vorstellung davon, was andere sehen, und Povinelli hat Recht, wenn er alternative Erklärungen in Betracht zieht; Erklärungen, die Schimpansen ein niedrigeres kognitives Level zuschreiben als die Annahme, sie hätten ein Verständnis der mentalen Zustände anderer. Shettleworth geht jedoch noch ein ganzes Stück weiter. Sie legt nahe, dass die Tatsache, dass Tiere die Welt oftmals auf ganz andere Weise „verstehen“ als Menschen, Grund zu der Annahme gibt, dass ihr Verhalten überhaupt nicht mit Kategorien wie Überzeugungen und Wünschen erklärt werden kann. Das ist nun sicherlich nicht Povinellis Absicht. Wie er in seiner Arbeit darüber, ob Schimpansen einen Begriff des Sehens besitzen, klar macht, möchte er mentalistische Erklärungen des Verhaltens von Schimpansen nicht pauschal unterminieren; er behauptet lediglich, dass Schimpansen keinen Begriff mentaler Zustände besitzen. Allerdings setzen gerade die Erklärungen, die er für das Verhalten der Schimpansen in seinen Experimenten anbietet, voraus, dass diese weitgehende Überzeugungen bezüglich ihrer physischen Umgebung besitzen. Er plädiert daher ausschließlich gegen die spezifische Annahme, dass Schimpansen über Überzeugungen bezüglich mentaler Zustände verfügen (vgl. insb. Povinelli / Eddy 1996, S. 16). Es gilt zu beachten, dass Shettleworth zu Recht betont, wie wichtig es ist, zu verstehen, „dass andere Spezies eine ganz andere Art haben, die Welt zu verstehen und sich angepasst zu verhalten, als wir.“ Das sollte sie jedoch nicht zu der Behauptung veranlassen, sie verstünden die Welt überhaupt nicht. Und doch zieht sie aus der Tatsache, dass Ratten ihren Weg nach Hause auf andere Weise finden als wir, den Schluss, „dass eine Ratte ihren Weg nach Hause nicht deshalb findet, weil sie ‚weiß, wo sie ist‘“. Man könnte mit gleicher Berechtigung schließen, dass, wenn ich meinen Weg nach Hause finde, ohne eine Karte zu benutzen, Sie aber eine Karte benutzen müssen, um mein Haus zu finden, Sie den Weg zu meinem Haus nicht auf der Grundlage irgendeines Wissens davon finden, wo Sie sind. Dass Tiere manchmal um Dinge in anderer Weise wissen als wir, hat nicht zur Folge, dass sie überhaupt nichts wissen; vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall. In der Literatur zur kognitiven Verhaltensforschung stehen wichtige Fragen darüber zur Debatte, wie Tiere zu Überzeugungen über ihre Umwelt gelangen, und es gibt zahlreiche Kontroversen darüber, worin genau die Inhalte ihrer Vorstellungen bestehen. Es gibt jedoch ein etabliertes Forschungsprogramm, das die Zuschreibung von Überzeu-
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gungen und Wünschen an Tiere beinhaltet und ihr Verhalten auf Grundlage dieser mentalen Zustände erklärt. Und man sollte nicht annehmen, wie es Shettleworth tut, dass dies irgendeine Art von Fehler beinhaltet. Während Verhaltensforscher ausführlich dafür argumentiert haben, dass eine angemessene Erklärung tierischen Verhaltens es erfordert, Tieren intentionale Zustände wie Überzeugungen und Wünsche zuzuschreiben, ist es interessant zu bemerken, dass sie dann direkt dazu übergehen, von Wissen bei Tieren zu sprechen. Betrachten wir zum Beispiel die folgende Passage aus Primate Cognition von Michael Tomasello und Josep Call: Im physischen Bereich haben beinahe alle erforschten Spezies ein basales Wissen über konstante Objekte gezeigt und über einige Möglichkeiten, wie sich diese räumlich, quantitativ und hinsichtlich perzeptueller Ähnlichkeiten aufeinander beziehen lassen. Im sozialen Bereich haben so gut wie alle erforschten Spezies die Fähigkeit zur Wiedererkennung individueller Gruppenmitglieder gezeigt sowie Wissen über einige wichtige Möglichkeiten, wie diese sozial und verhaltensmäßig in Beziehung stehen können. In beiden Bereichen haben Individuen die Fähigkeit demonstriert, verschiedene Arten von Strategien zu entwickeln, die von effizienter Futterbeschaffung und Werkzeuggebrauch bis zu Koalitionsstrategien und sozialem Lernen reichen, die ihnen dabei helfen, Ziele hinsichtlich solch basaler adaptiver Funktionen wie Ernährung und Paarung zu erreichen. (Tomasello / Call 1997, S. 367) Man könnte versucht sein, diese Rede von tierischem Wissen als eine bloße façon de parler zurückzuweisen. Schließlich ist es, während die Rede von Überzeugungen unabdingbar ist, wie diese Verhaltensforscher argumentieren, um tierisches Verhalten zu erklären, nur schwer einzusehen, dass die Rede von Wissen genauso unabdingbar sein soll. Wenn es um individuelles Verhalten geht, ist es keineswegs offensichtlich, dass man unter Berufung auf das, was das Tier weiß, etwas erklären könnte, das man unter 8 Berufung auf das, was das Tier glaubt, nicht erklären kann. Wenn ein Affe weiß, dass an einem bestimmten Ort Futter verfügbar ist, könnte man auf dieses Wissen rekurrieren, um zu erklären, weshalb er dort nach Futter sucht. In solchen Fällen wird das Verhalten des Affen jedoch genauso gut durch die Tatsache erklärt, dass der Affe glaubt, an jenem Ort Futter finden zu können. Die Rede davon, was der Affe weiß, mag sie auch pittoresk sein, scheint keinen explanativen Wert zu besitzen. Ich denke, dass dies stimmen mag, wenn es um die Erklärung individuellen Verhaltens geht, aber das heißt nicht, dass die Rede von Wissen überhaupt keinen explanativen Wert hat. Die evolutionäre Herangehensweise an tierische Kognition versucht unter anderem, das Vorhandensein unterschiedlicher kognitiver Fähigkeiten bei verschiede8 Dies wird allerdings von Timothy Williamson bestritten (Williamson 2000). Wenn Williamson Recht hat, spielen die Argumente für die explikative Wichtigkeit von Wissen sogar noch eine größere Rolle als ich sie ihnen in diesem Beitrag einräume.
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nen Arten zu erklären. Die Umwelt stellt demnach gewisse Informationsansprüche an die Tiere und deren kognitive Fähigkeiten sind das Produkt des Selektionsdrucks, der von komplexen Umgebungen erzeugt wird. Eine Spezies mag die Fähigkeit haben, gewisse Informationen über ihre Umwelt zu sammeln, und diese Fähigkeit dient dazu, zu erklären, wie es dazu kommt, dass die Spezies erfolgreich in dieser Umwelt bestehen kann. Hierbei ist der Unterschied zwischen bloßem Glauben und Wissen entscheidend. Nicht das Bilden irgendwelcher Überzeugungen über die Umwelt ist dem Tier nützlich; vielmehr ist es die Fähigkeit, verlässlich wahre Überzeugungen von seiner Umwelt zu bilden, die dem Überleben des Tieres dient. Das bedeutet jedoch, dass die Kategorie verlässlich gewonnener, wahrer Überzeugung wichtigen explanativen Zwecken in einer evolutionären Erklärung von Verhalten dient. Wenn Verhaltensforscher von tierischem Wissen sprechen, scheinen sie genau davon zu sprechen: verlässlich gewonnene, wahre Überzeugung. Ich möchte nun nahelegen, dass Wissen genau darin besteht. So wie Chemiker herausgefunden haben, dass Wasser nicht mehr ist als H2O, und sie sich, obwohl niemand vor der chemischen Revolution wusste, dass dies der Fall ist, dennoch auf H 2O bezogen, wenn sie den Ausdruck ‚Wasser‘ benutzten, genauso haben wir alle über verlässlich gewonnene, wahre Überzeugung gesprochen, wenn wir den Ausdruck ‚Wissen‘ benutzen, auch wenn viele Wissen nicht mit verlässlich gewonnener, wahrer Überzeugung identifiziert haben mögen und auch wenn viele einen Begriff von Wissen haben, der sich wesentlich davon unterscheidet. Wenn wir verstehen wollen, was Wissen ist, müssen wir das Phänomen des Wissens betrachten und nicht unseren Begriff davon, genau wie diejenigen, die verstehen wollten, was Wasser ist, die Welt betrachten mussten und nicht irgendjemandes Begriff davon, was die Welt enthalten könnte.
III Es lohnt sich, diese Konzeption von Wissen mit einigen der Vorschläge zu vergleichen, die Philosophen auf der Grundlage von Begriffsanalysen gemacht haben. Viele Philosophen haben argumentiert, dass bewusste Reflexion über die Beschaffenheit unserer Überzeugungen eine notwendige Bedingung für gerechtfertigte Überzeugung sei und dementsprechend auch für Wissen. So argumentiert zum Beispiel Laurence BonJour in The Structure of Empirical Knowledge (BonJour 1985), dass ein Individuum nur dann eine gerechtfertigte Überzeugung von etwas hat, wenn diese mit seinen anderen Überzeugungen kohärent ist. Darüber hinaus behauptet BonJour, dass eine Person nur dann eine gerechtfertigte Überzeugung besitzt, wenn sie um die Kohärenz der betreffenden Überzeugungen mit ihren anderen Überzeugungen weiß. Ohne diese Bedingung, so BonJour, könnte jemand eine Überzeugung aus Gründen haben, die nichts mit deren Kohärenz mit seinen anderen Überzeugungen zu tun haben; derjenige könnte in der Tat völlig unwissend darüber sein, dass die in Frage stehende Überzeugung mit seinen Überzeugungen kohärent ist. In solch einer Situation wäre die resultierende Überzeugung nicht gerechtfertigt und könnte daher nicht als Fall von Wissen angesehen werden.
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Diese intuitiv einleuchtende Bedingung führte BonJour jedoch dazu, recht außergewöhnliche Ansprüche an Wissende zu stellen. Es ist nicht nur so, dass sich ein Individuum bewusst sein muss, dass eine bestimmte Überzeugung mit seinen anderen Überzeugungen kohärent ist. Wie BonJour zu Recht hervorgehoben hat: … wenn das Faktum der Kohärenz dem Träger der Überzeugung zugänglich sein soll, so folgt daraus, dass er irgendwie einen adäquaten Zugriff auf das Gesamtsystem seiner Überzeugungen haben muss, da schließlich die Kohärenz mit diesem Gesamtsystem in Frage steht (BonJour 1985, S. 102). Zudem muss derjenige, da Kohärenz Konsistenz erfordert, sicherstellen, dass seine Überzeugung konsistent mit seinem Gesamtsystem an Überzeugungen ist, wenn er eine gerechtfertigte Überzeugung besitzen und also die Überzeugung als Wissen zählen können soll. Nun werden diese zwei Bedingungen offensichtlich niemals von irgendjemandem erfüllt. Wenn ich über die Überzeugungen reflektiere, die ich besitze, bin ich sicherlich nicht in der Lage, auf die Gesamtmenge meiner Überzeugungen zuzugreifen; tatsächlich kann ich zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur über einen winzigen Bruchteil der Gesamtmenge meiner Überzeugungen nachdenken. Und in dieser Hinsicht bin ich keine Ausnahme. Kohärenz mit einem winzigen Bruchteil der Gesamtmenge der Überzeugungen einer Person kann jedoch in keiner Weise dazu dienen, eine Überzeugung zu rechtfertigen, weshalb ich überhaupt keine gerechtfertigten Überzeugungen besitzen kann. Aus eben jenem Grund kann ich niemals etwas wissen. Die Bedingung, man müsse wissen, dass eine gegebene Überzeugung mit der Gesamtmenge seiner eigenen Überzeugungen konsistent ist, ist ebenso unerfüllbar (Kornblith 1989). Die Bestimmung der Konsistenz schon einer kleinen Anzahl von Aussagen kann eine rechnerisch sehr mühselige Aufgabe sein; die Bestimmung der Konsistenz einer Menge von Aussagen, die auch nur einen Bruchteil der Größe irgendeiner menschlichen Menge von Überzeugungen besitzt, ist rechnerisch unmöglich (Cherniak 1984). Das Wissen, dass eine gegebene Überzeugung kohärent ist mit der Gesamtmenge an Überzeugungen, die jemand hat, liegt außerhalb jeder Reichweite, selbst wenn man einen Zugriff auf sie hätte. So sind 9 nach diesem Ansatz gerechtfertigte Überzeugungen und Wissen doppelt unerreichbar.
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BonJours Antwort auf diese Kritik ist folgende: Meine grundlegende Behauptung ist, dass jemand, der kein vollständig explizites Verständnis seines Systems von Überzeugungen oder seines Begriffs von Kohärenz oder des Kohärenzgrades seines Systems von Überzeugungen erreicht, dadurch keinen expliziten und vollständigen Grund dafür hat, zu denken, dass diese Überzeugungen wahr sind. Und dies lässt es mir im Gegenzug vernünftig erscheinen, zu sagen, dass die Rechtfertigung, die wir tatsächlich haben, nur annähernd erreichbar ist. Aber gleichzeitig ist es, wenn die Näherung hinreichend gut ist, leicht genug zu verstehen, wie der common sense, nachlässig wie immer gegenüber feinen Unterscheidungen, unsere Überzeugungen in vielen Fällen als vollständig gerechtfertigt ansehen kann (BonJour 1989, S. 285). Das Problem mit dieser Antwort ist, wie ich in Kornblith 2002 (S. 130ff.) darlege, dass wir uns diesen Standards offensichtlich noch nicht einmal entfernt annähern. Und das bedeutet, dass es noch nicht einmal im Entferntesten korrekt ist, aus BonJours Sicht, zu sagen, dass wir irgendeine
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In jüngerer Zeit hat BonJour sein früheres kohärentistisches Konzept der Rechtfertigung zugunsten des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus verworfen (BonJour 2002). Er hält jedoch weiterhin an der Forderung fest, ein Individuum müsse sich in der Reflexion der Merkmale bewusst sein, die es ihm vernünftig erscheinen lassen, eine Überzeugung zu haben, wenn diese Überzeugung als gerechtfertigt und damit als ein Fall von Wissen zählen soll. Dieser Ansatz hat zur Folge, dass wir bestenfalls selten gerechtfertigte Überzeugungen haben, da wir nicht oft in dieser Weise reflektieren; aus 10 diesem Grund wissen wir aus BonJours Sicht nur sehr wenig. Es ist eine sehr intuitive Idee, dass die eine oder andere Art von Reflexion eine Vorbedingung für Wissen ist. Wir gelangen oft unreflektiert zu unseren Überzeugungen und es gibt kaum Zweifel daran, dass viele dieser unreflektiert erlangten Überzeugungen unvernünftig sind. Wir versäumen manchmal, auf relevante Hinweise einzugehen, die uns vorliegen; wir ziehen voreilige Schlüsse; wir werden manchmal mehr von dem beeinflusst, was wir gerne glauben möchten, als von dem, was wir aus guten Gründen glauben sollten. Indem sie von ihren anfänglichen Neigungen Abstand nehmen, versuchen reflektierte Personen, zumindest für den Augenblick, die Sachlage sorgfältig einzuschätzen. Und es ist zweifellos der Fall, dass derartige Reflexion gewisse Fehler verhindern kann, für die wir ansonsten anfällig sind. Die Idee, dass echtes Wissen Reflexion voraussetzt, ist es, so glaube ich, die solche und ähnliche Fälle motiviert. Der unreflektiert Handelnde mag vielleicht Glück haben, wenn die Prozesse, die Überzeugungen in ihm bewirken, zufällig verlässlich sind. Der reflektiert Handelnde dagegen vertraut nicht auf das Glück, sondern nimmt die Dinge selbst in die Hand, und sichert ab, dass seine Überzeugungen so beschaffen sind, wie sie sein sollen, indem er über die Qualität seiner Belege reflektiert und Überzeugungen bildet, die in Übereinstimmung mit diesen Belegen sind. Aus Gründen wie diesen scheint es, so glaube ich, als ob Reflexion eine 11 notwendige Bedingung sowohl für Überzeugungen als auch für Wissen darstellt. So intuitiv diese Sichtweise auch sein mag, so glaube ich, dass sie grundlegend verfehlt ist. Diese Art, über Dinge nachzudenken, ist das Produkt einer übermäßig misstrauischen Auffassung gegenüber unreflektierten Prozessen, durch die wir zu unseren Überzeugungen gelangen, und einer romantisch verklärten Auffassung von Reflexion. Betrachten wir zunächst die Art und Weise, in der wir zu unseren Überzeugungen gelangen, wenn wir nicht reflektiert sind. Wenn etwa Descartes unreflektierte Überzeugungsbildung untersucht, beginnt er mit der Betonung, dass derartige Überzeugungsbildung fehlbar ist; natürlich unterlaufen uns ab und an Fehler. Er fährt fort, indem er auf die Bedenken des radikalen Skeptizismus verweist. Wir nehmen an, so Descartes, dass gerechtfertigte Überzeugung hätten oder irgendetwas wüssten. BonJour und ich haben diese Punkte erst kürzlich diskutiert. Vgl. BonJour 2006 und meine Antwort (Kornblith 2006a). 10 Die Situation ist tatsächlich noch viel schlimmer als hier zu erkennen ist. Selbst in BonJours gegenwärtiger fundamentalistischer Sichtweise müssen Kohärenzüberlegungen noch immer eine wesentliche Rolle bei der Rechtfertigung der Mehrzahl unserer Überzeugungen spielen. Aber dann gelten die früheren Kritikpunkte an BonJours kohärentistischer Sichtweise genauso für seine Version des Fundamentalismus (vgl. Kornblith 2002, S. 132–5). 11 Für ein Beispiel dieser Art siehe zum Beispiel Korsgaard 1996, S. 92f. Solche Ideen werden jedoch weitgehend von Internalisten bezüglich Begründungen geäußert.
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unsere Überzeugungen das Produkt eines bösen Dämons sind, der versucht, uns zu der Annahme zu verleiten, es gäbe eine Welt außerhalb unseres Bewusstseins, die gewisse Eigenschaften besitzt, während es in Wirklichkeit keine solche Welt gibt. Wenn wir uns unhinterfragt auf unsere Neigung zu glauben verlassen, argumentiert er, könnten wir leicht ein völlig falsches Bild davon bekommen, wie die Welt ist, oder uns darüber täuschen, ob es tatsächlich eine solche Welt gibt. Es ist diese Art von Gedankenexperimenten, auf die sich Erkenntnistheoretiker oft berufen, um die Annahme zu stützen, kritische Reflexion sei unentbehrlich, wenn wir die Fehler vermeiden wollen, für die wir von Natur aus anfällig sind. Böse Dämonen sind allerdings in Wirklichkeit keine große Bedrohung. Viele der Vorgänge, die Überzeugungen in uns hervorbringen, wenn wir nicht reflektiert sind, sind extrem verlässlich. Visuelle Wahrnehmung ist zum Beispiel, wenn auch sicherlich fehlbar, außerordentlich verlässlich, wenn es darum geht, Überzeugungen über die Welt um uns herum zu erzeugen. Es gibt zudem eine Vielzahl an Studien über die Verlässlichkeit unserer angeborenen Fähigkeit zum Schlussfolgern, und man kann hier für bedingten Optimismus plädieren (vgl. Kornblith 1993, Kapitel 5). Ich möchte damit nicht nahe legen, unreflektierte Überzeugungsbildung sei eine rundum gute Sache; das ist sie sicherlich nicht. Ich möchte nur herausstellen, dass das umfassende Misstrauen gegenüber unreflektierten Prozessen, das von Erkenntnistheoretikern häufig angeführt wird, um Reflexion zu einer unverzichtbaren Bedingung für Wissen zu machen, extrem unrealistisch ist. Eine sorgfältige Bewertung der Verlässlichkeit unreflektiert erlangter Überzeugung würde sicherlich sowohl Bereiche von ungeheurer Exaktheit freilegen als auch Bereiche, in denen wir eine echte Anfälligkeit für Fehler besitzen. Diejenigen, die Reflexion zur notwendigen Bedingung für Rechtfertigung und Wissen machen möchten, tendieren dazu, hier zu einseitig auf unsere Anfälligkeit für Fehler zu fokussieren. Diese einseitig pessimistische Position gegenüber unreflektierten Überzeugungen, die von den Verfechtern der Reflexion eingenommen wird, geht einher mit einer übermäßig optimistischen Beurteilung der Vorteile bewusster Überzeugungsbildung. Tatsache ist natürlich, dass die Reflexion über die erkenntnistheoretische Glaubwürdigkeit unserer Überzeugungen kein Allheilmittel für die Mängel unreflektiert erlangter Überzeugungen ist. So wie unsere angeborenen Tendenzen der Schlussfolgerung von extrem zuverlässig bis extrem unzuverlässig reichen, reichen auch die Verfahren, mit denen wir unsere unreflektierten Überzeugungen reflektieren, von sehr zuverlässig bis sehr unzuverlässig. Wir sollten nicht denken, dass das Ergebnis reflektierter Überzeugungsbildung immer eine bessere Beurteilung unserer Überzeugungen liefert. Während bewusste Reflexion sicherlich dazu dienen kann, Fehler in unreflektierten Prozessen zu korrigieren, kann sie ebenso zur Verfestigung von Fehlern führen. Und genauso wie bewusste Aufmerksamkeit bei vielen motorischen Aufgaben diese bisweilen mehr behindert als perfektioniert, kann die bewusste Kontrolle der Prozesse der Überzeugungsbildung bisweilen die ansonsten reibungslose und akkurate Arbeitsweise unreflektierter Prozesse behindern. Es wäre ein Fehler anzunehmen, reflektiert erlangte Überzeugung sei ganz immer und auf ganzer Linie akkurater als unreflektiert erlangte Überzeugung (Kornblith 2002, Kapitel 4).
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Durch Reflexion erlangte Überzeugung ist also keine durch und durch positive Sache. Sie ist gut, wenn sie unsere Verlässlichkeit erhöht, wie sie es manchmal tut; und sie ist schlecht, wenn sie unsere Verlässlichkeit verringert, wie sie es manchmal tut. In anderen Worten ist mit einer Theorie von Wissen, die dieses als verlässlich gewonnene, wahre Überzeugung konzipiert, bereits so viel über Reflexion gesagt, wie gesagt werden muss. Genau wie bei jedem anderen Prozess, der die Überzeugungsbildung beeinflusst, wird der Wert von Reflexion anhand ihrer Verlässlichkeit beurteilt. Diejenigen Philosophen, die Reflexion zu einer notwendigen Bedingung für Wissen machen, schließen die Möglichkeit tierischen Wissens aus. Wie wir jedoch gesehen haben, liefern ihre Ansichten noch nicht einmal eine akzeptable Beschreibung menschlichen Wissens. Jede Konzeption menschlichen Wissens, die zur Folge hat, dass wir faktisch gar kein oder nur sehr wenig Wissen besitzen, ist aus eben diesem Grunde unplausibel. Und die Wege, auf denen Philosophen zu zeigen versucht haben, dass menschliches Wissen von einzigartiger Beschaffenheit ist, führen allesamt zu diesem Ergebnis. Nicht alle philosophischen Wissensdefinitionen, die durch Begriffsanalyse erreicht werden, zielen auf den Aufweis dieser Sonderstellung menschlichen Wissen. Tatsächlich ist der Vorschlag, Wissen solle mit verlässlich gewonnener wahrer Überzeugung identifiziert werden, einer, der von Alvin Goldman auf der Grundlage einer Begriffsanalyse gemacht wurde (Goldman 1986). Ich stimme also mit Goldman in der Konzeption von Wissen überein, die er entwirft. Aber der Dissens, den ich mit ihm bezüglich der philosophischen Methode und des Ziels philosophischer Analyse habe, bleibt bestehen. Goldman erachtet seinen Ansatz als eine Position bezüglich des Inhalts unseres Begriffs von Wissen. Ich glaube es ist überzeugender, sie als Darstellung von Wissen selbst zu sehen. Nach Goldman bezieht seine Sichtweise den Großteil ihrer Evidenz aus unseren Intuitionen in Bezug auf hypothetische Fälle. Meiner Auffassung nach besteht die beste Bestätigung dieser Sichtweise in der Art, wie sie unser Verständnis eines bestimmten natürlichen Phänomens erklärt und vereinheitlicht. Die Auffassung von Philosophie, die ich vertreten möchte, ist also eine kompromisslose Version des Naturalismus. Philosophische Theoriebildung befindet sich in Kontinuität mit naturwissenschaftlicher Forschung. Im Fall der Erkenntnistheorie ist es die kognitive Verhaltensforschung, die uns am meisten weiterhilft. Aus dem Englischen übersetzt von Hannes Rusch unter Mitarbeit von Michael Jungert, Thomas Sukopp und Elsa Romfeld.
Literatur Bealer, George (1993): „The Incoherence of Empiricism“. In: Wagner, S. / Warner, R. (Hg.) Naturalism: A Critical Appraisal. Notre Dame: University of Notre Dame Press. Bonjour, Laurence. (1985): The Structure of Empirical Knowledge. Cambridge: Harvard University Press.
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BERTOLD SCHWEITZER
„Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“: Wissenschaftstheorie und interdisziplinäres Arbeiten 1. Zur Beziehung von Wissenschaftstheorie und interdisziplinären Studien: Vier Thesen Das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und interdisziplinären Studien ist weit davon entfernt, geklärt zu sein. Eine „Epistemologie der Interdisziplinarität“ (Newell 2001, S. 14) scheint noch zu fehlen.1 Ohne eine solche hier vorlegen zu wollen, soll dem Verhältnis von Wissenschaftstheorie und interdisziplinärem Arbeiten hinsichtlich der interdisziplinären Aspekte in der Wissenschaftstheorie nachgegangen werden. Diese sollen identifiziert und das methodische Vorgehen von Wissenschaftstheorie einerseits und interdisziplinären Untersuchungen andererseits verglichen werden. Ein Fallbeispiel nimmt in der vorliegenden Arbeit einen größeren Raum ein: Eine wissenschaftstheoretisch-vergleichende Untersuchung einer Familie wissenschaftlicher Methoden, die – in einem noch zu erläuternden Sinne – wesentliche Aspekte interdisziplinärer Arbeit integriert. Diese Methodenfamilie geht von dem methodischen Leitmotiv „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“ aus und liefert in einer Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen einen Beitrag zum Erkenntnisgewinn (vgl. Schweitzer 2004). Die Vorgehensweise, die Erfolge und die Probleme dieser für vergleichend-wissenschaftstheoretisches Arbeiten exemplarischen Untersuchung und dessen Bezug zu interdisziplinärer Arbeit werden beschrieben und diskutiert. Die nachfolgenden Überlegungen basieren auf vier Thesen, die zugleich die Gliederung der vorliegenden Studie vorgeben: Erstens: Wissenschaftstheorie ist eine Metadisziplin. Ihr allgemeiner Teil und die fachspezifischen Sektoren sind gut entwickelt. Ein fachübergreifender Vergleich ist demgegenüber recht schwach ausgeprägt. Gerade deskriptive, vergleichend und integrativ angelegte und in diesem Sinne „interdisziplinäre“ Studien fachwissenschaftlicher Arbeit erscheinen jedoch in der Lage, die Wissenschaftstheorie entscheidend zu bereichern. Sie sollen in diesem Beitrag im Vordergrund stehen. Zweitens: Wissenschaftstheorie und interdisziplinäre Studien weisen eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten auf. Beider Arbeit besteht in der Zusammenführung, Analyse und Integration von Daten, Begriffen, Methoden und Theorien mehrerer unter1
Alle Zitate aus fremdsprachigen Veröffentlichungen wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt.
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schiedlicher Wissenschaften, sowohl bei praktischer Problemlösung als auch bei der Suche nach theoretischem Verständnis. Gerade vergleichende wissenschaftstheoretische Studien haben, bezogen auf Ziele und Vorgehensweise, besonders weitreichende Übereinstimmungen mit interdisziplinären Studien. Drittens: Die methodische Reflexion am Beispiel der wissenschaftstheoretischen Studie „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“ zeigt diese Übereinstimmungen besonders plastisch. Eine Gegenüberstellung interdisziplinärer Studien einerseits und vergleichend-wissenschaftstheoretischer Analysen andererseits ermöglicht, die typischen Möglichkeiten und Probleme beider Ansätze unter neuen Blickwinkeln zu betrachten und eröffnet die Chance wechselseitiger Erhellung. Viertens: Wissenschaftstheorie als Spezialistin für begriffliche, methodische und theoriestrukturelle Fragen kann interdisziplinäre Studien unterstützen, indem sie ihnen ihr analytisches Instrumentarium bereitstellt. Diese Möglichkeiten werden bisher nicht in vollem Umfang ausgenutzt; sie gilt es zu fördern. Ein Forschungsprogramm zur vertieften Untersuchung wissenschaftstheoretischer Probleme interdisziplinären Arbeitens wäre wünschenswert und könnte dazu beitragen, diese Instrumente weiter zu schärfen.
2. Wissenschaftstheorie: Allgemein, speziell oder vergleichend? Wissenschaftstheorie wird üblicherweise als Metadisziplin (Oldroyd 1986, S. 2) oder als Disziplin „zweiter Ordnung“ (Losee 1977, S. 12) aufgefasst. Die Methodik der Wissenschaftstheorie umfasst die logische Analyse, rationale Rekonstruktion und kritische Revision von Begriffen, Annahmen, Methoden und Theoriestrukturen der Wissenschaft als ganzer und der verschiedenen Wissenschaften im Einzelnen (vgl. Kamlah 1980, S. 40f). Die moderne Wissenschaftstheorie hat sowohl deskriptive als auch normative Komponenten. Ein Beispiel für eine allgemeine Norm ist etwa: „Versuche, Deine Theorien den strengst möglichen Prüfungen auszusetzen, und akzeptiere diejenige vorläufig, die diese Prüfungen erfolgreich überstanden hat!“ Ein Beispiel für eine speziellere Norm ist: „Suche nach selektiven Fehlleistungen und Ausfällen, bei denen nur eine oder wenige Verhaltensweisen oder Fähigkeiten beeinträchtigt sind, während die übrigen normal erhalten bleiben!“ Eine rein apriorisch-normative Theorie der Wissenschaft, die vor aller Wissenschaft deren Standards und Normen vorgibt, hat sich als unmöglich erwiesen (vgl. Albert 1968). Daher hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Wissenschaftstheorie neben normativen notwendig auch deskriptive Elemente umfassen muss: Normative Forderungen stehen dabei nicht am Anfang. Vielmehr kann die moderne Wissenschaftstheorie Normen wissenschaftlichen Arbeitens nur durch deskriptive Analyse des tatsächlichen Vorgehens von Wissenschaftlerinnen gewinnen, gleichsam herauspräparieren. Über dieses deskriptive Element hinaus sind freilich noch weitere Zutaten nötig: Normen der Logik und relevante Intuitionen bezüglich dessen, was als erfolgreiche Wissenschaft
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gelten kann, gehen mit in eine Beurteilung ein und müssen mit der deskriptiven Seite in einem komplexen Rückkopplungsprozess oder Überlegungsgleichgewicht austariert werden. Da sich die Wissenschaftstheorie weder auf reine Beschreibung beschränken, noch unrealistisch wissenschaftsferne Normen vorgeben will, sondern sich auf beide Seiten stützen muss, erhält sie das, was als ihr „deskriptiv-normativer Doppelcharakter“ (Vollmer 1993, S. 146) beschrieben wurde. In verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen ist das deskriptive Element unterschiedlich stark ausgeprägt. Stark vereinfacht kann man die Wissenschaftstheorie entlang folgender Linien unterteilen: Erstens eine allgemeine Wissenschaftstheorie, die der Intention nach für alle Fächer gleichermaßen Gültigkeit besitzt (vgl. Popper 1994; Bunge 1967; Stegmüller 1969–1973); zweitens eine Reihe fachspezifischer Wissenschaftstheorien, (zum Beispiel Wissenschaftstheorien der Physik, der Biologie, der Sozialwissenschaften (vgl. nur Kanitscheider 1981; Mahner / Bunge 1997; Topitsch 1993). In der Wissenschaftstheorie sind der allgemeine Teil und die fachspezifischen Sektoren gut ausgebaut. Drittens lässt sich von diesen beiden Teilen eine vergleichende Wissenschaftstheorie abheben, die mehrere unterschiedliche Disziplinen unter verschiedenen Aspekten beschreibt, analysiert, vergleicht und integriert. Ein solcher vergleichender Ansatz fußt auf deskriptiver Analyse einzelner Wissenschaften, zum Teil auch auf den Ergebnissen fachspezifischer Wissenschaftstheorien und mündet in oder liefert Beiträge zu einer allgemeinen Wissenschaftstheorie. Ein solcher fachübergreifender Vergleich, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede ernst nimmt, ist gegenüber dem allgemeinen und den fachspezifischen Teilen deutlich schwächer entwickelt. Wenn überhaupt von „vergleichender Wissenschaftstheorie“ (so beim einzig auffindbaren Beleg: Lauth / Sareiter 2005, S. 12) gesprochen wird, werden Probleme des Reduktionismus behandelt oder die Frage, ob sich die Methoden der Natur- und der Sozialwissenschaften grundsätzlich unterscheiden. Gerade deskriptive, vergleichend und integrativ angelegte Studien fachwissenschaftlicher Arbeit wären jedoch geeignet, einerseits der Vielfalt und „Buntheit“ einzelwissenschaftlicher Methoden Rechnung zu tragen, andererseits aber auch durch Vergleich und Herausarbeiten gemeinsamer Merkmale die allgemeine Wissenschaftstheorie entscheidend zu bereichern. Im Gegensatz zu interdisziplinären Ansätzen verfügt Wissenschaftstheorie nicht nur über den entsprechenden „Werkzeugkasten“, sondern ist auch die einzige Disziplin, die systematisch, aus theoretischem Interesse und unabhängig vom Anlass konkreter Probleme und Projekte die Strukturen verschiedener Wissenschaften und deren Verhältnis zueinander studiert. Solche Untersuchungen sind als der vielleicht wichtigste potenzielle Beitrag der Philosophie für andere Disziplinen angesehen worden: Van Valen (1972, S. 413) schlägt vor, diesen „wichtigen, wenn auch wenig ausgeübten Aspekt der Philosophie“, der sich mit dem Studium der Struktur von Theorien und Gegenständen befasst ist, „metadisziplinäre Analyse“ zu nennen. Er nennt als Beispiele Teile der Philosophie der Biologie, der Philosophie der Geschichte, betont aber auch, er habe noch keine analytischen Vergleiche verschiedener Felder gesehen. Dieser Mangel ist bis heute kaum behoben.
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Eine solche komplexere, buntere Wissenschaftstheorie erscheint jedoch erstrebenswert: Sie könnte über den philosophischen Erkenntnisgewinn hinaus dazu beitragen, praktische Probleme des interdisziplinären Arbeitens abzubauen, indem sie Verständnis und Kooperation zwischen Disziplinen fördert oder Disziplingrenzen durchlässiger macht. Sie könnte ein disziplinübergreifend nutzbares Repertoire an Methoden, Begriffen, Annahmen, Zugängen und Analyseinstrumenten zur Verfügung stellen, das bessere und systematischere Voraussetzungen für interdisziplinäre Forschung schafft.
3. Interdisziplinäre Elemente vergleichender Wissenschaftstheorie Gewöhnlich wird ein Nebeneinander disziplinärer Aktivitäten als Multidisziplinarität, ein Miteinander, bei dem die Grenzen der Disziplinen bestehen bleiben, als Interdisziplinarität und ein Miteinander, bei dem die Grenzen der Disziplinen aufgelöst werden, als Transdisziplinarität bezeichnet – wobei allerdings nicht immer scharf zwischen Interdisziplinarität und Transdisziplinarität unterschieden wird (vgl. Klein 1990; Mittelstraß 2003). Philosophie und Wissenschaftstheorie als „Metadisziplinen“ stehen dazu zunächst einmal quer. Wissenschaftstheorie kann nicht im strengen Sinne als inter- oder transdisziplinär bezeichnet werden – weil es sich nicht um Zusammenarbeit zwischen mehreren mehr oder weniger gleichberechtigten Disziplinen aus diesen Disziplinen heraus handelt, sondern um einen externen Blick auf diese Disziplinen, der die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der begrifflichen und theoretischen Struktur und der methodischen Arbeit dieser Disziplinen beleuchtet. Dennoch gibt es recht enge Bezüge. Das wird besonders deutlich, wenn man einige einschlägige Definitionen oder Explikationen für „Interdisziplinarität“ zusammenstellt. Sie decken sich überraschend präzise mit den wesentlichen Zielen und Merkmalen der Wissenschaftstheorie und besonders eines wissenschaftstheoretisch-vergleichenden Ansatzes. Erstens, betonen Interdisziplinaritätsforscher, lägen dem modernen Begriff der Interdisziplinarität Ideen von Einheitswissenschaft, von allgemeinem Wissen und von Synthese und Integration des Wissens zugrunde (vgl. Klein 1990, S. 19). Das trifft ebenso auf Philosophie und Wissenschaftstheorie zu: Die Vorstellung einer Einheitswissenschaft – einheitliche Fundamente und Methoden – prägte unter anderem die Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises, und das Streben nach Verallgemeinerung, Synthese und Integration von Wissen kennzeichnet die gesamte Philosophie, die nicht zufällig als „Spezialistin fürs Allgemeine“ bezeichnet wurde. Zweitens stelle die Kommunikation zwischen verschiedenen begrifflichen Strukturen den eigentlichen Kern der Interdisziplinarität dar (vgl. Bromme 2000, S. 118). Auch damit treten interdisziplinäre Studien in nächste Nähe der Wissenschaftstheorie und Philosophie, die sich ebenfalls als Spezialistin für die Klärung und Integration begrifflicher Probleme versteht.
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Drittens setze Interdisziplinarität die Einsicht voraus, dass ein Thema nicht angemessen von einer einzelnen Disziplin angegangen werden kann und die Feststellung, dass verschiedene disziplinäre Aktivitäten zu Themen konvergieren, die begrifflich als ein gemeinsames Problem zusammengefasst werden können (vgl. Maasen 2000, S. 174). Einen entsprechenden Anspruch haben auch moderne Wissenschaftstheorien (wie auch ihr Partner, die moderne Naturphilosophie) erhoben: Themen zu behandeln, die den Rahmen einzelwissenschaftlicher Bemühungen sprengen und die Identifikation nur gemeinsam auf fruchtbare Weise zu bearbeitender Aktivitäten oder Themen der einzelnen Wissenschaften vorzunehmen. Viertens wird der Prozesscharakter der Interdisziplinarität betont: „Interdisziplinäre Studien können definiert werden als der Prozeß, eine Frage zu beantworten, ein Problem zu lösen oder ein Thema zu bearbeiten, das zu breit oder komplex ist, um angemessen von einer einzelnen Disziplin oder Berufsgruppe behandelt zu werden. Interdisziplinäre Studien bedienen sich disziplinärer Perspektiven und integrieren deren Einsichten durch Herstellung einer umfassenderen Perspektive.“ (Klein / Newell 1996, S. 393f.) und an anderer Stelle: „Es gibt weitverbreitete Übereinstimmung, daß Interdisziplinarität im wesentlichen ein Prozeß ist“ (Newell 2001, S. 14). Der interdisziplinäre Prozess gliedert sich demnach in zwei Phasen: Er analysiert kritisch disziplinäre Ergebnisse und Sichtweisen, und er integriert deren Einsichten in ein umfassenderes Verständnis. Vergleichend-wissenschaftstheoretisches Arbeiten umfasst in ähnlicher Weise die Erarbeitung disziplinärer Ergebnisse und deren Vergleich und Synthese. Die Parallelen zwischen den Prozessen interdisziplinären und wissenschaftstheoretischen Arbeitens sollen im folgenden Abschnitt exemplarisch beleuchtet werden.
4. Wissenschaftstheorie und interdisziplinäres Arbeiten – am Beispiel „Vom Fehler zur Theorie“ 4.1. Fragestellung und Ergebnisse Die wissenschaftstheoretische Studie zum Thema „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“ (vgl. Schweitzer 2004), deren Methoden und Vorgehensweise hier kritisch reflektiert werden sollen, hatte als Zielsetzung, eine bestimmte methodische Leitidee in ihren verschiedenen Ausprägungen zu studieren und ihren einheitlichen Kern zu identifizieren und herauszuarbeiten. Die Studie war durch die Beobachtung motiviert, dass in einer Reihe unterschiedlicher Wissenschaften ein gemeinsames methodisches Prinzip eine Rolle zu spielen scheint, das Fehler, Fehlfunktionen, Ausfälle oder Defizite, die an oder in den Untersuchungsgegenständen auftreten, analysiert und als empirische Daten nutzt, die zur Generierung und zur Prüfung wissenschaftlicher Theorien über diese Gegenstände beitragen. Ein Beispiel ist die Erforschung der Sprachproduktion. Auf welche Weise ein gesprochener Satz hervorgebracht wird, lässt sich allein aus der Kenntnis fehlerfreien
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Sprechens nur schwer feststellen, denn es sind zunächst viele verschiedene Modelle denkbar, zwischen denen sich kaum entscheiden lässt. Hier hilft eine bestimmte Art von Fehlern weiter, nämlich Versprecher. Mit der Analyse solcher «sprachlicher Fehlleistungen» beschäftigt sich seit einigen Jahrzehnten erfolgreich eine eigene sprachwissenschaftliche Disziplin – die Versprecherforschung. Sie sieht Versprecher als wertvolle sprachliche Daten an, die auf keinem anderen Weg zu erhalten sind und versucht nicht nur, Versprecher zu dokumentieren, zu klassifizieren und Ursachen für Versprecher zu finden, sondern vor allem, aufgrund der Versprecherdaten existierende Theorien der normalen Sprachproduktion zu prüfen, zu verfeinern oder sogar eigenständige neue Modelle zu entwerfen (vgl. Fromkin 1973). Auch Genetik und Molekularbiologie stützen sich ganz wesentlich auf die Analyse von Fehlern bei der Weitergabe und Umsetzung genetischer Information: Eine der grundlegenden genetischen Strategien der Genetik, um die Bestandteile eines Prozesses zu bestimmen, sei es die Biosynthese einer Aminosäure wie Histidin oder Paarungsfähigkeit von Hefe, besteht darin, Mutanten zu isolieren, die einen Defekt in diesem Prozeß aufweisen und dann herauszufinden, was die Gene des Wildtyps [also der normalen, unbeschädigten Variante] tun (Brenner et al. 1990). Die Leitfrage lautete: Lässt sich aus dem Vorgehen in unterschiedlichen Disziplinen, unterschiedlichen Forschungsgegenständen und unterschiedlichen Erkenntnisinteressen eine gemeinsame Methodologie der Fehleranalyse herausarbeiten? Das Ergebnis der Untersuchung ist ein Beitrag zur vergleichenden Wissenschaftstheorie, und zeigt, dass der Topos „Vom Fehler zur Theorie“ tatsächlich eine eigenständige Methodenfamilie umreißt, die über Disziplingrenzen hinweg eine im Wesentlichen übereinstimmende Struktur hat. Sie kann in vielen Fällen erfolgreich zur Aufklärung von Mechanismen in komplexen Systemen eingesetzt werden und ist insbesondere dann nützlich, wenn bloße Beobachtungen zu wenig Information liefern, Experimente aber nicht oder nur eingeschränkt durchführbar sind. Sie ist dabei aber von bestimmten Voraussetzungen (beispielsweise modularem Aufbau der Untersuchungsgegenstände) abhängig. Obgleich einzelwissenschaftlich kaum als Methode reflektiert, lassen sich die Forschungsprozesse in ein disziplinübergreifend geltendes methodisches Muster einordnen, das sich als Spezialfall von Systemanalyse oder Kausalanalyse rekonstruieren lässt. Dieses methodische Prinzip ist erstmals analysiert worden. Es ist deutlich zu unterscheiden vom Prinzip „Lernen aus Versuch und Irrtum“, das unter anderem in Karl Poppers Wissenschaftstheorie eine zentrale Rolle einnimmt: Denn dort sind nicht Fehler in oder an den Untersuchungsgegenständen relevant, sondern Fehler in den Hypothesen oder Theorien, die es zu erkennen und zu beheben gilt. Nachfolgend wird dargestellt, wo die Kongruenzen und Differenzen einer solchen vergleichenden wissenschaftstheoretischen Studie im Verhältnis zu interdisziplinärem Vorgehen liegen. Gemeinsam mit der exemplarischen Darstellung der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ als Beispiel für eine fachübergreifende wissenschaftstheoretische Untersuchung sollen die Probleme, die speziell bei diesem Typ wissenschaftstheoreti-
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scher Arbeit auftreten, diskutiert und mit den Prozessen und Problemen interdisziplinären Arbeitens verglichen werden, wie sie von Klein (1990) und Newell (2001) exemplarisch herausgearbeitet wurden. Als Analyseraster für diesen Vergleich dient ein allgemeines Modell vergleichendintegrierenden Arbeitens, das zwei Phasen, erstens Fallstudien und zweitens Vergleich, Synthese und Integration, unterscheidet.
4.2. Analyse disziplinärer Einsichten Problemfindung und Problemdefinition Am Beginn jeder Untersuchung steht die Problemwahrnehmung und Problemfindung, also die Erkenntnis, dass ein Problem oder etwas Untersuchenswertes vorliegt und die Problemdefinition, also die vorläufige Eingrenzung. Die Probleme einer vergleichenden Wissenschaftstheorie betreffen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Begriffen, Methoden oder Theoriestrukturen unterschiedlicher Wissenschaften. Ausgangspunkt für die Studie „Vom Fehler zur Theorie“ war die Beobachtung, dass in ganz unterschiedlichen Disziplinen sporadisch und unsystematisch die Einsicht geäußert wird, man gewinne in bestimmten Fällen aus der Analyse von Fehlern an oder in Objekten Einsicht in das normale Funktionieren dieser Objekte. Diese Zusammenschau legte den Verdacht nahe, hier liege ein relevantes und im Grunde einheitliches methodisches Leitmotiv vor, das möglicherweise auch noch in vielen weiteren Disziplinen fruchtbar gemacht werden könnte. Damit ergibt sich eine klassische Aufgabe der Wissenschaftstheorie, nämlich einen Beitrag zur Methodenlehre von Wissenschaft zu leisten. Trotz aller Ähnlichkeiten unterscheidet sich ein metawissenschaftlich-wissenschaftstheoretisches Forschungsproblem wie beim Vergleich und der Integration von Methoden in der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ von interdisziplinärer Forschung: Der erwartete Nutzen besteht nicht in der Lösung eines konkreten Problems, sondern in der Aufklärung einer zusätzlichen Methode.
Abgrenzungen und Definitionen Die Auswahl einzelner Disziplinen für wissenschaftstheoretische Vergleiche orientiert sich an deren begrifflichen, methodischen oder theoriestrukturellen Kennzeichen. So bestimmt sich bei der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ die Relevanz einer Disziplin oder eines Feldes danach, ob sie Fehler als Mittel zum Erkenntnisgewinn nutzt. Eine erste Übersicht ergab, dass dies zumindest für Teile von Biologie, Medizin, Psychologie, Linguistik und Technik zutrifft. Sie zeigt weiter, dass die Auswertung von Fehlern besonders in jenen Bereichen gängig ist, wo es um die Untersuchung komplexer Systeme geht, deren Strukturen auf andere Weise nur schwer zugänglich sind. Manche Dis-
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ziplinen oder Fragestellungen sind sogar fast vollständig auf die Analyse von Fehlern angewiesen, etwa Versprecherforschung (vgl. Fromkin 1973; Wiedenmann 1992) oder kognitive Neuropsychologie (vgl. Ellis / Young 1996). Das Phänomen „Fehler“ umfasst ein weites Feld, von Folgen physischer Zerstörung von Systemteilen bis zu „funktionalen“ Störungen bei physisch unbeschädigten Systemen. All diese Erscheinungen werden mit durchaus unterschiedlichen Termini bezeichnet, deren Klärung notwendig ist. Die nähere Bestimmung des Begriffs „Fehler“ war auch deshalb essentiell, weil die Frage, ob eine Erscheinung sinnvoll als „Fehler“ bezeichnet werden kann, mit entscheidet, ob eine Disziplin oder ein Feld für diese Studie relevant ist. Daher wurden die Wortfelder „Fehler“ und „normal“ analysiert und als zentraler Bezugspunkt zwei von der Biologie herausgearbeitete Definitionen für „Funktion“ und, daraus abgeleitet, „Fehlfunktion“ gewählt. Die engere dieser Funktionsdefinitionen setzt Darwinsche Evolution voraus und identifiziert ein Merkmal genau dann als Funktion, wenn sich dessen Entstehung und Erhaltung durch natürliche Selektion aufgrund nützlicher Effekte für den Organismus belegen lässt – Funktionen sind demnach „selektierte Effekte“. Die weiter gefasste Definition bestimmt Funktion als Beitrag eines Subsystems zu Prozessen in einem umfassenderen System. Diese breitere Definition erwies sich als praktikable allgemeine Bestimmung, auch in Bezug auf die Auswahl relevanter Disziplinen für die Studie „Vom Fehler zur Theorie“. Voraussetzung für den Gewinn von Erkenntnissen aus den Fehlern eines untersuchten Systems ist also, dass das System überhaupt irgendeine Funktion, eine Leistung, ein Ziel oder einen Zweck aufweist. Insofern sind hier überraschenderweise begriffliche Fragen eng mit der Bestimmung der relevanten Disziplinen gekoppelt. Eine weitere Voraussetzung ist, dass man Leistung und Fehlleistung, Funktion und Versagen miteinander vergleichen kann, also in der Lage ist, sowohl den intakten Zustand des Systems als auch unterschiedliche Zustände der Beeinträchtigung oder des Ausfalls zu untersuchen und gegenüberzustellen. Diese Überlegungen geben Anhaltspunkte für die Suche nach weiteren relevanten Disziplinen. Erschwert wird diese Suche zum einen dadurch, dass die methodische Nutzung von Fehlern in den einzelnen Disziplinen für den Wissenschaftstheoretiker nicht immer offensichtlich ist, zum anderen dadurch, dass die mit Fehlern arbeitenden Disziplinen diese Tatsache keineswegs immer reflektieren oder diskutieren. Es ist sehr uneinheitlich, wie – und ob überhaupt – methodische Probleme der Fehleranalyse als Problem wahrgenommen und thematisiert werden. Daher war eine breit angelegte Suche nötig, die Disziplinen auch bei schwachen Indizien für eine Thematisierung des Phänomens „Fehler“ zunächst einbezog, um dann erst im nächsten Schritt diejenigen auszuschließen, die Fehler nicht auf methodische Weise nutzen. Beim interdisziplinären Arbeiten orientiert sich die Identifizierung relevanter Disziplinen zwar eher an den Merkmalen konkreter empirischer Probleme, aber auch dort muss zunächst einmal der Bedarf an Wissen bestimmt werden. Dazu zählen die Bestimmung der Disziplinen von Belang und daran anschließend die Eingrenzung relevanter Forschungstraditionen und -schwerpunkte sowie die Identifizierung einschlägiger Ergebnisse, Modelle, und Theorien. Auch für interdisziplinäres Arbeiten werden diese
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Suchprozesse als teilweise schwierig und umwegbehaftet beschrieben (vgl. Klein 1990, S. 188).
Methoden Jede wissenschaftliche Untersuchung sollte Auskunft über die verwendeten Methoden geben können. Die Studie „Vom Fehler zur Theorie“ verwendet primär philosophischwissenschaftstheoretische Methoden: unter anderem logische Analyse von Begriffen und die rationale Rekonstruktion von Methoden. Interdisziplinarität scheint dagegen von einem Methodenpluralismus gekennzeichnet, bei dem je nach Problemlage auf unterschiedliche Methoden zurückgegriffen wird. Die vorliegenden theoretischen Reflexionen interdisziplinärer Arbeit geben dazu im Allgemeinen keine Regeln vor und nennen noch nicht einmal bestimmte Trends oder Muster der Methodenwahl. Während also die Wissenschaftstheorie im Wesentlichen auf ihre angestammten Methoden zurückgreift, wird im Bereich interdisziplinären Arbeitens in weit höherem Maße ein eklektischer Methodenpluralismus akzeptiert.
Hypothese und Fragestellung Die ersten Ergebnisse der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ motivierten die Leithypothese: „Das methodische Motiv ,Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand‘ wird in vielen Disziplinen erfolgreich eingesetzt, und ihm liegt eine einheitliche, zumindest aber familienähnliche methodische Struktur zugrunde.“ Daraus leiteten sich Forschungsfragen ab wie: In welchen Disziplinen wird dieses Motiv eingesetzt? Wie verbreitet ist es innerhalb einzelner Disziplinen? Und wie verbreitet ist es insgesamt? Von welchen Voraussetzungen hängt es ab? Wie einheitlich sind die Methoden, die sich auf Fehler beziehen? Wie sieht die Logik der Methode aus? Ist eine Formalisierung möglich? Gibt es neben Gründen für ihre Verwendung auch Argumente dagegen, etwa Unsicherheit, Relevanz nur für einzelne Teile des gesamten Forschungsprozesses oder Abhängigkeit von nicht überall gegebenen Voraussetzungen? Bietet die Methode ungenutzte Möglichkeiten: Ist sie in Disziplinen, wo sie schon verwendet wird, noch nicht „ausgereizt“, oder gibt es Disziplinen, die sie nicht verwenden, aber verwenden könnten? Interdisziplinäre Studien gehen nicht unbedingt von Anfang an von einer Hypothese aus, aber auch bei eher explorativ angelegten Untersuchungen geht es zunächst um die Entwicklung eines einheitlichen Rahmens und geeigneter Forschungsfragen sowie die Bestimmung, welche spezifischen Untersuchungen durchgeführt werden sollten (vgl. Klein 1990, S. 189). Das schließt nicht aus, dass auch interdisziplinäre Studien von Anfang an hypothesengeleitet sein können, und ebenso sind wissenschaftstheoretische Arbeiten vorstellbar, die eher explorativ angelegt sind.
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Datenerhebung und Fallstudien Vergleichend-wissenschaftstheoretisches und interdisziplinäres Arbeiten läuft hinsichtlich eines zentralen Problems, der Erarbeitung disziplinären Wissens, zum großen Teil ähnlich ab: In beiden Fällen gilt es – zwischen den Mitgliedern einer interdisziplinären Arbeitsgruppe genauso wie bei interdisziplinären Eine-Person-Unternehmen – ein Verständnis verschiedener Disziplinen zu erwerben, welches es ermöglicht, eine Analyse des Problems in Relation zu den unterschiedlichen Disziplinen vornehmen zu können. Dazu zählt, erstens, die Erarbeitung eines grundlegenden Verständnisses der Konzepte, Theorien und Methoden der relevanten Disziplinen; zweitens ein vertieftes Studium der problemrelevanten Bereiche der beteiligten Disziplinen; drittens die Identifikation von innerdisziplinären und disziplinübergreifenden Lücken und Desideraten der Forschung; viertens ein Verständnis der Problemsicht der einzelnen Disziplinen und fünftens eine Übersicht der einzeldisziplinären Problemlösungsangebote. Zu den einzelnen Punkten im Folgenden etwas ausführlicher: Zunächst geht es bei metawissenschaftlich-vergleichenden wie bei interdisziplinären Untersuchungen darum, ein grundlegendes Verständnis aller beteiligten Disziplinen zu erarbeiten. Dies ist einer der aufwendigsten Schritte, bei dem sich in der Regel alle Beteiligten umfangreiches disziplinäres Wissen aneignen müssen – das ist gerade, was meta-, inter- oder transdisziplinäre Integration gegenüber multidisziplinärem Nebeneinander auszeichnet (oder jedenfalls auszeichnen sollte). Über das Studium der einschlägigen Literatur hinaus ist dazu der Kontakt zu und der Austausch mit Experten aller beteiligten Disziplinen hilfreich; optimal sind interdisziplinäre oder metawissenschaftliche Arbeitsgruppen, deren Mitglieder bereits in mehr als einer Disziplin qualifiziert sind. Solche Kontakte tragen auch dazu bei, die Relevanz, Gültigkeit und Aktualität von Begriffen, Ansätzen, Daten, Ergebnissen und Interpretationen zutreffend zu beurteilen. Vor dieser Schwierigkeit, bei der „Entlehnung“ von Informationen aus anderen Disziplinen Fehlinterpretationen zu vermeiden, stehen auch alle Arten von interdisziplinärer Arbeit, und dies wird als eines der vorrangigen Probleme angesehen (vgl. Klein 1990, S. 85–94). Dazu zählen etwa Verfälschungen und Missverständnisse bei entlehntem Stoff; Verwendung von veralteten oder aus dem Kontext gerissenen Daten, Methoden, Begriffen und Theorien; die fälschliche Annahme vorläufiger disziplinärer Ergebnisse als gesichertes Wissen oder blindes Vertrauen in einzelne Sichtweisen und eine Neigung, widersprüchliche Belege nicht ernst zu nehmen (Klein 1990, S. 88). Über das grundlegende Verständnis der beteiligten Disziplinen hinaus muss weiter ein vertieftes Wissen der für das Problem relevanten Teilbereiche erworben werden. Bei der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ war es beispielsweise zentral, die relevanten Methoden, Begriffe und Theorien derjenigen Teildisziplinen oder Forschungsfelder genauer zu analysieren, die sich des methodischen Ansatzes „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“ bedienten. Darüber hinaus musste zumindest ein Überblick über die Beziehungen dieser Bereiche zu den übrigen Teilbereichen der Disziplin erreicht werden. Ziel war es, Eignung, Effizienz und Erfolg fehlerbasierter Methoden in den jeweiligen Disziplinen zutreffend beurteilen zu können und zu klären, welche Rolle
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Methoden der Fehleranalyse jeweils im Verhältnis zum übrigen Methodenarsenal spielen. Als dritter Aspekt interdisziplinärer und metadisziplinärer Arbeit ist die Identifikation von Wissenslücken und Forschungsdesideraten zu nennen, und zwar in innerdisziplinärer wie in disziplinübergreifender Hinsicht. Hier wird der iterative Charakter des Vorgehens besonders deutlich: Auch nachdem eine Disziplin als relevant identifiziert wurde und die Grundzüge ihres Umgangs mit Fehlern und deren Nutzung zum Erkenntnisgewinn bestimmt sind, bleiben noch viele Details zu klären. Manche Probleme sind jetzt klarer konturiert und man muss weiter forschen, auf welche Weise genau eine Disziplin arbeitet; zum Teil findet man auch heraus, dass eigentlich erst noch disziplinäre Forschung zu leisten wäre, um ein bestimmtes Problem zu klären. So werden keineswegs in allen Disziplinen, die Fehler nutzen, diese Fehler und der Umgang mit ihnen reflektiert, diskutiert oder methodologisch bearbeitet. Gelegentlich erweisen sich auch ganz andere Teile einer Disziplin als die erwarteten als relevant. So stellte sich ein als „Fehlerforschung“ bezeichnetes Feld der Psychologie letztlich als gänzlich unergiebig heraus (vgl. Ohrmann / Wehner 1989), dafür aber zeigte sich die kognitive Neuropsychologie als relevant und sogar methodisch ausgesprochen reflektiert (vgl. Caramazza 1988; Glymour 1994). Bei anderen Fragen kommt bereits ein vergleichendes Element hinzu: Wenn etwa man Lücken oder offene Fragen in einer Disziplin identifiziert hat, lohnt es sich, die anderen daraufhin abzuklopfen, ob sie diese Fragen auch stellen und gegebenenfalls beantworten. (Ein Beispiel: Die gelegentlich innerhalb einer Disziplin anzutreffende Kritik oder Skepsis bezüglich der eigenen an Fehlern orientierten Methoden.) Zum Teil ergeben sich auch Fragen und Probleme, bei denen nicht zu erwarten ist, dass sie von Seiten der einzelnen Disziplinen geklärt würden oder werden können. Aber das wäre in einer interdisziplinären Untersuchung eher überraschend als in einer wissenschaftstheoretisch-metadisziplinär-vergleichenden Studie, wo bereits die Ausgangs-Fragestellung klar über disziplinäre Grenzen hinausweist. Insgesamt muss also sowohl bei inter- als auch bei metadisziplinären Studien die Sicht der einzelnen Disziplinen auf das disziplinübergreifende Problem im Detail analysiert werden, und die für dieses Problem relevanten einzeldisziplinären Erkenntnisse müssen systematisch zusammengestellt werden. Insofern lassen sich hier erhebliche methodische Ähnlichkeiten konstatieren.
4.3. Vergleich, Synthese und Integration In einer zweiten Phase werden die disziplinären Ergebnisse systematisch verglichen, und es wird eine Synthese und Integration der unterschiedlichen Ansätze angestrebt. In der vergleichenden Wissenschaftstheorie wird untersucht, ob und wie sich einzelwissenschaftliche Methoden in ein umfassenderes Verständnis der verwendeten Methodologie integrieren lassen. Für interdisziplinäres Arbeiten wird diese Phase als „Schaffung von Metaperspektiven, um Information zu organisieren und Konflikte zu synthetisieren“ (Hursh et al. 1983, S. 53) oder als „Integrieren individueller Bruchstücke, um ein Mus-
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ter gegenseitiger Verwandtschaft und Relevanz zu bestimmen“ (Klein 1990, S. 189) beschrieben.
Vergleich von Begriffen, Annahmen und Methoden Bei der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ wurde zunächst betrachtet, welche Diskrepanzen zwischen den Positionen und Einsichten der einzelnen Disziplinen bezüglich der Methoden der Analyse von Fehlern bestehen: Solche Unterschiede betreffen erstens den jeweiligen Fehlerbegriff, zweitens die Annahmen und Voraussetzungen und drittens die Rolle und Bewertung der Methode „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“ innerhalb der einzelnen Disziplinen. Solche Diskrepanzen können erhellend sein, weil sie die wechselseitige Kritik von Begriffen, Annahmen, Voraussetzungen und methodischen Beurteilungen erlauben und zum Teil erst ermöglichen. Bereits im früheren Verlauf der Untersuchung hatte es sich als notwendig erwiesen – allein schon um den Kreis derjenigen Disziplinen abzugrenzen, bei denen man berechtigterweise von Fehlern und daher auch von einer an Fehlern orientierter Methodologie sprechen kann – den Begriff „Fehler“, aber auch den Begriff „Funktion“ einschließlich zugehöriger Wortfelder und verwandter Bezeichnungen im Detail zu untersuchen. Hat man den Kreis der relevanten Disziplinen erst einmal eingegrenzt, so muss man noch einmal genauer die jeweiligen Fehlerbegriffe vergleichen. Annahmen können oft erst im Vergleich aufgedeckt und kritisiert werden: Innerhalb einer Disziplin werden Annahmen und Voraussetzungen häufig nicht als solche wahrgenommen. Sie können am ehesten identifiziert und kritisiert werden, wenn man sie zwischen den Disziplinen vergleicht. Der Vergleich zeigt, dass es in den verschiedenen Disziplinen eine Reihe von Voraussetzungen und Annahmen gibt, die für die Anwendung der Methode „Vom Fehler zur Theorie“ als notwendig erachtet werden. In manchen Disziplinen werden solche Annahmen explizit formuliert: In der kognitiven Neuropsychologie etwa artikuliert die „Transparenzannahme“ die Erwartung, dass fehlerbasierte Methoden grundsätzlich erfolgreich angewendet werden können, und die Annahmen der „Modularität“, „Zerlegbarkeit“ und „Subtraktivität“ formulieren die Mutmaßung, dass die untersuchten Systeme modular aufgebaut sind, und dass Teilsysteme und ihre Funktionen separat von anderen ausfallen beziehungsweise bei Ausfall aller anderen auch separat intakt bleiben können. Mit Hilfe solcher expliziten Annahmen lassen sich dann auch die impliziten Voraussetzungen anderer Disziplinen leichter herausarbeiten. Auch hinsichtlich der methodischen Beurteilungen unterscheiden sich Disziplinen. Manche Stimmen sind optimistisch, andere sind skeptisch bezüglich der Möglichkeiten der Methode „Vom Fehler im Gegenstand zur Theorie über den Gegenstand“ oder sogar ablehnend gegenüber Forschungsansätzen in der eigenen Disziplin, die sich auf diese Methode stützen. Oft wird dabei auf Schwierigkeiten verwiesen, die bereits bei einfachen, alltäglichen Systemen auftreten, etwa nach dem Muster, man lerne doch nicht, wie ein Radio funktioniert, nur indem man es kaputt mache (vgl. Gregory 1981, S. 85). Entsprechend wird auch für interdisziplinäres Arbeiten gefordert, man müsse Diskrepanzen und Konflikte identifizieren und bewerten. Besonders wichtig seien das Zu-
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sammentragen aller Beiträge und die Bewertung ihrer Angemessenheit und Relevanz und ihrer Anpassungsfähigkeit (vgl. Klein 1990, S. 189). Außerdem müsse man Konflikte in der Menge der gesammelten Erkenntnisse identifizieren, etwa, indem man Annahmen und Ergebnisse einer Disziplin heranzieht, um die impliziten Annahmen anderer Disziplinen präziser erfassen zu können, oder indem man versucht, unterschiedliche Bezeichnungen mit übereinstimmenden Bedeutungen bzw. gleichartige Bezeichnungen mit unterschiedlichen Bedeutungen zu erkennen (vgl. Newell 2001, S. 15). Dieser Schritt dient auch dazu, einen Kernbestand an Ergebnissen zu identifizieren, die untereinander möglichst geringe Widersprüche oder Dissonanzen aufweisen. Vergleichende Wissenschaftstheorie und interdisziplinäres Arbeiten weisen also auch beim Vergleich von Begriffen, Annahmen und Methoden, bei der Ermittlung von Unterschieden und Widersprüchen und bei der Bemühung um Vereinbarkeit deutliche methodische Ähnlichkeiten auf.
Synthese und Erarbeitung einer gemeinsamen Plattform Der nächste Schritt strebt eine disziplinübergreifende Synthese an. Die Frage, welche Verfahren dafür erforderlich sind, ist häufig als rätselhaft oder unzugänglich angesehen worden: „[…]wir treten in den Teil des interdisziplinären Prozesses ein, der immer eine Art Mysterium gewesen ist, nämlich Integration“ (Newell 2001, S. 18). Eine Möglichkeit besteht darin, aus dem Vergleich heraus durch Suche nach Übereinstimmungen gemeinsame Grundlagen zu identifizieren. Unter Umständen stellt sich auch heraus, dass bestimmte Disziplinen oder Forschungsrichtungen sich gegenüber anderen als beispielhaft auszeichnen und daher den Charakter von Leitwissenschaften annehmen. Das kann unter anderem eintreten, wenn eine Disziplin theoretisch oder empirisch, insbesondere experimentell, weiter entwickelt ist als andere oder dazu beiträgt, andere Disziplinen zu strukturieren, ihr Gefüge zu verstehen, zu vereinfachen, zu vervollständigen oder zu erklären (vgl. auch Klein 1990, S. 85). Bei der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ zeigte sich, dass die Mehrzahl der betrachteten Disziplinen und Forschungsrichtungen – explizit oder implizit – die Aufklärung von Mechanismen anstrebt. Das führte erstens dazu, von denjenigen Disziplinen auszugehen, die darin effizient sind oder ihre Methoden gut artikulieren und zweitens, diejenigen wissenschaftstheoretisch ausgearbeiteten Methodologien heranzuziehen, die sich mit Verfahren zur Aufklärung von Mechanismen befassen: Dazu zählen klassische Methodologien, etwa von John Stuart Mill oder Claude Bernard ebenso wie moderne aus den Bereichen Biologie, Psychologie und Medizin sowie Verfahren der Systemanalyse, der Kausalanalyse und der Analyse von Mechanismen – auch wenn keine dieser Methodologien „Fehler“ zuvor explizit thematisiert hatte. Die Unterschiedsmethode von John Stuart Mill besagt, dass, wenn eine Situation, in der das untersuchte Phänomen auftritt, und eine andere Situation, in der das untersuchte Phänomen nicht auftritt, bis auf einen einzigen Unterschied völlig gleich sind, dieser Unterschied die Wirkung, die Ursache oder ein notwendiger Teil der Ursache des Phänomens ist. Viele Verfahren aus der Methodenfamilie „Vom Fehler zur Theorie“ beru-
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hen auf der Unterschiedsmethode, wobei ein Fehler ein ausbleibendes oder verändertes Phänomen darstellt und der Unterschied zwischen den Situationen entweder bekannt ist oder, häufiger, erst bestimmt werden muss. Auch bestimmte moderne Methoden aus Biologie und Medizin sind fehlerbasierten Methoden strukturell ähnlich. Bei der Strategie des „Zerlegens und Lokalisierens“ lassen sich bei inhibitorischen oder exzitatorischen Studien enge Parallelen zu „Vom Fehler zur Theorie“ erkennen (vgl. Bechtel / Richardson 1993). Die Strategie des „vergleichenden Experimentierens“ entwickelt Claude Bernards Methoden weiter: Ablations-, Ausfalls- und Störungsexperimente sind hier entscheidende Hilfsmittel, die enge Bezüge zu fehlerorientierten Methoden aufweisen. Die „reiterierte Methode des vergleichenden Experimentierens“ ist darüber hinaus zur Identifizierung redundanter, also in höherem Grade fehlerresistenter Strukturen geeignet (vgl. Schaffner 1993, S. 151). Unter den formalisierten Methoden erscheint zum einen die naturwissenschaftliche Systemtheorie fruchtbar. Eines der elementarsten Verfahren der Systemanalyse, die „Aufschneidung“, ist die probeweise Inaktivierung eines Wirkungszusammenhangs an geeigneter Stelle in einer Systemstruktur: Viele spontan auftretende oder experimentell herbeigeführte Fehler kann man als Konsequenzen solcher Aufschneidungen deuten und studieren. Homöostatische, selbstregulierende Systeme lassen sich sogar nur durch Aufschneidung oder entsprechende Fehler entdecken oder als solche erkennen. Daneben erhält man auch eine Antwort auf die Frage, welches die simpelsten Systeme sind, die überhaupt Fehler zeigen können: Laut Systemtheorie sind dies die einfachsten selbstregulierenden Systeme. Schließlich betont die Systemtheorie, dass sich die Qualität eines Modells nicht nur danach bemisst, ob es dieselben Leistungen wie das Vorbild erbringt, sondern auch, ob es die gleichen Fehler hervorbringt (vgl. Bischof 1995, S. 366). Zum anderen bietet sich ein Vergleich mit formalisierten Verfahren der Kausalanalyse an. Hier wird beispielsweise die Mill’sche Differenzmethode – die ja das Gerüst für zahlreiche fehlerbasierte Methoden darstellt – formalisiert, die für ihren Einsatz erforderlichen Annahmen präzisiert und aufgezeigt, dass ihre Zuverlässigkeit entscheidend vom Zutreffen einer Homogenitätsbedingung abhängt (vgl. Cartwright 1983, S. 26). Diese Bedingung stimmt exakt mit der in weiten Teilen fehlerorientierter Forschung theoretisch postulierten und praktisch zugrunde gelegten Subtraktivitätsannahme überein. Insgesamt zeigt sich, dass sich die Methodenfamilie „Vom Fehler zur Theorie“ zu großen Teilen als Spezialfall von Verfahren zur Aufklärung kausaler Mechanismen in komplexen Systemen rekonstruieren lässt. Die Synthese und Integration einer Vielzahl einzelner Fallstudien wird durch die Möglichkeit, ein einheitliches Vokabular und formalisierte Methoden zugrunde zu legen, wesentlich erleichtert. Im Vergleich stellt man fest, dass das geschilderte Vorgehen gerade der von Theoretikern der Interdisziplinarität postulierten „Schaffung von Metaperspektiven, um Information zu organisieren und Konflikte zu synthetisieren“ (Hursh et al. 1983, S. 53), dem „Integrieren individueller Bruchstücke, um ein Muster gegenseitiger Verwandtschaft und Relevanz zu bestimmen“ (Klein 1990, S. 189) und dem „neuen Problemverständnis“ und der „gemeinsamen Plattform“ (Newell 2001, S. 15) entspricht.
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Erstellung eines integrierten Modells Wesentliche Aufgabe der Studie „Vom Fehler zur Theorie“ war zudem, ein strukturiertes Modell der Methode des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns durch Analyse von Fehlern zu entwerfen, welches das neue Verständnis abbildet. Fehler werden an vielen Stellen und in vielen Stadien der Forschung genutzt. Will man sie ordnen, so bietet es sich an, dabei den Schritten der Forschung zu folgen. Systematische Aufzählungen solcher Schritte sind allerdings kaum zu finden. Da aber Fehler in so vielen Stadien in der Forschung genutzt werden, erhält man mit ihrer Hilfe schon von selbst eine Prozessbeschreibung wissenschaftlichen Vorgehens bei der Analyse komplexer Systeme: (a) Auffinden eines interessanten Gegenstandes (oder Problems); (b) Abgrenzen des Gegenstandes; (c) Untersuchung der materiellen Struktur des Gegenstandes; (d) Bestimmung der Funktion oder Leistung des Gegenstandes; (e) Charakterisierung der Beziehungen zur Umgebung und der relevanten Einund Ausgänge des Gegenstandes; (f) Qualitative und quantitative Bestimmung der Eingabe-Ausgabe-Relationen oder der Reiz-Reaktions-Zusammenhänge und damit Erstellung eines phänomenologischen Modells; (g) Bestimmung interner Zustände und Komponenten des Systems; (h) Systemanalyse, Funktionalanalyse, Kausalanalyse, „Aufklärung des Wirkungsgefüges“; (i) physisches Lokalisieren von Funktionen innerhalb des Gegenstandes; (j) Angabe der Mechanismen des Gegenstandes sowie (k) Nachbau des Systems. Die Stärken der am Prinzip „Vom Fehler zur Theorie“ orientierten Verfahren liegen besonders im Auffinden von Problemen (a), beim Bestimmen von Funktionen (d) und relevanten Ein- und Ausgängen (e), bei der Beschreibung von Eingabe-AusgabeBeziehungen (f), beim Charakterisieren innerer Zustände (g), bei Funktionalanalysen (h) und bei der Lokalisierung von Funktionen (i). Ihre Schwächen bestehen darin, dass sie nicht voraussetzungslos einsetzbar sind und häufig der Ergänzung durch andere Verfahren bedürfen, etwa gezielte experimentelle Manipulationen. Die Methodenfamilie „Vom Fehler zur Theorie“ lässt sich damit in eine allgemeine Struktur wissenschaftlichen Vorgehens einordnen, und es lassen sich ihre Beiträge, ihre Leistungsfähigkeit, ihre Stärken und Schwächen im Vergleich präzisieren. Für interdisziplinäres Arbeiten wird die Erstellung eines integrierten Modells gefordert, das die von verschiedenen Disziplinen untersuchten Komponenten eines Phänomens in einen geordneten Zusammenhang bringt, aus deren Zusammenspiel resultierende emergente Effekte berücksichtigt und Vorhersagen und Problemlösungen ermöglicht (Newell 2001, S. 21). Vergleichend-wissenschaftstheoretische wie interdisziplinäre Modellbildung zielt also auf das Erreichen eines wissenschaftlichen Mehrwerts, der sich aus dem integrierten Zugriff auf eine bestimmte Problemstellung ergibt.
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Prüfung und Bewertung Am Ende jeder Untersuchung muss die Prüfung und Bewertung der Ergebnisse stehen. Wissenschaftstheoretische Ergebnisse sind gewöhnlich nicht direkt empirisch prüfbar. Über rationale Rekonstruktion hinaus, welche etwa die wissenschaftslogische Struktur und prinzipielle Funktionsfähigkeit einer Methode herausarbeitet, kann man ihnen nur eine stellvertretende Prüfbarkeit zuschreiben (vgl. Kanitscheider 1984, S. 79), indem ihre Ergebnisse, etwa Behauptungen über die Eignung von Methoden, auf dem Umweg über deren erfolgreiche Anwendung bei der Lösung neuer empirischer Probleme Widerlegung oder Stützung erfahren. Insofern wären die neu gewonnenen Einsichten weiter zu prüfen, etwa indem man versucht, die Methode „Vom Fehler zur Theorie“ auf geeignete, bisher (damit) unbearbeitete, vielleicht sogar bisher ungelöste Probleme anzuwenden und dabei Erfolg oder Misserfolg zu studieren. Vorschläge bezüglich empirischer Probleme, die geeignet sein sollten, mit dieser Methode bearbeitet zu werden, kann die Studie „Vom Fehler zur Theorie“ unterbreiten, die Anwendung muss sie jedoch den einzelnen Disziplinen überlassen. Auch für interdisziplinäres Arbeiten steht am Abschluss eine Prüfung des neugewonnenen Problemverständnisses, etwa durch Versuch der Lösung des – empirischen – Ausgangsproblems und eine Entscheidung über Abschluss oder Weiterführung des Projekts (vgl. Klein 1990, S. 189).
4.4. Charakteristische Probleme Im Rückblick lassen sich einige Erfahrungen und Einsichten festhalten und zusammenfassen: Erstens geht ein Projekt wie „Vom Fehler zur Theorie“ an die Grenze dessen, was eine einzelne Person in der Wissenschaftstheorie leisten kann. Von der Bewältigung der Stofffülle her wäre es leichter gewesen, wenn mehrere Forscher an diesem Projekt gearbeitet hätten; allerdings wären daraus auch Probleme der Verständigung und Koordination erwachsen. Zweitens stolperte die Arbeit an diesem Projekt immer wieder über die Vielfalt wissenschaftlicher Ansätze, Begriffssysteme und Methoden: An vielen Stellen mussten Verständigungs- und Übersetzungsprobleme zwischen Disziplinen und Forschungsrichtungen gelöst werden. Bedingt ist dies durch unterschiedliche Forschungszusammenhänge, aber auch die unterschiedlichen Reichweiten des Erkenntnisinteresses in den verschiedenen Disziplinen. Drittens fällt auf, wie wenig es offenbar in der Regel Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler innerhalb einer Disziplin interessiert, was mit dem eigenen Wissen, auch dem methodischen Wissen, außerhalb der eigenen Disziplin geschieht. Umgekehrt wird auch meist kein Anlass gesehen, Lösungen für auftretende Methodenprobleme außerhalb der eigenen Disziplin zu suchen. Das alles erschwert die Arbeit, demonstriert aber auch, wie nötig und fruchtbar vergleichend-wissenschaftstheoretische Studien sind. In allen drei Punkten besteht im Übrigen Übereinstimmung mit denjenigen Problemen und Kommunikationsdefiziten, die bei interdisziplinärem Arbeiten regelmäßig als Stolpersteine beschrieben werden.
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5. Wissenschaftstheorie und Interdisziplinarität: Unterschätzte Partner Wissenschaftstheorie – insbesondere in der geschilderten vergleichenden Form, die beträchtliche Parallelen zu interdisziplinärer Forschung aufweist – ist für einzelne Wissenschaften, für die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaften und für „die Wissenschaft“ als Ganze relevant und hilfreich. Sie kann mit Mitteln des interdisziplinären Vergleichs, der rationalen Rekonstruktion und der kritischen Revision sowohl zu intradisziplinärer Klärung von Fragen zu Methoden, Begriffen und Voraussetzungen und damit auch zur Lösung praktischer methodischer Probleme als auch zu einem besseren theoretischen Verständnis der methodischen Vorgehensweise der Wissenschaft insgesamt beitragen. Daher kann sie potentiell auch Türen zur interdisziplinären Zusammenarbeit öffnen, indem gezeigt wird, inwieweit Begriffe, Voraussetzungen und Methoden oder methodische Grundgedanken entweder kompatibel sind oder wie Kompatibilität hergestellt werden kann. Wissenschaftstheorie als Spezialistin für begriffliche, methodische und theoriestrukturelle Fragen kann Interdisziplinarität erleichtern und fördern. An verschiedenen Stellen wird mittlerweile zur Kenntnis genommen, dass die begrifflichen und methodischen Herausforderungen interdisziplinären Arbeitens sinnvoll nur mit philosophischen und wissenschaftstheoretischen Mitteln bearbeitet werden können (vgl. Eigenbrode et al. 2007). Es wird sogar empfohlen, Spezialisten für Methodologie in interdisziplinäre Arbeitszusammenhänge einzubeziehen (vgl. Johnston 2003). Voraussetzung für eine Integration von Wissenschaftstheorie in interdisziplinäre Zusammenhänge wäre allerdings der Ausbau wissenschaftstheoretisch-vergleichenden Arbeitens. Die weitgehende Ausblendung dieses Ansatzes verweist auf die Mängel interdisziplinär-metawissenschaftlicher Forschungspraxis in der Wissenschaftstheorie selbst. Die Konzentration auf Wissenschaftstheorien einzelner Disziplinen müsste mit Forschungsprojekten zu „querliegenden“ wissenschaftstheoretischen Problemen überwunden werden. Damit würde die Voraussetzung für den nutzbringenden Einsatz der Wissenschaftstheorie in interdisziplinären Zusammenhängen geschaffen.
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Epikur als Wegbereiter einer interdisziplinären Ethik 1. Zur Explikation von Interdisziplinarität Der Gegenstand der vorliegenden Abhandlung soll in der Folge die Ethik sein, aber da in den Naturwissenschaften die Begrifflichkeiten immer etwas besser zu fassen sind, wollen wir die semantische Analyse dort beginnen lassen. Der Begriff einer fächerübergreifenden Arbeitsweise kann am klarsten an der physikalischen Kosmologie expliziert werden. Wissenschaft in einem alten und kalten Universum, in dem sich nach 14 Milliarden Jahren mannigfache Realitätsschichten mit einem gesetzmäßigen Eigenleben etabliert haben, kann gut mit einer arbeitsteiligen Methodologie betrieben werden, bei der verschiedene Einzelwissenschaften die einzelnen Ebenen der Natur mit ihren spezifischen Verfahren untersuchen. Der Elementarteilchenphysiker, der Kern- und Atomphysiker, der auf der molekularen Ebene operierende Chemiker, sie alle können ihre terrestrischen Untersuchungen eigenständig und relativ unabhängig durchführen. Physik der Atmosphäre setzt Thermodynamik voraus, aber keine Quantenfeldtheorie und die Geologie muss die Mineralogie und die Petrochemie der Gesteine berücksichtigen, aber nicht unbedingt die atomare Struktur und den Aufbau der Atomkerne. Anders verhält es sich, wenn man in der Rekonstruktion der Geschichte des Universums zurückgeht und dessen heiße Frühzeit verstehen will. Dann zwingt die Natur selbst zur Interdisziplinarität, denn der Objektbereich gelangt durch die wachsenden Temperaturen in der Vergangenheit in den Forschungsbereich der angrenzenden Disziplinen. Wenn die Strahlungstemperatur so hoch wird, dass die Entstehung von Teilchen-Antiteilchen-Paare einer bestimmten Sorte erreicht wird, dann muss der Kosmologe mit dem Kern- und Elementarteilchenphysiker kooperieren und die Verfahren müssen vergleichbar gemacht werden. Hier wird Interdisziplinarität richtig fruchtbar. Dies gilt für beide Richtungen. Auch der Teilchentheoretiker darf hoffen, dass manche Massenbestimmungen von flüchtigen Teilchen wie den Neutrinos mit kosmologischen Methoden durchgeführt werden können, weil das Universum zwar schwer zugänglich ist, aber den unschätzbaren Vorteil hat, dass es sehr groß ist. So kann man durchaus das Neutrino mit dem Universum „wiegen“, d.h. eine Ruhemassenbestimmung vornehmen. Manche Realitätsbereiche haben in der frühen Vergangenheit noch gar nicht existiert. So ist etwa die chemische Evolution erst mit der Entstehung der Galaxien in Gang gekommen, als die erste Generation von Sternen das interstellare Medium mit neuen Elementen (Metallen) anzureichern begann. Erst von diesem Zeitpunkt an kann man von der interdisziplinären Fachrichtung der Kosmochemie sprechen. Konstitutiv ist also für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, dass der Naturzusammenhang von Anfang an als ganzheitlicher begriffen wird und die arbeitsteilige Vorgehensweise eine Abstraktion
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darstellt, sie so lange erlaubt ist, wie die Realität nicht die Kooperation erzwingt. Die Natur kommt uns in mancher Hinsicht in unserer Neigung zu Spezialisierung entgegen. Wir müssen uns glücklich schätzen, dass Hegels Diktum, dass das Wahre das Ganze sei, nicht voll zutrifft und es in der Tat separierbare Systeme gibt, die ohne grobe Fehler in ihren Teilen erkannt werden können. Aber in etlichen Bereichen führt die schichtfokussierte Abstraktion zu greifbaren Abweichungen, dann ist es erforderlich zwischenfachliche Zusammenarbeit zu forcieren, um einen Schritt weiterzukommen. Es fragt sich nun, wie man diesen Begriff von Wechselwirkung zwischen den Wissenschaften auf die Philosophie übertragen kann. In Bezug auf einige philosophische Fächer ist die Interdisziplinarität ein Element der Grundanlage. Für die theoretische Naturphilosophie kann es als Selbstverständlichkeit angesehen werden, dass sie nur mit Bezug auf die faktische Basis der Einzelwissenschaft betrieben werden kann. Niemand kommt heute mehr auf die Idee, Wissenschaftsphilosophie anders als Metatheorie zu einer schon existierenden Erkenntnisform der Realität zu betreiben. Philosophie der Physik oder der Biologie setzt bei den bereits etablierten Theorien an und fragt, welche verborgenen Voraussetzungen implizit in den Theorien stecken und von den Einzelwissenschaftlern als nicht erwähnenswert unreflektiert verwendet werden. Die Wissenschaftsphilosophie hebt diese impliziten Suppositionen heraus und unterwirft sie einer kritischen Diskussion; diese kann, speziell in Situationen eines begrifflichen Umbruchs, eine wichtige heuristische Funktion bei der Suche nach einer völlig neuen Theorie ausüben. Auch in der Mathematik führt die methodische Reflexion über zulässige Beweismethoden, etwa die Evidenz von Axiomen oder das Tertium non datur bei unendlichen Gesamtheiten, zu einem fruchtbaren Austausch und zu Synergieeffekten, die bei einer spezialisierten Betrachtung nicht vorhanden gewesen wären. Der Intuitionismus und der Konstruktivismus verdanken ihre Existenz eben der Reflexion auf die Schnittstelle von Fachmathematik und Erkenntnistheorie. In der praktischen Philosophie war die Bindung der Ethik an die Welt der faktischen Realität lange Zeit nicht so klar, zu sehr glaubte man, Normierungen, Regeln und ethische Vorschriften unabhängig von der empirischen Natur des Menschen als kategorische Forderungen erheben zu können. Der Mensch will sehr oft nicht so wie er soll, die ethischen Vorschriften, aus reiner Vernunft geboren, müssen ihn daher, so meinte man, dazu moralisch zwingen, den Geboten – zumeist unter Androhung von Sanktionen – zu folgen. Eine Verknüpfung der Forderungen an den Menschen mit seiner ererbten Natur wurde nur selten in Betracht gezogen, weil man einerseits wenig von dieser Prägung wusste, andererseits aber dem Können, also der Erfüllbarkeit von Postulaten, wenig Gewicht beimaß. Es ist nun gerade die moralische Leistungsfähigkeit, die die interdisziplinäre Verbindung zwischen der philosophischen Disziplin der Ethik und den empirischen Fächern von Biologie Psychologie und Neurologie etabliert. Heute hat man eingesehen, dass es nicht zielführend ist, den Menschen moralischen Zwangsbedingungen auszusetzen, die seiner Natur zuwider laufen und deren Erfüllung auch gar nicht für ein gedeihliches und glückliches Zusammenleben der Menschen vonnöten sind. Das römische Recht kannte Brückenprinzipien zwischen dem Sollen und dem Können von der Form: Ad impossibilia nemo obligatur, wobei in den impossibilia der faktische Kern steckt. Verpflichtungen müssen durch die tatsächlichen Möglichkeiten des Subjektes
Epikur und interdisziplinäre Ethik
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der Verbindlichkeiten begrenzt werden. Dadurch entsteht zwangsläufig eine Verbindung der deontischen Ebene mit den Handlungsdispositionen des Individuums. Eine naturalistisch orientierte Ethik wird keine Schwierigkeit haben, solche faktischen Randbedingungen in ihren Kanon von Verhaltensregeln zu integrieren. Naturalismus in der Ethik bedeutet also – dies ist zu betonen – kein blindes Übernehmen von naturwüchsigen Verhaltensmustern, sondern die Berücksichtigung der faktischen Strebungen bei der Aufstellung von Handlungsnormen, um die Spannung zwischen Sollen und Wollen zu minimieren. Eine naturalistische Ethik wird also eher sparsam mit Restriktionen umgehen. Nur so viele Forderungen werden aufgestellt, dass das Wohlbefinden und das Glück aller Individuen der Gemeinschaft garantiert sind. Ziel einer interdisziplinär verankerten Ethik ist, dass Menschen nicht aus Selbstzweck unrealistische apriorische Prinzipien erfüllen müssen, sondern dass alle Personen – soweit von den materialen Randbedingungen her möglich – ein aus ihrer eigenen Sicht gelungenes Leben führen können Dazu muss aber empirisches Wissen über die Natur des Menschen vorhanden sein, auch eine Ethik des gelungen Lebens kann nicht apriorisch konstituiert werden, sondern muss auf die ererbten Dispositionen Rücksicht nehmen.
2. Epikurs Naturalismus In Hinblick auf die interdisziplinäre Zielsetzung dieses Bandes ist die Verankerung der epikureischen Ethik in der Naturerkenntnis von erstrangiger Bedeutung. Voraussetzung für ein glückliches Leben ist es, sich von tradierten metaphysischen Illusionen zu befreien. Dazu dient die Erkenntnis des materiellen Aufbaus der Natur und der Gesetze die ihr innewohnen. Hier offenbart Epikur einen deutlichen aufklärerischen Impetus: „Es ist nicht möglich, sich von der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Lebensfragen zu befreien, wenn man nicht Bescheid weiß über die Natur des Weltalls, sondern sich nur in Mutmaßungen mythischen Charakters bewegt“ (Diogenes Laertius X, 143, zitiert nach Apelt 1967, S. 289). Auch zu seiner Zeit war im Volk die Religion der Homerischen Götter lebendig, die mit ihren Wünschen, Forderungen und Zornesausbrüchen das Leben nicht immer einfacher machten. Bezüglich der Götter hatte Epikur einen genialen Vorschlag zu machen: Man muss ihre Existenz ja nicht gleich leugnen, denn dies kränkt vielleicht so manchen ihrer Verehrer, aber man kann sie dort hin verfrachten wo sie die Menschen nicht mehr tangieren, in die Räume zwischen den vielen Welten, die es nach atomistischer Auffassung ja geben muss. In diesen Zwischenwelten pflegen sie ihre Glückseligkeit und kümmern sich nicht um die Schicksale der Menschen. Und das ist auch gut so, denn wenn sie sich in die Angelegenheiten der Menschen einmischen, stören die Götter nur. Hier hatte Epikur einen entscheidenden Punkt getroffen. Ethik muss so begründet werden, dass sie den Menschen dient und nicht den Willen der Götter vollzieht. Man muss die Natur des Menschen kennen und seine Umgebung, mit der er in Wechselwirkung steht, dies ist wichtig um das Handeln gedeihlich zu ordnen. Auch für eine hedonistische Ethik gilt somit: „Mithin ist es nicht möglich, ohne Naturerkenntnis zu unverfälschten Lustempfindungen zu kommen“ (Diogenes Laertius X,
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143, ebd.) Eine Normenlehre ist also eo ipso an die empirische Natur des Menschen, für die sie ja gelten soll, gekoppelt. Voraussetzung für eine vernunftgemäße Ethik ist somit die Demystifikation von Natur und Mensch. Naturphänomene haben keine magische Dimension, Kometen sind Himmelskörper aus Materie, die in Sonnennähe zu leuchten beginnt, aber keine Vorboten des Unheils. Auch wenn Epikur den Aufbau von Kometen damals nicht entschlüsseln konnte, war die wichtige Voraussetzung für eine solche Erkenntnis, dass es sich um materiale Objekte handelt, die keine Zeichenfunktion besitzen können. Analoges gilt für die Ethik. Nur wenn man die Anliegen der Menschen als empirische Zustände seines Körpers fasst, kann man eine rationale Regulierung seiner Interessen erreichen. Die Wünsche sind, wie alle seelischen Regungen, körperliche Sachlagen und demgemäß müssen sie behandelt werden. Eine naturalistische Ethik gründet somit in der Kenntnis vom natürlichen Ort und dem Ursprung der Wertvorstellungen, sie ist somit in ihrem Wesen transdisziplinär. Eine dualistische Ontologie kann in der Ethik nichts ausrichten, sie ist kontraproduktiv, weil die Steuerung der Handlungen nicht verstanden werden kann, die immer eine Einwirkung auf konkrete Handlungsmuster darstellt. Epikur bringt dementsprechend auch das entscheidende Interaktionsargument gegen den Dualismus: „Wer also die Seele für unkörperlich erklärt, der redet ins Blaue hinein. Denn wäre die Seele von dieser Art, so könnte sie überhaupt weder wirken noch leiden. Tatsächlich aber finden diese Vorgänge beide bei der Seele statt“ (Diogenes Laertius X, 67, ebd., S. 253). Nur eine monistische Seelenlehre lässt somit die Wechselwirkung verstehen, denn psychische System sind Teilsysteme des Körpers und mit ihm verbunden. Konsequenterweise leugnet Epikur auch die Unsterblichkeit der Seele, was ihn wiederum zur Aufforderung geführt hat, die Einmaligkeit unserer Existenz und damit den Tag zu nützen (Horaz, Oden 1, 11, 8, zitiert nach Glücklich 1999, S. 23). Wie schon angedeutet, verfährt Epikur mit den unsterblichen Göttern, die traditionell durch ihre bizarren Eingriffe in das Leben der Menschen für Angst und Schrecken sorgen, auf kluge Weise. Er leugnet ihre Existenz nicht, bestimmt ihr Wesen aber so, dass sie für die Ethik keine Bedeutung mehr besitzen. „Ein glückseliges und unvergängliches Wesen ist nicht nur selber frei von Beschwerlichkeit, sondern schafft auch anderen keine. Darum kennt es keine Anwandlungen von Zorn oder von Gnädigkeit. Denn all das ist ein Zeichen von Schwäche“ (Hauptlehren 1, Diogenes Laertius X, 139, zitiert nach Apelt 1967, S. 287f.) Wenn man also die Vollkommenheit der Götter begrifflich wirklich ernst nimmt und sie als unvergängliche glückselige Wesen betrachtet, dann kann es nichts mit ihrem drohenden Charakter auf sich haben, dann befassen sie sich mit sich selber und stören nicht die Angelegenheiten der Menschen, stiften somit auch keine ethische Verwirrung. Diese Entkopplung der metaphysischen von der ethischen Dimension der Götter liefert den Menschen die Freiheit ihre moralischen Angelegenheiten selber zu regeln, um jene Lösungen ihrer Konflikte zu finden, die ihrer Natur entsprechen. Selbst ein der Stoa zugeneigter Autor wie Cicero kommt nicht umhin, der Argumentation Epikurs Folgerichtigkeit zuzugestehen. Wenn aber die Götter uns weder helfen können noch wollen, wenn sie sich um uns nicht kümmern und unseren Handlungen keine
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Beachtung schenken, wenn sie keinerlei Einfluss auf das Leben der Menschen nehmen können, warum sollten wir dann den unsterblichen Göttern irgendwelchen Gottesdienst, irgendwelche Ehren erweisen oder zu ihnen beten? (Cicero: De natura deorum 1.3, zitiert nach Gerlach / Bayer 1978, S. 11). Auf diese Weise rettet Epikur die Autonomie der Ethik vor den erratischen Entscheidungen der Götter, die eine selbstbestimmte rationale Regelung der menschlichen Handlungen ausschließen würde, da niemand Einblick in die Willensregungen dieser Wesen haben kann. Nur wenn man die Götter in Bereichen ansiedelt, wo die Menschen vor ihren Eingriffen in die Welt sicher sind, lässt sich die Welt vernünftig ordnen. Diese Aufgabe ist auch ohne die Unsterblichen schon schwierig genug.
3. Selbstsorge Man würde der epikureischen Ethik nicht gerecht werden, wenn man eine weitere wichtige Komponente seiner Lehre vergäße, nämlich die Selbstsorge oder Epiméleia heautou, die Pflege und sorgfältige Verwaltung des eigenen Ich. Diese ist oft fehlinterpretiert worden als egoistische Selbstbezogenheit unter Ausklammerung aller Rücksicht gegenüber den Mitmenschen. Gemeint ist aber damit etwas völlig anderes: Es handelt sich um die Betonung der Individualität: Nur wer Ordnung im eigenen Haus (kat’oikous) hat kann sich dann sich erfolgreich der Gemeinschaft (Polis) widmen. Selbst Platon betont, dass keiner eine verantwortliche Position im Staat übernehmen darf, der mit sich selber nicht zu Recht kommt (Platon: Alkibiades I, 133e, zitiert nach Loewenthal 1960, S. 867 f.). Uns heutigen ist es mehr als bewusst, welche Katastrophen entstehen können, wenn Paranoiker die Zügel des Staates in die Hand bekommen. Mit der Betonung der Selbstsorge wird somit nur ausgedrückt, dass die natürlichen Empathien des Menschen von innen nach außen gehen und einer abgestuften Hierarchie1 folgen: Man ist zuerst an sich selber, dann an den Freunden, an der Familie, an seinem Volk und zuletzt an der Menschheit interessiert. Selbst Aristoteles, sicher nicht im eigentlichen Sinne Epikureer, ist hier sehr deutlich: „Jeder ist sich selbst der beste Freund und darum soll man auch sich selbst am meisten lieben“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik 9, 1168b, zitiert nach Bien 1972, S. 223). Selbstwertgefühl und Selbstsorge sind nicht nur vereinbar mit Altruismus, sondern die Voraussetzung für erfolgreiches Handeln in der Politeia. Wer für die Gemeinschaft tätig werden will, muss eine innerlich gefestigte Persönlichkeit sein. Persönliche Ausgeglichenheit ist die Basis des sozialen Handelns und der Solidarität. Der Gemeinschaftssinn gründet in dem Wert des Individuums und weil dieses so bedeutsam ist, 1 Gerhard Vollmer hat dieses abgestufte Interesse sehr anschaulich mit einer Pyramide oder einem sich nach oben verjüngenden Turm verglichen, bei der die Fürsorge bzw. das Mitgefühl von der eigenen Person ausgehend langsam abnehmend, sich nach außen bewegt und immer größere gesellschaftliche Bereiche umfasst, wobei es aber konkreter Überzeugungsarbeit bedarf, die dem Ich ferner liegenden Gebiete in die ethische Relevanz einzubeziehen (Vollmer 2008, S. 124).
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muss man sich auch dafür einsetzen, dass es seinen Status in der Gemeinschaft behält. Der einzelne hat nicht nur das Recht, sondern die Aufgabe seine Person zu kultivieren, denn die Person ist die Zelle der Gemeinschaft. Nur ein pfleglich gefördertes Selbst kann die Solidarität mit der Gemeinschaft ausüben. Da die Gemeinschaft aber nicht Selbstzweck sondern Mittel zum Zweck bildet, sind Epikur die Idee der Aufgabe des Ich und die Opferung der Person für die Gemeinschaft fremd. Erst recht bilden Opfer und Unterwerfung unter den Willen der Götter eine unsinnige Einbuße und Entbehrung der Lebensqualität. Das Individuum bleibt an die Welt gebunden; eine Rücknahme und Unterordnung unter eine spirituelle außerweltliche Macht wäre ein Verrat an der Natur des Menschen.
4. Freundschaft Der Paradefall einer sozialen Struktur an der sich das ethische Ideal Epikurs bewähren kann ist die Freundschaft. Seine hellenische Glücksethik geht auch hier vom Primat des Individuums aus. Der Mitbürger ist deshalb aber nicht unwichtig, ganz im Gegenteil. Wenn man mit seinen Mitbürgern freundschaftlich umgeht, fungieren diese als Glücksverstärker und das Wichtigste an dieser Relation ist ihre Symmetrie. In der symmetrischen Freundschaftsrelation sind beide in gleicher Weise Nutznießer des amikalen Verhältnisses. Ein Freund ist ein Spiegel des eigenen Ich, an seinem Glück hat man teil, aber auch er kann die gleichen Empfindungen für sich verbuchen. Das Mitempfinden an der Freude des Freundes verstärkt das eigene Glück und umgekehrt. Auch im Leid ist die Anteilnahme eine Entlastung in schwierigen Lebensabschnitten. Auch der Mitleidende, der versucht seinem Mitmenschen in einer schwierigen Situation Trost zu spenden gewinnt, selbst wenn der Erfolg klein ist. Freundschaft ist also mehr als einfache reziproke Nachbarschaftshilfe – ich reparier dir die Dachrinne und du hilfst mir beim Rasenmähen – sie umfasst das empathische Moment der personellen Identifikation. Die emotive Teilhabe ist nicht nur ein Tauschgeschäft, sondern eine Erweiterung des Selbst und dadurch eine Bereicherung des Lebens. Aber nicht um der platonischen Idee der Freundschaft willen macht sich der Weise Freunde, sondern weil in einer Welt, die durch Freundschaft zusammengehalten wird, jeder besser lebt.2 Es bedarf also nicht eines metaphysischen Objektes, dessen ontologischer Status ungeklärt bleibt und dessen Erkenntnis durch ein empirisches Sensorium niemand versteht, um die Vorteile eines Freundschaftsverhältnisses einzusehen. Dasselbe gilt auch für größere Gruppen und Verbände. Auch hier ist es das gegenseitige Stützungsverhältnis, das die Vorteile für jedes einzelne Mitglied mit sich bringt. Die Polis 2
Es mag erscheinen, als ob hier eine unberechtigte psychologische Voraussetzung in die Argumentation eingeschmuggelt wird und jemand auch mit durch aggressives Verhalten ausgelösten heftigen Anfeindungen sein Lustpotential optimieren könnte. Nun kann aber niemand auf Dauer allein glücklich sein, denn ein wesentlicher Teil des Glücks besteht in der Wechselwirkung mit seiner Umgebung und seine Feindseligkeit wird den Misanthrop eines Teils seiner Freude berauben.
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fungiert nicht als autonome Idee, oder als objektiver Geist, der als eigenständige Entität das Einzelwesen unterjocht, sondern als institutioneller Rahmen für die Bewahrung individuellen Wohlergehens. Hauptgrund für diese Absage an die Führungsrolle des Kollektivs ist wieder der naturalistische Ansatz in der Ethik Epikurs. Der natürliche Ort des Empfindens ist die Person, ein Kollektiv ist kein Organismus und fühlt nichts. Nur ein Sensorium erfährt Freude und Schmerz, eine Polis ist zwar ein dynamisches System mit eigenen sozialen Kräften und auch emergenten Eigenschaften, aber dieses komplexe Produkt von interagierenden Subjekten ist selber kein empfindungsfähiges Gebilde. Deshalb rangieren die Interessen des Individuums vor denen des Staates, denn nur der einzelne ist leidensfähig.
5. Die Arglist der Tugendhaften Epikurs „Hedonismus“ gilt in der christlichen Tradition als lasterhaft, amoralisch, tugendresistent. Nach Augustinus galt der Gartenphilosoph einfach als Schwein: Epikuros, quem ipsi philosophi porcum nominaverunt, qui voluptatem corporis summum bonum dixit […] (Augustinus: Psalm 73, 25; zitiert nach Führer 1997, S. 295). Die Verbindung eines atomistischen Materialismus mit einer Leugnung der unsterblichen Seele und einer lustbetonten Ethik bildete den metaphysischen und ethischen Antagonismus zur christlichen Lehre schlechthin. Fast tausend Jahre konnte diese Lehre nur in einigen verborgenen Quellen die Zeit überdauern. Erst in der Renaissance greifen einige Denker diesen Faden wieder auf beginnen einige kühne Kritiker nach verborgenen Beweggründen der Sittsamkeiten und Frömmigkeiten zu fragen. Eine recht unerwartete und überraschende Verstärkung erhielt der naturalistische Epikureismus durch das Erwachen der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Obwohl die Begründer der Klassischen Mechanik und Gravitationstheorie, Galilei, Huygens und Newton fromme Leute waren und sich ängstlich bemühten, die weltanschaulichen Konsequenzen der neuen Physik in Grenzen zu halten, war die Übertragung der Theorie auf den Menschen unvermeidbar. Wenn man die Universalität der Theorie nicht irgendwo willkürlich abschneiden wollte, musste man annehmen, dass auch die menschlichen Körper in all ihren Freiheitsgraden der Mechanik folgen. Alle Naturvorgänge sind letztlich Atomkomplexe der Materie in Bewegung und alle Körper wechselwirken über Druck und Stoß, weil andere Formen der Energie- und Impulsübertragung nicht vorkommen. Auch lustvolle Wechselwirkungen zwischen den Menschen sind Sonderfälle mechanischer Einwirkung von Kräften. Es gibt somit keinen Grund mit hohem moralischen Pathos und sittlichen Ernst bestimmte vergnügliche menschliche Interaktionen willkürlich aus den wertneutralen Naturvorgängen herauszunehmen, um sie besonderen Beschränkungen zu unterwerfen, es sei denn man kann zeigen, dass dadurch anarchische oder chaotische gesellschaftliche Zustände vermieden werden. Dadurch kommt dem dynamischen Materialismus eine emanzipatorische Rolle zu, denn alle freudvollen Aktivitäten sind eine spezielle Form der natürlichen Wirkung von Kräften.
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6. Der Mensch als Maschine Julien Offray de LaMettrie nimmt genau diesen Gedankenfaden auf und spinnt ihn weiter: Der Mensch ist eine – heute würden wir sagen biochemische – Maschine die ihre Triebfeder selber spannt und steuert (La Mettrie 1748 / 1985). Die Gründungsväter des mechanistischen Weltbildes wollten zwar genau diese materialistische Konsequenz der neuen Physik vermeiden, aber wie es oft kommt, die Ideen entwickeln eine Eigendynamik, die sich dann nicht mehr bremsen lässt. La Mettrie ist der Ahnherr des Computermodells der Intelligenz und der Neurobiologie des Bewusstseins. Als Arzt hatte er Zugang zu der physiologischen Seite der mentalen Phänomene, seine Kenntnis der Wirkung der Drogen zeigte ihm die starke Abhängigkeit der Bewusstseinszustände von den jeweiligen chemischen Substanzen, die gerade im Körper wirksam sind. Heute ist für uns die Chemie der Gefühle (Dessau/ Kanitscheider 2000, S. 140) eine Selbstverständlichkeit geworden, alle Strebungen und Neigungen haben ihren Ursprung in den emotiven Zentren des Gehirns. Diese Naturalisierung der Wünsche und Interessen des Menschen hat auch eine ethische Bedeutung. Traditionell ist es die Vernunft, die als ein extrasomatisches Vermögen betrachtet die Leidenschaften im Zaum halten soll. Die Vernunft hat einen den Trieben überlegenen Status und ihre Aufgabe besteht aus platonisch-christlicher dualistischer Sicht darin, den Basisinstinkten Einhalt zu gebieten. Aus naturalistischer Sicht hat die Vernunft eine viel bescheidenere Aufgabe, sie soll nur die Optimierung der emotionalen Ziele vornehmen, aber weder die Endzwecke vorgeben noch die Leidenschaften einem Tugendfilter unterwerfen. David Hume hat weitsichtig genau diesen Schluss gezogen: Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften, sie soll ihnen dienen und ihnen gehorchen (Hume 1739 / 2003). Damit ist die Rangordnung zwischen dem Ziel und dem Instrument zu dessen Erreichung bestimmt. Die Urteilskraft soll Hindernisse auf dem Weg zum freudvollen Leben beseitigen und das sinnliche Erleben verfeinern, aber sich nicht in die Zielsetzung selber einmischen. Bertrand Russell hat diese Relation von Zielsetzung und Steuerung übernommen: Wünsche und Gefühle geben die Ziele des Handelns vor, die Vernunft sucht den günstigsten Weg dorthin (Russell 1978).
7. Hedonismus als permanenter Widerstand Aus dem Vorstehenden wird wohl klar, dass man der hedonistischen Ethik Epikurs nicht gerecht wird, wenn man sie auf die Platitude „Wein, Weib und Gesang“ reduziert, wie die Gegner, die sie desavouieren wollen, es gerne versuchen. Sinnenfreude ist nur eine von vielen Optionen des liberalen Handlungsspielraumes, den die Exponenten des Kollektivs so viel wie möglich einengen möchten, weil Genuss mit einer rigiden Arbeitsmoral nicht vereinbar ist. Viel gefährlicher ist jedoch aus der Sicht der Herrschenden das intellektuelle Aufbegehren gegen offizielle Doktrinen. Die staatlichen Autoritäten sind hier noch wachsamer, weil sie dem Verstand des Einzelnen misstrauen, weil sie die Diversität der individuellen Wünsche nicht bedienen können und weil ihre Verfü-
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gungsgewalt durch die heterogene Denkvielfalt eingeschränkt wird. Auch wenn das Schlagwort aus einem totalitären Regime stammt, „Gleichschaltung“ des Bevölkerungswillens ist ein Wunschbild jedes Regierungssystems, denn ein gedanklich homogenes Ensemble von Menschen ist immer einfacher zu beherrschen als ein Haufen anarchischer Querdenker. Kollektivistisches Ordnungsdenken und staatlicher Paternalismus sind somit die Antagonisten des individualistischen, politischen Liberalismus. So sehen wir, dass der Hedonismus Epikurs mit seiner naturalistischen Basis eine Brücke zum Liberalismus schlägt, eine Gedankenlinie, die sich auch, wie wir oben gesehen haben, philosophiehistorisch gut belegen lässt. Trotz des facettenhaft schillernden Charakters der liberalistischen Position, lässt sich ein Kern herausschälen. Franz Josef Wetz sieht die Geschichte des Liberalismus wesentlich als Entkopplungsvorgang, bei dem die Person von einer metaphysischen Wesensnatur des Menschen befreit wird (Wetz 2008, S. 99). Dies trifft sicher im weiten Maße zu. Ich denke aber, man kann diese Entkopplungsthese noch ausfächern. Die Liberalisierung des Menschen ist eine Befreiung hinsichtlich seiner ontologischen Einbettung wie auch seines deontologischen Aufgaben- Kataloges und ebenso in Hinblick auf seinen lebenssteuernden Sinnhorizont. Die Väter des Liberalismus, wie J. St. Mill, oder B. Russell haben allerdings in erster Linie die antipaternalistische Komponente als essentiell für den Liberalismus bedacht. Sie sahen den Staat als Moloch an, der nichts anderes im Sinn hat, als über Steuern und einschränkende Regulierungen sein Machtgefüge zu stärken, wobei dies für monarchische wie für demokratische Ordnungen gleichermaßen gilt. Diese Tendenz wird offenbar, wenn man den Widerstand beobachtet, die der Staat Deregulierungen entgegensetzt. Einmal festgelegte Bestimmungen verstärken die Autorität, erhöhen den Aktionsspielraum der Regierung und vergrößern die Einnahmen bei Übertretungen. Gegen diese systemimmanente Tendenz der Kollektivkräfte muss sich der Bürger permanent wehren, wenn er nicht der Eigendynamik der Machtkumulation des Leviathans unterliegen will.3 Die Wunschvorstellung einer aus dem Hedonismus abgeleiteten kollektiven Ordnung sieht anders aus: Sie muss sich als spontanes Resultat der Interessen, Vorlieben und Freuden der Individuen und nicht als Tummelplatz des Herrschaftswillens der Staatslenker ergeben. Da diese aber auch ihr Vergnügen darin finden, ihre Herrscherfreuden auszuleben, kann der hedonistische Liberalismus nur in einer permanenten Gegensteuerung bestehen. Eine hedonistische Gemeinschaft sollte daher so weit wie möglich auf einer polyzentrischen Selbstorganisation und nicht auf hierarchischer Fremdorganisation beruhen. Dem wird in einer liberalen Demokratie natürlich partiell durch die Wahlen Rechnung getragen. Dennoch bleibt die latente Tendenz auch bei demokratisch gewählten Regierungen bestehen, ihre Handlungsspielräume auf Kosten der Individualfreiheiten zu vergrößern, selbst wenn die Staatsmächte nach Wahlen gelegentlich Rückschläge hinnehmen müssen. 3 Murray N. Rothbard sagt es dramatisch zugespitzt sehr deutlich: „Der Staat ist also eine kriminelle Zwangsorganisation, die sich durch ein gesetzlich geregeltes, großangelegtes System des Besteuerungsdiebstahls erhält und die ungestraft davonkommt, indem sie mit Hilfe einer Gruppe von meinungsbildenden Intellektuellen, die sie mit einem Teil ihrer Macht und ihres Mammons entlohnt, einer Unterstützung durch die Mehrheit […] zuwege bringt“ (Rothbard 2000, S. 177).
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Jedenfalls ist so viel klar, dass aus hedonistischer Perspektive keine elitäre Gruppe (Platon) und keine theonome Moralinstanz (Christentum), aber auch kein apriorisches Vernunftprinzip (Hegel) die gesellschaftliche Ordnung vorgeben dürfen. Es ist die empirische Natur des Menschen, die die Randbedingungen für die Ordnung seines Zusammenlebens bestimmt. Aus epikureischer Sicht muss auch die demokratische Gesellschaftsordnung tendenziell immer der Subversion und der Gegensteuerung ausgesetzt werden ausgesetzt werden, weil auch Demokratie zur Kumulation von Macht und Repression neigt. Der Hedonismus ist somit als kritische Instanz zu sehen, gegenüber allen staatlichen, religiösen und gesellschaftlichen Regelungen, die die Freiheit des Einzelnen beschränken wollen. Viele Vertreter des Hedonismus hängen noch zu stark an der Lustkomponente des tradierten Begriffs. Auch Michel Onfray, der wohl streitbarste heutige Vertreter dieser Richtung, ruft in erster Linie nach einer „Dekonstruktion des asketischen Ideals“ auf (Onfray 2001, S. 29). Dann allerdings betont auch er als Wesen des Libertinismus nicht nur den Genussaspekt, sondern das Freiheitsmoment, die Unabhängigkeit von kontrollierenden Autoritäten. Wie jeder seinen Freiheitsspielraum ausfüllt ist ja nicht entscheidend, sondern vor allem, dass ihn niemand daran hindert dies zu tun. Aber auch das Postulat der restriktionsarmen – aus der Schädigungsperspektive natürlich nicht unbegrenzten – Freiheit hat den negativen Charakter einer Abgrenzung und ruft die Kritiker auf den Plan, die eine positive Charakterisierung von Liberalität einfordern. Zumindest eine schwache nicht hierarchische Bindung der Menschen untereinander muss sich auch ein Libertin wünschen, da niemand autark und jeder in verschiedenen Situationen auf andere Menschen angewiesen ist. Traditionell ist der Hedonist äußerst bindungsscheu, weil er in jeder Verpflichtung eine Fessel seiner Freiheit sieht, andererseits braucht er aber, um behaglich, wohlgemut und zufrieden seinen Passionen nachgehen zu können, ebenso zufriedene kooperierende Mitmenschen. Eine Formel um die beiden widerstrebenden Komponenten, der Unabhängigkeit und der Solidarität unter dem Dach des Liberalismus zusammenzubringen ist nicht einfach. Sicher gehört dazu die Anerkennung des Mitbürgers als ein diskusfähiges rationales Subjekt durch dessen autonome Eigenrechte und dessen Leidenspotential die Verwirklichung der persönlichen Wünschen und Interessen begrenzt werden. Man sollte aber diese Bestimmung jedoch nicht nur im negativen Sinne verstehen, derart dass man mit seinen Handlungen keinem anderen Schmerzen zufügt, sondern auch positiv – und hier kann man auf einen genuinen epikureischen Gedanken zurückgreifen: Wenn man dafür sorgt, dass es dem Nachbar durch die eigenen Taten nicht nur nicht schlechter, sondern ein wenig besser geht, lebt man selber glücklicher, weil das Glück der Umgebung eine heitere frohgemute Einbettung schafft, an der man dann wieder teil hat. So ist es durchaus sinnvoll, in Hinblick auf ein aufgeklärtes langzeitlich bedachtes Eigeninteresse, ein wenig von dem Spielraum der eigenen Wünsche abzutreten, ein bisschen in seine Umgebung zu investieren weil dadurch jeder glücklicher lebt. Solidarität ist aus dieser Perspektive nicht ein dem Eigeninteresse auferlegter apriorischer Fremdkörper, der zuletzt doch wieder als metaphysische Entität mit unbekanntem Ursprung in das naturalistisch bestimmte Gefüge der Gesellschaft eindringt, sondern lässt sich immanent aus der Interessenslage aller Menschen und ihrem Wunsch nach einem harmonischen Zusammenleben bestimmen.
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Wie in einer konkreten gesellschaftlichen Situation die Abgrenzung von Eigeninteressen und Investition in Solidarität vorgenommen werden soll, darüber kann es keine allgemeinen Verbindlichkeiten geben. Wie auch Richard Rorty bemerkt, ist diese Spannung nicht grundsätzlich aufhebbar (Rorty 1993) und man kann niemanden durch eine begriffliche Vorgabe von der Verantwortung befreien, selber diese Grenze zwischen diesen beiden Interessen zu ziehen.
8. Eine Ethik des gelungenen Lebens Aus den vorstehenden Überlegungen lassen sich zusammenfassend einige Regeln für ein freudvolles Zusammenleben abstrahieren, das selbstbestimmt, repressionsfrei, minimalpaternalistisch und sozialverträglich erscheint. Dabei wird unter Repression nur jene Klasse von Reglementierungen verstanden, die nicht auf eine Erleichterung des Gemeinschaftslebens abzielen, sondern durch ideologische Vorgaben motiviert sind. Soviel ist jedenfalls klar: Handlungsorientierungen müssen auf empirischen anthropologischen Konstanten aufbauen, genauer auf die durch die Stammesgeschichte hervorgebrachte Natur des Menschen Rücksicht nehmen. Eine Ethik, die die biologische Natur des Menschen außen vor lässt, erzeugt unnötige Spannungen im Menschen; vielfach wird sie einfach wirkungslos bleiben, weil die Menschen Auswege finden, die Einschränkungen zu umgehen. Daher rührt also die transdisziplinäre Komponente jeder empirischen Ethik. Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt oder eine leere Wachstafel auf der man die Normen der praktischen Vernunft einprägen kann. Die Vernunft allein reicht überdies nicht aus, um die Regeln des Zusammenlebens zu finden, die Universalisierbarkeit, wie sie im kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt, mag notwendig sein, aber ist sicher nicht hinreichend für deren Bestimmung (vgl. Sandvoss 2007, S. 443).4 Ein Regelwerk muss die materiale Struktur des Systems, für das dieses gedacht ist berücksichtigen, sonst regeln die Vorschriften am System vorbei. Das organische Gebilde Mensch besitzt aber nun ein ererbtes Wunschprogramm. Mit dieser Software muss eine ernst zu nehmende Ethik umgehen. Wenn sich das Regelwerk als liberal versteht, wird die Duldungskomponente primär sein: Den Wünschen nach Freude und Gestalten der eigenen Erlebnissphäre kann, wenn der Respekt für die Anliegen der Mitmenschen gewahrt bleibt, aus liberalistischer Sicht ohne Einschränkung Statt gegeben werden. Weniger duldsam wird ein liberaler Hedonismus gegenüber allen Versuchen des Gemeinwesens sein, das Individuum zu gängeln. Der Einengung durch das Kollektiv wird sich der Hedonist dort widersetzen, wo die Gruppe das Individuum aus Gründen der Selbstüberhebung und des Eigennutzes unterdrückt, wo die Idee des Staates sich verselbständigt eine höhere Dignität und eine Eigendynamik entwickelt, die dem Einzelnen nicht mehr dient.
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Man kann sogar die Notwendigkeit bezweifeln, weil es situative Ethiken geben mag, die nur in besonderen Lebenslagen Anwendung finden.
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Solidarität und Empathie mit den Mitmenschen wird der Hedonist vor allem dort üben, wo er sieht, dass kollektive Strukturen und staatstragende Verbände Leiden und Grausamkeiten und speziell die Teilnahme am Krieg als Pflicht verordnen. Ein Hedonist wird sich der Leidensminimierung seiner Umgebung widmen, weil er den Schmerz nachvollziehen kann und überdies weiß, dass man sich nur in einer von Freude dominierten Umgebung wohlfühlen kann. Da es aus der Sicht einer Ethik mit deskriptiver Basis keine apriorischen Vorgaben geben kann, wird sie sich von allen eschatologischen Vorstellungen eines Gerichtes am Ende aller Tage verabschieden. Sie wird damit dem Terror einer Metaphysik der Endzeit entfliehen, denn das Schicksal jedes Menschen entscheidet sich hier und jetzt, am Ende aller Tage, sollte es dieses Datum überhaupt geben, wird der Mensch sicher keine Rolle mehr spielen. Eine hedonistische Ethik besitzt auch eine Sinnstiftungsfunktion, aber nicht im Sinne konkreter, materialer Vorgaben, weil die Unterschiede in der Natur des Menschen zu groß sind. Den Sinn des Lebens kann deshalb jeder nur in sich selber suchen, in seinen Neigungen und deren Aktualisierungen, in den freudvollen Momenten des nächsten Augenblicks. Hier ist aktives Suchen und nicht passives Abwarten gefragt. Alle Versuche in der externen Erfahrungswelt einen Hinweis auf eine objektive Sinngebungsinstanz zu finden, die sich uns zwingend aufdrängt sind vergeblich (Kanitscheider 2008) Im Übrigen ist eine permanente Reflexion zur Sinnhaftigkeit des Daseins eine morbide und eher kontraproduktive Aktivität, die vermutlich auf einen Vorrat an unbefriedigter Libido hinweist wie Sigmund Freud bemerkt hat (Freud 1960, S. 429). Das gelungene Leben besteht eher im Glück, das das direkte Erleben der reinen Existenz gewährt. Der Sinn des Lebens, wenn man mit diesem pathetischen Begriff überhaupt operieren will, liegt damit aus hedonistischer Sicht im Vollzug des Lebens selbst. Das interdisziplinäre Moment bei der Sinnfindung besteht dabei in der Akzeptanz, dass man selber nicht die völlige rein verstandesgeleitete Autonomie in der Sinngebung besitzt, sondern seine eigene empirische Natur auch mit ihren Schattenseiten in Rechnung stellen muss, um zu einem verantwortbaren Leben zu gelangen.
Literatur Apelt, O. (Hg.) (1967): Diogenes Laetertius – Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg: Meiner. Bien, G. (Hg.) (1972): Aristoteles – Nikomachische Ethik. Hamburg: Meiner. Dessau, B. / Kanitscheider, B. (2000): Von Lust und Freude. Frankfurt a. M.: Insel Verlag. Freud, S. (1960): Briefe 1873–1939. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Führer, T. (Hg.) (1997): Augustin: Contra Academios. Bücher 2 und 3. Berlin / New York: de Gruyter. Gerlach, W. / Bayer, K. (Hg.) (1978): Cicero – De natura deorum / Über das Wesen der Götter. München: Heimeran. Glücklich, H.-J. (Hg.) (1999): Horaz, Oden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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ELSA ROMFELD
Über die Rolle des Moralphilosophen in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien Die Aufgabe der Philosophie in unserer Gesellschaft, Ziele und Methoden von Ethikberatung sowie praktizierte Interdisziplinarität in den Wissenschaften sind alles Themen, bezüglich derer gegenwärtig großer Diskussionsbedarf besteht. Vereinigt man sie zu der Frage nach der Rolle des Philosophen in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien, steht man vor der Herausforderung, sich auf ihre Schnittmenge zu beschränken, was unvermeidlich eine Verkürzung der einzelnen Aspekte zur Folge hat. Gerechtfertigt wird das durch die Brisanz und letztlich auch durch die politische Tragweite der Fragestellung. Dies sei im Folgenden so detailliert wie nötig und so prägnant wie möglich ausgeführt.
Ethische Beratungsgremien – Zusammensetzung, Funktion, Verbreitung Ethische Beratungsgremien wie Klinische Ethik-Komitees, Ethik-Beiräte und EthikKommissionen haben in der Regel Mitglieder, die unterschiedlichen Professionen angehören. Beispielsweise treffen im Deutschen Ethikrat derzeit unter anderem Vertreter der Rechtswissenschaften, Medizin, Theologie, Philosophie, Psychologie und Biologie aufeinander, um über aktuelle moralphilosophische Themen wie das der „Ressourcenallokation im Gesundheits- und Sozialwesen“, der gerechten Verteilung knapper Ressourcen, oder der „anonymen Kindesabgabe“ zu beraten und anschließend Stellungnahmen für das politische Handeln abzugeben. Die interdisziplinäre Zusammensetzung muss dabei als gewollt gelten, denn ein Passus in der Beschreibung seines Auftrags lautet: „Im Deutschen Ethikrat sollen unterschiedliche ethische Ansätze und ein plurales Meinungsspektrum vertreten sein“. Offenbar geht man davon aus, dass der divergente fachliche Hintergrund der Mitglieder prinzipiell fruchtbar und der Qualität des Beratungsergebnisses zuträglich ist. Eine ähnliche Disziplinenvielfalt ist auch in den Ethik-Kommissionen und den Klinischen Ethik-Komitees, die seit etwa zehn Jahren in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schießen, zu beobachten, so dass der interdisziplinäre ethische Diskurs dort eher die Regel als die Ausnahme bildet: „Organisationsethisch bietet ein auf breiter Basis zusammengesetztes Klinisches Ethik-Komitee gute Ausgangsbedingungen für die Stärkung des moralischen Bewusstseins und des Verantwortungsgefühls in der Patientenbetreuung im eigenen Klinikum, da aus unterschiedlichen Bereichen Rückmeldungen an das Klinische Ethik-Komitee gelangen können. Auch sind die Mitglieder […] präsent
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und für Kollegen […] ansprechbar“, schreibt dazu der Medizinethiker Arnd T. May (May 2008, S. 28).1 Bevor wir genauer betrachten, welche Rolle der professionelle Ethiker2 in diesem interdisziplinären Diskurs spielen kann, werfen wir zunächst einen Blick auf die Aufgaben ethischer Beratungsgremien im Allgemeinen (die Reihenfolge ist sinnvoll, aber nicht zwingend): a. Expertise: Fachliche, oft interdisziplinäre Vertiefung der Problematik (im Beispiel der Begutachtung der anonymen Kindesabgabe durch den Deutschen Ethikrat etwa der Blick auf die Historie, auf soziale Beratungs- und Hilfsangebote, auf die Gründe der Inanspruchnahme und auf die psychischen Folgen). b. Problematisierung: Erwägen potentieller ethisch-moralischer Konflikte (Wie groß ist die Bedeutung des Wissens um die eigene Herkunft für die Ausbildung der Identität? In welchem Verhältnis steht das zum Lebensschutz des Neugeborenen?). c. Beurteilung: Bewertung der entstehenden ethisch-moralischen Konflikte (Schlussfolgerungen aus b, z. B.: Die Angebote anonymer Kindesabgabe sind ethisch problematisch, weil sie Kindern ihre Herkunft vorenthalten und gleichzeitig fraglich ist, inwieweit sie de facto gefährdete Neugeborene schützen.). d. Ermittlung: Überprüfung der Rechtslage (Ist die anonyme Kindesabgabe mit dem geltenden Straf-, Zivil und Verfassungsrecht kompatibel?). e. Empfehlung: Verfassen von Entscheidungshilfen und Leitlinien (Stellungnahme „Das Problem der anonymen Kindesabgabe“ inklusive Gesetzesentwurf). f. Information: Weitergabe der Informationen an die Öffentlichkeit (Veröffentlichung der Stellungnahme auf der Website des Deutschen Ethikrates, Pressekonferenz, Interviews etc.). g. Schlichtung: Initiation von Konsensfindung bzw. Dissensklärung (gehört nicht zu den vorrangigen Aufgaben des Ethikrates; in ergänzenden bzw. Sondervoten können jedoch die von den Mehrheitsempfehlungen abweichenden Positionen zum Ausdruck gebracht werden).3 Welche dieser Funktionen schwerpunktmäßig wahrgenommen bzw. welche Kompetenzen im Einzelnen realisiert werden, hängt unter anderem vom jeweiligen Typ des Gremiums ab. Zum Beispiel stehen in einem Klinischen Ethik-Komitee (im weiteren Verlauf „KEK“, Pl. „KEKs“ abgekürzt), einem „Forum für schwierige und moralisch kontroverse Entscheidungen in Grenzsituationen der modernen Medizin“ (KEK 2004, § 2), die Aufgaben a, b, c, e und g im Vordergrund.
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Bereits ein im Zusammenhang mit dem Quinlan-Fall 1983 verfasster „Modellentwurf für die Satzung zukünftig einzurichtender Ethikkomitees […] ‚Deciding to Forego Life-Sustaining Treatment’ betont das Prinzip der Interdisziplinarität und die Notwendigkeit verschiedener Sichtweisen zur Diskussion einer Fragestellung“ (May 2008, S. 18). 2 (Allgemeine) Ethik wird hier und im Folgenden traditionell als philosophische Disziplin verstanden („Moralphilosophie“). Davon zu unterscheiden ist zuvorderst die „Moraltheologie“, die von Haus aus der christlichen Lehre dogmatisch verbunden ist. 3 Die Liste der Aufgaben orientiert sich an Krippner/Pollmann 2004, S. 240f.
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Wie bereist erwähnt, hat in der letzten Dekade insbesondere die Klinische Ethikberatung hierzulande enorme Verbreitung erfahren: Jahr 2000
Institutionalisierung 30 Krankenhäuser mit Klinischer Ethikberatung (sowie 17 im Gründungsprozess) 2003 59 Krankenhäuser mit Klinischer Ethikberatung 2004 ca. 70-100 Krankenhäuser mit Klinischer Ethikberatung 2005 ca. 312 Krankenhäuser und Universitätskliniken mit existierender (235) oder im Aufbau befindlicher (77) Klinischer Ethikberatung Abb. 1: Klinische Ethikberatung in Deutschland (Tabelle nach Simon 2001, Vollmann 2006 und Dörries/Hespe-Jungesblut 2007) Auch nach 2005 ist die Tendenz klar steigend, zumal die Beratungseinrichtungen (darunter überwiegend KEKs) ebenfalls an Universitätskliniken verstärkt etabliert wurden: Gegenüber 2005, als erst sieben Universitätskliniken eine Ethikberatung anboten (vgl. Dörries/Hespe-Jungesblut 2007, S. 150), bestanden 2007 an den insgesamt 36 Universitätskliniken Deutschlands schon 26 Klinische Ethikkomitees oder andere ethische Beratungsdienste (vgl. Vollmann 2008, S. 34). Als Gründe dafür werden zumeist der Wertepluralismus, die Zunahme der Handlungsoptionen durch den medizinischen Fortschritt und die neue Strukturen im Gesundheitswesen angeführt.4 So heißt es in einem Aufruf zur Mitarbeit an einem „Arbeitskreis Klinische Ethikberatung“: „In Anbetracht der zunehmenden technischen Möglichkeiten und der ökonomischen Diskussionen in der modernen Medizin wächst auch die Belastung der Ärzte und des Krankenpflegepersonals, wenn ethische Konflikte […] auftreten“ (Groß 2008, S. 11). Angesichts dieser Entwicklung und mit Rücksicht auf den Umfang dieses Beitrags, wollen wir uns von jetzt an auf diese Form der Ethikberatung konzentrieren.
Ein Ethiker im Klinischen Ethik-Komitee? Die Bezeichnungen „ethischer Beratungsdienst“ und „Ethik-Komitee“, die den Fokus der thematischen Ausrichtung sowie die wesentliche Bestimmung jener Institutionen anzeigen, legen (genau wie „Ethikrat“ oder „Ethik-Kommission“) nahe, dass dem Ethiker unter den Experten, die dem jeweiligen Gremium angehören, eine zentrale Funktion zukommt. Umso erstaunlicher ist es, dass in nur wenigen KEKs ein philosophisch ausgebildeter Ethiker sitzt. Seinen Part übernehmen stattdessen Anstaltsgeistliche oder anderen Professionen entstammende ethische Laien.5 Dennoch, besser: nicht zuletzt 4
Die positive Berücksichtigung von KEKs in Zertifizierungsverfahren hat daran vermutlich auch keinen geringen Anteil. 5 Ein Laie ist im Gegensatz zum Fachmann für eine Aufgabe nicht (formal) qualifiziert. Das schließt ein professionelles Niveau nicht aus, macht es aber unwahrscheinlicher, weshalb in vielen Berufen ein entsprechendes Studium bzw. eine Ausbildung die Voraussetzung für deren Ausübung ist.
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deswegen, stellt sich die Frage nach der originären Aufgabe, die Moralphilosophen in ethischen Beratungsgremien im Allgemeinen und in KEKs im Speziellen erfüllen können und sollen, mit neuer Dringlichkeit. Die minimale „Voraussetzung jeder interdisziplinären Zusammenarbeit ist es, dass […] sich die beteiligten Disziplinen überhaupt als Disziplinen anerkennen“ (Düwell 2009, S. 209). Diese Anerkennung erfährt die Ethik häufig nicht (vgl. ebd.), wofür auch die oben genannte Tatsache spricht, dass sie allzu oft Angehörigen anderer Disziplinen überantwortet wird (was wiederum den Verdacht nährt, „das bisschen Ethik“ könne von jeder beliebigen Fachperson „gleich noch mit erledigt“ werden).6 Das mag daran liegen, dass – während bei Medizinern, Juristen etc. recht offensichtlich ist, was man von ihnen erwartet, nämlich vor allem, dass sie über die für eine Problematik relevanten Fakten aus ihrem Bereich informieren sowie fachkundige Einschätzungen abgeben (z. B. als Arzt die Risiken eines medizinischen Eingriffs antizipieren oder als Anwältin rechtswidrige Empfehlungen verhindern) – die Rolle des Ethikers nicht klar genug definiert ist. Dass er nicht in erster Linie die Laienperspektive einnehmen, die öffentliche Meinung vertreten oder eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe repräsentieren soll, scheint evident (vgl. Birnbacher 2002, S. 98). Worin aber besteht dann seine spezifische Aufgabe, seine originäre Kompetenz, die er in die interdisziplinäre Experten-Runde einbringen kann? Darauf eine Antwort zu geben, ist nicht trivial. Wie sie ausfällt, hängt stark davon ab, zu was man den Ethiker qua seines beruflichen Backgrounds befähigt sieht. Auf den nächsten Seiten sollen dessen mögliche Rollen in solchen Gremien beschrieben und unter Berücksichtigung metaethischer Überlegungen gegeneinander abgewogen werden, um abschließend einen Vorschlag für seinen sinnvollen Einsatz in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien zu präsentieren und zu begründen.
Schwache ethische Expertise Gleichwohl weder Klarheit noch Einigkeit über die Expertise des Moralphilosophen herrscht, dürfte relativ unstrittig sein, dass er üblicherweise im Rahmen des Philosophie-Studiums fachliche Kenntnisse und theoretisch-methodische Fähigkeiten erwirbt. Der Entwurf des Ethikers als Person, der man eine solche „ethische Fachkompetenz“ zugesteht, ist auch unter Fachphilosophen verstärkt anzutreffen. Wir wollen diese Konzeption als „schwache ethische Expertise“ bezeichnen, die später von der „starken ethischen Expertise“ abzugrenzen sein wird. Innerhalb der schwachen ethischen Expertise lassen sich mehrere Rollen voneinander unterscheiden, welche die Aufgabenschwerpunkte des Ethikers verschieden gelagert sehen. Sie sind teilweise kompatibel und miteinander kombinierbar oder weisen sogar eine Schnittmenge auf. Da haben wir zunächst den Ethiker als Sachverständigen für ethische Theorien. Dies mag das anspruchsloseste Modell ethischer Expertise sein. Essentiell dafür ist das philosophische Fachwissen des Ethikers: Er kennt sich „mit ethischen Theorien und den 6
Das geht nicht selten zu Lasten des Reflexionsniveaus.
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relevanten Fakten aus, ebenso wie mit den faktischen Moralkodizes in verschiedenen Gesellschaften oder den Teilgruppen einer Gesellschaft“ (Birnbacher 2002, S. 117). Dieses Wissen, das sich idealerweise „auf alle Arten abstrakter oder auch eher praktisch orientierter philosophischer Probleme, Zusammenhänge, Begründungen und Theorien, die bei der Beurteilung einer konkreten moralischen Frage von Bedeutung sein können [, erstreckt]“ (van Willigenburg 1999, S. 288 ), soll er dem Beratungsgremien in vollem Umfang zur Verfügung stellen. Liegt das Hauptaugenmerk ethischer Expertise auf Leistungen wie der argumentativen Kompetenz und der Fähigkeit des Ethikers, korrekt zu schließen, kann man ihm mit einiger Berechtigung die Rolle des Logikers zusprechen: „Der Ethik-Experte ist Experte, weil er mit moralischen Begriffen, Argumenten, Normen- und Wertsystemen besonders gut umzugehen versteht [...]. Er vermag andere dabei zu unterstützen, in moralischen Konfliktfällen die relevanten Wertgesichtspunkte aufzusuchen und in durchsichtiger und nachvollziehbarer Weise gegeneinander abzuwägen“, streicht Birnbacher heraus (Birnbacher 2002, S. 101). In eine ähnliche Richtung, nämlich auf die postulierte Fähigkeit zur Deduktion, zielt auch die Idee des philosophischen Ethikers als Kartographen. Der ethische Experte soll in dieser Funktion „den Diskursteilnehmern die verschiedenen möglichen Standpunkte und ihre Konsequenzen klar machen, ihnen ‚Landkarten‘ in die Hand geben“ (Gesang 2002, S. 133). Die neuseeländische Philosophin Jan Crosthwaite betont dabei ausdrücklich die moralische Neutralität dieser Rolle: I could present explanations of the different positions which have been or could be taken on the issue, outlining their respective rationales, strengths and weaknesses. While providing a ‚neutral‘ evaluation of the various positions, I would not indicate or argue in favour of the one I judge best (Crosthwaite 1995, S. 367). Oder man fokussiert die diagnostische Kompetenz. Einschlägig für ethische Expertise ist dann die Fertigkeit, moralische Probleme zu identifizieren und einzuordnen, genauer: „To see the moral issues others have missed, to anticipate issues before they actually occur [and] to properly classify the moral problems which arise“ (Caplan 1982, S. 14). Der Philosoph schärfe durch Hinterfragen, worin er als solcher geschult sei, das Problembewusstsein der gesamten Gruppe, erläutert Siep (vgl. Siep 2002, S. 94), wobei es wichtig sei, dass er – und das erinnert an Crosthwaite – sich nicht auf die Gültigkeit einer bestimmten Position zurückziehe, sondern sich zu seinen eigenen Überzeugungen distanziert verhalte (vgl. ebd., S. 89).7 Zudem findet sich in neueren Texten zum Thema „ethische Expertise“ häufiger der Hinweis, dem Ethiker obläge es, „Mediationsaufgaben wahrzunehmen“ (Gesang 2002, S. 133), also die Mittlerfunktion zwischen mehreren Parteien bzw. Disziplinen zu erfüllen – vermutlich eine Konsequenz aus der ebenfalls in den letzten zehn Jahren in Deutschland stark gestiegenen Popularität von Mediation. Bei Konflikten, so Birnba7
Letztlich hängt die professionelle Selbstdistanz von den basalen metaethischen Überzeugungen des Ethikers ab; dazu später mehr (siehe S. 150f.).
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cher, „fällt dem Ethik-Experten [...] eine wichtige mediatorische Aufgabe zu: die eine Seite für die Sichtweise der anderen zu sensibilisieren, Vorurteile, Fehlwahrnehmungen und Mythenbildungen zu korrigieren und damit die Bedingungen für einen disziplinierten, differenzierten und rationalen Austausch von Argumenten zu schaffen“ (Birnbacher 2002, S. 108). Der Ethiker wird in diesem Fall zum Brückenbauer und Schlichter – dieser Aspekt wird uns später noch intensiver beschäftigen.
Starke ethische Expertise Allen Modellen schwacher ethischer Expertise (der Moralphilosoph als Sachverständiger, Logiker, Kartograph, Diagnostiker, Mediator) ist gemein, dass es dort nicht zum Aufgabenbereich des ethischen Beraters gehört, einen eigenen moralischen Standpunkt zu benennen und zu verteidigen bzw. andere von den Vorzügen einer bestimmten Position zu überzeugen (vgl. van Willigenburg 1999, S. 290).8 Hingegen besitzt der Ethiker in dem Konzept der „starken ethischen Expertise“ per definitionem zusätzlich genau diese, auf der ethischen Fachkompetenz basierende, moralische Kompetenz, welche es ihm erlaubt, ein inhaltliches Urteil zu fällen bzw. eine moralische Empfehlung auszusprechen.9 Er fungiert (obendrein) als Richter. – Aussagen wie „Es ist falsch, durch Tun oder Unterlassen den natürlichen Prozess des Sterbens zu beschleunigen, deshalb dürfen wir die künstliche Ernährung bei der Patientin nicht einstellen“, stünden ihm dann durchaus zu.10 Ein Vertreter starker ethischer Expertise ist der Ethikprofessor Bernward Gesang, der den Ethiker als „Semimoralexperten“ beschreibt (vgl. Gesang 2002, S. 130–134):11 Zwar besäßen alle Menschen gleichermaßen moralische Intuitionen, weshalb der Moralphilosoph diesbezüglich gegenüber dem Laien über keinen Sonderstatus verfüge; dessen ungeachtet sei er moralischer Experte qua seines überlegenen Wissens um die ethischen Theorien und um ihre jeweiligen Konsequenzen: „Wenn nur der Ethiker aufgrund seiner Kenntnis der theoretischen Seite des Überlegungsgleichgewichtes den nötigen Abwägungsprozeß vollständig durchlaufen kann, dann werden seine Moralurteile zwangsläufig besser begründet sein und mit größerer Wahrscheinlichkeit das Richtige treffen“ (ebd., S. 131). Deshalb „sollte der Ethiker auch darauf hinwirken, daß sich die nach seinem Urteil beste Moral durchsetzt“ (ebd., S. 133). Auch der niederländische Ethiker Theo van Willigenburg spricht sich explizit dafür aus, „daß der ethische Berater eine Position bezieht und zu wichtigen moralischen Schlussfolgerungen gelangt“ (van
8
So lautet zumindest die regulative Idee; kann oder will er das nicht durchhalten, bleibt ihm immer noch der „kritische Abbruch“, das heißt die Reflexion, Explikation und Diskussion seiner persönlichen Überzeugungen (siehe dazu Romfeld 2008). 9 Starke ethische Expertise umfasst also sowohl schwache ethische Expertise als auch moralische Expertise. 10 Zum Vergleich: Der schwache Ethikexperte würde bspw. als Kartograph in hypothetischen Imperativen sprechen. 11 Das Präfix „Semi-“ ist Gesangs kohärentistischem Ansatz geschuldet.
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Willigenburg 1999, S. 292) sowie „substantielle moralische Ratschläge“ gibt (ebd., S. 297f.).
Der Laie und der Prophet – das Ende der Philosophie Der Vollständigkeit halber sollen zwei weitere Rollen nicht unerwähnt bleiben, die jedoch keine im engeren Sinne philosophischen Positionen mehr verkörpern: die des Laien und die des Propheten. Die Rolle des Laien gesteht dem Moralphilosophen genauso viel (oder genauso wenig) Potential zur ethischen Expertise zu wie jedem anderen Bürger. Dies ist schon deshalb kaum plausibel, weil es dem ausgebildeten Philosophen nicht nur eine außergewöhnliche Moralkompetenz, sondern auch jede herausragende fachliche Kompetenz (also unter anderem ein überdurchschnittliches Fachwissen) in seiner Disziplin abspricht. Es ist indes schwer von der Hand zu weisen, dass „Ethiker zweifelsohne einige besondere Kompetenzen haben, die sie z. B. als Mitglieder von Ethikkommissionen tauglich machen“ (Gesang 2002, S. 117). Gälten allerdings mit Blick auf die für eine ethische Expertise relevanten Kompetenzen tatsächlich alle einheitlich als beschlagen, würde nicht nur die Sonderstellung des Ethikers hinfällig, sondern auch der Begriff der Expertise leer. Sieht sich der Ethiker in der Position, keine ethische Fachkompetenz (was in letzter Konsequenz bedeutet, dass gewissermaßen nicht ‚drin ist, was drauf steht‘) und dennoch moralische Kompetenz zu besitzen, hat er eine Rolle inne, die wir Prophet nennen wollen. Von dem starken Ethikexperten unterscheidet den Propheten, dass er infolge der fehlenden ethischen Fachkompetenz keine rationalen Gründe für seine moralischen Überzeugungen liefern kann (und in vielen Fällen das nicht einmal für nötig halten wird): Er ist als Moralprediger unterwegs, ohne die fachphilosophische theoretischmethodische Basis zu haben, auf die er seine moralischen Urteile stützt. 12 Seine Autorität als „Guru“ speist sich gerade nicht aus „besondere[n] Kenntnisse[n] und Fähigkeiten“ (Birnbacher 2002, S. 101), ihn zeichnet nicht der theoretische Standpunkt aus, „dessen Gewinnung ein [...] oft nicht leicht zu erbringendes Maß an Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit verlangt“ (ebd.), sondern moralisches Engagement. Dementsprechend sind seine Urteile eher kategorischer als hypothetischer Natur (vgl. ebd.): Zwischen der kritischen Haltung eines Propheten [...] und der kritischen Haltung des ethischen Beraters gibt es gewichtige Unterschiede. [...] Kritisch zu sein ist eine ernstzunehmende und anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert einen bestimmten Grad an behutsamer und umsichtiger Analyse, was aber eine prophetische Einstellung nur selten einfordert (van Willigenburg 1999, S. 297). Zusammenfassend noch einmal die potentiellen Rollen des Ethikers im Überblick:
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Aufgrund seiner fehlenden Fachkompetenz (als Fundament der Moralkompetenz) ist der Prophet, wie der Laie, als Ethiker nicht ernst zu nehmen.
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Der Ethiker hat Ethische FachMoralkompetenz Ethische Expertise als kompetenz Laie keine (oder Bürger) Sachverständiger, + schwache Logiker, Kartograph, Diagnostiker, Mediator Prophet + keine Richter + + starke Abb. 2: Die potentiellen Rollen des Ethikers auf der Basis seiner Kompetenzen und der davon abhängigen ethischen Expertise
Die Abhängigkeit moralischer Expertise von der Metaethik Derjenige, der eine moralische Expertise verficht – also die Existenz einer Moralkompetenz behauptet, welche es erlaubt, wahre moralische Urteil zu fällen und infolgedessen gerechtfertigte moralische Empfehlungen auszusprechen (oder stärker: verbindliche Handlungsanweisungen zu erteilen) – lehnt sich deutlich weiter aus dem Fenster, als derjenige, der an eine schwache ethische Expertise glaubt. Ob er dabei genügend Halt hat – um in dem Bild zu bleiben –, hängt eng mit der Position zusammen, die er in der Meta-Ethik vertritt. Gesang spricht diesbezüglich von der „Abhängigkeit der Frage nach dem Moralexpertentum von der metaethischen Rechtfertigungsfrage“ (2002, S. 115f.). Wie er vertreten auch wir die Auffassung, „daß die Frage des moralischen Expertentums nur adäquat behandelt werden kann, wenn man Fragen nach der richtigen Moral und die theoretische Ethik in einem viel stärkeren Maße verbindet, als dies bislang in der Debatte um das Moralexpertentum geschehen ist“ (ebd., S. 118). So setzt moralisches Wissen in der Regel voraus, dass „moral sentences are apt for truth or falsity“ (Roojen 2009).13 Das wiederum ist am ehesten gewährleistet, wenn man von der Existenz objektiver moralischer Tatsachen ausgeht (losgelöst davon, ob diese in einer außerempirischen Realität inhaltlich fixiert oder das Produkt eines bestimmten, rational zwingenden Verfahrens sind).14 Gäbe es solche, könnte der Ethiker mit einer 13
Inwiefern ein Kognitivismus ohne die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile begründbar ist, hängt davon ab, ob es gelingt, zu zeigen, dass diese in einem hinreichend starken Sinn (objektiv oder wenigstens intersubjektiv) gerechtfertigt sind, obwohl sie nicht wahr oder falsch sein können (vgl. Scarano 2006, S. 34). Ich halte das bestenfalls für sehr schwierig. Dass das mehr als eine starke Intuition ist, kann an dieser Stelle nicht vorgeführt werden. Im Übrigen sehe ich die „Bringschuld“ bei den Optimisten. 14 Eine antirealistische Konzeption von moralischer Wahrheit wird gegenwärtig kaum vertreten (vgl. Hoffmann 2008, S. 68), z. B. von Crispin Wright und John Skorupski (vgl. ebd., S. 69). Man findet sie außerdem bei J. L. Mackie (Irrtumstheorie) und R. Joyce (Fiktionalismus), deren Positionen aber der moralischen Expertise keinen Vorschub leisten.
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gewissen Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, auf der Basis seiner im Philosophiestudium erworbenen Fachkompetenz diese moralischen Tatsachen besser als der Laie zu erkennen und mithin einen privilegierten Zugang zu den richtigen Antworten auf moralische Fragen zu haben. Es wäre dann verhältnismäßig leicht begründ- und nachvollziehbar, warum er z. B. in einem KEK säße und den von Konflikt- und Grenzsituationen Betroffenen ethischen Rat bzw. konkrete Instruktionen für ihr Handeln erteilte. Vertritt man dagegen keine kognitivistische Position in der Metaethik, glaubt man nicht an moralische Erkenntnis, kann man den einem Beratungsgremium angehörenden Ethiker nicht mehr guten Gewissens als Moralexperten und damit als Richter in moralischen Konflikten begreifen oder anderen begreiflich machen: Der herausragenden moralischen Urteilsfähigkeit des Moralphilosophen, seiner Moralkompetenz, ist ohne einen entsprechenden metaethischen Unterbau die fachliche Basis entzogen. 15 Abgesehen von der skizzierten grundsätzlichen Problematik, die auf die bloße Möglichkeit moralischer Expertise zielt, müssen Verfechter des moralischen Expertentums noch weitere Angriffe aus unterschiedlichen Richtungen abwehren, die sich gegen die Angemessenheit moralischer Expertise richten. Mit van Willigenburg verweisen wir in dem Zusammenhang lediglich kurz auf drei Bedenken, die wiederholt gegen eine nichtneutrale ethische Fachberatung vorgebracht werden. Sie zielen: 1. auf die potentielle Bedrohung der moralischen Autonomie und Selbstbestimmung der übrigen Individuen durch die Autorität des Experten, 2. auf das systematische Zweifeln als Charakteristikum allen Philosophierens und der damit einhergehenden Bescheidenheit, 3. auf die exklusive Bezogenheit moralischer Problemstellungen auf den Betroffenen (vgl. van Willigenburg 1999, S. 292–303).16 Offenbar ist weder die Realisierbarkeit moralischer Expertise noch deren Wert oder Wünschbarkeit hinreichend geklärt. In dieser Hinsicht ist also Zurückhaltung geboten. Muss man sich aber deshalb von der Idee, dem Moralphilosophen käme in ethischen Beratungsgremien eine (s)einer Disziplin gemäße eigenständige Aufgabe zu, verabschieden? Anders gefragt: Ist die schwache ethische Expertise zu schwach, um die Anwesenheit des professionellen Ethikers in der Klinischen Ethikberatung und ähnlichen Institutionen zu rechtfertigen oder kann man ihm nichtsdestoweniger eine zentrale Rolle zuweisen?
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Der Ethiker nähert sich damit der Propheten-Rolle; zwar hat er (normalerweise) eine ethische Fachkompetenz, sie stützt aber in keiner Weise die behauptete Moralkompetenz. 16 Van Willigenburg kommt zu dem Ergebnis, dass keiner dieser Einwände dem Ethiker einen hinreichenden Grund bietet, von einer moralischen Expertise Abstand zu nehmen; ungeachtet dessen bin ich der Ansicht, dass sie eine eingehendere Würdigung verdienen als hier vorgenommen werden kann.
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Der Moralphilosoph als Orientierungshelfer In ethischen Beratungsgremien, sofern sie nicht unter falscher Flagge segeln oder nur symbolisch agieren, sondern sich substantiell betätigen, besteht moralischer Orientierungsbedarf: Es sollen „moralisch komplexe Entscheidungslagen im interdisziplinären Diskurs bearbeitet und multiperspektivisch reflektiert werden“ (Ley 2005, S. 303). Der Desorientierung liegt zumeist ein Konflikt zugrunde. Dabei kann es sich entweder um einen intra-individuellen Konflikt (innerhalb einer oder mehrerer Personen) oder um einen inter-individuellen Konflikt (zwischen mehreren Personen) handeln. Beide Konfliktformen sind auch in KEKs denkbar: Es kann vorkommen, dass generell eine intrapersonelle Verunsicherung darüber existiert, was in einer bestimmten medizinischen Situation getan werden soll. Es kann ferner eine offene Auseinandersetzung, z. B. zwischen Angehörigen unterschiedlicher Berufsgruppen, über die weitere Behandlung eines Patienten geben, in der zwar jeder Einzelne zu wissen meint, was richtig ist, jedoch keine Einigung zustande kommt – wobei der Umstand verschärfend wirkt, dass (unter Bedingungen mangelnden Wissens) existentielle, nicht selten irreversible Entscheidungen getroffen werden müssen. Konflikte, seien sie intra- oder interpersonell, erzeugen Begründungs- und Gesprächsbedarf. In beiden Fällen kann der Moralphilosoph bei der Suche nach moralischer Orientierung helfen: im ersten Fall als philosophischer Berater, im zweiten als Mediator. Schauen wir ihn uns zunächst als philosophischen Berater bei intrapersonellen Konflikten an. Moralische Verunsicherungen von Personen können etwa durch in verschiedene Richtungen weisende Intuitionen oder kollidierende moralische Prinzipien entstehen. Zum Beispiel fühlt man sich als Arzt verpflichtet, sowohl das Leben eines schwerstkranken Patienten zu erhalten als auch sein Leiden zu minimieren, allerdings ist das nicht immer gleichzeitig möglich. Solche Inkohärenzen 17 führen zu Irritationen – die Betroffenen wissen „bei hinreichender Kenntnis der Umstände und bestimmenden Faktoren nicht […], wofür sie sich entscheiden soll[en]“ (Luckner 2005, S. 14). In derartigen Situationen der Desorientierung (ebenso in dem anschließend betrachteten Mediations-Szenario) ist ‚Lösungen finden‘ eher als ‚Lösungen er-finden‘ zu verstehen (vgl. Bayertz 1999, S. 79): Die Lösung ist nicht fertig und muss nur entdeckt, sondern sie muss in einem kreativen Prozess geschaffen werden. Dieses „Konstruieren erfordert Sorgfalt und Kenntnis“ (ebd., S. 80), umso mehr als es dabei nicht um simple Informationsvermittlung geht: Es erfordert theoretische und methodische Expertise, über die der philosophische Ethiker als Sachverständiger, Logiker und Diagnostiker optimal verfügt. Im Rückgriff darauf ist er in der Lage, Orientierungssuchende in der klassisch philosophischen Funktion der ‚Hebamme‘ zu unterstützen: Mit seinem mäeutischem Geschick kann er u. a. zur Klärung und Analyse von ethischen Konzepten, zur Explikation und Systematisierung der impliziten Größen der verschiedenen moralischen Standpunkte sowie zum Herausarbeiten der Argumentationen für die jeweiligen Standpunkte beitragen. Außerdem vermag er, durch langjährige Studien und Erfahrungen geschult, besser als der philosophische Laie ethische und moralische Konsequenzen potentieller Ent17
Es gehört zur Alltags-Routine des Philosophen, Inkohärenzen (zunächst) aufzudecken.
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scheidungen aufzuzeigen, Hintergrundüberzeugungen sichtbar zu machen usw. Diese umfassende „Hilfe zur Selbsthilfe ist […] traditionellerweise die Domäne […] ethischer Beratung“ (Luckner 2005, S. 17), an welche beispielsweise auch Philosophische Praxen mit ihrem Angebot anknüpfen. Wie aber kann der Moralphilosoph bei interpersonellen Konflikten helfen? Dort sind Inkohärenzen nicht innerhalb von Personen, sondern zwischen ihnen entstanden. Das passiert umso leichter, da der professionsübergreifende Ansatz – wie wir zu Beginn feststellten – ein wesentlicher Aspekt der Ethikberatung ist (vgl. May 2008, S. 27): In dem Maße, wie dadurch die Perspektivenvielfalt und breite Orientierung in puncto Wertüberzeugungen gesichert wird (ebd.), verstärkt die interdisziplinäre Zusammensetzung ethischer Beratungsgremien durch den unterschiedlichen Background ihrer Mitglieder die ohnehin bestehende Schwierigkeit der Differenzen in ethischen und moralischen Fragen. Dennoch gilt es, ganz konkrete normative Probleme zu lösen und kooperativ einen Fortschritt in der Sache zu erzielen, statt dringend erforderliches Handeln durch unfruchtbare Kontroversen der involvierten Parteien zu blockieren. Speziell deshalb ist Mediation als eine Form der „konstruktive[n] Konfliktlösung mit Hilfe einer neutralen, dritten Person, bei der win-win-Lösungen angestrebt werden“ (Bundesverband Mediation e.V.) sinnvoll. Diese neutrale Person steuert als Mediator den Mediationsprozess: Sie gibt die Kommunikationsregeln und Prinzipien der Mediation vor, achtet auf deren Einhaltung, übernimmt die technische Gestaltung sowie die Moderation und hält das Verfahren in Gang. Nun sind z. B. bei Klärung rechtlicher Konflikte die Mediatoren in der Regel studierte Juristen, wohingegen in primär psychosozialen Konflikten zumeist ausgebildete Psychologen mediieren. Das scheint vernünftig, da bei ihnen – zusätzlich zur Mediationsausbildung – eine einschlägige fachliche Qualifikation vorhanden ist. Analog dazu in ethisch-moralischen Konflikten einen professionellen Ethiker als Mediator zu Rate ziehen, liegt deshalb schon intuitiv nicht allzu fern. Schließlich bedarf gerade die Lösung der in der angewandten Ethik auftretenden Probleme intensiver Beschäftigung sowie gründlicher Vorbildung und damit kompetenter Fachleute (vgl. Bayertz 1999, S. 77f.). Ein Studium der Humanmedizin beispielsweise qualifiziert hingegen nicht dazu, ethische Argumentationen nach Standards philosophisch-ethischer Theoriebildung durchzuführen (vgl. Düwell 2009, S. 210).18 Für beide oben dargestellten Dimensionen, insbesondere aber für den mediativen Ansatz, ist zudem das Verständnis der Philosophie als Integrationswissenschaft fundamental.19 Sie hat, wahrscheinlich als einzige Wissenschaft, Anknüpfungspunkte an das gesamte Fächerspektrum und überschreitet mit ihren Themen und Fragestellungen ganz selbstverständlich Disziplingrenzen: Sie ist gewissermaßen praktizierte Interdisziplinarität. Von daher eignet sie sich naturgemäß zur Übernahme der komplexen Aufgabe,
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Ähnliches gilt für ein Studium der Theologie; die Gefahr der Selbstüberschätzung in derartigen Belangen ist in dieser Domäne eventuell sogar höher. 19 Siehe das Diktum von der „Philosophie als Grund- und Gesamtwissenschaft“ (Annemarie Gethmann-Siefert (2005): Einführung in Hegels Ästhetik. München: Wilhelm Fink, Kapitel 2.3.).
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unterschiedliche Positionen kohärent zusammenzuführen bzw. -zufügen.20 Wie gut das zum Grundgedanken der Mediation passt, belegt auch der Mediations-Kongress in Köln 2006, den die „Centrale für Mediation“ unter dem Motto „Erfolgreiche Mediation ist angewandte Interdisziplinarität!“ veranstaltete.21
Schlussplädoyer: Keine Ethikberatung ohne Philosophen! Philosophie, allem voran die Ethik, ist ein klassisches Instrument der Lebensbewältigung, wie Beratung eine typisch philosophische Äußerungsform ist. Die Organisation von Alltagswissen, die Übersetzung und Vermittlung, ist der Philosophie inhärent. Ihre praktische Relevanz in Form der Gesellschaftsberatung – sei es als Individualberatung, sei es als öffentliche bzw. institutionelle Beratung – ist folglich gar nicht hoch genug einzuschätzen. Der Moralphilosoph erhält zwar vielleicht seine Anwesenheitsberechtigung in interdisziplinären ethischen Beratungsgremien nicht durch eine starke, gleichwohl durch eine schwache ethische Expertise: Er benennt nicht den ‚richtigen‘ moralischen Standpunkt oder überzeugt andere von den Vorzügen seiner eigenen (privaten moralischen) Position, sondern er unterstützt in der in klassischen philosophischen Kenntnissen und Fähigkeiten begründeten Rolle des Orientierungshelfers die übrigen Beteiligten bei der Eröffnung neuer Lösungs-Perspektiven und fördert ihre Entscheidungsfindung. Es ist also nur vernünftig, die Beteiligung von Moralphilosophen in Beratungsgremien wie KEKs zu befürworten und zu forcieren, wenn man denn in praxi an ihrem substantiellen Wirken und an dem ‚Glücken‘ ihrer verantwortungsvollen Aufgabe interessiert ist.
Literatur Badura, Jens (2002): Die Suche nach Angemessenheit. Praktische Philosophie als ethische Beratung. Münster: Lit. Bayertz, Kurt (1999): „Moral als Konstruktion. Zur Selbstaufklärung der angewandten Ethik“. In: Kampits, Peter / Weiberg, Anja (Hg.): Angewandte Ethik. Wien: ÖBVHPT, 73–98. Birnbacher, Dieter (2002): „Wofür ist der ‚Ethik-Experte‘ Experte?“ In: Gesang, Bernward (Hg.): Biomedizinische Ethik: Aufgaben, Methoden, Selbstverständnis. Paderborn: Mentis, S. 97–114. Bundesverband Mediation e.V.: „Was ist Mediation?“ http://www.bmev.de/index.php?id=mediation [Stand: 22. Mai 2013]. 20 Zu betonen ist, dass hier keine Kohärenztheorie der Wahrheit vertreten wird. Kohärenz ist lediglich ein pragmatisches Kriterium, ihre Attraktivität wird vorausgesetzt. 21 Mediation wird dort als Querschnittsdisziplin verstanden, die Erkenntnisse und Techniken aus verschiedenen Wissenschaften miteinander verbindet (siehe: http://www.zentrale-fuermediation.de/pressemitteilungen/archiv2006_279.htm [Stand: 22. Mai 2013]).
Interdisziplinäre ethische Beratungsgremien
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WINFRIED LÖFFLER
Vom Schlechten des Guten: Gibt es schlechte Interdisziplinarität? 1. „Interdisziplinarität“: zwischen Verdienst und Verdacht Das Versprechen von „Interdisziplinarität“, „interdisziplinären Ansätzen“, „interdisziplinären Zugängen“, „interdisziplinärer Relevanz“ und ähnlichen Bildungen ist zum fixen Bestandteil der Begleitrhetorik wissenschaftlicher Vorhaben und Veranstaltungen geworden; es gibt kaum einen Projektantrag – vor allem im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich –, der ohne sie auskommen würde oder dem nicht einige Andeutungen in diese Richtung zumindest gut anstünden. Gleichermaßen bekannt sind das Klischee vom Fachidiotentum und die Klage über die expansionsbedingte Zersplitterung der Wissenschaften, die den Einzelnen nicht einmal mehr Teile von Teildisziplinen wirklich vollständig überschauen lassen. Diese Situation wird als Mangel von Ordnungs- und Orientierungswissen erlebt. Interdisziplinarität scheint im wissenschaftlichen Bereich geradezu ein bonum per se zu sein, ähnlich wie Gesellschaftsrelevanz, Neuartigkeit oder Wissenschaftlichkeit überhaupt. Die Frage, ob es auch schlechte Interdisziplinarität gibt, mag daher zunächst nach Miesepeterei klingen. Ebenso bekannt ist allerdings auch, dass die fast allgegenwärtigen Interdisziplinaritätsbeteuerungen von vielen Wissenschaftlern1 mit Unbehagen oder zumindest Augenzwinkern verfolgt werden und dass deutliche Interdisziplinaritätsbekundungen und -Absichten in deren Augen eher ein Grund zur Skepsis sind: Nicht selten begegnet man der Einschätzung, bei interdisziplinären Wissenschaftsveranstaltungen sei kein echter Erkenntnisgewinn zu erwarten, oder gar, interdisziplinäres Engagement sei eine Ausweichstrategie von Kollegen, die innerhalb der scientific community ihrer eigenen Disziplin nicht recht Fuß fassen konnten. (Die Gründe dafür mögen vielfältig sein, können z.B. durchaus strukturellinstitutioneller Art sein, und sind keineswegs auf persönliches Unvermögen beschränkt.) Diese ambivalenten Einschätzungen könnten also ein Grund sein, doch die Frage nach möglicher schlechter Interdisziplinarität zu stellen – auch deshalb, weil sich daraus vielleicht nebenbei einige Aufschlüsse darüber ergeben könnten, wie eine sinnvolle und fruchtbare Explikation von „Interdisziplinarität“ aussehen könnte. Überhaupt: Wer Formen schlechter Interdisziplinarität charakterisieren möchte, der ist schon deshalb gehalten, vorab seine Vorstellungen von funktionierender und sinnvoller Interdisziplinarität zu skizzieren. Gerade angesichts der relativen Spärlichkeit einlässlicherer Literatur zum Thema, die über das Genre von Erfahrungsberichten mit 1
Wo von „Wissenschaftlern“ etc. die Rede ist, seien Wissenschaftlerinnen natürlich immer mitgemeint.
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Interdisziplinarität und anderen wissenschaftssoziologischen Betrachtungen hinausginge, ist dies ein Desiderat. Ich möchte es so einlösen: Zunächst sollen einige kurze Überlegungen dazu angestellt werden, wovon das Prädikat „interdisziplinär“ sinnvoller weise ausgesagt werden kann. Dies führt zur meines Erachtens grundlegenden Unterscheidung zwischen Interdisziplinarität als wissenschaftssoziologisch interessantem Phänomen und Interdisziplinarität auf der objektiviert-inhaltlichen Ebene (2.). Dies legt auch die Richtung des weiteren Vorgehens nahe: Abschnitt 3 enthält einige Bemerkungen zu den wissenschaftssoziologischen Aspekten der Interdisziplinarität; u.a. wird dort auf eine möglicherweise irreführende Eigenheit des deutschen Wissenschaftsvokabulars hingewiesen. Er ist eher kurz gehalten, weil die bisher verfügbare Literatur zum Thema Interdisziplinarität ohnehin um wissenschaftssoziologische Fragen zentriert ist. Anders steht es um die wissenschaftstheoretische Eigenart der Interdisziplinarität; daher wird in Abschnitt 4 ein Vorschlag unterbreitet, unter welchen Voraussetzungen auf der objektiviert-gegenständlichen Ebene der Wissenschaft am ehesten fruchtbare Interdisziplinarität zustande kommt. Zentralbegriff dieser Überlegungen werden „interdisziplinäre Objekte“ sein. Im langen Abschnitt 5 und seinen Teilabschnitten werden, auf dem Bisherigen aufbauend, drei gängige, aber meines Erachtens eben schlechte Formen vorgeblicher Interdisziplinarität analysiert: Eine, in der es zu wenige oder keine interdisziplinären Objekte gibt (5.1.), eine, in der die interdisziplinären Objekte nur Als-ob-Charakter haben (5.2.), und eine, in der die Objekte anderer Disziplinen überhaupt als nichtexistierend erklärt werden, was auf eine Art unfreundliche Übernahme fremder Disziplinen hinausläuft (5.3.).
2. Sprachliche Sondierungen: Die Träger der Interdisziplinaritäts-Eigenschaft Was kann eigentlich „interdisziplinär“ sein, d.h. was ist das grammatikalische Subjekt, von dem Interdisziplinarität sinnvoll aussagbar ist? Ein Blick auf die faktische Verwendung des Wortes zeigt, dass dafür sowohl soziale Gegenstände wie Tagungen, Forschungsinstitute, -projekte und -gespräche, Sammelbände und andere Publikationsformen in Frage kommen, als auch objektiviert-inhaltliche Gegenstände wie Problemstellungen, Untersuchungsansätze, Forschungsprogramme und vielleicht Theorien.2 (In ganz ähnlichem Doppelsinne verwenden wir übrigens auch das Wort „Wissenschaft“: Wer etwa sagt, in der Wissenschaft herrsche heute ein Konsens über […], der bezeichnet mit dem Wort eine soziale Größe, wer dagegen meint, Biologie sei eine Wissenschaft, die in vielem an die Biochemie anknüpfe, meint damit deren Bestand an Theorien, Forschungsprogrammen etc., spricht also von objektiviert-inhaltlichen Gegenständen.) Interdisziplinarität scheint also sowohl ein Thema für die Wissenschaftssoziologie 2
Mit der etwas künstlichen Wortbildung „objektiviert-inhaltlich“ meine ich dabei nicht eine Gereinigtheit von persönlichen, subjektiven Einschätzungen, sondern nur, dass hier die Inhalte des wissenschaftlichen Tuns als Objekte betrachtet werden, d.h. unter Absehung davon, wie sie zustande gekommen sein mögen, wer sie vertritt etc.
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als auch für die Wissenschaftstheorie im engeren Sinne zu sein. 3 Ich möchte beiden Fragerichtungen nachgehen, zunächst der (eher unproblematischen) wissenschaftssoziologischen und dann der wissenschaftstheoretischen im engeren Sinne.
3. Interdisziplinarität als soziales Phänomen 3.1. Träger und Foren sozialer Interdisziplinarität Es ist fraglos der Fall, dass es zahllose Aktivitäten im Sinne von derlei wissenschaftssoziologischer Interdisziplinarität gibt, die auch (ganz im Sinne der eingangs erwähnten Wissenschaftsbegleitrhetorik) weithin gefördert werden. Es gibt ebenfalls etliche Personen, die – durch ihren Bildungsgang und/oder ihre Interessen – die Voraussetzungen für solche wissenschaftssoziologische Interdisziplinarität in ihrer Person vereinigen würden.4 Das alles impliziert natürlich noch nicht, dass die wissenschaftlichen Äußerungen solcher Personen eo ipso schon interdisziplinären Charakter hätten: Die Texte eines Mathematikers, der ein Zweitstudium in Musikwissenschaften absolviert hat, werden allein deshalb noch nicht zu interdisziplinären Äußerungen. Selbst wenn ein Aufsatz von ihm in einem interdisziplinären Sammelband publiziert wird, kann es sich noch um einen rein „disziplinären“ Text aus dem Bereich der Mathematik (oder der Musikwissenschaft) handeln. Anderes könnte vielleicht gelten, wenn es sich z.B. um einen Text zur mathematischen Struktur von Renaissance- und heutigen Tonleitern und ihrem Widerschein in zeitgenössischen musikphänomenologischen Beschreibungen handelt. Aber was für die Interdisziplinarität des Textes (oder der Behauptungen darin) dann genau verantwortlich wäre, ist damit natürlich immer noch nicht geklärt. Ähnliches gilt für interdisziplinäre Forschungseinrichtungen, Arbeitsgruppen, Doktorandenkollegien, Konferenzen, Sammelband-Autorenriegen u.a. Sie verbinden Personen mit unterschiedlichen Bildungsgängen und Forschungsansätzen, umfassen vielleicht auch einige „interdisziplinäre Persönlichkeiten“ im vorhin geschilderten Sinne und repräsentieren so auf jeden Fall Interdisziplinarität als soziales Phänomen. Dies wird durch ihre Zusammensetzung auch bewusst angestrebt und trägt in vielen Fällen we3 Unter „Wissenschaftstheorie im engeren Sinne“ (ähnlich verwendet wird oft der Ausdruck „Allgemeine Wissenschaftstheorie“) will ich hier Überlegungen zur Bedeutung von Begriffen wie „Wissenschaft“, „Theorie“, „Hypothese“, „Empirie“, „Datum“, „Erklärung“, „Bestätigung“, „Verstehen“ u.a. sowie zur rationalen Rekonstruktion des wissenschaftlichen Tuns verstehen. Wissenschaftssoziologie zählt dagegen – ebenso wie Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsethik etc. – nur zur Wissenschaftstheorie im weiteren Sinne. Dass die Abgrenzung im Einzelfall mitunter schwierig ist (weil etwa eine Theorie wissenschaftlicher Theorienbestätigung schwer ohne wissenschaftsgeschichtliche Bezüge zu entwickeln ist), ändert nichts an der grundsätzlichen Brauchbarkeit dieser Unterscheidung. 4 Das in praxi, etwa bei Personalentscheidungen, oft zu Kontroversen führende Abgrenzungsproblem, ab wann jemand als „Vertreter“ einer Wissenschaft bzw. einer Disziplin gelten kann (etwa ob und welche einschlägigen Studienabschlüsse dafür notwendig oder hinreichend sein könnten), kann hier beiseite gelassen werden.
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sentlich zur Legitimation ihrer Existenz bei. Aber auch hier gilt: Was diese Interdisziplinarität sachlich-inhaltlich begründen könnte, ist damit noch nicht geklärt.
3.2. Das „Fach“ als Eigenheit des deutschen Wissenschaftsvokabulars Die Wahrnehmung eines Bedürfnisses nach „Interdisziplinarität“ wird auch vom gängigen Vokabular mitbestimmt, mit dem wir wissenschaftsorganisatorische und -klassifikatorische Fragen erörtern. Das Deutsche hält hierfür – neben „Disziplin“ und „Wissenschaft“5 – zudem das Wort „Fach“ bereit, das (wegen der störenden militärischen, pädagogischen und sportlichen Konnotationen von „Disziplin“ 6) auch überaus häufig verwendet wird. Auch das Wort „Fach“ ist nun aber keineswegs frei von potentiell irreführenden Konnotationen: „Fächer“ gibt es z.B. in Organisationsmöbeln und Poststellen, und der Sinn von „Fächern“ ist es eben gerade, eindeutige Zuordnungen (ohne Grenzfälle und Mehrfachzuordenbarkeiten) zu schaffen. Man kann aber mit gutem Grund fragen, ob auch die Wissenschaften organisiert sind, und falls es so sein sollte, ob die dort behandelten Fragen es wirklich so nahe legen. Wer die Wissenschaften als in säuberlich abgrenzbare „Fächer“ eingeteilt sieht – denen womöglich kleine bis kleinste Forschungseinrichtungen zugeordnet sind –, der wird potentiell mehr Bedarf an „fächerübergreifender“, d.h. interdisziplinärer Zusammenarbeit wahrnehmen als jemand, der die Wissenschaftsorganisation eher von Fragen, Problem(famili)en, Themen und Gegenständen her bestimmt sieht. Ist etwa eine gemeinsame Tagung von Sozialmedizinern, klinischen Psychologen, Arbeitsmedizinern, Soziologen und Sozialgeschichtlern über Burnout-Probleme in der Arbeitswelt ein Vorhaben von großer Interdisziplinarität? Oder ein gemeinsames Projekt von Geologen, Mittelalter-Archäologen, Mittelalter-Historikern, Wirtschaftshistorikern, Rechtsgeschichtlern, Technikge-schichtlern und Metallurgen über Bergbau und Verhüttung im Mittelalter? Die Antwort wird maßgeblich davon abhängen, wie sehr man die Wissenschaft in trennscharf umschriebene „Fächer“ eingeteilt sieht. Als Vergleichsinstanz aufschlussreich mag übrigens die einschlägige angelsächsische Terminologie sein; sie kennt meines Wissens kein ähnlich konnotiertes Wort wie „Fach“. Man spricht dort, neben „disciplines“, eher von „subjects“, „issues“ und Ähnlichem, benützt also ein eher problemorientiertes Vokabular, und die Frage, „in welches Fach“ eine Problemstellung genau fiele, taucht damit weniger auf. Das begünstigt eine größere Unbefangenheit, sich auch im Terrain von Nachbarwissenschaften umzutun, sei es, dass man deren Resultate nutzt, sei es, dass man selbst dort mit Behauptungen an die Öffentlichkeit tritt. Als explizites Thema scheinen „interdisciplinarity“, „interdisciplinary discourse“ etc. demgemäß auch weniger virulent zu sein; im Verhältnis zur Größe 5
„Wissenschaft“ wird hier in einem dritten Sinne verwendet, der mit den obigen nicht ganz in eins fällt, nämlich als abgrenzbarer Teilbereich („In meiner Wissenschaft würde man das Problem so beschreiben: …“, „Soziologie ist eine relativ junge Wissenschaft“). Auch in diesem partitiven Sinn kann das Wort wiederum mehr soziologische oder mehr objektiv-gegenständliche Größen meinen. 6 Siehe den Beitrag von Ian Hacking in diesem Band.
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des angelsächsischen Wissenschaftsraums gibt es dort noch weniger an Literatur zu diesem Thema als im deutschsprachigen.7
4. Ein Vorschlag: „Interdisziplinäre Objekte“ als sachlicher Kern der Interdisziplinarität Wenden wir uns nach diesen wissenschaftssoziologischen Überlegungen aber zunächst der (eher deskriptiv-sprachanalytischen) Frage zu, was auf der objektiv-gegenständlichen Ebene als Träger des Interdisziplinaritätsprädikats in Frage kommt, und im Weiteren der (normativen) Frage, was der sachliche Kern von „Interdisziplinarität“ sein könnte. Damit ist gleichzeitig die Frage gestellt, was potentiell fruchtbare interdisziplinäre Aktivitäten auszeichnen könnte. Die Antwort auf die letzteren beiden Fragen wird daher nicht mehr deskriptiv sein, sondern den Charakter eines (begründeten) normativen Vorschlags haben. Sprachlich fällt auf, dass das Wort „interdisziplinär“, soweit es auf der objektivgegenständlichen Ebene verwendet wird, meist Gegenstände bezeichnet, die eher der „Versuchs- und Aktivitätsseite“ der Wissenschaft zuzuordnen sind als ihrer „Erfolgsund Ergebnisseite“: Man spricht eher von „interdisziplinären Forschungsprojekten / Forschungsansätzen / Zugriffen etc.“ und wesentlich seltener von „interdisziplinären Theorien“, „interdisziplinären Beschreibungen“, „interdisziplinären Erklärungen“, „interdisziplinären Begriffen“ oder Ähnlichem. Warum werden solche Formulierungen als sprachlich merkwürdig empfunden? Hilfreich könnte hier die alte, schon bei Aristoteles (Metaphysik VI, 1) grundgelegte Unterscheidung zwischen dem Materialobjekt und dem Formalobjekt einer Wissenschaft sein. Das Materialobjekt (bzw. die Materialobjekte) einer Wissenschaft sind jene Gegenstände, von denen – lose ausgedrückt – in dieser Wissenschaft die Rede ist und über die Behauptungen gemacht werden. In moderneren Begrifflichkeiten könnte man sagen, das Materialobjekt seien die ontologischen Voraussetzungen (ontological commitments), die die jeweilige Wissenschaft macht, bzw. ihr Objektbereich (domain of objects bzw. universe of discourse). Das Formalobjekt dagegen ist die spezielle Rück7
Als grober Anhaltspunkt mag ein Vergleich von Trefferzahlen im Online-Katalog der Bibliothek des US-Kongresses (http://www.loc.gov) und dem Gesamtkatalog des Österreichischen Bibliothekenverbunds (http://meteor.bibvb.ac.at) dienen (Stand: 13. November 2009): Während in den USA „interdisciplinarity“ (81 Treffer) und „interdisciplinary discourse“ (59) deutlich unter 100 Treffern bleiben und nur „interdisciplinary research“ (1044) ein einigermaßen gängiges Schlagwort zu sein scheint (allerdings meist nur in Untertiteln zu Symposiums- und anderen Forschungsberichten), markiert das Abstraktum „Interdisziplinarität“ in den österreichischen Katalogen ein anscheinend deutliches Thema (441 Treffer). Ähnlich verhält es sich bei den thematisch unspezifischeren Adjektiven: Die Suche nach „interdisciplinary“ erbringt in der Library of Congress 4734 Treffer, die trunkierte Suche nach „interdisziplinär***“ in Österreich dagegen 6351. Die Suche in deutschen Verbundkatalogen ergibt ein ähnliches, eher noch deutlicheres Bild, ist aber wegen schwächerer Vereinheitlichung der Katalog-Benutzeroberflächen schwerer quantifizierbar. – Ich setze bei allen diesen Vergleichen voraus, dass die Beschlagwortungsfeinheit in europäischen und amerikanischen Katalogen in etwa gleich ist.
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sicht, unter der diese Objekte untersucht werden. Das sind nicht einfach die Eigenschaften, die man von diesen Objekten aussagt (Eigenschaftszuschreibungen werden vielfach erst das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit sein!), sondern bezeichnet die Fragerichtungen, den Gesichtspunkt der Untersuchung. Klassisch geworden ist Aristoteles’ Charakterisierung des Unterschiedes von Naturwissenschaft (physike episteme), Mathematik und „Erster Philosophie“ (prote philosophia, wir würden heute „Metaphysik“ dazu sagen): Das Materialobjekt dieser Wissenschaften ist jeweils dasselbe, nämlich das Seiende. Das Formalobjekt der Naturwissenschaft ist jedoch das Seiende, insofern es bewegt bzw. in Veränderung ist, das Materialobjekt der Mathematik das Seiende, insofern es zahlenmäßig bestimmt ist, und das Materialobjekt der Ersten Philosophie ist das Seiende, insofern es Seiendes ist – die Erste Philosophie betrachtet nach Aristoteles die Dinge also unter der allgemeinsten denkbaren Rücksicht. Diese im Deutschen mit der Wendung „insofern es [...] ist“ formulierte Umschreibung gibt also die jeweiligen Betrachtungsrücksichten oder Formalobjekte an. Formalobjekte sind also – um ein nahe liegendes Missverständnis zu vermeiden – keine „Objekte“ im Sinne unabhängiger Gegenstände, sondern „Objekte in einem bestimmten Zugriff“ bzw. Objekte, an denen man bestimmte Züge besonders heraushebt und betrachtet. Medizin und Soziologie mögen etwa im Materialobjekt übereinkommen (es ist in beiden Fällen der Mensch), die Formalobjekte sind jedoch verschieden: Es ist hier der Mensch, insofern er in seinen Funktionsweisen beeinträchtigt und heilungsbedürftig ist, und dort der Mensch, insofern er in gesellschaftlichen Kontextbedingungen wie Gruppen, Normen, Werten, Rollenerwartungen etc. lebt.8 Damit wird unsere vorhin gemachte Beobachtung verständlich, warum „interdisziplinär“ eher von Gegenständen auf der Versuchs- und Aktivitätsseite ausgesagt wird: Wenn verschiedene Wissenschaften zumindest verschiedene Formalobjekte haben (oft auch verschiedene Materialobjekte), dann ist mit „interdisziplinären Theorien“, „interdisziplinären Erklärungen“ oder Ähnlichem kaum zu rechnen. Vor diesem Hintergrund soll nun ein Vorschlag unterbreitet werden, was man als Kern von sinnvoller und potentiell fruchtbarer Interdisziplinarität ansehen könnte; der Vorschlag ist dabei bewusst nicht als trennscharfes Abgrenzungskriterium formuliert, sondern als Tendenzbeschreibung: Interdisziplinäre wissenschaftliche Zusammenarbeit funktioniert dort besser und ist auch eher sinnvoll und potentiell fruchtbar, 1. wo die beteiligten Disziplinen dasselbe Materialobjekt haben und 2. wo die jeweiligen Formalobjekte nicht allzu unähnlich sind oder (falls 1. oder 2. nicht erfüllt sind)
8
Mediziner und Soziologen mögen über diese hemdsärmeligen und sicher präzisierungsbedürftigen Beschreibungen ihrer Disziplinen gütig hinwegsehen; sie sind aber hoffentlich adäquat genug, um den Unterschied zwischen Material- und Formalobjekt (über Aristoteles’ Beispiel hinaus) zu illustrieren.
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3. wo die Zusammenhangsgesetzlichkeiten zwischen den Material- und Formalobjekten der beteiligten Disziplinen in größerem Umfang bekannt oder zumindest abschätzbar sind. Es muss also, verkürzend ausgedrückt, einen hinreichenden Bestand an „interdisziplinären Objekten“ geben, soll interdisziplinäre Zusammenarbeit sinnvoll und fruchtbar sein. Dieser Vorschlag macht verständlich, warum bestimmte Konstellationen von Interdisziplinarität tendenziell als mehr oder weniger befriedigend empfunden werden. Das oben beispielhaft erwähnte interdisziplinäre Projekt über Bergbau und Verhüttung im Mittelalter würde man vermutlich als sinnvoll und fruchtbar in Erinnerung behalten: Das Materialobjekt von Mittelalter-Archäologie, Mittelalter-Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte und Technikgeschichte ist jeweils dasselbe, die Formalobjekte sind zum Teil überaus ähnlich. Mit den anderen beteiligten Wissenschaften gibt es zwar keine übereinstimmenden Material- und Formalobjekte, aber einen hinreichenden Bestand an Zusammenhangsgesetzlichkeiten: Der Metallurge mag über die Zusammensetzung von Hüttenprodukten an einem bestimmten Verhüttungsort und die technischen und chemischen Voraussetzungen des Verhüttungsprozesses Auskunft geben, der Geologe kann dies mit Vorkommen und Zusammensetzung der nächstgelegenen Erze in Zusammenhang bringen. Über die Zulieferung der für den Verhüttungsprozess allenfalls nötigen Zuschlagstoffe und generell über den Handel mit Ausgangsstoffen und Produkten des Bergbaus und des Hüttenwesens kann der Wirtschaftsgeschichtler seinen Beitrag liefern. Da Bergbau und Handel immer Gemeinschaftsunternehmen mit hohem materiellem und sonstigem Risiko und mit speziellen Regelungsbedürfnissen sind, haben sich dort gesonderte Rechtsnormen entwickelt, über die der Rechtsgeschichtler forscht, und ähnliches mehr. Als ähnlich interessant und potentiell fruchtbar würde man wohl die Zusammenarbeit von Religionspädagogen, Allgemeinpädagogen, Soziologen, Medienwissenschaftlern, Islamwissenschaftlern und anderen Religionswissenschaftlern über Fragen des interreligiösen Gesprächs im Unterricht empfinden, oder von Physikern, Ingenieurwissenschaftlern, Statistikern, Juristen, Zellbiologen, medizinischen Psychologen, Internisten und Sozialmedizinern über die mögliche Schädlichkeit von Mobilfunkmasten und -geräten. Auch wenn im letzteren Beispiel noch besonders viele Wissenslücken bestehen, so sind doch die aussichtsreichen Fragerichtungen und auch die Querverbindungen zwischen ihnen hinreichend abschätzbar, um einen genügend reichen Bestand an „interdisziplinären Objekten“ zu sichern. Als Nebenbemerkung sei erwähnt, dass obiger Vorschlag es nicht grundsätzlich ausschließt, dass es echte, sinnvolle und potentiell fruchtbare Interdisziplinarität auch zwischen „Hilfswissenschaften“ und deren „anwendenden Wissenschaften“ geben könnte. Das mag zunächst vielleicht kontraintuitiv erscheinen, ist es bei näherer Betrachtung aber keineswegs. Betrachten wir etwa das Verhältnis von Mathematik und betrieblichem oder volkswirtschaftlichem Rechnungswesen, also an sich ein klassisches Hilfswissenschaftenverhältnis: Jenseits des Niveaus alltäglicher Anwendungsfragen kann es hier durchaus sinnvolle Interdisziplinarität geben. Wenn etwa Mathematiker neue Nähe-
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rungsmethoden und Ökonomen deren Anwendbarkeitsbedingungen untersuchen, so wird es sogar in beide Richtungen wertvolle Inspirationen geben. 9
5. Formen schlechter Interdisziplinarität Als Kehrseite des eben gemachten Vorschlags liegt es nahe, schlechte Interdisziplinarität dort zu vermuten, wo es trotz scheinbarer Interdisziplinarität einen Mangel an interdisziplinären Objekten (im erläuterten Sinne) gibt. Im Folgenden seien drei (natürlich nur idealtypisch zu verstehende und kaum je in Reinform beobachtbare) Formen schlechter Interdisziplinarität skizziert. Man könnte sie, möchte man handliche Termini dafür zur Verfügung haben, als „Nice-to-know“-Interdisziplinarität, als „Als-ob“-Interdisziplinarität“ und als „Unfreundliche-Übernahme-Interdisziplinarität“ etikettieren.
5.1. „Nice-to-know“-Interdisziplinarität Eine erste Form sind „interdisziplinäre“ Aktivitäten ohne klar definierte interdisziplinäre Objekte, oder solche, bei denen der Zusammenhang vornehmlich durch Ähnlichkeiten auf metaphorischer Ebene oder auf der Ebene der sprachlichen Oberflächengrammatik hergestellt wird. Es herrscht hier also eine scheinbare Interdisziplinarität, die bei genauerem Hinsehen aber ohne hinreichend ähnliche Formalobjekte auskommen muss, oder gar ohne ein gemeinsames Materialobjekt, ohne dass dieser Mangel durch interessante Zusammenhangsgesetzlichkeiten ausgeglichen würde. Gründe für solche Veranstaltungen gibt es viele, einer davon ist das Vorhandensein und Verbrauchtwerdenmüssen von zweckgebundenen Finanzmitteln, das Stattfindenmüssen von Veranstaltungsreihen in einem vorgegebenen zeitlichen Rhythmus, das grundsätzlich positive Image von „Interdisziplinarität“ gerade bei wissenschaftsexternen Geldgebern und Ähnliches mehr. Beispiele10 für solche Formen wären interdisziplinäre Veranstaltungen von Astronomen und Musikwissenschaftlern über Sphärenmusik oder Veranstaltungen über „Das Fremde“ unter Beteiligung von Juristen (Thema: Fremdenrecht), Literaturwissenschaftlern (Literaturen im Exil), Sprachwissenschaftlern (Fremdwörter und Sprachmigration), Biologen (Einwanderung bisher fremder Pflanzen und Tiere, sogenannter Neophyten), Soziologen (Abgrenzung und Integration von Fremden in verschiedenen Kulturen), Ästhetikern (Verfremdungstechniken), Ernährungs- und Wirtschaftsgeschichtlern (Geschichte sogenannter „Kolonialwaren“ und ähnlicher Importe), Militärgeschichte (Geschichte der Fremdenlegion und anderer nichtnational 9 Die Tatsache, dass zahlreiche Wirtschaftsnobelpreise der letzten Jahre für Arbeiten im Grenzgebiet von Ökonomie, Spieltheorie und Psychologie vergeben wurden, dürfte ebenfalls ein Hinweis auf echte Interdisziplinarität zwischen Wissenschaften sein, die man auf den ersten Blick vielleicht als Hilfs- und Anwendungswissenschaften einstufen würde. 10 Die Beispiele haben teils selbst erlebte, teils von Kollegen zugetragene wahre Kerne, wurden aber schematisiert und z.T. geringfügig adaptiert – auch deshalb, um die Kerne etwas zu verschleiern und niemanden im Nachhinein zu kritisieren.
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rekrutierter Armeeeinheiten) und Ähnliches mehr. Der Zusammenhang wird hier im Wesentlichen durch das mehrdeutige Wort „fremd“ gestiftet. Das Materialobjekt mag zwar in vielen Fällen dasselbe sein (der Mensch), aber die Formalobjekte sind derart unterschiedlich und die Zusammenhänge zwischen ihnen derart lose und entfernt, dass von sinnvoller und potentiell fruchtbarer Interdisziplinarität kaum die Rede sein kann. Zweifellos werden solche Ereignisse, sofern sie von kompetenten und engagierten Beteiligten getragen werden, durchwegs ein angenehmes Gefühl des Bereichertseins in vielerlei Hinsicht und des Viel-Gelernt-Habens in kurzer Zeit hinterlassen (daher auch der Vorschlag, derlei als „Nice-to-know“-Interdisziplinarität zu bezeichnen11). Sie führen auch zu einer Horizonterweiterung und vielleicht heilsamen Einsicht in die Relativität der eigenen Disziplin, aber sie hinterlassen auch den unbefriedigenden Eindruck der bloß additiven Zusammenstellung verschiedener Erkenntnisfragmente; bei den aktuell untersuchten Problemen verspricht solche rein additive, schlechte Interdisziplinarität wenig Fortkommen. Die Integrationsleistung für all das auf „nice-to-know“-interdisziplinären Veranstaltungen Gehörte / Gesehene / Gelesene muss jeder Teilnehmer im Wesentlichen selber vollbringen. Das ist nicht ganz unproblematisch, weil derlei bloß additive Interdisziplinarität sehr häufig vor einem Laien- oder Halblaienpublikum inszeniert wird (aufgrund der bunten Sprecherlisten ziehen solche Veranstaltungen auch ein buntes Publikum an, seien dies Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen oder „echte“ wissenschaftliche Laien).12 Dies ist ein geradezu ironisches Faktum, da „Interdisziplinarität“ ja ansonsten als eine der möglicherweise wirksamen Strategien gegen das oft bedauerte Orientierungsdefizit der Wissenschaften gilt. Zur Ehrenrettung bloß „nice-to-know“-interdisziplinärer Veranstaltungen und der organisatorischen Bemühungen dahinter sollte noch angefügt werden, dass sie keineswegs in jedem Falle nutzlos sind. Als soziales Ereignis im Wissenschaftsbetrieb können sie zur Anbahnung von persönlichen wissenschaftlichen Kontakten beitragen, die sonst kaum zustande gekommen wären und die nicht selten zu echter, sinnvoller interdisziplinärer Zusammenarbeit führen. Bildlich gesprochen sind die Vorgänge in der Cafeteria hier mitunter wirksamer als jene im Vortragssaal. Eine weitere mögliche Rechtfertigung für vorwiegend additive Formen der Interdisziplinarität kann es dort geben, wo die Wissenschaften Entscheidungsprozessen zuarbeiten sollen, die Parameter aus verschiedensten Bereichen zu berücksichtigen haben, ohne
11 Der Anglizismus wurde bewusst in Kauf genommen: „Nett, das zu wissen“ ist im Deutschen keine geläufige Redewendung, und es gibt meines Wissens hier überhaupt kein Äquivalent, das die eigentümliche staunend-respektvolle Gleichgültigkeit gegenüber irgendwie interessanten, aber für den Sprecher letztlich belanglosen Inhalten so prägnant ausdrückt wie „nice to know“. 12 Es gibt derlei übrigens auch im akademischen Lehrbetrieb: „Interdisziplinäre Seminare“ etc. gestalten sich über große Teile ihrer Zeit oft so, dass sich hochrangige Lehrende gegenseitig nochmals Teile ihrer Anfängervorlesungen halten (bzw. halten müssen – einfach deshalb, weil die große Spezialisierung dies bedingt). Die Integrationsleistung müsste auch hier im Wesentlichen jeder Teilnehmer selbst erbringen.
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dass es algorithmisierbare Lösungsstrategien für solche Entscheidungen gäbe. 13 Die aktuellen „Nachhaltigkeits“-Diskurse könnten ein Beispiel für solche Interdisziplinarität bieten: Nach üblicher Auffassung ist „nachhaltig“ eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die sowohl ökologischen, ökonomischen als auch Gerechtigkeitsgesichtspunkten genügt – weil diese Gesichtspunkte stärker verbunden sind, als man es in der Vergangenheit wahrnahm (für eine Übersicht siehe Löffler 2004). Um nun im Einzelnen „nachhaltige“ Strategien für einen konkreten Problembereich in einem bestimmten Teil der Welt zu entwickeln, ist als erster Schritt die Bereitstellung möglichst vieler relevanter Expertisen nötig, ohne dass über die genauen Zusammenhänge vorab schon allzu viel bekannt sein müsste. Punkt 3 des obigen Vorschlags ist also nur in einem schwachen Sinne erfüllt. Dennoch wird man die weitgehend additive Form der Interdisziplinarität in diesem Stadium als sinnvolle Suchbewegung erachten; immerhin ist ja ihre Zielvorstellung hinreichend klar umschrieben.
5.2. „Als-ob“-Interdisziplinarität Denkbare Wege, der viel beklagten Zersplitterung der Wissenschaften entgegen zu arbeiten, sind der Versuch der probeweisen Übertragung von Methoden und Begriffen aus anderen Wissenschaften oder der Versuch, Erkenntnisse einer Wissenschaft in die Begrifflichkeit einer anderen zu übersetzen, um sie deren Vertretern leichter zugänglich zu machen und auch, um sich der impliziten Voraussetzungen im eigenen und fremden disziplinären Wissenschaft-Treiben bewusst zu werden.14 Derlei Kommunikationsversuche sind zunächst einmal als grundsätzlich sinnvolle Aktivitäten im Vorfeld echter Interdisziplinarität einzustufen. Fragwürdig wird es allerdings dort, wo das Bewusstsein um die Problembeladenheit von Methoden- und Begriffsübertragungen verloren geht, wo die Übertragung also zur Selbstverständlichkeit wird. Zuweilen wird es sogar als Fortschritt gefeiert, einen Erkenntnisbereich so zu betrachten, als ob er den Gesetzlichkeiten eines anderen folge. Nicht selten ist dies auch vom Bestreben mitgetragen, am Sozialprestige anderer Wissenschaften zu partizipieren, die in der öffentlichen Wahrnehmung als „härter“, verlässlicher und/oder anwendungsnäher gelten. Konjunktur in diesem Sinne haben derzeit etwa die Übertragungen ökonomischer Modelle, die zum Entstehen neuer Disziplinbereiche wie Bildungsökonomie, Medizinökonomie etc. geführt haben, und die Übertragung von Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften mit dem Postulat neuer Bereiche wie Neuropädagogik, Neuromarketing u.a. Man sollte allerdings die Geltungsgrenzen von Modellen und die Gefahr der Modellüberdehnung nicht unterschätzen und nicht davon ausgehen, dass die gewählten Modelle unmittelbare Wirklichkeitsgeltung haben. 13
Traditionell wurde dieses Thema der Fähigkeit zu vernünftigen Entscheidungen im Einzelfall unter den Stichwörtern „(Einzelfall-)Klugheit“ (phronesis) oder auch Urteilsfähigkeit (iudicium) untersucht. 14 In der Wiener Schule des „konstruktiven Realismus“ um Fritz Wallner wurde dieser Gedanke der „Verfremdung“ von Wissensgehalten sogar zu einem bewussten wissenschaftsorganisatorischen und bildungspolitischen Programm ausgearbeitet (Wallner 1992).
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Sprachlich verräterisch für das Vorliegen solcher Fehler sind „nichts anderes als“Formulierungen: Die Gestaltung von Schulbildungsgängen in einer Gesellschaft sei letztlich nichts anderes als die Gestaltung von Ressourcen- und Chancenverteilungsprozessen innerhalb derselben (und habe daher auch im Wesentlichen nach ökonomischen Gesichtspunkten zu erfolgen), Lernprozesse seien nichts anderes als die Verfestigung kognitiver Muster etc. Ein weiteres Beispiel für „Als-ob“-Interdisziplinarität ist die vereinheitlichende Betrachtung aller kosmischen Prozesse (von der Herausbildung stabiler Teilchen nach dem Big Bang bis zur Entwicklung von Sprache und Kultur) als „evolutionäre“ Prozesse, die zuweilen vorgeschlagen wird. Das leitende Modell, dessen Perspektive hier bewusst für verschiedenste Bereiche – von der Astrophysik über die Biochemie und die Evolutionsbiologie bis hin zur Linguistik, Kulturwissenschaft und Ästhetik – fruchtbar gemacht werden soll (und daher im Erfolgsfall hohen Interdisziplinaritäts- und Vereinheitlichungsgewinn verspräche), stammt aus der Evolutionsbiologie,15 und die leitende Vorstellung ist jene der Höherentwicklung bzw. Komplexitätszunahme im Laufe der Zeit. Eine eingängige Darstellung einer solchen Konzeption der „universalen Evolution“ – mit deutlichen selbstkritischen Passagen über deren Leistungsgrenzen – findet sich etwa bei Gerhard Vollmer (1995, S. 59–91). Wie die meisten Verfechter solcher Konzeptionen sieht Vollmer klar, dass vor allem die Ausdehnung des Evolutionsmodells vor die biologische Evolution (etwa auf eine Evolution der Teilchen im Kosmos etc.) eine problematische Modellüberdehnung wäre und von den eigentlichen Charakteristika des (biologischen) Evolutionsmodells, etwa der Rolle von Mutation, Umweltdruck und Selektion, wenig übrig bliebe. Weniger Bedenken hat etwa Daniel C. Dennett, das Modell des Algorithmus auf sämtliche Vorgänge im Kosmos zu übertragen; die biologische Evolution erscheint dann nur als ein Teilaspekt des umfassenden kosmischen Algorithmus, der das Verhalten aller Natur-Entitäten seit dem Big Bang steuert (Dennett 1997; kritisch dazu Löffler 2001). Dieses Algorithmus-Modell ist freilich wesentlich allgemeiner und unspezifischer als das Evolutionsmodell; bei näherer Betrachtung dürfte es nur eine neue Version der altbekannten These sein, dass der Naturverlauf naturgesetzlich gebunden sei. Beschränken wir die weitere Betrachtung also auf die gehaltvollere, weiter verbreitete und prima facie auch plausiblere Ausdehnung des biologischen Evolutionskonzepts von den ersten replikationsfähigen Molekülen über Organismen und deren Sozialverhalten bis zur hin menschlichen Sprache und Kultur. Prominente Vertreter dieser Konzeption sind u.a. John Maynard Smith und Eörs Szathmáry 16 sowie Richard Dawkins17. Ihre
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Genauer gesagt, aus einer Vereinfachung derselben: Die gegenwärtige „Synthetische Evolutionstheorie“ präsentiert sich als Komplex von vielfältigen Theorieansätzen, die um den Theoriekern von zufälliger Mutation und nichtzufälliger, umweltbedingter Selektion angelagert sind. Für eine gemeinverständliche Einführung siehe Mayr 2003. 16 Für die Ausdehnung des Evolutionskonzepts von den ersten replikationsfähigen Molekülen bis zur menschlichen Sprache und Gesellschaft siehe etwa Maynard Smith / Szathmáry 1999. Das Buch ist eine populäre, aber niveauvolle Zusammenfassung von Maynard Smith / Szathmáry 1995 (deutsch 1996).
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Grundgedanken kann man zusammenfassend etwa so erläutern: Im Tierreich ist es klar, dass bestimmte genetisch bedingte Verhaltensweisen (etwa spezielle Fress-, Flucht- und Sozialverhalten) den Überlebens- und Replikationserfolg von Tieren entscheidend mitbestimmen. Was der Phänotyp eines Tieres ist, der dem Umweltdruck ausgesetzt ist, hängt also nicht nur von seinen körperlichen Merkmalen ab, sondern auch von Verhaltensmerkmalen. Der „extended phenotype“ umfasst also gleichsam den gesamten „Umweltauftritt“ des Organismus. Damit ist klar, dass sich mutationsbedingt geänderte Verhaltensweisen auch unterschiedlich erfolgreich weiterverbreiten können. Überträgt man diese Idee nun auf jene Tierpopulationen, deren Verhalten sowohl genetisch bedingt als auch im gewissen Ausmaß flexibel und zur Imitation fähig ist (man denke etwa an verschiedene Primatenpopulationen, in denen unterschiedliche Techniken durch Imitation weitergegeben werden, etwa das Herausstochern von Termiten mittels eines Stocks, oder spezielle Aufbrechtechniken für hartschalige Früchte), dann wird verständlich, dass auch dieses kulturelle Erbe den Fortpflanzungserfolg mitbestimmt. Dawkins, Maynard Smith, Szathmáry u.a. nennen diese Einheiten der kulturellen Evolution (etwa Techniken und andere nicht genetisch fixierte Verhaltensregelmäßigkeiten) „Meme“. Solche Meme seien dem Konkurrenzdruck ähnlich ausgesetzt wie Gene, sie konkurrenzieren sich auch gegenseitig, erfolglose oder ausgesprochen destruktive Meme können aussterben etc. Überträgt man dies nochmals auf menschliche Sprache und Kultur, wird der Bereich der Meme ungleich reichhaltiger (Daniel Dennetts launige Beispielliste (Dennett 1997, S. 505) umfasst Ideen wie das Rad, Sprühdosengraffiti, Pfandflaschen, die farbige Nachbearbeitung von Filmen, das Ideal der „politischen Korrektheit“, Die Hochzeit des Figaro, Flugzeugentführungen u.a.). Es ist klar, dass eine solche vereinheitlichende Betrachtungsweise, sofern sie sich als berechtigt (d.h. von hinreichend deutlich auszumachenden interdisziplinären Objekten getragen) herausstellen würde, ein großes Potenzial für interdisziplinäre Zusammenarbeit böte. Eine kritische Analyse zeigt allerdings, dass insbesondere die zentrale MemKonzeption diesbezüglich angreifbar ist (was auch Dawkins ansatzweise einräumen muss: Dawkins 1982, S. 111f.), weil es eben auch tiefgreifende Unterschiede zwischen Genen und Memen gibt: Meme verändern sich teilweise durch direkte, bewusst und gezielt herbeigeführte Eingriffe, Gene dagegen in der Regel durch Zufallsmutation; bei Memen ist der Austausch und die Vermengung zwischen lange getrennten Kulturen möglich, bei Genen ist kein Austausch zwischen weiter entfernten Arten möglich; Meme können sich miteinander ziemlich beliebig vermischen (darauf beruht u.a. manieristische Kunst), Gene nicht; Meme unterliegen einer Art Lamarckistischer Evolution (d.h. erworbene Meme werden weitergegeben), während bei der Darwinistischen Evolution, der die Genveränderungen unterliegen, keine erworbenen Organismuseigenschaften weitergegeben werden. Die Dissimilaritäten sind also im Ergebnis so stark, dass man von einer „kulturellen Evolution“ nur in Anführungszeichen sprechen sollte. Soweit der Gedanke daran den17 Dawkins 1982. Das einflussreiche Buch ist bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden. Die Mem-Konzeption wird dort deutlicher – da bereits in Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen – konturiert als in der losen Darstellung in Dawkins 1976, Kap.11.
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noch als faszinierend und interdisziplinär fruchtbar empfunden wird, mag dabei das eingangs erwähnte Bedürfnis mitspielen, das Ansehen der eher „weichen“ Kulturwissenschaften durch Anleihen an der „härteren“ Evolutionsbiologie zu befördern. Die damit erzielbare Interdisziplinarität dürfte aber über den „Als-ob“-Charakter nicht hinauskommen.
5.3. Interdisziplinarität als unfreundliche Übernahme Eine dritte Form schlechter Interdisziplinarität kann als Verschärfung der „Als-ob“Interdisziplinarität eingeordnet werden; mitunter mögen die Grenzen auch verfließen. Während bei letzterer die Erinnerung an den „Als-ob“-Charakter der interdisziplinären Betrachtung noch aufrecht ist, nur die Probleme der Modellübertragung unterschätzt werden und die grundsätzliche Berechtigung anderer Zugänge zum selben Phänomenbereich nicht bezweifelt wird, kann der interdisziplinäre Zugang auch so weit gehen, dass die Berechtigung anderer Disziplinen, ihrer Objektbereiche und Methoden letztlich in Abrede gestellt wird. In einem ökonomischen Idiom könnte man diese Form der Interdisziplinarität so charakterisieren, dass sie auf ein unfriendly takeover, also die unfreundliche Übernahme anderer Disziplinen durch eine Leitdisziplin hinausläuft. Die bei der „Als-ob“-Interdisziplinarität nur ansatzweise bemerkbare „Nichts-anderes-als“Betrachtung wird hier also bewusst vollzogen und zum Programm erhoben. Von „Inter“-Disziplinarität kann damit genau genommen nur in einem vorläufigen Sinn die Rede sein: Ebenso wie im faktischen Wirtschaftsleben das übernommene Unternehmen oft als Marktteilnehmer oder als Rechtssubjekt verschwindet, könnte das wissenschaftliche „Übernahmeopfer“ ja nach Ansicht der Übernehmer prinzipiell ebenfalls abgelöst werden. Seine vorläufige Funktion ist nur, den Phänomenbereich, den die „Übernehmerdisziplin“ einst besser erklären wird, zu umschreiben. Dennoch bemühen sich Übernahmeaspiranten typischerweise, möglichst viele solcher „interdisziplinärer“ Anknüpfungspunkte (im erwähnten vorläufigen Sinne) zu schaffen; der mittelbare Nutzen solcher Interdisziplinarität für sie ist es ja, die potentielle Leistungsfähigkeit der Übernehmerdisziplin zu demonstrieren. Die gegenwärtig bedeutsamste Erscheinungsform solcher Interdisziplinarität sind manche der sogenannten „Naturalisierungsprojekte“, wie sie insbesondere in der Gegenwartsphilosophie und zum Teil auch in der Psychologie prominent vertreten werden. Freilich sind die Redeweisen von „Naturalisierung“ und „Naturalismus“ mehrdeutig, in ihren Behauptungen unterschiedlich stark und auch oft bei ein und demselben ihrer Verfechter schillernd (für eine Übersicht siehe Löffler 1999 und Sukopp 2006, für kritische Diskussionen Sukopp / Vollmer 2007). Schwächere Naturalismen lassen dabei, was ihren interdisziplinären Impetus angeht, meist „Als-ob“-Interdisziplinarität erkennen: Man versucht einen Phänomenbereich mit Begriffen, Methoden, ontologischen Voraussetzungen und Modellen zu erschließen, die an die Naturwissenschaften angelehnt sind. Ob man deshalb auch schon andere mögliche ontologische Voraussetzungen und Methoden als inakzeptabel ablehnt, ist offen (zu mehreren diesbezüglichen Positionsvarianten siehe Walde 2008).
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„Unfreundliche-Übernahme“-Interdisziplinarität ist erst jenen härteren naturalistischen Positionen zuzuschreiben, welche die Objektbereiche, die andere Disziplinen zugrunde legen (etwa die Ethik oder die kognitiv verstandene Psychologie), ausdrücklich als epiphänomenal, fiktionär oder sonstwie irreal betrachten und damit behaupten, dass diese Disziplinen eigentlich keinen wahrheitsfähigen Diskurs über ihre vermeintlichen Objekte führen können. Der eigentlich wahrheitsfähige Diskurs bleibe ja den jeweils relevanten Naturwissenschaften (etwa Evolutionsbiologie, Neurophysiologie u.a.), meist unter dem aufschiebenden Vorbehalt ihrer zukünftigen Vervollkommnung, vorbehalten. Inwieweit man aus dieser Programmatik dann tatsächlich ernsthafte DisziplinÜbernahme-Prognosen für die Zukunft ableitet, oder gar Prognosen über das Verschwinden bestimmter Redeweisen (z.B. über „Bewusstsein“, „Freiheit“, „Schuld“ etc.) aus unserer Alltags-, Wissenschafts- oder Rechtssprache, ist bei verschiedenen Autoren unterschiedlich. Nicht untypisch scheint mir – etwa in den Debatten um die Auswirkungen der neueren Hirnforschung (bildgebende Verfahren u.a.) auf das Menschenbild – etwa folgende, etwas janusköpfige Vorgangsweise zu sein: Zunächst wird mit Verweis auf eine Fülle von empirischem Material die grundlegende Fehlerhaftigkeit und Änderungsbedürftigkeit unserer Konzepte von Handlung, Intention, freier Entscheidung, Schuld und Strafe proklamiert; im Endeffekt und mit Blick auf mögliche praktische Auswirkungen (etwa im Straf- und Strafvollzugsrecht) wird aber letztlich doch wieder für die Beibehaltung pragmatisch nützlicher Fiktionen wie „schuldhaften Handlungen“ plädiert, sodass die rechtspolitischen und anderen praktischen Implikationen der naturalistischen Deutung de facto gering sind.18 Hier ist nicht der Ort, eine kritische Detailuntersuchung naturalistischer Positionen zu entwickeln; ich beschränke mich daher auf einige wenige, das InterdisziplinaritätsVerständnis solcher Positionen betreffende Aspekte (und zwar jener Positionen, die zur ambitionierteren Unfreundliche-Übernahme-Strategie neigen). Erstens ist daran zu erinnern, dass Beispiele erfolgreicher Theorienreduktion mit nachweislicher Aufgebbarkeit früherer, wohletablierter Theorien größeren Maßstabs zugunsten einer späteren in der Wissenschaftsgeschichte selten sind.19 (Notabene: Dass ständig zahllose erfolglose Hypothesen und kleinräumigere Theorieansätze wieder verworfen und durch andere ersetzt werden, ist etwas anderes.) Das sollte die Erwartungen, was die Ersetzbarkeit oder die grundsätzliche Umdeutung ganzer Disziplinen angeht, dämpfen. Zweitens: Daraus folgt natürlich noch keine „ewige Bestandsgarantie“ für beliebige Disziplinen und Diskursbereiche; die Beweislast ist aber dem zuzuweisen, der für die grundsätzliche Revisionsbedürftigkeit etablierter Disziplinen plädiert. Die Erinnerung an die obige Unterscheidung von Materialobjekten und Formalobjekten könnte hier jedoch einiges an vermeintlichem Revisionsbedarf nehmen: Wenn es unter einem bestimmten Formal18
Ein Beispiel bieten etwa jüngst Pauen / Roth 2008. Ansonsten stellt das Buch in seinen vorsichtigen Schlussfolgerungen ein Beispiel für moderaten Naturalismus dar; Unfreundliche-Übernahme-Interdisziplinarität wird darin nicht betrieben. 19 Immer wieder erwähnt wird das Beispiel der Aufgabe der Phlogiston-Theorie (als einigermaßen großräumiger Theorie) zugunsten der modernen Chemie der Oxidations-/Reduktionsvorgänge. Zur Einführung in die verschiedenen Reduktionsbegriffe siehe z.B. Carrier 1995.
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objekt einen einigermaßen stabilen und auch fruchtbaren wissenschaftlichen Diskurs gibt (etwa: eine Form von Psychologie, die mit freien Handlungen, Wünschen und Kognitionen arbeitet), so ist man dadurch noch nicht verpflichtet, auch auf ontologischer Ebene an notorisch problematische Entitäten wie Willensakte etc. zu glauben. Drittens fällt auf, dass die Revisionsbedarfsanmeldungen durchwegs Bereiche betreffen, die weltanschaulich aufgeladen sind: Es geht um Fragen des Menschenbildes, der Determinanten menschlichen Handelns, der Maßstäbe für das, was man als richtiges Handeln empfindet, und des Umgangs mit problematischen Verhaltensformen. In einem starken Sinne naturalisiert werden sollen also Disziplinen wie philosophische Anthropologie, Ethik, allenfalls noch Psychologie und Strafrechtswissenschaft. Ein Naturalisierungs- und Ersetzungsbedarf im Bereich anderer Geistes- oder Sozialwissenschaften oder anderer Wissenschaftsbereiche wird dagegen kaum jemals angemeldet, nicht einmal im Sinne einer längerfristigen Programmatik – ohne dass jedoch verlautbart würde, dass diese anderen Wissenschaften deshalb grundsätzlich und unrettbar unfundiert wären. Es liegt also der Verdacht nahe, dass hier weniger ein wissenschaftliches Desiderat treibende Kraft des Naturalisierungs-Unternehmens ist, sondern irgendwelche wissenschaftsjenseitigen, weltanschaulichen Vorentscheidungen. Solche naturalistischen Ansätze legen häufig eine prononcierte Interdisziplinarität an den Tag und können sich großer populärwissenschaftlicher Aufmerksamkeit sicher sein, etwa wenn es um evolutionäre und/oder neurowissenschaftliche Teilerklärungen für menschliche Verhaltensweisen, Täuschungstendenzen und andere Irrationalitäten, prima facie-Verhaltensparallelen im Tierreich und Ähnliches mehr geht. Wenn dieses Bestreben nach interdisziplinärer Abstützung aber letztlich solchen weltanschaulichen Vorentscheidungen geschuldet ist (und nicht primär wissenschaftlichen Zielsetzungen dient), dann wäre dies ein Grund mehr, derlei Interdisziplinarität als zwar vielleicht populäre, aber in der Sache schlechte Ausprägungsform zu betrachten.20
Literatur Carrier, Martin (1995): „Reduktion“. In: Mittelstraß, J. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3. Stuttgart / Weimar: Metzler, S. 516–521. Dawkins, Richard (1976): The Selfish Gene. Oxford: Oxford University Press. Dawkins, Richard (1982): The Extended Phenotype. Oxford: Oxford University Press. Dennett, Daniel C. (1997): Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens. Hamburg: Hoffman & Campe. Löffler, Winfried (1999): „Naturalisierungsprogramme und ihre methodologischen Grenzen“. In: Quitterer, J. / Runggaldier, E. (Hg.): Der neue Naturalismus - eine Herausforderung an das christliche Menschenbild. Stuttgart: Kohlhammer, S. 30–76.
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Ich danke den Herausgebern dieses Bandes für viele wertvolle Kommentare und Verbesserungsvorschläge zu einer Vorversion dieses Texts.
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Löffler, Winfried (2001): „Algorithmus, Evolution und das Selbst. Zu Dennetts Theorie des Bewußtseins“. In: Krieger, Gerhard / Ollig, Hans-Ludwig (Hg.): Fluchtpunkt Subjekt. Facetten und Chancen des Subjektgedankens. Paderborn: Schöningh, S. 223–240. Löffler, Winfried (2004): „Was hat soziale Gerechtigkeit mit Nachhaltigkeit zu tun?“ In: Littig, Beate (Hg.), Religion und Nachhaltigkeit. Münster: Lit, S. 41–70. Maynard Smith, John / Szathmáry, Eörs (1999): The Origins of Life. From the Birth of Life to the Origins of Language. Oxford: Oxford University Press. Maynard Smith, John / Szathmáry, Eörs (1995): The Major Transitions in Evolution. Oxford: W.H. Freeman Spektrum. Mayr, Ernst (2003): Das ist Evolution. München: Bertelsmann. Pauen, Michael / Roth, Gerhard (2008): Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sukopp, Thomas (2006): Naturalismus: Kritik und Verteidigung erkenntnistheoretischer Positionen. Frankfurt a. M.: Ontos. Sukopp, Thomas / Vollmer, Gerhard (Hg.) (2007): Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme. Tübingen: Mohr Siebeck. Vollmer, Gerhard (1995): „Der Evolutionsbegriff als Mittel zur Synthese“. In: Ders.: Biophilosophie. Stuttgart: Reclam, S. 59–91. Walde, Bettina (2008): „Die Naturalisierung von Ich und Selbst“. In: Wetz, F. J. (Hg.): Kolleg Praktische Philosophie, Band 1: Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam, S. 27–61. Wallner, Fritz (1992): Acht Vorlesungen über den Konstruktiven Realismus. Wien: WUV Universitätsverlag.
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Epistemisch-moralische Hybride und das Problem interdisziplinärer Urteilsbildung 1. Vorbemerkung und Thesen Aus dem weiten Problemfeld dessen, was mit „Interdisziplinarität“ bezeichnet ist, werden im Folgenden drei Aspekte fokussiert. Im ersten Teil geht es um das klassische philosophisch-wissenschaftstheoretische Thema der Trennung – und der „epistemischmoralischen“ Verknüpfung – von Empirie und Ethik mit Blick auf „Interdisziplinarität“, deren Bedeutung in den vergangenen Jahren sich nicht zuletzt jener Verbindung epistemischer und moralischer Anliegen verdankt. Im zweiten, konzeptionellen Schritt soll gezeigt werden, dass über eine rein terminologische Taxonomie hinaus durchaus auch eine material begründete Systematik von vier Formen fächerübergreifenden Zusammenarbeitens, von „n>1-Disziplinaritäten“, erstellt werden kann; diese hilft nicht zuletzt der Verständigung darüber, worum es genauer geht, wenn über „Interdisziplinarität“ räsoniert wird. (1) Eine Disziplin liefert bei Bedarf/Anfrage Expertisen für eine andere Fachrichtung (= Prä-Interdisziplinarität, bzw. hilfswissenschaftliche Disziplinarität). (2) Disziplinen arbeiten separat, beziehen sich aber mehr oder weniger parallel und unverbunden auf den gleichen Gegenstand (= Multidisziplinarität). (3) Es erfolgt eine gemeinsame Fragestellung und disziplinenübergreifende Kooperation anhand infra-wissenschaftlicher Problemorientierung, ggf. auch ein Methodentransfer zwischen Disziplinen (= Interdisziplinarität im engeren Sinne). (4) Die gemeinsame Fragestellung, die Kooperationspartner und der Methodentransfer zwischen Disziplinen umfassen zudem Weiterungen jenseits der academic communities (Politik, NGO etc.) (= Transdisziplinarität). Schließlich soll im dritten Teil jenseits der „Interdisziplinarität“ als fächerübergreifender bzw. -integrierender Arbeitsweise gefragt werden, ob es auch eine spezifische Form interdisziplinärer Urteilsbildung gibt. Herausgearbeitet werden soll, dass die idealtypische Trennung von beschreibenden und bewertenden Disziplinen nicht so sehr das Problem von Interdisziplinarität ist, sondern vielmehr disziplinär unterschiedliche Umgangsweisen mit ihrer jeweiligen Verbindung. Insofern existieren keine besonderen „interdisziplinären“ Urteile, sondern lediglich gemischte Urteile, in denen möglichst reichhaltige Perspektiven empirischer und evaluativer bzw. normativer Art zusammengeführt werden sollen.
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2. Warum Interdisziplinarität? Fächerübergreifende Zusammenarbeit als Resultat epistemischnormativer Überlegungen Obwohl Interdisziplinarität nicht selten als eher wohlfeile rhetorische Strategie (ab)qualifiziert wird, verdankt sie ihre Bedeutsamkeit sehr wohl guten Gründen. Diese sind epistemologischer, aber auch ethischer Art, wie insbesondere die Debatten um Umweltforschung oder auch die Bioethik in den letzten Jahren zeigen. 1 Im Folgenden sei diese Verbindung exemplarisch anhand der Umweltforschung kurz skizziert. Die Forderung nach verstärkter fach- und disziplinübergreifender Forschung entstand unter anderem im Kontext der Diskussion um zunehmende Umweltprobleme um 1970. 2 Angesichts von Artensterben und Lebensraumverlust, von toxischen Stoffen und Ressourcenknappheit sollte die Wissenschaft – oder besser: die Wissenschaften, diese Umformulierung ist bedeutsam – dazu beitragen, die natürlichen Kontexte vor allem in Hinsicht auf die Lebensvollzüge von Menschen, nicht nur besser zu verstehen, sondern auch Grundlagen für einen angemesseneren Umgang in und mit der (nichtmenschlichen) Natur zu schaffen.3 Die neue Wissenschaftsform soll und muss dabei unstrittig fächerübergreifend sein, wie beispielsweise das einflussreiche Beratungsgremium „Wissenschaftsrat“ auch noch Mitte der 1990er Jahre formuliert: „Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen von Individuen, sozialen Gruppen und Gesellschaften bestimmen die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt. Deshalb darf sich die Umweltforschung nicht in naturwissenschaftlich-technischen Untersuchungen erschöpfen. Humanwissenschaftliche Forschungsaktivitäten, die das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt untersuchen, sind zentrale, bislang allerdings noch wenig entwickelte Bestandteile der Umweltforschung“ (Wissenschaftsrat 1994, S. 7). Abgesehen von der Forschungspolitik ist dabei der Bezug zur normativen Dimension aufschlussreich: Werte sind hier zugleich Gegenstand der Forschung, was voraussetzt, dass ein Umweltverhalten existiert, in dem handlungsfähige Wesen als moralische Akteure eine maßgebliche Rolle spielen. Die Begründung von fächerübergreifender Forschung lässt sich wie folgt für die Umweltthematik in allgemeiner Form in drei Schritten rekonstruieren, wobei diese Abfolge auch in anderen Wissenschaftsbereichen und damit verknüpften Problemlagen zu finden ist:
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Meine Ausführungen basieren auf Überlegungen, die erstmals in Potthast (2005) sowie erweitert in Potthast (2008a,b) ausgeführt wurden. 2 Umweltprobleme gab es selbstverständlich sehr viel früher, und historisch wäre auch im Detail viel zur Vorgeschichte der nicht nur für „den Westen“ entscheidenden Zeit um 1970 zu sagen; doch die Umbruchsituation und Bedeutsamkeit wird auch in einer differenzierenden Perspektive nicht geleugnet, vgl. Radkau (2002, S. 284ff.). 3 Eine frühe, immer noch einschlägige wissenschaftssoziologische Studie dazu bieten Küppers / Lundgreen / Weingart (1978).
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1. Die grundlegende These besagt, dass die Umwelt zunehmend durch menschliche Bearbeitung („Nutzung“) in problematischer Weise verändert wird: Von Menschen geprägte Lebensräume und deren biologische Vielfalt (nicht-anthropogene, „natürliche“ Ökosysteme) verschwinden oder werden irreversibel transformiert, nicht erneuerbare natürliche Ressourcen werden in extrem rascher Zeit verbraucht, es entstehen zunehmend Probleme für Landnutzungen aufgrund toxischer oder anderer Belastungen, auch die land- und forstwirtschaftliche Vielfalt verschwindet. Mit einem Satz: Die Umwelt wird durch Menschen in ihrer Existenz bedroht, was auch für den Menschen erhebliche Probleme aufwirft. Diese Annahmen bestehen in einer Verbindung von empirisch-wissenschaftlichen Befunden und einer Bewertung, sie stellen mithin ein evaluatives epistemisch-moralisches Urteil dar.4 2. Auf Grund der Situation und ihrer Bewertung erscheint zwingend die unmittelbare Bereitstellung von handlungsrelevantem, zielbestimmtem Orientierungswissen nötig zu sein, das man vielleicht allgemein als „umweltbezogene Phronesis“ bezeichnen könnte, als Handlungsklugheit, die in die Praxis umzusetzen sei. 5 Hier handelt es sich um ein präskriptives ethisch-politisches Urteil darüber, was erforderlich ist, um richtig handeln zu können. Noch nicht geklärt ist hier allerdings, von welcher Art diese Umwelt-Phronesis sein kann und sein soll: Es wäre ja möglich, dass lokale, vorwissenschaftliche, religiöse oder spirituelle Quellen gegenüber globalisierten, westlichabendländischen Umweltwissens- und damit auch -verhaltensmodellen vorzuziehen wären. Auch diese vor allem in den 1980er Jahren heftig geführte Debatte, hat eine genuin ethische und wissenschaftsethische Dimension.6 3. Dieser Bedarf wird schließlich nun auf Fragen der Forschungsorganisation, förderung und -administration bezogen: Weil Umwelt ein Gegenstand ist, der viele Aspekte von Nichtwissen und Ungewissheit enthält, müssen neue Formen einer Umweltwissenschaft dieses Wissen bereitstellen, also nun eine „UmweltwissenschaftsPhronesis“ generieren. Ein solches präskriptives epistemisches Urteil beinhaltet zum einen die allgemeine Annahme, dass mehr Wissenschaft zur Lösung der – vorwiegend wissenschaftsexternen – Umweltprobleme wichtig, wenn nicht gar prioritär ist. Zum anderen zielt die Forderung auf eine Wissenschaft neuen Typs, die in der Lage ist, für die gestellten Probleme tatsächlich richtige Analysen bereit zu stellen und Handlungsempfehlungen auszusprechen. Auch kritische Verweise darauf, welche Art von Praxiswissen nicht geeignet ist, gehören hierzu: Beispielsweise liefert die historische Umweltforschung neuere Studien zur zweifelhaften Naturverträglichkeit bestimmter bislang als „ökologisch nachhaltig“ interpretierter Gesellschaften bzw. Kul4 Deskriptive epistemisch-moralische Urteile kommen in dieser Rekonstruktion nicht vor, weil die Betonung auf moralischen Bewertungen bzw. Sollensforderungen liegt, weshalb sich aber evaluative und präskriptive Urteile unterscheiden lassen. Ob deskriptive epistemisch-moralische Urteile (nur) bei Annahme eines starken moralischen Realismus oder Naturalismus als metaethischer Basis möglich wären, sei an dieser Stelle nicht weiter erörtert. 5 Zur Phronesis im Kontext von Interdisziplinarität vgl. Petersen (2005). 6 Vgl. beispielsweise die Debatte um den Physiker und New Age Protagonisten Fritjof Capra (1983), der eine neue Form des Wissens generieren wollte, die fernöstliche Weisheiten mit moderner Naturwissenschaft verbindet.
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turen, oder sie verweist auf politisch problematische Zielkonflikte zwischen emanzipatorischen Zielen einerseits und der überkommenen „natürlichen Ordnung“, in der Menschen vermeintlich stehen soll(t)en, andererseits (vgl. Radkau 2002). Pluralität bedeutet hier aber in jedem Fall den Bezug auf mehrere Disziplinen, die durchaus unterschiedlichen Wissenschaften zuzuordnen sind, also beispielweise Natur-, Geistesund Sozialwissenschaften. Inwiefern dabei eine neue Einheitswissenschaft angestrebt wird oder ob genau dies nicht erfolgen soll, kann zunächst offen bleiben. Eine ganz ähnliche Rekonstruktion lässt sich für die Forderung nach Interdisziplinarität in der Bioethik vornehmen (Potthast 2008b, S. 258): 1. Die neuen biomedizinischen Technologien und ihre Anwendungsfelder bringen (möglicherweise neuartige) ethische Fragen und Probleme mit sich. Hierbei handelt es sich um ein evaluatives Urteil zur epistemologischen und ethischen Situationsbeschreibung. 2. Aufgrund dieser Situation wird integratives handlungsrelevantes, zielbestimmtes Orientierungswissen für die „Biopolitik“, also die politischen Entscheidungen hinsichtlich bioethischer Fragen, dringend benötigt. Hierbei handelt es sich um ein prä7 skriptives ethisch-politisches Urteil hinsichtlich eines epistemologischen Desiderats. 3. Interdisziplinäre Forschung muss und kann dieses notwendige Wissen bereitstellen. Hierbei handelt es sich um ein präskriptives ethisch-epistemisches Urteil. Dabei gibt es allerdings noch eine Besonderheit zu beachten: Bioethik ist charakteristisch in einer doppelten Weise mit den Biowissenschaften verknüpft. Zum einen umfasst sie die ethische Dimension der Forschung und Anwendung dieser Wissenschaften. Zum anderen erwägt Bioethik das moralisch richtige Handeln unter Berücksichtigung biologischen Wissens. Dabei sind biowissenschaftliche Modelle, insbesondere aus Evolutionsbiologie und Ökologie, sogar zuweilen Grundlage ethischer Weltentwürfe geworden (vgl. Farber 1994, Maienschein / Ruse 1999). Die Biowissenschaften – gemeint sind Biologie und Medizin – prägen mithin die Struktur der Bioethik auf zweifache Weise: Einerseits bilden neue biowissenschaftliche Anwendungsoptionen in Medizin, Landwirtschaft und Umwelt den Anlass für ethische Fragen nach deren Mitteln, Zwecken und Zielen. Andererseits fließen biologische Konzepte des Lebendigen in die Formulierung der Problemlagen und der Lösungsvorschläge sowie in den Begründungskontext ethischer Positionen ein. Es handelt sich also um eine Kombination empirisch-wissenschaftlicher und moralischer Aspekte – zugleich als Anlass und Lösungsmöglichkeit. Allgemein zusammengefasst: Fächerübergreifende Zusammenarbeit ist für bestimmte Problemzusammenhänge als unumgänglich anerkannt, und zwar insbesondere für Ex7
Die Kombination der Punkte 1 und 2 verweist darauf, dass ein eigenes moralisches Interesse der Ethiker durchaus nicht im Konflikt mit einem professionellen Interesse steht, sondern es eher merkwürdig anmuten würde, wenn Ethiker sich allzu distanziert gegenüber der (eigenen) Moral geben. Werden bioethische Fragen als tatsächliche moralische Probleme identifiziert, dann können weder die Art der Bearbeitung noch das Ergebnis der Erwägung den ethischen Experten auf der persönlichen Ebene egal sein.
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pertise(n) zu gesellschaftlich drängenden Fragen. Ist dies gleichbedeutend mit einem neuen Typ von Wissenschaft? In Anlehnung an den Postmodernebegriff wird die zur Lösung der anstehenden Probleme zu entwickelnde Expertise zuweilen als „post-normal science“ bezeichnet und entworfen. Aus dieser Perspektive der Wissenschaftsforschung ist die Situation, in der die Wissenschaft derzeit um Expertise gebeten wird, geradezu als das Gegenteil einer Forschungssituation „im Elfenbeinturm“ gekennzeichnet: „facts are uncertain, values in dispute, stakes are high and decisions urgent“ (Funtowicz / Ravetz 1993, S. 86). Sowohl die Umweltwissenschaften als auch die Bioethik als auch andere aktuelle Themen einer Ethik in den Wissenschaften passen sehr gut unter eine solche Charakteristik: a) unsichere oder strittige Faktenlage, b) strittige Werte und Normen, c) es steht viel auf dem Spiel, d) dringender Entscheidungsbedarf. Bevor im folgenden Abschnitt dazu einige Konkretisierungen vorgenommen werden, sei ein naheliegender Einwand besprochen. Keinesfalls ist die Interdisziplinarität ein Kind allein von drängenden gesellschaftlichen Problemlagen wie der Umweltproblematik oder der Biopolitik. Auch im Kontext der Wissenschaften selbst finden sich Prozesse und Dynamiken fächerübergreifender Kooperationen, die sich sogar als besonders fruchtbar erwiesen haben. Ein Beispiel ist die historische Umweltforschung, in der unter anderem klassische Archäologie, Philologie, Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaften miteinander kooperieren (Knopf 2008, Meier / Tillessen 2010). Auch wissenschaftshistorisch ist der Schritt über die Fächergrenzen sehr bedeutsam. In der Biologie kam es um 1900 zu erheblichen Transformationen: a) die so genannte synthetische Evolutionstheorie (auch „Neo-“ oder „Synthetischer Darwinismus“ genannt) brachte Allgemeine Genetik, Populationsgenetik, Verhaltensforschung und weitere Zweige der Biologie zusammen, wobei hier die Rolle von Forschern aus anderen Disziplinen als Anatomie, Taxonomie und Systematik von größter Bedeutung war. Mathematiker, Strahlengenetiker und Freilandbiologen trugen neue empirische und theoretische Bausteine zur Evolutionstheorie zusammen. In der Genetik entstand die Molekularbiologie vor allem via Strahlenphysik und Biochemie, also mit Hilfe der Arbeit von Physikern und Chemikern. Das bedeutet, dass unterschiedliche externe Disziplinen ihre Vertreter und Methoden in die Biologie transferierten und letztendlich vor allem Molekularbiologie und Genetik transformierten (vgl. Kay 2001). Solche Beispiele zeigen, dass fächerübergreifende Zusammenarbeit nicht von gesellschaftlichen Problemen gleichsam allein induziert ist, dass sie aber sehr wohl stets eng mit ihnen zusammenhängen. Was aber genau ist „fächerübergreifende Zusammenarbeit“?
3. Taxonomie und Systematik von n>1-Disziplinaritäten Die Bedeutung der Frage nach fächerübergreifenden Kooperationen – und den jeweiligen damit verbundenen Institutionen – die hier abstrakt und allgemein als „n>1Disziplinaritäten“ bezeichnet seien, liegt neben den inhaltlich interessanten Aspekten stets zugleich auf einer strategischen Ebene. Beide sind wie angedeutet immer auch normativ zu verstehen: Fast jede Debatte um fächerübergreifende Zusammenarbeit berührt die Frage nach den Besonderheiten und eben den epistemologischen Vorzügen
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bestimmter Forschungs- und Erkenntnistypen. Und durchaus polemisch wird entweder auf der einen Seite behauptet, die ganze Rede von „Interdisziplinarität“ sei eine Mode, die viel verspreche, aber nichts halte oder dass es die Interdisziplinarität, die klappt, schon immer gegeben habe; auf der anderen Seite stehen VerfechterInnen der fächerübergreifenden Zusammenarbeit, die den Anschein erwecken, als sei diese die grundsätzlich bessere Form der Erkenntnisproduktion. Und zum dritten wird selbstredend mit Wörtern Politik gemacht: Multidisziplinarität wird ähnlich abschätzig als gescheitert beurteilt wie (angeblich) Multikulturalität. Interdisziplinarität sei eine Chimäre, da es nichts zwischen den Disziplinen geben könne oder gar dürfe, wirklich innovativ sei allein Transdisziplinarität. So anregend diese Polemiken auch sein mögen, festzuhalten gilt, dass es keine richtigen oder falschen Definitionen, sondern nur mehr oder weniger angemessene gibt, die auf Basis nachvollziehbarer Kriterien die Festlegung und Unterscheidung unterschiedlicher Formen fächerübergreifender Zusammenarbeit ermöglichen; einzubeziehen sind dabei sowohl die konzeptionelle als auch die praktische Dimension. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst ein möglichst breiter Konsens zum Spektrum der Formen fächerübergreifender Zusammenarbeit inhaltlich umrissen und ein Vorschlag zur Sprachregelung vorgelegt werden. Zugleich kann daraus eine auf Kriterien basierte Systematik fächerübergreifender Zusammenarbeit gewonnen werden, die die Unterschiede der Ansätze deutlich macht und Anschlussfragen der zeitlichen und qualitativen Bewertung eröffnet. Die bestehenden erheblichen Unterschiede hinsichtlich der Einschätzung der Möglichkeiten und Wirklichkeiten wissenschaftlicher Kooperation an den oder jenseits der Grenzen akademischer Disziplinen seien dabei keinesfalls geleugnet. Die Wissenschaftsforschung – worunter hier Philosophie, Soziologie und Geschichte der Wissenschaften zusammengefasst werden – sowie die beforschten Akteure selbst haben – nicht nur, aber gerade auch – mit Bezug auf die anwendungsbezogene Umweltforschung in den letzten Jahrzehnten etliche Fallstudien und Analysen zur fächerübergreifenden Zusammenarbeit vorgelegt, auf die hier aufgebaut werden kann.8
3.1. Vorbemerkungen zu Disziplinaritäten Die Rede von „n>1-Disziplinaritäten“ setzt voraus, dass einigermaßen fassbar ist, was denn eine Disziplin ist. Dies stellt sich als sehr viel schwieriger heraus als es auf den ersten Blick erscheint. Es gibt zwar institutionell abgegrenzte Disziplinen oder (Studien-)Fächer, aber dort ist oft nicht klar, inwiefern sie selbst bereits mehrere Fachkulturen als eigenständige Disziplinen enthalten. Dies gilt beispielsweise für die Biologie, in der unter anderem noch immer die alten Trennungen von Botanik und Zoologie 8
Vgl. aus dem deutschen Sprachraum Küppers / Lundgreen / Weingart (1978), Fuest (2004), Balsiger (2005), Baumgärtner / Becker (2005), Bergmann et al. (2005) allgemein zur Inter/Transdisziplinarität: Mittelstrass (2003), Deinhammer (2003), Dürnberger / Sedmak (2004). Vgl. ferner das Diskussionsforum http://www.interdisciplines.org/interdisciplinarity.
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und später Mikrobiologie wirken. Und inzwischen gibt es mit Genetik und Molekularbiologie, Morphologie und Anatomie, Physiologie, Taxonomie und Systematik, Ökologie, Neurobiologie und so weiter viele Teilgebiete, die durchaus als eigene Disziplinen gelten können oder die zugleich im Einzelnen sehr viel mehr mit anderen Fächern wie Physik, Chemie, Medizin oder Psychologie gemeinsam haben als mit ihren eigenen biologischen Nachbardisziplinen. Auch die Medizin ist definitiv eine Disziplin mit intern stark differenzierten Disziplinaritäten. Ferner ist evident, dass es ein Spektrum verschiedener Intensitäten fächerübergreifender Zusammenarbeit(en) gibt. In einem Kontinuum von sehr lockerer bis zu sehr enger Zusammenarbeit können idealtypisch charakterisierte Abschnitte auf dem Kontinuum unterschieden werden. Diesen können Namen gegeben werden. Hier taucht das alte Problem des Umschlags von Quantität in Qualität auf: An weit entfernten Punkten auf dem Kontinuum ist durchaus von qualitativ anderen Forschungsansätzen zu sprechen, beispielsweise unterscheidet sich rein disziplinäre Forschung in vieler – wenn auch nicht in jeder – Hinsicht von Projekten, an denen mehrere Disziplinen tatsächlich zusammen- und nicht nur nebeneinander her arbeiten. Zugleich gibt es jedoch sicherlich Projekte, die sich nur graduell hinsichtlich ihrer n>1-Disziplinarität unterscheiden.
3.2. Kriterien zur Unterscheidung von Formen fächerübergreifender Zusammenarbeit „Fächerübergreifende Zusammenarbeit“ oder „n>1-Disziplinaritäten“ seien synonym als inhaltlich unbestimmter Überbegriff jeder Art von Kooperation verstanden, in der halbwegs identifizierbare Fächer oder Disziplinen miteinander interagieren. Will man Formen unterschiedlicher n>1-Disziplinaritäten unterschieden, müssen die Kriterien klar sein, anhand dessen dies geschehen soll. Die folgende Aufstellung von vier solcher Kriterien ist vielleicht nicht vollständig, dürfte aber die wichtigsten umfassen: x Problemherkunft: wissenschaftsintern vs. wissenschaftsextern; x Gemeinsames bei der Durchführung: allein der Forschungsgegenstand oder (auch) die Fragestellung oder sogar der Gesamtprozess, in dem von der Fragestellung über die Zusammenstellung der Beteiligten für die Forschung bis zur Ergebnisanalyse und den zu ziehenden Konsequenzen stets gemeinsam gearbeitet wird; x Methoden: Vielfalt vorhandener vs. Transformation von bzw. Generierung ganz neuer Methoden; x Stabilität der Disziplinen: Konstanz der bestehenden oder deren Transformation oder Neubildung(en).
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3.3. Vier Formen fächerübergreifender Zusammenarbeit: Ein Vorschlag zur Verständigung Wenn die oben genannten Unterscheidungen akzeptiert werden, lassen sich vier Formen fächerübergreifender Zusammenarbeit wie folgt charakterisieren (wichtig ist dabei nicht die Bezeichnung, sondern der damit verbundene inhaltliche Unterschied): 1. Prä-Interdisziplinarität bzw. hilfswissenschaftliche Disziplinarität: Eine Disziplin liefert bei Bedarf/Anfrage Expertisen für eine andere Fachrichtung. Eine interessante, bereits lange eingebürgerte Sprachregelung besteht in der Geschichtswissenschaft, wo bei eher philologischen oder auch naturwissenschaftlichen Beiträgen zur Analyse und Auswertung von Quellen trefflich von historischen „Hilfswissenschaften“ die Rede ist.9 Angedeutet sei hier eine gewisse schwierige Dialektik von „Datenknecht“ und „Ergebnisherr“. 2. Multidisziplinarität: Disziplinen arbeiten separat, beziehen sich aber mehr oder weniger parallel und unverbunden auf den gleichen Gegenstand. Dies muss nicht eine physische Einheit wie beispielsweise ein Lebewesen oder eine Landschaft sein, sondern kann auch ein anderes Objekt (Artefakt, Epoche), ein Forschungsfeld oder sogar ein Begriff sein. Man kann hier an einen Sammelband – beispielsweise über Stammzellforschung, einen See oder über Interdisziplinarität – denken, in dem die jeweiligen Fächer eigene Beiträge aus ihrer Sicht auf den gemeinsamen Gegenstand richten. Die einzelnen Fächer bleiben dabei ihren jeweils getrennten Erkenntniszielen und praktiken verbunden.10 3. Interdisziplinarität im engeren Sinne: Diese umfasst eine gemeinsame – und gemeinsam erarbeitete – Fragestellung, gemeinsames Forschungsdesign sowie disziplinenübergreifende Kooperation anhand infra-wissenschaftlicher Problemorientierung. Es erfolgt ggf. ein Methodentransfer zwischen Disziplinen oder die Entwicklung neuartiger Ansätze und Methoden, also insgesamt andere und weitaus intensivere Formen der Kooperation von Fächern und deren Vertretern (Balsiger 2005).11 4. Transdisziplinarität: Die gemeinsame Fragestellung, Kooperation und Methodentransfer zwischen Disziplinen erfährt hier zudem Weiterungen jenseits der academic communities, es werden also Politik, zivilgesellschaftlichen Initiativen oder die Industrie in den gesamten Prozess (und nicht nur partiell) einbezogen. Man unterscheidet Transdisziplinarität von der Interdisziplinarität im engeren Sinne genau dadurch,
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Diese nehmen übrigens universitär einen fest etablierten Platz in der Institutions- und Ausbildungslandschaft der Geschichtswissenschaft ein. 10 Dagegen bezeichnet Mittelstrass (2003) diese oder vergleichbare schwache Formen der n>1Disziplinarität mit eher negativer Konnotation als „Interdisziplinarität“. 11 Mittelstrass (2003) benennt diese Form der n>1-Disziplinarität, wenn sie denn dezidiert die etablierten Fachgrenzen überschreitet mit dem qualitativ ausdrücklich positiv interpretierten Wort „Transdisziplinarität“. In einer solchen Aufteilung fehlt dann aber das – wichtige – Kriterium der Einbeziehung außerwissenschaftlicher Akteure, und der Übergang zwischen „Inter“ und „Trans“ wird lediglich durch die zunehmende Intensität und methodische Offenheit fächerübergreifender Zusammenarbeit gebildet.
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dass ausdrücklich wissenschaftsexterne Fragstellungen und Personen aktiv die Forschung mit bestimmen.
3.4. Gelingende n>1-Disziplinarität – Eine Arbeitsdefinition Es lohnt sich, noch einen Schritt weiter zu gehen und zu versuchen, Kriterien zu formulieren, die eine gelingende Inter- und Transdisziplinarität ermöglichen. Diese seien abschließend in der meines Erachtens konzisesten Form zitiert: „Interdisziplinarität [im weiteren Sinne; T.P.] bezeichnet eine Form (1) wissenschaftlichen (2) Zusammenarbeitens, bei der sich (3) Experten (die innerhalb von Disziplinen qualifiziert sind) (4) auf Basis gegenseitiger Anerkennung und [gegenseitigen] Vertrauens (5) im Rahmen wissenschafts-organisatorischer Voraussetzungen und nach Maßgabe vorhandener Ressourcen (6) koordiniert und (7) prinzipiell gleichrangig in Teams (8) mit einem Problem beschäftigen, das (8a) von einzelnen Disziplinen nicht adäquat erfasst werden kann, über das es (8b) ein gemeinsames Verständnis herzustellen gilt und für das (8c) eine ‚synthetische‘ Lösung (=ein Produkt) entwickelt werden soll“ (Dürnberger / Sedmak 2004, S. 6). Durch Ausweitung des Personenkreises unter Punkt (3) über forschende WissenschaftlerInnen hinaus, also auf stakeholder aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, lässt sich diese Definition auch auf transdisziplinäre Projekte beziehen, insofern dort ausdrücklich noch außerwissenschaftliche Aspekte und Gruppen hinzukommen. Bergmann et al. (2005) haben Kriterien für eine Evaluation transdisziplinärer Forschung formuliert, die sehr hilfreich sind, um den besonderen Status dieser Art von Wissenschaft angemessen berücksichtigen zu können (vgl. auch Hirsch Hadorn et al. 2008). Wenn die oben genannten Überlegungen zutreffen, dann wird die Unterscheidung zwischen Inter- und Transdisziplinarität beispielsweise für die Bioethik in erheblicher Weise einschlägig, weil sich die Art und Weise des Herangehens fundamental unterscheidet. Eine interdisziplinäre Bioethik könnte in voller Forschungsautonomie die Fragestellung innerwissenschaftlich entwickeln und bearbeiten, wobei die Ergebnisse oder deren Implikationen durchaus unmittelbar praxisrelevant sein können – und vor allem auch aufgrund öffentlicher Förderung und Forderung können sollten! Eine transdisziplinäre Bioethik als „wissenschaftliche Biopolitik“ hätte dagegen bereits bei der Wahl der Fragestellung und der Methodenentwicklung direkten Kontakt jenseits der academic communities zu suchen, was die viel zitierte Einbeziehung der Betroffenen in einem sehr starken Sinne bedeuten würde. Diese Form ähnelt den in unterschiedlicher Weise erprobten Bürgerforen, Konsensuskonferenzen und Diskursverfahren gerade auch zu bioethisch relevanten Themen (vgl. Skorupinski / Ott 2000, Schicktanz 2003).
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Die Unterscheidung scheint zunächst vielleicht trivial oder „akademisch“ im Sinne von irrelevant zu sein, aber sie bestimmt maßgeblich inhaltliche Vorgehensweisen. Aufschlussreich an dieser Definition sind neben der ausdrücklichen Fundierung in Disziplinen wiederum die (wissenschafts-)ethischen Aspekte: Ausdrücklich gehören Anerkennung und Vertrauen zum Kanon, und – am wichtigsten – eine prinzipielle Gleichrangigkeit. Während die ersteren beiden als Bestandteil des wissenschaftlichen Ethos insgesamt angesehen werden können, wirft letztere ein genuines Problem all der Situationen auf, die erst bei der Zusammenarbeit von Personen verschiedener Fächer zum Tragen kommt, weil Gleichrangigkeit hier nicht Kollegialität im Allgemeinen bedeutet, sondern die Gleichrangigkeit von unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, Methodologien und Praktiken. Bereits vor längerer Zeit schilderte der Bioethiker Daniel Callahan die Schwierigkeiten anhand einer treffenden Anekdote: Als Philosoph musste er sich harte Kritik eines Naturwissenschaftlers gefallen lassen, weil ihm eine bestimmte Differenzierung populationsbiologischer Begriffe nicht bekannt war. Derselbe Naturwissenschaftler beklagte sich kurze Zeit später über vorgeblich viel zu abstrakte, überflüssige „Haarspaltereien“ des Philosophen in der Darstellung unterschiedlicher Ansätze des Utilitarismus (Callahan 1973, S. 66f.). Auch heute, mehr als 35 Jahre später, dürften sicherlich viele im Bereich von n>1-Disziplinaritäten Aktive ähnliche Anekdoten aus eigener Erfahrung berichten können. Konkrete n>1-Disziplinaritäten jenseits der Hilfswissenschaft zeichnen sich bereits bei Multidisziplinarität, sicher aber bei Interdisziplinarität im engeren Sinne und bei Transdisziplinarität durch Gleichrangigkeit in den Teams und damit den Disziplinen aus; n>1-Disziplinarität ist also gleichsam nicht nur eine „erweiterte Denkungsart“ der Wissenschaften (Petersen 2005, S. 38), sondern sogar eine kommunikative „Tugend“ (Mayer 2010). Doch sollte dies keinesfalls verkürzt allein individualethisch und strebensethisch als Teil eines Ethos der WissenschaftlerInnen verstanden werden. Die Gleichrangigkeit hat auch wissenschaftstheoretische und -praktische Konsequenzen. Neben der eher persönlichen Anforderung an ein gewisses Ethos des Zusammenarbeitens wird hier zugleich die Idee einer „Leitwissenschaft“ epistemologisch verworfen, die Methoden, Erkenntnisziele und Theorien vorgeben oder bestimmen dürfte (vgl. dazu Potthast 2007). In diesem Sinne ist n>1-Disziplinarität eine demokratische Wissenschaftspraxis pluraler Disziplinen.
3.5. Probleme und Perspektiven einer Systematik der n>1-Disziplinaritäten Wenn eine terminologische Taxonomie lediglich eine hilfreiche Konvention sein soll, um sicherzustellen, dass alle über dasselbe reden, wenn sie bestimmte Wörter benutzen, so liegt im oben Skizzierten sehr viel mehr: Es erhebt sich durchaus der material begründete Anspruch auf eine kriterienbasierte Systematik fächerübergreifenden Zusammenarbeitens, nicht im Sinne eines „Stammbaums“, aber im Sinne eines begrifflich angemessenen Systems von n>1-Disziplinaritäten. Erst dieses ermöglicht es, auch quali-
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tative Urteile über Formen wissenschaftlicher Kooperation zu entwickeln, wie dies im vorgehenden Abschnitt bereits angedeutet wurde. Gleichwohl müssen viele Grenzfälle (in) dieser Systematik undeutlich bleiben. Ein Hauptproblem liegt im Kriterium der „wissenschaftsinternen“ bzw. „-externen“ Fragestellung. Es nicht nötig, neuere Theoreme zur Unmöglichkeit der Trennung von Wissenschaft und Technik („Technoscience“) oder der Ununterscheidbarkeit von angewandter und Grundlagenforschung zu vertreten, um die Schwierigkeit konkreter Trennlinien oder Kriterien zur Trennung zu akzeptieren. Gleichwohl lassen sich dennoch unterschiedliche Grade von „externer“ Orientierung durchaus unterscheiden. Zudem liegt der Witz der Unterscheidung von Inter- und Transdisziplinarität weniger in der Fragestellung, sondern vielmehr in der konkreten aktiven Beteiligung „externer“ Personen als Subjekte, nicht allein als Objekte, im Forschungsprozess selbst. Der Grad an solchen Beteiligungen lässt sich vergleichsweise leicht bestimmen. Eine zweite, vielleicht spannendere Frage liegt darin, ob eine gewisse historische Entwicklungstendenz vom ersten zum vierten Stadium besteht, wie es manche (Funtowicz / Ravetz 1993, Nowotny / Scott / Gibbons 2001), aber keinesfalls alle (vgl. Weingart 1997, 2001) Theorien zur Wissenschaftsdynamik annehmen. Unstrittig dürfte sein, dass insbesondere komplexe gesellschaftspolitische Probleme einer inter- und transdisziplinären Bearbeitung bedürfen, wie auch immer diese wiederum auf disziplinären Ansätzen beruhen. Letztlich würde dies bedeuten, dass es in der Tat eine höhere Problemlösungskompetenz von n>1-Disziplinaritäten gibt, diese Zugangsweise also den Anspruch der dienenden Funktion der Wissenschaften in der und für die Gesellschaft epistemisch und praktisch besser erfüllt. Vielleicht fallen aber auch die disziplinären Problemlösungen schlicht so auf, weil sie eben gar nicht als Desiderat wahrgenommen werden. Dagegen spricht, dass alle natural und gesellschaftlich komplexen Sachverhalte sich eher nicht disziplinär beschreiben oder gar bearbeiten lassen. Für eine Disziplin – oder vielleicht eher: eine n>1-Disziplin – wie die Bioethik ließe sich weiter fragen, ob sie sich teilweise in einer Transformation von der ersten zur dritten Form befindet und – insofern man dies als Entwicklungsreihe postuliert – sich letztlich eine neue „interdisziplinäre“ Disziplin ergeben würde oder bereits ergeben hat. Zugleich aber ist die Bioethik sicherlich eine Transdisziplin, weil im Bereich des Biopolitischen die Akteure nicht vorwiegend akademische Funktionen ausüben. Daran wiederum knüpft sich unmittelbar die methodologisch evaluative und normative Frage an, ob für bestimmte Forschungsthemen offenkundig eines der drei (bzw. vier) Stadien das Beste, weil das Angemessenste, ist. Dies im Detail zu klären, erfordert jedoch kontextuelle Information über das Problem und mögliche beteiligte Disziplinen und kann daher hier nicht weiter ausgeführt werden. Zumindest grundsätzlich erscheint aber eine solche epistemisch-praktische Beurteilung notwendiger n>1-Disziplinaritäten ebenso möglich wie auch überzeugend, allerdings eben nicht abstrakt, sondern nur unter Einbezug des konkreten Kontextes. Abschließend angesprochen sei die Frage der Möglichkeit einer Interdisziplinarität in einer Person, also „Intrapersonen-Interdisziplinarität“ (Höffe 1993, S. 256).12 Die bis12
Vgl. dazu auch den Beitrag von Vollmer in diesem Band, Kapitel 2.1.
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herigen Ausführungen beziehen sich eher darauf, dass fächerübergreifende Forschung stets ein Team mehrerer Personen umfasst. Das ist zwar plausibel und richtig, zugleich gibt es aber dabei stets Einzelpersonen, die sich Perspektiven und Praktiken mehrerer – realistischerweise meist nur zwei methodologisch sehr unterschiedlicher – Disziplinen oder Disziplingruppen (idealtypisch: Naturwissenschaften vs. Geisteswissenschaften vs. Sozialwissenschaften) zu Eigen machen müssen. Dies geschieht bei Qualifikationsarbeiten ebenso wie in der Projektleitung. Allgemein lässt sich formulieren, dass größere Projekte sicherlich dann eher gelingen, wenn sie beide Personengruppen zusammenbringen: die sich auf die Gleichrangigkeit anderer Perspektiven einlassenden FachvertreterInnen und diejenigen, die Interdisziplinarität in einer Person erproben. Letztere verlassen dabei aber auch ihr Fachgebiet in gewisser Weise. Mit Blick auf disziplinär verfasste Publikationskulturen und akademische Karrierewege ist es ebenso riskant wie spannend, ob und inwiefern sich inter- und transdisziplinäre Strukturen verstetigen lassen. Etablierte inter- und transdisziplinäre Felder neigen dabei sicherlich zur „Disziplinierung“, indem sie neue Institute, Zeitschriften, Forschungsförderprogramme und Studiengänge generieren. Ein schönes Beispiel ist die „sozial-ökologische Forschung“ oder „Soziale Ökologie“ (Becker / Jahn 2006), deren zukünftiger Status und zukünftige Entwicklung aber durchaus offen ist. Im Unterschied zu „klassischen“ Disziplinen wie denen der Naturwissenschaften oder der Geistes- und Sozialwissenschaften definieren sich n>1-Disziplinaritäten aber nicht über ein notwendig partikuläres Spektrum von Methoden und vor allem Theorien. Insofern scheint Konsens zu sein, dass es um ein Forschungsprinzip geht, aber „kein Theorieprinzip, das unsere Lehrbücher verändert“ (Mittelstrass 2003, S. 22). Andererseits aber kommen sehr wohl neue Lehr- und Handbücher hinzu, wie solche zur Bioethik (Düwell 2008) oder zur transdisziplinären Forschung (Hirsch Hadorn et al. 2008). Insofern ist die Frage der theoretischen Indifferenz von n>1-Disziplinaritäten nicht so eindeutig, weil sich etablierende und stabilisierende Forschungsansätze und -felder doch auch theoretisch mehr oder minder neu konstituieren können. Schließlich, dies sei als letzter kritischer Aspekt erwähnt, sind in gewisser Weise alle Forschenden immer schon „transdisziplinär in einer Person“, die mit ihren Projekten zugleich auch staatsbürgerliche, ökonomische oder andere Agenden verfolgen, die sie aber im Sinne des wissenschaftlichen Ethos bei der Forschung selbst eigentlich stets auszublenden hätten. Hier schließen sich alle wissenschaftsethischen Folgeprobleme programmatisch wertfreier bzw. wertneutraler oder eben „parteilicher“ Wissenschaft an, die im nächsten Absatz als Problem der interdisziplinären Urteilsbildung diskutiert werden.
4. Interdisziplinäre Urteilsbildung Nachdem im Abschnitt 2 die unterschiedlichen gemischten Urteile skizziert wurden, die zur Begründung der Notwendigkeit von n>1-Disziplinärität führen und im Abschnitt 3 Fragen der Urteile über die Systematik und die unterschlichen Qualitäten dieser Ansätze aufgeworfen worden sind, geht es nun um die n>1-disziplinäre Urteilsbildung selbst.
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Die Forderung nach fächerübergreifender Integration des Wissens ist ebenso zutreffend wie strittig. Es besteht ein breites Spektrum von Einschätzungen: Auf der einen Seite werden solche n>1-disziplinären Ansätze als Königsweg eines ganz neuen Typs von Wissenschaft schlechthin affirmiert, auf der anderen Seite gibt es scharfe Kritik daran, weil Wissenschaft und damit wissenschaftliche Urteilsbildung zwischen oder jenseits der Disziplinen gar nicht möglich sei, sondern lediglich antragsrelevantes Wortgeklingel darstelle (vgl. oben sowie Potthast 2005, 2008b). Doch jenseits aller rhetorischen und strategischen Getümmel haben Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik einige ausgesprochen bedeutsame Aspekte herausgearbeitet, die für fächerübergreifende Untersuchungen zu beachten sind: 1. Auf der konzeptionellen und begrifflichen Ebene kann und sollte die Philosophie als methodische Reflexionsdisziplin in fächerübergreifenden Projekten zur besseren Verständigung beitragen, indem sie erstens die unterschiedlichen Terminologien und Theorien kritisch expliziert und zweitens die impliziten normativen Gehalte von Begriffen und Konzepten sichtbar und damit verhandelbar macht. 13 2. Für unmittelbar umsetzungsorientierte, also „wissenschaftsexterne“ Fragestellungen werden nicht nur Politik, zivilgesellschaftliche Initiativen und andere stakeholder als gleichsam von außen um Expertise Bittende mit einbezogen, sondern vielmehr soll die Beteiligung systematisch während des gesamten Vorbereitungs- und Forschungsprozesses erfolgen. Dies erfordert spezifische Herausforderungen für das Projektdesign und die Kommunikation. Zudem sollen „transdisziplinäre Urteile“, weder deskriptive noch präskriptive oder gemischte, dezidiert nicht von WissenschaftlerInnen aus dem akademischen Betrieb allein gefällt werden, aber auch nicht ohne sie. Ansonsten könnten sich WissenschaftlerInnen auf eine scheinbare, und falsche, „Neutralität“ berufen, um Entscheidungen und damit verbundene Verantwortung komplett auf andere „(die Gesellschaft“) abzuschieben. 3. Zugleich ist deswegen ein Grundverständnis ethischer Argumentation auch für die anderen Teilnehmer solcher Forschungen und Debatten notwendig. Insofern besteht eine Notwendigkeit einer interdisziplinär-ethischen Grundbildung in allen NaturGeistes- und Sozialwissenschaften (sowie in und mit den „externen“ Beteiligten).14 4. Die systematische Bearbeitung moralischer bzw. ethischer Argumentationsweisen zur Geltung bestimmter Normen und Werte lässt sich weder rein kultur- noch naturwissenschaftlich in bloße Moralbeschreibung durch empirische Wissenschaften auflösen. Ethik hat hier die genuine Aufgabe, Begründungen für Normen und Werte des Handelns kritisch auf ihre argumentative Konsistenz, Kohärenz und Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Der vierte Punkt bedarf einer Erläuterung: Die empirischen Wissenschaften können Moral und Ethik zum Gegenstand ihrer Analyse machen. Dann wird empirische Moral13
Siehe unten für einige entsprechende Andeutungen sowie Potthast 2007. Vgl. dazu auch den Beitrag von Romfeld in diesem Band. 14 Vgl. für die beiden ersten Punkte die Beiträge in Berendes 2007 sowie spezieller zu Fragen interdisziplinärer Kommunikationskompetenz Berendes 2009.
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forschung aus soziologischer, kulturwissenschaftlich-ethnologischer, psychologischer oder biologischer Perspektive betrieben. Diese Arten von Forschung sind unverzichtbar, weil sie das Spektrum der normativen Dimension menschlichen Handelns mehr oder minder funktional analysieren. Die Ergebnisse sollte jede Ethik zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie selbst Normen entwickeln will (vgl. Nunner-Winkler 2003). Aus empirischer Moralforschung lässt sich aber nicht ableiten, welche Moral nun die richtige ist. Dies ist Aufgabe einer normativen Ethik, die Begründungsfragen des moralischen Sollens nicht nur, nicht einmal vornehmlich funktional angeht, sondern vom moral point of view. Allerdings gibt es immer wieder Ansätze, die Ethik durch empirische Moralforschung zu ersetzen, also das gesellschaftliche bzw. biologische Funktionieren von Moral mit ihrer ethischen Richtigkeit gleichzusetzen.15 Diese Positionen sind zurückzuweisen, weil sie entweder den eigentlichen Sinn von Ethik verfehlen oder Ethik durch Verhaltensforschung oder Demoskopie ersetzen wollen (vgl. Düwell 2005). Es ist an dieser Stelle nicht möglich, unterschiedliche Urteilsbildungsmodelle im Detail zu diskutieren, auch nicht die spezifisch ethischen (vgl. Dietrich 2006). Letztlich steht aber im n>1-disziplinären Kontext das klassische Problem der Integration von Fakten und Werten in einem Urteil und der zugrundeliegenden Praxis (vgl. Schleidgen / Jungert / Bauer 2010), sei es eine Bewertung, sei es eine Handlungsempfehlung, neu an. Zentral scheint mir für diesen Zusammenhang nun zu sein, dass die idealtypische Trennung von beschreibenden und bewertenden Disziplinen nicht so sehr das Problem von Interdisziplinarität ist, sondern vielmehr die disziplinär sehr unterschiedlichen Umgangsweisen mit ihrer jeweiligen Verbindung. Insofern existieren keine besonderen „interdisziplinären“ Urteile, sondern lediglich gemischte Urteile, in denen möglichst reichhaltige Perspektiven empirischer und evaluativer bzw. normativer Art zusammengeführt werden sollen. Das klassische Bild dieser Kooperation ist, dass es Fakten liefernde empirische Wissenschaften gibt, ferner eher interpretierende Geisteswissenschaften sowie Normwissenschaften wie Philosophie oder Jura, die speziell mit der Integration und Implementierung von moralischen oder juridischen Werten und Normen befasst sind. Dieses Modell scheint mir für inter- und transdisziplinäre Forschungen eher in die Irre zu führen. Die Trennung von rein naturwissenschaftlichen und rein geisteswissenschaftlichen Zugriffen ist ein methodologisch gebotenes Ideal, das jedoch nicht selten zu unangemessenen Interpretationen führt, weil die wechselseitige Durchdringung allein als unerwünschte Kontamination angesehen wird. Inter- und transdisziplinäre Fragen bedeuten aber genau, dass naturphilosophische und naturwissenschaftliche, politische und moralphilosophische Aspekte hybride Konstellationen eingehen. Meiner Auffassung nach ist dies das konstitutive und unauflösbare Charakteristikum der Debatte. Bestimmte naturwissenschaftliche Theorien legen nicht nur bestimmte kulturelle Ausdeutungen nahe, sie enthalten sie von vornherein, ohne damit „notwendig“ einen Fehlschluss darzustellen, aber auch ohne die Theorie damit in Gänze als rein ideologisch oder vollständig kulturell zu disqualifizieren. Die Zwischenposition erlaubt es, die wechselseitige 15
Beispielsweise Lütge/Vollmer 2004. Für eine ganz andere, philosophisch ausgesprochen anregende Perspektive vgl. aber jüngst Illies 2006.
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Bedingtheit natur- und kulturwissenschaftlicher Positionen zu erkennen und eine Diskussion jenseits der Extrempositionen zu ermöglichen – ich möchte diese als „epistemisch-moralische Hybride“ bezeichnen. In der Konzeption epistemisch-moralischer Hybride setzt die „Hybridisierung“ analytisch trennbare Ausgangsbestandteile voraus. Die Verbindung findet aber oft gerade nicht in Form des Sein-Sollen- oder des naturalistischen Fehlschlusses statt.16 Die Hybride finden sich zudem auch meist nicht in Form so genannter hypothetischer (bedingter) Urteile – in der Form „Wenn E(X) gegeben ist, dann sollte H“ – sondern als „gemischte Urteile“ oder praxisimmanent und implizit. Beispielsweise ist bei der durchaus biologisch ausbuchstabierten Einschätzung eines frühen Entwicklungsstadiums als „Zellhaufen“ eine bestimmte Urteilsbildung über Forschungen mit solchen Objekten zumindest nahe gelegt. Auch die in Abschnitt 2 erläuterten Begründungen für „Interdisziplinarität“ sind Beispiele für epistemisch-moralische Hybride. Sofern sie sich nicht unmittelbar aus publizierten Texten, insbesondere programmatischen Schriften, erschließen lassen, können solche Hybride über die Gleichzeitigkeit wissenschaftlicher und moralischer Aktivitäten von Personen oder Institutionen rekonstruiert werden. Ein klassisches Beispiel dafür findet sich bei Julian Huxley, der evolutionsbiologische Erkenntnisse über die genetische und ökologische Struktur von Populationen nicht allein als empirischen Hintergrund zur Klärung von Zukunftsfragen der Menschheit verstand, sondern aus der Biologie unmittelbar ethisch-politische Handlungsaufrufe zur Bevölkerungskontrolle entwickelte (vgl. Huxley 1963). Heutzutage verstehen wir solche Debatten explizit als fächerübergreifend und „interdisziplinär“; Naturwissenschaft kann mithin hier (auch) als moralische Aktivität verstanden werden. Dabei steht nicht so sehr die Frage der logischen Struktur solcher Hybride zur Debatte, sondern diejenige nach intellektuellen und praktischen Hintergründen solcher Verknüpfungen von naturwissenschaftlichen und ethischen Entwürfen. Dies dient dazu, gerade die oft impliziten Verbindungen oder Vermischungen moralisch-normativer und epistemischer Elemente besser zu verstehen. Damit ist zugleich die klassische Spannung zwischen den Beschreibungsmodi „Naturwissenschaft“ und „Geisteswissenschaft“ formuliert. Im ersten Fall geht es um objektivierbare Daten für die Angemessenheit von Naturbeschreibung und mithin darum, richtige und falsche verbindliche Beschreibungen von Leben und Natur zutreffend identifizieren zu können. Im zweiten Fall erscheint Natur als Gegenstand für – womöglich unterschiedliche – kulturelle Sinnstiftungen. Zumindest in ihren jeweils die andere Perspektive ausschließenden generellen Aussagen über „die Natur“ oder „das Leben“ oder andere Gegenstände gehen beide Optionen jedoch fehl. Angemessener und interessanter erscheint es mir, die empirischen Fälle als nachprüfbare Begründungen für einen Theorienwandel und zugleich als Ausdruck kontextuell abhängiger Perspektiven zu verstehen. Im Anschluss an Ludwik Fleck (1935) ließe sich 16
Vgl. auch Engels (2008); die vermeintlich logischen Fehlschlüsse lassen sich meist als elliptische Argumentationen rekonstruieren, die bestimmte normative Prämissen voraussetzen, aber nicht explizit nennen. Interessanter als die formale Frage ist dann die der argumentativen Kraft der Kombination von – ggf. erst zu rekonstruierenden – empirischen und normativen Prämissen.
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von einem „Wandel des Denkstils“ sprechen, wobei gerade mit Blick auf die epistemologischen Hintergründe keinesfalls jede beliebige „kulturelle Konstruktion“ möglich, zugleich aber die Vorstellung der Eindeutigkeit einer rein naturwissenschaftlichen Entscheidbarkeit weitgehend eingeschränkt bleibt. Früher hat man die Analyse versteckter ideologischer Komponenten als Ideologiekritik bezeichnet. Diese ist heutzutage, ohne dass eine substanzielle Begründung dafür gegeben worden wäre, akademisch kaum noch satisfaktionsfähig. Vielleicht sollte man aber die kulturwissenschaftliche Wende der Wissenschaftsforschung und zum Teil der Naturwissenschaften selbst praktisch wenden. Es reicht nicht, die normativen und naturphilosophischen Prämissen einfach mit Entlarvungsgestus herauszuarbeiten, aber ebenso wenig sind sie in einer pseudo-deskriptivistischen Haltung als bloße und uninteressierte Beschreibung zu (ver-) fassen; es gilt vielmehr, sie einer offenen Diskussion – sowohl über Erkenntnisinteressen als auch über Handlungsziele und deren Mittel – zugänglich zu machen. Mit der vorgeschlagenen Perspektive „epistemisch-moralischer Hybride“ soll durchaus auch die Frontstellung der vermeintlichen „zwei Kulturen“ von Natur- versus Geisteswissenschaften relativiert werden. Denn die moralischen Vorannahmen und Implikationen der Naturwissenschaften sprechen ebenso gegen diese binäre Opposition wie die ausdrücklichen oder unreflektierten empirischen oder empiriebasierten Annahmen jeder geisteswissenschaftlichen Herangehensweise. Konkret bedeutet dies, dass der klassische Zweischritt einer zunächst wertfreien Feststellung des empirisch-wissenschaftlichen Sachstands und der danach erfolgenden Bewertung zwar heuristisch und praktisch ausgesprochen instruktiv ist, möglicherweise aber dabei genau die entscheidenden Vermischungen epistemischer und moralischer Elemente aus dem Blickfeld gerät, weil Bewertung in einem ethischen Sinne gleichsam erst „zu spät“ erfolgt, wenn und weil der Sachstand als gegeben und neutral missverstanden wird (vgl. Potthast 1999, 2007). Die Ethik in den Wissenschaften als n>1-disziplinäre Unternehmung ist – nicht zuletzt unter Berücksichtigung der historischen und wissenschaftstheoretischen Problemlagen – auf dem Weg, fächerübergreifend die analytisch notwendige Trennung von Empirie und Ethik zu transformieren; denn jenseits simpler Fehler und Fehlschlüsse ist im je konkreten Fall das komplexe Netzwerk von epistemischen und moralischen Hypothesen und Vorannahmen nicht einfach auf Fakten oder Werte reduzierbar, sondern in seiner vermischten Reichhaltigkeit beider Dimensionen für die moralische Argumentation und Urteilsbildung einzubeziehen. Dies schiene mir eine sehr verheißungsvolle Dialektik für die n>1-disziplinäre Verständigung und Urteilsbildung.
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Verteidigung der Disziplin* Ich bin nicht gut geeignet, um über interdisziplinäre Forschung zu sprechen, denn Disziplinen sind für mich nie ein Problem gewesen. Von allgemeinem Interesse ist das nicht, außer, dass es manche Leser bei der, in vielen der hier versammelten Aufsätze implizit vorausgesetzten, Annahme innehalten lassen mag, dass Disziplinen dazu neigen, den Fortschritt zu stören, die individuelle Entwicklung zu behindern und das Wachstum von Wissen, Techniken und praktischen Kompetenzen in enge Kanäle zu zwingen. Natürlich tun sie das! Sie können aber auch die Grundlage für Zusammenarbeit sein. Das Folgende ist übermäßig persönlich, aber es soll ein Modell vorstellen, das etwas anders aussieht als andere, die man in diesem Buch finden kann. Dass ich es mir erlauben kann, zufrieden mit mir zu sein, habe ich einer glücklichen Schicksalsfügung zu verdanken, aber wir sollten uns hüten, die gegenteilige Hypothese allzu bereitwillig zu akzeptieren – engagiert, aber auch etwas selbstgerecht zu denken, dass Interdisziplinarität eine reine Tugend und immer zu fördern sei. Probleme gibt es jede Menge. Unsere Bildungssysteme haben akademische Disziplinen geschaffen, die dem Wissen und den Gepflogenheiten ihrer Zeit entsprachen, und sie neigen dazu, strikt an epistemischen und schöpferischen Prozessen festzuhalten, deren Zeit vorüber ist. Kurzum, auch wenn ihr Kern unheimlich rege sein mag, neigen ihre Ränder dazu, zu verknöchern. Die Evolution vollzieht sich langsam an den Rändern eines disziplinären Kontextes und oft bedarf es einer Revolution. Innerhalb der institutionellen Strukturen, die sich vor über einem Jahrhundert etabliert haben, tendieren sowohl Evolution als auch Revolution, wenn sie sich ereignen, außerdem dazu, neue Disziplinen zu erzeugen, die letztlich genauso unnachgiebig werden wie diejenigen, die sie verdrängen. Jene, die für Interdisziplinarität kämpfen, schaffen sehr oft neue Spezialisierungen, neue Ästchen, in denen sie arbeiten und die nach einer Weile genauso isoliert sind wie die Zweige, aus denen sie entsprangen. Vielleicht ist der Baum des Wissens selbst die Wurzel allen Übels. Er ist ein dominantes Symbol für sich unwiderruflich verzweigende Gebiete des Fachwissens. Der Apfel vom biblischen Baum der Erkenntnis lehrte uns den Unterschied zwischen Gut und Böse, aber damit nahm die Evolution dieses Baums erst ihren Anfang. Die Idee eines Baumes des Wissens veränderte sich, als Denker in spätmittelalterlichen und frühmodernen Zeiten zunehmend von Baumdiagrammen fasziniert waren. Große Geister wie Ramon Llull und später Francis Bacon zeichneten Bäume mit den unterschiedlichen Zweigen der Gelehrsamkeit. Und einmal verzweigt gab es, wie bei den Zweigen normaler Bäume im Wald, niemals eine Wiedervereinigung.
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Der Originaltitel lautet: „The Complacant Disciplinarian“.
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D’Alembert stellte einen Baum des Wissens an den Anfang der Encyclopédie; Auguste Comte setzte die Tradition am Anfang seiner maßgeblichen vierzigbändigen Bestandsaufnahme allen gesicherten Wissens fort. Somit waren die größten universalistischen Bestrebungen der westlichen Gedankenwelt implizit entzweiend, sich in Disziplinen verzweigend. Comtes Cours war 1840 vollendet. Der Baum des Wissens von Llull bis Comte hat die rigide Institutionalisierung abgegrenzter Wissenschafts- und Forschungszweige, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu entwickeln begann, nicht verursacht. Aber er repräsentiert die sozialen Strukturen, die sich entwickelten, und ließ diese ebenso unausweichlich wie richtig erscheinen. Aus Wissenschaft (Wissen und Forschen) wurden Einzelwissenschaften (Fachgebiete des Wissens und der Forschung). Folglich ein Paradoxon: interdisziplinäre Organisationen verzweigen sich und bilden neue Disziplinen. Interdisziplinäre Forschung: Pass auf, was du da tust!
Disziplinen disziplinieren Nun sollte ich erläutern, warum ich ein zufriedener Disziplinierter bin. Die kurze Erklärung lautet, dass ich Glück hatte. Mein Undergraduate-Studium der Philosophie (1956–1958) war enger gefasst, als sich heute irgendjemand vorstellen kann. Ich fand es wunderbar. Durch einen glücklichen Zufall kam ich nach Cambridge, nachdem ich an der University of British Columbia studiert hatte. Meine Hauptlektüren waren G. E. Moore, Bertrand Russell und Gottlob Frege. Ein paar ‚Zeitgenössische‘ wurden gelesen – A. J. Ayer und W. V. O. Quine, nicht aber P. F. Strawson, außer, um ihn zu widerlegen. Es war eine absolut fabelhafte und zielgerichtete sub-disziplinäre Ausbildung. 1956 hatte ich geglaubt, dass ich Existenzialist werden, Jean-Paul Sartre begreifen und ein tiefes Verständnis des Yins und des Yangs erlangen wollte. Anders gesagt, ich hing Fantasien nach, ein undisziplinierter Freibeuter zu sein, ungebunden auf den Meeren des Denkens. 1958 hatte ich dann gelernt, wie man etwas ganz Spezifisches macht, und zwar ziemlich gut. Wittgenstein war vor kurzem gestorben und man traf auf viele seiner Schüler, meinen eigenen Betreuer eingeschlossen. Aber ich hatte das große Glück, niemals Vorlesungen über ihn zu besuchen oder Wittgenstein-Auslegungen zu lesen, außer seine eigenen. Weiterhin profitierten wir von dem Umstand, dass Vorlesungen und Seminare kein wesentlicher Teil unserer Ausbildung waren, die sich darum drehte, wöchentlich einen Essay zu schreiben, der dann mit unseren Betreuern (die anderswo vielleicht Tutoren genannt worden wären) durchgesprochen wurde. Das glückliche Schicksal der Undergraduates war, dass man sie sich selbst überließ. Deshalb ist zum Beispiel meine Moralphilosophie stark von dem Literaturkritiker F. R. Leavis geprägt. Ich habe nicht ein einziges seiner Seminare besucht, aber ich hing mit Leavitianern herum, die damals einen eigenen Kult bildeten. Mit einem guten Undergraduate-Abschluss konnte man Research Student werden. Es gab keine formalen Vorgaben irgendeiner Art, keine Kurse, keine Seminare, keine Aufnahmeprüfungen, nur einen Betreuer, mit dem man sich treffen konnte oder auch nicht.
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Während des Graduate-Studiums gab es keine Disziplinierung, außer durch einen selbst. Niemand machte offizielle Angaben dazu, was man lesen oder wie man denken musste. Das war eine Katastrophe für viele Studenten, aber für mich war es die reinste Seligkeit. Schwimmen oder untergehen: ich schwamm. Seit damals habe mich auf mehr Gebieten versucht, und manchmal etwas zu ihnen beigetragen, als die meisten Leute auch nur beim Namen nennen können. Von analytischen Philosophen erwartet man nicht, dass sie ein Buch über Experimentalphysik schreiben und ein anderes über multiple Persönlichkeit (usw.), aber für mich ist das die natürlichste, wenn nicht die einfachste Sache von der Welt gewesen. Das liegt größtenteils daran, dass ich mich selbst nicht als ‚interdisziplinär‘ begreife, sondern als jemanden, der seine Disziplin in verschiedene Richtungen anwendet.
Leibniz Ich habe immer zu einer prä-disziplinären Person als Vorbild tendiert, nämlich Leibniz. Ich hatte mir einmal vorgenommen, pro Jahr einen Aufsatz über Leibniz zu schreiben. Wenn ich x Jahre alt wäre, würde ich etwas untersuchen, was ihn beschäftigt hat, als er x Jahre alt war. Eine Weile habe ich es durchgehalten, dann aber nachgelassen, was er nicht getan hätte. Er wird gewöhnlich als Philosoph eingeordnet, aber auf welchem Gebiet des Wissens, der Weisheit oder Praxis hat er sich eigentlich nicht hervorgetan? Friedensforschung. Bergbautechnik. Vergleichende Linguistik. Er hat mehr Zeit auf diese Fachgebiete (die, abgesehen vom Bergbau, noch gar nicht erfunden waren) verwendet als für die Entwicklung seiner Infinitesimalrechnung, seiner Physik, seiner Kosmologie – oder dessen, was wir heute seine Metaphysik nennen, der einzige Teil seines Lebenswerks, den wir heute noch lesen, wenn auch mit leichter Befremdung. Vor allem war Leibniz neugierig auf alles. Das ist sicherlich eine Möglichkeit, interdisziplinär zu sein. Mein früherer Kollege, der späte Pierre Bourdieu, hat seine ersten Lektionen ebenfalls von Leibniz gelernt, der, wie er mir einmal erzählt hat, seine erste große intellektuelle Liebe war. Bourdieu wird als Soziologe angesehen und hatte einen Lehrstuhl in diesem Fach inne, aber seine Interessen brachten ihn dazu, neue Wege zur Untersuchung sozialer Phänomene zu erschließen. Bourdieu war einer meiner beiden Förderer, als ich mich auf einen Lehrstuhl am Collège de France bewarb. Vielleicht sind ‚wahre‘ Leibnizianer, im Gegensatz zu Leibniz-Forschern, einander instinktiv gewogen. Neugier, gepaart mit Disziplin, das ist der Leibniz’sche Imperativ. Arbeite hart und mach es so gut, wie du es hinkriegst. Vielleicht wird sich aus dem, was du machst, eine neuartige Sub-Disziplin entwickeln. Aber versuche nicht, dir Jünger zu erschaffen. Achte deine Schüler und sage es ihnen, wenn du siehst, dass sie ebenfalls versuchen, es so gut hinzukriegen wie du. Und sage es ihnen ganz offen, wenn sie sich, deiner Meinung nach, nicht genug anstrengen. Jawohl, das ist ganz bestimmt Disziplin. Das ist beflügelnd, aber nicht angenehm, weder wenn man es verabreicht, noch wenn man es verabreicht bekommt.
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Das Wort ‚Disziplin‘ Wie seltsam dieses Wort ist, ‚Disziplin‘. Es handelt sich um ein altes Wort, oder Worte, so alt wie die europäischen Landessprachen selbst, und zockelt ihnen weniger im Gewand des römischen Lateins, sondern eher der Gelehrsamkeit des Mittelalters hinterher. Im Französischen wie im Englischen gibt es das Verb und das Substantiv. Das Substantiv ‚Disziplin‘, von dem ‚Interdisziplinarität‘ hergeleitet ist, meint Bereiche des Forschens, die durch Inhalt und Institution definiert sind. Aber das Verb ‚disziplinieren‘ meint Züchtigung und Bestrafung. Die Grundidee ist die eines Jüngers.1 Man kann sehen, wie sich die Idee aufspaltet. Auf der einen Seite erschaffen religiöse Lehrer und moderne Gelehrte, Ingenieure oder Künstler, die Jünger haben, Gebiete des Wissens, Verstehens und der Aktivität. Daher das Substantiv. Aber dann ist da das Verb, disziplinieren: der Meister züchtigt, um sicherzustellen, dass die Jünger der Linie treu bleiben. Ich verwende das altertümliche Verb ‚züchtigen‘, denn ich bin in alten französischen und englischen Definitionen des Wortes ‚Jünger‘ darauf gestoßen. Als eine Form des Züchtigens, des Disziplinierens, wird das Auspeitschen erwähnt. Seltsam, dass alte Konnotationen unterhalb der Schwelle der bewussten Wahrnehmung fortleben. Viele, die Einspruch gegen die Disziplinen erheben, tun dies, weil sie spüren, dass sie von den institutionellen Strukturen, die die Disziplinen bestimmen, mit der Peitsche bearbeitet worden sind. Es gibt keine Freiheit, andere Leben zu leben oder andere Arten des Wissens zu schaffen. Ich kenne viele Leute, die von Disziplinen diszipliniert worden sind. Die, das will ich damit sagen, schikaniert worden sind von Chefs, die streng danach trachten, altbewährte institutionelle Strukturen der Forschung aufrechtzuerhalten. Man braucht nicht weiter zu schauen als auf das, was ich als meine eigene Disziplin verstehe, die analytische Philosophie. Viele Studenten haben sich von ihr unterdrückt gefühlt. Das ist besonders deshalb so, weil einige ihrer Vertreter eine bemerkenswerte enge Auffassung davon haben, was Philosophie ist. Die Studenten bekommen keinen Abschluss, wenn sie sich den Normen nicht anpassen, und keinen Job, wenn sie es nicht weiterhin tun. Ich habe Achtung vor den Opfern des Systems, bedaure ihre Not und hoffe, dass ich manchmal in der Lage war, ihnen zu helfen. Nichtsdestotrotz möchte ich gerne eine andere Geschichte erzählen, von der Zusammenarbeit zwischen Disziplinen, von der Leibniz’schen Aufgeschlossenheit füreinander, die schon ewig zwischen den Fachgebieten existiert. Keine Geschichte darüber, wie disziplinäre Grenzen eingerissen wurden, sondern über gegenseitige Wertschätzung, die, wenn ein neuartiger Problemkomplex auftaucht, eine neuartige Disziplin erschaffen kann. Worauf es meiner Meinung nach ankommt, ist, dass aufrichtige und gewissenhafte Denker und Engagierte gegenseitigen Respekt für ihre erworbenen Fähigkeiten und natürlichen Talente aufbringen. An wen sonst sollte man sich wenden, wenn nicht an jemanden, der mehr weiß oder etwas besser beherrscht als man selbst? Nicht, weil man kein Fachmann auf seinem Gebiet ist, sondern weil man die Hilfe eines anderen 1
Jünger, engl. „disciple“ (Anm. d. Übers.).
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braucht. Hilfe suche ich niemals bei einer „interdisziplinären“ Person, sondern einer „disziplinären“. Niemals? Nun, kaum jemals.
Die Großzügigkeit der anderen Warum ich so unverschämt zufrieden bin? Zum Teil, weil ich wieder einmal Glück hatte. 1965 veröffentlichte ich The Logic of Statistical Interference. Es erschien bei einem Verlag (Cambridge University Press), der in der damaligen Zeit als gut galt. Das war sicherlich hilfreich. Aber das Buch verriet auf der ersten Seite, dass ich für eine Universität arbeitete, die nichts galt (British Columbia). Dieses Buch wurde in völliger Isolation geschrieben. Nicht mit einem einzigen Statistiker hatte ich geredet. Ich war zu schüchtern dazu. Das Buch war mein eigenes introvertiertes Ding. Aber statt den Philosophen im Elfenbeinturm zu spielen, der, beispielsweise, an Rudolf Carnaps Bestätigungstheorie und induktiver Logik herumdoktert, habe ich zwei Jahre damit zugebracht, mir die Grundzüge der Statistik anzueignen, indem ich die wichtigsten Bücher und Aufsätze las. Innerhalb von Wochen nach der Publikation erreichten mich lange, kritische und hilfreiche Briefe von führenden Statistikern, die in die Grundlagen ihres Fachs vertieft waren. Das waren Menschen, die (für mich) vorher nur in meiner Fantasie existiert hatten, weil ich so ein introvertierter Sonderling war. Diese Männer wollten mit einem Unbekannten, der offensichtlich eine neuartige Sichtweise einbrachte, über ihre Verwirrungen reden. (Es waren ausschließlich Männer, die mir aus heiterem Himmel schrieben, denn abgesehen von ein paar wunderbaren Ausnahmen war statistische Inferenz bis dahin ein Spielzeug für Jungs gewesen.) So habe ich eine grundlegende Lektion gelernt, die mir den Rest meines Lebens gute Dienste geleistet hat. Wenn du einen Teil deiner Kraft darauf verwendest, innerhalb des Bereichs, in dem du dich auskennst, scharf darüber nachzudenken, was andere tun, dann werden Interessierte erfahren wollen, was du tust, innerhalb des Bereichs, in dem sie sich auskennen. Ich habe regelmäßig festgestellt, dass Leute, die etwas können, den Wunsch haben, davon zu erzählen, was sie tun und wie sie es tun. Du bist eingeschüchtert, weil die mehr wissen als du selbst? Vergiss es. Sie werden nichts lieber tun, als dir davon zu erzählen. Aber zuerst musst du hart arbeiten, um in der Lage zu sein, vernünftig mit ihnen zu reden. Experten haben nichts übrig für eingebildete Amateure, die glauben, sie könnten einfach so zur Tür hereinspazieren. Personen, die mit Verständnis zuhören und ‚dumme‘, aber fundamentale Fragen stellen können, lieben sie. Solche Fragen kommen innerhalb der Disziplinen selbst manchmal nicht auf, und zwar deshalb, weil sie sich auf dasjenige beziehen, was die Disziplinen, obwohl sie das nicht tun sollten, als selbstverständlich voraussetzen. Zum Telefon greifen und die Zeit irgendeiner Expertin in Anspruch nehmen, funktioniert allerdings nicht. Man muss schon genug wissen, um eine überraschende Frage zu stellen. Die Experten, die es wert sind, dass man sie konsultiert, haben keine Egos, die man erst umschmeicheln müsste: Bei ihrer Neugier ist ihnen eine Herausforderung, die aus heiterem Himmel kommt, nur willkommen.
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Selbsternannte interdisziplinäre Forschung Meine erste und einzige ‚interdisziplinäre‘ Erfahrung, die so bezeichnet wurde, machte ich am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld. 1982 organisierte Lorenz Krüger eine einjährige Forschungsgruppe – und trieb die Mittel dafür auf –, die sich primär der Geschichte der Wahrscheinlichkeit widmete. Ihr gehörten viele junge Akademiker an, zusätzlich ein paar etablierte, aus vielen Teilen Europas, zusätzlich Forscher aus den USA und Kanada. Unter ihnen waren Wissenschaftshistoriker, Philosophen, Statistiker mit Hang zur Geschichte, Wirtschaftswissenschaftler, Mathematiker, sogar zwei experimentelle Psychologen. Jawohl, eine Menge Disziplinen waren vertreten. Das Jahr war ein überwältigender Erfolg, was zu einem großen Teil der behutsamen und einfühlsamen Leitung durch Lorenz Krüger selbst zu verdanken ist, der die Mitglieder dazu ermunterte, das zu tun, was sie selbst gut konnten, und, konstruktiv und kritisch, zu verfolgen, was andere machten. Wir waren Gleiche unter Gleichen, Rivalität gab es nicht, nur Zusammenarbeit. Heute stoße ich in der Fachliteratur zur ‚Geschichte der Wahrscheinlichkeit‘ oft auf Verweise auf ‚die Bielefelder Gruppe‘. Ich bezweifle stark, dass es irgendeine allgemeine, theoretische Erklärung dafür gibt, dass diese Gruppe so gut funktioniert hat. Ich kann nicht oft genug betonen, dass die zufällig vorhandenen und leider nicht besonders verbreiteten moralischen Kompetenzen und der Führungsstil Lorenz Krügers viel dazu beigetragen haben. Andere werden behaupten, dass Thema sei reif für eine Kollaboration gewesen, aber gilt das nicht immer für alle Themen, wobei die meisten auf Granit, und nicht auf Gold stoßen? Die Produktivität der Gruppe war erstaunlich. Zunächst zwei Bände mit gesammelten Aufsätzen und ein Band, eine Art Überblick, der von einem aus einem Teil der Gruppe gebildeten Kollektiv geschrieben wurde. In den darauf folgenden Jahren wurde eine Reihe wirklich hervorragender Bücher von einzelnen Mitgliedern der Gruppe veröffentlicht. Einige davon sind absolut bleibende Beiträge zu dem Gebiet – sie sind ‚Klassiker‘ geworden. Dazu noch viele weitere spezifischere Aufsätze. Vielleicht hatte ich etwas damit zu tun, dass dieses offiziell ‚interdisziplinäre‘ Projekt ins Leben gerufen wurde. Lorraine Daston, heute eine führende Wissenschaftlerin auf dem Gebiet und ein Mitglied der ursprünglichen Forschergruppe, schrieb liebenswürdigerweise: ‚Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die internationale Gruppe von Wissenschaftlern, Hacking selbst eingeschlossen, die 1982–1983 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, Deutschland, zusammenkam, um, unter der bemerkenswerten Führung durch Lorenz Krüger, „Die wahrscheinlichkeitstheoretische Revolution“ zu untersuchen, vor der Veröffentlichung von Emergence hätte zusammenfinden können‘ (Daston 2007, S. 802). Ich selbst aber habe The Emergence of Probability (Hacking 1975) nicht im Geringsten als interdisziplinär verstanden. Interdisziplinarität war mir als Konzept gar nicht in den Sinn gekommen und das war ein Segen für mich. Man könnte, 25 Jahre später, sagen, dass die Bielefelder Gruppe eine Sub-Disziplin innerhalb der Wissenschaftsgeschichte geschaffen hat, denn weiterhin erscheinen wichtige neue Aufsätze und Bücher. Als Sub-Disziplin im vollen Umfang gilt die Geschichte
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der Wahrscheinlichkeit und Statistik nicht. Das Vorhandensein wenigstens einer Fachzeitschrift, die sich explizit dem Thema widmet, und wenigstens einer professionellen Organisation ist heutzutage ein gutes soziologisches Kriterium für die tatsächliche Existenz einer Sub-Disziplin. Eine solche Institution oder Fachzeitschrift zur Geschichte der Wahrscheinlichkeit gibt es nicht. Nichtsdestotrotz wird weiterhin jede Menge erstklassiger Forschung betrieben. Ich nehme an, das wäre ohnehin passiert, aber Bielefeld setzte einen Maßstab in der Entwicklung dieses Gebiets. Ist die Bielefelder Gruppe ein exemplarisches Beispiel für „Interdisziplinarität“? Ja und nein. Ja, natürlich kamen die Teilnehmer aus einer Reihe von Disziplinen und arbeiteten in einer Institution, die dem Namen und der Praxis nach der interdisziplinären Forschung gewidmet ist. Aber in einem gewissen Sinne lautet die Antwort ‚nein‘. Hier muss ich für mich selbst sprechen. Ich habe nie in diesen Bahnen gedacht und kein einziges Mal gehört, dass einer meiner Kollegen das Wort ‚interdisziplinär‘ angewendet (also nicht nur erwähnt) hätte. Selbstverständlich war es da, als der mittlere Buchstabe, das i, im Namen des Instituts, das unser Gastgeber war. Weil wir es ganz einfach immer das ZiF nannten, hörten wir nur den Buchstaben und nie das Wort. Ich hoffe, dass ich auch für andere sagen darf: Wir betrachteten uns als Individuen aus verschiedenen Disziplinen mit einigen sich überschneidenden Interessen.
Das Beispiel Mary Douglas Ich bin zu persönlich gewesen, daher sollte ich mich einer Freundin zuwenden. Vor ein paar Jahren hatte ich die Ehre, den Feierlichkeiten zum achtzigsten Geburtstag von Mary Douglas, der kürzlich verstorbenen Anthropologin, beizuwohnen. Sie wurden, durchaus angemessen, in den prachtvollen Räumlichkeiten der British Academy abgehalten. Sieben Redner sprachen über Facetten ihrer Arbeit. (Ich hatte Risk and Culture übernommen.2) Genau ein Redner hatte eine Anstellung als Anthropologe, er beleuchtete Marys frühe Forschungsarbeit im Kongo. Unter den sieben war außerdem ein bekannter Soziologe und Politiker, was dem – vielleicht – noch recht nahe kommt, aber er verdiente sein Geld nicht als Anthropologe. Dann gab es einen Fachmann für Nahrung, worüber Douglas ausführlich publiziert hat. Und biblische Theologie: Douglas hatte eine Faszination für die Reinheitsgebote des Pentateuch, die ‚Abscheulichkeiten des Levitikus‘, entwickelt. Und so weiter. Was für eine interdisziplinäre Forscherin! Nur, dass sie keine war. Sie war eine unendlich neugierige Anwenderin ihrer rigorosen Disziplin. Sie richtete ihren kühnen und vollkommen unkonventionellen Geist und ihre Fähigkeiten auf alles, was sie zutiefst interessierte oder verblüffte. Nur in einem trivialen Sinne ist das Interdisziplinarität, nämlich im Sinne der Anwendung verschiedener Disziplinen innerhalb der eigenen Disziplin.
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Meine Ansprache war die Grundlage für ‚Risk and Dirt’ (Hacking 2003).
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Zwei neue Hobbys: Bäume und kalte Atome Ich schließe mit zwei meiner aktuellen Hobbys, eines davon neu, eines das neueste. Zweifellos wird ‚Hobby‘ zu abwertend klingen, aber so sehe ich diese beiden Interessen, denn sie berühren die Forschungsgebiete, von denen ich besessen bin, nur am Rande. Beide zeigen Möglichkeiten auf, wie ein Disziplinierter mit anderen Disziplinen interagieren und von ihnen lernen kann. Es gibt heutzutage ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Diagramme eine fundamentale Rolle für den Austausch von Gedanken spielen können. Das FeynmanDiagramm ist in der modernen Physik allgegenwärtig und ein unverzichtbares Werkzeug des Denkens. Ich habe angefangen, mich für Baumdiagramme als Hilfsmittel in der biologischen Klassifikation zu interessieren. Es gibt Kognitionswissenschaftler, die entschieden die Auffassung vertreten, dass das Ordnen von Hierarchien, Taxonomien, zeitlichen Prozessen und dergleichen in Form von Baumdiagrammen tatsächlich angeboren ist. Möglicherweise gibt es im Gehirn sogar ein Modul, das für Baumdiagramme zuständig ist. Mit Sicherheit ist die Baum-Symbolik in der menschlichen Zivilisation tief verwurzelt: Der Baum des Lebens geht zurück bis nach Babylon und Assyrien, lange vor der Hebräischen Bibel, und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist ebenfalls uralt. Der Kandelaber des Tempels, die Menora, ist ein sich verzweigender Baum. Das Kreuz ist, der Form nach, ein Baum und aus dem Holz eines Baums hergestellt. BaumSymbole finden sich in den meisten Kulturen, auch wenn sie in solchen Gegenden besonders häufig und verbreitet sind, in denen Bäume Mangelware sind. Dennoch scheint die Verwendung von Baumdiagrammen etwas sehr Neues zu sein. Wie neu? Ich hatte leichtsinnig in Seminaren erklärt, dass die Hierarchie Linnés, in der Klassen durch Teilung (Spezies, Gattung, Ordnung, Klasse) definiert werden, offenkundig eine Baumstruktur hervorbringt. Eine Studentin beharrte auf dem Einwand, dass Taxonomen sich vor der Evolutionstheorie keineswegs gedanklich Bäume vorstellten oder Bäume zeichneten. Tja, sie hat Recht. Ich habe mir, wie ich es nenne, ‚Scharfs Maxime‘ zu eigen gemacht: Wenn es nicht als Baum gezeichnet und als Baum bezeichnet wird, dann ist es auch kein Baum. Erst als Darwin so gewitzt war, zu erkennen, dass das korrekte Verhältnis der Spezies zueinander ein genealogisches – in Gestalt von Stammbäumen – ist, mutierte der biblische Baum des Lebens zu einem Baum der Abstammung der Lebewesen. Ich entwickelte ein Interesse für Baumdiagramme im Allgemeinen. In der traditionellen Logik gibt es beispielsweise den so genannten Porphyrianischen Baum, der aber in Porphyrios’ Isagoge (seiner Einführung zur Kategorien-Schrift des Aristoteles), geschrieben um das Jahr 300 n. Chr., nicht zu finden ist und nicht erwähnt wird. Außerdem gibt es Stammbäume, angefangen beim Jessebaum, und Bäumen der Blutsverwandtschaft, die die Ehehindernisse (d. h. Inzest) festlegen. Diese entwickeln sich weiter in Tabellen verwandtschaftlicher Verhältnisse, die für die Ethnographie des 20. Jahrhunderts eine solche Rolle gespielt haben. Bäume sind wichtig in der Logik und wesentlich für viele Aspekte der Computerwissenschaft. Das erste mathematische Theo-
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rem über Bäume wurde offenbar 1857 veröffentlicht, zwei Jahre bevor Darwin seinen berühmten gedruckten Baum publizierte. Bäume sind zu einer Sub-Disziplin der Graphentheorie geworden, ein eigenes offenes, ungelöstes Problem, die „Graceful Tree Conjecture“, eingeschlossen. Fast ein Jahr lang korrespondierte ich, gewöhnlich via E-Mail, mit einer breiten Palette von Experten, von denen die meisten außerordentlich entgegenkommend waren. Mein Latein ist nicht gut genug, von Griechisch ganz zu schweigen, aber heute weiß ich (oder glaube zu wissen), dass die ersten Logik-Bäume in einer anderen Sprache, Syrisch, aufgezeichnet und beschrieben worden sind, vielleicht um 500 n. Chr. herum. Die Schriftzeichen dieses Alphabets allein sind für mich schon unentzifferbar. Also zog ich Kenner dieser oder jener Sprache hinzu – und Biologen, Anthropologen, ByzanzForscher, Renaissance-Forscher, Computerwissenschaftler. Einen Experten für die Geschichte der islamischen Logik, der mir wirklich weiterhelfen konnte, habe ich nicht gefunden, allerdings bin ich mir sicher, dass Forscher auf dem Gebiet der islamischen Wissenschaft und Logik sich in Zukunft eifrig mit Bäumen befassen werden. All dies habe ich unternommen, um das zu begreifen, was man als die Rolle, die Baumdiagramme gleichermaßen für Kultur und Kognition spielen, bezeichnen könnte. Im Osten, besser gesagt West-Asien, finden sich bereits sehr früh Baumdiagramme, vermutlich um 500 n. Chr. In Westeuropa, und insbesondere in Spanien, finden sich Bäume der Blutsverwandtschaft aus der Zeit um 600 n. Chr., aber diese werden zu Familienstammbäumen verallgemeinert, der Jessebaum frühestens um 900 n. Chr. Das geschah größtenteils in Spanien, jenem Brennpunkt der Vermischung westlichchristlicher, jüdischer (besonders der Kabbala) und islamischer Kultur. Der größte Baumdiagramm-Fetischist aller Zeiten war Katalane, Ramon Llull, der sich, um 1300, an diesem Brennpunkt befand. Aus seinen Wäldern ragen die Bäume des Wissens heraus, diejenigen, von denen die Bäume Francis Bacons, D’Alemberts und Auguste Comtes abstammen. Es gibt also einen Stammbaum der Bäume des Wissens und, folglich, unserer modernen Fachdisziplinen. Ramon Llull war einer von Leibniz’ Helden (wir Prä- und Post-Leibnizianer sind ein eingeschworenes Team!). Der Historiker der frühen modernen Wissenschaften, Paolo Rossi, hat ein großartiges Buch zur Geschichte der kombinatorischen Logik und der Universalsprache geschrieben – ‚von Llull zu Leibniz‘, wie es im Titel heißt (Rossi 1983). Passenderweise erschien das Ergebnis meiner Bemühungen, ‚Trees of logic, trees of Porphyry‘, in einem anlässlich seines achtzigsten Geburtstags herausgegebenen Bandes (Hacking 2006). Die Tatsache, dass Baumdiagramme so neu in der Menschheitsgeschichte sind, bedeutet nicht, dass sie nicht auf einem universellen mentalen Modul basieren. Es bedeutet nur, dass Menschen diese Fähigkeit erst im Laufe der Zeit zu nutzen und auszudrücken gelernt haben. Was es mit diesem Modul, wenn es denn existiert, auf sich hat, ist eine Frage für jene im Entstehen begriffene Disziplin, die Kognitionswissenschaft. Wir haben bis jetzt noch nicht geklärt, wie man Fragen nach Zivilisation und nach Kognition verbindet, Fragen nach der Geschichte des Menschen und nach dem Gehirn des Menschen.
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Es hat sich gezeigt, dass Baumdiagramme ein Spezialfall eines Phänomens sind, das für mich von größtem Interesse ist, nämlich die Art und Weise, wie Menschen unter sehr spezifischen kulturellen Bedingungen Fähigkeiten entdecken, die unserer Spezies wahrscheinlich angeboren sind und die innerhalb jedweder dafür empfänglicher Kultur prinzipiell beherrscht werden können. Dieses Thema ist nicht bloß ein Hobby. Es hört nicht auf, mich zu fesseln. Es ist – natürlich – ein altes, Leibniz’sches Thema, denn es ist nicht anderes als die Erforschung der Natur, der Ursprünge, der Wurzeln und des Wachstums verschiedener Arten menschlichen Denkens, insbesondere jener, die sich innerhalb dessen entfalten, was wir heute als die Wissenschaften bezeichnen. Das ist vielleicht eine endlose Reise, auf der wir den gigantischen Fußspuren von Aristoteles und Leibniz folgen, ihnen dabei beständig die Ehre erweisen, uns aber niemals von ihnen einengen lassen. Es wäre abwertend, dies als interdisziplinär zu bezeichnen, denn es ist prä-disziplinär. Dazu sind eine gehörige Portion Kognitions- und Geschichtswissenschaft nötig, Disziplinen, die sich selten austauschen, die aber, auf längere Sicht, Teil eines anhaltenden Dialogs sind. Wie ist es mit meiner so endlichen Untersuchung zu den Wurzeln der Baumdiagramme? War die interdisziplinär? Auf gewisse Weise, ‚ja‘: Ich habe Fachleute aus Disziplinen, die füreinander wechselseitig unverstehbar sind, herangezogen. Eine Person, die wirklich sachkundig auf dem Gebiet der byzantinischen Kultur ist und die Evolutionstheorie versteht – oder umgekehrt –, ist mir noch nicht begegnet. Keiner von beiden wird wahrscheinlich die derzeitigen Ambitionen der Kognitionswissenschaft begreifen. Aber auf eine viel wichtigere Weise lautet die Antwort ‚nein‘. Hochgradig auf ihre Disziplin spezialisierte Gelehrte haben bei einem Projekt ausgeholfen, das ganz leicht zu erklären ist und zu fesseln vermag. Bäume sind ein Hobby aus jüngerer Zeit und sie faszinieren mich nach wie vor, aber ich habe meinen bescheidenen Beitrag zu ihrem Verständnis geleistet. Mit einem anderen und neueren Hobby habe ich mich auf einen Weg begeben, der wer weiß wohin führt. Vor langer Zeit, im Jahr 1983, veröffentlichte ich Representing and Intervening, ein Buch, das experimentelle Wissenschaft wieder als ordentlichen Teil der Wissenschaftsphilosophie einzuführen suchte. Ich bezeichnete es als eine ‚Zurück-zu-Bacon‘Bewegung. Denn die vorangegangenen vierzig Jahre hatten alle Großen – Popper, die logischen Positivisten, Kuhn, van Fraassen – sich so ausgedrückt, als ob Wissenschaft gleichbedeutend wäre mit Theorie und das Experiment ein bloßes Werkzeug, von dem der bloße Techniker Gebrauch macht. Es gab einen eigenartigen Klassenunterschied, der weit zurückreicht, bis zur wissenschaftlichen Revolution selbst. Francis Bacon mag der altehrwürdige und in Ehren gehaltene Ahne der Royal Society of London gewesen sein, aber es war der große irische Grundbesitzer und wahre Gentleman Robert Boyle, dem der Laden gehörte. Robert Hooke, mit keinerlei Land und geringem gesellschaftlichen Ansehen ausgestattet, galt als kaum mehr als ein Assistent. Dennoch war Hooke ebenso unverzichtbar für die wissenschaftliche Revolution wie er es für Boyle selbst war. Bis zum heutigen Tage erzählt die Geschichte von Boyle, und hängt Hooke hinten an, wenn es gerade passt. All das wollte ich ungeschehen machen – vor allem, weil ich zu dieser Zeit in Stanford arbeitete und mich mit zwei Experimentalphysikern angefreundet hatte. Einer arbeitete am Stanford Linear Accelerator und der andere leitete
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Gravity Probe B, wie im Vorwort des Buchs dankbar ausgeführt wird. In keinem meiner unzähligen Gespräche mit beiden Physikern kam das Wort ‚interdisziplinär‘ vor. Aber ich war neugierig, und sie ebenfalls, doch sie überschritten die innerphysikalischen Grenzen nicht. Ich unterhielt mich mit dem Gravity-Experten, Francis Everett, und der Beschleuniger-Expertin, Melissa Franklin, sehr viel öfter als die beiden sich untereinander. Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit anderen Themen. Viele Jahre später wurde ich gebeten, die Carl Friedrich von Weizsäcker-Vorlesungen in Hamburg zu halten. Auf dieser Veranstaltung wechseln sich von Jahr zu Jahr ein Physiker und ein Philosoph, der sich mit Physik beschäftigt, ab. Obwohl ich zwanzig Jahre lang nicht über Physik nachgedacht hatte, nahm ich an und entschloss mich, mir neues Rüstzeug zuzulegen. 2004/05 war Sandro Stringari von der Universität Trient einer meiner Kollegen am Collège de France, eine zentrale Figur auf einem Gebiet der Physik, das 1995 unglaublich aktiv geworden war, nämlich Bose-Einstein-Kondensation. Ich erfuhr, dass gerade eine neue physikalische Welt erschaffen wird. Bei Temperaturen, die wahrscheinlich nie zuvor im Universum existiert haben, lässt man neuartige Zustände von Materie mit bis dahin unbekannten Eigenschaften entstehen. Das ‚Ultrakalte‘ ist eine Region innerhalb eines Nanokelvins am absoluten Nullpunkt (Nano steht für 10-9). Gewisse stark verdünnte Gase kondensieren, ohne eine flüssige Phase zu durchlaufen. Bose-Einstein-Kondensation wurde von Einstein 1925 vorhergesagt, aber erst 1995 zum ersten Mal experimentell realisiert. Wir wissen seit langem, dass vielen gewöhnlichen Wahrnehmungen Quanteneffekte zugrunde liegen, aber wir waren bis dahin nicht darauf gekommen, makroskopische Quantenphänomene herzustellen, die man „sehen“ und mit denen man auf seinem Arbeitstisch hantieren kann. Schon an sich lösen diese Ereignisse philosophische Neugier oder Ehrfurcht aus. Sie liefern außerdem ein reichhaltiges Bezugssystem, innerhalb dessen traditionellere philosophische Topoi einer Neuuntersuchung unterzogen werden können. Nachdem ich an Stringaris Lehrveranstaltung teilgenommen und viele Stunden mit ihm in Pariser Cafés verbracht hatte, machte ich mich daran, Labore zu besuchen. Zunächst Rudi Grimms Laboratorium in Innsbruck, eines der großen BEK Labore. Ich hatte ihn aus heiterem Himmel gefragt, ob ich zu Besuch kommen könnte und er war (wie es nach meiner Erfahrung so oft der Fall ist) unglaublich großzügig mit seiner Zeit, ebenso seine Studenten. Als nächstes entschied ich mich für einen Besuch im Laboratorium von Eric Cornell in Boulder, Colorado. 1995, als junger Mann, der seinen Abschluss noch nicht lange in der Tasche hatte, schufen er und ein Kollege das erste BoseEinstein-Kondensat. Dafür hat er mit anderen einen Nobelpreis erhalten. Ich war, wie üblich, nervös, als ich an Cornell schrieb – warum sollte ein großer Physiker sich Zeit dafür nehmen, mit einem ältlichen Philosophen zu reden, von dem er noch nie etwas gehört hatte? Cornell schrieb eine E-Mail zurück mit etwa folgendem Wortlaut: ‚Hey, ich weiß doch Bescheid über Sie, denn als Sie Ihren Einführungskurs zur Philosophie der Wissenschaft gehalten haben, war ich Physik-Undergraduate, und habe an der Veranstaltung teilgenommen, ich war der unsichtbare komische Typ in der letzten Bank. Und in meiner Doktorarbeit habe ich sogar ein bisschen aus Ihrem Kapitel über Mes-
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sung in Representing and Intervening zitiert!‘ Interdisziplinarität? Nein, ein höchst disziplinärer Wissenschaftler, unvoreingenommen und überaus neugierig. Seither hat er mir viel beigebracht. Während dieser Beschäftigung mit kalten Atomen habe ich versucht, meine Ansichten über die Kollaboration von Disziplinen an meine Studenten weiterzuvermitteln. Um es zu wiederholen: Wenn man von einer anderen Disziplin lernen und das innerhalb der eigenen nutzen will, braucht man echte Erfahrung, vorzugsweise Praxiserfahrung, auf diesem anderen Forschungsgebiet. Wie ich das praktisch umsetze? Jeder dürfte es auf verschiedene Weise tun. Ich gehöre nicht zu der Art von Forschern, die grandiose Projekte planen und jede Menge öffentliche Mittel beantragen. Alles, was ich will, ist schlank, präzise, auf den Punkt gebracht. Eine geringe Forschungsbeihilfe ermöglicht es mir zum Beispiel, das philosophische Promotionsstudium eines Studenten (Eran Tal) an der University of Toronto zu fördern. Ich habe ihn ins Quantenoptik-Labor der Universität „eingeschleust“, das Bose-Einstein-Phänomene untersucht. Die Beihilfe kommt außerdem mit kleinen Beträgen zwei Grad Students in dem Labor zugute, die sich viel Zeit dafür nehmen, mit meinem Studenten BEK zu diskutieren, und für die er einige einfache Versuchsvorbereitungen im Labor übernimmt. Sie sind hoch erfreut, einen Philosophen gefunden zu haben, der ihren Enthusiasmus für einen absonderlichen Teil des Universums zu teilen beginnt, und sie sind unverzichtbar, damit er neuen Veröffentlichungen folgen kann, die er wiederum mir erklärt. Ich begreife diese Aktivität nicht als interdisziplinär, außer in einem oberflächlichen Sinne. Mehrere Einzelpersonen aus verschiedenen Disziplinen lassen einander an Aspekten ihrer Disziplinen teilhaben, während sie mit ihrer eigenen weiterkommen. Diese Anmerkungen sind nicht als Beitrag zu einer gegen großangelegte finanzielle Förderung interdisziplinärer Forschung gerichteten Argumentation gedacht. Viele von uns haben, wie gesagt, von dem Jahr in Bielefeld profitiert, das zum Teil durch die großzügige Unterstützung der Volkswagenstiftung ermöglicht wurde. Meine Bemerkungen bringen höchstens implizit das Argument vor, dass kostengünstige, ernsthafte Zusammenarbeit zwischen Disziplinen, ohne fadenscheinige Ideologie der ‚Interdisziplinarität‘, ebenfalls reichlich Früchte tragen kann. Ob ich argumentiere (fragen die Herausgeber dieses Bandes), dass Interdisziplinarität besondere Disziplinarität voraussetzt? Für den normalen Fleißarbeiter des Denkens, wie mich, ‚ja‘. Aber natürlich gibt es erstaunliche Abarten, in dem Sinne, wie sie das Oxford English Dictionary definiert: ‚Eine Pflanze (oder Teil einer Pflanze), ein Tier, usw., das in irgendeiner Weise abnormale Variation oder Abweichung im Vergleich zum Stamm oder der Pflanze oder dem Typus, von dem sie abstammt, aufweist.‘ Innerhalb jeder Disziplin gibt es solche Abweichler, die ihre eigenen Wege gehen und für die keine Regeln gelten. Es liegt in ihrer Natur, dass sie sich nicht an Umwelten anpassen, sondern neue erzeugen. Die Aufgabe der Bürokratien, die Forschung finanziell fördern, besteht meiner Meinung nach weniger darin, Interdisziplinarität zu stärken, als sich vielmehr den Abweichlern zu öffnen, die alte disziplinäre Grenzen zertrümmern, indem sie neue erschaffen.
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Schlussbemerkung Ich bitte um Nachsicht für diesen allzu persönlichen Beitrag zu einem Thema von großem allgemeinem Interesse. Ich fand, es könnte sich lohnen, sich für kollaborierende Disziplinen auszusprechen, die nicht, in irgendeinem wichtigen Sinne des Wortes, „interdisziplinär“ sein müssen. Ich hoffe, dass meine Bemerkungen über das Anekdotische hinausgehen. Ich hoffe sie zeigen, dass viele Denker, die sich Hilfe außerhalb ihrer eigenen Disziplin wünschen, sich nicht etwa an die interdisziplinäre Forschung wenden, sondern die Grundlagen anderer Disziplinen meistern und dann von den Fachleuten innerhalb jener Disziplinen lernen. Einem jungen Menschen, der sich in einer Disziplin gefangen fühlt, helfen sie nicht, außer, dass sie zeigen, dass die Disziplinen durchlässiger sind als man meint, und dass die Fachleute auf verschiedenen Gebieten eher zur Zusammenarbeit bereit sind, als das Modell der Interdisziplinarität zu suggerieren neigt. Die Herausgeber haben angeregt, dass ich mit „einigen Bemerkungen, die mehr in ‚systematischer‘ Hinsicht von Interesse sind“, schließe. Tut mir leid. Ich habe nichts Systematisches zu sagen, außer, man hüte sich vor Systemen. Der Brückenschlag zwischen den Disziplinen kann auf verschiedene Weisen erzielt werden, einige davon sind systematisch. Nur zu. Das Systematisieren ist eines der tiefsten menschlichen Bedürfnisse. Glücklicherweise wird es häufig von einem anderen menschlichen Trieb besiegt, der Neugier. Meine Anekdoten deuten möglicherweise darauf hin, dass disziplinierte Neugier manchen Menschen dabei hilft, Disziplinen zu durchkreuzen. Die Disziplinen am Baum des Wissens sind, wie die Kreaturen am Baum des Lebens, das Produkt evolutionären Drucks. Manche sind die Dinosaurier unserer Zeit und werden bald von uns gehen. Aber viele verfügen über eine beträchtliche Anpassungsfähigkeit. Darum forschen die bekanntesten Forscher innerhalb einer Disziplin. Der Unterschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen besteht darin, dass Menschen schlau genug sind, von anderen Modi des Wissens zu lernen und dabei die eigenen, die sie am besten gemeistert haben, beizubehalten. Wir sollten weder töricht das verstoßen, was sich einer alten epistemischen Umwelt angepasst hat, noch, wie mit Scheuklappen, andere denkbare Anpassungsmöglichkeiten ignorieren. Mein obiges kursiviertes Motto mag manchen Leuten nützlich sein, die von dem, was durch andere Disziplinen geschulte Menschen können, profitieren wollen: Wenn du einen Teil deiner Kraft darauf verwendest, innerhalb des Bereichs, in dem du dich auskennst, scharf darüber nachzudenken, was andere tun, dann werden Interessierte erfahren wollen, was du tust, innerhalb des Bereichs, in dem sie sich auskennen. Aus dem Englischen übersetzt von Torben Quasdorf.
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Literatur Daston, Lorrain (2007): „The History of Emergences“. In: Isis 98, 801–808. Hacking, Ian (1965): The Logic of Statistical Inference. Cambridge: Cambridge University Press. Hacking, Ian (1975): The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference. Cambridge: Cambridge University Press. Hacking, Ian (2003): „Risk and Dirt“. In: Ericson, Richard V. / Doyle, Aaron (Hg.): Risk and Morality. Toronto: University of Toronto Press. Hacking, Ian (2006): „Trees of logic, trees of Porphyry“ In: Heilbron, John (Hg.), Advancements of Learning: Essays in Honour of Paolo Rossi. Florenz: Olschki. Rossi, Paolo (1983): Clavis universalis: arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz, Bologna: Il Mulino. (Übersetzt als Logic and the art of memory: the quest for a universal language. Chicago: University of Chicago Press, 2000.)
Autorenverzeichnis ULRICH FREY, geb. 1976, studierte Philosophie und Anglistik in Freiburg, Promotion in Philosophie 2006. Derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Gießen am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Evolutionäre Erkenntnistheorie, Philosophie der Biologie, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Albert Camus, vergleichende Religionsphilosophie, Konzeptionen des Raumes. IAN HACKING, geb. 1936, studierte Mathematik und Physik in British Columbia sowie Philosophie in Cambridge, Promotion 1962. Seit 1982 Professor am Department of Philosophy der University of Toronto, sowie von 2001 bis 2006 Honorarprofessor am Collège de France. 2009 Auszeichnung mit dem „Holberg International Memorial Prize“ der Universität Bergen. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Philosophie der Mathematik, philosophische Fragen der Psychopathologie. MICHAEL JUNGERT, geb. 1980, studierte Philosophie, Geschichte und Biologie an den Universitäten Bamberg und Erlangen-Nürnberg. Magister Artium (2006) und Promotion (2012) in Philosophie. Von 2006 bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie I der Universität Bamberg. 2007 bis 2010 Kollegiat und Promotionsstipendiat im DFG-Graduiertenkolleg Bioethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen sowie Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Philosophie I der Universität Bamberg. 2009/2010 Visiting Fellow am Department of Philosophy der Harvard University. Seit 2012 Wissenschaftlicher Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Geistes und der Psychologie, Wissenschaftsphilosophie, Philosophische Anthropologie, Allgemeine und Angewandte Ethik, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart. BERNULF KANITSCHEIDER, geb. 1939, studierte Physik und Philosophie in Innsbruck. 1964 Promotion in Philosophie an der Universität Innsbruck, 1970 Habilitation ebenda. Seit 1974 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Naturwissenschaft (Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaften) der Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Kosmologie, Philosophische Probleme der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, Selbstorganisation und Chaosforschung, Bioethik, Lebensphilosophie, Philosophie der Mathematik.
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Autorenverzeichnis
HILARY KORNBLITH, geb. 1954, B.A. in Buffalo (University at Buffalo), Promotion in Philosophie an der Cornell University 1980. Von 1991 bis 1997 Professur an der University of Vermont, seit 2003 Professor für Philosophie an der University of Massachusetts in Amherst, USA. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie (Internalismus / Externalismus), Metaphysik, Philosophie des Geistes, die Rolle von Intuitionen in der Theoriebildung, mentale Zustände von Tieren. WINFRIED LÖFFLER, geb. 1965, studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Katholische Theologie an der Universität Innsbruck; Promotion 1991 (Dr.iur.) und 1995 (Dr.phil.fac.theol.). 2004 Habilitation an der Hochschule für Philosophie in München. Seit 2005 Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck. Arbeitsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Logik, Wissenschaftstheorie und Angewandte Ethik. KLAUS MAINZER, geb. 1947, studierte Mathematik, Physik und Philosophie an der Universität Münster, Promotion (1973) und Habilitation (1979) ebenda. Heisenbergstipendiat 1980. Von 1981-1988 Professor für Grundlagen der exakten Wissenschaften und Prorektor an der Universität Konstanz. Von 1988 bis 2007 Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Augsburg. Direktor des Instituts für Philosophie und Gründungsdirektor des Instituts für Interdisziplinäre Informatik ebenda. Seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der TU München, Direktor der Carl von Linde-Akademie und seit 2012 Gründungsdirektor des Munich Center for Technology in Society (im Rahmen der Exzellenz-Initiative). Arbeitsschwerpunkte: Logik, Erkenntnistheorie, Philosophie und Geschichte der Wissenschaft und Technik, Künstliche Intelligenz, Erforschung komplexer Systeme. THOMAS POTTHAST, geb. 1963, studierte Biologie und Philosophie in Freiburg und Tübingen, Promotion 1998, Habilitation 2010. Von 1998 bis 2001 Post-Doc Research Scholar am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin, 2002 FeodorLynen-Fellow der Humboldt Stiftung an der University of Wisconsin-Madison, seit Mai 2002 Wissenschaftlicher Koordinator und Akademischer Oberrat am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen; seit 2012 außerplanmäßiger Professor. Arbeitsschwerpunkte: Ethik in den Wissenschaften, Bioethik, Nachhaltige Entwicklung, Naturethik und Naturphilosophie der Biodiversität, Naturschutz und Gentechnik, Interdisziplinarität. ELSA ROMFELD, geb. 1975, studierte Philosophie, Germanistik, Psychologie und Pädagogik an den Universitäten Braunschweig und Konstanz; 1. Staatsexamen (2003) und Magistra Artium in Philosophie (2004). Von 2004 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie II der Universität Bamberg. Seit 2008 Akademische Mitarbeiterin im Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizi-
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nischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Seit 2011 Mitglied im Klinischen Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Meta-Ethik, Ethik in der Medizin, Medizintheorie, Philosophische Anthropologie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart. BERTOLD SCHWEITZER, geb. 1962, studierte Biologie und Philosophie in Würzburg, Gießen und Basel. Promotion in Biologie an der Universität Gießen 1993, Habilitation in Philosophie an der Universität Osnabrück 2006. Von 2006 bis 2007 Professurvertretung an der Universität Wuppertal. 2008 bis 2011 Associate Professor an der American University in Cairo, Ägypten. Seit 2012 Professor für Philosophie an der European Peace University, Stadtschlaining, Österreich. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Philosophie der Biologie und der Sozialwissenschaften, Kausalität und Mechanismen, Evolution in Biologie, Kultur und Ethik. THOMAS SUKOPP, geb. 1968, studierte Chemie, Mittelalterliche und Neuere Geschichte und Philosophie in Braunschweig. Promotion in Philosophie 2006. Von 2009 bis 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Augsburg und am Seminar für Philosophie der Technischen Universität Braunschweig. Seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar/Fachdidaktik Philosophie der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: (Zeitgenössische) Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Philosophie der Naturwissenschaften (insbesondere der Chemie), Didaktik der Philosophie, Philosophie der Menschenrechte, Interkulturelle Philosophie und Philosophie der Lebenswelt. UWE VOIGT, geb. 1965, studierte Philosophie, Psychologie und Katholische Theologie an den Universitäten Bamberg und Innsbruck. Promotion (1996) und Habilitation (2007) in Philosophie. Von 1993 bis 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Philosophie I der Universität Bamberg. Nach verschiedenen Lehrstuhlvertretungen und Gastprofessuren seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie mit Schwerpunkt analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes und der Psychologie, Interkulturelle Philosophie, Philosophie der Menschenrechte, Philosophie der Antike und der Frühen Neuzeit, Philosophie der Gegenwart. GERHARD VOLLMER, geb. 1943, studierte Mathematik, Physik und Chemie in München, Berlin, Hamburg und Freiburg sowie Philosophie und Sprachwissenschaften in Freiburg. 1971 Promotion in theoretischer Physik, 1974 Promotion in Philosophie. Von 1991 bis 2008 Professor für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Künstliche Intelligenz.
Informationen Zum Buch Der Begriff der ›Interdisziplinarität‹ ist in aller Munde, wird aber nur selten mit der gebotenen Schärfe und Systematik untersucht. Dieser Sammelband unternimmt deshalb den Versuch, prinzipielle Fragen und konkrete Probleme der interdisziplinären Arbeit zu klären. Welche Möglichkeiten und welche Grenzen des fächerübergreifenden Austauschs gibt es? Welche sprachlichen und methodischen Schwierigkeiten müssen dabei reflektiert werden? Wer diese Fragen erwägt und Antworten darauf sucht, arbeitet mit an einer tragfähigen Grundlage für den fruchtbaren Austausch der Disziplinen, der im Zeitalter globaler Wissensvernetzung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Mit Beiträgen von: Ulrich Frey, Ian Hacking, Michael Jungert, Bernulf Kanitscheider, Hilary Kornblith, Winfried Löffler, Thomas Potthast, Elsa Romfeld, Bertold Schweitzer, Thomas Sukopp, Uwe Voigt und Gerhard Vollmer. Mit einem Geleitwort von Klaus Mainzer.
Informationen Zum Autor Dr. Michael Jungert, geb. 1980, ist Wissenschaftlicher Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn. Elsa Romfeld, M.A., geb. 1975, ist Akademische Mitarbeiterin im Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Dr. Thomas Sukopp, geb. 1968, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Siegen. Prof. Dr. Uwe Voigt, geb. 1965, ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie mit Schwerpunkt analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Augsburg.