Interdependenzen von Politik und Wirtschaft: Beiträge zur Politischen Wirtschaftslehre. Festgabe für Gert von Eynern [1 ed.] 9783428419692, 9783428019694


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Interdependenzen von Politik und Wirtschaft: Beiträge zur Politischen Wirtschaftslehre. Festgabe für Gert von Eynern [1 ed.]
 9783428419692, 9783428019694

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Interdependenzen von Politik und Wirtschaft Beiträge zur Politischen Wirtschaftslehre

Festgabe für Gert von Eynern

Herausgegeben von

Carl Böhret und Dieter Grosser

Duncker & Humblot . Berlin

Interdependenzen von Politik und Wirtschaft

Interdependenzen von Politik und Wirtschaft Beiträge zur Politischen Wirtschaftslehre

Festgabe für Gert von E y n e r n

D U N C K E R & H U M B LOT / B E R L I N

Herausgegeben von

Carl Bohret und Dieter Grosser

Alle Hechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung für sämtliche Beiträge, vorbehalten. © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

Gert von Eynern Gert von Eynerns 65. Geburtstag bietet seinen Freunden und Schülern willkommenen Anlaß, ihn m i t dieser Festschrift zu ehren. Sein bewegtes Leben zwischen Wissenschaft, Wirtschafts- und Verwaltungspraxis, Journalismus und Politik haben i h n zu einem Lehrer werden lassen, der, die Grenzen der Disziplinen überschreitend, neue wissenschaftliche Fragen stellt und sich zugleich m i t großem Erfolg seinem pädagogischen Auftrag widmet. Seine Bemühungen u m die Studienund Universitätsreform, sein großes Verständnis für seine Mitarbeiter und Schüler entspringen dem gleichen Wunsch, der auch seine wissenschaftliche und politische Arbeit bestimmt: die Verwirklichung einer Gesellschaft zu fördern, die der Freiheit und der Gleichheit näher ist. Seine starke Wirkung beruht nicht zuletzt darauf, daß er ein Beispiel gibt für politisches Engagement, dessen Voraussetzungen kritisch durchdacht sind und das wissenschaftliche Objektivität daher nicht hindert. Gert von Eynern wurde am 29. Dezember 1902 i n Wuppertal-Elberfeld geboren; beide Eltern stammten aus Barmener Kaufmannsfamilien. Er begann 1921 das Studium i n München, hörte ganz nach Neigung zunächst Philosophie, Kunstgeschichte und Psychologie, widmete sich dann aber i n Freiburg und Bonn vor allem der Volkswirtschaftslehre. Beeindruckt und zu kritischer Mitarbeit angeregt haben ihn i n diesen Jahren Götz Briefs, Eduard Heimann, Schultze-Gävernitz und der Arbeitsrechtler Hoeniger; später A r t h u r Spiethoff, Joseph Schumpeter und .Herbert von Beckerath. 1925 legte er eine der ersten Diplomprüfungen i n Volkswirtschaftslehre ab, 1927 promovierte er bei von Beckerath m i t einer beachtlichen Arbeit über die Reichsbank. A n schließend arbeitete er am Institut für Weltwirtschaft i n Kiel, vor allem i m Enquete-Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft unter Bernhard Harms. I n den Seminaren von Adolph Löwe, Gerhard Colm und Julius Landmann, i n Diskussionen m i t Otto Pfleiderer, Jacob Marshak, Fritz Burchardt und Wassilij Leontief gewann er Anregungen und Einsichten, die seine weitere wissenschaftliche Entfaltung bestimmten. Seine Laufbahn wurde jedoch durch Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus gehemmt. Ein Jahr lang war er Redakteur an dem linksliberalen, von Leopold Schwarzschild gegründeten Wochenblatt „Magazin der Wirtschaft", das 1931 sein Erscheinen einstellen mußte. 1932 trat er ins Statistische Reichsamt ein. Dem Gegner der Nationalsozialisten blieben 1933—1945 beruflicher Aufstieg und W i r k u n g versagt; 1936—1945 arbeitete er i n der Überwachungsstelle für Lederwirtschaft.

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Gert von Eynern

Nach Kriegsende war Gert von Eynern zunächst i n der Berliner Verwaltung tätig; 1946 übernahm er die Wirtschaftsredaktion des „Telegraf". Daneben redigierte er das von Otto Suhr und Louise Schröder herausgegebene „Sozialistische Jahrhundert". A n der Wiedergründung der „Deutschen Hochschule für Politik" i m Herbst 1948 hatte er maßgebenden Anteil. I m Zusammenwirken m i t Otto Suhr, Otto Heinrich von der Gablentz, Hans Reif, C. D. von Trotha und später auch Ernst Fraenkel entstand das Konzept der Politischen Wissenschaft, wie es heute noch das Lehrprogramm des Otto-Suhr-Instituts bestimmt. I n dieser Lehr-, Forschungs- und Organisationsarbeit entwickelte sich Gert von Eynern vom Nationalökonomen zum Politologen. I m November 1953 wurde er Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, seit 1959 ist er o. Professor für die Wissenschaft von der Politik, m i t besonderer Berücksichtigung der Politischen Wirtschaftslehre, an der Freien Universität Seine Erfahrungen i n Verwaltung und Organisation kamen seiner Arbeit als Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät 1962/63 und als Direktor des Otto-SuhrInstituts zugute. Das breite Spektrum seiner Interessen und Erfahrungen brachte es m i t sich, daß er viele Sonderaufgaben übernahm. So ist er Mitglied mehrerer Universitätsausschüsse, Vertrauensdozent der Stiftung Mitbestimmung, Mitherausgeber der „Politischen Vierteljahresschrift". Viele Jahre war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft und Mitglied des Beirates der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Trotz dieser und vieler anderer Verpflichtungen ist es i h m immer gelungen, die enge und freundschaftliche Verbindung zu seinen Studenten und Kollegen, wie sie für die Jahre des Aufbaus der Deutschen Hochschule für Politik so kennzeichnend war, aufrechtzuerhalten. I n seinen wissenschaftlichen Arbeiten versucht Gert von Eynern, i m Rahmen der von i h m begründeten „Politischen Wirtschaftslehre" die Interdependenz von Regierungssystem und ökonomischem System zu erfassen. Innerhalb dieses weiten Bereichs beschäftigte er sich bisher speziell m i t den Problemen der öffentlichen Bindung privater Unternehmungen, m i t der wirtschaftlichen Mitbestimmung, m i t dem Verhältnis von Staat und Notenbank und der Konvergenz von Systemen. Die Beiträge dieser Festschrift wollen dem Anliegen des Jubilars dienen. Sie zeigt die Zusammenarbeit von Politologen, Ökonomen und Soziologen, wie Gert von Eynern sie stets gefordert und selbst gepflegt hat. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Mitarbeit und Herrn Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann, dem Inhaber des Verlages Duncker und Humblot, für seine Bereitwilligkeit und großzügige Hilfe, die diese Festschrift erst ermöglichten. Berlin, 29. Dezember 1967

Carl Bohret, Dieter Grosser

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Dr. Carl Bohret,

Berlin

Politische Wirtschaftslehre — Portrait einer Disziplin

Erster

11

Teil

Leitbilder und Systeme Professor Dr. Dr. Richard F. Behrendt,

Berlin

Die Stellung Europas i n der W e l t von heute u n d morgen Professor Dr. Dr. Ossip K. Flechtheim,

Berlin

V o n der Wissenschaft der Z u k u n f t z u r Futurologie Privatdozentin Dr. Viola Gräfin von Bethusy-Huc,

61 Gießen

A u t o r i t ä t i n der modernen Demokratie Professor Dr. Gerhard

91

Weisser, Staatssekretär a. D., Göttingen

Die „praktischen" Aussagen von Politologie u n d Wirtschaftswissenschaft Professor Dr. Johannes Langelütke,

129

Lowe, New Y o r k

Die normative Wurzel des wirtschaftlichen Wertes Professor Dr. Gisbert

Rittig,

135

Göttingen

Zielkollision oder Instrumentenkollision (Sinnvolle Ordnung oder Ordnung v o n Sinnwidrigkeiten Professor Dr. Rudolf

99

München

Z u r Pathologie der Marktwirtschaft Professor Dr. Adolph

39

Meimberg,

145

Mainz

Grenzen der rationalen Beurteilung sozialökonomischer Ziele Professor Dr. D r . Oswald von NelUBreuning,

159

S. J., F r a n k f u r t / M .

Die ordnungspolitische Bedeutung der wirtschaftlichen Mitbestimmung . . 169

8

Inhaltsverzeichnis

Rechtsanwalt Dr. Otto Kunze,

Düsseldorf

Die Verfassung großer Unternehmen als gesellschaftspolitisches Problem 189 Senatsdirektor Dr. Kurt

Nemitz,

Bremen

Bemerkungen zur E n t w i c k l u n g der Mitbestimmungsdebatte Professor Dr. Herwig

Blankertz,

211

Berlin

Erziehung f ü r die Arbeitswelt von morgen Professor Dr. Otto Heinrich

von der Gablentz,

229 Berlin

E i n Klassenkampf der Intellektuellen? Prolegomena zu einer unabweisbaren Theorie

245

Professor Dr. Fritz

Borinski,

Berlin

Die Universität als Ort politischer B i l d u n g Dr. Wolfgang Hartenstein, B a d Godesberg

271

I n s t i t u t für angewandte Sozialwissenschaft,

M i t Prognosen leben: Der Einfluß von Wahlvoraussagen auf das Wählerverhalten 285

Zweiter

Teil

ökonomische Determinanten der Politik — politische Determinanten der Wirtschaft Professor Dr. Gerhard ation, Washington

Colm, Chief Economist, National Planning Associ-

Letter to Gert von E y n e r n

309

Professor Dr. Drs. Fritz Baade, K i e l Der Einfluß der Wirtschaftsforschung Deutschland i n den letzten 53 Jahren Professor Dr. Hans Staudinger,

auf die

Wirtschaftspolitik

in 317

New Y o r k

Die Änderungen i n der Führerstellung u n d der S t r u k t u r des organisierten Kapitalismus 341 Professor Dr. Dr. Helmut

Arndt,

Berlin

Das Koordinationsproblem bei staatlichen Planungen Dr. Hermann

Brügelmann,

375

Köln

Regionalplanung u n d Regionalforschung auf neuen Wegen

383

Inhaltsverzeichnis Professor Dr. Dr. Wolfram

Fischer , B e r l i n

Staatsverwaltung u n d Interessenverbände i m Deutschen Reich 1871—1914 431 Walter Hesselbach, Vorsitzender des Vorstandes der B a n k f ü r Gemeinwirtschaft, F r a n k f u r t / M . Das nicht erweribswirtschaftlich orientierte Marktunternehmen. E i n Uberblick über die Unternehmungen der deutschen Arbeiterbewegung . . 457 Dr. Fritz-Ullrich

Fack, Bonn

Entwicklungstendenzen des industriellen Lobbyismus i n der republik Professor Dr. Fritz

Eberhard,

Bundes483

Staatssekretär a. D., B e r l i n

Die Rolle der Massenkommunikationsmittel beim Zustandekommen p o l i tischer Entscheidungen Professor Dr. Wolfgang

507 Abendroth,

Marburg

50 Jahre theoretischer Weltkommunismus — Eine Einleitung zu seiner wirtschaftsgeschichtlichen Analyse Professor Dr. Otto Pfleiderer,

531

Präsident der Landeszentralbank von B a -

den-Württemberg, Stuttgart Die Notenbank i m Spannungsfeld v o n Wirtschafts- und Finanzpolitik . . 563 Privatdozent Dr. Dieter

Grosser, B e r l i n

Möglichkeiten u n d Grenzen staatlicher L o h n p o l i t i k i n Großbritannien . . 577 Professor Dr. Carl Landauer, Berkeley Die wirtschaftliche Komponente der amerikanischen Außenpolitik Dr. Hans-Joachim

Winkler,

593

Hamburg

Kritische Gedanken über den Nutzen des Deutschen Entwicklungsdienstes 617

Einleitung Politische Wirtschaftslehre — Portrait einer Disziplin Von Carl Bohret I.

Die Politische Wissenschaft w i r d üblicherweise i n drei große Gebiete unterteilt: Theorie der Politik, Innenpolitik und Internationale Politik. Zu den diese Bereiche ergänzenden Disziplinen gehören neben der neueren Geschichte und dem Staats- und Verwaltungsrecht auch die Ökonomie, hauptsächlich als Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik 1 , ö k o nomische Phänomene sind nach diesem Formalaufbau der Politischen Wissenschaft jedenfalls nicht Gegenstand der Forschung: so wurden denn auch die ökonomischen Faktoren des Regierungssystems bisher kaum mit politologischer Fragestellung untersucht. Zwar w i r d nicht bestritten, daß die Wirtschaft für das politische Geschehen von Bedeutung ist, doch fehlt i n der deutschen Politologie — von wenigen Ansätzen abgesehen2 noch die systematische Beschäftigung mit den Ursachen und Wirkungen politisch relevanter ökonomischer Ereignisse und Prozesse. Arnold Bergstraesser hat mehrmals darauf hingewiesen, daß die Politische Wissenschaft an der Analyse der wirtschaftlichen Dynamik sehr interessiert sei und die stärkste Berührung m i t der Wirtschaftswissenschaft dort erfolge, „wo die politische Einwirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft zur Rede steht. Vor allem erfordern solche Konstellationen ihre Analyse, i n denen das wirtschaftspolitische Handeln nicht etwa von ökonomischen Kriterien allein bestimmt ist, sondern i m Gegenteil außerökonomische Interessen partikularer Machtgruppen oder internationalpolitische Erwägungen m i t w i r k e n " 3 . Und an anderer Stelle: „Der A u f 1

Vgl. z. B. Rainer Lepsius: Denkschrift zur Lage der Soziologie u n d der Politischen Wissenschaft, Wiesbaden 1961, S. 81 ff. 2 So auch Rudolf Wildenmann: Politologie i n Deutschland, i n : Der Politologe, 8. Jg., Nr. 23/1967, S. 16. Vgl. aber Ferdinand A. Hermens: Wirtschaftliche u n d staatliche Stabilität ( = Schriften des Forschungsinstituts f ü r Politische Wissenschaft der Universität zu Köln, Heft 9), F r a n k f u r t a. M. u n d Bonn 1964 sowie Werner Kaltefleiter: Wirtschaft u n d P o l i t i k i n Deutschland. K o n j u n k t u r als Bestimmungsfaktor des Parteiensystems, K ö l n u n d Opladen 1966. 3 A r n o l d Bergstraesser: P o l i t i k u n d Wissenschaft, i n : P o l i t i k i n Wissenschaft u n d Bildung, Freiburg 1961, S. 27 f.

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Carl Bohret

bau des wirtschaftlichen Leistungssystems sowie des i h m zur Seite stehenden oder aber übergeordneten politischen Führungssystems, also die Ordnung und Leistungsfähigkeit der wirtschaftlichen wie der politischen Verfassung, eröffnen zugleich einen Einblick i n die außenpolitischen Voraussetzungen 4 ." Manfred Hättich stellt fest, daß als „eines der Hauptthemen gegenwärtiger wissenschaftlicher Innenpolitik" . . . „die öffentlich bestehende Interdependenz" zwischen wirtschaftspolitischen Problemen und der Gesellschafts- und K u l t u r p o l i t i k herauszuarbeiten sei, um von dort aus eine Entsprechung zur politischen Gesamtordnung innerhalb eines Gemeinwesens festzustellen. Auch Ferdinand A. Hermens und Rudolf Wildenmann weisen auf die Interdependenz zwischen Polit i k und Wirtschaft hin. K a r l Löwenstein meint sogar, daß die beiden Bereiche heute untrennbar miteinander verbunden sind, nachdem ökonomische bzw. politische Entscheidungen nicht mehr ohne wechselseitige Beachtung beider Bereiche gefällt werden könnten 5 . Alle diese Aussagen bestätigen die Notwendigkeit einer besonderen Beschäftigung m i t den ökonomischen Faktoren i n der Politik. Die vermutete Existenz einer Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik hat ihren Niederschlag auch bei vielen Vertretern der Wirtschaftspolitik gefunden. Vor allem Theoretiker der Wirtschaftspolitik erkannten, daß sie den ökonomisch als richtig und sinnvoll gefundenen Mitteleinsatz auch unter dem Gesichtspunkt der politischen Realisierbarkeit betrachten müßten. Denn ökonomisch wirksame konsistente Handlungsweisen ließen sich des öfteren nicht verwirklichen, weil sich die politischen Entscheidungsträger aus außerökonomischen Erwägungen gegen sie wehrten. M i t der Einbeziehung solcher Realisierungshemmungen beginnt die Suche nach „zweitbesten Lösungen" 6 . Für solche Probleme konnte die Wirtschaftswissenschaft höchstens auf erste, oft noch nicht genügend fundierte und der besonderen Fragestellung nicht adäquate Forschungsergebnisse der Po4

Ders.: Internationale P o l i t i k als Zweig der Politischen Wissenschaft, i n : PVS, 1/2/1960, S. 109. 5 Manfred Hättich: Das Ordnungsproblem als Zentralthema der I n n e n politik, i n : Dieter Oberndörfer (Hrsg.) : Wissenschaftliche Politik. Eine E i n führung i n Grundfragen ihrer Tradition u n d Theorie, Freiburg i. Br. (1962), S. 214 u. 225; Ferdinand A. Hermens u n d Rudolf Wildenmann: Politische Wissenschaft, i n : HdSw., Bd. 8, 1964, S. 3931; K a r l Löwenstein: Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 40. 6 Vgl. u. a. Herbert Giersch: Allgemeine Wirtschaftspolitik, 1. Bd., Wiesbaden 1960, S. 195 ff. u n d passim sowie ders.: Rationale Wirtschaftspolitik i n der pluralistischen Gesellschaft u n d H e l m u t Arndt: Planung als Problem der Marktwirtschaft ( = Referate auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik v o m 27.—29. 9. 1966 i n Hannover, Manuskripte); ferner: Probleme der Willensbildung u n d der wirtschaftspolitischen Führung, u n d : Probleme der n o r m a t i ven Ökonomik u n d der wirtschaftspolitischen Beratung ( = Schriften des V e r eins f ü r Socialpolitik N. F., Bde. 19 u n d 29), B e r l i n 1959 u n d 1963. Neuerdings auch Fritz Weller: Wirtschaftspolitik u n d föderativer Staatsaufbau i n der Bundesrepublik Deutschland ( = Forschungsbeiträge der Adolf-Weber-Stiftung, Bd. 2), B e r l i n (1967).

Politische Wirtschaf tslehre — Portrait einer Disziplin

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litologie zurückgreifen. Aber für viele Probleme gab und gibt es noch keine Antworten, weil gerade der Grenzbereich zwischen der W i r t schaftswissenschaft und der Politologie von beiden Seiten aus, besonders aber von der sich erst i m Aufbau befindenden Politikwissenschaft, vernachlässigt wurde: „a no-mans's land has grown up between economics and political science 7 ." Es besteht die Gefahr, daß sich beide Sozialwissenschaften für die Erhellung dieses Zwischenraumes als „nicht zuständig" fühlen: Wenn die Politikwissenschaft hier einen notwendigen Beitrag leisten w i l l , dann muß sie versuchen, mit ihren spezifischen Fragestellungen ökonomische Phänomene und deren Bedeutung für die Gestaltung des Gemeinwesens zu analysieren. II. Die Politische Wissenschaft kann bei der Lösung solcher Aufgaben auf eine nicht unbedeutende Vergangenheit zurückblicken. Die ursprüngliche, auf Aristoteles zurückgehende Einheit von Politik, Ethik und Ökonomik — die auch an den mittelalterlichen Universitäten mit unterschiedlichem Schwerpunkt als „praktische Philosophie" gelehrt wurde — kam, operational orientiert, i m Kameralismus nochmals zum Wirken. Unter den Bedingungen des merkantilistisch-absolutistischen Staates wurde nun dem „ökonomischen" eine erhöhte Bedeutung zugemessen. Die „Polizey- und CameralWissenschaft" war auch Politische Wissenschaft, da sie die Wirtschaft weitgehend unter politischen Aspekten begriff: 8 sie war insoweit „Politische Wirtschaftslehre". I n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zur endgültigen Zersplitterung der alten „ P o l i t i k " ; die Entwicklung zur juristischen „Staatswissenschaft" auf der einen und zur — von den Physiokraten, der „klassischen Schule" und von Marx geformten — „Wirtschaftswissenschaft" auf der anderen Seite ging unaufhaltsam voran. A n dieser letzteren Entwicklung waren auch die Wirkungen zweier Ideologien abzulesen: der bürgerlich-liberalen von der unbedingten Trennung von Wirtschaft und Politik und der marxistischen Ideologie von der Abhängigkeit „des Politischen" von der ökonomischen Basis. I n Deutschland bahnte sich erst i n den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts „die Wiederentdeckung des Politischen als eines die rechtlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen verknüpfenden Zusammenhangs" an 9 . Versuche, Politik und Ökonomie von einer ihr besonderes Verhält7

Robert A. Dahl: Business and Politics — A Critical Appraisal of Political Science, i n : The American Political Review, Vol. L I I I , No. 1/1959, S. 9. 8 Vgl. Hans Maier: Die Lehre der P o l i t i k an den deutschen Universitäten, vornehmlich v o m 16. bis 18. Jahrhundert, i n : Dieter Oberndörfer (Hrsg.): Wissenschaftliche P o l i t i k . . . , S. 59 ff. 9 Ders.: Die Lehre der P o l i t i k . . . , S. 116.

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Carl Bohret

nis begreifenden Fragestellung aus zu betrachten, blieben jedoch weitgehend aus. Es ging vor allem darum, die „politische Ökonomie" wiederzubeleben und fortzuführen — also insbesondere die politischen Faktoren innerhalb der Wirtschaft zu beobachten — kurz: die Lehre von den die Ökonomie bewegenden Kräften (Edgar Salin) 10 unter den modernen Bedingungen wiedererstehen zu lassen. Allerdings gab es doch vereinzelte, wenig bekanntgewordene Ansätze, i n denen das Intergrationsbedürfnis i n Teilbereichen der beiden Wissenschaften und die zunehmende Bedeutung der politischen Faktoren beachtet wurde. Recht eindrucksvoll versuchte beispielsweise Paul J. Köhler i n der Mitte der zwanziger Jahre „den inneren geistigen Zusammenhang von Politik und Wirtschaft" darzulegen. Ökonomie und Politik wurden als zwei Erscheinungsformen derselben Sache oder derselben gesellschaftlichen Idee betrachtet. „Jeder ideologisch-soziologische Charakter der Macht umfaßt die Wirtschaft als Erscheinung materieller Bedingtheit ohne weiteres, während andrerseits auch i n primär-ökonomischen Tendenzen ein Geist von latenter Macht bemerkbar w i r d . . . Auch jedes W i r t schaftssystem läßt sich i n diese soziologisch-politischen Grundlagen auflösen..." Jede sozialökonomische Theorie muß sich demnach mit dem Problem „Politik und Wirtschaft", den „Funktionsbegriffen einer sozialen Einheit", auseinandersetzen. Eine Trennung von Politik und Ökonomie ist mindestens solange nicht möglich, wie politische und soziale Theorien i n enger Verbindung zu ökonomischen Einstellungen stehen 11 . Auch Alfred Weber wies darauf hin, daß der moderne Staat nicht mehr zu „entökonomisieren" sei und daß deshalb die Staatsorgane immer mehr von Wirtschafts- und Klasseninteressen beeinflußt und die Parlamente von wirtschaftlichen Interessenkombinationen durchwirkt seien, was die wirtschaftspolitische Entscheidung mitbestimme 1 2 . Diese recht politologischen Ansätze blieben aber quasi Anmerkungen und wurden leider nicht weiter verfolgt. Auch der von Heinz Brauweiler später unternommene Versuch, die „Wirtschaftslehre als Politische Wissenschaft", als „ethisch-politische Wirtschaftswissenschaft" zu sehen, blieb i n der Durchführung doch wieder „politische Ökonomie" 1 8 . 10 Vgl. Edgar Salin: Politische Ökonomie — heute. Wirtschaftswissenschaft als Theorie u n d als Lehre von den bewegenden Kräften, i n : Frankfurter Hefte, 13. Jg., Heft 1/1958, S. 27 ff. 11 Paul Julius Köhler: Staat u n d Gesellschaft i n der deutschen Theorie der auswärtigen Wirtschaftspolitik u n d des internationalen Handels von Schlettw e i n bis auf Fr. List u n d Prince-Smith. M i t einer einleitenden Untersuchung über den inneren geistigen Zusammenhang von P o l i t i k u n d Wirtschaft ( = Beihefte zur Vierteljahrschrift f ü r Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte, V I I . Heft), Stuttgart 1926, S. 7 f. 12 Vgl. A l f r e d Weber: Die Krise des modernen Staatsgedankens i n Europa, Stuttgart u. a. 1925, S. 132. 13 Vgl. Heinz Brauweiler: Wirtschaftslehre als Politische Wissenschaft, München u n d B e r l i n 1938, S. 78 ff.

Politische Wirtschaftslehre — Portrait einer Disziplin

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Diese politische Ökonomie w u r d e u n d w i r d h e u t e f r u c h t b a r f o r t g e f ü h r t u n d b r i n g t i m m e r w i e d e r E r k e n n t n i s s e , d i e m i t d e n M i t t e l n der „ r e i n e n T h e o r i e " n i c h t z u g e w i n n e n sind, w i e es i n d e n A r b e i t e n v o n Joseph Schumpeter, E d u a r d Heimann, G u n n a r Myrdal, E d g a r Salin, Hans Bayer, E l i s a b e t h Liefmann-Keil, K a r l C. Thalheim, H a n s - J ü r g e n Seraphim, H a n s K . Schneider u n d H e r b e r t Giersch u — u m n u r einige zu n e n n e n — d e u t l i c h w i r d . V o r a l l e m b e i H e i m a n n , Giersch, Schneider, S e r a p h i m u n d T h a l h e i m z e i g t sich m i t d e r H i n w e n d u n g z u r „ S o z i a l ö k o n o m i k " , z u r A n a l y s e d e r Z i e l p r o b l e m a t i k , d e r L e i t b i l d e r u n d Systeme sowie der Untersuchung der v o n den Trägern der Wirtschaftspolitik ausgehenden P r o b l e m e e i n v e r b i n d e n d e r S c h r i t t z u r P o l i t o l o g i e 1 5 . I n diesen G r e n z b e r e i c h stoßen ebenfalls d i e h a u s h a l t s - u n d f i n a n z p o l i t i sche F r a g e n beachtenden A r b e i t e n v o n E l i s a b e t h Lief mann-Keil, Günter Schmölders, H e i n z Haller, F r i t z Neumark u n d R o l f Glaeser v o r 1 6 . A u c h i m A u s l a n d beschäftigt m a n sich s e l b s t v e r s t ä n d l i c h m i t d e n B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ö k o n o m i e u n d P o l i t i k . J e a n Dabin m e i n t , daß d i e P o l i t i k n i c h t aus d e m G e b i e t d e r W i r t s c h a f t ausgeschlossen w e r d e n d a r f ; d e n n d e r das G e m e i n w o h l r e p r ä s e n t i e r e n d e S t a a t m u ß auch i m ö k o n o mischen Bereich w i r k e n können: „Das Politische r u f t die Ökonomie her14 Vgl. Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie, Bern 1946; Eduard Heimann: Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, T ü b i n gen 1963; Gunnar Myrdal: Das politische Element i n der nationalökonomischen Doktrinbildung, Hannover 1963; Edgar Salin: Politische Ökonomie — heute, i n : Kyklos, Vol. V I I I , Fase. 4/1955; Hans Bayer: Wirtschaftsgestaltung, B e r l i n 1958, Elisabeth Liefmann-Keil: Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, B e r l i n u. a. 1961 u n d dieselbe: Einführung i n die politische Ökonomie (Freiburg u. a. 1964); K a r l C. Thalheim: Beiträge zur Wirtschaftspolitik u n d W i r t schaftsordnung. Gesammelte Aufsätze u n d Vorträge, B e r l i n (1965); HansJürgen Seraphim: Theorie der allgemeinen Wirtschaftspolitik, Göttingen 1955; Hans K . Schneider: Zielbestimmung f ü r die Wirtschaftspolitik i n der p l u r a listischen Gesellschaft, i n : Theoretische u n d institutionelle Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Theodor Wessels zum 65. Geburtstag, B e r l i n (1967), S. 37 ff.; Herbert Giersch: Allgemeine Wirtschaftspolitik . . . , a.a.O. 15 Vgl. Herbert Giersch: Allgemeine Wirtschaftspolitik . . . , S. 97 ff. u n d passim; H. J. Seraphim: Theorie . . . , S. 54 u n d passim; K a r l C. Thalheim: Grundzüge des sowjetischen Wirtschaftssystems, K ö l n 1962 u n d ders.: Beiträge zur Wirtschaftspolitik . . . , insbes. S. 193 ff.; Hans K . Schneider: Zielbestimmung . . . passim. 18 Vgl. Elisabeth Liefmann-Keil: Z u r Entwicklung der Theorie der B e w i l ligung öffentlicher Einnahmen u n d Ausgaben, i n : Finanzarchiv, N. F., Bd. 19, Heft 2/1959; Günter Schmölders: Finanzpolitik, B e r l i n u. a. 1955; ders.: Das Irrationale i n der öffentlichen Finanzwirtschaft, Hamburg 1960; Heinz Haller: Bemerkungen zur Haushaltsökonomik, i n : Zeitschr. f. d. gesamte Staatswiss., Heft 4/1955; ders.: Finanzpolitik, Grundlagen u n d Hauptprobleme, Tübingen u n d Zürich 1957; Fritz Neumark: Wirtschafts- u n d Finanzprobleme des I n t e r ventionsstaates, Tübingen 1961; ders.: Planung i n der öffentlichen Finanzwirtschaft ( = Referat auf der Tagung des Vereins f ü r Socialpolitik v o m 27.—29. 9. 1966 i n Hannover, Manuskript); Rolf Glaeser: Finanzpolitische Willensbildung i n der Bundesrepublik Deutschland. Versuch einer Analyse der G r u n d s t r u k t u r u n d Problematik ( = Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 82), B e r l i n (1964).

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Carl Bohret

bei und unterwirft sie seiner Regulierung, ohne sie aufzusaugen." Die staatliche Einmischung dient der Ergänzung der Wirtschaft und der Selbstverteidigung des Staates gegenüber einem bedrohlichen Druck der Interessenten 17 . Georges Burdeau betont, daß die ökonomischen Faktoren eine immer wichtigere Stellung unter den die politischen Entscheidungen beeinflussenden Kräften einnehmen. Die politische Ökonomie rechtfertige so ihren Namen: „Sie ist eine Kenntnis der wirtschaftlichen Tatsachen, die die politische Kunst verwendet, um sie zu verändern 1 8 ." Diese politische Ökonomie w i r d gut gepflegt: Paul A. Bar an interpretiert aus neomarxistischer Sicht die politisch und ökonomisch bedingten Entwicklungsprobleme und das Spannungsverhältnis zwischen den industrialisierten und den noch nicht entwickelten Ländern, Maurice Dobb beschäftigt sich hauptsächlich m i t den Wandlungen des Kapitalismus, John Strachey stellt das Machtproblem und Fragen der Interdependenz von Wirtschaft und Politik i n den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Adolph Lowe's Streben nach einer wissenschaftlich begründeten politischen Ökonomie und Carl Landauers Analysen und Vergleiche w i r t schaftlicher Systeme, sowie die Auseinandersetzung m i t aktuellen Problemen und Tendenzen der politischen Ökonomie, wie sie Gerhard Colm und Hans Staudinger führen, sind hier besonders zu erwähnen. Oskar Lange beschäftigt sich vor allem m i t der Rationalität und den Entwicklungslinien i n der modernen Ökonomie. Als Ergebnis eines Abgrenzungsversuchs zwischen Ökonomie und Politik ordnet Joseph Cropsey über den als relativ selbständig angesehenen Bereichen Ökonomie und Politik die politische Philosophie an 1 9 . A l l diese und viele andere A r beiten sind sehr wertvoll und notwendig, und sie bringen wichtige A n haltspunkte für unser spezielles Anliegen: politische und ökonomische Fragen i m Grenzbereich der beiden Sozial Wissenschaften zu verbinden; 17 Vgl. Jean Dabin: Der Staat oder Untersuchungen über das Politische ( = Politica, Bd. 6), (Neuwied u n d B e r l i n 1964), S. 91 ff. 18 Georges Burdeau: Einführung i n die Politische Wissenschaft ( = Politica, Bd. 12), (Neuwied u n d B e r l i n 1964), S. 308 u. 303—313. 19 Vgl. Paul A. Bar an: Politische Ökonomie des wirtschaftlichen Wachstums ( = Soziologische Texte, Bd. 42), (Neuwied u n d B e r l i n 1966); Maurice Dobb: Political Economy and Capitalism, London 1964 u n d ders.: Organisierter K a pitalismus. Fünf Beiträge zur Politischen Ökonomie (Frankfurt a. M. 1966); John Strachey: Kapitalismus — heute u n d morgen, Düsseldorf (1957); A d o l p h Lowe: On Economic Knowledge. T o w a r d a Science of Political Economics ( = W o r l d Perspectives, Vol. 35), New Y o r k and Evanston (1965); Carl Landauer: Contemporary Economic Systems. A Comparative Analysis, P h i l a delphia and New Y o r k (1964); Gerhard Colm: On Goals Research; Hans Staudinger: Die neue geplante Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten; beide i n : Neue Perspektiven aus Wirtschaft u n d Recht, Festschrift f ü r Hans Schäffer, B e r l i n 1966, S. 67ff. u n d S. 91 ff.; Oskar Lange: Political Economy, Vol. I, Oxford and London 1963 u n d ders.: Entwicklungstendenzen der modernen Wirtschaft u n d Gesellschaft, Wien u. a. 1964; Joseph Cropsey: On the Relation of Political Science and Economics, i n : The American Political Science Review, Vol. L I V , March 1960.

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aber sie legen doch zumeist das Gewicht auf die ökonomischen Phänomene. Entweder behandeln sie die politischen Probleme nicht eigentümlich, sondern nur als Störungen und Rahmenbedingungen der W i r t schaft, oder sie weisen nebenbei darauf hin, daß die Politik auch ökonomische Fragen beachten muß, ohne diese besondere Relation näher zu analysieren. Erfreulich weit fortgeschritten ist die politologische Behandlung w i r t schaftlicher Phänomene aber doch i n den Vereinigten Staaten, sei es durch das unmittelbare Zusammenwirken von Ökonomen und Politologen 20 , sei es durch „grenzüberschreitende" Forschungen 21 . Robert A. Dahl und Charles E. Lindblom versuchten beispielsweise, Wirtschaft und Politik als gleichartige „soziale Mechanismen", die i n einem einheitlichen ökonomisch-politischen Prozeß erfaßbar sind, zu charakterisieren 2 2 . Bei aller wohl unumgänglichen Vereinfachung ist auch der Versuch Anthony Down's, eine ökonomische Theorie der Demokratie zu entwickeln, besonders bemerkenswert und von unmittelbarer Relevanz für eine Politische Wirtschaftslehre 23 . M i t dem Wiedererstehen der deutschen Politischen Wissenschaft u m 1950 ergab sich auch die Notwendigkeit einer Berücksichtigung ökonomischer Fragen, zunächst insbesondere i n der Lehre. Die übliche Lösung war, ökonomische Fragen unmittelbar von der Fachwissenschaft — zumeist von der theoretischen Volkswirtschaftspolitik, also losgelöst von der „eigentlichen" Politologie — behandeln zu lassen. Eine politologische Betrachtung „des ökonomischen" fiel aus. Lediglich i n Berlin nahm man sich frühzeitig auch dieser politikwissenschaftlichen Aufgabe an. Die vorläufige Formulierung des Programms einer Politischen W i r t schaftslehre und die erste und zur Zeit i n dieser A r t noch einzige Institutionalisierung erfolgte dort durch Gert von Eynern 24. I m Vollstudium 20 Vgl. Robert A. Dahl u n d Charles E. Lindblom: Politics, Economics and Welfare, New Y o r k (1953) u n d die Verbindung von politologischen u n d w i r t schaftswissenschaftlichen Untersuchungen i n vielen Zeitschriften, so z. B. i n : The American Political Science Review, The American Economic Review, Political Science Quarterly, Journal of Political Economy, Public A d m i n i s t r a t i o n Review. 21 Vgl. u. a. Seymour M. Lipset: Soziologie der Demokratie ( = Soziologische Texte, Bd. 12), (Neuwied u n d B e r l i n 1963); K . E. Boulding: Conflict and Defense. A General Theory, New Y o r k (1962); Herbert A . Simon: Theories of Decision-Making i n Economics and Behavioral Science, i n : The American Economic Review, Vol. X L I X , No. 3/1959, S. 253 ff. 22 Vgl. R. A. Dahl u n d Ch. E. Lindblom: Politics . . . passim. 23 Vgl. A n t h o n y Downs: A n Economic Theory of Democracy, New Y o r k (1957). Dazu auch Peter Bernholz: Economic Policies i n a Democracy, i n : Kyklos, Vol. X I X , No. 1/1966, S. 48 ff. 24 Vgl. Gert von Eynern: Politische Wirtschafts- u n d Soziallehre, i n : Das O t t o - S u h r - I n s t i t u t an der Freien Universität Berlin. Geschichte, Forschung u n d Lehre, Politische Bildungsarbeit (Berlin 1962), S. 64 ff. 1950 wurde an der Deutschen Hochschule f ü r P o l i t i k i n B e r l i n zunächst ein

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der Politologie nimmt die Politische Wirtschaftslehre hier einen wichtigen Platz ein 2 5 . III. Wenn sich Erkenntnisse und Fragestellungen der Politischen Ökonomie, der theoretischen Volkswirtschaftspolitik und der Politischen Wissenschaft i n besonderer Weise verbinden — und nicht nur vermengen! — entsteht als spezielle Politologie die Politische Wirtschaftslehre. Grundfragen dieser Disziplin lauten: Welche Bedeutung haben ökonomische Kräfte, Vorgänge, Motive und Ideen für die politische Willensbildung, welche Begrenzungen für ökonomische Entscheidungen und Aktionen ergeben sich aus „der Politik", und welche ökonomischen und sozialen Wirkungen folgen aus politischen Entscheidungen und A k t i o nen? Gibt es überhaupt noch „wirtschaftsfreie" politische oder „politikfreie" wirtschaftliche Entscheidungen? Das führt zu der wichtigen Problemstellung, welche Wandlungen des politischen Systems sich i m Zeitablauf aus ökonomischen Sachzwängen oder besonders motivierten Einflüssen ergeben: ob sich die politischen Entscheidungsträger auf lange Sicht gegen die ökonomisch-technische Dynamik stemmen können, ohne entweder revolutionären A k t e n oder der Beseitigung durch externe Mächte zu unterliegen 26 . Eine Politologie, die ökonomische und technische Ursachen beginnender oder möglicher politischer Wandlungen aus ihren Untersuchungen ausklammert und die nicht versucht, diese Dynamik m i t der Anpassungsfähigkeit, Wandlungsmöglichkeit und mit den unabdingbaren Elementen des politischen Systems („essential principles") zu versöhnen, kann auf die Dauer ihrer Aufgabe kaum gerecht werden. Deshalb richtet sich die Aufmerksamkeit der Politischen Wirtschaftslehre auf die historisch-gesellschaftlich bedingte oder sachnotwendige Beziehung zwischen dem ökonomischen und dem politischen System. „Because the economy w i l l function very differently, depending on whether the command power of the state is organized democratically or autocratically, Lehrstuhl f ü r Wirtschafts- u n d Sozialpolitik errichtet, der ab 1955 Lehrstuhl f ü r Politische Wirtschafts- u n d Soziallehre hieß. Seit 1959 existiert er als ein der Wirtschafts- u n d Sozialwissenschaftlichen Fakultät zugeordneter L e h r stuhl „ f ü r die Wissenschaft von der P o l i t i k m i t besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftslehre" am O t t o - S u h r - I n s t i t u t an der Freien Universität B e r l i n (Inhaber: Prof. Dr. Gert von Eynern). 25 Politische Wirtschaftslehre ist L e h r - u n d Prüfungsfach. 26 Vgl. hierzu auch die Arbeiten von K a r l W. Deutsch: Ansätze zu einer Bestandsaufnahme von Tendenzen i n der vergleichenden u n d internationalen Politik, i n : Political Science. Amerikanische Beiträge zur Politikwissenschaft. Ausgew. u n d eingel. von E. Krippendorff, Tübingen 1966, S. 214 ff.; ders.: Soziale Mobilisierung u n d politische Entwicklung, i n : PVS, II/2/1961, S. 104 ff.

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economic systems cannot be studied w i t h o u t reference to political systems. Conversely, since economic power can be used for political purposes, any study of a political system which does not consider the economic system is at best superficial 2 7 ."

Es muß also versucht werden, die konstitutiven Elemente i n beiden Systemen aufzudecken und auf ihre wechselseitige Bedingtheit zu untersuchen, was u. a. Aufschluß über die „Vereinbarkeit" und „Mischbarkeit" ökonomischer und politischer Systeme bietet. Das überwiegend ökonomische Problem des „Mischsystems" aus plan- und marktwirtschaftlichen Bestandteilen w i r d so zum politologischen Problem der „ M i schungsmöglichkeiten" von bestimmten ökonomischen und politischen Systemen („wirtschaftspolitische Systeme") 28 , was beispielsweise eine praktische Bedeutung bei der Entdeckung optimaler „Entwicklungssysteme" haben kann. Die Relationen der Systeme bilden indessen auch — nicht erst seit K a r l Marx — den Gegenstand von Ideologien, ökonomische Systemvorstellungen nehmen Einfluß auf die Gestaltung und Veränderung politischer Institutionen und Regime. Das Auftauchen neuer, die Verhärtung und die Entkräftung alter ökonomischer Ideen können von Bedeutung für das politische Handeln und die Formulierung von konkreten Zielen sein. Ob die politischen Entscheidungen mehr nach liberalen, konservativen, interventionistisch-pragmatischen, ständisch-korporativen oder sozialistischen Leitbildern getroffen werden, ist nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung und Prognose der Politik. Die Untersuchung solcher Fragen ist die Aufgabe einer speziellen Politologie: eben der Politischen Wirtschaftslehre. Die Fragestellung ist politologisch: I n welcher Beziehung steht „das ökonomische" zur „politischen Hauptaufgabe" — der dynamischen (Fortschrittbezogenen) Gestaltung des Gemeinwesens? Welches sind die ökonomischen Grundlagen und Ziele des Regierens? und: Wie sind die ökonomischen Kräfte, Strukturen, Motive und Ideen zu organisieren und m i t den politischen Kräften und Strukturen zu integrieren, damit aus der Interdependenz der Systeme die „rechte Ordnung" (v. d. Gablentz) entsteht? Die befragten Objekte kommen zum großen Teil — wenn auch nicht ausschließlich — aus dem Kulturbereich „Wirtschaft". Damit ist wiederum die Brücke zur Nachbardisziplin Wirtschaftswissenschaft geschlagen, m i t der eine besonders fruchtbare Zusammen27 Carl Landauer: Contemporary Economic Systems . . . , S. 11 f. Ferner John M. Kuhlmann and Gordon S. Skinner: The Economic System, Homewood, III. 1964, S. 384 ff. u n d passim. 28 E i n wirtschaftspolitisches System ist ein durch konstitutive Modalitäten u n d Prozesse des politischen Systems dynamisiertes Wirtschaftssystem. Vgl. Alparslan Yenal: „Freie Marktwirtschaft" i n der pluralistischen Demokratie. E i n Beitrag zur Interdependenz wirtschaftlicher u n d politischer Systeme (unveröff. Manuskript, B e r l i n 1967).

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arbeit möglich und notwendig ist. Solche interdisziplinären Verbindungen werden i n der Zukunft die Sozialwissenschaft i n wachsendem Maße prägen müssen. Wenn auch die von Duncan Black für viele Probleme konstatierte „Einheit von politischer Wissenschaft und Wirtschaftswissenschaft" nicht verallgemeinert werden kann 2 9 , so ist doch eine Kooperation besonders i n den Grenzgebieten unumgänglich 30 . Hierzu nur zwei Beispiele: Die Politologie befaßt sich u. a. m i t der Analyse von Entscheidungsprozessen bei internationalen Beziehungen und bei innenpolitischen Problemlösungen. Als Forschungshilfe und als theoretisches Instrument für vorsichtige Generalisierungen wäre eine den Versuchen i n der Ökonomie adäquate Konstruktion von Entscheidungsmodellen nicht bedeutungslos. Die Wirtschaftswissenschaften haben hierzu schon wesentliche Beiträge geleistet 31 . Die Politologie hätte zu prüfen, ob und wieweit sie die Anregungen der Ökonomen übernehmen und für ihre eigenen Bedürfnisse umformen kann. Umgekehrt könnten die Politologen der Wirtschaftswissenschaft wichtige, den Realitätsbezug erhöhende Entscheidungskriterien liefern und damit auch zur Formulierung einer umfassenden Theorie der Auswahl beitragen 32 . Die Politische W i r t schaftslehre sollte bei dieser Kooperation die Vermittlerrolle übernehmen. Ansätze für eine Zusammenarbeit ergeben sich auch bei der weiteren Entwicklung der Planspieltechnik und der Simulation. Politologische Planspiele bauen z. B. auf der ökonomischen Basis auf, die den politischen Entscheidungsspielraum begrenzt. Die i m Spielverlauf getroffenen politischen Entscheidungen beeinflussen wiederum die w i r t schaftlichen Kräfte und Strukturen. Eine wachsende Zusammenarbeit könnte auch auf diesem Gebiet neue Erkenntnisse liefern 3 3 . 20

Vgl. Duncan Black: Die Einheit von politischer Wissenschaft u n d W i r t schaftswissenschaft, i n : M a r t i n Shubik (Hrsg.): Spieltheorie u n d Sozialwissenschaften (Hamburg 1965), S. 128. 30 Das w i r d von der Wirtschaftswissenschaft ebenfalls als notwendig angesehen. Vgl. vor allem das V o r w o r t von R. Gunzert, H. Jürgensen u n d A. Kruse zur A r b e i t von Fritz Weller: Wirtschaftspolitik . . . , S. 3. 31 Vgl. z. B. Gerard Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidungen, Tübingen 1963; K . O. Faxen: Monetary and Fiscal Policy under Uncertainty, Stockholm 1957; W i l h e l m Krelle: Preistheorie, Tübingen 1961; A r m i n Dorn: Theorie der Verhandlungsführung, Diss. jur., Bonn (1964). 32 Solche Entscheidungskriterien w u r d e n i m Ansatz u. a. durch die E n t wicklung des Problems von Kommittee-Entscheidungen ermittelt. Vgl. dazu Duncan Black: The Theory of Committees and Elections, Cambridge 1958; K . J. Arrow: Social Choice and I n d i v i d u a l Values, New Y o r k 1951. Die Sprache der beiden Sozialwissenschaften ist auf diesem Gebiet sehr ähnlich; vgl. z. B. Joseph Frankel: Die außenpolitische Entscheidung (Köln 1965), u n d Richard C. Snyder et al.: Foreign Policy Decision-Making, New Y o r k 1962. Jetzt auch Jürgen Schwarz: Einige methodische Aspekte außenpolitischer Planung, i n : Zeitschrift f ü r Politik, 14. Jg., Heft 1/1967, S. 44. 33 Vgl. Horst-Dieter Rönsch: Inter-Nation-Simulation, i n : Der Politologe, 8. Jg., Nr. 23, J u l i 1967, S. 49 ff.; Harold Guetzkow et al.: Simulation i n I n t e r national Relations — Developments for Research and Teaching, Englewood Cliffs (1963); Gerhard Maurer: Hilfe an Beta? Berliner Politologen spielen

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IV. Die zentrale Aufgabe einer Politischen Wirtschaftslehre wurde oben definiert als die Analyse der Beziehung des „ökonomischen" zur politischen Hauptaufgabe: der dynamischen Gestaltung des Gemeinwesens. I m Mittelpunkt steht deshalb die Untersuchung der wechselseitigen Verbindungen von Regierungssystem und ökonomischem System („Interdependenz"). Aus dieser Problemstellung ergeben sich einige Schwerpunkte für die weitere Forschung: (a) Die Analyse von mittelbaren und unmittelbaren ökonomischen „Einflüssen" auf die politische Willensbildung, also die Untersuchung der ökonomischen Grundlagen politischer Entscheidungen, und (b) die kritische Beobachtung solcher politischer Entscheidungen und Handlungen, die ökonomische Konsequenzen haben; einschließlich der Analyse der Träger dieser Entscheidungen und Aktionen nach Konstruktion, Wirkungsweise und Kooperation. Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen ermöglichen es dann, (c) „synoptische" Aussagen über die dynamischen Zusammenhänge und Beziehungen zwischen ökonomischen und politischen Systemen zu treffen und so zu einer allgemeinen Theorie der ökonomischen Bedingungen des Regierungssystems vorzustoßen . U m dieses umfassende Forschungsprogramm 34 sinnvoll beginnen und verwirklichen zu können, müssen zunächst die grundsätzlichen Konstruktionsweisen politischer und ökonomischer Systeme einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Leitbilder erkannt und beschrieben sowie die Interdependenzproblematik allgemein formuliert werden. Die Politische Wirtschaftslehre stützt sich dabei auf die Untersuchungen über die Konstruktion und Wirkungsweise der Wirtschaftssysteme i n ihrer „reinen" und i n ihrer „gemischten" Form und präzisiert und modelliert für ihre weiteren Untersuchungen und für die Theoriebildung die vermuteten oder behaupteten Verbindungen zu den jeweiligen politischen Systemen. Die mehr oder weniger deutlich ideologisierte „Ordo"-Diskussion 35 w i r d klar zugunsten einer genauen Analyse realer Systematomare Kriegsgefahr i m Sandkasten, i n : Die Zeit, 22. Jg., Nr. 18 v o m 5. 5. 1967; Jürgen Schwarz: Einige methodische Aspekte . . . , S. 45 ff. 34 Die folgende Darstellung von Untersuchungsschwerpunkten der P o l i t i schen Wirtschaftslehre ist weitgehend exemplifikatorisch. Sie stellt ein Arbeitsprogramm dar f ü r weitere Einzelforschungen, die zur Erkenntnis der zentralen Frage nach den wechselseitigen Verbindungen u n d Beziehungen von politischem u n d ökonomischem System beitragen sollen. 35 Vgl. Günter Hoherz: Die Unvereinbarkeitsthese von staatlicher W i r t schaftsplanung u n d politischer Freiheit als Ideologieproblem des Westens, gemessen an demokratischen Konzeptionen der Planwirtschaft (unveröff. M a nuskript, B e r l i n 1967).

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Verbindungen und ihrer Elemente aufgegeben. Die überwiegend empirischen Analysen der „Einflüsse", der „Entscheidungen und Handlungen" sowie der „Träger" der Politik stellen wichtige Vorarbeiten und/ oder Verifikationen für die überwiegend theoretische Analyse der Interdependenzen dar. So bildet die Untersuchung der mittelbaren und unmittelbaren Einfliisse der Wirtschaft auf die Politik den ersten Schwerpunkt, m i t dem sich die Politische Wirtschaftslehre beschäftigt, u m zu Aussagen über die ökonomischen Grundlagen und Kräfte des Regierungssystems zu gelangen. Damit bewegt sie sich auf einem der wichtigsten Felder der Politologie überhaupt: dem des Machterwerbs, der Machtausübung und der Machtteilhabe. Macht ist eine wichtige Kategorie der Politischen Wissenschaft 36 , auch für denjenigen, der die Versuche einer Messung und modellartigen Darstellung des Machtphänomens ablehnen mag 3 7 . Bei der politischen Willensbildung sind die „machtvollen" Einflüsse aus dem ökonomischen Bereich — auch ohne daß sie sich artikuliert und organisiert äußern — von gravierender Bedeutung. Eine Betrachtung der W i l lensbildung ohne Berücksichtigung der mehr oder weniger deutlich sichtbaren ökonomischen Motive, Kräfte und M i t t e l dringt kaum zu der Erkenntnis des wirklichen Geschehens vor. Die politischen Phänomene bedürfen unablässig der kritischen Beobachtung insoweit sie mit der Aktualisierung ökonomischer Interessen verknüpft sind. Die Politische Wirtschaftslehre interessiert sich deshalb vor allem für die wirtschaftliche Macht, die latent politische Macht ist 3 8 . Wirtschaftsmacht w i r d oft politisch ausgenutzt, ja „mißbraucht", um mittels der von wirtschaftlicher Potenz unterstützten direkten oder indirekten Einflußnahmen auf die politischen Entscheidungsträger ein ökonomisches oder politisches Partialziel (z. B. Steuervergünstigungen, Aufhebung des Röhrenembargos etc.) oder Totalziel (z. B. Erhaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung) zu erreichen. Dieser „Umsetzungsprozeß" muß immer neu analysiert werden, z.B. mittels Beobachtung der Reaktionen des Beeinflußten 39. 36 Vgl. die starke Betonung des Machtphänomens bei H. D. Lasswell and A . Kaplan: Power and Society. A Framework for Political I n q u i r y , London 1952, z. B. S. 75 ff. Macht ohne Bezug auf erstrebenswerte „Ordnung" w i r d abgelehnt von K u r t Sontheimer: Z u m Begriff der Macht als Grundkategorie der politischen Wissenschaft, i n : Dieter Oberndörfer (Hrsg.): Wissenschaftliche P o l i t i k . . . , S. 197 ff. 37 Vgl. J. Harsanyi: Messung der sozialen Macht, i n : M a r t i n Shubik (Hrsg.): Spieltheorie . . . , S. 190 ff. u n d James G. March: The Power of the Power, i n : D a v i d Easton (Ed.): Varieties of Political Theory, Engelwood Cliffs, N. J. (1966), S. 39 ff. 38 Vgl. Gert von Eynern: Wirtschaftliche Macht, i n : Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1955, S. 315 ff. 39 Vgl. auch den methodischen Ansatz bei Herbert A. Simon: Models of Man. Social and Rational. Mathematical Essays on Rational H u m a n Behavior i n a Social Setting, New Y o r k and London (1957), S. 62 ff. u n d passim.

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Ein unmittelbarer Einfluß auf die Politik geht vom Privateigentum aus, das trotz seines teilweisen Funktionswandels keineswegs belanglos geworden ist. Sein Einfluß ist nur undurchsichtiger geworden, noch immer ermöglicht es jedoch große Einwirkungschancen auf die politische Willensbildung. I n den verschiedensten Organisationen hat derjenige — oft unbeabsichtigt — ein stärkeres Gewicht, der Besitz, Verfügungsmacht, Beitrags- und Spendenkraft sowie heute i n zunehmendem Maße auch „Bildung" vorweisen kann. Der Besitzende und Verfügungsgewaltige hat die Chance, an der Machtausübung bzw. an der Formulierung des politischen Willens oder an Maßnahmen zur Erhaltung einer bestimmten „Ordnung" stärker beteiligt zu sein, als es i h m durch sein den anderen gegenüber gleichwertiges Recht der Stimmabgabe zusteht. Das gleiche gilt für unterschiedlich mächtige Verbände und andere wirtschaftliche Einheiten. Heute konzentriert sich w i r t schaftliche Macht i m Großunternehmen 40 oder i m lokal bedeutsamen Produktions- und „Kommunikations"-Unternehmen, auch wenn dieses nur von mittlerer Größe ist. A u f diesem Gebiet müssen noch intensive Untersuchungen durchgeführt werden 4 1 . Es gibt umgekehrt allerdings auch Abhängigkeiten mancher Spezialindustrien vom Staat, was am Beispiel der amerikanischen Rüstungs-, Luftfahrt- und Weltraumindustrie sichtbar geworden ist. Forschungspolitische und damit verbundene ökonomische Probleme — wie sie bei der Diskussion um den Atomsperrvertrag aufgetaucht sind — werden von der Politischen W i r t schaftslehre ebenfalls berücksichtigt. Denn die enge Verbindung von Politik, Wirtschaft, Forschung und höherer Ausbildung ist von wachsender Bedeutung und bringt neue Machtstrukturen hervor. Die wirtschaftlichen Einflußverbände 42 bilden die zweite Gruppe der „Transmission" wirtschaftlicher Potenz. Sie sind Träger latenter politischer Macht als Anbieter von Stimmpaketen und von Sachverstand, als Finanziers der Parteien, ja schon durch die simple Tatsache ihrer Existenz als für das ökonomische Geschehen wichtigen Einheiten und als Elemente der pluralitären Ordnung. Ihre Aktivitäten bringen i n den ökonomischen, aber auch i n den politischen Bereich Elemente der 40 Vgl. H e l m u t Arndt (Hrsg.): Die Konzentration i n der Wirtschaft ( = Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. Bd. 20, 3 Teile), B e r l i n (1960); Helge Pross: Manager u n d Aktionäre i n Deutschland. Untersuchungen zum Verhältnis von Eigentum u n d Verfügungsmacht, F r a n k f u r t a. M. (1965); Siegfried C. Cassier: Wer bestimmt die Geschäftspolitik der Großunternehmen? F r a n k f u r t a. M. 1962. 41 Vgl. hierzu den programmatischen Ansatz von Robert A. Dahl: Bussiness and Politics . . . , passim. 42 Vgl. zu Begriff u n d Wirkungsweise auch Carl Bohret: A k t i o n e n gegen die „kalte Sozialisierung" 1926—1930. E i n Beitrag zum W i r k e n ökonomischer Einfluß verbände i n der Weimarer Republik ( = Schriften zur Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, Bd. 3), B e r l i n (1966).

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Drohung, des Konflikts, des Aushandelns und des Kompromisses 43 . Auch die Politische Wirtschaftslehre hat zu untersuchen, inwieweit politische A k t i v i t ä t solch kollektiver Gebilde m i t den Grundzügen des politischen Systems vereinbar ist und ob ein übergroßer Druck aus dem ökonomischen Bereich auf die politischen Entscheidungsträger nicht einzudämmen wäre, beispielsweise mittels einer besseren Konzentrationspolitik, durch die Förderung von Gegenkräften, die Institutionalisierung der Einflußwege, größere Publizität und die Herausbildung neuer Kontrollverfahren oder gegengewichtiger Institutionen 4 4 . Die wohlabgewogene Kontrolle wirtschaftlicher Macht erweist sich als vorrangige Aufgabe, da die politischen Entscheidungsträger daran interessiert sind, ihren Entscheidungsspielraum zu erhalten; es sei denn, daß sich bestimmte w i r t schaftliche und politische Machtgruppen zur gemeinsamen Machtausübung arrangiert haben. Das Problem der ökonomischen und latent politischen Macht w i r d auch auf internationaler Ebene sichtbar. Ein Staat, der ein Spezialprodukt als einziger anzubieten hat, ist i n der Lage, vorübergehend oder dauernd andere Länder auszubeuten (deutsches Kalikartell vor 1918, Atomsperrvertrag u. a. m.). ökonomische Theorien — oft als Ausdruck von Machtkonstellationen — beeinflussen die Außenpolitik ebenso wie die verfügbare ökonomische Kapazität erst die Grundlage wirksamer Außenpolitik schafft 45 . Von hier aus erweitert sich die Untersuchung auf die spezielle Analyse der Entwicklungsländer: welche politischen Konsequenzen erfolgen auf Grund der besonderen ökonomisch-strukturellen Probleme, wenn z. B. das erstrebte wirtschaftliche Wachstum nur mit 43 Vgl. die umfangreiche L i t e r a t u r über das „Bargaining", z. B. L . E. Fouraker and S. Siegel: Bargaining Behavior, New Y o r k 1963. Ferner Bernhard Külp: Theorie der Drohung ( = Sozialtheorie u n d Sozialpolitik 3), K ö l n 1965; Walter A. Jöhr: Der Kompromiß als Problem der Gesellschafts-, Wirtschaftsu n d Staatsethik ( = Recht u n d Staat, Heft 208/209), Tübingen 1958 sowie viele A r t i k e l i n : The Journal of Conflict Resolution (Ann Arbor, Mich.), Vol. I — X I (1957—1967). 44 Vgl. John K . Galbraith: Der amerikanische Kapitalismus i m Gleichgewicht der Wirtschaftskräfte, Stuttgart u. a. 1956; W i l h e l m Hennis: Verfassungsordnung u n d Verbandseinfluß, i n : PVS, II/1/1961, S. 23 ff. Gert von Eynern: Das öffentlich gebundene Unternehmen, i n : A r c h i v f ü r öffentliche u n d freigemeinwirtschaftliche Unternehmen, Bd. 4, Heft 1/1958 u n d ders.: Über den Einfluß des Bundes auf seine Unternehmen, i n : Hamburger J a h r buch f ü r Wirtschafts- u n d Gesellschaftspolitik, 4. Jahr, Tübingen 1959, S. 113 ff.; Hans-Hermann Hartwich: Arbeitsmarkt, Verbände u n d der Staat 1918—1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen i n der Weimarer Republik ( = Veröff. der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 23), B e r l i n 1967; Clemens A . Andreae u n d Werner Glahe: Das Gegengewichtsprinzip i n der Wirtschaftsordnung, Bd. 1 (FIW-Schriftenreihe, Heft 33), K ö l n u. a. 1966. 45 Vgl. M . J. Bonn: Der Einfluß ökonomischer Theorien auf die auswärtige Politik, i n : Festgabe f ü r Georg Jahn, B e r l i n 1955, S. 1 ff.; Eckhart Kehr: Der P r i m a t der I n n e n p o l i t i k ( = Veröff. der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 19), B e r l i n 1965.

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Hilfe machtvoller Regime durchgesetzt werden kann? Wie läßt sich das politische Problem der ökonomisch bedingten Abhängigkeit vom Ausland sinnvoll lösen? Analysen der Zusammenhänge von wirtschaftlicher Entwicklung und Bevölkerungswachstum zeigen, daß das von Gerhard Mackenroth entwickelte Vierphasen-Schema der industriellen Bevölkerungsweise nur begrenzt auf Entwicklungsländer zutrifft. Daraus lassen sich politische Folgerungen für die Entwicklungshilfe, aber auch für die innere Politik jener Länder ableiten 46 . Die Politische Wirtschaftslehre untersucht ferner die wirtschaftsimmanenten Einflüsse auf die Politik: wie sich ökonomische Krisensituationen, der technische Fortschritt und die wirtschaftliche Dynamik auf das politische Verhalten und das politische System auswirken; ob Industrialisierung notwendig zur Demokratisierung führt, ob die demokratischen Regime heute — eher als totalitäre? — stetiges wirtschaftliches Wachstum vorweisen müssen. Wirtschaftsimmanente Kräfte können mittelbar politische Veränderungen bewirken: Das „Stabilitätsgesetz" stärkt die Stellung des Finanzministers — wie überhaupt der Exekutive — und dadurch verändert sich auch die Wirkungsweise des Regierungssystems. Die Politische Wirtschaftslehre fixiert insbesondere auch die „Umschlagpunkte" der ökonomischen Dynamik (Krisen) und versucht an ihnen die mangelnde oder befriedigende „Elastizität" der politischen Systeme und den kontinuierlichen Druck einer dynamischen Wirtschaft i n Richtung auf eine effizientere und rationalere Organisation des politischen Systems zu ergründen 47 . So versucht sie also, die politische Willensbildung von ihren ökonomischen und sozialen Bedingungen her — von den organisierten, nichtorganisierten und wirtschaftsimmanenten Einflüssen aus — zu erfassen, den Umschlag ökonomischer i n politische Macht zu zeigen, Kontrollverfahren zu entwickeln und die aus den „Eigengesetzlichkeiten" der W i r t schaft auf ihren verschiedenen Stufen erwachsenden politischen Probleme und Aufgaben zu erkennen. M i t diesem Vorgehen leistet sie wichtige Vorarbeiten für die Betrachtung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Regierungssystem. Bei der kritischen Beobachtung der politischen Entscheidungen und Handlungen sowie deren Träger, einem weiteren Schwerpunkt der Politischen Wirtschaftslehre, werden die autonomen und von vielfältigen „Einflüssen" induzierten Entscheidungen und Aktionen der politischen 46 Vgl. Carl Bohret: Bevölkerungswachstum u n d wirtschaftliche E n t w i c k lung, i n : Der Politologe, Jg. 5, Nr. 15/1964, S. 7 ff. u n d die dort genannte L i teratur. Fener Frederick C. Turner: The Implications of Demographic Change for Nationalism, i n : The Journal of Politics, Vol. 27, 1965, S. 87—108. 47 Vgl. Paul Diesing: Reason i n Society. Five Types of Decisions and Their Social Conditions, Urbana 1962, S. 187 u n d passim.

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Führungsinstanzen insoweit untersucht, wie sie den wirtschaftlichen und sozialen Bereich einschließlich der haushalts- und finanzpolitischen Probleme betreffen. Die Analyse konzentriert sich auf die Feststellung und Beurteilung der politischen Grenzen für eine Realisierung der wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen. Die Höhe der Steuern und Staatsausgaben ist beispielsweise — trotz einer gewissen Verfestigung i n den „Haushaltsblöcken" — nach wie vor stark von politischen Motiven bestimmt, die nicht zuletzt i m Machterhaltungsdenken (Stimmenmaximierung) begründet sind 4 8 . Die Durchsetzbarkeit einer stringenten zentralen Konjunkturpolitik (die als „richtig" erkannt oder angenommen wird) kann an der vom Staatsaufbau bedingten Vielzahl zusammen- oder gegeneinander wirkender Entscheidungsträger scheitern (Föderalistische Struktur, autonome Zentralbank etc.) 49 . Es ist hier eine Aufgabe der Politischen Wirtschaftslehre, zu analysieren, wie die Konjunkturpolitik optimiert werden kann, ohne daß der Staatsaufbau wesenhafte Änderungen erfährt, indem z. B. nach Möglichkeiten einer Vorteile bietenden freiwilligen Kooperation der Beteiligten gesucht w i r d 5 0 . Deshalb ist die Erkenntnis der Grenzen, die sich für die W i r t schaftspolitik aus der spezifischen Gestalt des Regierungssystems ergeben, von besonderer Bedeutung. Solche „checks" können sowohl aus den verfassungsmäßig festgelegten Grundprinzipien (modifizierte Eigentumsverfassung, Finanzverfassung, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit u. a.) wie aus dem Parteien-, Verbände- und Wahlsystem erwachsen. So sind z.B. heterogen zusammengesetzte Koalitionsregierungen i n der Lage, eine schnell und umfassend wirkende Wirtschaftspolitik zu verhindern, während Koalitionen, die i n wirtschaftspolitischen Fragen homogen sind oder Einparteisysteme leicht bis an die Grenzen des verfassungsrechtlichen Spielraums vorzudringen vermögen. Der wirtschaftspolitische Entscheidungsträger muß die gegenseitige Hemmung oder Unterstützung mehr oder weniger autonomer wirtschaftspolitischer Institutionen und die Rolle der entscheidungsumsetzenden Verwaltung beachten, wenn er seine Dezisionen realisieren w i l l : die Tarifparteien oder andere ökonomische Gruppierungen (Oligopole, Kartelle, Wirtschaftsverbände und Wirtschaftszweige) können wirtschaftspolitische Aktionen verhin48 Vgl. Fred O. Harding: Politisches Modell zur Wirtschaftstheorie. Theorie der Bestimmungsfaktoren finanzwirtschaftlicher Staatstätiigkeit, Freiburg (1959); K u r t Schmidt: Entwicklungstendenzen der öffentlichen Ausgaben i m demokratischen Gruppenstaat, i n : Finanzarchiv, N. F., Bd. 25, Heft 2/1966; James W. Martin: A n Economic Criterion for State and City Budget Making, i n : Public Administration Review, Vol. X X I V , No. 1/1964. 49 Vgl. Gert von Eynern: Die Unabhängigkeit der Notenbank, B e r l i n 1957; ders.: Der Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern u n d Gemeinden, i n : B u n d u n d Länder, hrsg. von O. K . Flechtheim, B e r l i n 1959, S. 124 ff. 50 Vgl. dazu F r i t z Weller: Wirtschaftspolitik u n d föderativer Staatsaufbau . . . passim.

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dern oder abschwächen, die Verwaltung vermag Aktionen zu verzögern oder zu blockieren. Der Entscheidungs- und Handlungsspielraum kann ferner von supranationalen Organisationen eingeengt werden. Dieses M i t - und Gegeneinander der Träger wirtschaftspolitischer Entscheidungen bringt erhebliche Erschwerungen für die kurzfristig reaktionsfähige und für die längerfristig planende Politik m i t sich. Deshalb ist zu erwägen, ob die Entscheidungsstruktur i n wirtschaftspolitischen Fragen verbessert werden kann, ohne daß gleichzeitig die i n demokratischen Staaten unabdingbare Kontrolle der Entscheidungsträger unzulässig vermindert wird. Die Politische Wirtschaftslehre sollte sich also nicht scheuen, Wege zum Abbau solcher institutioneller und traditionsbedingter Begrenzungen zu zeigen, wenn vorrangige ökonomische Probleme (von politischer Relevanz!) dauerhaft nur m i t Hilfe einer Revision der gegebenen politischen Struktur zu erreichen sind. Vielleicht liegt i n dieser Aufdeckung struktureller Korrekturmöglichkeiten eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Gewiß hat sie die ökonomischen Notwendigkeiten m i t den von der Verfassung gesetzten unüberschreitbaren Grenzen abzuwägen, aber innerhalb dieses Rahmens gibt es genügend Spielraum für Verbesserungen; denn auch die politische Ordnung ist recht flexibel. Sicherlich sind hierbei Zielkonflikte nicht zu vermeiden. Die Politische Wirtschaftslehre geht dann davon aus, daß i m Zweifelsfalle der Lösung politischer Probleme und der Erhaltung des persönlichen und politischen Freiheitsspielraums der Vorrang vor dem Streben nach bloß ökonomischer Effizienz gebührt: „This means, that any suggested course of action must be evaluated first by its effects on the political structure. A course of action which corrects economic or social deficiencies but increases political difficulties must be rejected, w h i l e an action which contributes to political improvement is desirable even i f i t is not entirely sound from an economic or social standpoint. I t sometimes happens that political and nonpolitical problems can be solved together, but i f this is not possible, the political problem must receive p r i m a r y attention 5 1 ."

Der Hinweis, daß manche politische Ziele nur durch oder uno actu m i t der Lösung ökonomischer Probleme erreichbar sind, erläutert und unterstützt nur diese Aussage. Ein weiterer Schwerpunkt liegt deshalb auch i n der Untersuchung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen politischer Entscheidungen und Handlungen; weil gerade deren nicht vorausgesehene und „ungewollte" Wirkungen i m ökonomischen Bereich die zukünftige Politik und möglicherweise das politische System selbst empfindlich beeinträchtigen, bzw. verändern können. Stabilitätsgesetz, Finanzreform, Aufrüstung und Notstandsgesetzgebung sind Beispiele für solche „Folge-Entscheidungen". 51

Paul Diesing:

Reason i n S o c i e t y . . . S. 228.

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Wenn also die institutionellen Begrenzungen für ökonomische Aktionen gemildert und die Beeinträchtigung der Politik durch die aus dem ökonomischen Bereich zurückwirkenden Entscheidungsfolgen verringert werden sollen, dann muß auch i n diesem Bereich nach neuen, adäquaten Kontrollverfahren gesucht werden. Es wäre zu diskutieren, ob sich für viele wirtschaftspolitisch aktuelle Fragen nicht ein Entscheidungsmodus für die Kooperation von Regierung und zuständigem Parlamentsausschuß bzw. autonomen Institutionen finden ließe. Eine solche Lösung scheint besser zu sein als die Erweiterung des exekutiven Kompetenzspielraumes auf Zeit. So könnte die zyklusadäquate Vergabe öffentlicher Aufträge zur Konjunkturbelebung dem parlamentarischen System durchaus angemessener sein, wenn die erwähnte Zusammenarbeit von Ausschuß und Wirtschafts- und Finanzminister (bzw. ökonomischem Superministerium) zustande käme, als wenn durch zeitlich und inhaltlich begrenzte parlamentarische Ermächtigung, durch die verzögernde Beratung des Gesamtparlaments oder gar durch ein weiteres Anwachsen der Ermächtigungen des Finanzministers sich institutionelle Gewichtsverlagerungen und sachliche Wirkungsminderung ergeben w ü r den. Notwendige Kontrolle und ökonomische Effizienz ließen sich so gleichzeitig erreichen. Die neu entstehende „Verantwortungsebene" Ausschuß/Gesamtparlament könnte sogar eine Belebung der aktuellen politischen Arbeit des Legislative m i t sich bringen. I m Bereich der „zielorientierten Handlungen" ergibt sich weiter die Beschäftigung m i t Konflikten, die aus der unterschiedlichen Bewertung von Zielen erwachsen. Aus dem Bereich der Wirtschafts- und Soziallehre sind hier die sozialen Konflikte von Bedeutung — vor allem die Lohnkonflikte 5 2 . Während der Tarifauseinandersetzungen werden für das soziale und politische Leben wichtige Entscheidungen mit ökonomischen Aus- und Rückwirkungen getroffen. Die Lösung des Konflikts durch „zielorientierte Handlungen" der politischen Entscheidungsträger — z. B. mittels begrenzter Eingriffe zur schnelleren Kompromißerzielung — steht i m Mittelpunkt der Untersuchungen. Die Machteinschätzung und die politische Haltung einer Regierung w i r d i n der Wahl ihrer Strategien sichtbar: Droht sie m i t der Einschränkung der Tarifautonomie, drängt sie auf den Abschluß freiwilliger Schlichtungsvereinbarungen, begibt sie sich als „dritter Partner" selbst auf die Ebene der Verhandelnden oder fordert bzw. verwendet sie eigene Zwangsmittel 62

Vgl. u. a. Ralf Dahrendorf: Z u einer Theorie des sozialen Konflikts, i n : Hamburger Jahrbuch f ü r Wirtschafts- u n d Gesellschaftspolitik, 3. Jahr, T ü bingen 1958, S. 76 ff., J. R. Hicks: Theory of Wages, 2. Aufl., London 1963; Delbert C. Miller: The applications of social system analysis to a labormanagement conflict: a consultant's case study, i n : The Journal of Conflict Resolution, Vol. I l l , No. 2/ 1959, S. 146 ff.

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für die zeitweilige Beendigung von Arbeitskämpfen „ i m nationalen Interesse" zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Effizienz? Die Politische Wirtschaftslehre macht es sich auch zur Aufgabe, die Kriterien rationaler Politik i n ihrem Bereich festzustellen bzw. zu diskutieren. Sie untersucht, wie die politischen Ziele formuliert, gegeneinander abgewogen, nach Prioritäten geordnet und wie die adäquaten M i t t e l zur Verfolgung dieser Ziele bestimmt werden 5 3 . Ob die Politische Wirtschaftslehre darüber hinaus auch bei der Auswahl von Zielen m i t wirken soll, ob sie von anderen als den vorgegebenen Zielen und Werten ausgehen darf, ja ob sie sogar „kreativ" neue Ziele und Ideen entwickeln muß, w i r d je nach wissenschaftstheoretischer Einstellung umstritten bleiben. M. E. sollte sie sich auch m i t den Zielen und Werten selbst beschäftigen, wobei allerdings deren hypothetische, apodiktische oder bekenntnismäßige Einführung sichtbar zu machen ist. Das Entscheidungsproblem im engeren Sinne stellt sich für die Forschungen der Politischen Wirtschaftslehre so: Wie kann i n einer bestimmten w i r t schaftspolitisch relevanten Situation unter Beachtung der wahrscheinlichen Konsequenzen eine rationale Entscheidung getroffen werden, wenn als K r i t e r i u m gilt, daß nicht die ökonomisch wirkungsvollste und geeignetste, sondern eine politisch durchsetzbare und sich politisch „auszahlende" Alternative ausgewählt werden soll; wenn also unter Einschätzung der ökonomischen Wirkungen die Optimierung des politischen Erfolges zu erreichen ist? A u f diesem Gebiet werden sich Ergebnisse wohl nur durch die Entwicklung adäquater Entscheidungs- und Eingriffsmodelle, die ökonomische Aktionsmöglichkeiten m i t politischen Begrenzungen verbinden, erzielen lassen. Die Operationalität solcher Modelle kann durch die Untersuchung sozialökonomischer und politischer „Gesetzmäßigkeiten" erhöht werden. Daraus ergibt sich schließlich auch die Frage, ob die Politische Wirtschaftslehre ein „sozialtechnologisches System" 5 4 entwickeln kann oder soll, das über Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen informiert (ohne präskriptive Aussagen zu enthalten) und das — als Grundlage rationaler Politik — die konkreten Einwirkungsmöglichkeiten auf das weitgehend interdependente wirtschaftliche und politische Geschehen zeigen oder die Schranken rationalen Handelns überhaupt sichtbar machen könnte. Die Politische Wirtschaftslehre versucht bei diesen Untersuchungen also weniger einen Nachweis der theoretischen Richtigkeit der w i r t 53 Vgl. hierzu auch Gert von Eynern: Ratio oder Improvisation i n der W i r t schaftspolitik? Manuskript eines Vortrages i m Südfunk (Stuttgart) am 1. 5. 1965, S. 10 f. 64 Vgl. Hans Albert: Probleme der Theoriebildung, i n : Ders. (Hrsg.): Theorie u n d Realität, Tübingen 1964, S. 67 f.; Gerhard Weisser: P o l i t i k als System aus normativen Urteilen. Sinn, Möglichkeit, Haupterfordernisse ( = M o nographien zur Politik, Heft 1), Göttingen 1951 sowie Emile Callot: Gesellschaftslenkung u n d Politik, Tübingen 1950.

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schafts- und sozialpolitischen Instrumente zu liefern als vielmehr die Entstehungsgründe einer Entscheidung, ihre politische Verträglichkeit und Durchsetzbarkeit sowie ihre sozial-ökonomischen Folgen und ihre politischen Wirkungen zu erfassen. Damit leistet sie einen weiteren Beitrag für die Analyse der Interdependenzen zwischen Wirtschaftsund Regierungssystem. Die Betrachtung der politischen Willensbildung von den ökonomischen und sozialen Bedingungen, den Eigensetzlichkeiten der Wirtschaft und den verschiedensten machtabhängigen Einflüssen aus einerseits, und die Analyse der Entscheidungsprobleme und Aktionsgrenzen andererseits, schaffen die Grundlagen und erste Erkenntnisse für die „synoptische" Untersuchung des Aufbaus und der wechselseitigen Zusammenhänge der ökonomischen und politischen Systeme. A u f diesen notwendigen Vorarbeiten aufbauend, können allgemeine Aussagen über die Interdependenz der Systeme m i t dem Ziel der Theoriebildung erstrebt werden und schließlich auch Vorschläge für Systemverbesserungen und für die Einführung konsistenter Entwicklungssysteme gemacht werden. Es w i r d analysiert, ob es innere Systemzusammenhänge gibt, die eine Interdependenz der „Ordnungen" insgesamt oder aber nur einzelner ihrer Bestandteile (Elemente) begründen. Hierzu können sowohl konstitutive Elemente des einen Systems i n ihrer Verbindung zum anderen betrachtet werden (komparativ-statische Analyse) als auch die Veränderungen des einen Systems i n ihrer Wirkung auf das andere behandelt werden (dynamische Analyse). M i t Hilfe des komparativ-statischen Verfahrens kann zum Beispiel herausgefunden werden, inwieweit der Leistungswettbewerb i m ökonomischen Bereich das gleiche Phänomen wie der Wettbewerb u m Stimmen i n der Demokratie darstellt und ob hieraus Schlüsse für die Interdependenz der Systeme gezogen werden dürfen. Weiter ließe sich prüfen, ob eine Verbindung zwischen der Entscheidungsfreiheit des Staatsbürgers i n ökonomischen Fragen und seiner Entscheidungsfreiheit i m politischen Bereich besteht. Ist seine ökonomische Entscheidungsfreiheit wirksam beschränkbar — indem er z. B. einem mehr oder weniger detaillierten Wirtschaftsplan unterworfen ist — ohne daß gleichzeitig auch seine politische Entscheidungsfreiheit eingeengt w i r d und umgekehrt? Ferner könnte analysiert werden, ob nicht zur Ergänzung der politischen Demokratie die wirtschaftliche Demokratisierung — z. B. i n der Form betrieblicher und / oder überbetrieblicher Mitbestimmung — möglich oder gar „systemnotwendig" ist 5 5 Finanz- und Haushaltsordnung — als Elemente beider Systeme — begründen eine besonders enge wechselseitige Verbindung zwischen W i r t 65 Vgl. u. a. W i l l y Strzelewicz: Mitbestimmung u n d Demokratisierung, i n : Das Mitbestimmungsgespräch, Heft 8/9 — 1966, S. 143 ff.; Gert von Eynern: Die Chancen der Mitbestimmung i n West u n d Ost, i n : Neue Perspektiven . . . , S. 135 ff. sowie die Arbeiten von Oswald v. Nell-Breuning, S. J.

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schafts- und Regierungssystem. Die dynamische Analyse könnte u. a. die wechselseitige Abhängigkeit der „Effizienz" der Systeme festzustellen versuchen: Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft kann sich als abhängig von der besonderen Gestaltung des politischen Systems erweisen; bestimmte Handlungsmöglichkeiten des politischen Systems mögen zu einer Leistungssteigerung des ökonomischen Systems beitragen: eine von großen Mehrheiten getragene oder eine diktatorische Regierung kann die einseitige Förderung von wachstumssteigernden Industrien für eine gewisse Zeit auf Kosten der Konsumenten durchsetzen, wenn sie gleichzeitig i n der Lage ist, unzufriedene Gruppen vorübergehend zahlenmäßig klein zu halten oder zu unterdrücken. Auch sollte beachtet werden, wie von wirtschaftsimmanenten Kräften induzierte Funktionsänderungen politischer Institutionen i n den ökonomischen Bereich zurückwirken: wenn es Interdependenzen gibt, kommt es i m Verlauf dieses Prozesses zu mehr oder weniger deutlichen Wandlungen beider Systeme. Bei diesen Untersuchungen müßte allerdings berücksichtigt werden, daß sich theoretisch widersprüchliche Systeme i n der politischen Realität vorübergehend „vertragen" können. Die Politische Wirtschaftslehre untersucht, ob das auf Dauer geschehen kann oder ob z. B. die ökonomischen Kräfte nicht stark genug werden, u m die politischen oder ideologischen Widerstände abzubauen; sie muß aber auch beachten, ob politische Erwägungen oder die etablierten politischen Machtträger nicht zur anpassenden Umgestaltung des Wirtschaftssystems drängen und so das politische System nur noch mehr gefestigt werden kann (wie das i m nationalsozialistischen Regime der Fall war). Eine solche Untersuchung könnte beispielsweise auch von den politischen Möglichkeiten volkswirtschaftlicher Planungsarten ausgehen, wobei sie zu generellen Erkenntnissen über den politisch verträglichen Einbau von Planungselementen i n freiheitlich-demokratische und pluralitäre Systeme gelangt. Sie kann zeigen, wie es i n dem einen Lande trotz zunehmender politischer Planungen aus ideologischen Gründen oder wegen des Sträubens gesellschaftlicher Machtträger nicht zur Verwirklichung einer verfassungsmäßig zulässigen ökonomischen Rahmenplanung kommt, und wie lange dieser Widerstand gegen tatsächliche oder scheinbare ökonomische Sachgesetzlichkeiten stabilisiert werden kann. Und sie w i r d ferner zu analysieren versuchen, wieso sich ein Planungssystem auch unabhängig von der sich wandelnden Gestalt des Regierungssystems erhalten kann oder ob es gerade zur Veränderung dieses politischen Systems entscheidend beigetragen hat. Es ist i m einzelnen aber immer auch zu prüfen, ob es sich bei diesen und den bei den „Vorarbeiten" behandelten Problemen um Interdependenzen, Dependenzen oder Affinitäten zwischen den Systemen und

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ihren Elementen handelt und was daraus jeweils für die theoretische und praktische Beziehung zwischen wirtschaftlichem und politischem System folgt. Die Beurteilung der Realität anhand solcher Kriterien kann Prognosen über die Wandlungen der Systeme erlauben: Soweit Interdependenzen nachgewiesen werden können, darf aus der Veränderung des einen Systems vorsichtig auf eine kommende Wandlung des anderen geschlossen werden. Auch die beginnende Konvergenz von Gesamtsystemen läßt sich auf diese Weise entdecken 56 . Auch diese Bemühungen um die Erfassung der Interdependenzen sollen es ermöglichen, zu einer allgemeinen Theorie der ökonomischen Bedingungen des Regierungssystems zu gelangen. V. Die Nützlichkeit einer Erforschung der ökonomischen Grenzen und Folgen der Politik, der politischen Limitationen einer rationalen W i r t schaftsgestaltung und der Interdependenzen zwischen den Systemen ist kaum zu bestreiten. Zu leicht werden solche Aufgaben i m Grenzbereich zwischen zwei Wissenschaften vernachlässigt. Die Politische Wirtschaftslehre nimmt sich — als spezielle Politologie — dieser spezifischen Probleme an. M i t der Herausarbeitung der geschilderten Schwerpunkte glaubt sie, einen Ansatz für die synoptische Betrachtung ökonomischer und politischer Phänomene unter einer besonderen Fragestellung und damit für die Theoriebildung gefunden zu haben. Die Besonderheit ihres Vorgehens besteht nicht zuletzt darin, die von den anderen Bereichen der Politologie nur aus deren spezieller Sicht ad hoc gestreiften w i r t schaftlichen Probleme i n ihrer inneren Verbindung als Ganzes zu erfassen und auf das politische System so zu beziehen, daß die Interdependenzen oder Dependenzen erfaßt werden. M i t ihren Untersuchungen kann die Politische Wirtschaftslehre auch der Wirtschaftswissenschaft behilflich sein bei der zunehmenden Berücksichtigung „meta-ökonomischer Elemente", die zu gerne als ceteris paribus gesetzte Lückenbüßer für den notwendigerweise eingeengten Realitätswert von Modellaussagen dienen. Sie kann diese Funktion er56 Z u r Konvergenzproblematik vgl. Gert v. Eynern: Tendenzen wirtschaftlicher u n d politischer Annäherung von Ost u n d West, i n : Wissenschaft u n d Planung ( = Universitätstage der Freien Universität B e r l i n 1965), B e r l i n 1965, S. 200 ff.; Jan Tinbergen: K o m m t es zu einer Annäherung zwischen den kommunistischen u n d den freiheitlichen Wirtschaftsordnungen?, i n : H a m b u r ger Jahrbuch f ü r Wirtschafts- u n d Gesellschaftspolitik, 8. Jahr, Tübingen 1963, S. 11 ff. sowie die Beiträge von K a r l C. Thalheim, K . Paul Hensel u n d Rudolf Meimberg i n : Der Osten auf dem Wege zur Marktwirtschaft? ( = W i r t schaft u n d Gesellschaft i n Mitteldeutschland, Bd. 6), B e r l i n u n d München (1966).

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füllen, da ihr ja die Problemstellung der Wirtschaftswissenschaft nicht fremd ist und da sie gleichzeitig an der Analyse der politischen Phänomene m i t w i r k t , soweit diese für ihre spezielle Blickrichtung relevant erscheinen. Vom Formalaufbau der Politischen Wissenschaft aus betrachtet, betreffen die zu analysierenden Phänomene alle drei Bereiche: die Theorie der Politik, die Innenpolitik und die internationale Politik. Das wissenschaftliche Interesse geht also quer durch diese drei Gebiete, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf den innenpolitischen Phänomen liegt 5 7 . Obwohl die Politische Wirtschaftslehre noch viele empirische Studien treiben muß, um die „weißen Flecke" der wissenschaftlichen Landkarte zu beseitigen, darf sie die Theoriebildung zumindest dort nicht vernachlässigen, wo bereits ausreichende Unterlagen vorliegen. Das t r i f f t für die Verbändeforschung und teilweise auch für die Analyse der Systeme zu. Sie darf sich aber auch nicht scheuen, m i t vorläufigen Aussagen — die noch nicht ausreichend empirisch gesichert sind — erst einmal die theoretischen Grundlagen für die nachfolgende Einzelforschung zu erstellen; sie muß gewissermaßen erst das „Gitter" erarbeiten, das auf die vielfältige Realität zu legen ist, u m so zu vergleichbaren Ergebnissen als Basis der Theoriebildung gelangen zu können. Gerade w e i l sie i n dem von ihr vertretenen Bereich viele neue Aufgaben entdeckt, muß sie ein theoretisches Gerüst für ihre weiteren Forschungen konstruieren und dieses immer neu formulieren und erweitern. Wenngleich also noch viel Arbeit auf den dargestellten Gebieten zu leisten ist, gibt es doch einige Schwerpunkte, m i t denen sich die Politische Wirtschaftslehre i n der nahen Zukunft besonders befassen muß. Das ist einmal eine Weiterführung der „Systemanalyse", die vor allem die möglichen Verbindungen und wechselseitigen Abhängigkeiten von ökonomischen und politischen Systemen erforschen soll. Ziel ist dabei keinesfalls die weitere Erörterung des bloßen „Unvereinbarkeitsproblems", sondern das Auffinden von Spielräumen für die politisch verträgliche Einführung wirtschaftspolitischer Verbesserungen und die Feststellung der „Bruchgrenze", jenseits derer ein „Umschlagen" der 57 Beispiele: Eine „synoptische" Analyse zum Thema „Einfluß von M a m mutunternehmen auf politische Entscheidungen" müßte v o n der E n t scheidungsstruktur des Regierungssystems u n d den Bedingungen des W i r t schaftssystem ausgehend, die Einflußmöglichkeiten u n d die tatsächlichen E i n w i r k u n g e n der nationalen Unternehmen u n d der internationalen K o n zerne auf das nationale Regime u n d auf supranationale Organisationen u n tersuchen u n d die Rückwirkungen auf die allgemeine P o l i t i k wie auf die Wirtschaftspolitik feststellen. E i n Beitrag zur Verbesserung der E n t w i c k lungsmöglichkeiten „unterentwickelter" Länder sollte — aufbauend auf der Analyse der ökonomischen, sozialen u n d generativen Probleme u n d ausgehend v o n der Untersuchung der Interdependenzen zwischen politischem u n d ökonomischem System — zu Ratschlägen f ü r das jeweils adäquate (dynamische) Entwicklungsregime vorstoßen.

3 Festgabe für Gert von Eynern

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Systeme i n ein unerwünschtes Gegenteil erfolgen kann. Zum andern muß sich die Politische Wirtschaftslehre intensiver m i t der Herausbildung neuer Kontrollverfahren beschäftigen; sowohl um die zumeist unerwünschte Umwandlung ökonomischer i n politische Macht zu verhindern oder doch zu bremsen, als auch um i m Interesse einer schneller und intensiver wirkenden Wirtschaftspolitik der Exekutive zeitweilig größere Entscheidungsspielräume zugestehen zu können ohne gleichzeitig auf wirksame politische Kontrolle verzichten zu müssen. Schließlich sollte sie sich noch mehr mit dem Problem der wirtschaftspolitischen Entscheidungsbildung beschäftigen: vor allem um neue — ihrem Gegenstand adäquate — Verfahren für den Entscheidungsvorgang zu entwickeln (Entscheidungs- und Eingriffsmodelle, Planungstechniken, Simulation etc.). Denn die Politische Wirtschaftslehre muß ebenfalls einen Beitrag zur „Regierungstechnik" liefern 5 8 . A l l diese Arbeiten fördern das wichtigste Ziel: die Herausbildung einer Theorie der ökonomischen Bedingungen des Regierungssystems. Auch für die Politische Wirtschaftslehre stellt sich die Frage, ob und wieweit sie aus ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen heraus zu „Empfehlungen und Warnungen" für die politisch Handelnden gelangen kann, darf oder soll 5 9 , indem sie beispielsweise bestimmte politische Konstellationen analysiert, die Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele und die Konsequenzen von Mitteln und Zielen darlegt. Sie würde dann als „praktisch orientierte Sozialwissenschaft" auch die Wirkungen bestimmter Handlungen auf das politische und ökonomische System zu bedenken zu geben und auf die Einflüsse hinzuweisen haben, die einer Realisierung politischer Entscheidungen entgegenstehen können. Ob einer solchen Beratung eher das dezisionistische, das pragmatistische oder das systematisch-konzeptionsgebundene „Modell" zugrundeliegen soll, w i r d von den jeweiligen Einstellungen der Berater und Beratenen abhängig sein. 58 Vgl. Thomas Ellwein: Regierungslehre als praktische Wissenschaft, i n : Wissenschaft u n d Praxis, Festschrift zum zwanzigjährigen Bestehen des Westdeutschen Verlages 1967, K ö l n u n d Opladen (1967), S. 21 ff.; W i l h e l m Hennis: Aufgaben einer modernen Regierungslehre, i n : PVS, VI/4/1965, S. 422 ff. u n d E. Guilleaume: Reorganisation von Regierung u n d Verwaltungsführung ( = P o l i t i k u n d Verwaltung, Heft 3), Baden-Baden (1966). 59 Vgl. Gerhard Weisser: Das Problem der systematischen Verknüpfung von Normen u n d von Aussagen der positiven Ökonomik i n grundsätzlicher Betrachtung, erläutert anhand eines Programms einer sozial-wissenschaftlichen Grunddisziplin aus Empfehlungen u n d Warnungen, i n : Probleme der normativen Ö k o n o m i k . . . , S. 16 ff.; Klaus Lompe: Wissenschaftliche Beratung der Politik. E i n Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften ( = Wissenschaft u n d Gesellschaft, Bd. 2) Göttingen 1966; A r n d Morkel: Pol i t i k u n d Wissenschaft, Möglichkeiten u n d Grenzen wissenschaftlicher Beratung i n der P o l i t i k ( = ZEIT-Fragen, 2) H a m b u r g (1967) sowie Otto Stammer: Der Politikwissenschaftler als Berater der politischen Praxis, i n : Wissenschaft u n d Praxis . . . , S. 35 ff.

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Die Politische Wirtschaftslehre ist also Politische Wissenschaft, w e i l ihre Fragestellung politologisch ist; sie ist spezielle Politologie, w e i l sie hauptsächlich Objekte und Prozesse aus dem wirtschaftlichen und sozialen Bereich gemäß dieser besonderen Fragestellung untersucht. I n der Zusammenarbeit m i t der Wirtschaftswissenschaft läßt sich auch heute noch — oder wieder? — i n weiten Bereichen die frühere Zusammenschau von Politik, Ökonomik und Ethik realisieren, und diese Synopsis dürfte für die Weiterentwicklung der Sozialwissenschaften nicht ohne Bedeutung sein.

Erster

Teil

Leitbilder und Systeme

Die Stellung Europas in der Welt von heute und morgen Von Richard F. Behrendt I.

Ich vermute, daß m i r i m Rahmen dieses Buches die riskante Funktion zugefallen ist, i m doppelten Sinne, „to stick my neck out", i n die Zukunft zu schauen, ein wenig von dem zu treiben, was mein Berliner Kollege Flechtheim Futurologie nennt 1 und was tatsächlich jetzt eine neue, erstmalige Aufgabe der Wissenschaften vom Menschen geworden ist. Also: was w i r d aus unserem Europa? Besser: was kann aus i h m werden? Noch besser: was können und wollen wir aus i h m machen? Nur so hat die Frage einen Sinn, indem w i r den Akzent auf voluntaristische Entscheidungen und dynamische Aktionen jetzt lebender Europäer legen — allerdings sehr bewußt und sorgfältig orientiert an den Erfahrungen der Vergangenheit, sowohl an den Irrtümern und Verbrechen, die uns warnen sollten, wie an den Bestrebungen und Errungenschaften, die uns wegweisend sein können. W i r können es also beileibe nicht bei einer Extrapolierung aus der bisherigen Entwicklung i n die Zukunft hinein bewenden lassen, sondern müssen auch grundsätzlich Neues zu sehen versuchen — und sogar fordern, unter dem (außerwissenschaftlich zu setzenden) Ziel der Lebenserhaltung und Lebensbereicherung der Menschen, die Europa bilden. Denn Kulturen bestehen ja aus Menschen — den gegenwärtig lebenden, den kommenden, und denen, die uns Zeugen ihres Lebens, Schaffens und Versagens i n objektivierten Werken — seien sie materiell, geistig oder sozial — hinterlassen haben. Dabei werden w i r uns allerdings zunächst mit der Frage beschäftigen müssen: was meinen w i r denn überhaupt mit Europa i n diesem Zusammenhang? Was kann Europa heute überhaupt noch bedeuten? Ist es mehr als ein geographischer Begriff (der sogar als solcher unpräzis geworden ist), ist es eine gesellschaftspolitisch bedeutsame Einheit? U n d wenn ja, welcher Art? 1 Ossip K . Flechtheim: History and Futurology, Meisenheim am Glan, 1966; Utopie, Gegenutopie u n d Futurologie, i n : Eine Welt oder keine?, F r a n k f u r t a. M., 1964.

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ichard F. Behrendt

Wohl kaum je haben sich die Bewohner Europas als einer Einheit zugehörig empfunden, kaum je also sind sie alle, soziologisch und sozialpsychologisch gesprochen, Europäer gewesen. Immer überwogen partikulare Antagonismen integrierende Solidarität, sogar i m Angesicht der Türken vor Konstantinopel und, 200 Jahre später, vor Wien. Aus sich heraus und unter sich, haben Europäer, mehr denn Angehörige anderer Kulturen, stets Konflikte heraufbeschworen und blutig ausgetragen — zwischen Feudalherren, Stadtstaaten, geistlichen Stiften, absoluten Herrschern, Konfessionen, Nationen und, nicht zuletzt, Klassen und großenteils imaginären Sozialgebilden, die als unterschiedliche Rassen empfunden wurden. Unvergleichlich „produktiv" ist die Phantasie von Europäern i n der Schaffung von Anlässen, Parolen, sozialen Mythen und anderen Rechtfertigungen für Angriffe, Verfolgungen und Vertilgungen gewesen. Die Macht der polis, die Weiderechte einer Talschaft, die Marktrechte eines Städtchens, die Ausbeutungsrechte eines Grundherren, die Erbrechte eines Herrschers, die Lehnsrechte des Kaisers, die Krönungsrechte des Papstes, die Vorrechte von Patriziern, die Monopolrechte von Zünften, die Rechte geistlicher Autoritäten, Andersgläubige dem Scheiterhaufen zu überantworten oder i n Kreuzzügen ausrotten zu lassen, sind immer wieder als Anlässe zur Zerstörung menschlichen Lebens und menschlicher Wohlfahrt benutzt worden. Zu ihnen haben sich schließlich i n unserer eigenen Zeit die Forderungen neuer Klassen, neu erweckter Völker und Rassen nach Gleichberechtigung und Beteiligung am wachsenden Wohlstand gesellt. Keine der mythosbildenden Einheiten, derer w i r uns i n unseren Versuchen des europäischen Selbstverständnisses und der politischen Propaganda nach innen und außen bedienen, ist je eine aktionsfähige gesellschaftliche Realität, eine „Integration" gewesen: weder Europa, noch das Abendland, noch die Christenheit. I n Wirklichkeit sind sie stets von latenten oder akuten Feindseligkeiten gefährdet oder i n Frage gestellt worden und sind oft von einer Partei oder Fraktion als polemische Parolen gegen andere benutzt und mißbraucht worden: denken w i r nur an die „drei Rome", an die Bündnisse „christlicher" Herrscher mit den Türken gegen andere „christliche" Mächte, an die Ansprüche eines nationalistisch-totalitären Deutschlands, wie auch liberal-demokratisch gerichteter Kreise i n Westeuropa und Nordamerika, auf die wahre Vertretung des „Abendlandes". Das europäische Selbstverständnis hat sich bisher nie institutionalisiert, hat sich nie zu einheitlicher Aktion, geschweige denn zu festen Ordnungsformen konkretisiert. Auch die jetzige Konzeption eines Rumpfeuropa steht ja noch vor dieser Bewährungsprobe und ist vielfältigen Hindernissen ausgesetzt.

Die Stellung Europas i n der Welt von heute u n d morgen

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I n der Vergangenheit hat das europäische — ähnlich wie das „abendländische" — Bewußtsein immer wieder als ideologische Parole und als Legitimationsversuch für die überseeischen Expansions- oder die kontinentalen Vormachtsbestrebungen einer Dynastie oder eines Landes dienen müssen: von Habsburg und Spanien über das England Cromwells und Pitts und das Frankreich Ludwigs X I V . und Napoleons bis zum Deutschen Reich Wilhelms II. und Hitlers. I n der Periode des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar nach i h m wurde dann das EuropaBewußtsein teilweise überdacht durch eine vorzugsweise von den USA her getragene abendländische Ideologie, ebenfalls m i t deutlich polemischer Tendenz, deren Motor nun das ursprüngliche europäische „Ableger"-Gebiet Amerika war. Etwas voreilig und naiv verschmolz hier die Vorstellung der „Western Civilization" m i t derjenigen des „American Century". Historische Symbole und Reminiszenzen wurden etwas einseitig aus der bürgerlich-liberaldemokratischen Komponente der europäischen K u l t u r entlehnt, die die USA insbesondere mit ihren geistigen Ahnen i n Westeuropa verbindet. Dieser Prozeß bedeutete einen vorläufigen Abschluß der erstaunlichen Wandlung der ursprünglich revolutionären britischen Kolonie i n Nordamerika von dem Grundsatz der selbstgenügenden Isolierung von den „Händeln und Intrigen" der europäischen Politik, über die Entdeckung ihres „manifest destiny" als Zivilisator der Neuen Welt unter dem Mantel der Monroe-Doktrin, bis zur Herausbildung ihrer neuen Rolle als Vormacht der „Freien Welt" und damit als Protektor des nichtkommunistischen Europa. Es ist unvermeidlich, i n diesem Zusammenhang der Rolle der Deutschen i n der — zweifellos endgültigen — Schwächung Europas i m Vergleich m i t dem Rest der Menschheit zu gedenken. Nicht nur hatte Deutschland an der Auslösung des ersten Weltkrieges einen wichtigen, an der des zweiten den entscheidenden Anteil. Es hat zudem einen besonderen — natürlich ungewollten — Beitrag zu dem Aufstieg der USA und der Sowjetunion zu den zwei Weltmächten der Gegenwart geleistet, indem es die erstere i n beide „europäischen Bürgerkriege", die letztere wenigstens i n den zweiten hineingezwungen und damit — i n extravaganter Verkennung der realen Machtverhältnisse — zu Siegermächten gemacht hat. Damit war das europäische Mächtegleichgewicht zerstört und war Amerika — ursprünglich sehr gegen seinen Willen — i n die Rolle des militärischen Retters, wirtschaftlichen Helfers und politischen Beschützers eines zeitweise tödlich geschwächten Europa versetzt worden. Und das von den Deutschen bewirkte Chaos i m Europa des zweiten Weltkrieges mußte zur überstürzten Auflösung der europäischen Kolonialreiche führen und damit die Problematik der „Entwicklungsländer" besonders akut gestalten.

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Die durch Hitler-Deutschland ebenfalls bewirkte Erstarkung und Expansion der Sowjetunion diente nach dem Zusammenbruch des D r i t ten Reiches als neues polemisches Objekt der Ideologie des Abendlandes, bzw. der „Freien Welt". Jedoch hat sich inzwischen eine teilweise Trennung zwischen dieser und der Europa-Ideologie vollzogen, als Reaktion gerade auf die Vormacht Amerikas i m Rahmen einer Europa transzendierenden abendländischen Konzeption. De Gaulles Vorstellung eines „Europa der Vaterländer", i n deutlicher Absetzung vom angelsächsischen, unvermeidlich stark überseeisch orientierten Bereich, ist hierfür typisch. Diese Besinnung soll lediglich die Notwendigkeit eines möglichst unideologischen, politisch neutralen Europa-Begriffes für unsere Betrachtungen zeigen. Wenn w i r vom Europa von heute und morgen sprechen, müssen w i r uns frei machen von der W i l l k ü r und der Labilität historischer und polemischer Definitionen und Deutungen. W i r müssen versuchen, einen soziologisch klärenden und gesellschaftspolitisch brauchbaren Europa-Begriff herauszuschälen, der sich auf zweierlei gründen muß: auf die einzigartigen Funktionen, die gewisse europäische Länder i n den letzten Jahrhunderten als Brutstätten und Dynamos erdweiter Wandlungen gespielt haben; und auf die Tatsache, daß Europa es versäumt hat, sich rechtzeitig auf diese Funktion i n ihrer globalen Dimension einzustellen und infolgedessen zum Krisenherd der Erde geworden ist und jetzt eine anarchische Menschheit konfrontiert — nein, selbst Teil von ihr ist —, zu deren Neuordnung Europa entscheidend beitragen muß — was es nur durch das Erlernen der neuen partnerschaftlichen Rolle vermag. I n diesem Sinne wollen w i r nun zunächst versuchen, die Eigenheit Europas zu begreifen um dann hieraus Folgerungen für seine jetzigen und voraussehbaren Möglichkeiten zu ziehen. II. Die einzige heute gültige Definition Europas w i r d uns durch diese seine einzigartige Leistung ermöglicht: Europa ist der Kulturkreis, i n dem die moderne Welt geschaffen wurde und von dem die Erforschung, Durchdringung, verkehrsmäßige und wirtschaftliche Erschließung, arbeitsteilige Organisation und funktionale Integration der Erde und damit die Schaffung der Menschheit als eines Sozialgebildes, einer — zumindest potentiellen — Erlebnis- und Aktionseinheit ausging. Allerdings hat Europa auch i n dieser Hinsicht nie eine funktionale Einheit gebildet. Die dynamisierenden Impulse und Leistungen haben sich i n sehr unterschiedlichen Graden und m i t geographischen Verlagerungen (insbesondere vom Süden zum Nordwesten, dann zum Zentrum und zum

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Osten unserer Region) vollzogen, und sie haben sich nicht i n einheitlichen, kooperativen Aktionen verwirklicht, sondern weitgehend trotz oder sogar i n rivalisierenden Auseinandersetzungen, vorwiegend i n „Unbewußtheit" der Bedeutung dessen, was man tat. Europa ist zunächst die Zelle, die Brutstätte der dynamischen Wirtschaft und Gesellschaft und damit einer neuen Kulturphase: die der potenten, sich unaufhaltsam entfaltenden Technik, des beispiellosen Wachstums der Produktionsfähigkeit, der Beherrschung der Natur durch den Menschen, der Verlängerung menschlichen Lebens, der „Bevölkerungsexplosion", der globalen Interdependenz und der praktisch unbegrenzten Gestaltbarkeit und Zerstörbarkeit menschlicher Lebensumstände. Hierin liegt die eigenartige Diskrepanz und Widersprüchlichkeit zwischen schöpferischen und zerstörerischen, einigenden und antagonistischen, ordnungstiftenden und -auflösenden Wirkungen Europas — sowohl für sich selbst wie für die seinen dynamisierenden Impulsen ausgesetzten Gebiete. Diese einzigartige Rolle Europas als „Vorpreller" vor der großen Mehrheit der Menschheit, als Promoter der Dynamik und globalen Assoziation begann unter dem Zeichen der Pluralisierung i m Innern und der Bedrohung von außen: m i t dem Zerfall des (immer schon prekären) Heiligen Römischen Reiches des Mittelalters und dem endgültigen Verzicht auf seine universalen Vorrechte zugunsten einer Vielzahl souveräner und rivalisierender Staaten; mit der Glaubensspaltung; mit dem humanistischen Anspruch auf selbständiges Denken; und m i t dem Ansatz zu glaubensmäßig nicht mehr gebundener Forschung. Äußerlich bedeuteten Renaissance und Barock die Schwächung Europas durch den Fall des oströmischen Bollwerks und das Vordringen der Türken bis vor die Tore Wiens. A u f diesen „challenge" erfolgte die europäische „response" (um Toynbees Formel anzuwenden): die Suche nach neuen Seewegen nach Asien, die Entdeckung, Erforschung, Erschließung, Mobilisierung und Assoziation der Erde durch europäische Menschen. Unter diesem Zeichen ist Europa als der einzigartige Kulturkreis angetreten: expansiv, mobilisierend, revolutionierend, aber auch verbindend. Unter i h m ist es zur Zelle der Dynamik, zur „Mutter der Revolutionen" 2 geworden, zum Verursacher einer tendenziell universalen Unruhe. Diese hat weitgehend zerstörerisch gewirkt: i n der Unterdrükkung schwächerer nicht-europäischer Völker, i n Rivalitäten zwischen europäischen Völkern, aber auch i n der Zersetzung nicht-europäischer 2 „Europa: M u t t e r der Revolutionen" (Stuttgart 1964) ist der T i t e l des letzten Bandes der bewundernswerten europäischen Geistesgeschichte von Friedrich Heer.

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Staats- und Gesellschaftsordnungen, die sich durch ihre Statik gegenüber europäischen Einflüssen als lebensunfähig erwiesen. Andererseits hat diese Unruhe aber auch i n bisher einzigartiger Weise schöpferische Wirkungen gezeitigt, indem sie Millionen von Nichteuropäern aufgeweckt hat zur Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, zu dem Willen, sich aus dem Urelend zu befreien, indem sie ihnen nicht nur menschenwürdige Ziele gezeigt hat, sondern auch Mittel, sich ihnen zu nähern. Ausdehnung von Herrschaftsgebieten und Handelsbeziehungen, Wanderungen und Umsiedlungen, Beeinflussung von Kulturkreisen durch andere hat es oft und vielerorts gegeben. Die bisher einzigartige Leistung Europas besteht i n der Erzeugung und Vermittlung eines neuen Typs von K u l t u r und Gesellschaft — eben der Dynamik als nicht nur expansiver, sondern auch demokratisierender und revolutionierender Lebensform; i n der Ersetzung statischer Formen der Technik und Wirtschaft durch entwicklungskonforme; i n der Ersetzung hierarchisch gegliederter, auf Tradition und schroffen, erblich festgelegten Schichtungsunterschieden beruhender Gesellschaftsordnungen durch flexible, mobile, i n denen individuelle Leistung i n wachsendem Maße für die gesellschaftliche Stellung bestimmend w i r d ; i n der Schwächung monokratischer oder oligarchischer Staatsordnungen zugunsten demokratischer, i n denen, zumindest als ethische und rechtliche Norm und gesellschaftsstrukturelle Tendenz, immer mehr der Anspruch der Vielen auf Beteiligung an Entscheidungen und an den Früchten der Dynamik zum Ausdruck kommt. Hieraus erklärt es sich, daß die Ausdehnung Europas über die Erde sich nicht i n einer Wiederholung der i n der bisherigen Geschichte üblichen „Überlagerungen", also i m bloßen Wechsel von Machthabern und Einkommensbeziehern, ohne wesentliche Änderung der Macht-, Bildungs- und Besitzstruktur vollziehen konnte, sondern daß die europäische K u l t u r die ihrer Expansion ausgesetzten nichteuropäischen Gebiete nach ihrem eigenen Ebenbild umgestalten, ja revolutionieren mußte. Diese Revolution geschah zunächst i m Innern dieser Länder, durch die Schwächung, oft auch den Umsturz ihrer traditionalen Wertsysteme und sozio-politischen Ordnungen; sie setzte sich fort i n dem Anspruch der nichteuropäischen Völker auf Emanzipation von der — direkten, politischen oder auch nur indirekten, wirtschaftlichen — Vorherrschaft des Westens. Dieser Strukturwandel hatte sich seit geraumer Zeit vorbereitet: etwa i n der Emanzipation der USA von den „zahllosen kriegerischen Händeln und diplomatischen Intrigen der alten Welt", den Versuchen einer Einigung der jungen lateinamerikanischen Staaten durch Bolivar, der britischen Neigung, ein Gleichgewicht zwischen Europa und seinen Überseeinteressen zu wahren und damit eine Sonderstellung i m euro-

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päischen Staatensystem einzunehmen, dem Aufstieg Japans als erste Großmacht nichtkaukasischer Rasse. Aber dieser Emanzipationsanspruch und die Notwendigkeit seiner Befriedigung wurden durch die europäischen Selbstmordversuche der beiden ersten Weltkriege — „europäische Bürgerkriege" nannte sie ein Inder 3 — und die westliche Unfähigkeit zu konstruktiven Folgerungen aus ihren Ergebnissen sehr beschleunigt und m i t dem Risiko der Anarchie belastet. Dieses Versagen des europäischen Selbst- und Zeitverständnisses führte zu nutzlosen und auch psychisch zerstörerischen 4 Kolonialkriegen und zur Improvisation von „nationaler" Selbständigkeit für Dutzende von Gebieten i n Asien, A f r i k a und Westindien, die für diese neue Existenzform nicht annähernd ausreichend vorbereitet waren und oft nicht einmal die elementaren objektiven Voraussetzungen für sie besitzen. Anders gesagt: die Auflösung der europäischen Hegemonie erfolgte überstürzt und improvisiert, weil die Europäer nicht verstanden hatten, — und sogar heute noch nicht genügend verstehen —, daß ihr eigenes Verhalten, ihre „Lebensform" und natürlich auch ihre eigenen Lehren erdweite Auswirkungen als zündende Leitbilder und Modelle zeitigen mußten: systematische Rationalität i n Technik, Wirtschaft und Organisation, ja i n der Planung einer „Laufbahn"; Verheißung gleicher individueller Menschenwürde und allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte; Hochschätzung der nationalen Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Geltung; Anspruch auf ständige Besserung der Lebensverhältnisse und auf sozialpolitische Sicherung. Daß all dies missionierend, „ansteckend" wirken mußte — ganz gleich, ob es von den Europäern so beabsichtigt war oder nicht —, ist i n den Beziehungen der dynamischen Kernvölker mit den dynamischen Randvölkern viel zu lange nicht berücksichtigt worden. Nur deshalb konnten die kaum selbst von fremdem Joch befreiten Franzosen und Niederländer nach dem zweiten Weltkrieg der fatalen Illusion verfallen, sie könnten ihre eigenen Kolonialvölker wieder i n Abhängigkeit zwingen und die Ergebnisse ihrer eigenen Lehren i n ihnen auslöschen. Die Schwächung Europas ist also nicht etwa eine unvermeidliche Auswirkung der universalisierenden Impulse, die von Europa selbst ausgegangen sind. Sie ist vielmehr die Folge der eigenen Inkonsequenz, des inneren Bruches i n der europäischen Haltung, des Mangels an Verständnis dafür, daß Europa sich darauf einstellen muß, i n einer von 3

Der Historiker u n d Diplomat K . M. Panikkar: Asia and Western D o m i nance, London 1953, S. 259—266. 4 Die psychisch belastenden, j a zerstörerischen Auswirkungen kolonialer Verhältnisse i n einer i n Dynamisierung geratenen Welt u n d die Ressentiments, die sie gegen Europa generiert haben, kommen besonders k l a r i m Werk des Westinders Frantz Fanon zum Ausdruck, z. B. i n seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde" (deutsche Ausg. F r a n k f u r t a. M. 1966).

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i h m selbst i n Bewegung gebrachten, nach seinem eigenen Vorbild umgeformten neuen Welt zu leben und daß es um so besser i n dieser Welt w i r d leben können, wenn es seine Funktion als Helfer der bisher dynamisch Zurückgebliebenen i n diesem Entwicklungsprozeß versteht und seine neue Rolle als Partner bisher unterlegener und beherrschter Völker so rasch wie möglich lernt und vorbehaltlos ausübt. III. Deutlich w i r d wohl aus dem bisher Gesagten die Zwiespältigkeit, ja die Widersprüchlichkeit der Leistung und der jetzigen Stellung Europas i n der Welt. Damit hängt es ja zusammen, daß w i r alle der Versuchung ausgesetzt sind, zwischen Hymnen der Verherrlichung der einzigartigen Leistungen der europäischen K u l t u r und bußfertiger Zerknirschung über ihr Versagen zu pendeln — i n beiden Fällen gekoppelt mit Prophezeiungen ihres unaufhaltsamen Nieder-, ja Untergangs. W i r müssen versuchen, uns wenigstens den Zugang zu einem einigermaßen ausgewogenen, von Affekten möglichst wenig belasteten Situationsverständnis zu verschaffen. Europa hat die Erde entdeckt und zu einer Funktionseinheit gemacht; d. h. zu einem Komplex von vielfältigen, materiell, geistig und gesellschaftlich miteinander verbundenen, ja auf einander angewiesenen Sozialgebilden. Aber es hat versagt, als es sich darum handelte, sie zu einer Lebenseinheit zu machen, die das Überleben ihrer Mitglieder gewährleisten und sie vor Anarchie bewahren könnte. Europa hat durch seine global gewordene Dynamik zum ersten Mal realisierbare Möglichkeiten einer menschenwürdigen Lebensform für viele gezeigt, aber diese Lebensform ist bisher nur einer kleinen Minderheit der Menschheit zugute gekommen. Die hieraus entspringenden Spannungen und Konflikte stellen das Überleben nicht nur Europas, sondern — angesichts der absoluten Zerstörungspotenz der heutigen Technik — der Menschheit überhaupt i n Frage. W i r stehen i n einer neuen Welt, die ganz entschieden, i n allem Wesentlichen, von Menschen europäischen Ursprungs geschaffen worden ist: durchsetzt von den stärksten revolutionären Impulsen, die es je gegeben hat, „neuer Dinge begierig", vorwärts drängend aus dem Urelend und der Unwissenheit und Ohnmacht der Vergangenheit zu besserem Leben nicht nur i m Materiellen, sondern auch i m Geist, und dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) unsicher ihrer selbst, gespalten i n sich selbst i n Bezug auf ihre Ziele und auf die Methoden, mit denen sie ihnen näher kommen kann. W i r haben also einen Preis für die Dynamik zahlen müssen. Er besteht i n erster Linie i n der Einbuße des Geborgenseins i m Gewohnten,

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i m immer so Gewesenen, i n den Unsicherheiten, Ungewißheiten, Ängsten und Haltlosigkeiten, die i n den steten Vorstößen ins Neue verbunden sind m i t den Schwierigkeiten, sich seelisch, geistig, gesellschaftlich an die Lebensbedingungen dieser neuen Welt anzupassen, die man selbst i n Wissenschaft, Technik und Wirtschaft geschaffen hat und ständig umbildet. Dies ist aber eine Problematik, die heute universal ist und die den Übergang von statischen zu dynamischen Ordnungen überall begleitet und sich nur i n verschiedenen Graden und Formen, gemäß dem jeweils erreichten Entwicklungsstadium und den spezifischen Modalitäten des sozio-kulturellen Wandels, äußert. Auch i n dieser Hinsicht also sitzen w i r — ob Europäer oder Amerikaner, „Westliche" oder „östliche", Weiße oder Farbige, Entwickelte oder Unterentwickelte — i m gleichen Boot, das auf einem aufgewühlten Meer mehr treibt als gesteuert wird. Und es frommt allen von uns, uns auf einen gemeinsamen Kurs für dieses Boot zu einigen, anstatt es durch Streitigkeiten zwischen seinen ohnedies schon fast zu zahlreichen Insassen noch mehr ins Schwanken, wenn nicht gar zum Kentern zu bringen. Keineswegs haben w i r Europäer das Recht, auf die Schwierigkeiten bei der Schaffung effektiver Gleichheit für die amerikanischen Neger, auf die Unruhen i n neuen afrikanischen Staaten oder auf die unheimlich diszipliniert marschierenden und demonstrierenden Roten Garden i n China m i t der Arroganz derer herabzuschauen, die es so herrlich weit gebracht haben. I m Gegenteil: not tut uns die Erinnerung daran, daß Aggression, Bürgerkrieg, nationalistischer Haß, Trägheit der Herzen gegenüber „Fremden", Unterdrückung und Vertreibung von M i n derheiten, totalitäre Manipulation von Massenleidenschaften, Massenmord m i t gutem Gewissen wichtigen Gebieten Süd-, Mittel- und Osteuropas i n den letzten Jahrzehnten ihren Stempel aufgedrückt haben, und daß die Gefahr des Rückfalls noch längst nicht ausgeschlossen werden kann. Nur so können w i r uns die menschheitsweite Gemeinsamkeit unserer grundlegenden Probleme vor Augen halten, die Tatsache, daß w i r uns alle m i t gleichartigen Schwierigkeiten des Erlernens des Lebens i n einer neuen Kulturphase, derjenigen der Dynamik und der globalen Interdependenz, herumzuschlagen haben. IV. Erschütternd — i m vollen Sinne des Wortes — ist nun die täglich von neuem bekräftigte Tatsache, daß w i r geistig immer noch unvorbereitet Verständnis- und hilflos diesen von Menschen unserer eigenen A r t bewirkten Veränderungen gegenüberstehen, und zwar sowohl i n ihren negativen Problemen wie i n ihren positiven Möglichkeiten.

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I n großen Bereichen Europas ist es Mode geworden, zwischen zwei Haltungen zu pendeln: zwischen einerseits arrogantem Paternalismus, gepaart m i t dogmatischem Schulmeistertum gegenüber der Außenwelt; andererseits abgründigem Pessimismus i n Bezug auf die eigenen Zukunftsmöglichkeiten, und zwar i n zwei Spielarten: desjenigen des sich ungerecht entthront fühlenden Herrschers und des zerknirschten Sünders. Diesen Pessimismus erhebt man gern ins „Existenzielle" und dehnt ihn damit auf die „condition humaine" überhaupt aus. Beide Haltungen erweisen sich als gleichermaßen steril. Sie bewirken eine Neigung zur Selbstlähmung Europas, zu seiner geistigen Isolierung i n einer mobil werdenden, überwiegend zukunftsfrohen Menschheit; sie könnten damit zu einer A r t von sich selbst verwirklichender Prophetie werden. I n dem weitverbreiteten Gefühl des unaufhaltsamen Niederganges Europas spukt auch noch immer ein Argument mit, das von zwei entgegengesetzten Positionen aus — konservativen Nationalisten und revolutionären Marxisten — gebraucht w i r d : daß Europa (oder einzelne seiner Länder), als „Volk ohne Raum", auf überseeische Kolonien als Absatz- und Siedlungsgebiete oder als politische Stütze seines „kapitalistischen" Wirtschaftssystems angewiesen sei und daß infolgedessen die Auflösung der Kolonialreiche seinen Niedergang, jedenfalls i n seiner jetzigen Wirtschaftsordnung, besiegele. Diese Voraussetzung war niemals voll berechtigt 5 , hat aber gerade jetzt jede rationale Grundlage verloren — wie u. a. ein Blick auf die heutigen Niederlande nach dem „Verlust" Indonesiens, auf das heutige Westdeutschland, auf die Schweiz und Skandinavien, also gerade die Länder m i t den höchsten Lebenshaltungsniveaus Europas, zeigen kann. Auch die von vielen Europäern heute so beklagte „Amerikanisierung" der europäischen Industrie ist kein schicksalhafter Vorgang, sondern eine Folge des Erlahmens dynamischer Impulse, insbesondere i m Unternehmertum. Dabei sprach nicht zuletzt die relativ reichliche Versorgung m i t Arbeitskräften (teilweise dank des Zustroms aus dem unterentwickelten Südeuropa) mit, die es europäischen Unternehmern scheinbar erlaubte, viel weniger Wert als ihre amerikanischen Konkurrenten auf die Förderung und Nutzung von Forschung für Rationalisierung und Mechanisierung i n Produktion und Vermarktung zu legen. Ganz allgemein scheint mir, daß man i n Europa noch viel weniger zukunfts5 Das hat schon vor dreißig Jahren Grover Clark gezeigt (The Balance Sheets of Imperialism: Facts and Figures on Colonies, New Y o r k 1936), wie auch A r t h u r Salz (Das Wesen des Imperialismus, Leipzig 1931), Walter Sulzbach (Nationales Gemeinschaftsgefühl u n d wirtschaftliches Interesse, Leipzig 1929, u n d A r t . Imperialismus i m Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931) u n d Richard F. Behrendt (Die Schweiz u n d der Imperialismus, Zürich 1932, u n d Japans politischer Aktivismus, 1932, wiederabgedruckt i n : Zwischen Anarchie u n d neuen Ordnungen, Freiburg i, Br. 1967).

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orientiert ist, daß man sehr viel weniger die neuen Möglichkeiten und Erfordernisse der Zukunft antizipiert, daß man sie viel mehr „auf sich zukommen" läßt (um einen neudeutschen Lieblingsausdruck zu gebrauchen) und sich dann reaktiv — und damit oft inadäquat — ihnen gegenüber verhält, also den mobileren Amerikanern oder auch Japanern gegenüber „das Nachsehen hat". I n einer besonders bedenklichen Weise drückt sich dieses Nachhinken natürlich i m Bildungswesen aus, das i n vielen Ländern Europas ja noch immer durch Überbleibsel ständischen Denkens i n längst überlebten Formen festgehalten wird. Beispielsweise errechnete der Esso-Konzern, daß die Absolventen einer zwölfjährigen vollzeitlichen Schulbildung i m Jahre 1963 73 %> ihrer Altersgruppe i n den USA darstellten, hingegen nur 8 °/o i n Westdeutschland. 1970 werden sie i n den USA auf fast 80°/o gestiegen sein, i n Westdeutschland aber immer noch 8°/o betragen 6 . Dieses Kleben an antiquierten gesellschaftlichen Schichtungs- und Ordnungsvorstellungen macht sich ja auch i n den zahllosen Hemmungen der Zusammenarbeit bemerkbar, zwischen Angehörigen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinien, administrativer Organisationen, nationaler Behörden, zwischen Schulen verschiedener Kategorien, zwischen Schulen und Hochschulen und zwischen diesen selbst, sowie i n den immer noch starken Vorurteilen gegenüber beruflicher Mobilität eines Menschen, also dem Hinüberwechseln von einem Beruf zum anderen, das doch grundsätzlich durchaus den Erfordernissen einer dynamischen Wirtschaft und Gesellschaft entspricht. Die Überlegenheit Amerikas ist also nicht etwa allein oder auch nur hauptsächlich durch seine größeren räumlichen Dimensionen zu erklären — es sei denn, man unterwürfe sich dem Dictum des Dichters, „ i m engen Raum verengert sich der Sinn", was m i r voreilig scheinen würde. Die Frage wäre zu erörtern — es kann hier nicht geschehen —, ob bzw. wie weit sich die wirtschaftliche Überlegenheit der USA unvermeidlich i n einer politischen Abhängigkeit der westeuropäischen Länder von ihrem überseeischen Verbündeten auswirkt. Der Fall Großbritannien — eines wirtschaftlich i m großen und ganzen stagnierenden Landes — scheint dafür zu sprechen; de Gaulies Frankreich liefert ein Argument für die entgegengesetzte Auffassung. Jedenfalls liefert der unbezweifelbare Tatbestand der wirtschaftlichen Machtakkumulation i n den USA noch kein automatisches A l i b i für den Verzicht einiger europäischer Länder auf eine eigene Außenpolitik, wenn immer eine solche K r i t i k an gewissen amerikanischen Einstellungen und Maßnahmen implizieren würde, wie i m Falle der Vietnam-Tragödie. Spärlich und spät hat unser Denken über die Zukunft eingesetzt. Unsere „Geisteswissenschaften" beschäftigen sich immer noch ganz 6

Herbert Gross i n : Beratungsbrief (Düsseldorf), 20. 1. 1967, S. 9—10.

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überwiegend m i t dem, was gewesen ist, ein wenig m i t dem, was ist und kaum m i t dem, was sein sollte, könnte — und darf. Das liegt nicht nur an methodologischen Skrupeln — i m Zusammenhang m i t dem Gebot der Werturteilsfreiheit und der Unmöglichkeit, wissenschaftlich Ziele zu setzen —, sondern wohl noch mehr an der einseitigen geistigen Gebundenheit an die Vergangenheit und einer mangelnden Bereitschaft, sich nicht nur m i t den Problemen der geschichtlichen Einsamkeit auseinanderzusetzen, unter der w i r leiden, sondern auch m i t den Möglichkeiten der Emanzipation von der Geschichte, die w i r i n gewissem Maße vollziehen müssen. Einseitige Gebundenheit an die Vergangenheit (oder an das, was man sich gern unter ihr vorstellt), auch das Gefühl des Verhaftetseins an die Geschichtlichkeit als determinierendes Schicksal, deutet auf Lebensschwäche, auf Angst vor dem Unbekannten, vor neuen und weiteren Horizonten hin, Angst auch vor Alternativen und vor der Notwendigkeit, sich selbstverantwortlich zwischen ihnen zu entscheiden. A l l das ist ein häufiges „Lebensgefühl" von Menschen „alter" Kulturen, die innerhalb autoritärer Beziehungsmuster aufgewachsen sind und nicht die Kraft zu neuartigen Reaktionen auf gewandelte Situationen aufbringen. Es findet sich recht häufig i m heutigen Europa, ganz besonders i m deutschen Sprachgebiet. Es steht i m Kontrast m i t der betont optimistischen und aktiven Beschäftigung mit der Gestaltung einer neuen Welt, wie sie i n Angloamerika, aber auch i n den kommunistischen Gebieten vorherrscht. Und das Gefühl des unaufhaltsamen Niederganges Europas steht ja i n auffälligem Kontrast zu der Tatsache, daß heute, mehr denn je, Ideen, Leistungen, Erfahrungen und Lebensformen europäischen U r sprungs als wegweisend, maßgebend und erstrebenswert i n der ganzen übrigen Welt aufgenommen werden, relativ unabhängig von den politischen Vorzeichen, unter denen diese Akkulturationsversuche geschehen. (Wobei am Rande zu bemerken wäre, daß viele „berufsmäßige" Europäer und Abendländer die Kreativität unseres Kulturkreises w i l l k ü r lich beschneiden, indem sie i h n ideologisch und propagandistisch m i t Antikommunismus gleichsetzen und damit seinen geistigen und gesellschaftspolitischen Pluralismus ignorieren. Auch die entscheidenden Wurzeln des sogenannten Kommunismus — seine geistigen wie seine sozialrealen — liegen schließlich i n Europa.) Unsere gesellschaftspolitische Gestaltungsfähigkeit h i n k t auch i n dieser — entscheidenden — Hinsicht hinter unserer technischen und wirtschaftlichen drastisch her. I n nichts drückt sich dieser Zwiespalt zwischen kreativem naturwissenschaftlich-technischem und sterilem gesellschaftlich-politischem Denken so klar aus, wie i n der Tatsache, daß die Parole „keine Experimente!" i n der Politik Westdeutschlands nach

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dem Zweiten Weltkrieg maßgebend werden konnte und daß — nicht ohne Zusammenhang damit — ständische und nationale Leitbilder und Forderungen, die historisch der Romantik zugeordnet sind, i n der deutschen Außen- und Parteipolitik — und nicht nur dort — heute noch immer oder schon wieder eine Rolle spielen, daß man also die Probleme von heute und morgen überhaupt noch nicht „ i n den Blick bekommen", geschweige denn angepackt hat. V. Welche Ziele und Möglichkeiten können w i r nun für Europa i n dieser Welt erkennen? Kurz gesagt: Erhaltung, Stärkung und Sicherung Europas auf dem einzigen noch möglichen — und gerade jetzt möglich werdenden — Weg, nämlich durch globale Ausdehnung und demokratische F r u k t i f i zierung der Dynamik und durch ihre Lenkung auf menschenwürdige Ziele i m Rahmen einer menschheitlichen Vitalpolitik, deren Kern erdweite Entwicklungsförderung und weltweite — also bereits über unseren Planeten hinausgehende — Entwicklungsplanung sein muß. Dies ist einfach die Folgerung aus der Erfahrung, daß es auf der Erde keine Wohlstands- und Zivilisationsinseln mehr geben kann und daß w i r i n eine erdweite Nachbarschaftssituation eingetreten sind, i n der die Entwicklung, die Wohlfahrt, ja das Überleben jedes einzelnen Mitgliedes — sei es Individuum oder Sozialgebilde — von der Möglichkeit wirksamer Beteiligung aller an der Entwicklung und ihrer Nutznießung abhängt. Die von Europa ausgegangenen Impulse sind bisher die stärksten expansiven Kräfte der Menschheitsgeschichte gewesen — i m positiven wie i m negativen Sinne. Wenn Europa sich nicht selbst aufgeben w i l l , muß es weiter expansiv bleiben. Wenn es nicht übermächtige Kräfte weiter gegen sich mobilisieren w i l l , w i r d diese Expansion nicht gewaltsam, einseitig und autoritär, sondern friedlich, kooperativ und partnerschaftlich sein müssen. I n der Vergangenheit haben Europäer vielfältige Rollen i n Asien, Afrika und Lateinamerika gespielt: als Eroberer, Sklavenhändler und -halter, Ausbeuter, Kolonialherren, aber auch als Missionare, Ärzte, Lehrer, Friedensbringer. Stets waren es Rollen der Überlegenen, fast immer auch der Vorgesetzten. Oft war damit (zumeist ungewollt und unerkannt) auch die Funktion des Erweckers zur Unzufriedenheit, zum Protest, ja zur Revolution verbunden. Nur eine Rolle ist bisher nicht oder kaum geprobt worden: die des Partners. Sie zu erlernen w i r d allen Beteiligten, auf beiden Seiten, schwerfallen. Dennoch muß sie erlernt werden. Denn sie ist die einzige, die Europäern i n der Zukunft 4*

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noch offen steht. Partnerschaft aber bedeutet: freiwillige Zusammenarbeit auf ein als wesentlich erkanntes gemeinsames Ziel hin, mit voller Entfaltung der Fähigkeiten und größtmöglicher Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten, i n Beratung, Entscheidung, Ausführung und Nutznießung. Das muß offensichtlich auch eine wenigstens tendenzielle Einebnung der i m Erdrahmen immer noch krassen Besitz-, B i l dungs- und Machtgefälle bedeuten. Europäer sind durchgestoßen zu neuen Dimensionen menschlicher Existenz. W i r müssen endlich verstehen, daß sie es als Vorhut der Menschheit getan haben, und müssen konkrete Folgerungen daraus ziehen. Diese können nur i m Erlernen und Praktizieren offener Partnerschaft bestehen, aus der Erkenntnis heraus, daß w i r bereits jetzt unauflöslich i n die globale Interdependenz verflochten sind, daß w i r also die Beiträge der anderen zur gemeinsamen Wohlfahrtsschaffung ebenso brauchen, wie sie die unseren. W i r müssen uns endlich lösen von der aus den langen Perioden des Urelends stammenden und nur i n i h m gültigen Vorstellung, daß die guten Dinge des Lebens strikt beschränkt sind und daß infolgedessen Überleben und besseres Leben nur durch Ausmerzung oder Versklavung von möglichst vielen anderen, als Rivalen und Gegnern Empfundenen, möglich ist. W i r müssen endlich die entscheidende Tatsache unserer dynamisch gewordenen Zeit verstehen: daß unser aller Wohlfahrt, ja, Überleben von der Mobilisierung möglichst vieler freiwilliger Träger geistiger Entfaltung, kooperativen Wachstums und wirtschaftlicher Entwicklung, von der Fruktifizierung ihrer Ideen, Erfahrungen und (zumeist latent gebliebener, brachliegender) Energien abhängt; und daß dieser Prozeß der fundamentaldemokratisierenden Aktivierung zur Schaffung und Nutznießung menschenwürdigen Lebens für grundsätzlich Alle sich nur dann durchsetzen kann, wenn w i r bereit sind, die bisher als wichtig betrachteten, oft als Tabus geachteten Grenzen zwischen den Geschlechtern, Gesellschaftsschichten, Generationen, Nationen, Klassen und Rassen zu überspringen, ja einzuebnen. Diese Thesen sind nichts anderes als Folgerungen aus den bisherigen Erfahrungen Europas und seiner direkten Ableger i n Amerika, Australien u n d Neuseeland. Die wichtigste zukünftige Leistung Europas muß darin bestehen, nach Kräften zu helfen, sie nun auch auf die große Mehrheit der bisher am Rande dieser Errungenschaften gebliebenen, wirtschaftlich und sozial unterentwickelten Menschheit auszudehnen, und zwar nicht nur durch technische und finanzielle Hilfe, sondern durch partnerschaftliche Erarbeitung von neuen, für alle Beteiligten annehmbaren sozio-ökonomischen Konzepten und Verfahrensweisen. Denn von diesen w i r d es abhängen, ob es der Menschheit von heute und morgen gelingt, die technischen und finanziellen M i t t e l fruchtbar

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einzusetzen und eine gewaltlose Globalordnung als unentbehrliche Voraussetzung jedes besseren Lebens, ja des Überlebens, zu schaffen. Ob Europa sich lebendig und dynamisch erhalten oder stagnieren und höchstens als museales Relikt, i n der A r t des spätantiken Griechenland, weiter vegetieren wird, ob es sich zwischen den großen Machtblöcken der neuen Welt behaupten kann, w i r d davon abhängen, ob und wie weit es sich als fähig erweist, diese Welt human mitzugestalten und zu helfen, sie aus einer Schottenexistenz — von zahllosen möglichst geschlossenen, miteinander rivalisierenden, nach Autarkie strebenden und dennoch für sich allein nicht lebensfähigen nationalen, rassischen, konfessionellen Sozialgebilden — umzuformen zu einer Brückenexistenz, also zu einer offenen, partnerschaftlich organisierten Gesellschaft. I n dieser würden die längst steril, ja gefährlich gewordenen diplomatischen Denk- und Handelsstereotypen von rivalisierenden Machtkomplexen endlich ihre Gültigkeit verlieren, so daß es nebensächlich würde, aus welchem Kontinent, aus welcher Nation, Rasse oder Konfession ein Mensch kommt. Europa ist klein. Auch ein geeintes Europa (in den vielleicht realisierbaren Grenzen) wäre klein i m Vergleich mit den anderen Kontinenten und Völkerkomplexen. Sein Anteil an der Erdbevölkerung schrumpft zu einer immer kleineren Minderheit zusammen. Deshalb ist es für Europa lebenswichtig, auf eine Globalgesellschaft hinzuwirken, i n der territoriale Grenzen, rassische Unterschiede und militärische Stärke eine möglichst geringe Rolle spielen. Eine partnerschaftliche Beziehung bedeutet praktisch bekundetes Verständnis für die Gemeinsamkeit grundlegender Ziele und für die Notwendigkeit ständiger gemeinsamer Arbeit an elastischer, experimenteller Planung für ihre Verwirklichung, unter Berücksichtigung der essentiellen Besonderheiten der verschiedenen Partner. Das i m p l i ziert, daß w i r einerseits darauf verzichten müssen, von unseren Partnern ideologische und politische Gefolgschaft zu erwarten, aber auch, daß keine vorbehaltlose Einordnung Europas i n eine uniformierte globale Zukunftskultur befürchtet zu werden braucht, ebensowenig wie eine „europäisierende Gleichschaltung" der verschiedenen Komponenten der europäischen Kultur. Allerdings bahnt sich ein globaler Synkretismus an, mit immer zahlreicheren sozio-kulturellen Mischformen und damit pluralem Charakter. Z u den konstanten, universalen Ingredienzien dieser Mischungen werden sicher stets solche europäischer Herkunft gehören. Sie werden i n der Sowjetunion, Amerika und anderen überseeischen Siedlungsgebieten europäischer Auswanderer natürlich am bedeutsamsten sein. Umgekehrt w i r d Europa immer stärker K u l t u r elemente aus immer zahlreicheren nicht-europäischen Quellen aufnehmen. Manches, was vielen von uns als spezifisch europäisch erscheint und ans Herz gewachsen ist — und was zuweilen nur ein etwas lokal

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gefärbtes Element universaler statischer, traditional-autoritärer Lebensformen ist —, ist zweifellos zum Absterben verurteilt, weil die materiellen und geistigen Voraussetzungen dafür geschwunden sind. Ich glaube nicht, daß dies auch für den Pluralismus der Wert- und Lebensordnungen gilt, der gerade und allein i n Europa i n den letzten Jahrhunderten geboren wurde, i m Gegensatz zum Monismus aller anderen und älteren Kulturen. M i r scheint, daß dieser Pluralismus nicht nur fähig zum Überleben ist, sondern daß er geradezu die unentbehrliche Grundlage für den Synkretismus praktischer Werthaltungen ist, die w i r i n unserem eigenen Kulturkreis i n gewissem Maße bereits erlernt haben und den es jetzt auf die Menschheit auszudehnen gilt. Und dafür müssen für die Fähigkeit entwickeln, das Anderssein von Anderen nicht nur zu dulden, sondern zu schätzen. Alle uns vorangegangenen Kulturen, auch die vordynamischen europäischen, waren monistisch und deshalb einseitig, wenig elastisch und durch Veränderungen der natürlichen oder sozialen Umwelt leicht gefährdet. Erst i m modernen europäisch-amerikanischen Kulturkreis haben w i r begonnen, Pluralismus als ein Positivum zu schätzen und zu praktizieren — anstatt ihn höchstens als ein unvermeidliches Übel zu erdulden. Jetzt müssen w i r alle Pluralismus, zusammen m i t Empathie und Strategie der Zusammenarbeit, i n den vielfältigeren und weiteren Beziehungen einer komplexen und labilen Globalgesellschaft erlernen. Nur so werden w i r uns die Sozialtechniken gewaltloser Konfliktbeilegung aneignen können, die w i r für die menschheitsweite Friedensordnung brauchen — eine Ordnung, die nicht auf Engeln und Heiligen beruhen kann, sondern nur auf Menschen, aber allerdings solchen, die ihre Lernfähigkeit optimal betätigen. Manche befürworten heute eine Neutralitätspolitik aller europäischen Staaten, um ihre militärische Ausklammerung aus den weltpolitischen Konflikten und damit die Voraussetzung für echte europäische Integration — auch jenseits der Werra und Elbe — zu ermöglichen. M i r scheint, daß man damit nicht konsequent genug denkt. Die gegenwärtige Zerrissenheit der Menschheit muß auch Europa zerreißen. Europa ist immer noch wichtig genug, um die Weltmächte zu veranlassen, sich hier Verbündete und Bollwerke zu schaffen bzw. zu erhalten. Die einzige Aussicht für Europa, sein Überleben und die Erhaltung seiner K u l t u r — und dann erst seine Einigung — zu sichern, liegt i n der aktiven Arbeit an einer globalen Friedensordnung durch allseitigen Abbau antagonistischer Ideologien, durch Versachlichung von internationalen Beziehungen und durch globale Entwicklungspolitik. Die letztere deshalb, w e i l sonst, i m weiteren Verlauf der jetzt angelaufenen Tendenz, immer mehr Vietnams entstehen werden, und damit Anlässe zu erdweiten Konflikten.

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Schon jetzt zeichnet sich deutlich die Neigung der bisherigen zwei Weltmächte der zweiten Nachkriegszeit ab, sich einander anzunähern, um einer Friedensordnung näherzukommen, die mehr sein muß als ein prekäres Gleichgewicht des Schreckens. Bisher hat sich diese Bewegung weitgehend gleichsam über den Kopf Europas hinweg abgespielt (ähnlich, wie sich eine analoge Bewegung zwischen der Sowjetunion und de Gaulles Frankreich jetzt über den Kopf der Deutschen Bundesrepublik hinweg abspielt). Es scheint m i r i m Interesse Europas zu liegen, sich i n diese Bemühungen einzuschalten, um die Rolle des ihnen passiv Ausgesetzten zu vermeiden und die Holle des konstruktiv, aus eigenen, spezifischen Kräften Mitarbeitenden einzunehmen. Nur so könnte es eine endgültige Spaltung Europas zwischen „West" und „Ost" vermeiden, eine Spaltung, die sogar die akute Spannung zwischen den zwei bisherigen Weltmächten, deren Folge sie ursprünglich war, überdauern könnte. Je weniger w i r dabei geschlossen und programmatisch, gleichsam unter einem europäischen Banner marschieren, je mehr w i r umgekehrt offen und pragmatisch denken und handeln, desto besser werden unsere Aussichten sein, die Grenzen Europas behutsam wieder nach Osten zu rücken. Partnerschaft ist allerdings nur möglich unter Menschen oder Sozialgebilden, die einander grundsätzlich gleiche (wenn auch nicht inhaltlich identische) Fähigkeiten zutrauen, zwischen denen also keine Ansprüche auf Über- und Unterordnung erhoben werden. W i r müssen uns also an den Gedanken gewöhnen, daß der entwicklungsmäßige Vorsprung gewisser (durchaus nicht aller) europäischer Völker i n den letzten Jahrhunderten nicht Ausdruck einer genetischen, „rassischen" Überlegenheit gewesen ist, die uns zu einer ewigen Führerrolle berechtigte oder gar („the white man's bürden"!) verpflichtete. Bis tief ins 18. Jahrhundert hat das längst ohnmächtig gewordene Spanien stärkeren Mächten gegenüber sein Besitzmonopol i n der Neuen Welt m i t dem Hinweis auf die päpstlichen Verleihungen zu verteidigen versucht — also m i t Vorstellungen, die der längst entschwundenen mittelalterlichen Welt entlehnt waren 7 . Das heutige Europa ist i n Gefahr, ähnlichen Illusionen zu verfallen, wollte es auf geschichtliche Prioritäten oder auf faktisch nicht mehr vorhandene Ausschließlichkeiten der Begabungen und Leistungen gegenüber den nachdrängenden Völkern anderer Kontinente pochen. Die von Europa ausgelöste universale Expansion der Energien bedeutet, daß sich Europäer, noch mehr als i n den letzten Jahrzehnten, i n effektivem Wettbewerb m i t immer wachsenden Zahlen aktiver, forschender, experimentierender, unternehmerischer Angehöriger anderer 7 A d o l f Rein: Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung f ü r das europäische Staatensystem, Darmstadt 1953, S. 17,

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Kontinente, Rassen und K u l t u r e n werden behaupten müssen. Das w i r d ihnen nur gelingen, wenn sie das Streben nach Verbesserung menschlichen Lebens, den Spürsinn für weitere Horizonte und den M u t zum Risiko der Suche nach Neuem — also Charakteristiken, die ihrer K u l t u r bisher eigen gewesen sind — nicht erlahmen lassen. Nicht zufällig fällt die erste Entfaltung der sozio-kulturellen Dynam i k m i t dem modernen Kapitalismus (was ein Pleonasmus ist) zusammen. Ihre ersten Träger waren überwiegend bürgerliche, privatunternehmerische Elemente. Die Inkonsequenzen und Lähmungen der Dynamik, die Rückfälle i n statisches, kleinräumiges Denken, i n gewaltsame Konflikte, ja Orgien der Zerstörung sind ja wohl durch die nie w i r k l i c h gebrochenen atavistischen Überbleibsel i n den Gesellschaftsstrukturen und damit auch i m Denken und i m Bildungswesen wichtiger europäischer Länder zu erklären: durch Bündnisse von interessenmäßigen Vertretern vordynamischer und vordemokratischer — also statischer und autoritärer — Ordnungen m i t geistigen Vertretern einer romantischen, irrationalen, vergangenheitsverliebten Lebensphilosophie und K u l t u r k r i t i k und des Nationalismus und durch ein damit zusammenhängendes antiquitiertes Interessenbewußtsein, das zu Versuchen der „ S t r u k t u r erhaltung" nicht mehr lebensfähiger Wirtschaftszweige fast u m jeden Preis und zur Nutzbarmachung nationalistischer Affekte für wirtschaftliche Partikularinteressen führte 7 a . Zwei lebenswichtige Fragen müssen jetzt i n Europa beantwortet werden: einmal, ob solche vordynamischen Randschichten weiter dynamische Kräfte lähmen und universale Wachstumsmöglichkeiten verhindern sollen; und weiter, ob es uns gelingt, die dynamisches Wachstum tragenden Schichten über ihre ursprünglichen, i n gesellschaftlichen Minderheitsgruppen beheimateten Initiatoren hinaus zu vervielfältigen, immer breitere Schichten an der Schaffung und Nutznießung von Wohlfahrt zu beteiligen, und damit unsere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme weiter — und vielleicht noch entschiedener als bisher — zu demokratisieren und auch, undogmatisch, zu pluralisieren. Von dieser Fähigkeit Europas, zunächst einmal seine innere Entwicklung konsequent dynamisch und human zu gestalten, w i r d nicht nur seine Stellung i n der Welt von morgen abhängen, sondern seine gesamte Zukunft. Es gilt ferner, der heute so starken Versuchung zu widerstehen, die Rettung Europas i n der neuen Weltsituation von regionaler Integration, also von der Errichtung von Mauern u m eine quasi-autarke „Wohlstandssphäre" relativ entwickelter Völker zu erhoffen. Die Überwindung der noch immer so starken europäischen Nationalismen durch ein wirtschaftlich und politisch geeintes Europa (das nach Lage der Dinge 7a

Vgl. hierzu R. F. Behrendt, Das Grundproblem des Kapitalismus, i n : Zwischen Anarchie u n d neuen Ordnungen, Freiburg i. B. 1967.

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ja ein Rumpfeuropa bleiben müßte, bestenfalls beschränkt auf das Gebiet westlich der Linie Lübeck—Triest) würde die Schaffung eines neuen, nur geographisch größeren nationalistischen Mythos voraussetzen und würde damit die Spaltung Europas, die Distanzen und Spannungen zwischen Europa und der Außenwelt, das Mißtrauen und die Ressentiments der kaum aus europäischer Abhängigkeit Emanzipierten erneuern und vergrößern. Schon die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat — verständlicherweise, aber m i t wirtschaftlich irrationalen Folgen — eine ganze Reihe von außereuropäischer Integrationsbestrebungen auf den Plan gerufen. W i r sind i m Begriff, den Kollektivegoismus mit gutem Gewissen und geistigen Scheuklappen, der für den Nationalismus bezeichnend ist, auf einer lediglich geographisch höheren Ebene zu verewigen und i n seinen Folgen noch gefährlicher zu machen. Die heute beliebte Vorstellung, auf dem Wege von der Nation zur Menschheit müsse man stufenweise vorgehen, m i t Zwischenschaltung der Großregion, ist unrealistisch. Sie verkennt, daß die Überwindung der Widerstände innerhalb eines Kontinents ebenso schwierig ist wie innerhalb einer offenen, grundsätzlichen erdweiten Integrationsbewegung, und sie übersieht, daß w i r keine Zeit mehr haben für den Luxus des Aufbaus neuer partikularer Aktionsgebilde und die sich aus ihnen unvermeidlich ergebenden Rivalitäten. Alles Denken und Handeln, das jetzt nicht global orientiert ist, bleibt i m Provinziellen stecken — also auch das „großregionale". Diese Auffassung unterscheidet sich von derjenigen K a r l Jaspers', der für die Erhaltung eines „Übergewichtes" des „Abendlandes i n der Weltgeschichte" eintritt, für die Schaffung eines „großen Bundes" zwischen Europa und den USA mit „einer gemeinschaftlichen Außenpolitik gegenüber der anderen Welt" 8 . Er meint, die heutige Welt sei immer noch durch die historisch bedingten kulturellen Verschiedenheiten gespalten, und „die Herkunft der gemeinsamen K u l t u r und der Sitten bindet" 9 — was offensichtlich ja nicht der Fall ist, sonst hätten w i r die bisherigen, ihrem Ursprung nach rein europäischen Weltkriege nicht erlebt, und die Appelle an die Einheit des Abendlandes wären weder nötig noch so vergeblich, wie sie es sind. Jaspers spricht zudem noch von „Rasseninstinkten" als mächtiger werdendem „Ursprung der leidenschaftlichsten Gegnerschaft" 9 , was m i r eine gefährliche Verkennung der Tatsachen zu sein scheint: es gibt keine Rasseninstinkte, wohl aber antagonistische gesellschaftliche Verhaltensweisen der Diskrimination von rassisch definierten Gesellschaftsschichten, die sich m i t dem Glauben an Rasseninstinkte zu legitimieren versuchen. Jaspers Haltung w i r d nun aber nicht nur unrealistisch, sondern auch widersprüchlich, wenn er 8 9

W o h i n treibt die Bundesrepublik? München 1966, S. 225. Ebendort.

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einerseits als Zukunftsziel „die verbindende Idee der einen Menschheit" 9 proklamiert, andererseits aber verkennt, daß er deren Herausbildung gerade durch die Forderung nach Stärkung und Aufrechterhaltung der Hegemonie des Abendlandes verhindert. I m Grunde ist gerade die (relative) Beliebtheit der nur-europäischen — wie auch der „abendländischen" oder „westlichen" — Integrationsideen ein weiteres Symptom der Rückständigkeit unseres gesellschaftspolitischen Denkens — vom Fühlen gar nicht zu sprechen, denn die meisten von uns fühlen ja noch immer nicht europäisch oder „abendländisch". Rein lokales und kleinregionales Denken und politisches Handeln i m bloß nationalen Raum beginnt erst heute überholt und unzulänglich zu erscheinen, und auch das nur gegen ernstzunehmende W i derstände. Und dennoch: die nur-europäische Integration würde zu spät kommen. Die Dynamik unserer Zeit ist schon über sie hinweggegangen. Vor 40 Jahren hätte uns Paneuropa vielleicht noch vor dem zweiten Weltkrieg bewahren können 10 . Heute vermöchte es keine der jetzt lebenswichtigen Probleme zu lösen, denn diese sind längst über — das i n mehr als einer Hinsicht so viel kleiner gewordene — Europa und seine Machtsphäre hinausgewachsen. Gewiß, Europa kann und soll uns stets eine A r t erweitertes Heimatland bedeuten, viel mehr als bisher. Dennoch: wenn w i r überleben wollen, müssen w i r unsere besten Kräfte auf die Schaffung größerer, wenn immer möglich erdumspannender Einheiten der Zusammenarbeit richten. W i r müssen die Strategie der Zusammenarbeit mit K u l t u r k r e i sen und Rassen lernen, die w i r bisher als fremdartig, unwichtig oder sogar minderwertig betrachtet haben. Und dies können w i r nicht durch neuerliche Absonderung, sondern nur durch das Wagnis echter Partnerschaft beim Aufbau einer besseren Welt für alle. Zum Schluß müssen w i r noch einmal zu der Frage zurückkehren, die zu Beginn aufgeworfen wurde: was, welche A r t von Einheit — wenn überhaupt — ist Europa heute? Die A n t w o r t kann nun sein: Europa kann, jetzt und i n Zukunft, nicht als fest umrissene räumliche Einheit, sondern nur als ein i n Umfang und Zusammensetzung labiles Gebiet beschrieben werden, i n dem bestimmte geistige und gesellschaftliche Verhaltensweisen vorherrschen, unter ihnen nicht zuletzt die Verbindung von räumlicher Enge mit geistiger Weite und von Nachwirkungen einer langen und komplexen Vergangenheit m i t Bestrebungen nach dynamischer Gestaltung einer als besser betrachteten Zukunft für 10 Bereits vor hundert Jahren prophezeite Constantin Frantz (Die N a t u r lehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaften, Leipzig-Heidelberg 1870), daß die USA u n d Rußland, als „ K o n t i n e n t - L ä n d e r " , sich so k o n solidieren u n d ausbreiten würden, daß Europa zwischen ihnen eingeengt werden würde. Z u seiner Selbstbehauptung forderte er das Ende der nationalstaatlichen Rivalitäten u n d die europäische Föderation.

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grundsätzlich alle. Wenn Europa jetzt und i n der voraussehbaren Zukunft überhaupt ein sozial und politisch relevantes Gebilde sein soll, kann es nur von Völkern und Staaten gebildet werden, die ihre Verpflichtung, aber auch ihre Möglichkeit zu globaler entwicklungsfördernder Partnerschaft anerkennen und praktisch bekunden. Nur so können endlich die vielen bereits bestehenden institutionellen Abmachungen und Gehäuse leistungsfähig, können finanzielle und technische Hilfe menschlich fruchtbar gemacht werden. Das bedeutet vermutlich, daß dieses Europa zugleich kleiner wie auch größer ist, als es den Vorstellungen vieler seiner Gläubigen — und Gegner — oder den diplomatischen und institutionellen Normen entspricht. Seine Grenzen sind ja ohnedies labil geworden. Ob w i r es am Ural enden lassen wollen, wie unsere Geographielehrer und jetzt wieder de Gaulle, oder i n Wladiwostock oder an der Berliner Mauer oder gar an der Elbe, das hängt von der politischen Einstellung, vom geistigen Horizont, aber auch ein wenig von der Stimmung jedes Einzelnen und der jeweiligen politischen Konstellation ab. I n der Hauptsache aber hängt es von der Bereitschaft und Fähigkeit der Europäer ab, zu Partnern i m Bau der humanen Globalgesellschaft zu werden. Man könnte auch die These wagen — und ich möchte es —, daß das Europa, zu dessen Zukunft w i r Vertrauen haben können, sich heute überall — aber auch nur — dort befindet — wenn auch i n verschiedenen Graden —, wohin Dynamik, Aufbruch zu weiteren Horizonten und zu offenen, demokratischen, menschenwürdigen Formen menschlichen Zusammenlebens gedrungen sind 1 1 . Diese Auffassung Europas gründet sich also auf der Erfahrung des letzten halben Jahrtausends; und sie versucht, dem Europa der Gegenwart Impulse und Orientierung zu geben, indem sie es auf die Zukunft vorbereitet und i h m eine Funktion i n ihr zuweist, die sich an der Vergangenheit orientiert und sie gleichzeitig konstruktiv zu überwinden versucht, ohne sie auslöschen zu wollen.

11 Diese Aspekte habe ich näher behandelt i n meinen Büchern: Soziale Strategie f ü r Entwicklungsländer — E n t w u r f einer Entwicklungssoziologie, F r a n k f u r t 1965 und: Zwischen Anarchie u n d neuen Ordnungen, Freiburg i. B. 1967.

Von der Wissenschaft der Zukunft zur Futurologie Von Ossip K. Flechtheim Die Gegenwart ist nie unser Zweck, die Vergangenheit u n d die Gegenwart sind unsere M i t t e l ; die Z u k u n f t allein ist unser Zweck. Biaise Pascal Es ist ein Gesetz i m Leben: wenn sich eine T ü r vor uns schließt, öffnet sich dafür eine andere. Die T r a g i k jedoch ist, daß m a n meist nach der geschlossenen T ü r blickt u n d die geöffnete nicht beachtet. André Gide Diese Radikalisierung des Einsatzes liegt i m Zuge der Zeit. Der Mensch ist eine Aufgabe der Zukunft. Z u keiner Zeit w a r der Wille, frei zu sein, bewußter u n d stärker, zu keiner Zeit die Unterdrückung gewalttätiger u n d besser ausgerüstet. Jean-Paul Sartre

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Ging man i n den ersten Tagen dieses Jahres an einem größeren Zeitungskiosk vorbei, so fielen einem gleich mehrere Publikationen — der „Spiegel", die „Epoca" oder „L'Express" — auf, die sich ausführlich m i t der Zukunft beschäftigten. I n der Tat, die Anteilnahme an den kommenden Dingen scheint außerordentlich stark zu wachsen. Die Bemühungen u m die Aufhellung der Zukunft reichen dabei von den großen utopischen Systemen eines Teilhard de Chardin oder Ernst Bloch bis zu den zahllosen Meldungen i n der Tagespresse, die über den Verkehr von morgen, die „Verbesserung der A-, B - und C-Waffen i n den nächsten Jahren oder den Mangel an Studienräten und Klassenräumen i n der Bundesrepublik um 1970 zu berichten weiß. A u f die Gründe für das so plötzlich zunehmende Interesse an der Welt von morgen w i r d noch einzugehen sein. Unbestreitbar ist, daß Zukunftsforschung heute „gefragt" ist. Auch beginnt sich der Terminus Futurologie nun einzubürgern — in der Bundesrepublik wie i n der DDR, i n Deutschland wie i n Österreich. Hier hat Robert Jungk 1 von der „neuen Wissenschaft", der wis1

Anfänge u n d Z u k u n f t einer neuen Wissenschaft: Futurologie 1985, i n : R. Jungk u n d H. J. Mündt: Unsere Welt 1985, München 1965, S. 13.

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senschaftlichen Zukunftsforschung, als „Futurologie" gesprochen. I n Deutschland war G. von Eynern 2 wohl einer der ersten unter den Sozialwissenschaftlern, der die „Beschäftigung mit der Zukunft", die „Futurologie", als „ein legitimes Anliegen der Wissenschaft" anerkannt hat. Der Ausdruck Futurologie w i r d inzwischen sogar vom Bundesministerium der Verteidigung wie auch vom Staatssekretariat für Gesamtdeutsche Fragen der DDR verwandt 3 . Überschrieb der „Spiegel" seine Titelgeschichte der letzten Nummer des Jahres 1966: „Futurologie: Die Zukunft des Menschen w i r d geplant", so widmete die i n Ostberlin erscheinende „Deutsche Zeitschrift für Philosophie" ihren ersten Beitrag zum 7. Parteitag der SED dem „Zukunftdenken i m Kampf der Ideologien — (einer) K r i t i k der Futurologie". Die Verfasser dieses Artikels stellen nicht ohne Skepsis die Frage, ob die Futurologie „eine vorübergehende Modeströmung oder eine ernstzunehmende Erscheinung" ist. Ihre A n t w o r t ist eindeutig: „Daß die bürgerliche Zukunftsforschung nicht einfach als Modeströmung, Phantasterei, bloße Utopie und Spekulation abgetan oder gar negiert werden kann, darauf weisen sowohl ihr Umfang als auch die Namen ihrer Vertreter hin 4 ." Da mag es angebracht sein, nach Vorgeschichte und Fortgang der Futurologie — diese sei hier zunächst einmal nur m i t den Stichworten Zukunftsforschung, -bewältigung und -bewertung oder Prognose, Planung, Philosophie der Zukunft angedeutet — zu fragen. Was dabei den Ursprung dieses neuen Unternehmens anlangt, so dürfte dieser aufs engste m i t der Entstehung und Fortbildung einer neuen dynamischen Gesellschaft und Kultur, die i n vorher unvorstellbarem Ausmaß zukunftsorientiert ist, zusammenhängen. Nicht als ob der Mensch — nach Ernst Bloch 5 „per se ipsum ein reflektierend-antizipierendes Wesen" — nicht von jeher ganz anders als das Tier i n der Zeitdimension, das heißt i n Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gelebt hätte. Des Menschen Sorge um das Schicksal seines Stammes, seiner Stadt oder seines Volkes mag ebenso alt sein wie sein Fragen nach der Bestimmung seiner Seele und seines Körpers. I m Mittelpunkt der K u l t u r ganzer primitiver Gesellschaften stand oft das Problem des Todes und des Fortlebens nach 2 Gert von Eynern: Tendenzen wirtschaftlicher u n d politischer Annäherung von Ost u n d West, i n : Universitätstage der Freien Universität Berlin, Wissenschaft u n d Planung, B e r l i n 1965, S. 202. 3 Information f ü r die Truppe, 1966, Heft 9, S. 621 ff. u n d Dieter Klein: Soziale Planung f ü r die Zukunft, i n : Wohin? Fragen, Widersprüche, Wege — Gedanken über eine demokratische Z u k u n f t der Bundesrepublik, B e r l i n (Ost) 1966, S. 333 ff. 4 Frank Fiedler u n d Werner Müller i n der Deutschen Zeitschrift f ü r Philosophie, Jahrgang 1967, S. 253 ff.; ähnlich jetzt auch D. Senghaas, Die „ u n i f o r mierte Gesellschaft", i n : Neue Politische Literatur, Jg. 12, 1967, S. 279. 5 Antizipierte Realität — Wie geschieht u n d was leistet utopisches Denken? I n : Universitätstage der Freien Universität Berlin, Wissenschaft u n d Planung, B e r l i n 1965, S. 5.

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dem Tode. Auch die Ägypter taten alles, u m zumindest die Körper ihrer Pharaonen für immer vor dem Verfall zu bewahren. Diese Form der Zukunftsbewältigung lief aber i m wesentlichen auf eine reine Verlängerung der Vergangenheit oder auf eine Jenseitserwartung hinaus. Selbst die Propheten und Seher, die i n Krisenzeiten auftraten, und — etwa i n Israel — ein ganz neues Jerusalem verkündeten, lebten doch ähnlich wie die frühen Christen des niedergehenden Roms i n der Erwartung eines noch weitgehend transzendenten Millenniums. I n seiner Werktagsexistenz blieb der Mensch ein Wesen, das vor allem von der Vergangenheit geprägt war. Als „Gewohnheitstier" orientierte er sich nach wie vor am Gestern und an einem Heute, über das er nicht verfügen konnte, da es entscheidend von den „ewigen" Mächten der Tradition bestimmt war. Über diesen Sachverhalt besteht weitgehende Einigkeit zwischen einem humanistischen Soziologen wie Richard F. Behrendt 6 und einem protestantischen Theologen wie C. H. Ratschow 7. I n der Formulierung des ersteren: „Tausende von Jahren lang haben statisch-hierarchische Gesellschaftsordnungen die Überzeugung von der Machtlosigkeit des Menschen — oder doch der meisten Menschen — gegenüber Natur und Oberen i m Diesseits und Jenseits gepflegt. Erst seit kurzem bahnt sich die Auffassung vom Menschen als Schöpfer von Neuem an, die Auffassung, daß der Mensch nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, sich immer weitere Ziele zu stecken, und daß er gerade damit seine Fähigkeit zu ihrer Verwirklichung stärken könne." Ähnlich Ratschow: „Frühere Jahrhunderte konnten von Größen aus denken, die wie das ,Sein' i n sich ruhend vorgestellt den Eindruck von Haltbarkeit, Beharren und Bodenständigkeit machten. M i t diesen Grundlagen konnte man das Leben bewältigen. Das w i r d nun anders. Lange sich vorbereitend, schon zu Beginn der sogenannten Aufklärung für uns heute sichtbar, kommt das menschliche Leben, die Gesellschaft und die Welt i n Bewegung. Man sieht diese Bewegung und entbindet sie damit zur Rasanz. Lange halten alte Vorstellungen von Ordnung und Gefüge noch stand. Aber die äußere Revolutionierung der technischen Vermögen und der sozialen Fortschritte w i r d zum Schrittmacher des beispiellosen Zerfalls von Ordnung und Gefüge. W i r stehen mitten i n der K u l mination des Prozesses." I m Abendland war unter dem wachsenden Einfluß von Humanismus und Protestantismus, von Rationalismus und Wissenschaft der Prophet immer stärker hinter dem Philosophen zurückgetreten. Der Glaube an 6 Dynamische Gesellschaft — Über die Gestaltbarkeit der Zukunft, Bern u n d Stuttgart 1963, S. 158. 7 Evangelische Theologie i n einer sich wandelnden Welt, i n : Universitas, Jahrgang 22, 1967, S. 627.

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das Tausendjährige Reich war zusehends von der Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft hier auf Erden verdrängt worden. M i t der Säkularisierung dieser K u l t u r verschiebt sich der Schwerpunkt menschlichen Bemühens auf den bürgerlich-kapitalistisch-industriellen Alltag. Die neue Gesellschaft hat eine Vorgeschichte, die sich über Jahrhunderte erstreckt — ihr innerer Dynamismus t r i t t aber doch eigentlich erst i m 18. oder 19. Jahrhundert deutlicher i n Erscheinung. N u n erst rückt die Vorsorge für das Schicksal des Menschen hier und jetzt i n das Blickfeld weiterer Kreise. Nun bot sich die Verbesserung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen als das M i t t e l an, das Los der Menschen erträglich zu gestalten. Nun wurden aber auch geschichtliche Dynamik und gesellschaftlicher Wandel zu Phänomenen, die die bedeutendsten Köpfe zumindest zu beschäftigen, wenn nicht auch schon zu beunruhigen begannen. Nun wurde die Zukunft der Gesellschaft und K u l t u r zu einem der großen Themen der Praktiker und Theoretiker. Dem Aufklärer des 18. Jahrhunderts ging es dabei stets um die Zukunft des Menschengeschlechts hier i m Diesseits — dies gilt für die Enzyklopädisten so gut wie für Rousseau oder Condorcet. Wenn der amerikanische Historiker Carl L. Becker von der „Heavenly City of the Eighteenth Century Philosophers" sprach, so wußte er sehr wohl, daß die französischen Philosophen den Himmel hier auf Erden suchten. Und für diese Erdenkinder proklamierte die Französische Revolution die Fieiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit — freilich würden aus dieser nicht so sehr die Zeitgenossen, als wie vor allem die Nachkommen Nutzen ziehen. Nicht nur u m die Ewigkeit, sondern vor allem u m die Zukunft des Menschengeschlechts geht es auch i n den Systemen von Kant und Fichte. Suchte die Restauration das ancien régime wiederherzustellen, so war doch auch wieder bei manchem Romantiker — in Frankreich und England mehr als i n Deutschland — die Zukunft das große Leitmotiv. Shelley 8 und Heine 9 waren kaum weniger zukunftsorientiert als ein Saint-Simon und Fourier, Owen und Weitling, die in ihren großen sozialen Utopien als A n t w o r t auf die Schrecken und das Elend des Frühkapitalismus ein besseres Morgen entwarfen. I n dieser Frühphase des Industriekapitalismus, der mit seinen ersten großen Krisen die Gegenwart i n Frage zu stellen scheint, ist aber auch die junge Sozial Wissenschaft — von der Sozialphilosophie bis zur politischen Ökonomie — durchgehend gegenwartskritisch und zukunftsbe8 " . . . Shelley is s t i l l . . . a prophet and a seer who, had he survived, w o u l d have become a leader of the proletarian revolt. M a r x himself said that though B y r o n i n m a t u r i t y w o u l d have forsaken the cause of revolution, Shelley w o u l d have gone on from radicalism to socialism." (Crane Brinton i n the Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 14, S. 20). 9 Vgl. die ausgezeichnete A u s w a h l seiner Schriften: W. Drews (Hrsg.), Genius der Freiheit — Heinrich Heines politische Schriften, Baden-Baden o. J.

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zogen. Unter den Junghegelianern spannt sich der Bogen futurologischer Vorläufer von Cieszkowski über Feuerbach und Moses Heß bis zu Marx und Engels. Für den — lange vergessenen — Cieszkowski 10 kann die „wahre Lösung der sozialen Widersprüche i n der Wirklichkeit" nur eine Forderung an die Zukunft sein. Unerschrocken fragt er: „Wenn es also i n der Möglichkeit der Vernunft liegt, das Wesen Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit zu erfassen, warum sollte das Wesen der Zukunft aus dieser Möglichkeit ausgeschlossen bleiben?" Seine A n t wort ist eindeutig: „Die Totalität der Geschichte muß aber bestehen aus der Vergangenheit und aus der Zukunft, aus dem bereits durchgemachten und dem noch durchzumachenden Wege, und daraus entsteht als erste Forderung: die Erkenntnis des Wesens der Zukunft für die Spekulation zu vindizieren." Hegel habe „ i n seinem Werk m i t keiner Silbe der Zukunft erwähnt, . . . W i r unsererseits müssen jedoch von vornherein behaupten, daß ohne die Erkennbarkeit der Zukunft, ohne die Zukunft als einen integrierenden Teil der Geschichte, welche die Realisation der Bestimmung der Menschheit darstellt, unmöglich zum Erkennen der organischen und ideellen Totalität, so wie des apodiktischen Prozesses der Weltgeschichte zu gelangen ist. Darum ist die Feststellung der Erkennbarkeit der Zukunft eine unentbehrliche Vorfrage für den Organismus der Geschichte..." „Jedes geschichtsbildende System vermittelt zugleich zwischen Vergangenheit und Zukunft unserer Daseinsweisen", sagt Friedrich Lenz11 unter Bezugnahme auf Hegel zu Beginn seiner neuesten Studie über Hegels schwäbischen Landsmann Friedrich List. Daß die Zukunft einen besonderen Stellenwert i m System Lists hat, dürfte alles andere als ein Zufall sein. Es hängt sicherlich m i t seinem Glauben an die neue Industrie und seiner Einsicht i n die Wechselwirkung wirtschaftlicher und politischer Faktoren i n einem Zeitalter der Industrialisierung zusammen. So enthüllt die Zukunft ihr Geheimnis erst einer neuen Wissenschaft, heißt es i n dem Abschnitt „Blicke i n die Z u k u n f t " 1 2 . Hier gibt List zu bedenken, daß zwar „dem menschlichen Geist zufällige oder außergewöhnliche Ereignisse der Zukunft verborgen" bleiben: „Aber der Politiker mit Hilfe der Geschichte, der Statistik und der Nationalökonomie vermag doch i n gewisser Beziehung den Schleier der Zukunft m i t einiger Sicherheit oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit 10 H i e r zitiert nach Jürgen Gebhardt, P o l i t i k u n d Eschatologie — Studien zur Geschichte der Hegeischen Schule i n den Jahren 1830—1840, München 1963, S. 130 ff. 11 Friedrich List's Staats- u n d Gesellschaftslehre — Eine Studie zur p o l i tischen Soziologie, Neuwied 1967, S. 5. 12 I n : F. List, Die politisch-ökonomische Nationaleinheit der Deutschen; Schriften, Reden, Briefe, Band 7, (Hrsg. F. Lenz u n d E. Wiskemann), B e r l i n 1931, S. 482 ff.; vgl. auch Bd. 5, B e r l i n 1928, S. 500 f.

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zu lüften. Er weiß z. B., daß große Nationen an Bevölkerung, Reichtum und Macht von Jahr zu Jahr wachsen, die Geschichte, die Statistik, die ökonomischen und politischen Wissenschaften lehren ihn, warum sie wachsen und i n welchem Verhältnis sie wachsen. Er vermag aus ihren bisherigen Zuständen, Bestrebungen und Leistungen auf ihre zukünftigen zu schließen. Er vermag vorauszusehen, wie und wozu jede große Nation durch die Fortschritte anderer großer, m i t i h r rivalisierender Nationen gespornt und aufgestachelt wird, um i n Zivilisation, Reichtum und Macht ihren bisherigen Rang zu behaupten oder womöglich jene zu überholen, und wie und i n welchem Verhältnis Völker, die infolge der ihrer Nationalität anklebenden Mängel i n Macht und Reichtum zurückbleiben, nach und nach absterben und i n Nullität und Unterwürfigkeit verfallen müssen, sofern sie nicht Geist und Kraft genug besitzen, die ihrem Wachstum entgegenstehenden Mängel gänzlich zu besiegen oder doch teilweise aus dem Weg zu räumen." Die Kunst der Vorausschau sei „der eigentliche Beruf des Politikers und Nationalökonomen i n seiner höchsten Bedeutung — nicht der des Diplomaten, der bloß i n Beziehung auf die auswärtigen Verhältnisse die Vorteile des Augenblicks zum Besten seines Landes zu benützen trachtet — nicht der des Gesetzgebers, der nur die Herrschaft des Rechts und der Ordnung i m Innern zu begründen und zu erhalten sucht — noch weniger der des bloßen Administrators, dessen Tätigkeit und Umsicht lediglich auf die Besorgung der laufenden Regierungsgeschäfte sich beschränkt — am wenigsten der des bloßen Finanzmannes, dessen Aufgabe es ist, die Einnahmen m i t den Ausgaben des Staates i m Gleichgewicht zu e r h a l t e n . . . " Für eine Wissenschaft der Zukunft habe nun die Stunde geschlagen i n einer Zeit, „ i n welcher sich i n allen großen Weltangelegenheiten ein Umschwung der Dinge vorbereitet, der i m Verhältnis zu dem, was w i r i n den verflossenen drei Jahrhunderten gesehen haben, nur ein kleines und schwaches Vorspiel gewesen i s t . . . " . Eine neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Epoche beginne nämlich gerade jetzt. „ Z u den riesenhaften Fortschritten i n allen Zweigen der Wissenschaften und der Regierungskunst, zu den großen Erfindungen und Entdeckungen und den daraus erwachsenden unermeßlichen Fortschritten i n allen Zweigen der Produktion menschlicher Genußmittel gesellt sich eine Vermehrung der Bevölkerung und der Kapitale i n allen zivilisierten Ländern, und eine Ausdehnung der K u l t u r auf alle Weltteile und alle Wüsteneien und Wildnisse nah und fern, bis an das äußerste Ende der Welt — gesellt sich ein ökonomischer Umschwung, der m i t Naturnotwendigkeit alle politischen und politisch-ökonomischen Verhältnisse aller Nationen und Länder, der zivilisierten wie der jetzt noch nicht zivilisierten, i m Lauf des gegenwärtigen und des nächsten Jahrhunderts von Grund aus verändern wird. Der Hauptanhaltspunkt für den Politiker, der sich und

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andern einen Begriff von diesem Umschwung verschaffen w i l l , ist die Vermehrung der Bevölkerung, der Kapitale und der produktiven Kräfte überhaupt. Die Erfahrung hat gezeigt, daß unter günstigen Verhältnissen eine Nation alle diese Faktoren der Macht und des Reichtums binnen weniger als einem Menschenalter zu verdoppeln vermag. I n solchen Umständen befinden sich unzweifelhaft Nordamerika und England..." I n der Mitte des nächsten Jahrhunderts werde es nur zwei Riesenmächte und nur drei oder vier unabhängige Nationen oder vielleicht auch eine Pentarchie geben. List wagt diese Voraussage zu machen auf die Gefahr hin, ein Träumer genannt zu werden. Zumindest seien aber seine „Träume nicht durch den A l p der Diplomatie und des Bajonetts erzeugt": „ W i r mögen uns irren; höhere Schickung, menschliche Leidenschaften, Interessen, Gelüste und Verirrungen mögen den von uns bezeichneten Naturgang der Dinge für kürzere oder längere Zeit aufhalten oder i h m eine andere Richtung geben; neue Erfindungen, Entdekkungen und Ereignisse mögen i h n beschleunigen oder unsere Ansicht von der Zukunft teilweise unwahr machen. Etwas und vielleicht sehr viel davon w i r d aber eintreffen, und eines scheint uns jetzt schon gewiß: daß man nämlich durch dergleichen Forschungen i n die Zukunft, insoweit sie auf unzweifelhafte wissenschaftliche Wahrheiten, auf richtige Kenntnis der gegenwärtigen Weltzustände, auf richtige Würdigung der Nationalcharaktere und auf unzweifelhafte Erfahrungen der Vergangenheit gegründet sind, eine Masse von Weisheit und Wahrheit den Regierungen wie den Völkern zum unverweilten Verbrauch ans Licht zu fördern vermag. Ja, uns hat sogar schon die Ahnung beschlichen, es möchte auf diesem Weg eine ganz neue Wissenschaft zu stiften sein, nämlich die Wissenschaft der Zukunft, die zum mindesten so großen Nutzen leisten dürfte als die Wissenschaft der Vergangenheit" Hatte schon Ranke 13 Historie und Politik, die „zugleich eine Wissenschaft und eine Kunst umfassen", so kontrastiert, daß „der Wissenschaft nach" jene „mehr die Vergangenheit, die andere mehr die Gegenwart und Zukunft umfaßt", so ist für L i s t 1 4 die Politik schon früher „ihrem Wesen nach eine Wissenschaft der Zukunft" gewesen, „allein da sie bisher von den Wissenschaften der Gegenwart, der Statistik und Nationalökonomie, nicht zureichend unterstützt war, so blieb sie bis auf die neueste Zeit nur eine schwache und unzulängliche Krücke der D i plomatie. Da die Nationalökonomie nicht von der Natur der Dinge ausging und ein der Natur der Dinge widersprechendes Ziel vor Augen hatte, nämlich die Welteinheit und den freien Handel, so war durch sie 13

Uber die Verwandtschaft u n d den Unterschied der Historie u n d der Pol i t i k , i n : Geschichte u n d P o l i t i k (Hrsg. W. Hofman), Stuttgart 1942, S. 127. 14 List, a.a.O. 5«

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auf dem wissenschaftlichen Weg ein weiter und sicherer Blick i n die Zukunft nicht zu gewinnen. Andererseits war auf dem empirischen Weg die Aussicht i n die Zukunft verschlossen, solange die Dampf- und Maschinenkraft nebst ihren Sprößlingen, worunter hauptsächlich die Riesenfabrikation, das Dampfboot, die Eisenbahn und die Lokomotive usw. gehören, das Licht der Welt noch nicht erblickt und großgewachsen — solange die beiden großen Experimente der Neuzeit, das staatliche von Nordamerika und das industrielle von England, noch nicht zu ihrer vollen Entwicklung gelangt waren. Die Politik konnte unter diesen Umständen kaum zehn Schritte weit vorwärts sehen. M i t Hilfe der reformierten Nationalökonomie glauben w i r aber, ihr Blick könne mindestens zehnmal weiter tragen." Nicht zufällig postulierten also damals ein List wie ein Marx, daß die politische Theorie und Praxis durch die Erkenntnisse der Nationalökonomie bzw. der politischen Ökonomie reformiert oder revolutioniert werden müßten. Teilte List mit Marx die Orientierung an England, so das Interesse an Amerika m i t Tocqueville. I m Gegensatz zu Marx und List hatte für diesen „Propheten des Massenzeitalters" die Massendemokratie etwas Bedrohendes und Unheilvolles. Dennoch war Tocqueville weitsichtig genug, die Welthegemonie Amerikas und Rußlands zu antizipieren — ebenso wie die Uniformität und Zentralisierung der Gesellschaft von morgen. „Ich glaube", schreibt er, „daß i n den demokratischen Jahrhunderten, die sich soeben eröffnen, die individuelle Unabhängigkeit und die lokalen Freiheiten immer ein künstliches Produkt sein werden. Die Zentralisation der Staatsmacht jedoch w i r d natürlich sein 1 5 ." Tocqueville war zu sehr Aristokrat und Diplomat, um Verständnis für die großen sozialökonomischen Trends und Probleme zu haben, die sich aus der Industrialisierung ergeben sollten. Insofern war er weniger ein echter Prophet des neuen Industriezeitalters als etwa ein Sismondi 16, dessen Krisentheorie noch lange — insbesondere i m Marxismus — nachwirken sollte, oder auch ein Lorenz von Stein 17, der unter dem Einfluß Hegels zumindest ein Gefühl für das Gewicht des Pauperismus und des Proletariats entwickelte und die Prognose wagen konnte, daß das Zeitalter der Herrschaft der Arbeit über den Besitz das der „Aus15 Hier zitiert nach J. P. Mayer: Alexis de Tocqueville — Prophet des Massenzeitalters, 2. Auflage, Stuttgart 1955, S. 57; vgl. auch J. Bryce: The Predictions of H a m i l t o n and de Tocqueville, Baltimore 1887. M Z u Sismondi vgl. auch H. Grossmann: Sismondi, i n : Encyclopaedia of the Social Sciences, Band 14, S. 69 f. u n d A. Amonn, de Sismondi, i n : Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 9, S. 278 ff. 17 F. Bülow, L. v. Stein, i n : W.Bernsdorf (Hrsg.): Internationales SoziologenLexikon, Stuttgart 1959, S. 537 f. u n d G. Salomon, Stein, i n : Encyclopaedia of the Social Sciences, Band 14, S. 381 f.

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schließlichkeit des Besitzes" ablösen werde. Alle diese Denker reflektieren schon i n vielfältig widersprüchlichen Brechungen die neuen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft und des Industriekapitalismus — ähnlich und doch auch wieder anders als die Utopisten oder ein Marx und Engels. Die revolutionären Explosionen und die allgemeine Unsicherheit des Frühkapitalismus erleichterten es schließlich auch den neuen Systemen des Sozialismus und der Soziologie, eine Gesamtschau des neuen Zeitalters unter dem Aspekt der Zukunft zu entwickeln. Wie René König 18 andeutet, waren diese Systeme bei dem zukunftsfreudigen Saint-Simon nicht zufällig i n Personalunion entstanden, um sich freilich dann bereits bei Comte voneinander zu scheiden, da sich die Soziologie alsbald m i t der neuen Gesellschaft aussöhnte, während sich der Sozialismus zunächst einmal i n schärfster Opposition zu dieser weiter radikalisierte. II. A u f den Bezug der Soziologie zur Zukunft sei hier nicht näher eingegangen 19 . Das Verhältnis Sozialismus und Zukunft soll hingegen an Hand der Konzeption von Marx und Engels wenigstens gestreift werden. Ähnlich wie für List und Cieszkowski waren auch für die linken Junghegelianer Marx und Engels Vergangenheit und Gegenwart ganz von der Zukunft überschattet. Steht doch i m Mittelpunkt ihrer Konzeption der Mensch als ein eminent dynamisch nach vorwärts wirkendes, praktisches, tätig-sinnliches Wesen, das sich einerseits i n der produktiven Arbeit, andererseits aber auch i n der revolutionären A k t i o n verwirklicht 2 0 . Dient dabei jene vor allem als Schlüssel, die deterministisch bestimmte Gesellschaft der Vergangenheit dem Verständnis zu öffnen, so bestimmt diese eine Gegenwart, die aber nur als Tor zur Zukunft gesehen wird. Die Zukunft ist so die Erfüllung und Vollendung aller Vergangenheit i m Zeichen der Freiheit. Sind „die bürgerlichen Produktionsverhältnisse die letzte antagonistische - Form des gesell18

Soziologie, Das Fischer-Lexikon, F r a n k f u r t 1958, S. 9. Vgl. hierzu O. K . Flechtheim: Soziologie, Politologie, Futurologie: Begriffsbestimmungen u n d Problemstellungen, i n : Neue Sammlung, Jahrgang 7, 1967, S. 185 ff. 20 Vgl. zum Folgenden auch O. K . Flechtheim: Eine Welt oder keine?, F r a n k f u r t 1964, S. 151 ff., Derselbe: Z u r K r i t i k der Marxschen Geschichtskonzeption, i n : Cahiers Vilfredo Pareto, Revue Européenne d'Histoire des Sciences Sociales, Jahrgang 5, 1965, S. 141 ff., Derselbe: History and F u t u rology, Meisenheim am Glan 1966, S. 93 ff. Vgl. ferner F. M. Gottheil: Marx's Economic Predictions, Evanston, Illinois 1966, u n d Theodor Prager: Die Zukunftsvorstellungen des Marxismus, i n : Tagebuch, Jahrgang 21, 1966, Nr. 12, S. 3 ff. 19

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schaftlichen Produktionsprozesses" 21 , so scheidet nach Engels „ m i t der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft... der Mensch endgültig aus dem T i e r r e i c h . . . Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit i n das Reich der Freiheit" 2 2 . Die Vermittlung zwischen der abgestandenen Epoche der Notwendigkeit und der künftigen Ära der Freiheit erfolgt durch das Proletariat und dessen Revolution. K a u m einer sah so deutlich wie Marx das wie Atlas die ganze neue Industriewelt auf seinen Schultern tragende Proletariat i n seinem unendlichen Elend und grenzenlosen Ausgebeutetsein, i n seiner radikalen Heimatlosigkeit und totalen Entwurzelung, aber auch i n seiner ganzen menschlichen Zukunftspotenz. Der Proletarier, der kein Eigentum besaß, der keine echte Familie gründen und ernähren konnte, der vom Staat niedergehalten und von der Kirche m i t billigen Illusionen abgespeist wurde, konnte sich nur emanzipieren, wenn er diese die Vergangenheit symbolisierenden Institutionen radikal abschaffte. Daß er es schon morgen notwendigerweise tun würde, folgte ohne weiteres aus seiner heutigen Not — und der dieser entwachsenden Bildung und Reifung eines revolutionären Klassenbewußtseins. „Es handelt sich nicht darum", verkündete M a r x 2 3 schon früh ganz siegessicher, „was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt, es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche A k t i o n ist i n seiner eigenen Lebenssituation, wie i n der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet." Auch nach dem Scheitern der Revolution von 1848 tröstet sich Marx recht bald über die Länge und Schwere des Weges, der sich jetzt unerwartet vor i h m auf tut. Er ruft nun den Arbeitern zu: „ I h r habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur u m die Verhältnisse zu ändern, sondern um Euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen.. . 2 4 ." Aber auch jetzt steht absolut außer Frage, daß der Funke des zur Tat gewordenen revolutionären Klassenbewußtseins des Proletariats schließlich doch früher oder 21

K a r l Marx: Z u r K r i t i k der politischen Ökonomie, Vorwort, i n : M a r x u n d Engels, Ausgewählte Schriften, Band 1, B e r l i n (Ost) 1951, S. 338. 22 Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, i n : ebd., Bd. 2, B e r l i n (Ost) 1952, S. 141 f. 23 Die Heilige Familie oder K r i t i k der kritischen K r i t i k , hier zitiert nach Marx-Engels: Über historischen Materialismus (ein Quellenbuch, Hrsg. H. Duncker), T e i l I, B e r l i n 1930, S. 45. 24 Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu K ö l n , hier zitiert nach Franz Diederich (Hrsg.): Geschichtliche T a t — Blätter u n d Sätze aus den Schriften und Briefen von K a r l M a r x , B e r l i n 1918, S. 85.

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später das Pulverfaß der bürgerlichen Gesellschaft i n die L u f t sprengen muß und wird. Als Marx i n den vierziger Jahren seine Revolutionsthoerie entwickelt hatte, war er davon ausgegangen, daß i m Gegensatz zu den Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts die Revolution des 19. Jahrhunderts nicht m i t dem Sieg der Bourgeoisie enden könnte, vielmehr durch das Eingreifen des Proletariats zur sozialistischen Revolution und zur D i k tatur des Proletariats weitergetrieben werden müßte. Die „permanente Revolution" bildete also von vornherein einen wesentlichen Bestandteil der politischen Konzeption von Marx und Engels. So erklärte jener i n einem Brief an Weidemeyer 1852 klar und eindeutig, er beanspruche nicht das Verdienst, die Existenz oder den Kampf der Klassen entdeckt zu haben. „Was ich neu tat, war 1. nachweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte, historische Entwicklungskämpfe der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet 2 5 ." Unverändert postuliert M a r x 2 6 noch zwanzig Jahre später i n seiner K r i t i k am Gothaer Programm: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen i n die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats Den minuziösen wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, daß das kapitalistische Privateigentum den K e i m der unvermeidlichen Selbstzerstörung i n sich trüge, diente das ganze späte Lebenswerk Marxens mit der nie vollendeten Sisyphusarbeit am „Kapital". War „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft i n der politischen Ökonomie zu suchen" 27 , so war diese darum durchaus nicht statisch und vergangenheitsorientiert zu sehen, sondern ganz und gar dynamisch und zukunftsgerichtet. Die klassische englische politische Ökonomie, die „dismal science" eines Malthus und Ricardo, sollte nicht nur den allgemeinen Rahmen für das düstere B i l d eines zum Untergang verdammten Kapitalismus liefern; die i n Anlehnung an Adam Smith, Ricardo und die englischen frühsozialistischen Ökonomen entworfene Arbeitswert- und Mehrwertlehre war auch Ausgangspunkt für jene Theorien über die Ausbeutung und Verelendung des seiner Produktionsmittel beraubten „freien" Proletariats, über die Akkumulation und Konzentration des Kapitals i n den 25 K a r l Marx u n d Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, B e r l i n (Ost) 1953, S. 86. 26 Marx u n d Engels: Ausgewählte Schriften, Band 2, S. 25. 27 K a r l Marx: Z u r K r i t i k der politischen Ökonomie, a.a.O., Band 1, S. 337.

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Händen einer stets schrumpfenden Kapitalistenklasse, über die Häufung und Verschärfung der Krisen, die bewiesen, daß die Geschichte des Kapitalismus nur als Vorgeschichte des Sozialismus Sinn machen kann. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus steht dabei nie i n Frage — sie w i r d nicht zufällig als naturnotwendiger Prozeß i m Hegelschen Schema der Dialektik antizipiert: „Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt m i t der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel 29." Das grammatikalische Präsens dieser Thesen darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier eine welthistorische Vorwegnahme und Deutung der Zukunft gewagt wird, und zwar m i t den M i t t e l n materialistischer Dialektik. Für den Sozialisten und Dialektiker Marx ist der Geschichtsprozeß natürlich alles andere als ein schlichter Kausalablauf, der aus einer toten Vergangenheit i n eine dunkle Zukunft führt — die Geschichte der Menschheit erscheint i h m vielmehr als eine zielstrebige, Vergangenheit und Zukunft zur lebendigen Einheit zusammenschließende Totalität. Diese ist einmalig, unendlich, ewig, aber auch i n sich selber geschlossen und wesentlich zeitlich: Man denkt hier an das Hegelsche Gleichnis vom sich i n sich rundenden Kreis. Jedes frühere Entwicklungsstadium enthält bereits i m wesentlichen „organisch" das Zukünftige i n sich. Ein Kritiker, den Marx selber zustimmend zitiert, hat diese organische Seite der Marxschen Methode wie folgt sehr deutlich umrissen: „Demzufolge bemüht sich K a r l Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die i h m zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er m i t der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, w o r i n die erste unvermeidlich Übergehn muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. M a r x betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der 28

K a r l Marx:

Das Kapital, 1. Band, Volksausgabe, B e r l i n (Ost) 1951, S. 803.

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Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen . . . Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt i n der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln 2 9 ." I n der Tat, das ungeheuer reichhaltige empirische Material, das Marx und Engels als Bausteine für ihr Gedankensystem benutzt haben, diente letztlich doch nur dazu, diesen Fortschritt der „gesellschaftlichen Organismen" einsichtig zu machen. Der Glaube an die unabwendbare Fortentwicklung der Geschichte und Gesellschaft zum Sozialismus und Kommunismus beruhte nicht so sehr auf einem kalten, empirisch-wissenschaftlichen — daher auch falsifizierbaren! — Kalkül, als auf einer vorwissenschaftlich-existentiellen Entscheidung und Überzeugung. Als echte Schüler Hegels zweifelten Marx und Engels nie an der absoluten Schlüssigkeit und Verläßlichkeit des von diesem übenommenen dialektischen Entwicklungsschemas. Typisch für dieses ist ja der sich immer wiederholende Umschlag der These i n die Antithese und der absolut sichere Fortgang zur höchsten Synthese. Diese Dialektik verläuft immer nur i n einer einzigen — positiven — Richtung. Als Einbahnstraße führt sie rasch aus den Niederungen einer düsteren Vergangenheit i n die lichten Höhen einer besseren Zukunft. Für Marx muß sich der dialektisch-revolutionäre Umschlag aus jener tiefsten Entmenschung der Menschheit, wie sie die englischen Ökonomisten materialistisch aufzeigen, i n das höchste Menschsein, wie sie die französischen Utopisten idealistisch erträumt hatten, hier und jetzt ereignen. Wahrhaftig, „Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis". Diese Wunderkraft der Dialektik konnte auch nie radikal i n Frage gestellt werden — dazu war die ganze Existenz von Marx und Engels zu sehr auf Erfüllung ihrer Heilserwartung gestellt 30 . Nur, wenn es nicht u m den Erfolg der proletarischen Revolution und des Sozialismus — und damit auch u m den letzten Sinn ihres Lebens — ging, vielmehr u m prosaischere historische Abläufe, finden w i r konkrete Voraussagen, die nicht schematisch, sondern i m besten Sinne des Wortes dialektisch, d. h. so vorsichtig und vielschichtig sind, daß sie uns noch heute als 29

Ebenda, Nachwort zur zweiten Auflage, S. 16 f. Das hat jetzt i m einzelnen nachgewiesen A. Künzli i n seiner monumentalen Psychographie: K a r l M a r x (Wien 1966) — trotz einigen Überspitzungen ist dieses W e r k grundlegend; w e n n sich dagegen W. Hof mann (Stalinismus u n d Antikommunismus — Z u r Soziologie des Ost-West-Konflikts, F r a n k f u r t 1967, S. 135 f.) gegen dieses „aberwitzige Unterfangen" auf Franz Mehring beruft, so k a n n m a n n u r w e h m ü t i g lächelnd feststellen, daß auch kluge Marxisten f ü r Heroenverehrung nicht weniger anfällig sind als bedeutende Hegelianer oder Freudianer (Zur Persönlichkeit dieses vgl. H. W. Puner, Freud — His Life and his M i n d , New Y o r k 1947 u n d 1959). 30

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V o r b i l d e r prognostischer A n a l y s e n d i e n e n k ö n n e n . M a n c h e dieser V o r aussagen, e t w a die ü b e r d i e R e v o l u t i o n i s i e r u n g I n d i e n s 3 1 oder die R e p u b l i k i n C h i n a 3 2 , d i e V e r l a g e r u n g des ö k o n o m i s c h - p o l i t i s c h e n S c h w e r g e w i c h t s v o m A t l a n t i s c h e n z u m Pazifischen O z e a n 3 3 , die k o m m e n d e n W e l t k r i e g e 3 4 , aber auch das A n w a c h s e n d e r P r o d u k t i v k r ä f t e , d i e „ a u t o matische F a b r i k " m i t d e r M ö g l i c h k e i t d e r r a d i k a l e n V e r r i n g e r u n g der Arbeitszeit auf wenige Stunden w ä h r e n d einer begrenzten Lebensper i o d e 3 5 h a b e n sich ganz anders b e w a h r h e i t e t , als d i e Glaubenssätze ü b e r d e n U n t e r g a n g d e r Bourgeoisie, d e n Sieg des P r o l e t a r i a t s , das K o m m e n e i n e r klassenlosen Gesellschaft. H e g e l g i n g es d a r u m , m i t t e l s seiner D i a l e k t i k die bestehenden H e r r schafts- u n d B e s i t z v e r h ä l t n i s s e z u p e r p e t u i e r e n — M a r x w o l l t e dieselbe 31 Die britische Herrschaft i n Indien, und: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft i n Indien, i n : Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Band I, S. 319 ff. u n d 326 ff. 32 „Wenn unsere europäischen Reaktionäre auf ihrer demnächst bevorstehenden Flucht durch Asien endlich an der chinesischen Mauer ankommen, an den Pforten, die zu dem H o r t der Urreaktion u n d des Urkonservatismus führen, w e r weiß, ob sie nicht darauf die Überschrift lesen: République chinoise — Liberté, Egalité, Fraternité." (Revue von K a r l M a r x u n d Friedrich Engels, i n : Neue Rheinische Zeitung — Politisch-ökonomische Revue, Neudruck B e r l i n (Ost) 1955, S. 121. 33 Ebenda, S. 120 u n d 314; vgl. auch Peter Stadler: Wirtschaftskrise u n d Revolution bei M a r x u n d Engels, i n : Historische Zeitschrift, Band 199, 1964, S. 143 ff. 34 Engels hat nicht n u r wiederholt den ersten Weltkrieg erstaunlich richtig prognostiziert, sondern mindestens i n einem F a l l auch den zweiten W e l t krieg. Vgl. folgende Äußerung: Werde Deutschland „aber auch zermalmt, zwischen dem französischen Hammer u n d dem russischen Amboß, so v e r liere es an Rußland Altpreußen u n d die polnischen Provinzen, an Dänemark ganz Schleswig, an Frankreich — ob dieses wolle oder nicht, Rußland werde es verlangen — das ganze l i n k e Rheinufer. E i n so zersplittertes Deutschland könnte die i h m i n der europäischen Entwicklung zukommende Rolle nicht mehr durchführen u n d werde, u m sich am Leben zu erhalten, einen neuen K r i e g zur Wiederherstellung seiner nationalen Lebensbedingungen vorbereiten müssen. Wie sich die Z u k u n f t der deutschen sozialdemokratischen Partei unter solchen Umständen gestalten würde, sei nicht zweifelhaft. Der Zar, Constans u n d Caprivi — oder ihre beliebigen Nachfolger — w ü r d e n sich i n die A r m e sinken über der Leiche des deutschen Sozialismus." (hier zitiert nach G. Mayer, Friedrich Engels, 2. Band, Haag 1934, S. 511). Dagegen hat Engels meines Wissens n u r einmal i n einem Brief v o m 25. 3. 1889 den endgültigen Sieg des Sozialismus i n Frage gestellt: „Quant à la guerre, c'est pour moi l'éventualité la plus terrible. Autrement je me ficherais pas m a l des caprices de M m e la France. Mais une guerre où i l y aura 10 à 15 millions de combattants, une dévastation inouie, seulement pour les nourrir, une suppression forcée et universelle de notre mouvement, une recrudescence des chauvinismes dans tous les pays, et à la f i n u n affaiblissement d i x fois pire qu'après 1815, une période de réaction basée sur l'inanition de tous les peuples saignés à blanc — tout cela contre le peu de chances q u ' i l y a que de cette guerre acharnée résulte une révolution — cela me fait horreur. Surtout pour notre mouvement en Allemagne q u i serait terrassé, écrasé, éteint par la force, tandis que la paix nous donne la victoire presque certaine." (Friedrich Engels, Paul et Laura Lafargue, Correspondance, Band I, Paris 1956, S. 226. 35 Vgl. Künzli, a.a.O., S. 777 ff.

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Dialektik dazu verwenden, die Vergänglichkeit des status quo und die Notwendigkeit einer vollkommeneren Zukunft zu deduzieren. Soweit Hegel und Marx ihre Theoreme nicht als falsifizierbare Hypothesen, sondern als unerschütterliche Glaubenssätze postulierten, mußten sie sich i n Widersprüche und Ungereimtheiten verwickeln, mußten ihnen Formulierungen unterlaufen, die so allgemein sind, daß sie als Leerformeln zur ideologischen Rechtfertigung der gegensätzlichsten Politik zu dienen vermögen. I n jedem Falle mußte sich die Dialektik so aus einem kritischen Hebel i n einen magischen Zauberstab verwandeln. Freilich ist wie bei Hegel so erst recht auch bei Marx und Engels die dialektische Methode nicht nur negativ zu bewerten: Insofern sie ein Gefühl für die Historizität, Bewegung, Offenheit vermittelt, kann sie zum echten Verständnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beitragen. Soweit sie dagegen schematisiert und verabsolutiert, versperrt sie den Zugang zur Zukunft. Selbst wenn Marx anders als Hegel i n seinem System Platz für eine Zukunft, die sich von der Vergangenheit grundlegend unterscheiden soll, schaffen w i l l , so w i r d doch auch i n diesem System diese Zukunft nur als Endprodukt der Vergangenheit und Gegenwart gesehen. Insofern die Revolution und die Diktatur des Proletariats, der Sozialismus und der Kommunismus, die klassenlose Gesellschaft und die harmonische Menschheit der Zukunft bei Marx und Engels nur feststehende, naturnotwendige Größen sind, auf die die ganze bisherige Entwicklung h i n angelegt ist, w i r d die Zukunft wieder zur Utopie und zum Mythos 3 6 — und die Utopie und der Mythos von morgen dienen auch zur ideologischen Legitimierung der gegenwärtigen dogmatischen Theorie und Praxis von Marx und Engels, die nie mehr ernstlich i n Frage zu stellen ist.

36 Das hat niemand früher u n d deutlicher erkannt als J. Rêvai , der bereits 1925 i n seiner K r i t i k an Georg Lukâcs ' „Geschichte u n d Klassenbewußtsein" (Berlin 1923) dieses Problem wie folgt formuliert hat: „Der ,Mensch', nicht der Feuerbachsche, sondern der durch das Proletariat zu v e r w i r k lichende, ist ebenfalls Begriffsmythologie. Aber eine unvermeidliche Begriffsmythologie. Sie ergibt sich f ü r den Standpunkt des Proletariats n o t wendig, w e i l dieses am Wendepunkt zweier Weltepochen steht u n d demnach sowohl die Z u k u n f t als auch die Vergangenheit erblicken kann. Aber die Z u k u n f t ist noch notwendig leer u n d die Vergangenheit trägt, gerade als Totalität, eine undurchdringbare Spur von Irrationalität i n sich. Beides erzeugt die Begriffsmythologie, den Ausdruck der Unfähigkeit, i n den Gegenstand selbst einzudringen 4 . Aber diese Begriffsmythologie ist schon eine p r i n z i piell andere, wie die des bürgerlichen Rationalismus. Denn bei i h m handelt es sich u m den gedanklichen Ausdruck der Unbegreifbarkeit der eigenen geschichtlichen Wirklichkeit, während jene n u r auf G r u n d der Erkenntnis u n d Umwälzung derselben entsteht. Die Reproduktion der Hegeischen A n t i n o m i e n der D i a l e k t i k weist nach vorwärts, nicht nach rückwärts. Die Verwandtschaft zwischen Hegel u n d M a r x ist noch größer, w i e i n der Einstellung von L u kâcs". (Archiv f ü r die Geschichte des Sozialismus u n d der Arbeiterbewegung, Jahrgang 11, 1925, S. 236).

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Diese Mängel deuten darauf hin, daß auch Marx und Engels bei allen genialen Antizipationen typische Kinder des viktorianischen Zeitalters waren und geblieben sind. Ihr System spiegelt deutlich das 19. Jahrhundert wider: Das unvorstellbar rasche Anwachsen der Produktivität war ein Grund für ihren technologischen Optimismus. Das Elend des Proletariats und die Misere des — jüdischen oder nichtjüdischen! — radikalen Intellektuellen i m deutschen Vormärz waren Faktoren, die nicht nur zur totalen Negierung der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern auch als Reaktion auf diese zu einer Verherrlichung der zukünftigen Menschheit führen konnten. Schließlich waren es aber wohl die besonderen Strukturprinzipien des Kapitalismus des vorigen Jahrhunderts, die Marx und Engels zu der Fixierung ihrer historisch-materialistischen Gesamtkonzeption veranlaßt haben. Für den Kapitalismus i m 19. Jahrhundert war typisch, daß sich hier i n vorher nie dagewesener Radikalität die ganze Gesellschaft von unten nach oben, von der materiellen Produktion und der Ökonomie zur Pol i t i k , zum Recht, zur Ideologie h i n aufbaute. So war der homo oeconomicus die für das viktorianische Zeitalter typische sozial-historische Charaktermaske 37 und die von i h m bedingte und doch i h n zugleich bedingende ökonomische Gesetzlichkeit bestimmte die Struktur auch der höheren Sphären der menschlichen Kultur. I n der kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts rationalisierte sich wirklich die Politik immer mehr nach dem Ebenbilde der Wirtschaft und wurde die Psyche des Menschen, soweit sie das Modell des homo oeconomicus störte, ins Unbewußte verdrängt. Das, was Marx den ideologischen Überbau, die juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen und philosophischen Bewußtseinsformen einer Gesellschaft nennt, hatte sich i m 19. Jahrhundert i n der Tat so sehr entleert, daß es zu einem ideologischen Schein, zu einem „falschen Bewußtsein" geworden war, das nicht mehr das wirkliche Handeln und Trachten der Menschen bestimmte, dieses vielmehr nur noch nachträglich rechtfertigte und verhüllte. Für die voll entfaltete „bürgerliche Gesellschaft" — aber auch nur für diese! — gilt wirklich idealtypisch die These von Marx, daß ihre ökonomische Struktur die reale Basis ist, daß die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen und geistigen Lebensprozeß bedingt, daß das gesellschaftliche Sein des Menschen sein Bewußtsein prägt 3 8 .

37

Siehe hier J u t t a Matzner: Der Begriff der Charaktermaske bei K a r l M a r x , i n : Soziale Welt, Jahrgang 15, 1964, S. 130 ff. 38 Wie sogar Lukâcs (a.a.O., S. 249 f.) zugibt, „intermittieren" dagegen die immanenten sozialökonomischen Gesetze i n einer Krisensituation — je größer die Krise, u m so geringer die ökonomische Determiniertheit (vgl. auch Rêvai, a.a.O., S. 235).

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III. I m weiteren Verlauf der Stabilisierung des Hochkapitalismus und der Perpetuierung der bürgerlichen Gesellschaft i n Europa wurde sogar schließlich der Marxismus selber zusehends zu einer leeren Ideologie. Er verlor seine revolutionär-utopische Dynamik mehr und mehr. Die große Zukunftsvision der permanenten Revolution, der Diktatur des Proletariats und der klassenlosen Gesellschaft diente bestenfalls als Inspiration für Maifeiern — i m Werktag der reformistischen Arbeiterparteien verdünnte sie sich zum Kampf um temporäre Reform, um etwas mehr Volksherrschaft und soziale Sicherheit. Erst die Russische Revolution durchbrach die gewerkschaftliche und parlamentarische Routine: Nun schienen die Weltrevolution, die „Große Internationale Sowjet-Republik", die „allgemeine Verbrüderung der Werktätigen", „die lichte Welt des Kommunismus" 3 9 wieder unmittelbar i n Sicht zu sein. Aber i n dem Maße, wie die Weltrevolution ausblieb, verlor man i n Westeuropa und Amerika wieder das Interesse an der Welt von morgen, wandte man sich erneut der immer noch stark vergangenheitsgeprägten Gegenwart zu. Trotz — oder wegen? — zweier Weltkriege, Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Stalinismus blieb erstaunlicherweise die Zukunft bis zur Jahrhundertmitte ein weißer Fleck auf der politischen und geistigen Landkarte des Westens. Als der Verfasser dieser Zeilen 1943 i n den Vereinigten Staaten den Terminus Futurologie prägte, um die Bedeutung der Kategorie Zukunft ins Bewußtsein zu heben, erschien er eher als ein Rufer i n der Wüste. Ein Jahrzehnt später hatte sich die Szene gründlich gewandelt. Nun erregte Robert Jungk sofort allgemeines Aufsehen, als er erklärte: „Die Zukunft hat schon begonnen 40 ." Wie Jungk selber deutlich sah, war seit 1945 unsere Gesellschaft und K u l t u r i n eine neue Phase dynamischer Entwicklung eingetreten. I n der Tat, diese Gesellschaft befindet sich nun i n deren drittem Stadium: Der erste Zeitabschnitt ging 1914 zu Ende, der zweite 1945 mit dem Einbruch des Atomzeitalters. Das Nachhinken unseres Bewußtseins hinter der realen Entwicklung brachte es freilich m i t sich, daß sogar die Krise, i n der sich unsere Zivilisation schon seit dem ersten Weltkrieg befunden hatte, uns erst nach 1945 voll bewußt wurde. I m letzten Drittel des 20. Jahrhunderts liefert nun das 19. Jahrhundert noch ein Rückzugsgefecht, während das 21. Jahrhundert doch schon langsam vordringt. So w i r d jetzt der Charakter einer 39 Dies die Sprache der Kommunistischen Internationale 1919/20 (vgl. O. K . Flechtheim: Die K P D i n der Weimarer Republik, Offenbach 1948, S. 58 u n d Derselbe, Bolschewismus 1917—1967 — Von der Weltrevolution zum Sowjetimperium, Wien 1967, S. 17 ff.). 40 Dieses der T i t e l seines ersten „Best-Sellers" (Bern u n d Stuttgart 1952, rororo-Taschenbuchausgabe 1963).

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revolutionären Epoche deutlich, der, wenn überhaupt, nur mit den „neolithischen" und „städtischen Revolutionen" von vor 10 000 und 6 000 Jahren zu vergleichen ist 4 1 . Während die psychologische und kulturelle Verfassung und Haltung des Individuums wie der Gruppe ebenso wie die sozio-ökonomischen und juristisch-politischen Institutionen immer noch recht starr sind, beschleunigt sich die Wachstumsrate der wissenschaftlichen, technischen, industriellen Erfindungen und Veränderungen i n immer atemberaubenderem Tempo. Noch bis i n unsere Tage hinein war i n der Tat, um Whitehead zu zitieren, „die Zeitspanne bedeutenden Wandels erheblich länger als die eines einzelnen menschlichen Lebens" 42 . I m letzten Drittel dieses Jahrhunderts veralten Arzneimittel wie Flugzeuge, Tanks wie Raketen, physikalische Lehrbücher wie nationalökonomische Vorlesungen innerhalb weniger Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahre. I n Anbetracht des Einbruchs der Atomenergie und der Automation i n unserer Welt, des „Griffs nach dem Weltraum" 4 3 und der „biologischen Revolution" 4 4 , der Perfektionierung der Globalplanungen i m Osten und des Einsetzens von Teilplanungen i m Westen, des Erwachens der Dritten Welt und der Bevölkerungsexplosion kann selbst der ausgesprochene Traditionalist und überzeugte Konservative kaum noch schlicht verkünden, die Zukunft sei ohne besondere Bedeutung für den Menschen, da sie doch nur eine Fortsetzung oder Wiederholung der Vergangenheit darstellen könne. Ja, heute, da w i r uns i m dritten D r i t tel des Jahrhunderts befinden, das Jahr 2000 stets rascher näherrückt und sich damit auch das dritte Millennium am gar nicht mehr so fernen Zeithorizont deutlicher abzuzeichnen beginnt, entdeckt sogar der Neokonservative sein Interesse für die Zukunft — mag dieses auch nicht viel mehr bedeuten als den Glauben, der technisch-wissenschaftliche Fortschritt würde allein alle politischen und wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Probleme lösen und damit jedes Bemühen um radikale Strukturreformen i n Gesellschaft und K u l t u r überflüssig, wenn nicht gar schädlich machen. IV. Eine solche Haltung mag einem zunächst zukunftsfreudig vorkommen — zukunftswissenschaftlich oder futurologisch sollte man sie kaum 41 O. K . Flechtheim: History and Futurology, S. 71. — Nach Paul Bertaux (in: R. Schmid u n d W. Beck (Hrsg.), Geplante Zukunft? Perspektiven für die Welt von morgen, Göttingen 1966, S. 87) entspricht der Übergang von der paleo- zur neotechnischen F o r m der Menschheit der neolithischen Revolution. 42 Hier zitiert nach Flechtheim: History and Futurology, S. 70. 43 Jungk: a.a.O., S. 191. 44 Das umstrittene Experiment: Der Mensch — 27 Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revolution, Sonderausgabe i n der Sammlung: Modelle für eine neue Welt, München 1966.

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nennen. Gibt es aber darüber hinaus ernsthafte Anzeichen dafür, daß sich nun nach einem Jahrhundert die List'sche Idee einer „Wissenschaft der Zukunft" doch realisieren wird? Ist etwa die Futurologie nur ein anderer Name für jene Zukunftswissenschaft? Der Beantwortung dieses Problems mögen w i r näherkommen, wenn w i r zunächst einmal das Wort Futurologie sprachlich analysieren. Zu Gunsten des Terminus Politologie hatte von Eynern 4 5 geltend machen können, daß dieser einheitlich griechischen Ursprungs sei. Gegen den Ausdruck Futurologie läßt sich hingegen einwenden, daß er — wie Soziologie — aus lateinischem und griechischem Wortstamm gemischt sei. (Aus diesem Grunde hat auch ein englischer Philosoph 46 vorgeschlagen, anstelle von Futurologie das griechische Wort „Mellontologie" zu gebrauchen. Diese A n regung krankt leider nur daran, daß dieser Terminus für den typischen Zeitgenossen unverständlich ist.) Wie ein ungarischer Soziologe 47 jetzt zu bedenken gibt, ist aber nicht nur das Wort Soziologie hybrid, sondern auch die Sache selber. Diese Widersprüchlichkeit gilt aber erst recht für die Futurologie — kein Wunder, daß ihr sowohl zu viel wie auch zu wenig Wissenschaftlichkeit vorgeworfen wird. So beanstandet Bertrand de Jouvenel 48 den Terminus Futurologie, weil er uns glauben lasse, es gäbe eine Wissenschaft der Zukunft, die fähig wäre, m i t Sicherheit vorauszusagen, was sein wird. Genau umgekehrt bemängelt neuerdings Robert Jungk 4 9 , der noch 1965 seine Einleitung zur Sonderausgabe „Unsere Welt 1985" „Anfänge und Zukunft einer neuen Wissenschaft: Futurologie 1985" überschrieben hatte 5 0 , diesen Ausdruck, da er „fatale Assoziationen an Astrologie hervorruft". Diesen Einwand habe ich freilich selber bereits 1966 vorweggenommen: „Ja, wenn es nur um die Wortprägung ginge, so sollten w i r nicht vergessen, daß es sogar ähnliche Wortprägungen gibt, die kaum den A n spruch auf Wissenschaftlichkeit i m engeren Sinne erheben — ich meine die Ideologie, von der Astrologie ganz zu schweigen 51 ." Der Terminus Futurologie läßt die Frage, ob w i r es m i t einer neuen Wissenschaft zu t u n haben, bewußt offen — beantworten kann man sie 45 Gert von Eynern: Politologie, i n : Zeitschrift f ü r Politik, Neue Folge, Jahrgang 1, 1954, S. 83. 46 A. R. D. Mathias i n einem Brief an den Verfasser v o m 2. 3. 1967. 47 Tamäs Szecskö: The Frontiers of Sociology, i n : The New Hungarian Quarterly, Jahrgang 8, Nr. 26, 1967, S. 188. (Er erklärt auf S. 189: „Sociology, for many years regarded as a science of today, is beginning to strain at the barriers of time, t r y i n g to look into the future and back into the past"). 48 Die Kunst der Vorausschau, Neuwied 1967, S. 32. 49 Voraussage, Voraussicht u n d Entwurf, i n : E. Mucha (Hrsg.): I m Spannungsfeld — Fünfzehn Jahre Evangelische Akademie B e r l i n 1952—1967, Berl i n 1967, S. 47. 50 München 1965, S. 13. 61 O. K . Flechtheim: Z u r Problematik einer Futurologie, i n : Gewerkschaftliche Monatshefte, Jahrgang 17, 1966, S. 199.

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erst an Hand einer Untersuchung des Inhalts und der Methode des neuen Unternehmens. Vorab sei aber daran erinnert, daß die Entstehung einer Wissenschaft sowohl von der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation und dem jeweiligen Erkenntnisstand wie aber auch von den recht praktischen Bedürfnissen des Augenblicks abhängt. Eine neue Disziplin entspringt nicht wie Pallas Athene i n voller Rüstung dem Haupte Zeus\ Meist ist sie das Resultat einer langsamen Verwissenschaftlichung einer Summe von Erkenntnissen, die schon vorher als populär- oder vorwissenschaftliche Kunde oder Lehre („lore" 5 2 ) existierten. Von welchem Augenblick an man nun eine solche Kunde als Wissenschaft betrachten w i l l oder kann, hängt u. a. von unserem Verständnis des Terminus Wissenschaft ab. Orientiert sich unser Wissenschaftsbegriff noch immer stark an den exakten (oder auch „exaktesten"!) Wissenschaften wie Physik und Chemie, Astronomie und Mathematik, so werden doch immer mehr auch Disziplinen, die nicht „exakte Wissenschaften" i m Sinne der Physik oder Astronomie sind, wie etwa die Meteorologie, die Psychologie oder die Ökonomie, nun ohne weiteres als Wissenschaften betrachtet. Man geht i n der Regel aber noch weiter, indem man auch die Philosophie oder gar die Theologie zu den Wissenschaften zählt. Jedenfalls, wäre es ganz falsch, von einer Disziplin, die sich Wissenschaft nennt, zu verlangen, daß sie nur absolut sichere Erkenntnisse liefere. Jouvenel 5 3 verfällt diesem Irrtum, wenn er erklärt, es könnten nur Fakten gewußt werden, „positives Wissen ist nur i n Verbindung mit der Vergangenheit möglich". Der Begriff Futurologie „wäre durchaus geeignet, die Gesamtheit der vorausschauenden Tätigkeit zu bezeichnen, ließe jedoch den Gedanken zu, daß die Früchte dieser Tätigkeit wissenschaftliche Ergebnisse seien, was sie nicht sein können, da — wie ich schon einmal gesagt habe — die Zukunft nicht der Bereich der unserem Wissen passivisch dargebotenen Dinge ist". W i r dürfen nicht glauben machen, „es gäbe eine Wissenschaft der Zukunft, die fähig wäre, m i t Sicherheit auszusagen, was sein w i r d " . I n Wirklichkeit enthält aber zumindest jede Gesellschaftswissenschaft einerseits induktive Wahrscheinlichkeits-Aussagen, andererseits deduktive Aussagen über sichere Zusammenhänge 54 . Insofern unterscheidet sich die Futurologie von der Soziologie oder Ökonomie, selbst von der Psychologie oder Biologie gar nicht so grundsätzlich — allerdings kann der quantitative Unterschied i n einen qualitativen umschlagen. Wo die 52 Der englische Ausdruck „lore" deutet noch klarer als das deutsche „Lehre" oder „ K u n d e " den Abstand zur Wissenschaft an. So nennen H. E. Barnes u n d H. Becker i h r großes W e r k über die Entstehung u n d Geschichte der Soziologie „Social Thought f r o m Lore to Science" (2 Bände, New Y o r k 1938). 63 a.a.O., S. 19 u n d 32. 54 Vgl. hierzu auch N. M. W Udlers i n : P. Teilhard de Chardin, Die Z u k u n f t des Menschen, Ölten 1963, S. 17 ff.

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Grenzlinie zu ziehen ist, kann jedoch nicht abstrakt und a priori, sonder nur ganz konkret und a posteriori entschieden werden. I m Falle der Futurologie wäre also zu fragen, ob die Zahl und das Gewicht der Prognosen, die hier m i t an Sicherheit grenzender oder doch erheblicher — auch praktisch nutzbringender! — Wahrscheinlichkeit gemacht werden können, mit Anzahl und Bedeutung der Voraussagen i n den anderen Wissenschaften vergleichbar ist. Es sind aber noch andere Momente zu berücksichtigen. Von erheblicher Bedeutung ist die ausgesprochen selbstkritische Haltung der Vertreter einer Wissenschaft. Richtig sieht Jungk 5 5 , daß die Zukunftsforschung sich „wissenschaftlich" nennen darf, „seit sie anfängt, sich selbst i n Frage zu stellen, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und nur noch Hypothesen über künftige Entwicklungen vorzuschlagen, statt eherne Gesetze zu postulieren". Hier drängt sich die Frage nach der wissenschaftlichen Methode auf. Verfügt denn die Futurologie überhaupt über eine solche? Nun ist ohne weiteres einzuräumen, daß die Futurologie nicht über eine einheitliche und nur ihr eigene Methode verfügt. Aber ebenso wenig arbeiten die Geographie, die Politologie oder die Soziologie oder auch, wie von Eynern 5 6 betont hat, die Wirtschaftswissenschaft mit nur einer exklusiven Methode. Und was heißt denn überhaupt „Methode"? Der Index zu dem Werk „Contemporary Political Science" zählt sage und schreibe 46 „Methoden" auf! Zweifellos kennt so gut wie jede Disziplin einen Pluralismus der Methoden, Forschungstechniken, Schauweisen usw. Und so w i r d auch die Futurologie m i t einer Vielzahl von Verfahren und Methoden zu arbeiten haben, die sie sogar mit anderen Diszipliner. teilt und die von der exakten Quantifizierung und Statistik bis zur „begründeten Vermutung" i m Sinne J. L. Faviers und G. Weissers 57 oder der Mikro (Klein)-Utopie, sozialen Imagination und Phantasie Jungks 5 8 reichen. Dabei werden — ähnlich wie i n der Philosophie — in der Futurologie der gesunde Menschenverstand wie aber auch die Intuition eine größere Rolle spielen als etwa i n den exakten Wissenschaften (wo sie aber auch keineswegs fehlen!). Hieran hat jetzt wieder ein amerikanischer Politologe 59 erinnert, der selber von einer „science de la prédiction" zu sprechen wagt. 55

a.a.O., S. 13. Grundlinien u n d Ziele wissenschaftlicher Politik, Bad H o m b u r g v. d. Höhe 1955, S. 19. 57 Über jenen vgl. Jouvenel: a.a.O., S. 33, A n m . 22, über diesen Klaus Lompe: Notwendigkeit, Grenzen u n d Probleme der Zukunftsforschung, i n : Die Mitarbeit, Jahrgang 15, 1966, S. 422. 58 R. Jungk i n : R. Jungk u n d H. J. M ü n d t (Hrsg.), Modelle f ü r eine neue Welt, Band 1: Der G r i f f nach der Zukunft, München 1964, S. 7 u n d 23 ff. 59 Fred C. Ikle: De l'épistémologie des prédictions sociales, i n : Analyse et Prévision, Jahrgang 4, 1967, S. 545 ff. (549). 58

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Jouvenel w i l l dagegen nur eine „Kunst der Vorausschau" kennen. Nun mag die Prognostik auch eine Kunstfertigkeit involvieren — Kunst i m eigentlichen Sinne ist sie aber wohl kaum. Auszugehen ist doch wohl zunächst davon, daß es die Kunst mit einem anderen Material zu t u n hat als die Wissenschaft, daß es bei der Kunst u m das „Schöne", bei der Wissenschaft u m das „Wahre" geht. Die Kunst ist entsprechend stärker subjektbezogen und konkreter als die „objektivere" und „theoretischere" Wissenschaft. Die Wissenschaft strebt nach Allgemeingültigkeit und -Verbindlichkeit — die Kunst soll und darf individuell-expressiv bleiben. Mangel an Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit disqualifiziert die Wissenschaft, nicht aber die Kunst; eine Wissenschaft, die logisch oder dialektisch unzuverlässig ist, w i r d aber dadurch nicht zu einer — schlechten! — Kunst — sie wäre höchstens so schlecht, daß sie eben nicht als Kunst gelten könnte. Die Wissenschaft ist also nicht ein Mehr an Kunst, diese nicht ein Weniger an Wissenschaft. Kunst und Wissenschaft sind verschieden — und gleichwertig. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Kunst, sondern auch für die Beziehung der Sozialwissenschaften zu, sagen w i r einmal, Dichtung, Belletristik oder „fiction". Freilich ist die Stringenz und Evidenz der modernen Sozialwissenschaften geringer als die der klassischen Naturwissenschaften, die Subjekt-Objekt-Beziehung, das Theorie-Praxis-Verhältnis i n den Gesellschaftswissenschaften komplexer und enger als i n den Naturwissenschaften — das Erfordernis der objektiven Theoriebildung bleibt aber so stark, daß der Unterschied zur Kunst auch hier ins Gewicht fällt. Freilich ist der Gegensatz Kunst-Wissenschaft auch wiederum kein absoluter — es gibt Übergänge und Mischformen. Die K u l t u r - und Geisteswissenschaften galten ursprünglich nicht zufällig als „freie Künste". I m anglo-amerikanischen Sprachbereich spricht man von ihnen noch heute als „liberal arts" i m Unterschied zu den „fine arts" und „sciences" (im engeren Sinne). Eine Philosophie, eine Ästhetik, eine Literaturinterpretation oder Historiographie mag so „künstlerisch" sein, daß sie die Trennung von Kunst und Wissenschaft überwindet — die philosophisch-künstlerischen, politisch-historisch-dichterischen Schöpfungen von Dichter-Philosophen wie Pope oder Voltaire, Schiller oder Nietzsche, Ignazio Silone oder Erich Fried lassen sich kaum reinlich scheiden. M i t Recht haben neuerdings A r t h u r Koestler wie Herbert Marcuse auf die Bedeutung der Phantasie und des Schöpferischen i n den K ü n sten wie i n den Wissenschaften hingewiesen. So zieht Koestler 6 0 eine 60 Der göttliche Funke — Der schöpferische A k t i n K u n s t u n d Wissenschaft, Bern 1966, S. 368, 367 f.

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Kurve von der objektiv-nachprüfbaren Chemie über Psychologie, Anthropologie und Geschichte bis zum subjektiv-emotionalen lyrischen Gedicht, u m aber zugleich zu unterstreichen: „Also sind auch i n der Mathematik ,objektive Wahrheit' und ,logische Nachprüfbarkeit' alles andere als absolut. Wenn w i r zur Kernphysik übergehen, werden die Widersprüche und strittigen Auslegungen von Fakten immer häufiger. Je weiter w i r dagegen auf unserem Diagramm von der Welt Poincares zur Welt Botticellis hinabsteigen, desto mehr verändern die Kriterien der Wahrheit ihren Charakter; sie werden immer subjektiver, hängen immer stärker vom Zeitgeist ab. Dennoch muß auch hier das Erlebnis der Wahrheit möglich sein — und sei es noch so subjektiv — damit man Schönheit erleben kann; und umgekehrt verschafft jede noch so abstrakte Lösung eines ,Rätsels der Natur' ästhetische Befriedigung". Für Marcuse 61 ist die Einbildungskraft zu einem Instrument des — pervertierten — Fortschrittes geworden: „Die ehedem antagonistischen Bereiche verschmelzen auf technischem und politischem Boden — Magie und Wissenschaft, Leben und Tod, Freude und Elend. . . . Die abstoßende Verschmelzung von Ästhetik und Wirklichkeit widerlegt die Philosophien, die die ,poetische' Einbildung der wissenschaftlichen und empirischen Vernunft entgegensetzen. Der technische Fortschritt ist von einer zunehmenden Rationalisierung, ja Verwirklichung des Imaginären begleitet. Die Archetypen des Grauens wie der Freude, des Krieges wie des Friedens verlieren ihren katastrophischen Charakter. I h r Erscheinen i m täglichen Leben der Individuen ist nicht mehr das von irrationalen Kräften — ihre modernen Ersatzgötter sind Elemente technischer Herrschaft und ihr unterworfen. Indem sie den romantischen Raum der Phantasie einengt, ja beseitigt, hat die Gesellschaft die Phantasie gezwungen, sich auf einem neuen Boden zu bewähren, auf dem ihre B i l der i n geschichtlich wirksame Fähigkeiten und Entwürfe übersetzt werden. . . . Der wissenschaftliche, rationale Charakter der Phantasie ist seit langem i n der Mathematik, i n den Hypothesen und Experimenten der Naturwissenschaften anerkannt. Er w i r d gleichermaßen anerkannt i n der Psychoanalyse, die theoretisch auf der Annahme einer spezifischen Rationalität des Irrationalen beruht; umgeleitet, w i r d die begriffene Phantasie zu einer therapeutischen Kraft." V. W i r kommen nun zur Abgrenzung der Futurologie. Hier ist gegen H. Schelsky 62 daran festzuhalten, daß durchaus nicht jeder Gegenstandsbereich „ Z u k u n f t " ist. Man muß vielmehr zwischen Wissenschaf61 Der eindimensionale Mensch — Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967, S. 259 f. 62 Planung der Zukunft, i n : Soziale Welt, Jahrgang 17, 1966, S. 155 ff.

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ten der Vergangenheit, „zeitlosen" Disziplinen und ausgesprochen zukunftsbezogenen Wissenschaften unterscheiden. Z u den historischen Disziplinen gehören natürlich die Geschichtswissenschaften i m weitesten Sinne des Wortes, aber auch die Geologie, Zoologie usw. Hierunter würden sogar auch systematische Analysen von sozialen Gebilden und Kulturschöpfungen der Vergangenheit fallen. Typisch für zeitlose Disziplinen wären die Geisteswissenschaften i m engeren Sinne des Wortes wie die Logik und die Mathematik, ferner aber auch die Kunstwissenschaft, Ästhetik und Rechtslehre als Normwissenschaften und schließlich reine Naturwissenschaften wie etwa die theoretische Physik oder Chemie. Ja, sogar i n den eigentlichen Sozialwissenschaften gibt es einen allerdings sekundären Aspekt mehr oder weniger „zeitloser" Beziehungen und Prozesse — man denke etwa an Wieses formale Beziehungslehre oder an die Verwaltungswissenschaft (wobei Verwaltung hier als routinisiertes Verhalten oder „laufendes Staatsleben" i m Sinne von Schäffle und K. Mannheim 63 i m Gegensatz zur dynamischen „Polit i k " gesehen wird). Es existieren also zwei große Sektoren, die alles andere als Zukunft sind — die Sphäre der Vergangenheit und die der gleichbleibenden, sich wiederholenden, „zeitlosen" Daten und Zusammenhänge. Auch wenn sich die Futurologie unter Ausklammerung dieser beiden Bereiche auf die Zukunft beschränkt, bleibt allerdings zu fragen, ob sie nicht einen zu großen (und dabei noch wachsenden) Bereich der K u l t u r und Natur zu erfassen sucht und ob es daher nicht angebrachter wäre, von futurologischen Wissenschaften zu sprechen, um so den zukunftorientierten Aspekt oder „approach" innerhalb der verschiedenen Disziplinen zu betonen. Hiergegen spricht aber, daß der futurologische Aspekt der verschiedenen Disziplinen i n einem echten Zusamenhang steht und es gerade darauf ankommt, die i n den unterschiedlichsten Wissenschaften gemeinsamen Fragestellungen i m Hinblick auf die Kategorie Zukunft herauszuarbeiten. So trüge die Besonderheit der futurologischen Sicht zur Koordinierung der verschiedenen Disziplinen bei. Indem die Futurologie manche Detailforschung getrost der jeweiligen Einzel Wissenschaft überlassen kann und soll und sich auf umfassendere Analysen konzentriert, steuert sie zu einer Synthese sub specie futuri bei. Insofern fungiert sie sozusagen als eine A r t Grundlegung, Synopsis oder gar „Philosophie" der Zukunft. Als solche würde sie die Philosophie der Vergangenheit (Geschichtsphilosophie) wie auch die des Zeitlos-,,Ewigen" („Äternitologie"* 4 ) komplettieren. Die traditionelle Philosophie 63

Ideologie u n d Utopie, 3. Auflage, F r a n k f u r t 1952, S. 98 f. Diesen Ausdruck verdanke ich Aldous Huxley. Er schrieb am 29. 3. 1946 i n einem B r i e f an mich: „ I t h i n k that 'futurology' m i g h t be a very good 64

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würde sich dann i n Äternitologie, Geschichtsphilosophie und Futurologie auffächern. Das Streben nach einer neuen Zusammenarbeit und Druchdringung der klassischen Einzeldisziplinen ist nun überall zu spüren. I n dem Maße, wie sich die alten Wissenschaften immer weiter aufspalten und spezialisieren, wächst um so stärker das Bedürfnis nach neuen Querverbindungen und Vermittlungen, Symbiosen und Synthesen. Die alten Grenzen zwischen Natur und Geist, Organischem und Anorganischem, Psychischem und Sozialem, Staat und Gesellschaft, Politik und W i r t schaft, Kunst und Technik werden problematischer — die neuen Wissenschaften, Theorien und „Philosophien", passen nicht mehr i n die alten Provinzen und Souveränitäten der Universitas litterarum. Obwohl schon Whitehead 65 betont hat, die Aufgabe einer Universität sei die Schaffung der Zukunft, sind unsere Universitäten immer noch vor allem Stätten der Pflege der Vergangenheit. Ohne Ansehen der Person der etablierten Disziplinen versuchen nun Semantik und Kybernetik, Kulturanthropologie und Psychoanalyse, Systemforschung und die sogenannte Polemologie 66 (ein anderer Name für Peace Research oder Friedensforschung), neuen Tendenzen, Problemen und Kräften Rechnung zu tragen. Vielleicht sollte man hierin eine erste Auswirkung der Revolution unseres Zeitalters auf den Bereich von Wissenschaft und Forschung sehen. Sollte das der Fall sein, so hätte die Futurologie ihrerseits zu dieser revolutionären Umwälzung des Wissens und Forschens ihren Teil beizutragen. A n anderer Stelle haben w i r einiges über Inhalt und Aufgaben der Futurologie auszusagen versucht 67 . So können w i r uns hier darauf beschränken, abschließend auf drei Aspekte der Futurologie zu verweisen. Die eine oder andere A r t der Dreiteilung scheint sich nicht zufällig recht verschieden orientierten Beobachtern aufzudrängen. So spricht etwa Jungk 6 8 von Voraussagen, Voraussicht und Entwurf. Während thing, provided the teaching of i t were accompanied by a teaching of w h a t I might call 'eternitology'. I t is not much use k n o w i n g w h a t is likely, given present tendencies, to happen, unless one has clear ideas about man's F i n a l End, i n the light of which those tendencies and their probable outcome can be evaluated." 65 A. J. Johnson (Hrsg.): The W i t and Wisdom of A. N. Whitehead, Boston 1947, S. 94. 66 Das niederländische Friedensforschungsinstitut i n Groningen unter Bert V. A . Röling hat diesen Ausdruck f ü r „Kriegswissenschaft" w o h l zuerst adoptiert. Jetzt gibt es auch ein „ I n s t i t u t Français de Polémologie" i n Paris (vgl. International Peace Research Newsletter, Jahrgang 5, 1967, S. 61 u n d 65). 67 O. K . Flechtheim: Eine Welt oder keine?, F r a n k f u r t 1964, S. 38 ff., Derselbe, zur Problematik einer Futurologie, i n : Gewerkschaftliche Monatshefte, Jahrgang 17, 1966, S. 197 ff., Derselbe, Soziologie, Politologie, F u t u r o l o g i e . . . a.a.O., Derselbe, History and Futurology, S. 63 ff. 88 a.a.O., S. 47.

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Paul Rieger 69 zwischen pragmatischem Planen, dem Handeln und der Reflexion über die i n die Zukunft treibenden Motive und Kräfte des Menschen unterscheiden w i l l , zerfallen für Lübbe70 die Planer i n Pragmatiker, Ideenpolitiker und „solche, denen die große Zukunftshoffnung, die i n Utopie und Gesellschaftsphilosophie lebendig war, i n den planungstechnischen Möglichkeiten unserer Zeit zur Gewißheit geworden ist". Georg Picht' 71 wiederum erklärt, es gäbe „drei Grundformen, in denen sich das menschliche Denken die Zukunft vor Augen zu stellen vermag. Ich nenne sie Prognose, Utopie und Planung". Ich selber habe innerhalb der Futurologie die Lehre der Prognosen und Projektionen, die Theorie der Programmierungen und Planungen und die Philosophie (Methodologie, Erkenntnislehre und Ethik) der Zukunft, d. h. eine K r i t i k der „Ideologie" und „Utopie" (im Sinne K a r l Mannheims 72 ) nebeneinandergestellt und damit zwischen einer an die reine Wissenschaft erinnernden, mehr deskriptiven Seite, einem mehr mit den angewandten Wissenschaften und der Technik vergleichbaren praktischen Moment und einem eher philosophisch-integrierenden, „spekulativen" Gesicht der Futurologie unterschieden. Sicherlich stehen diese drei Seiten wiederum i n Wechselwirkung miteinander: Die Voraussage w i r d die Planungen miteinbeziehen, die Pläne beruhen auf den Voraussagen nicht-menschlicher Daten wie aber auch menschlicher Zielsetzungen, die kritische Auseinandersetzung m i t ideologischen und utopischen Haltungen und Bestrebungen muß unter Berücksichtigung der konkreten Prognosen und Planungen erfolgen. Kurzfristigere und beschränktere menschliche Voraussicht und Vorausplanung werden so zu „aufgehobenen" Momenten langfristigerer und umfassenderer menschlicher Bewertungen und Zielsetzungen, Entwürfe und Visionen. Hier denkt man unwillkürlich an ein Wort von John Dewey 73 über das Verhältnis von Philosophie und Politik: „Die Rolle der Philosophie ist unersetzbar, wenn politische Betätigung über Faustregeln hinauswachsen soll. Nur Leitideen, die selber nicht nachgeprüft sind oder vielmehr i m streng positivistischen Sinne gar nicht nachprüfbar sind, können die Masse der empirischen Details der politischen Praxis zu einem gegliederten Ganzen zusammenfügen und so das Trachten und Bestreben auf bestimmte Ziele zuleiten." 69

S. 5. 70

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u.a.: Modelle der Gesellschaft von morgen, Göttingen, 1966,

H. Lübbe, a.a.O. Prognose — Utopie — Planung, Stuttgart 1967, S. 13. 72 a.a.O., S. 85 ff. u n d 169 ff.; Reinhard Schmid (in R. Schmid u n d W. Beck, a.a.O., S. 92) w i l l zwischen kritischer u n d diagnostischer Utopie unterscheiden; auch Picht (a.a.O., S. 38) spricht der neuen „aufgeklärten Utopie", die die Ergebnisse wissenschaftlicher Prognose aufnimmt, eine kritische F u n k t i o n zu. 73 Hier zitiert nach O. K . Flechtheim: Z u r Problematik der Politologie, i n : W. Bernsdorf u n d G. Eisermann (Hrsg.), Die Einheit der SozialWissenschaften — Franz Eulenburg zum Gedächtnis, Stuttgart 1955, S. 234. 71

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Daß die Futurologie als Lehre von der Prognose und Planung wissenschaftlichen Anforderungen entspricht oder wenigstens i m Prinzip zu entsprechen vermag, dürfte heute auch i n Deutschland immer weniger i n Frage gestellt werden. Sogar i m Bereich der Wirtschaft wächst die Erkenntnis von der Bedeutung der Prognostik und Planung täglich — nicht nur i n der DDR, sondern auch i n der Bundesrepublik 7 4 . Wie steht es aber m i t der Wissenschaftlichkeit der Futurologie als philosophischem Denkansatz und „approach"? Operiert sie als solche überhaupt noch „unparteiisch-objektiv"? Diese schwierige Frage läßt sich summarisch dahin beantworten, daß die Futurologie so lange wissenschaftlich bleibt, wie sie die wohlbegründeten Postulate des Suchens nach Wahrheit, Objektivität und Universalität nicht verletzt. Selbst dort, wo es nur um Wahrscheinlichkeiten „oder begründete Vermutungen", nicht um sichere Erkenntnis, geht, darf die Futurologie den Sachverhalt nicht verschweigen, verzerren oder verfälschen — nicht einmal i m Interesse von so hohen Zielsetzungen wie Frieden und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Lediglich i m Bereich der wirklich offenen Möglichkeiten und freien Entscheidungen kann (und soll!) die Futurologie offen und eindeutig fordern, daß das geschehe, was dem Menschen und der Menschheit frommt. Hier ist daran zu erinnern, daß es der Futurologie i n der Regel nicht um das Verhalten des einzelnen, sondern um das von Gruppen geht. W i r brauchen daher als Futurologen nicht auf die Frage nach der Ob74 F ü r die DDR sei hier n u r das E x t r a - B l a t t der Neuen B i l d - Z e i t u n g Nr. 17, 11. Jahrgang v o m M a i 1967 zitiert: „Der V I I . Parteitag der SED legt umfassende Perspektive der DDR fest — Das Jahr 1980 steht v o r der T ü r — Sie wissen schon heute, was morgen sein w i r d " . F ü r die Bundesrepublik nenne ich n u r folgende Geschehnisse: Über die letzte Jahreshauptversammlung der Deutschen Statistischen Gesellschaft schreibt „Der V o l k s w i r t " v o m 14. 10. 1966 w i e folgt: „Hoffähige Prognose — Der Durchbruch ist da. Die W i r t schaftsprognose, die k u r z - u n d mittelfristige Vorausschau über die w a h r scheinliche Entwicklung unserer Wirtschaft, ist nicht mehr tabu. Die 37. Hauptversammlung der Deutschen Statistischen Gesellschaft, die v o m 5. bis 7. Oktober i n H a m b u r g stattfand, ließ keinen Zweifel mehr daran, daß jetzt auch die ,Amtlichen' ihre Meinung zu diesem bisher heiklen Thema äußern können — u n d wollen! M i t ihrer Hamburger Tagung hat die Deutsche Statistische Gesellschaft die Diskussion u m die Möglichkeiten u n d Grenzen der Wirtschaftsprognose i n der Bundesrepublik gewissermaßen hoffähig gemacht . . . " Günter Menges (ökonometrische Prognosen, Opladen 1967) schreibt i n seiner Einführung: „ A u c h i n der B R D ist jetzt eine stärkere ökonometrische A k t i v i t ä t i n Gang gekommen. Viele Betriebe, v o r allem der Großindustrie, bedienen sich i n wachsendem Maße ökonometrischer Prognosen bei ihrer Planung." Die Verhandlungen der Tagung des Vereins f ü r Socialpolitik i n Hannover 1966 befaßten sich m i t „Rationaler Wirtschaftspolitik u n d Planung i n der Wirtschaft von heute" (erschienen als Band 45, Neue Folge der Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik (Hrsg. E. Schneider), B e r l i n 1967). Der 42. Bundestag des Bundes Deutscher Architekten i n Hannover i m J u n i 1967 stand unter dem Fragezeichen: „ W i e werden w i r weiter leben?" (vgl. die Artikelserie von Gerhard Fauth i m Kölner Stadt-Anzeiger v o m 28. 6. 1967 bis zum 3. 7. 1967).

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jektivität der individuellen A k t i o n und der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Individual-Ethik einzugehen 75 . Was das Handeln von Gruppen anlangt, so läßt sich dieses dagegen zunächst ideologiekritischwissenssoziologisch überprüfen. Jedes System von Aussagen setzt ein M i n i m u m an Wahrhaftigkeit voraus — eine totale Lügenhaftigkeit hebt sich selber auf. Insofern hat E. Brunner 76 recht, wenn er i n der Lüge „eine so fundamentale Störung der Gemeinschaft" sieht, „ w e i l durch sie (die Lüge) das M i t t e l der Gemeinschaftsstiftung, die Hede, verfälscht w i r d . . . " Auch die radikalste Ideologiekritik und Wissenssoziologie setzt Übereinstimmung über die Möglichkeit eines Mindestmaßes an objektiven Aussagen voraus. I m Prinzip kann man daher ideologiekritisch den Maßstab der Wahrheit so an die Aussagen von Gruppen anlegen, daß die Widersprüche zwischen deren verbalen Ansprüchen, Begründungen und Rechtfertigungen und ihrem wirklichen Verhalten offenkundig werden. Jene Aussagen werden so als bewußte oder unbewußte „rationalizations" enthüllt. Man wendet damit auf den Menschen i n seiner ganzen Breite als sinnlich-tätiges Wesen, als homo faber und animal metaphysicum, als Produzenten und Gattungswesen seine eigene Wahrheit an. Noch einen Schritt weiter gehen wir, wenn w i r innerhalb der Praxis einer Gruppe zwischen ihrer wissenschaftlich-technisch-industriellen Zivilisation einerseits und ihrer expressiven K u l t u r (beide Begriffe i m Sinne von A. Weber und R. M. Maclver 77 gebraucht) andererseits unterscheiden, nicht u m die eine Seite von der anderen abzuleiten, sondern u m den notwendigen Zusammenhalt der beiden Aspekte miteinander zu analysieren und die Bedingungen einer harmonischen Ko-Existenz zu entdecken. Dabei kann man durchaus zu der Erkenntnis gelangen, daß die materielle Zivilisation der geistigen K u l t u r angepaßt werden muß oder auch umgekehrt. Man w i r d aber auch unter Umständen sehen, daß der technisch-zivilisatorische Prozeß den Kulturprozeß — und dam i t letztlich den Menschen selber! — zu verschlingen droht, wenn nicht die sozio-ökonomischen und politisch-juristischen Institutionen so „reformiert" oder „revolutioniert" werden, daß sie die beiden Prozesse zu regulieren vermögen. Konkreter ausgedrückt: Es ist nicht ausgeschlossen, daß heute eine durchaus wissenschaftlich-objektive Analyse ergeben würde, daß Katastrophen wie Kriege, Übervölkerung, Erschöpfung der Rohstoffe usw., falls überhaupt, nur vermieden werden können, wenn man etwa a) den technischen Fortschritt sowie die Be75

Vgl. hierzu O. K . Flechtheim: Z u m Wertproblem i n der Politik, i n : Politische Vierteljahresschrift, Jahrgang 5, 1964, S. 188 ff. 76 Das Gebot u n d die Ordnungen, 4. Auflage, Zürich 1939, S. 308 f. 77 Vgl. hierzu O. K . Flechtheim: Grundlegung der politischen Wissenschaft, Meisenheim am Glan 1958, S. 21 ff. u n d Derselbe, History and Futurology,

S. 43 ff.

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völkerungsvermehrung radikal stoppt, was sich als einfach unmöglich erweisen mag, oder b) das Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatensystem so umstrukturiert, daß der technische Fortschritt i n für die Menschheit nützlichere Bahnen gelenkt, damit aber auch die Bevölkerungsvermehrung zumindest verlangsamt wird, selbst wenn das eine erhebliche Minderung gewisser „vested interests" und kultureller Werte mit sich bringen sollte. Hier zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen der Futurologie als Wissenschaft. Als solche w i r d sie möglichst exakt nicht nur die objektiven Entwicklungstendenzen und -kräfte, sondern auch die Probleme und Lösungsmöglichkeiten sowie die Chancen und Kosten der jeweiligen Lösungen anzugeben suchen. Sie w i r d dabei aufzeigen, wo sich die Individuen und Gruppen frei entscheiden können und müssen und welche Folgen ihre jeweilige A k t i o n voraussichtlich haben wird. Die Futurologie mag dabei zu dem Schluß gelangen, daß der ökonomischtechnisch mächtige Mensch i n Zukunft weniger von der Natur abhängen w i r d als seine primitiveren Vorfahren — sie mag aber auch festzustellen haben, daß neue Abhängigkeiten und Zwänge gerade aus der Perfektion des wissenschaftlich-technisch-industriellen Apparates als einer „zweiten Natur" erwachsen mögen. Das absolute Aufgehen der Natur als Objekt i m Subjekt der Geschichte, die totale und permanente Einheit von Theorie und Praxis sind dagegen nur denkbar, wenn die Menschheit je bei Teilhard de Chardins Punkt Omega anlangen sollte 78 . Man hat mit Recht erklärt, Jahrtausende hindurch sei der Menschheit ewiges Heil oder ewige Verdammnis versprochen worden, „Glück i m kosmisch geordneten Staat, i n der materialistischen Gesellschaft, i n der naturnahen Lebensweise. Als höchste Ziele individuellen Strebens w u r den der Heilige, der Übermensch oder das dem Gemeinwohl verpflichtete Insekt propagiert. Was der Menschheit jedoch seit einigen Jahrzehnten — und zwar zum ersten Male i n organisierter Form — angeboten wird, das sind Anpassungsmöglichkeiten" 79 . . . . Allerdings w i r d darum der Futurologe keineswegs eine Anpassung um jeden Preis propagieren — er w i r d sich eher zu dem paradoxen Ausspruch eines Shaw bekennen: „Der vernünftige Mensch paßt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab."

78 P. Teilhard de Chardin: Der Mensch i m Kosmos, 5. Auflage, München 1959, S. 253 ff. 79 W. Wieser: Das umstrittene Experiment: Der Mensch, i n : Das u m s t r i t tene Experiment: Der Mensch, S. 25 f.

Autorität in der modernen Demokratie Von Viola Gräfin von Bethusy-Huc I n der verbreiteten K u l t u r k r i t i k an unserer Zeit spielt die These vom Autoritätsschwund oder völligen Autoritätsverlust i m Bereich des gesellschaftlichen und politischen Lebens eine erhebliche Rolle 1 . A m eindruckvollsten hat diese These Hannah Arendt vertreten, die i n ihrem Essay „Was ist Autorität?" Autorität zwar als eine „ . . . wenn nicht die entscheidende Kategorie menschlichen Zusammenlebens" bezeichnet 2 , gleichzeitig jedoch beklagt, „daß w i r i n der modernen Welt kaum noch Gelegenheit haben, zu erfahren, was Autorität eigentlich ist 3 . Z u dieser Diagnose kommt Hannah Arendt, indem sie den Begriff „Autorität" entsprechend der Substanz des originalen Wortsinns und Sachinhaltes, entsprechend also dem altrömischen Verständnis von „auctoritas" i m Gegensatz zu „potestas" festlegt. Weil der ursprüngliche politische Inhalt des Begriffes das zu weisen Ratschlägen bevollmächtigende Ansehen des römischen Senats war, welches dieser besaß, weil er die Erinnerung an die heilige Gründung der Stadt Rom repräsentierte 4 w i r d das Wesen der Autorität als das zum Gehorsam veranlassende Ansehen definiert, welches i n der Berufung auf oder i n der Verbindung zu einer heiligen Gründung oder Stiftung wurzelt und i n Legierung mit Religion und Tradition auftritt. Auch wenn man davon ausgeht, daß Hannah Arendts Analyse der politischen Verhältnisse i n der Römischen Republik zutrifft, ist ihre am historischen Modell orientierte Bestimmung des Begriffs für das Verständnis moderner gesellschaftlicher und politischer Beziehungen unbrauchbar. Zwar hat Hannah Arendt ebenso wie Dolf Sternberg er 5, Carl Friedrich 6 und Herbert Marcuse 7 ein wesentliches Element des Be1 z. B. G. E. Störring: Das Autoritätsproblem i n der Gegenwart, i n Zeitschr. f. Sozialhygiene 1950, Nr. 1, S. 2; E. Michel: Prozeß Gesellschaft contra Person, Stuttgart 1959, S. 56; R. Hauser: A u t o r i t ä t u n d Macht, Heidelberg 1949; Hannah Arendt: Was ist Autorität? Fragwürdige Traditionsbestände i m politischen Denken der Gegenwart, F r a n k f u r t / M . 1957. 2 Hannah Arendt: a.a.O. 130. 3 Ebenda, S. 117. 4 Theodor Eschenburg , Über Autorität, Frankfurt/M., 1965. 5 Dolf Stemberger: Autorität, Freiheit u n d Befehlsgewalt, Tübingen 1959. 6 Carl Friedrich: Politische A u t o r i t ä t u n d Demokratie, i n Zeitschrift für Politik, Heft 1, 1960. 7 Hierzu auch Herbert Marcuse: I n Studien über A u t o r i t ä t u n d Familie, a.a.O. sowie Erich Fromm , ebenda.

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griffes sehr deutlich herausgearbeitet, die Tatsache nämlich, daß Autorität nicht m i t Gewalt identifiziert werden kann, sondern durch zu Gehorsam veranlassende Zustimmung gekennzeichnet ist. Darüber hinaus hebt sie aber noch ausdrücklich hervor, daß sich erstens „echte" Autorität und Zwang gegenseitig ausschließen, weil immer dort, wo Gewalt angewandt werden muß, Autorität versagt habe, und daß zweitens die einzige Gemeinsamkeit der Partner i n jeder „wahren" Autoritätsbeziehung die Hierarchie sei, deren Legitimität nicht angezweifelt w i r d und die jedem seinen anerkannten und unveränderbaren Platz anweist. Deswegen sei Autorität auch unvereinbar mit Uberzeugung, da diese auf Gleichheit beruhe und Argumentation voraussetze 8. Diese beiden letzten Elemente der Begriffsfestlegung, die zweifellos für das antike römische Verständnis der Autorität charakteristisch waren, weisen — wie Dolf Sternberg er hervorhebt 9 — Hannah Arendts Autoritätstheorie als konservativ aus und reduzieren den Autoritätsbegriff auf einen nicht mehr wertfreien historischen Inhalt, der es unmöglich macht, gegenwärtige politische Ordnungen m i t Hilfe dieser Kategorie zu begreifen oder zu beschreiben 10 . Eine wertfreie Definition des Autoritätsbegriffes gibt Max Horkheimer ll, indem er Autorität als „bejahte Abhängigkeit" bezeichnet, seiner Definition allerdings die Bemerkung vorausschickt, daß jede allgemeine soziologische Begriffsfestlegung solange „schief und unwahr" bleibe, bis sie „zu allen übrigen Bestimmungen der Gesellschaft i n Verhältnis gesetzt werde". Denn allgemeine Begriffe wie der Begriff der Autorität könnten i n ihrer richtigen Bedeutung nur i m Zusammenhang mit den übrigen allgemeinen und besonderen Begriffen der Theorie, d. h. aber als Momente einer bestimmten theoretischen Struktur verstanden werden. Und weil die Beziehungen all dieser Begriffe untereinander, ebenso wie die des ganzen Begriffssystems zur historischen Realität fortwährenden Veränderungen unterworfen sind, ist nach Horkheimer „die konkrete, d. h. wahre Definition einer solchen Kategorie schließlich immer die ausgeführte Gesellschaftstheorie selbst wie sie . . . i n einem geschichtlichen Augenblick wirksam ist". Damit erscheint der Begriff der Autorität als eine soziologische und politische Kategorie, die sich, weil sie stets „sowohl Ergebnis als auch Bedingung der Gesellschaftsbildung ist" 1 2 , simultan mit der gesellschaft8

Hannah Arendt, a.a.O., S. 118. Dolf Sternberger, a.a.O., S. 3. W i l l y Strzelewicz: Der Autoritätswandel i n Gesellschaft u n d Erziehung, i n : Die Deutsche Schule 53, 1961, S. 154 ff. 11 M a x Horkheimer: A u t o r i t ä t u n d Familie, Studien aus dem I n s t i t u t für Sozialforschung, Paris 1936, S. 24. 12 M a x Horkheimer: A u t o r i t ä t u n d Familie. Studien aus dem I n s t i t u t für Sozialforschung, Paris 1936, S. 22. 9

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liehen Entwicklung umformt, die aber immer ein konstantes Element umschließt, daß sich empirisch i n allen geschichtlichen Epochen nachweisen lassen muß. Sowohl Herbert Marcuses ideengeschichtliche Analyse zum Problem der A u t o r i t ä t 1 3 wie auch Theodor Eschenburgs politologische Untersuchung über den Wandel des Autoritätsbegriffes 14 zeigen diesen Zusammenhang, ohne allerdings auf das konstante Element der Autoritätsbeziehung direkt einzugehen. Dieses konstante Element läßt sich am besten beschreiben, indem man Autorität zunächst abstrakt als soziale Beziehung definiert, i n der es zumindest zwei Partner gibt: den Träger der Autorität auf der einen und denjenigen Partner auf der anderen Seite, für den der andere Autorität darstellt, wobei es sich um Beziehungen zwischen Einzelpersonen, zwischen sozialen Gruppen oder zwischen Personen und Institutionen handeln kann 1 5 . Da die Autoritätsrelation durch das Element des freiwilligen Gehorsams und der zur Nachfolge veranlassenden Anerkennung, also durch bejahte Abhängigkeit des einen Partner von dem anderen charakterisiert ist, versteht es sich, daß i n dieser sozialen Beziehung einer der Partner eine Führungs- und Vorbildrolle spielt. Das Wort „Holle" bezeichnet hier Verhaltenserwartungen, die an eine bestimmte Position i n einer bestimmten Ordnung geknüpft sind 1 6 . Da also Autorität niemals ganz getrennt von dem Ordnungszusammenhang, i n dem sie auftritt, zu bestimmen ist, kann — Strzelewicz folgend — die bisherige Bestimmung von Autorität noch dahingehend ergänzt werden, daß eine solche soziale Relation gemeint ist, i n der der eine Partner für den anderen eine meist auch entscheidungsbeeinflussende Führungsund Vorbildrolle spielt und i n der Erfüllung dieser Rolle eine bestimmte Ordnung i n ihren Normen und Zielen garantiert und repräsentiert 17 . Diese abstrakte Festlegung des Begriffs läßt eine wichtige Schlußfolgerung zu: Es kann nicht nur einen Typus oder eine Gestalt der Autorität geben, sondern es muß so viele Autoritätstypen geben, wie es politische und soziale Ordnungstypen gibt 1 8 . Diese Schlußfolgerung deckt sich mit Horkheimers These, daß die Wandlung der Autoritätstypen simultan zu den gesellschaftlichen Veränderungen erfolgt. Denn alle Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen lagen zwar mit etablierten Autoritäten i n Kampf, begründeten aber, indem sie sich durchsetzten, manchmal ohne es zu wollen und meist ohne es zu wissen, neue 13

Herbert Marcuse i n : A u t o r i t ä t u n d Familie, a.a.O., S. 136 ff. Theodor Eschenburg: Über Autorität, F r a n k f u r t / M . 1965. 15 W i l l y Strzelewicz, a.a.O. ifl Vergleiche hierzu auch Theodor Eschenburg, a.a.O. 17 Vergleiche hierzu auch W i l l y Strzelewicz, a.a.O. 18 W i l l y Strzelewicz, a.a.O. 14

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Autoritäten, Instanzen also, denen gegenüber das Abhängigkeitsverhältnis bejaht wurde. So verwarf die Reformation die Lehrautorität der Kirche, begründete aber die Autorität der heiligen Schrift; so verwarf die Aufklärung zwar die moral-philosophischen Dogmen, begründete aber die Autorität der Vernunft, der Urteilskraft und des kategorischen Imperativs. Und so vollendete schließlich der Liberalismus den Abbau der traditionellen Herrschaft, indem er die Monarchie stützte, zugleich aber die Autorität der Verfassung und ihrer Einrichtungen begründete. A l l das zeigt, daß Autorität nicht mit denjenigen historischen Formen der Autorität identifiziert werden darf, die i n Legierung m i t bestimmten Traditionen und Religiosität auftreten. M i t dem Untergang dieser Autoritätsformen ist nicht der Untergang jeder Autorität verbunden, sondern die gesellschaftliche Entwicklung muß als ein dauernder Wandel der Form, i n der Autorität jeweils i n Erscheinung tritt, verstanden werden. Wenn diese These stimmt, ist damit grundsätzlich entschieden, daß auch die demokratische Ordnung Autorität kennen kann. Es drängt sich dann allerdings die Frage auf, welche Autoritätsform für die moderne pluralistische Demokratie charakteristisch ist, und wie diese sich von der Autoritätsstruktur früherer politischer Ordnungen unterscheidet. Die Abhängigkeit zwischen politischer Ordnung und Autoritätsstruktur legt es nahe, bei der Beantwortung dieser Frage von dem politischen Phänomen Demokratie auszugehen, und Demokratie i m Anschluß an Joseph Schumpeter 19 und R. M. Mclver 20 so zu definieren, daß die Differenzen zu anderen staatlichen Organisationsformen deutlich i n Erscheinung treten. Kennzeichen der demokratischen Verfassung sind danach bestimmte Merkmale der Verfahrensweise, durch welche Gesetze erlassen sowie Regierungen eingesetzt werden und die Arbeit der Regierung kontrolliert wird. Als M i n i m u m von Merkmalen, die notwendig sind, u m die demokratische Organisation von anderen politischen Ordnungen abzugrenzen, erscheint die Kombination dreier Prinzipien, nämlich des Majoritätsprinzips, des Freiheitsprinzips und des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit 21 . Vergleicht man diese demokratische Organisationsform m i t dem organisatorischen Grundschema eines autoritären Staatswesens, so kann man den Unterschied idealtypisch so kennzeichnen, daß i m letzteren Fall von der politischen Spitze zur Basis Befehle erteilt und Funktionäre ernannt werden, die Rechenschaftsablegung für die Durchfüh19

J. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie, Bern 1950. R. M. Mclver: Die Regierung i m Kräftefeld der Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M. 1952. 21 Mclver, a.a.O., S. 189. 20

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rung der Aufträge aber von der Basis zur Spitze erfolgt. Dagegen erfolgt i n der demokratischen Ordnung die Auftragserteilung sowie — indirekt — die Ernennung der Exekutive von der Basis der gleichberechtigten Mitbürger zur Spitze, während andererseits die politische Spitze sich vor den Staatsbürgern zu verantworten hat und von diesen kritisiert und abberufen werden kann 2 2 . Sehr prägnant kommt diese Differenz i n der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zum Ausdruck, i n der es heißt, daß nunmehr keine Souveränität, keine staatliche Autorität und Amtsführung als rechtens anerkannt werden sollte, die sich nicht auf den Auftrag und die ausdrücklich erteilte Zustimmung der Regierten stützen könne und sich nicht durch die an diesem Auftrag gemessene und von allen Regierten zu messende Leistung ausweisen kann. Praktisch bedeutet diese neue Legalisierungsprozedur auch eine neue institutionalisierte Form der Führungsauslese und des Führungswechsels, d. h. der Auslese und des Wechsels von Personen oder Gruppen, welche die Autorität staatlicher Amtsführung beanspruchen und denen sie zugestanden wird. I n dem Wechsel der Legalisierungsprozedur, der m i t dem Durchbruch der modernen Demokratie eingetreten ist, ist also gleichzeitig ein Wechsel i n der Auffassung von der Basis der Autorität politischer Amtsführung sichtbar geworden. Die demokratische Ordnungen auszeichnende politische Autorität hat nach Otto Stammer grundsätzlich Auftragscharakter 23 . Das heißt, die i n der Wendung gegen Absolutismus und Halbabsolutismus entwickelte Anschauung der modernen politischen Demokratie, macht den von allen Regierten, prozedurmäßig festgelegten und i m öffentlichen Wettbewerb 2 4 und Meinungsaustausch erteilten Auftrag und die an diesem Auftrag wiederum öffentlich von allen Regierten zu messende und zu kritisierende Leistung zur entscheidenden Legitimitätsquelle für den Autoritätsanspruch staatlicher Amtsführung. Diese Auftragsautorität hat allerdings zwei Seiten: Erstens w i r d durch die kontraktuelle Theorie der Demokratie die Autorität der Verfassung und damit auch der staatlichen Institutionen und Verfahrensweisen von dem ausdrücklich erteilten Konsensus des ganzen Staatsvolkes oder seiner überwiegenden Mehrheit abgeleitet, so daß also alle — Regierende wie Regierte — die institutionelle Autorität der Verfassung und ihre Einrichtungen anerkennen. Zweitens w i r d durch die 22

W i l l y Strzelewicz, a.a.O. Otto Stammer: Politische Soziologie, i n : A. Gehlen u. H. Schelsky (Hrsg.) Soziologie, 1955, S. 260. So auch H. Heller: Die politischen Ideenbereiche der Gegenwart, 1926, S. 49. 24 Dieser Ausdruck stammt von Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie, 2. Aufl., Bern 1950, S. 428. 23

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Legalisierungsprozedur aber auch die jeweilige personelle Besetzung der staatlichen Institutionen und ihre Autorität auf den ausdrücklichen und nicht nur stillschweigenden Auftrag der Regierten gegründet, welche durch freie, gleiche und geheime Wahlen politische Handlungsvollmachten auf Zeit erteilen, wobei i n Umkehrung des berühmt gewordenen Satzes von Friedrich L u d w i g Stahl die Majorität politische Autorität durch den filtrierten Ausleseprozeß über die Parlaments- bis zu den Kanzlerwahlen hervorbringt. Die Autorität der Verfassung ist zweifellos die primäre politische Autorität, leiten doch die politischen Institutionen ihre Autorität direkt von der Verfassung ab, während die Autorität der i n der politischen Verantwortung stehenden Personen einerseits auf dem Auftrag der Wähler beruht, andererseits aber aufs engste m i t der Autorität der wahrgenommenen politischen Ämter verknüpft ist, w e i l alle Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse an politische Ämter gebunden sind. Aber w e i l die politischen Institutionen nur durch Personen wirksam werden können, ist die institutionelle Autorität des Amtes gleichsam nur ein Vorschußkredit an den Amtsinhaber; er muß i h n m i t Zins und Zinseszins zurückzahlen, u m m i t seiner persönlichen Autorität die Amtsautorität wirksam zu machen 25 . Was die Demokratie i n dieser Perspektive auszeichnet, ist die i h r innewohnende Möglichkeit, die Autorität der Institutionen stabil zu halten, und ihrem Verfall durch entsprechende personale Besetzung entgegenzuwirken. Dies aber setzt die politische A k t i v i e r u n g möglichst aller gesellschaftlichen Schichten sowie die Garantie der politischen Grundrechte voraus und fordert von jedem Staatsbürger ein waches und kritisches Interesse am politischen Geschehen, denn nur so kann m i t Hilfe der Wahlen dafür gesorgt werden, daß die persönliche Autorität der Inhaber politischer Ämter der Autorität der Ämter selbst entspricht. I m Gegensatz zur zentralisierten Autorität früherer politischer Ordnungen ist die Autorität i n der Demokratie aber aufgespalten und t r i t t an den verschiedensten Stellen und auf den verschiedensten Ebenen der politischen Ordnung i n Erscheinung 26 . Dieser Pluralismus der Autorität i n den demokratischen Verfassungsstaaten hat zu der besonders von Carl Schmitt vorgetragenen These geführt, daß eine Demokratie nicht fähig ist, aus sich heraus Autorität hervorzubringen, so daß nur eine autoritäre Staatsführung den Staat vor Anarchie bewahren könne. Tatsächlich hat aber die pluralistische Streuung der Autorität sowie ihre dauernde Regeneration die Rolle der Autorität innerhalb der demo25

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Eschenburg: Über Autorität, Frankfurt 1965, S. 178.

Carl G. Friedrich,

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kratischen politischen Ordnungen nicht vermindert, sondern der Möglichkeit nach sogar noch erhöht. Dies ergibt sich schon aus der Notwendigkeit, laufend die Zustimmung für Machtpositionen und politische Entscheidungen sicherzustellen. I n diesen Prozeß der Regeneration politischer Autorität sind alle an der Politik Beteiligten einbezogen, was bedeutet, daß sie sich dauernd bewähren müssen. Und w e i l i n der modernen demokratischen Gesellschaft auch die gesellschaftlichen Werte und Interessen pluralistisch sind, kann diese Bewährung nur i n der wechselseitigen Auseinandersetzung zwischen allen politischen Kräften erfolgen. Auch deshalb ist die Rolle der Autorität i n der Demokratie häufig nicht verstanden worden, und man hat vom Verschwinden der Autorität sprechen können. Aber nur eine autoritäre, auf Macht, nicht auf Vollmacht basierende politische Ordnung schließt wechselseitige politische Auseinandersetzung aus. Eine freiheitliche politische Ordnung dagegen, die ein Gleichgewicht zwischen politischer Entscheidungs- und Handlungsbefugnis und politischer Autorität anstrebt, kann auf die Bewährung der Inhaber politischer Kompetenzen i n der wechselseitigen Auseinandersetzung nicht verzichten. I n der demokratischen Form der Autorität ist die Führungsrolle also geradezu m i t der Aufforderung zu Argumentation und K r i t i k verknüpft. Weit entfernt davon, daß diese A r t der Autorität das Argumentieren zwischen Regierenden und Regierten ausschließt — wie Hannah Arendt es von jeder Autorität fordert — schließt die so verstandene Autorität vielmehr die K r i t i k und das Argument als notwendige Bestandteile der Autoritätsrelation ein 2 7 . Die Führungsrolle w i r d i n diesem Fall anders und vielleicht auch schwieriger sein, aber sie hört deswegen nicht auf, Führungsrolle zu sein. Denn auch i m Appell an Überzeugungen, i m Argumentieren oder i m Anknüpfen an gemeinsame Interessen muß der Führende Überlegenheit i n der Sicherheit, Schlüssigkeit und Schnelligkeit der A r g u mentation auch dann beweisen, wenn er an für alle gemeinsam mögliche Einsichten appelliert. N u r ist diese Überlegenheit nicht absolut, nicht unbedingt und muß nicht notwendig theologisch oder onthologisch gedeutet werden wie i n vielen autoritären Ordnungen. Sie ist vielmehr partiell, temporär, graduell and an die Funktionen des jeweiligen Sachgebietes gebunden. Aber es ist nicht einzusehen, daß sie nicht Führung und Vorbild sei und darin nicht die gemeinsamen Normen repräsentiert und garantiert, das heißt, daß sie nicht Autorität sein könne 2 8 .

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Vgl. Carl Friedrich , a.a.O. Vgl. G. Möbus: A u t o r i t ä t u n d Disziplin i n der Demokratie, K ö l n 1959, S. 7 ff. 28

7 Festgabe für Gert von Eynern

Die „praktischen" Aussagen von Politologie und Wirtschaftswissenschaft Was sagt die Wissenschaftslehre über die Beziehungen zwischen den Wissenschaften von Politik und Wirtschaft? Von Gerhard Weisser Das Problem „Politologie und Wirtschaftswissenschaft" stellt sich dem wissenschaftlichen Denken auf vielen Ebenen der Abstraktion: bei dem Versuch der Systematisierung der Gesamtheit der Wissenschaften als die Frage, ob die beiden Disziplinen je als autonome Wissenschaften ausgebildet werden sollten; i m Bereiche der Logik bei der Bildung der benötigten Begriffe; erkenntniskritisch als Frage nach der Möglichkeit, auf dem gemeinsamen Gebiet dieser Wissenschaften — dem der Gesellschaft — wissenschaftliche Gewißheit zu erlangen; hierbei auch als Bemühen um Klärung, aus welchen Vorräumen innerhalb und außerhalb des Reiches der Wissenschaft die Politologie und die Wirtschaftswissenschaft die Axiome einerseits ihrer feststellenden und andererseits ihrer festsetzenden (empfehlenden) Aussagen (ihrer unzweckmäßig „Werturteile" genannten Lehrsätze) beziehen müssen und i n welchem Verhältnis solche von jenen beiden Wissenschaften benötigten Axiome zueinander stehen; innerhalb jeder der beiden Wissenschaften als Frage nach den linear kausalen Wirkungslinien und nach den Interdependenzen, die bei explikativen Aussagen der beiden Wissenschaften unmittelbar und bei praktischen Aussagen als Bedingungen der Realisierung des Erstrebten interessieren; innerhalb der praktischen („normativen") Teile der beiden Wissenschaften als das Popper-Problem: generelle Konzeptionen oder „piecemeal social engineering"?; bei den generellen Konzeptionen für die Gestaltung der Gesellschaft als Probleme der Gestaltungsmethoden, so i n Bezug auf die Frage „Lenkungsautomaten oder jeweils geplante Lenkung?"; als Frage ferner der Subjekte der Lenkung. Schließlich ergibt sich das Problem bei den beiden Wissenschaften angesichts jeder Aufgabe immer von neuem bis h i n zur Lösung der speziellsten und konkretesten Einzelfragen. Die folgenden Ausführungen befassen sich m i t allen diesen Fragen. Das Schwergewicht liegt auf den Ausführungen über das Maß an Gültigkeit und an Präzision, das der Sozialwissenschaftler — hier der Politologe und der Wirtschaftswissenschaftler — überhaupt oder bis heute 7*

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bei seinen Aussagen erreichen kann, und auf der Stellungnahme zu der Frage, wieweit der Sozialwissenschaftler dem Praktiker der Gestaltung sozialen Lebens als Ratgeber die Entscheidung abnehmen kann, so daß der Ratempfänger insoweit vom Wagnis befreit wird. Der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Gert v. Eynern , dem die vorliegende Festschrift gewidmet ist, gehört nicht zu denjenigen, die aus methodologischen Vorlieben heraus oder traditionsgebunden Gefahr laufen, durch vorschnelle Beantwortung dieser Fragen oder durch die künstliche Verengung des Komplexes der Grundfragen der von i h m vorzugsweise bearbeiteten sozialwissenschaftlichen Disziplinen die Fruchtbarkeit der Lehren zu verringern oder zu gefährden. I.

Diese Fruchtbarkeit der beiden Disziplinen kann bereits sehr beeinträchtigt werden, wenn die Bearbeiter das Bestreben haben, sie i m System der Wissenschaften als autonome oder doch i n Bezug auf ihre Grundvoraussetzungen weitgehend autarke Wissenschaften auszubilden; sei es, daß sie sie dabei auf rein explikative Aussagen beschränken wollen, sei es, daß sie sogar auch die grundlegenden Aussagen praktischer („normativer") A r t innerhalb der beiden Wissenschaften selbst gewinnen wollen. Die Stellungnahme zu diesen Absichten und Meinungen w i r d sich uns aus dem ganzen Gedankengang dieser Abhandlung ergeben. Doch läßt sich vorweg schon folgendes sagen: Mindestens unter heutigen geschichtlichen Bedingungen können die Wirtschaftswissenschaft und die Politologie ergiebig für die Praxis nur als Disziplinen betrieben werden, die wie jede sozial wissenschaftliche Spezialdisziplin i n ständiger Fühlung mit anderen Disziplinen stehen. Beide Wissenschaften können optimale Fruchtbarkeit nicht erreichen, wenn sie auf sogenannte reine Theorie beschränkt werden. Das gilt sowohl für die reine Theorie der Wirtschaft wie für die reine Theorie der Politik, d. h. jene Theorie, die i n Nachfolge Machiavellis, heute auch i m Streben nach Mathematisierung, immer wieder versucht wird. W i r werden darlegen müssen, daß zu den explikativen und „praktischen" Grundvoraussetzungen beider Wissenschaften Sätze gehören, die Nichtevidentes ausdrücken. T r i f f t dies zu, dann dürfen diese Prämissen nicht wie etwas Selbstverständliches oder gar nur stillschweigend vorausgesetzt werden. Mindestens dann müssen sie als korrekt eingeführte Axiome aus anderen, insoweit logisch vorgeordneten Wissenschaften oder, hinreichend interpretiert, aus dem außerwissenschaftlichen Raum bezogen und den beiden Wissenschaften zugrunde gelegt werden. Sie werden i n diesen Vorfeldern als Lehrsätze oder doch als möglichst klar

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interpretierte außerwissenschaftliche Aussagen gewonnen. Die i n ihnen bezeichneten psychischen Größen lassen sich aber zu einem großen Teil nicht unter Verwendung von kardinalen Zahlen oder auch nur — zwischen festgelegten Polen — ordinal bestimmen. Es läßt sich also nicht erreichen, daß i n vollkommen operationalen Aussagen eindeutig „Präferenzen" und Rang-Skalen angegeben werden. Die Datenkränze der Modelle der sog. reinen Theorien können vielmehr i m Bereich dieser psychischen Daten erst auf der Ebene mittlerer Abstraktionsgrade geflochten werden. Das bewirkt, daß sehr Zentrales oft als „Randbedingungen" bagatellisiert wird. Die explikativen Aussagen sind dann unrealistisch, und die „praktischen" geraten dann i n Gefahr, das gesellschaftliche Geschehen zu vergewaltigen. Das Wort „praktisch" bezeichne hierbei — etwa i m Sinne der „ k r i t i schen Philosophie" — die unmittelbaren, d. h. ihren Gegenstand um seiner selbst w i l l e n positiv oder negativ schätzenden personellen Grundanliegen (Triebe, Interessen und inneren Bindungen), auf der Grundlage bestimmter Philosopheme auch die als unmittelbar gültig anerkannten „naturrechtlichen" Grundnormen, ferner die Gesamtheit der mittelbaren Interessen und mittelbaren inneren Bindungen, die aus den unmittelbaren Anliegen und aus den jeweiligen Fakten i n Verbindung mit festgestellten oder vermuteten empirischen Gesetzmäßigkeiten resultieren, sowie die so gewonnenen punktuellen oder systematisierten, wissenschaftlich konzipierten Vorsätze des Willens (Pläne, Programme, Verfassungen), i m besonderen auch so abgeleitete Empfehlungen und Warnungen. Die Ausdrücke „Werturteil" und „normativ" sollten nicht mehr i n der bisherigen Weise verwendet werden. Der erste hat durch seinen essentialistischen Beigeschmack die Diskussion beinahe hoffnungslos verwirrt. Der zweite bezeichnet nur einen Teil der immer wieder auflebenden Diskussion; er lenkt durch Abzielen nur auf Normen i m besonderen von den erforderlichen Bemühungen um umfassende und eingehende psychologische Grundlagen der Sozialwissenschaften ab, über die sich ältere Philosophenschulen wie diejenige von Jakob Friedrich Fries und seinen Nachfolgern bis zu Nelson und den Nelsonianern durchaus klar waren. Diese psychologischen Grundlagen betreffen nicht die Gültigkeitsfrage, sondern die interpretative Aufhellung des Inhalts der „praktischen" (nicht nur „normativen") Grundvoraussetzungen. II. Da dies alles nicht nur für Wirtschaftswissenschaft und Politologie, sondern für alle sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen gilt, werden w i r hier zu der Frage nach dem zweckmäßigen Aufbau des Systems der

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Wissenschaften von den Gesellschaften der Menschen geführt. Ist nicht eine sehr sorgfältige und bei den heutigen geschichtlichen Bedingungen z. T. neuartige Beantwortung der Frage erforderlich, welcher Grunddisziplinen das überaus weite und i n viele Stockwerke gegliederte Gebäude der Lehren über den Gegenstand „Gesellschaft" bedarf? Ich bejahe diese Frage und empfehle seit längerem zwei Grunddisziplinen neben Soziologie und Sozialhistorik, deren eine die allen Spezi aldisziplinen gemeinsamen logischen, erkenntniskritischen und methodologischen Grundprobleme behandelt und deren andere die Axiome der praktischen Teile der Spezialdisziplinen und generelle Konzeptionen der Gestaltung der Gesellschaft erarbeitet. Eine Fülle von Gründen spricht dafür, daß bei Bemühungen um eine z. T. neue Systematisierung der sozialwissenschaftlichen Aussagen die explikativen von den „praktischen" Aussagen getrennt werden, so daß jede sozialwissenschaftliche Grund- und Spezialdisziplin einen explikativen und einen „praktischen" Teil hat. Dies dürfte von der methodologischen Seite her zur Beendung des Streites um die sog. Werturteile beitragen. Doch kann es i n dieser Abhandlung nicht ausführlich behandelt werden. III. Nunmehr wenden w i r uns einigen Erwägungen logischer A r t zu; und zwar i n erster Linie den gängigen Definitionen der Begriffe, die mit den Worten „ P o l i t i k " und „Wirtschaft" bezeichnet werden. Schon hier ergeben sich Schwierigkeiten. I n der Wirtschaftswissenschaft gibt es keine allgemein anerkannte Regel für die Verwendung des Wortes Wirtschaft. Es ist überhaupt nicht klar, welcher Begriff sich am besten dazu eignet, als Grundbegriff dieser Wissenschaft verwendet zu werden. Nicht viel anders ist die Lage bei der Politologie. Wissen w i r — weiß i m besonderen der ratsuchende Praktiker — nicht genau, worüber die Ratempfänger beraten werden und worüber nicht, kann der Wert der ihnen gewidmeten Ratschläge nicht optimal sein. Begriffe werden nicht festgestellt, sondern festgesetzt. Sie werden gebildet, d. h. man stellt Erwägungen an und entscheidet sich dann. Diese Entscheidungen bedürfen wie alle Entscheidungen der Kriterien, von denen aus sich das Für und Wider der betreffenden A k t i o n — hier also der Bildung eines bestimmten Begriffs — ergibt. Die Kriterien werden zwar oft wenig bewußt angewendet; aber es ist logisch nicht möglich, Entscheidungen ohne Kriterien der Wertung zu treffen. Dabei ist es nur als vereinfachte façon de parier zulässig, daß das K r i t e r i u m

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als Grad der „Opportunität" des betreffenden Begriffs bezeichnet wird. Opportun nennen w i r etwas, wenn w i r sagen wollen, daß es sich wegen seiner Nützlichkeit empfiehlt; und über Nützlichkeit können w i r nichts sagen, wenn uns nicht wenigstens i m Gefühl bewußt ist, i m Dienste welcher Zwecke sich die Nützlichkeit ergeben soll. (Man spricht hier gern von „letzten" Zwecken.) Opportunität an und für sich gibt es nicht. Begriffe werden so gebildet, daß aus der Fülle der Eigenschaften der unter sie fallenden beobachteten oder i n der Phantasie vorgestellten Gegenstände eine Reihe von interessierenden Eigenschaften gebündelt als Merkmale hervorgehoben wird, während die anderen i m Dunkel bleiben, weil sie i m Hinblick auf das, was geklärt werden soll, als nicht interessant gelten. Wenn Gegenstände unter einen Begriff subsumiert werden, interessieren sie als Elemente einer Klasse oder eines „Typs", z. B. eines Typs der Gesellschaftsordnung, und nicht als Individuen. Näheres darüber kann hier nicht ausgeführt werden. Auch ist es i n diesem Beitrag nicht möglich, die Diskussion über die Bildung der Grundbegriffe der Wirtschaftswissenschaft und der Politologie ausführlich wiederzugeben und erschöpfend über präzisierte Vorschläge für die Bildung und Benennung der beiden hier benötigten Begriffe zu berichten oder selbst solche Vorschläge zu machen. Ich beschränke mich auf Andeutungen. Was zunächst die Begriffe anlangt, die i n den Fach- und Umgangssprachen unter Verwendung des Wortes „Wirtschaft" bezeichnet werden, so möchte ich hier die folgenden behandeln 1 . Der eine der gebräuchlichen, m i t „Wirtschaft" bezeichneten Begriffe hat — mit gewissen Nebenmerkmalen oder ohne solche — als Merkmale uneingeschränkt die Aktionen und Einrichtungen zur Deckung der Bedürfnisse an knappen Mitteln der Bedarfsdeckung („Gütern"); die anderen — heute i n der Begriffsbildung der Wissenschaft vordringenden — Begriffe erfassen als Merkmale nicht oder nicht nur jene Aktionen und Einrichtungen, sondern ein bestimmtes Verfahren bei den Aktionen (einschließlich derjenigen zur Gestaltung der Einrichtungen). Gemeint ist das Verfahren nach der Regel der Wirtschaftlichkeit. Das Maß, i n dem dieses Verfahren gewollt wird, kann verschieden sein; es handelt sich um einen Typusbegriff. Hierbei kann dem Umstand, daß sich ein Angebot an knappen Gütern durch Arbeit vermehren läßt, i n geeigneter Weise durch Aufnahme entsprechender Merkmale i n den Begriff des Verhaltens nach der Wirtschaftlichkeitsregel Rechnung getragen werden. Da Arbeit aber nicht nur negativ als Last, sondern auch positiv 1 Ausführlich habe ich mich darüber u. a. i m A r t i k e l „Wirtschaft" des Handbuchs der Soziologie, hrsg. von Werner Ziegenfuß, Stuttgart, Ferd. Enke Verlag, 1956, geäußert.

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als Spenderin von Freude geschätzt werden kann, muß die Wirtschaftlichkeitsregel insoweit nicht ein Maximum, sondern ein Optimum bestimmen. Sehr wesentlich ist, daß sich Wirtschaft i m Sinne des Verfahrens nach der Wirtschaftlichkeitsregel nicht von selbst versteht und nicht notwendig „rational" ist. Ob das Verfahren rational ist, hängt von dem Inhalt der Grundanliegen des betreffenden Menschen oder der betreffenden Gruppe von Menschen ab. Es hat i n der Weltgeschichte viele Menschen und Bewegungen von Menschen gegeben, für die galt, daß das Verfahren nach jener Regel als Ablenkung vom Wesentlichen abgelehnt wurde, und Menschen und Menschengruppen dieses Typs gibt es noch heute (Eremiten, extreme Romantiker und dergl.). Für sie ist ein Verhalten, welches das Nachdenken und die Willenskraft so beansprucht wie das Verfahren nach jener Regel, unrational. Offenbar würde angesichts dieser geschichtlich sehr beachtlichen und auch heute nicht ganz fehlenden Fakten ein Begriff nicht opportun sein, zu dessen Merkmalen einerseits das Decken von Bedarf an knappen Gütern, zugleich aber auch die Anwendung der Wirtschaftlichkeitsregel gehörte; denn dann würde die Aussage, daß bei dieser Deckung von Bedarf an knappen Gütern nach jener Regel verfahren werde, ein „analytisches" Urteil, eine Tautologie sein, während i n der Wirklichkeit dieses Verhalten doch eben nicht selbstverständlich ist. Das Wirtschaften selbst kann negativ bewertet werden. Der Verfasser entscheidet sich für die Zwecke dieser Abhandlung (und überhaupt) für folgenden Gebrauch der Wörter Wirtschaft, w i r t schaftlich handeln, Wirtschaftlichkeit und wirtschaftliche Interessen. (Von bestimmten, weniger interessierenden Merkmalen w i r d dabei i m folgenden abgesehen.) Unter „Wirtschaft" sei der Inbegriff der Maßnahmen eines Einzelnen, einer Gruppe oder aller zur Bereitstellung (evtl. Erzeugung und bei Marktwirtschaft „Produktion") und/oder Verwaltung knapper „Güter" verstanden 2 . Auch hoheitliche, verbandliche usw. Einrichtungen zur Teilnahme an diesen Leistungen mögen unter den Begriff fallen 2 . Als weiteres Merkmal möge gelten, daß auf die Maßnahmen i n einem bestimmten — vielleicht geringen — Maße die Regel der Wirtschaftlichkeit angewendet wird. Als wirtschaftlich gelten dabei Maßnahmen und Einrichtungen, durch die unter Beachtung jeweils etwa i m Wege stehender Interessen und innerer Bindungen m i t für den Handelnden höherem Range erstrebt wird, einen i n seiner Zusammensetzung und gegebenenfalls i n seiner Entwicklungstendenz feststehenden Bedarf so zu decken, daß der Aufwand an „Mühen" möglichst vollständig beachtet und so gering wie 2 Genaueres a.a.O., S. 981 ff. Z u m T e i l weichen die oben formulierten V o r schläge davon ab.

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jeweils möglich gehalten wird 2 . Der Ausdruck „Mühen" w i r d statt des Wortes „Kosten" u. a. deswegen verwendet, weil der Aufwand immaterieller A r t sein und sich z.B. auch auf die Verletzung von Interessen erstrecken kann, die unmittelbar auf die A r t des Vollzuges des Wirtschaftens gerichtet sind. „Wirtschaftlich handeln" heiße diejenige Tätigkeit, die bestrebt ist, die Wirtschaft (s. o.) des Handelnden der Regel der Wirtschaftlichkeit anzupassen. Für die Wissenschaft, deren Gegenstände die A r t und Weise der Versorgung mit knappen Gütern und die darauf bezogenen Ordnungs- und überhaupt Gestaltungsmaßnahmen staatlicher und außerstaatlicher Mächte sind, gilt nach heute vorherrschender Meinung methodologisch die Unterstellung, daß die Menschen, die an der Wirtschaftsgesellschaft teilnehmen, i n einer näher bestimmten Anzahl bestrebt sind, nach der Wirtschaftlichkeitsregel zu verfahren. Diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die das, gebunden durch Traditionen, ihr Lebensgefühl und ihre bewußten prinzipiellen Entscheidungen, nicht oder nur bei nichterheblichen Teilaktionen wollen, sind dann i n den Analysen und soziotechnologischen Konzeptionen erst zur Korrektur der aufgrund jener Unterstellung gewonnenen Ergebnisse zu berücksichtigen. Diese Methode kann akzeptiert oder toleriert werden, wenn nur das sich hier stellende empirische Problem ernst genug genommen wird. Das ist nur dann der Fall, wenn auf die metaökonomischen Grundanliegen der Wirtschafter — heute müssen w i r sagen: der Teilnehmer an der Wirtschaftsgesellschaft — zurückgegriffen w i r d ; denn die wirtschaftlichen Interessen sind, ob w i r nun einen engeren oder weiteren mit dem Worte W i r t schaften bezeichneten Begriff zugrunde legen, mittelbar , und Inhalt und Rang mittelbarer Interessen können nur bestimmt werden, wenn die Grundanliegen einschließlich der inneren Bindungen der betreffenden Menschen bekannt sind; d. h. wenn die i m logischen Sinne „letzten Zwecke" klar sind. Hier müssen also die Anthropologie und i m besonderen die Psychologie bemüht werden; der Wirtschaftswissenschaftler braucht, um auf seinem ganzen Gebiet wirklich Empiriker zu sein, Lehrsätze dieser Wissenschaften als Axiome. Das gilt auch für die w i r t schaftspolitischen Empfehlungen und für Ratschläge allgemein gesellschaftspolitischer A r t mit wirtschaftspolitischem Akzent, die dem Umstand gerecht werden sollen, daß die Gesellschaft empirisch ein Ganzes ist, so daß Spezialdisziplinen über sie nur unter Vorbehalt Aussagen machen können., (Der Satz von der Mittelbarkeit der wirtschaftlichen Interessen gilt bei dem weiteren Begriff „Wirtschaft" insofern cum grano salis, als es knappe Sachgüter und Dienste gibt, die nicht als M i t t e l der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern unmittelbar geschätzt werden; z. B. das Anhören von Konzerten, deren Darbietung mit hohem Aufwand an „Mühen" [Kosten] verbunden ist.)

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Wie verhält es sich nun i m Bereich des Logischen m i t der Politologie , und was ergibt sich daraus für das Verhältnis der Politik (und der Politologie) zu der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft? Hier w i r d die Lage durch dieselbe logische Unklarheit wie bei der Wirtschaftswissenschaft v e r w i r r t : Weithin w i r d die Mittelbarkeit des Interesses an dem Verhalten verkannt, das mit dem Worte Politik gemeint wird. Es kann unmittelbare Anliegen, i m besonderen unmittelbare innere Bindungen geben, die Politik uninteressant oder verwerflich machen. Dies sollte bei der Bildung des Grundbegriffes der Politologie beachtet werden und w i r d ja auch von vielen Politologen unter Ablehnung-konsequent machiavellischer Politiktheorie beachtet. Was vielfach „theoretische Politik" genannt w i r d und i m wesentlichen auf Machiavelli zurückgeht, sind jene Regeln der Ausübung von Macht, i n erster Linie von Staatsmacht (als „Staatskunst"), und jene empirischen Aussagen über tatsächliches Verhalten von Machtträgern i n Bezug auf diese Regeln, bei denen andere mögliche Grundmotive politischen Handelns entweder als nichtexistent und nichtmöglich behandelt werden oder i n das Schattenreich der sog. Randbedingungen verwiesen werden. Es sollte aber als Selbstverständlichkeit erfaßt werden, daß es keinen politischen Standpunkt an und für sich, keine „rein politischen" Erwägungen, geben kann und daß daher Regeln der Machtausübung keine Prinzipien, d. h. keine zu unmittelbarer Geltung fähige Verhaltensmaximen sein können. Es sei denn, ein Mensch schätze und begehre Macht um ihrer selbst w i l l e n und habe daneben kein konkurrierendes Grundanliegen; nur dann könnte ein „Prinzip" der Machtmaximierung aufgestellt werden. Aus ihm und dem Wissen von den Fakten und ihren Zusammenhängen ließen sich soziotechnologisch Kunstregeln ableiten; aber eben: Es müßte Macht tatsächlich und i n der angegebenen Ausschließlichkeit begehrt werden — eine wenig wirklichkeitsnahe Annahme von kaum übertreff bar er psychologischer Primivität; etwa so primitiv, wie sich ein sozialwissenschaftlich ernüchterter Student zunächst den Politiker vorstellt, bis daß er hinreichend viele Politiker aus Fleisch und Blut kennengelernt hat, um ihre komplizierte Psyche wenigstens einigermaßen erfassen zu können. Worauf es hier wie überall bei Aufstellung soziotechnologischer Verhaltensregeln und bei den ihrer Formulierung dienenden Begriffen ankommt, ist, wie gesagt, die Zurückführung der Deklarationen oder Unterstellungen des Gewollten auf die i m logischen Sinne „letzten" Zwecke, d. h. auf die Grundanliegen des Handelnden einschließlich seiner unmittelbaren inneren Bindungen moralischer, kultureller und religiöser Art. Politik hat es als Kunst der Gesellschaftsgestaltung mit M i t teln zu tun, und ob ein Verhalten ein geeignetes M i t t e l ist, kann nur geklärt werden, wenn außer den Umständen das festgestellt wird, was

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der sich Verhaltende letztlich — als das Bündel seiner Grundanliegen — w i l l oder sich i h m bei tiefstmöglicher Selbstbesinnung, i m besonderen bei Selbstbefreiung von ablenkenden gesellschaftlichen und sonstigen Einflüssen i n den Grenzen des i h m psychisch Möglichen 3 , als das Gewollte ergeben würde. Politik i m allgemeinen (und demgemäß auch Wirtschaftspolitik) sind Verhaltensweisen zur Durchsetzung von Gewolltem; ohne Kenntnis des letztlich (unmittelbar) Gewollten kann hiernach ein solches Verhalten weder als Konzept empfohlen noch auch nur verstanden werden. Höchstens kann methodisch so vorgegangen werden, daß bei der Festlegung oder Unterstellung der unentbehrlichen metapolitischen voluntaristischen Grundvoraussetzungen aus irgendwelchen anzugebenden methodologischen Gründen von bestimmten einzelnen praktischen Grundvoraussetzungen abgesehen wird, wie dies bei modellartigen Hilfskonstruktionen für Analyse und Programme der Fall zu sein pflegt. Hierzu kommt es vor allem, wenn ein hohes — um nicht zu sagen: perfektionistisches — Maß von Präzision der politologischen Aussage beabsichtigt w i r d und dem Autor klar ist, daß beim politischen Handeln i n der Realität regelmäßig Grundanliegen beteiligt sind, deren Inhalt und Stärke nicht exakt quantifiziert werden können. (Man kann nicht sagen, man erstrebe ein Maß an Gerechtigkeit, daß u m 27,5 %> das bisherige Maß übertreffe.) Die so aufgebauten Modelle (soziotechnisch: Muster) sind dann aber wegen ihres bewußt mehr oder weniger irrealen Charakters nur als vorbereitende Aussagen zulässig, und die Beschränkung auf einen Teil der für empirische Feststellungen und für Ratschläge unentbehrlichen praktischen Grundvoraussetzungen muß unter Angabe der erforderlichen Serie von Vorbehalten ausdrücklich hervorgehoben werden; ein Erfordernis, das von vulgärem Pragmatismus meist nicht erfaßt wird. Ebenso wenig, wie es i n der Wirtschaftswissenschaft reine Kunstlehre geben kann, so kann es also auch nicht Politologie als reine Kunstlehre, d. h. als eine rein soziotechnologische Disziplin geben. Metapolitische Grundvoraussetzungen praktischer A r t (wertender Art) müssen min3 F ü r diese ablenkenden Einflüsse interessiert sich die Wissenssoziologie, hier i n ihrer Ausprägung als Wissenschaftssoziologie. Diese Disziplin sollte i n ihrem System einen praktischen T e i l haben, der sich m i t der Minderung der ablenkenden Einflüsse befaßt. Prinzipiell k a n n die psychische Möglichkeit solcher Minderungen nicht bestritten werden. I n die Diskussionen über das Maß mischen sich i n unserem sich angeblich von den Ideologien befreienden Jahrhundert positivistisch orientierte Ideologien u n d kollektivistische Typen einer realen Politik, die hier ein Argument dafür zu finden meint, daß die Wissenschaftspolitik der Forschung u n d Lehre die Freiheit verweigert u n d die Forscher u n d Lehrer dazu nötigt, heute dies u n d morgen das Gegenteil zu lehren, w e i l das sog. Interesse der Gesellschaft solches jeweils erfordere.

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destens unterstellt werden, wenn es der Autor nicht vorzieht, sich zu Inhalt und Rang bestimmter solcher Voraussetzungen selbst zu bekennen. Die Unterstellung ergibt Sätze von der Wenn-Dann-Form: Wenn letztlich, d. h. unmittelbar, das und das erstrebt w i r d oder unmittelbar als Übel abgelehnt wird, dann ergeben sich durch die Verbindungen dieser Voraussetzung m i t dem Wissen von den Fakten und ihren Zusammenhängen die und die Verhaltensweise und i m Bedarfsfalle die und die Verhaltensregel. Meist w i r d freilich der Wenn-Satz, der notwendigerweise metapolitischen Inhalt hat, überhaupt nicht ausdrücklich oder nur andeutend oder als eine Formel ohne Inhalt dargeboten. Auch w i r d erfahrungsmäßig wenig beachtet, daß an der Stelle, die durch den Wenn-Satz des Schemas gekennzeichnet wird, mehr als nur ein letztes Ziel — mehr als nur ein Grundanliegen i m Sinne eines unmittelbar bejahten Interesses oder einer unmittelbar bejahten inneren Bindung — beachtet werden muß. Entscheidungen beruhen i n der Regel auf einer Mehrheit von Grundanliegen, so daß oft eine ganze Welt von Grundanliegen erfaßt werden muß, die i n Spannung zueinander stehen können und meist stehen. Es sind also Abwägungen nötig. W i r sehen auch hier wieder — sowohl für Politologie wie für Wirtschaftswissenschaft — die Unentbehrlichkeit einer umfassenden psychologischen Axiomatik, so daß mit Spannung auf vermehrte Leistungen der sich jetzt wieder kräftiger entwickelnden psychologischen Motivationslehre gewartet werden muß. A m wenigsten deutlich w i r d das Erfordernis, hier eine Vielzahl von Grundanliegen zu beachten, erfaßt und befolgt, wenn sich der Politologe als Soziotechnologe — ebenso wie der Wirtschaftswissenschaftler als Technologe — auf punktuelle Ratschläge beschränkt, ohne daß er Regreß auf generelle Konzeptionen für die Gestaltung der Gesellschaft unter den jeweiligen historischen Bedingungen nimmt. Popper und andere empfehlen diese Beschränkung geradezu als „piecemeal social engineering" und warnen vor dem Entwurf umfassender Konzeptionen durch den Wissenschaftler als Berater 4 . Es w i r d auch eingewendet, daß die umfassenden Konzeptionen suggestiv wirken. Tatsächlich sind heute die Tatsachen und Entwicklungstendenzen der Gesellschaft viel zu kompliziert, als daß ein punktueller Ratschlag ohne Regreß auf umfassende Konzeptionen vertretbar wäre. Aber es liegt natürlich nicht i m Begriff dieser gesellschaftspolitischen Konzeptionen und ihrer politologischen und wirtschaftspolitischen Nutzanwendungen, daß sie revolutionär oder reaktionär sein müssen. Lo4 Vgl. jetzt die K r i t i k an Popper bei Lompe, Klaus: Wissenschaftliche Beratung der Politik, ein Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften. Band 2 der Schriftenreihe „Wissenschaft u n d Gesellschaft", hrsg. von Gerhard Weisser. Göttingen, Verlag O. Schwartz & Co., 1966.

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gisch ist selbstverständlich auch der Fall möglich, daß der politische Praktiker die jeweils gegebene Gestalt der Gesellschaft als befriedigend oder als das jeweils erreichbare geringste Übel einschätzt und seine punktuellen Ratschläge auf diese gegebene Gestalt bezieht. Aber ohne Voraussetzung einer umfassenden Konzeption auf mittlerer Ebene der Abstraktion kann jedoch auch ein punktueller Ratschlag spezieller A r t bei den heute gegebenen geschichtlichen Bedingungen nicht vertreten werden. Ein Schluß unmittelbar von den Grundanliegen direkt auf den Wert eines bestimmten Verhaltens spezieller A r t i n der jeweiligen Situation darf daher nicht gezogen werden, ohne daß er m i t einer Fülle von Vorbehalten versehen wird, die sich auch auf seine Kompatibilität m i t jenen nicht ausgewiesenen logisch vorgeordneten Entscheidungen genereller A r t beziehen. Die Vorbehalte müssen i n der Regel so zahlreich und so erheblich sein, daß die Fruchtbarkeit eines punktuellen Ratschlages ohne ausdrücklichen Bezug auf eine nicht aus inhaltsleeren oder zu inhaltsarmen Aussagen bestehende generelle Konzeption für den Praktiker äußerst fragwürdig ist. Jeder Wissenschaftler, der als Ratgeber beansprucht w i r d oder an der Arbeit von Kommissionen m i t programmatischen Aufgaben m i t w i r k t , weiß von dieser Gefahr; auch wenn er als eingefleischter Spezialist sie vielleicht i n Kauf nimmt, weil ihn die Auseinandersetzung m i t generellen Konzeptionen nötigen würde, eine lange Reihe von sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen mindestens als Konsument heranzuziehen, und dies dazu führen könnte, daß er seinen Rang und seine innere Sicherheit als Spezialist verliert. Verzichtet er auf zeitbezogene generelle Konzeptionen, dann überläßt er es dem politischen Praktiker, die Beziehung des Ratschlages zu der generellen Idee der erstrebten Gesellschaftsgestalt seinerseits herzustellen, obwohl dieser Praktiker i n seinem Denken vielleicht weniger als der Gelehrte darauf vorbereitet ist, die Beziehung herzustellen. Tatsächlich ist die Situation oft noch bedenklicher, wenn der Gelehrte es unterläßt, die Vorbehalte ausdrücklich zu formulieren: Der Politiker fühlt sich gar nicht gedrängt, die Brauchbarkeit des Ratschlages i n dieser Weise zu kontrollieren. Es ist also der Erteiler eines vorbehaltlos geäußerten punktuellen Ratschlages, der den Politiker zu wissenschaftsgläubigem Doktrinarismus verführt, und nicht etwa derjenige Gelehrte, der die Vorbehalte äußert oder die Beziehung zu einer generellen Konzeption ausdrücklich herstellt, die er vertritt oder unterstellt. Da der Gegenstand der Politologie von den Bearbeitern dieser Wissenschaft noch nicht präzise und endgültig vereinbart ist, könnte man einwenden wollen, daß der Politologe als Soziotechnologe nicht Spezialist sei. I h m gerade liege es vielmehr ob, von den umfassenden Aspekten der Gestaltung der Gesellschaft auszugehen und eine realisierbare Gestalt der Gesellschaft als Ganzes zu entwerfen. Die Politologie würde

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dann mindestens i n ihrem technologischen Teil eine der sozialwissenschaftlichen Grunddisziplinen sein. Eine solche Bestimmung des Gegenstandes der Politologie dürfte aber nicht zweckmäßig sein. Es besteht ein Bedarf an einer Spezialdisziplin, die es mit den Regeln der Durchsetzung des gesellschaftlich Erstrebten zu tun hat, i m besonderen mit den Regeln der Machtausübung und jenen mittelbaren Interessen an sozialpädagogischer Haltungspflege, die auch bei einer Grundsatzentscheidung für nicht autoritäre Erziehung und gegen Bevormundung vertretbar sein kann. Verfehlt ist nur die Meinung, daß die Politologie bei dieser Beschränkung „ideologiefrei" und zu einer reinen Kunstlehre werde und werden könne, die nichts unterstellt als den Willen zur Macht. Psychologisch ist diese Unterstellung ebenso unrealistisch wie die Unterstellung, daß ein Mensch an nichts anderem interssiert sei als an maximaler Versorgung mit knappen Gütern. Zugleich steht fest, daß die Politiker verschiedenster Typen — vielleicht neben der Schätzung von Macht um ihrer selbst willen — Macht als M i t t e l schätzen; und zwar i n dem Bewußtsein, daß bestimmten Grundanliegen, die nicht mit dem Machtwillen identisch sind, optimal nur entsprochen werden kann, wenn Macht zur Durchsetzung dieser Anliegen gewonnen und entfaltet wird. Die Politologie als Technologie ist also nur dann fruchtbar, wenn die zu entwickelnden Lehren über eine Axiomatik verfügen, die Auskünfte über die Gesamtheit der vom Autor gehegten oder unterstellten Grundanliegen bietet. Innerhalb der Politologie kann aber die Fülle der Arbeiten an einer solchen Axiomat i k nicht befriedigend vollzogen werden. Zugleich sind die betreffenden Aussagen identisch oder weitgehend verwandt m i t den entsprechenden Voraussetzungen einer Fülle von anderen sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen, so daß die Denkökonomie dagegen spricht, daß jede dieser Disziplinen die betreffenden Axiome je für sich sammelt. Besser geeignet ist, wie ich schon hervorhob (Abschnitt I), eine damit befaßte Grunddisziplin der Wissenschaften von der menschlichen Gesellschaft, die dann wie der Wirtschaftswissenschaft und den anderen speziellen Sozialwissenschaften so auch der Politologie logisch vorgeordnet ist. Diese Erwägungen mußten den Entscheidungen vorausgehen, die zur Bildung des Grundbegriffes der Politologie führen. W i r betonen noch einmal, daß die Bildung dieses Begriffes lediglich instrumenteile Bedeutung hat, wie das für alle Begriffe gilt. Die Bildung des Grundbegriffes der Politologie enthält also nicht Feststellungen und („praktische") Festsetzungen i m Zuständigkeitsbereich der Politologie, sondern sie bietet ein Mittel, solche Feststellungen und Festsetzungen möglichst klar zu formulieren. Und natürlich muß jener Grundbegriff dazu verwendet werden, den Gegenstand (die Gegenstände) der Politologie zu

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bestimmen; auch dabei handelt es sich nicht um eine Feststellung, sondern um eine Entscheidung, die natürlich auch i n der Hinnahme einer bereits i n der Welt der Wissenschaft institutionalisierten Entscheidung bestehen kann. Von einem eigenen Vorschlag des Autors für die B i l dung des Begriffes kann i n dieser Abhandlung abgesehen werden. W i r haben i m Bereich des rein Logischen festgestellt, daß es theoretische Politik unter Verzicht auf Klarstellung metapolitisdier Axiome ebensowenig geben kann wie entsprechende wirtschaftswissenschaftliche Aussagen. Beziehungen zwischen reiner Politik und reiner Ökonomik kann es nicht geben, weil es weder reine Politik noch Ökonomik geben kann. Wohl aber kann die Frage nach solchen Beziehungen durchaus sinnvoll sein, wenn die Fakten und die von dem betreffenden Autor bejahten Grundentscheidungen ins Auge gefaßt werden, die dem empirischen Ganzen, das w i r Gesellschaft nennen, oder gewollten möglichen Gesellschaften zu eigen sind und für sie Bedeutung haben. IV. Die Logik bietet uns nicht materiale Erkenntnis und nicht materiale Entscheidungen. Begriffe i m besonderen sind Werkzeuge des Denkens, und Beweise bestehen i n der Zurückführung von Behauptungen auf Voraussetzungen, wobei es klar ist, daß nicht jede Behauptung Voraussetzungen haben kann. Wer das verlangen wollte, würde einen unendlichen Regreß fordern. Wie gelangen w i r also zur Gewißheit bei Erkenntnis und Entscheidung? Wie erreichen w i r dies i m besonderen bei sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie bei den i n dieser Hinsicht einander gleichstehenden Wissenschaften von Politik und Wirtschaft? Der Inhalt bestimmter Sätze muß offenbar — personell — für uns unmittelbar, ohne Beweis, gelten. W i r können zwar nicht mit nachprüfbarer Gewißheit behaupten, daß w i r das Ding an sich und Werte an sich erfassen; w i r sind da von der Leistungsfähigkeit unseres Erkenntnis» und Wertungsvermögens abhängig, und sie könnten wir, wenn w i r an ihr zweifelten, ja nur wieder unter Anwendung eben dieser — bezweifelten — Vermögen prüfen. W i r würden wie Münchhausen versuchen, uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Überdies versteht es sich nicht von selbst, daß die Erkenntnis- und Wertungsvermögen bei allen Vertretern der naturwissenschaftlichen A r t homo sapiens gleich sind. W i r können aber auf die Leistungsfähigkeit dieser unserer Vermögen vertrauen, und es gibt niemanden, der nicht i n der A k t i o n dieses Vertrauen aufbrächte, auch wenn er als Philosoph meint, es nicht zu haben. W i r müssen bei dieser an und für sich einfachen Überlegung noch verweilen. Es gibt i m Reich der Sozialwissenschaften viele, die sie nicht

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anstellen oder sich m i t ihr nicht abfinden. Sie suchen nach Begründungen für das, was einer Begründung weder fähig noch bedürftig ist. Hierbei spielen Logizismus, essentialistische Metaphysik und klassischer Positivismus eine verwirrende Rolle. Der Einfluß dieser philosophischen Richtungen auf Wirtschaftswissenschaft und Politik, besonders ihre praktischen Teile, ist noch heute groß. Als Logizismus kann die Meinung bezeichnet werden, daß Begriffe als solche materiale Erkenntnisse und Entscheidungen darstellen oder ergeben oder daß mindestens diejenigen Begriffe, zu deren Merkmalen es gehört, daß die Eigenschaften des Objekts i n vollkommenem Maße gegeben sind, die Erkenntnis des „Wesens" und die als richtig vorzugswürdige Entscheidung bieten. Wer den Begriff „Wirtschaften" bildet und zwar so, daß bei dem betreffenden Verhalten die Regel der W i r t schaftlichkeit vollkommen befolgt werde und Kenntnis von diesem Verhalten hat, der biete eben damit eine wissenschaftliche Entscheidung zugunsten dieses Verhaltens. Wer den Begriff politisches Handeln bildet und zwar so, daß damit das vollkommen auf Macht gerichtete Verhalten gemeint w i r d und dieses Verhalten kennt, der biete eine wissenschaftliche Entscheidung zugunsten dieses Verhaltens. Tatsächlich aber kann ich Begriffe sowohl von dem i n seiner Vollkommenheit Begehrten wie von dem i n dieser Vollkommenheit Verabscheuten bilden. Wenn ich einen Begriff habe, so weiß ich damit weder, was gut ist, noch, was schlecht ist. Der Begriff verhilft m i r nur instrumenteil zu solchen Erkenntnissen und Wertungen. Logizistisch ist auch die Rede davon, daß die „Sache" die Entscheidungen ergibt. Sie w i r d oft i n der Zuspitzung vorgetragen, daß auf die Motive nicht abgestellt zu werden brauche und daß dies auch nicht geschehen sollte. Die Motive seien subjektiv; m i t der Sache aber habe man etwas Objektives i n der Hand. Beispielsweise hat das Gundlach i n Bezug auf die Politik der Entwicklungshilfe auf der Tagung der Schmalenbach-Gesellschaft i n Godesberg 1961 gesagt. Die Sache aber ergibt niemals Ziele. Sie stellt dem Handeln nur Bedingungen. A l l e i n von dem, was ist oder zu werden sich anschickt, kann ich nicht darauf schließen, was ich t u n sollte. Die Sache bestimmt auch nicht unmittelbar und vollständig — jenseits der Motivationen — unseren Willen. (Würde sie es, dann müßte man nicht von einem Wollen, sondern von einem Müssen sprechen.) Tatsächlich kann ich i n prinzipiell bestimmbarem Maße Stärke und Richtung meines Willens demjenigen anpassen, was meine Grundanliegen begehren oder m i r geistig als Aufgabe setzen; und ich kann sogar als Ergebnis von Besinnungen die Grundanliegen selbst und ihre Rangstellung korrigieren. Es ist gleichgültig, welches Maß der Manipulierbarkeit besteht; es genügt, daß die Manipulierung überhaupt psychisch möglich ist.

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Den Bereich des Logizismus verlassen w i r auch noch nicht, wenn w i r meinen, zur Begründung eines gewählten oder empfohlenen Verhaltens von der Nützlichkeit dieses Verhaltens ausgehen zu können; sei es, daß es sich um einen Nutzen allein für unsere Person, sei es, daß es sich um einen sogenannten Gemeinnutzen handelt. Über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit eines Verhaltens können wir, wie schon ausgeführt wurde, nichts sagen, wenn w i r nicht wissen, was letztlich gewollt wird. Der Logizismus i n seiner utilitaristischen Form versucht aber eine solche Aussage. Er bietet statt Wissen und Entscheidung inhaltsleere Formeln. Es gibt aber Formen des Utilitarismus und praktischer Philosophie überhaupt, die nicht logizistisch ins Leere führen. Hier werden materiale Meinungen und Entscheidungen geboten, und es w i r d nicht der Versuch gemacht, sie aus Begriffen zu gewinnen. Vielmehr w i r d dann behauptet oder unterstellt, daß die Mitglieder der Gesellschaft oder ein hinreichend großer Teil dieser Mitglieder ihr Handeln nur von dem bestimmen lassen, was w i r sinnliche Interessen einschließlich des Lebenswillens und Willens zur Selbstbehauptung nennen können. Ein bekanntes politologisches Beispiel liegt i m Bereich der Wehrpolitik. Der Krieg sei eine falsche Rechnung; alle verlieren. Überdies werde bei bestimmten Maßen der Verwicklung der Gesellschaft i n das Kriegshandeln die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft gefährdet. Die Existenz von Gesellschaft sei aber für die Menschen lebenswichtig. Es bedürfe daher nicht einer moralischen oder religiösen Verurteilung des Krieges; möge es nun Kriterien dieser A r t geben oder nicht. Es bedürfe auch nicht einer Verbundenheit aller Menschen i m Sinne einer Solidarität oder gar Gemeinschaft, damit der Krieg verworfen werde. Jeder einzelne m i t seinen nur auf ihn selbst gerichteten Interessen an Überleben und Selbstbehauptung sei bei rationaler Einstellung am Kriege negativ interessiert. Wer diese Lehre ablehnt, kann das nicht, indem er ihr einen Denkfehler vorhält. Vielmehr handelt es sich bei der Stellungnahme um zwei Fragen materialer Art. Zunächst natürlich kann ein I r r t u m i n Bezug auf die Tatsachen vorliegen. Es kann i n unserem Beispielsfall ein I r r t u m sein, daß jeder Einzelne Opfer einer falschen Rechnung wird. Selbst i m totalen Krieg der Zukunft könnte es, wie wenige auch immer überleben, irgendwelche Gruppen von Kriegsgewinnlern geben, mögen sie nun materiellen oder immateriellen Gewinn erzielen. Wichtiger aber ist der zweite Einwand. Es entspricht einfach nicht den Tatsachen, wenn behauptet wird, daß bei den politischen Gestaltern der Gesellschaft rein geistige Interessen wie Machtwille, Kampfwille usw. und geistige Bindungen unmittelbarer A r t , mögen es nun moralische, kulturelle oder religiöse sein, nicht mitzusprechen pflegen. Natürlich kann es sich jeweils so verhalten, daß sich die sinnlichen Interessen über und unter der Bewußtseinsschwelle und besonders der Lebens8 Festgabe für Gert von Eynern

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wille i n stärkerem Maße gesellschaftspolitisch geltend machen als jene geistigen Interessen und Bindungen. Aber es ist weder möglich, ihre Existenz schlechthin zu bestreiten, noch kann das Übergewicht der sinnlichen für jede bekannte geschichtliche Situation behauptet werden. Immerhin könnte der Versuch gemacht werden, zwar die Existenz rein geistiger Interessen und Bindungen zuzugeben, aber darzutun, daß sie lediglich konstruierte Veredelungen instinktiven Lebenswillens und anderer sinnlicher Triebe seien. Sie seien bestenfalls Sublimierungen dessen, wozu die physische Natur die Menschen treibt. Diese Meinung kann auch die Form haben, daß sogar die planende Vorsorge für den Bedarf künftiger Generationen als Äußerung eines quasianimalischen Triebes so gedeutet wird, wobei wiederum die Existenz von funktionsfähiger Gesellschaft und Gesellschaftswirtschaft als Bedingung der Befriedigung dieses Triebes angesehen wird. Der Mensch werde zu früh geboren. Sein Instinkt sei bei der Geburt nicht voll ausgebildet. Wäre der Instinkt voll ausgebildet, dann würde er den Trieb zur Arterhaltung i n ausreichender Stärke enthalten. Moral und Strafrecht seien nur Ersatz für diesen fehlenden, leistungsfähigen Trieb zur Arterhaltung; an und für sich seien sie, als rein Geistiges verstanden, Einbildung. Z u dieser heute Anklang findenden, unverkennbar von ideologischen Vorurteilen altpositivistischer A r t beeinflußten Meinung kann an dieser Stelle nichts Näheres ausgeführt werden. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß heute i m Bereich der Arterhaltung bei immer größeren Teilen der Menschheit das Verhalten aus blindem Trieb heraus durch bewußte Entscheidungen über das Haben von Nachkommenschaft und das Maß der Vorsorge für sie ersetzt w i r d und daß diese Entscheidungen verschieden ausfallen. Solche Entscheidungen bedürfen wie alle der Kriterien, und es wäre offenbar höchst unrealistisch, wenn jede dieser Entscheidungen, die nicht auf das Maximum abzielte, als physisches Versagen, als Versagen eines Instinktes des Herdentieres homo sapiens, hingestellt würde. (Darwinistische Hypothesen interessieren i n diesem Zusammenhang nicht. Sie betreffen vom Wollen unabhängige Wirkungen, während Wirtschaft und Politik aus Entscheidungen und ihnen entsprechenden Aktionen hervorgehen.) Nun w i r d allerdings i n den Sozialwissenschaften sowohl bei explikativen wie bei praktischen Aussagen oft nicht eine solche Philosophie, sondern nur eine ihr verwandte Unterstellung zugrundegelegt; dies sowohl i n der Wirtschaftswissenschaft wie i n der Politologie. Man sagt, die vitalen Interessen, besonders der Lebenswille und überhaupt der Wille zur Selbstbehauptung ergäben bei so vielen Menschen die stärksten Motive des Verhaltens, daß von den anderen, besonders den geistigen, die dann gern „ideologisch" genannt werden, abstrahiert werden könne. Diese Abstraktion empfehle sich sogar; denn bei ihr sei es mög-

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lieh, zu quantifizierten Aussagen zu gelangen, die interpersonell gut nachgeprüft werden können, wenn die Wahrnehmungsvermögen von Mensch zu Mensch gleich sind (was sich ja freilich nicht von selbst versteht!). Auch dieser Lehre kann nicht zugestimmt werden. Sie beruht auf einem kognitiven Perfektionismus, i n der Regel speziell auf einem Perfektionismus des Quantifizierenwollens. Die zugrundeliegende A n nahme läßt sich, geschichtlich gesehen, nicht aufrecht erhalten. Nicht nur einzelne Menschen, sondern größere Gruppen von Menschen, ja ganze Bewegungen i n der Weltgeschichte, haben sich so verhalten und verhalten sich gerade auch heute wieder so, daß offenbar das Leben nicht als der Güter höchstes geschätzt wird. Aber davon abgesehen, ergeben doch die umfassende Erfahrung des vorurteilsfrei beobachtenden Gelehrten und eine ungeheure Fülle behavioristischer Ersatzgrößen sehr stark begründete Vermutungen des Inhalts, daß für das Verhalten der Menschen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet wirklichkeitsnahe Theorien nur i n äußerst beschränkter Form auf die Unterstellung gestützt werden können, daß sinnliche Interessen, besonders der Lebenswille, und das Streben nach Selbstbehauptung das Verhalten stets wirklich entscheidend bestimmen. (Die große Rolle unterschwelliger Triebe auch i n Wirtschaft und Politik macht ohnehin die These fragwürdig, daß die angegebene Unterstellung ein technisch geeignetes M i t tel sei, zu präzisen und interpersonell leicht nachprüfbaren theoretischen und soziotechnischen Aussagen zu kommen.) Das Ganze ist kein Problem des Inhalts der Interessen, sondern der Evidenz dieses Inhalts und der Möglichkeit, das Nichtevidente aufzuklären. I m klassischen Sinne positivistisch ist die Meinung, daß die Natur einschließlich der empirisch gegebenen menschlichen Gesellschaft durch Naturgesetze zwingend und vollständig bestimmt sei, so daß von einer Entscheidungsfreiheit nicht die Rede sein könne. Das gilt dann sowohl für Wirtschaft wie für Politik und innerhalb bestimmter Lehrsysteme derart, daß die Naturgesetze der Wirtschaft und der Politik ihren Verlauf vorschreiben. Die Widerlegung ist nicht schwierig. W i r wissen heute, daß die Natur Sprünge macht. Natürlich kann dieser Satz, für sich allein genommen, das Problem nicht lösen; aber er möge angesichts der großen Literatur auf diesem Gebiete an dieser Stelle als Andeutung genügen. Innerhalb solcher Lehren treten übrigens merkwürdige Inkonsequenzen auf, so z. B. die Lehre von der Möglichkeit und Gebotenheit revolutionärer oder reformerischer „Geburtshilfe", durch die das jeweils geschichtlich Notwendige schneller zur Reife gebracht werde, wobei diese Lehre von der Geburtshilfe sogar i m Zusammenhang einer empirisch gemeinten Dialektik auftritt. Entwickelt sich die Natur, i n diesem Fall die menschliche Gesellschaft, i m Sinne einer Dialektik, so kann doch offenbar die empfohlene Geburtshilfe nicht auch ihrerseits 8*

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ein Produkt dieser Dialektik sein. Der Geburtshelfer entscheidet sich für sie i n Freiheit. Seine Freiheit ist mindestens insoweit mehr als bloße Einsicht i n die Notwendigkeit. Aber Geschichtsgesetze werden meist i n unbewußt oder bewußt metaphysischer Sicht behauptet und oft wie Normen behandelt. Es ist nicht nötig, an dieser Stelle chiliastische Verheißungen ins Auge zu fassen; sei es, daß sie sich auf ein Diesseits oder ein Jenseits beziehen. Es genügt der Hinweis darauf, daß von einem Telos der Geschichte nur auf ein Müssen, nicht aber auf ein Sollen geschlossen werden kann und daß sich auch Inhalt und Rang von Gewolltem nicht unmittelbar und allein aus dem Telos ableiten lassen. Dies gilt auch für nicht geschichtsbezogene metaphysische Positionen i n Bezug auf die Frage, wie w i r Gewißheit erlangen. Hier muß i n erster Linie an den Piatonismus gedacht werden, der noch immer viele A n hänger hat. Die Ideen i m Sinne Piatons gelten als geistige Wesenheiten und zugleich als der letzte Grund der Entscheidungen. Diesem Geistigen haftet nach dem Piatonismus Wert unmittelbar an, unabhängig von Schätzungen durch Menschen. Die platonistische essentialistische Behauptung erhält einen so weiten Geltungsbereich, daß von hier aus versucht wird, der gesamten Gestaltung der Gesellschaft einen Sinn zu geben. Üblicherweise w i r d gegen sie vor allem eingewendet, daß diese Behauptungen nicht operational, weil nicht empirisch interpersonell nachprüfbar, seien. Diese Widerlegungsweise befriedigt nicht vollkommen. Sie würde nicht ausreichen, wenn sich herausstellte, daß die Wahrnehmungsvermögen von Mensch zu Mensch verschieden sind. Dann hätte die Methode keinen Sinn, bei der als richtig unterstellt wird, was wahrgenommen wird, so daß raum-zeitlich eindeutige Sätze, die darauf zurückgeführt werden können, als operational gelten und andere Sätze als nicht operational gelten. Hingegen kann man auch hier fragen, ob die Existenz jener geistigen Wesenheiten, die i n Werten bestehen sollen, unmittelbar Handeln auslösen muß, ob nicht vielmehr eine von diesen Wesenheiten unabhängige psychische Bereitschaft hinzukommen muß, ihnen gemäß zu handeln. Platonistische Fundierung der Wirtschaftswissenschaft, einschließlich ihrer soziotechnologischen Teile, und der Politologie, einschließlich des Soziotechnischen, kann also nicht überzeugen. Wenngleich politologische und wirtschaftswissenschaftliche Aussagen programmatischer A r t aus den angegebenen Gründen nicht allein durch geschichtliche Aussagen — dialektischer oder nichtdialektischer A r t — fundiert werden können, so ist es doch selbstverständlich, daß zu den Axiomen solcher „praktisch" orientierten und durch programm- oder verfassungsartige Pläne fundierten Lehren über Politik und Wirtschaft sozialgeschichtliche Sätze gehören müssen. Verzichtet man auf sie, so

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ist die Gefahr sehr groß, daß es statt zu realisierbaren wissenschaftlichen Empfehlungen und Warnungen zum Entwurf einer Utopie kommt, die keine Chancen der Verwirklichung hat oder bei dem Versuch der Verwirklichung zu völlig anderen Ergebnissen als den angestrebten führt. Freilich müssen diese sozialgeschichtlichen Axiome konsequent empirisch sein und nicht etwa verhüllt oder i n einer für den Autor mehr oder weniger unbewußten A r t geschichtsmetaphysischen Inhalt haben. Diese Gefahr besteht regelmäßig, wenn dem Verlauf der Geschichte ein immanentes oder ein von außen gesetztes Telos unterstellt wird. Das gilt ebenso für pessimistische Prophezeiungen wie für die optimistische altmarxistische Verheißung, daß die Gesellschaft, vom Staat erlöst, i m dialektischen Verlauf der Geschichte sich zu einer Genossenschaft der Freien entwickeln werde. Sie ist so unverkennbar das Ergebnis eines unempirischen Wunschdenkens, daß sich hier die genannte Gefahr m i t Händen greifen läßt, obwohl diese These innerhalb eines genialen Versuchs entwickelt wurde, die hegelsche Geschichtsmetaphysik i n nachprüfbare empirische Aussagen zu verwandeln. V. W i r haben einige Versuche der K r i t i k unterzogen, die darauf zielen, die Grundvoraussetzungen der Politologie und der Wirtschaftswissenschaft zu begründen — und zwar m i t Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es ergab sich, daß diese Versuche weder nötig sind noch Aussicht auf Erfolg haben. W i r waren i n der Lage, bei dieser K r i t i k auch schon das Erforderliche i n Bezug auf die Axiomatik explikativer und „praktischer" Politologie und Wirtschaftswissenschaft anzudeuten. Besonders drängte sich uns die Erwägung auf, daß bei beiden Wissenschaften diese Axiomatik dringend des Ausbaues nach der psychologischen Seite hin bedarf. (Die neuerdings von den Psychologen wieder intensiver bearbeitete Motivationslehre reicht i n ihrem jetzigen Stadium dafür noch nicht aus.) Diese Ergebnisse haben aber auch eine bisher von uns noch nicht beachtete formale Seite. Sie hilft uns, bei der Gültigkeitsfrage — also bei dem Max-Weber-Problem — unbefangen Stellung zu nehmen. Axiome sind Sätze, die i n dem betreffenden System wissenschaftlicher Aussagen nicht abgeleitet, sondern vorausgesetzt werden. Innerhalb dieses Systems sind die Axiome also Behauptungen. Können sie begründet werden, so geschieht dies i m logischen Vorfeld der betreffenden Wissenschaften oder i n Nachbardisziplinen. Gibt es i n diesen Vorfeldern Meinungsverschiedenheiten, oder bestehen sie dort, wo wissenschaftliche Begründung tatsächlich oder vermeintlich nicht möglich ist — so nach heute vorherrschender Meinung i n der sog. pluralistischen Gesell-

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schaft bei den Grundanliegen und den ihnen entsprechenden Grundentscheidungen —, so werden diese Differenzen i n jenen Vorfeldern und nicht i n denjenigen Disziplinen behandelt, die diese Sätze aus den Vorfeldern als Axiome übernehmen. Das bedeutet für Politologie und W i r t schaftswissenschaft, daß sich für sie die Frage der Allgemeinverbindlichkeit (oder gar „objektiven" Verbindlichkeit) nicht zwingend ergibt. Die „praktischen" Axiome — und die Axiome überhaupt — können unterstellt werden, oder der Autor bekennt sich als Person zu ihnen. Alles Weitere ergibt sich dann nach den Regeln für intern wissenschaftliche Arbeiten. Fast könnte man angesichts dieser einfachen, sich aus der heutigen Regel für die Verwendung des Wortes A x i o m ergebenden Erwägung über die Werturteilsdebatte sagen: Viel L ä r m um nichts. Jedoch gibt es einige Schwierigkeiten. I n dieser Abhandlung w i r d nur ein Teil dieser Schwierigkeiten behandelt. Gelegentlich w i r d gegen konzeptionsbezogene, axiomatisch fundierte „praktische" Systeme der Gesellschaftspolitik eingewendet, hier werde der Wissenschaftler, der sich i n logisch „späteren" Wissenschaften betätigt, auf Voraussetzungen aus Gebieten festgelegt, auf denen er sich nicht betätigt und vielleicht auch nicht auskennt. M i t diesem Einwand w i r d aber von seinen Urhebern offenbar zu viel bewiesen; denn sie selbst pflegen sich auf Gebieten, auf denen die Werturteilsdebatte, der Rechtspositivismus und dergleichen keine Verwirrung angerichtet haben, ohne Bedenken der Ergebnisse fremder, von ihnen nicht beherrschter Wissenschaften zu bedienen, soweit sie den Eindruck haben, daß diese Ergebnisse dessen würdig sind. Auf den Eindruck, den die Bearbeiter der nachgeordneten Disziplinen haben, und nicht auf das Verlangen der Vertreter der vorgeordneten Wissenschaften, zu denen vielleicht Eiferer gehören, kommt es an. Es gibt ein weiteres, schwerer wiegendes Problem. Viele meinen, daß sich die Bearbeiter der nachgeordneten Disziplinen i m Bereich des Gesicherten halten, wenn sie sich auf bloße Empirie und zwar Informationen solcher A r t beschränken. Das t r i f f t keineswegs zu. Es ist denkbar, daß auch die Wahrnehmungsvermögen von Mensch zu Mensch verschieden sind. Mindestens dann würde es willkürlich sein, wenn sich die Debatte, die den Blick bisher auf die sog. Werturteile fixiert, nicht auch auf explikative Aussagen erstreckte. Die unklare Rede, daß sich der Bearbeiter (nur) bei jener Beschränkung „rational" verhalte, ist uninteressant. Es kann nicht rational sein, wenn Wichtiges, weil es kontrovers ist oder nicht präzise formuliert werden kann, an den „Rand" verwiesen oder vernachlässigt wird. Hiernach w i r k t es keineswegs überzeugend, wenn Sachverständigenräte i n den für sie erlassenen Vorschriften auf Informationen beschränkt werden und nicht Beratung i n der Form von „praktischen" Sätzen bieten sollen. Beratung kann aus-

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drücklich auf die Grundentscheidungen des Auftraggebers oder aber i n nicht inhaltsleeren Formeln auf die praktischen Grundvoraussetzungen des Raterteilers bezogen werden. Der Empfänger des Rates kann dann prüfen, ob diese Prämissen den seinigen entsprechen. Eine durchaus wissenschaftliche Hilfe muß i n der Regel auch i n der interpretativen Aufhellung der „letzten" Zwecke, d. h. der Grundanliegen, bestehen, ohne deren klare Auffassung der Sinn des erwogenen Verhaltens nicht deutlich bestimmt werden kann. Überdies pflegt ja auch bei Informationen besonders, soweit sie i n erheblichem Maße theorieträchtig sind, das sog. subjektive Element keineswegs zu fehlen, worüber Logik und Wissenssoziologie viel zu sagen haben. I m besonderen die interpersonelle Nachprüfbarkeit ist jedensfalls auch bei der Beschränkung auf bloße Information nicht vollkommen; denn unter den Voraussetzungen dessen, worüber informiert wird, befinden sich Sachverhalte (besonders psychische), über deren tatsächliche Stärken und Rangverhältnisse nur ordinal oder gar nur i n Bildern Angaben gemacht werden können — ein Umstand, der Anhänger der Regel, daß nur informiert werden solle, auch bei den rein explikativen Aussagen zu einer größeren Bescheidenheit nötigt, als sie der klassische Positivismus bei den i n seinem Sinne „rationalen" Aussagen für angebracht hält, und zugleich ein Umstand, der bei den Praktikern primitive Wissenschaftsgläubigkeit ausschließen sollte. A u f dies alles kommt es aber an dieser Stelle unseres Gedankenganges nicht i n erster Linie an. Was hervorgehoben werden soll, ist, daß die Stellungnahme zur Frage der Allgemeinverbindlichkeit für die Schlüssigkeit konzeptionsorientierter, praktischer Systeme der Gesellschaftspolitik überflüssig ist. Was die vorausgesetzten unmittelbaren Interessen und Bindungen anlangt, so hängt die Überzeugungskraft der Aussagen davon ab, ob der Leser mit ihnen übereinstimmt; sei es von vornherein, sei es auf Grund der i h m gewidmeten interpretativen Hilfen. Die hier gemeinten wissenschaftlichen Leistungen werden meist „Selbstverständnis", überhaupt „Verstehen", „Hermeneutik" u. ä. genannt. Diese Ausdrücke sind m i t so vielen Nebenbedeutungen belastet, daß es sich empfiehlt, sie durch einen weniger verbrauchten Ausdruck zu ersetzen, für den sich das Wort „interpretieren" eignet. Es handelt sich hier weder um Theorie noch um eine A r t Schau noch um Metaphysik, sondern u m eine besondere Form von Deskription, die es unternimmt, Antriebe, die zunächst nur i m Dunkel des Gefühls wirksam sind, i n dem erreichbaren Maße durch Subsumierung unter Begriffe bewußt zu machen. Dadurch soll die Chance gewonnen werden, zu anwendbaren („operationalen") Sätzen praktischen Inhalts zu gelangen. Maximale Operationalität der Sätze, i n denen diese Antriebe zu Aus-

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druck kommen, ist jedoch bei diesem Interpretieren von Antrieben nicht erreichbar, weil Inhalt, Rang und Stärke bei bestimmten Typen der zu Antrieben und Entscheidungen führenden (Grund-)Anliegen (Trieben, unmittelbaren Interessen, unmittelbar anerkannten inneren Bindungen) als Größen nicht präzise bestimmt werden können. Demgemäß ist auch der ganze Sinn — das ganze, durch „Prioritäten" skalenmäßig geordnete Bündel dieser unmittelbaren, ihren Gegenstand um seiner selbst w i l l e n schätzenden Anliegen, die zu einem bestimmten „Lebensweg", zu einer bestimmten Ordnung, zu einer bestimmten jeweiligen Gestalt der Gesellschaft i m ganzen usw. führen — nicht mit vollkommener Operationalität interpretierbar; ein Umstand, der auch i m Bereich der Wissenschaften von Politik und Wirtschaft erhebliche Bedeutung hat. W i r haben uns bewußt gemacht, daß die Gültigkeitsfrage nicht i n den empirischen Sozialwissenschaften einschließlich ihrer praktischen, soziotechnologischen Teile, sondern i m Vorfeld dieser nichtfundamentalen Wissenschaften geklärt und gelöst wird. Es muß damit Ernst gemacht werden, daß die Sätze, deren Allgemeinverbindlichkeit oder nur personelle Verbindlichkeit so leidenschaftlich diskutiert wird, i n den Sozialwissenschaften Axiome sind, welchen Inhalt auch immer sie haben. Diese ihre Gültigkeitsweise pflanzt sich dann innerhalb der praktischen Teile der Sozialwissenschaften auf die aus diesen Axiomen, den Fakten usw. abgeleiteten Lehrsätze fort. Empfehlen sie beispielsweise innerhalb eines geschichtsbezogenen Systems der Gesellschaftspolitik, dem dialektische Geschichtsphilosophie zugrunde liegt, daß demjenigen, das sich anschickt, i m dialektischen Geschichtsprozeß Wirklichkeit zu werden, „Geburtshilfe" geleistet wird, so kann diese Entscheidung für Geburtshilfe nicht innerhalb der Sozialwissenschaften und überhaupt empirischer Wissenschaft begründet werden; denn mindestens sie folgt nicht aus dem dialektischen Prozeß. Ebensowenig können gesellschaftspolitische Postulate oder Ratschläge, die von Trieben, Interessen oder inneren Bindungen m i t dem Ziel, zu überleben und vielleicht das Überleben der A r t homo sapiens zu sichern, i n den Sozialwissenschaften oder irgend einer empirischen Wissenschaft begründet werden. Da es nicht nur denkbar, sondern auch empirisch möglich ist und i n der Weltgeschichte immer wieder Wirklichkeit wird, daß Menschen andere Anliegen m i t höherem Rang hegen und ihnen die erforderliche Stärke verleihen, würde ein solcher Begründungsversuch schon abgesehen davon, daß Erkenntnisse und Entscheidungen nicht konfundiert werden können, offenbar zum Scheitern verurteilt sein; denn es ist eben möglich und geschichtlich häufig Tatsache, daß das Einzelschicksal und die Gesellschaft infolge der Beschaffenheit der Motivationskomplexe dieser Einzelnen von dem Willen, zu überleben und die A r t zu erhalten, nicht als ranghöchstem und stärkstem Interesse

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bestimmt werden. Das betrifft nicht Willensschwäche und Mangel an Einsicht; es betrifft Inhalt und Rang der Grundanliegen. Diese Bemerkungen betreffen bestimmte altpositivistische, besonders biologistische, und geschichtsphilosophische Positionen und einen weit verbreiteten Mangel an psychologischen Einsichten. Sie sind, um das zu wiederholen, erforderlich i m Hinblick auf die Überbetonung der Gültigkeitsfrage i n der erkenntniskritischen Diskussion bei den Sozialwissenschaftlern und Philosophen i n den letzten Jahrzehnten; besonders i n der sog. Werturteilsdebatte. Natürlich wäre es verfehlt, wenn nicht beachtet würde, daß dieselben empirischen Phänomene unter anderen Aspekten überhaupt und von den betreffenden Richtungen der Wissenschaft sehr fruchtbar behandelt worden sind und weiterer solcher Behandlung bedürfen. Hierhin gehört beispielsweise auch das, was die an Hegel orientierten Sozialwissenschaftler meinen, wenn sie sagen, daß die Grenze zwischen Erkenntnis und Entscheidung nicht so scharf gezogen werden sollte, wie dies die moderne Logik tut. Die Prozesse des Erkennens und Sichentscheidens können i n der Tat auch als gesellschaftliche Prozesse analysiert werden. Dies geschieht und sollte noch mehr als bisher geschehen, aber es sollte m i t dem Bemühen geschehen, die betreffenden empirischen Untersuchungen nicht m i t philosophischen oder scheinbar philosophischen Betrachtungen zu belasten. Jener Prozeß, i n dem Hegels Lehre aus einer metaphysischen i n eine empirische verwandelt werden sollte, ist alles andere als abgeschlossen. Unbewußt metaphysische Beigaben der Dialektik verhindern noch immer weithin unbefangen empirisches Denken 5 . Entsprechendes gilt für ernsthaft begründete Vermutungen des I n halts, daß i n sehr vielen Epochen der Sozialgeschichte der i n den M i t teln durch den jeweiligen Stand der Technik beeinflußte Wille zu überleben mehr als andere Grundanliegen innerhalb der gesellschaftlich vorherrschenden Motivationskomplexe die Struktur der gesellschaftlichen Ordnungen und Einrichtungen und die laufende gesellschaftliche Tätigkeit unter der Herrschaft dieser Institutionen beeinflußt hat. Der Versuch einer Prognose, daß dies unter den äußerst neuartigen weltgeschichtlichen Bedingungen der Gesellschaft i m Zeitalter der Technik so bleiben werde, dürfte sich bei näherer, unbefangen empirischer Prüfung als eine i n der gegenwärtigen Situation nicht hinreichend begründbare Verheißung herausstellen, die je nach der Grundanliegenkombination des Verheißers einstweilen ein Kassandraruf oder die Verkündung eines Paradieses auf Erden bleiben muß. 5 Vergleiche hierzu auch die Auseinandersetzung meines Mitarbeiters Klaus Lompe vor allem m i t Popper u n d Habermas i n seiner o. a. Schrift.

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VI. Die Wirtschaftswissenschaft und die Politologie sind sozialwissenschaftliche Disziplinen; das heißt, ihr Gegenstand ist die menschliche Gesellschaft, unter bestimmten Aspekten analysiert und bewertet. Diese menschliche Gesellschaft ist ein Ganzes. Hier interessiert nicht, ob sie diese Eigenschaft i n metaphysischer Sicht hat; sie ist auf jeden Fall empirisch ein Ganzes. Kein Gebiet des gesellschaftlichen Geschehens kann optimal analysiert und kritisch gewürdigt werden, wenn es isoliert betrachtet wird. Zwischen allen Gebieten besteht eine Fülle von Wirkungszusammenhängen. Selbstverständlich gibt es unter diesen möglichen und tatsächlichen Wirkungen solche, die so minimal sind, daß sie nicht beachtet zu werden brauchen. Aber die beachtlichen Wirkungszusammenhänge zwischen den Teilgebieten des gesellschaftlichen Geschehen s sind so erheblich, daß sie sowohl bei dem Aufbau von Systemen explikativer A r t wie auch i n praktischen Systemen nur insoweit außer acht gelassen werden dürfen, als dafür absolut zwingende Gründe und zwar ausdrücklich nachzuweisende methodologische Gründe bestehen. I n diesem Falle aber ist von vornherein klar, daß die sich ergebenden Aussagen die Wirklichkeit i n Vergangenheit und Gegenwart nicht treffend und vollständig wiedergeben können, Prognosen mit optimaler Aussagekraft nicht formuliert werden können und wertende K r i t i k , Postulate, Empfehlungen und Warnungen nicht m i t definitiver personeller Verbindlichkeit zum Ausdruck gebracht werden können. Alle Aussagen, die i n jener Weise isoliert sind, dürfen nur mit ausdrücklichen Vorbehalten geltend gemacht werden, die sich darauf beziehen, daß die Wirkungszusammenhänge mit den anderen Gebieten des sozialen Geschehens nicht oder nur i n einem bewußt beschränkten Umfang beachtet werden. Hierbei liegt es auf der Hand, daß i n vielen Fällen sehr viele Vorbehalte nötig sind, so daß sich die Frage ergibt, ob die ausreichend m i t Vorbehalten versehenen Aussagen unter der Herrschaft des jeweiligen Erkenntnis- oder Entscheidungsinteresses fruchtbar genug sind. Hier kann es Konflikte geben. Das Streben nach dem Maximum an Operationalität, gegebenenfalls Meßbarkeit, kann i n Konflikt m i t dem Willen geraten, das Maximum an Fruchtbarkeit i m angegebenen Sinne zu erreichen. Die dann anzustellenden Abwägungen müssen also auf ein irgendwie bestimmtes Optimum an Fruchtbarkeit und interpersoneller Nachprüfbarkeit abgestellt werden. Kognitiver Perfektionismus und seine heute weit verbreitete Sonderform Quantifizierungsperfektionismus widersprechen diesem methodologischen Postulat der Abwägung, was nicht bedeutet, daß etwa dort, wo größere Präzision und mehr Messung als bisher erreichbar sind, auf diese Leistungen verzichtet werden dürfte. Es läßt sich leicht an einem einzigen,

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politisch wichtigen Beispiel zeigen, welche Grenzen dieser kognitive Perfektionismus nicht genug beachtet. Alle Welt ist heute davon überzeugt, daß es nichtstaatliche Mächte gibt, die nicht unter das Denkschema passen, die Gesellschaft sei gut, der Staat schlecht. Der w i r t schaftliche Liberalismus neigt dazu, diese Mächte nur insoweit als Übel anzusehen, als sie den Wettbewerb auf dem Markt beschränken, oder er sieht i n der „wirtschaftlichen Macht" ordnungspolitisch etwas durchaus Legitimes 6 . Der Soziologe und besonders der Politologe meinen, daß die Verfassungswirklichkeit anders aussieht. Sozialwissenschaftler, die nicht unter der geschichtlichen Instinktlosigkeit des klassischen W i r t schaftsliberalismus leiden, hegen die Vermutung, daß auch nichtstaatliche Kräfte, deren Macht sich auf wirtschaftliche Positionen stützt, i n großem Umfang gesellschaftliche Macht schlechthin auszuüben gewillt sind. Ferner besteht die begründete Vermutung, daß sie das auch können; und zwar nicht nur auf dem Markt. Sie bedürfen, um effektive, wenn auch meist heimliche Mitregenten zu sein, keiner Polizei und nicht strafrechtlicher Sanktionen. Heute stehen i m großen Umfang die M i t t e l der Suggestion zur Verfügung, wenn Mitregentenmacht ausgeübt werden soll, und auch selbst geglaubte oder nur wirksam verkündete Ideologien stehen dem Willen zur Mitregentschaft zur Verfügung. Dieser Wille kann neufeudalistisch auf Aushöhlung des Staates gerichtet sein. Zugleich natürlich gibt es nichtstaatliche Mächte, die aus eigenem A n trieb sich jene öffentlichen Aufgaben stellen, die nach der Überzeugung der sich äußernden Gesellschaftsgestalter oder sozialwissenschaftlichen Ratgeber zugleich unmittelbar oder subsidiär Aufgabe des Staates sein sollten. Für diese meist gemeinnützig genannten nichtstaatlichen Mächte gilt bei entsprechenden Grundanliegen des Gesellschaftsgestalters offenbar die Vermutung, daß sie erwünscht sind, weil sie verhüten, daß die immer mehr der Organisierung bedürftige Gesellschaft uniform und nur von oben her durch die Hoheitsträger gestaltet wird, und doch i n der Grundrichtung dessen tätig sind, was als öffentliche Aufgaben der i m Staate gesellschaftlich verbundenen Menschen gilt. Schließlich gibt es nichtstaatliche Mächte, die weder durch neufeudalistische W i l l k ü r noch durch Gemeinnützigkeit gekennzeichnet sind, die aber, ohne erwünscht zu sein, i n einem freiheitlichen Staatswesen, i n dem die Beweislast der Freiheitbeschränker hat, geduldet werden müssen. Unser Beispiel aber möge sich auf nichtstaatliche Mächte m i t dem Willen zur mehr oder weniger verhüllten Mitregentenschaft erstrecken, die, bezogen auf den ganzen Sinn der gewollten bzw. geforderten Gesellschaftsgestalt, überhaupt oder i n Bezug auf einzelne Betätigungen bekämpft werden müssen. I n dem Falle aber ergibt sich natürlich zu6 Vgl. Muthesius, F r a n k f u r t 1960.

Volkmar:

Das Gespenst der wirtschaftlichen

Macht.

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nächst die Frage, wie weit solche Absichten und Betätigungen überhaupt vorliegen. Hier nun w i r d der heutige Sozialwissenschaftler nach Möglichkeit zu den neuen Methoden empirischer Sozialforschung greifen. Aber welche Chancen hat er i m vorliegenden Fall dabei? Die Menschen an der Spitze dieser Mächte stellen eine Auslese von Könnern dar. Sie werden mindestens so lange, als der Staat noch nicht entkräftet ist, ihren Willen zu regentenartiger Betätigung verhüllen wollen und bei dieser Absicht viel Geschick an den Tag legen. Unter diesen Umständen kommen offenbar nur diejenigen Methoden empirischer Sozialforschung i n Betracht, die besonders intensiv sind und auch nicht versagen, wenn die Beobachteten ihre Absichten verhüllen. Auch Irrtümer der Selbstinterpretation müssen unter Umständen berichtigt werden; auch Könner der Soziotechnik sind möglicherweise Gefangene von Ideologien und irren sich insoweit über ihre eigenen Absichten. I m vorliegenden Fall kommt es hiernach auf „teilnehmende Beobachtung" an. N i m m t nun der Sozialforscher an der Gestaltung dieser Gebilde teil, um dadurch zuverlässige Beobachtungen zu gewinnen, und publiziert er Beobachtungen, deren Veröffentlichen den betreffenden Mächten unerwünscht ist, so ist klar, daß der Sozialforscher von da an nicht mehr teilnehmender Beobachter sein darf. Die betreffenden Beobachtungen kann man nur auf der Kommandobrücke machen. Er w i r d also von dieser Kommandobrücke verwiesen werden. Vielleicht w i r d er an goldene Ketten gelegt. M i t anderen Worten: Bei einem der wichtigsten heute vermuteten gesellschaftlichen Phänomene sind die hohen Grade der Zuverlässigkeit der Beobachtung nicht erreichbar, die der empirische Sozialforscher — i n an und für sich verdienstvoller Weise — erstrebt. Es bleibt bei dem, was der Verfasser dieser Abhandlung „begründete Vermutung" genannt hat: Sozial Wissenschaftler, die sich i n hohem Maße um innere Unabhängigkeit bemühen, einen weiten Überblick über das gesellschaftliche Geschehen haben, sozialgeschichtlich und sozialpsychologisch zu denken vermögen, als Theoretiker viel von empirischen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens wissen und i n hohem Maße die Gabe der Einfühlung haben, entschließen sich, ihre mit Hilfe aller dieser Fertigkeiten und i n jener Haltung gewonnenen Vermutungen ihren explikativen und praktischen Aussagen zugrunde zu legen, obwohl keine Sicherheit i m Bezug auf die behaupteten Fakten und Tendenzen und auch nicht das Maximum an interpersoneller Nachprüfbarkeit gegeben sind. Die Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Aussagen auf diesen Gebieten w i r d durch Verzicht auf kognitive Sicherheit und auf Vollkommenheit der interpersonellen Verständigung erkauft. I m Verhältnis zwischen dem Theoretiker und dem Praktiker bedeutet dies, daß die Wissenschaft der Praxis prinzipiell das Wagnis nicht abzunehmen vermag.

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Verzichtet man i n dieser Weise auf perfektionistische Neigungen, so ergeben sich höchst wichtige Folgerungen i m Sinne des Erfordernisses, daß jede einzelne sozial wissenschaftliche Disziplin auf die Ergebnisse anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen und überhaupt vieler anderer Wissenschaften Bezug nehmen sollte. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Politologie und Wirtschaftswissenschaft; und zwar sowohl für die explikativen wie für die praktischen Teile. Bei näherer Prüfung bleibt dann kein Raum für die beliebte Wendung, daß zwar vom „sachlichen" Standpunkt einer dieser Wissenschaften aus dies und jenes endgültig gesagt werden müsse; was dann aber die Praktiker, besonders die Politiker, daraus machen, müsse ihnen überlassen bleiben. Die Wirtschaftswissenschaftler neigen dazu, Ergebnisse anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen wie vor allem der Politologie unter Anwendung der Formel, daß dies und das nur i n die Entscheidung des politischen Praktikers fallen könne, zu vernachlässigen und ihre eigenen Aussagen als Ausdruck besonders hoher Sachlichkeit zu überschätzen. Tatsächlich existiert ja aber i n der Form der Politologie eine besondere sozialwissenschaftliche Disziplin, die es mit der Durchsetzbarkeit von Konzeptionen und punktuellen Entscheidungen zu t u n hat. Wenngleich auch i n ihrem Bereich „reine Theorie" so beschaffen ist, daß ihre Ergebnisse nur m i t Vorbehalten geltend gemacht werden dürfen, so ermangeln doch diese Lehrsätze und die Ergebnisse der Politologie überhaupt nicht i n prinzipiell höherem Maße der Wissenschaftlichkeit als die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Disziplin, die w i r Wirtschaftswissenschaft nennen. Hat ein Gesellschaftsforscher bestimmte Kriterien der Stoff auslese und der Entscheidung (des „Engagements"), so kann es nicht ausbleiben, daß er diese Kriterien auf jede für ihn wichtige sozial wissenschaftliche Disziplin anwendet; und die Politologie ist bei entsprechender Ausgestaltung für ihn wichtig, weil sie ihm sagt, welche Fakten und Gesetzmäßigkeiten er als Bedingungen (nicht Ziele) beachten muß, wenn er bestimmte ökonomische Prozesse erklären oder kritisieren w i l l oder ein bestimmtes Konzept der Volkswirtschaftspolit i k oder der Einzelwirtschaftspolitik m i t dem Wunsch vertritt, daß es keine Utopie werde. Je näher die Politologie dem Zustand einer ausgereiften Wissenschaft kommt, desto weniger darf die Wirtschaftswissenschaft es sich leisten, bei der Beurteilung der Realität oder der Durchsetzbarkeit des von ihr Ausgesagten den politischen Praktiker sich selbst zu überlassen. Es w i r d zu ihrer Aufgabe, die ihr als ausgereift erscheinenden Sätze der Politologie als Axiome heranzuziehen und so zu Aussagen zu gelangen, bei denen der Praktiker ihren Realismus nachprüfen kann.

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VII. Schwierigkeiten bereitet auch das heute so viel diskutierte Kompatibilitätspostulat. Bei der starken Stellung des Neuliberalismus i n der Wirtschaftswissenschaft w i r d i n dieser Wissenschaft häufig die schlechthin sozialwissenschaftliche Bedeutung dieses Postulats verkannt. Man fordert „Marktkonformität". Es steht fest, daß der Markt mindestens unter bestimmten Ausnahmebedingungen seine Tugenden gar nicht bewähren kann. Außerdem muß immer intensiver gefragt werden, ob vollkommene Konkurrenz unter der Herrschaft der heutigen technischen Bedingungen bei Beibehaltung der ganzen, heute gesellschaftlich vorherrschenden Motivationskomplexe nicht zu einer Utopie werden muß. Auf jeden Fall aber kann nicht unterstellt werden, daß unter allen heute i n Betracht kommenden sozialen Bedingungen die Beschränkung auf marktkonforme Wirtschaftspolitik den Erfordernissen der Politik i n Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes stets kompatibel ist. Kompatibilitätspostulate ohne Vorbehalte sind infolge der bereits erörterten Wirkungszusammenhänge höchstens innerhalb von schlechthin gesellschaftspolitischen Programmen vertretbar; und auch hier nicht ohne Beachtung außergewöhnlicher historischer Situationen, i n denen abweichende Improvisierungen Pflicht sein können. Das heißt natürlich nicht, daß die Frage nach der Marktkonformität unzulässig sei; aber es bedeutet, daß Postulate, die sich auf die Herstellung von Marktkonformität erstrecken, nicht ohne allgemeine gesellschaftspolitische Vorbehalte geltend gemacht werden dürfen 7 . VIII. Entscheidet sich ein Praktiker der Gesellschaftsgestaltung oder ein wissenschaftlicher Ratgeber für freiheitliche Gesellschaft i m Sinne einer Gesellschaft, die i m erreichbaren Maße vor W i l l k ü r staatlicher und nichtstaatlicher Regenten geschützt ist und nach Maßgabe des vertretenen Bündels von Grundanliegen (des Motivationskomplexes) das jeweilige Optimum an Selbstverantwortung bei der Gestaltung des eigenen Lebens gewährt, so ergibt sich ein wichtiges Problem der Organisation der gesellschaftlichen Prozesse. Aus Gründen, die hier nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen, läßt sich vermuten, daß eine automatisch funktionierende Ordnung i m Zweifel der Freiheit i m angegebenen Sinne mehr Chancen bietet als eine Ordnung, bei der die Prozesse jeweils durch generelle oder punktuelle Entscheidungen hinreichend 7 Bei einer öffentlichen Diskussion des Verfassers m i t Franz Böhm u. a. i n der A u l a der Frankfurter Universität ist dies näher ausgeführt worden. Vergleiche Gerhard Weisser: F ü r oder gegen Marktwirtschaft — eine falsche Frage, 2. Aufl., K ö l n 1953, vergriffen.

Aussagen von Politologie und Wirtschaftswissenschaft

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mächtiger Menschen bestimmt werden, mögen sie auch als bloße Beauftragte tätig sein. Zugleich aber steht fest, daß heutige Gesellschaft zu kompliziert ist, als daß einfach funktionierende Lenkungsautomaten unter der Herrschaft der o. a. Bündel von Grundanliegen vertretbar wären. Auch gibt es begründete Zweifel daran, ob heute Lenkungsautomaten derart, wie sie das 19. Jahrhundert befürwortet hat, noch anwendbar sind. Vor allem aber muß ein tiefgehender Unterschied zwischen allen früheren Typen der Gesellschaftsordnung und der heutigen beachtet werden. Es gibt eine Weltgesellschaft, und ihr Verlauf ist für die Menschheit nicht mehr i n dem Maße Schicksal, wie dies noch von den großen Soziologen des 19. Jahrhunderts angenommen wurde. Weltgesellschaft w i r d i n diesem Sinne „verantwortliche Gesellschaft". Zwar stehen die weltanschauliche Zerklüftung der Menschheit und innerhalb bestimmter Machtblöcke die Geltung bestimmter weltanschaulicher Positionen der an und für sich gewissermaßen geschichtlich fälligen Weltgesellschaftsordnung i m Wege, aber es ist keinesfalls mehr möglich, die These von der Vorzugswürdigkeit automatischer Lenkung noch i n der Weise zu vertreten wie dies i m 19. Jh. i m Bezug auf die Wirtschaftsgesellschaft versucht wurde. Wer für Freiheitlichkeit der Gesellschaft i m o. a. Sinne eintritt, w i r d also nicht doktrinär und uneingeschränkt Ordnungsautomatik fordern dürfen; aber er w i r d von seiner Grundeinstellung aus die Beweislast auf sich nehmen müssen, wenn er die These vertritt, daß der Verlauf des gesellschaftlichen Geschehens der Verantwortung hinreichend mächtiger physischer Menschen übertragen wird, soweit nicht doch auch heute noch für einzelne Gebiete des sozialen Geschehens die Technik der Lenkungsautomaten ohne übergroße Nachteile angewendet werden kann. Der m i t den Regeln der Demokratie verbundene Schutz der Minderheit und die Legitimität der Auswechselung der verantwortlichen Personen sollten bei dem Übergang zur Methode der ad hoc oder generell getroffenen Entscheidungen ebenso beachtet werden wie eine umfassende Pflege freiheitlicher Gesinnung durch Erziehung zur Freiheit.

Zur Pathologie der Marktwirtschaft Von Johannes Langelütke Pflanzen, Tiere und Menschen können, da sie Lebewesen, Organismen sind, erkranken. — Kann auch die Wirtschaft erkranken und so etwas wie pathologische Erscheinungen aufweisen, obwohl sie ja i m streng biologischen Sinne kein Lebewesen ist? — Es fehlen der W i r t schaft gewisse Charakteristika, die einem Lebewesen eigen sind; sie w i r d nicht geboren, sie pflanzt sich nicht fort und sie stirbt nicht, zumindest nicht i n dem Sinne, wie das bei Organismen der Fall ist. Dennoch weist sie als ein dem Organismus ähnliches Gebilde Zusammenhänge auf, die sich unserem Verständnis viel eher erschließen, wenn w i r die Wirtschaft als einen „Quasi-Organismus" betrachten, als wenn sie als Mechanismus, als Maschine interpretiert wird. Gerade das ist die Marktwirtschaft nicht. Ihre Bewegungsabläufe sind nicht wie bei einer Maschine starr festgelegt, sondern sie reagiert auf Reize und somit psychologisch i n ganz ähnlicher Weise wie ein Lebewesen. Vor allem aber verfügt sie — und das ist das Entscheidende — über das, was man Selbstheilungskräfte nennt. Bei allen Störungen, die von außen ständig auf sie einwirken, lenkt ein unbewußter Wille — „eine unsichtbare Hand", wie Adam Smith es ausdrückt — die verschiedenen Abläufe der Wirtschaft i m Sinne eines Ausgleichs, eines harmonischen Zusammenspiels, ähnlich wie das vegetative Nervensystem i m Körper die Prozesse der Verdauung, der Blutzirkulation, der Atmung reguliert. Indem w i r aber der Wirtschaft Selbstheilungskraft, also Gesundungskraft zuerkennen, ist damit auch die Möglichkeit einer krankhaft disharmonischen Entwicklung und somit pathologischer Erscheinungen i n der Wirtschaft zugestanden. I n der Vergangenheit sind solche Wirtschaftserkrankungen — teilweise von langer Dauer und sozial von üblen Folgen — immer wieder vorgekommen. Ich erinnere an die katastrophalen Wirtschaftsvorgänge wie die Jahre des völligen Währungsverfalls nach dem ersten Weltkrieg, die Arbeitslosigkeit und die Existenzzusammenbrüche während der wohl schwersten Erkrankung, die unsere Wirtschaft i n der Weltwirtschaftskrise durchmachte; dann der erneute Zusammenbruch unseres Geld- und Währungssystems nach dem zweiten Weltkrieg, Erkrankungen, bei denen die Selbstheilungskräfte allein nicht ausreichten, u m die Wirtschaft wieder i n ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. 9 Festgabe für Gert von Eynern

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Johannes: Langelütke

Lassen Sie mich zur Rechtfertigung der biologisch-organischen Betrachtungsweise kurz einige begriffliche Erklärungen vorausschicken, bevor w i r uns den pathologischen Phänomenen als solchen und der Diagnose des gegenwärtigen Zustandes zuwenden. Zunächst: nicht jedes Wirtschaftssystem läßt sich i n seiner Wirkungsweise m i t einem Organismus vergleichen. Die Planwirtschaft z.B. ist kein Organismus, der i n Analogie zum vegetativen Regulierungssystem i m Körper — w i l lensunbewußt — sich selbst steuert; vielmehr w i r d die Planwirtschaft — wie ihr Name sagt — bewußt von einer Willenszentrale aus gesteuert und bis i n Einzelheiten hinein festgelegt und nachreguliert. Hier dürfte der Vergleich m i t einem Mechanismus vielmehr am Platze sein. Demgegenüber ist die Marktwirtschaft ihrem grundsätzlichen Sinne nach auf eine selbständige Regulierung der ständig auf sie einwirkenden Störungskräfte eingestellt. Solche Störungen sind z. B. schlechte oder auch zu gute Ernten, Katastrophen aller A r t , politische Eingriffe, Bedarfswandlungen, Streik und ähnliches. Die Wirtschaft w i r d aber nicht nur von außen gestört, sondern sie befindet sich schon wegen der zunehmenden Bevölkerung und wegen des Fortschritts der Technik i n einem ständigen, wenn leider auch nicht stetigen Wachstum. Wachstum aber ist ein höchst komplizierter Vorgang der Organismen, weil bekanntlich die Organe und Glieder ungleich wachsen und trotzdem eine Harmonie i n diesem Wachstum gewährleistet sein muß, sollen nicht Wachstumsanomalien, also Erkrankungen wie Elefantiasis und ähnliches auftreten. Hierfür hat der menschliche Körper — wie man annimmt — i n der Hirnanhangdrüse, der Zirbeldrüse, ein Steuerungsorgan, das die richtigen Proportionen i m Wachstum reguliert. Wenn die Marktwirtschaft Selbstheilungskräfte entwickelt, wenn sie wie ein lebender Körper auf Reize reagiert, wenn sie weiter — was eine Maschine gleichfalls nicht kann — wächst und sich der veränderten Umwelt anpaßt, so scheint m i r der Vergleich m i t dem Organismus hinreichend gerechtfertigt, u m auch von pathologischen Prozessen, wie sie nun einmal allen Organismen eigen sind, sprechen zu dürfen. Aber was ist Krankheit, was ist Gesundheit? Das sind offene Fragen, die die Gelehrten der Biologie und vor allem natürlich der menschlichen Medizin zu allen Zeiten beschäftigt haben. Je nach dem Stand des Wissens und des Weltbildes wurden sie verschieden beantwortet. Nach Professor Leibbrand — dem Philosophen unter den Ärzten — war es bis heute noch keiner Zeitepoche möglich, eine wirklich verbindliche Begriffsbestimmung von Krankheit und Gesundheit zu geben. Nun, ich möchte meinen, i m konkreten Fall ist es nicht so schwer, das Kranksein vom Gesundsein zu unterscheiden. Der Schmerz, das Unbehagen, sind meist verläßliche Zeichen für den Tatbe-

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stand einer gestörten Harmonie. Solche subjektiven Indikatoren gibt es auch i n der Wirtschaft, nur daß sich hier i m Sozialkörper das Unbehagen nicht auf ein Subjekt, sondern auf eine mehr oder minder große Anzahl von Subjekten erstreckt. Darüber hinaus gibt es natürlich ebenso wie i n der Medizin objektive Merkmale, die — wie dort das Fieber und der Puls — hier an der Preissteigerung, an der Zahl der Arbeitslosen oder der Konkurse und ähnlichem mehr Tatsache und Ausmaß der Erkrankung konstatierbar machen. Schwerer ist schon zu sagen, was Gesundheit ist, weil es sich sowohl i m biologischen als auch i m wirtschaftlichen Bereich u m eine — was übrigens schon der alte Hippokrates mit großer Klarheit dargelegt hat — „fortgesetzt bedrohte Schwebe gegensätzlich gerichteter Kräfte handelt, die gegeneinander i n Spannung stehen und die i m Zustand der Gesundheit miteinander i n Harmonie gehalten werden". Krankheiten sind für Hippokrates nichts Neuhinzutretendes, sondern Erschütterungen und Störungen der Harmonie durch das zeitweilige Überwiegen eines einzelnen Stoffes oder einer einzelnen Kraft. Dieses vom Begründer der wissenschaftlichen Medizin gezeichnete B i l d einer Zone des labilen Gleichgewichts läßt sich weitgehend auch auf Krankheit und Gesundheit des marktwirtschaftlichen Organismus übertragen. Auch hier ist Gesundheit nichts anderes als eine durch tausendfache Einflüsse fortgesetzt bedrohte „Schwebe", m i t anderen Worten: ein labiles Gleichgewicht. W i r d die Bandbreite des labilen Gleichgewichts überschritten, so sprechen w i r von einer pathologischen Erscheinung. Als Vergleich möge die Körpertemperatur dienen; auch sie bewegt sich i n einer Bandbreite von etwa 36,5 bis 37,5°. Erst wenn sie über- oder unterschritten ist, sprechen w i r von Fieber bzw. von Untertemperatur, die beide nur Symptome einer i n ihren Ursachen aufzusuchenden Krankheit sind. Ebenso wie unser Körper ist auch die Wirtschaft ständig von außen Störungs- oder Infektionseinflüssen ausgesetzt. Die hierdurch erzeugten Störungseffekte werden i m gesunden oder ausgewichteten Organismus durch Gegenkräfte innerhalb der Schwebe, also der Bandbreite, paralysiert. Zu den Störungen gehören all die Einflüsse wie ein schlechter oder auch ein zu guter Ernteausfall, Warenverknappung durch Verkehrsstörungen und durch politische Ereignisse, ferner Zoll- und Steuermaßnahmen, Mode- und anderer Bedarfswandel und dergleichen mehr. Immer handelt es sich um ein Zuviel oder ein Zuwenig und dadurch v/erden Schwankungen auf den einzelnen jeweils betroffenen Märkten ausgelöst. Diese partiellen Schwankungen innerhalb der Bandbreite — wie w i r sie tagtäglich mal auf diesem, mal auf jenem M a r k t finden — sind noch keine Krankheiten, sondern i m Gegenteil erforderlich, um die störenden Einflüsse auszugleichen. W i r würden ja auch jemanden, 9*

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der infolge besonderer Umstände zwei Tage hat hungern müssen, der ungewöhnlichen Anstrengungen ausgesetzt war oder zwei Nächte nicht schlief, nicht bereits als krank bezeichnen. A l l das kompensiert der Organismus dank der i h m zur Verfügung stehenden Reserven innerhalb der Gleichgewichtszone. Der wichtigste Regulator i m Wirtschaftskörper ist der i n seiner Höhe stets wechselnde Preis. Wo durch zu große Nachfrage eine Mengenverknappung eintritt, w i r k t der steigende Preis durch Verteuerung kompensierend, die Kaufkraft wendet sich dann anderen, wohlfeileren Märkten zu. Wo jedoch umgekehrt eine Ware i n zu großen Mengen am M a r k t ist, w i r k t der dann sinkende Preis wiederum kompensierend auf das Angebot; die Herstellungsmenge w i r d eingeschränkt. M i t Hilfe der Preisschwankungen des Einzelmarktes und der Märkte untereinander kommt so der Ausgleichs- oder Selbstheilungsprozeß i n Gang, der sich durch die ständige Gegenbewegung von Preis und Menge i m Rahmen der Bandbreite abspielt. Wenn nun aber die Kompensation von Menge und Preis aussetzt und statt der Gegenläufigkeit eine Parallelbewegung Platz greift, wenn m i t anderen Worten nicht mehr die Einzelpreise sich i n ihren Bewegungen kompensieren, sondern das Preisniveau nach oben oder unten i n Bewegung gerät, dann ist der Ausgleichsprozeß gestört, die Bandbreite ist überschritten; Fieber oder Untertemperatur setzen ein. W i r dürfen dann von einer pathologischen Erscheinung sprechen, weil nun die Abwehrkräfte der Wirtschaft zumindest beeinträchtigt, wenn nicht überhaupt gelähmt sind. Neu auftretende Störungseinflüsse finden keine zureichende Kompensation mehr. Preissteigerungen oder Preisverfall verlaufen nur noch i n einer Richtung und entwickeln einen kumulativen Prozeß. Versucht man an Hand des vorstehenden Schaubildes den gegenwärtigen Stand der Konjunkturentwicklung zu diagnostizieren, so können w i r feststellen, daß w i r i n der absteigenden Kurve des Wirtschaftsablaufs, die i m Modellbild dargestellt ist, bereits die Gleichgewichtszone durchschritten haben dürften. Damit aber sind w i r aus der durch Investitionsrückgänge i m Jahre 1966 einsetzenden Abwärtsbewegung bereits i n den Gefahrenbereich einer Deflation m i t drohender Unterbeschäftigung geraten. Da ein automatischer Ausgleich außerhalb der Gleichgewichtszone nicht zu erwarten ist, bedarf es des therapeutischen Eingriffs durch Fiskus und Notenbank, wie er folgerichtig zur Zeit durch Defizit-spending des Staates und der Gemeinden sowie durch Verflüssigungsmaßnahmen am Geld- und Kapitalmarkt praktiziert wird. Dieser konjunkturpolitische Eingriff, der 1960 i m aufsteigenden Ast der Wirtschaftsentwicklung (im Modellbild durch ein Kreuz gekennzeichnet) zur Verhinderung einer Inflation verabsäumt wurde, bildet das Kernstück einer sozial gesteuerten Marktwirtschaft.

Zur Pathologie der Marktwirtschaft

Die normative Wurzel des wirtschaftlichen Wertes Von Adolph Lowe Erörterungen über den wirtschaftlichen Wert und seine Bedeutung für das Verständnis wirtschaftlicher Vorgänge sind so alt wie die W i r t schaftswissenschaft selber. I n den folgenden Überlegungen ist nicht beabsichtigt, dieses Problem i n seiner ganzen Breite aufzurollen und eine Diskussion fortzusetzen, die jedenfalls bis zum ersten Weltkrieg das Forschungsinteresse der besten theoretischen Köpfe von Smith, Ricardo und Marx bis h i n zu Walras, Marshall und Pareto absorbierte. I n anderen Worten: es geht hier nicht darum, die relative Bedeutung von subjektiven und objektiven Faktoren, von Nutzen und Kosten i n der Bestimmung des sogenannten wirtschaftlichen Wertes zu untersuchen, gar nicht zu sprechen von der Kontroverse über die angeblichen politischen Ideologien, die sich hinter diesen Entscheidungen verbergen sollen. Die Frage, die hier behandelt wird, betrifft eine Seite des Problems, welche von den streitenden Schulen selbst kaum ernsthaft ins Auge gefaßt und gewiß nicht gründlich untersucht wurde. A u f die kürzeste Formel gebracht geht es darum, welche Rolle dem „Wertbegriff" i n einer „ w e r t freien" Seinswissenschaft zukommen kann, als welche sich die W i r t schaftstheorie jedenfalls i n all ihren zeitgenössischen Fassungen darstellt. Wenn etwa die Grenznutzenschule ihre Analysen auf den Nutzenschätzungen der Verbraucher aufbaut, so mögen sich allerlei Bedenken gegen diesen Ausgangspunkt erheben. Aber niemand kann bestreiten, daß hier mit einem Begriff gearbeitet wird, der i n vollem Einklang mit der Struktur einer Erfahrungswissenschaft steht. Das Gleiche gilt für die Behauptung, daß der Zentralbegriff der Ökonomie i n den quantitativen Verhältnissen zu suchen sei, nach welchen sich die Güter i m Markte umsetzen. Was damit aber keineswegs gerechtfertigt scheint, ist der traditionelle Sprachgebrauch, der sowohl jene Schätzungen als auch diese Tauschrelationen auf einen Wertbegriff bezieht. Es kann ja nicht übersehen werden, daß m i t dem Begriff des Wertes grundsätzlich ein normatives Element verbunden ist, das i m Bereich der Ethik, der Ästhetik oder ganz allgemein der Philosophie beheimatet ist, und das zu der i n den positiven Wissenschaften herrschenden Verfahrensweise, dessen sich die moderne Wirtschaftstheorie zu bedienen behauptet, i n schroffem Widerspruch steht.

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Aus diesem Dilemma scheint es einen einfachen Ausweg zu geben. Vielleicht ist der Gebrauch des Wertbegriffes i n den beschriebenen Zusammenhängen einfach ein terminologischer Mißbrauch. Besteht die Lösung des Problemes etwa darin, daß die fraglichen Phänomene als das bezeichnet werden, was sie i m Zusammenhang der Analyse w i r k lich darstellen: eben Nutzenschätzungen und Tauschrelationen? Gegen diesen Versuch, den gordischen Knoten zu zerhauen, erhebt sich freilich das Bedenken, daß das Argumentieren m i t Wertbegriffen nicht als eine gelegentliche Entgleisung gebrandmarkt werden kann. Mindestens seit dem Hochmittelalter gilt der Wert als ein Fundamentalbegriff w i r t schaftlichen Denkens. So w i r d die Frage unabweisbar, ob nicht trotz aller puristischen Ansprüche diesem Denken ein normativer K e r n innewohnt, dessen klare Herausarbeitung für die Entwicklung der Ökonomie von Wichtigkeit ist. Dies ist i n der Tat die Auffassung, von der die folgenden Bemerkungen getragen sind. Hier soll nicht nur gezeigt werden, daß dem Wertbegriff i m philosophischen Sinn des Wortes ein rechtmäßiger Platz i m Zusammenhang der ökonomischen Theorie zukommt, sondern bei genauem Zusehen erweist sich eine der traditionell m i t dem Wertbegriff belegten Erscheinungen, nämlich die Austauschrelation, als die Brücke zwischen der normativen und der positiven Auslegung wirtschaftlicher Phänomene. A m Ende enthüllt sich gar eine bestimmte Ordnung solcher Austauschrelationen, wie sie das sogenannte Preisgleichgewicht darstellt, zwar keineswegs als „immanent wertvoll", aber doch als ein Symbol für einen materiellen Zustand, der mindestens i n der vergangenen Geschichte die Grundlage für die Verwirklichung aller echten Werte darstellte.

I.

Eine solche Auffassung muß einem modernen positivistischen W i r t schaftstheoretiker seltsam vorkommen, obschon oder gerade weil sie manches m i t der antiken und der mittelalterlichen Wirtschaftslehre gemeinsam hat. Es ist allbekannt, daß das Austauschverhältnis der Güter, wie es sich aus den örtlichen und zeitlichen Preisschwankungen als Dauererscheinung herausbildet, für Aristoteles und die Kirchenväter eine sittliche Norm darstellte. Was der Gehalt dieser Norm sei, w i r d etwa i m fünften Buch der Nichomachischen Ethik zu einem zentralen Problem. Die dort erarbeiteten Ergebnisse, die sich auf die verschiedenen Kategorien von Gerechtigkeit beziehen, dienen Aristoteles dann als Maßstab für die ökonomischen Analysen seiner Politik . Dort unterscheidet er zwischen den „natürlichen" Arten der Haushaltsfüh-

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rung und des Naturaltausches einerseits und anderseits dem „unnatürlichen" Verfahren eines Handels, welcher unbegrenztem Gelderwerb dient. I m letzteren Falle geht es u m Tauschakte, i n denen einer der Partner eine Monopolstellung einnimmt oder Wucher betreibt. Und der letzte Grund, weshalb solche Praktiken als unnatürlich angesehen werden und der Verachtung anheim fallen, liegt für i h n darin, daß sie das sittliche Prinzip der Gleichberechtigung verletzen. Leider ist Aristoteles recht vage, wenn er den Zustand der Gleichberechtigung zu bestimmen sucht, der angeblich aus den Transaktionen „gerechter" Tauschpartner hervorgeht. Er spricht von einer Mittelposition zwischen den extremen Tauschrelationen, die den Gesamtvorteil entweder dem Käufer oder dem Verkäufer zuweisen würden. Aber er sagt uns nicht, weshalb i n einem seiner Beispiele der gerechte Preis eines Hauses gerade fünfmal und nicht sechsmal oder viermal so hoch sein soll wie der eines Bettes. Solche Unschärfe bedeutet jedoch nicht, daß das gerechte Austauschverhältnis bloß ein abstraktes Prinzip ist. Aristoteles betont immer wieder, daß keine Tauschwirtschaft ohne A n erkennung dieses Prinzips bestehen kann, und w i r müssen annehmen, daß er i n den Tauschakten der wirklichen Märkte eine Tendenz auf eine gerechte Preisordnung h i n zu erkennen glaubte. A l l das ist viel deutlicher i n den Schriften seiner mittelalterlichen Nachfolger ausgedrückt. Sie bedienten sich ausdrücklich eines Wertbegriffs, wenn z. B. St. Thomas von der quantitas valoris spricht. Vor allem beantworten sie aber die bei Aristoteles offen gebliebene Frage nach dem K r i t e r i u m für die Gerechtigkeit eines bestimmten Preises. Gerecht ist ein Preis dann, wenn er die notwendigen Produktionskosten vergilt — expensae et labores. Ein entscheidender Bestimmungsgrund des gerechten Preises w i r d damit der gerechte Lohn, der selber daran gemessen wird, ob er dem Produzenten einen ausreichenden Lebensunterhalt sichert. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, der Entwicklung nachzugehen, die unter dem Einfluß der wachsenden Preisschwankungen i m aufstrebenden Handelskapitalismus den Schwerpunkt von einer normativen zu einer bloß positiven Beurteilung der Marktphänomene verschob. Dennoch ist die zweipolige Tradition noch i n den klassischen Systemen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zu erkennen. So bringt etwa Adam Smith ein normatives Wohlfahrtsziel — ein reichliches Volkseinkommen gepaart m i t zureichenden öffentlichen Diensten — i n direkte Verbindung mit der positiven Ordnung „natürlicher" Preise, wie sie sich unter dem Einfluß unbehinderter Konkurrenz frei bilden. Genau besehen unterscheiden sich die Bestimmungsgründe gerechter Preisrelationen, wie sie ein Duns Scotus aufstellt, kaum von den bei Smith

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Adolph Lowe

oder Ricardo angegebenen Gründen für das Zustandekommen natürlicher Preise oder selbst von dem Wertgesetz bei Marx. I n der Sprache der modernen Theorie stellen diese Gleichgewichtspreise technische Transformationsbedingungen dar, die als stabil behandelt werden können, so lange als die Produktionstechnik selbst sich nicht ändert. A n einem entscheidenden Punkt freilich brach das klassische System m i t der antik-mittelalterlichen Tradition, nämlich i n der Beurteilung des Profitstrebens als Triebkraft für die Verwirklichung einer natürlichen Preisordnung. Der schrankenlose Erwerbstrieb, einstmals als die Wurzel aller Ungerechtigkeit angesehen, erscheint nun als die dialektische Kraft, die, obschon ein privates Laster, doch zur Quelle des sozialen Nutzens wird. Und die Theorie verwendet von nun an das als Extremalprinzip formalisierte Streben nach Maximierung der Einnahmen und Minimierung der Ausgaben zur Konstruktion des allgemeinen Bewegungsgesetzes einer freien Marktordnung.

II. M i t dem Ende der klassischen Periode bahnt sich eine scheinbar endgültige Trennung des positiven vom normativen Ansatz der W i r t schaftsforschung an. Zwar baut die Wirtschaftspolitik auch weiterhin auf der Wirtschaftstheorie auf, aber auf der Suche nach den Seinsgesetzen der Marktwirtschaft versucht die letztere sich i m Einklang mit der herrschenden wissenschaftlichen Methodologie von allen Werturteilen zu emanzipieren. Die klarste Formulierung der neuen Richtung verdanken w i r Marshall, wenn er als natürlichen Wert einer Ware denjenigen Preis bestimmt „which economic forces would bring about if the general conditions of life were stationary for a run of time long enough to enable them all to work out their f ü l l effect". Zum Abbau der normativen Tradition trug weiterhin gegen Ende des letzten Jahrhunderts der Sieg der Grenznutzenschule bei. Indem sie den objektiven Tauschwert auf den subjektiven Gebrauchswert zurückzuführen sucht, setzt sie an die Stelle eines stabilen technischen Elements — der Transformationsbedingungen der Produktion — ein höchst unbeständiges psychologisches Element. Gewiß hatte der Gebrauchswert, i n dem sich der Verbrauchsertrag aller Wirtschaftstätigkeit widerspiegelt, schon immer als Rechtfertigung für den Aufwand gegolten, dessen sich der Mensch unterziehen muß, u m die materiellen M i t t e l für seine Endzwecke zu beschaffen. Aber nun wurde zum ersten Mal dieser subjektive Ertrag, sozusagen das „ V o l t " des Wirtschaftsprozesses, zum Bestimmungsgrund für das „Ohm", nämlich des objektiven Widerstan-

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des, den der Produzent als Bedingung jeder Verbrauchsbefriedigung überwinden muß. Heute werden diese radikalen Ansprüche der Grenznutzentheorie und der ultra-positivistischen Forschungsmethode kaum mehr aufrecht erhalten. W i r haben inzwischen gelernt, daß die vom Extremalprinzip gesteuerte Preisbewegung auf einen Punkt hintendiert, an dem die Transformationsverhältnisse der Konsumentenschätzungen mit den Transformationsverhältnissen der Produktion zusammenfallen, so daß die letzteren durchaus als Maßstab, wenn auch nicht als ausschließlicher Bestimmungsgrund für eine Gleichgewichtsordnung der Preise dienen können. Noch wichtiger aber ist die neuerliche Einsicht, daß ein solches Preisgleichgewicht einen Zustand des Marktes darstellt, der trotz gewisser Vorbehalte als ein Wohlfahrtsoptimum bezeichnet werden darf. Dabei ist wesentlich, daß dieses sogenannte Pareto-Optimum nicht nur ein Konsumtionsoptimum, sondern auch ein Produktionsoptimum darstellt. Zunächst beschreibt es einen Marktzustand, für den es keinen Alternativzustand gibt, der irgend einem Verbraucher höhere Befriedigung gewährleisten könnte, ohne gleichzeitig einen anderen Verbraucher zu benachteiligen. Aber zugleich handelt es sich um einen Zustand höchsten produktiven Wirkungsgrades, i n welchem unter den gegebenen Produktionsbedingungen die Erzeugungsmenge keines Gutes vergrößert werden kann, ohne gleichzeitig die Verringerung der Erzeugung eines andern Gutes zu erzwingen. M i t einem Wort, das Pareto Optimum ist ein Zustand maximaler Versorgung mit nachfragegemäßen Gütern, wobei freilich die Verteilungsordnung als ein Datum behandelt wird. III. Bei aller Anerkennung der analytischen Überlegenheit der modernen Wirtschaftsforschung darf diese Zurückwendung zu den primitiven A n sätzen eines Aristoteles oder Thomas nicht übersehen werden. Daß es sich dabei nicht um eine zufällige Koinzidenz handelt, w i r d offenbar, wenn w i r nun versuchen, die i m Pareto Optimum enthaltene Norm schärfer zu präzisieren. Indem dieses Wohlfahrtsideal jedem Verbraucher denselben A n spruch auf Befriedigung zubilligt, bejaht es einen Maßstab der „Gleichberechtigung", vergleichbar m i t dem antik-mittelalterlichen Prinzip. Freilich, so lange Besitz- und Einkommensverteilung als Daten behandelt werden, kann von voller Gleichberechtigung nicht die Rede sein. Immerhin wohnt, wie Joan Robinson gezeigt hat, dem Mechanismus der Kapitalbildung eine egalitäre Tendenz inne, die der herrschenden Ungleichheit der Eigentumsordnung entgegenwirkt. Z u Ende gedacht tendiert dieser Mechanismus auf einen Zustand, i n dem unter Annahme

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konstanten Arbeitsangebots und unveränderter Technik der Kapitalbedarf völlig gesättigt ist und daher Profit und Zins sich dem N u l l punkt nähern, so daß das gesamte Nettoprodukt zu Lohneinkommen wird. U m jedoch zum K e r n des Problems zu dringen, müssen w i r die Bedeutung des Begriffes eines optimalen produktiven Wirkungsgrades näher prüfen. M i t welchem Recht kann das Wohlstandsoptimum m i t einem Gütermazimum gleichgesetzt werden? Dieser Gedanke steht jedenfalls i n scharfem Widerspruch mit der Vision des Aristoteles, der die wahre Glückseligkeit von einem Zustand erwartet, i n welchem der Mensch den Forderungen der Tugend gehorsam i n Mäßigkeit sein Leben verbringt, oder auch zu dem mittelalterlichen Ideal einer traditionellen Lebenshaltung. Und dennoch kann nicht geleugnet werden, daß i n einem wichtigen Grenzfalle die Verwirklichung auch der bescheidensten Lebensziele i n der Tat von der Maximierung der Produktionsausbeute abhängt, nämlich wenn die verfügbaren Produktionskräfte knapp ausreichen, u m die physische Selbsterhaltung zu gewährleisten. Tatsächlich beschreibt dieser Grenzfall das wahre B i l d der Menschheitsgeschichte bis auf unsere Tage, ein Bild, das die überwältigende Mehrheit i n allen Gesellschaftsordnungen nahe dem physischkulturellen Existenzminimum fand. Und wenn auch die meisten dieser Ordnungen kleinen Minderheiten Wohlstand und Luxus zusicherten, so hätten doch vor der Industriellen Revolution auch die radikalsten Reformen das Durchschnittseinkommen nicht wesentlich über den Stand der Notdurft erhöhen können. Unter solchen für die Vergangenheit nur allzu realistischen Bedingungen kommt dem i m Pareto Optimum enthaltenen Maßstab des produktiven Wirkungsgrades eine zentrale Bedeutung zu. Nicht als ob dieser Erzeugungs- und Verbrauchsordnung als solcher ein moralischer oder ästhetischer Wert i n der philosophischen Bedeutung dieses Begriffs innewohnte. Wirtschaftliches Handeln bezieht sich immer nur auf Mittelbeschaffung für außerwirtschaftliche Endzwecke und ist selbst jeder immanenten Wertbedeutung bar. Aber unter den angenommenen Verhältnissen ist die Annäherung an das Pareto Optimum eine unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung substantieller Werte. Von da aus gesehen mag man einer solchen Wirtschaftsordnung einen abgeleiteten Eigenwert zusprechen, obschon dieser Schluß schweren Mißverständnissen ausgesetzt ist. Er kann leicht die Illusion erregen, welcher die neuklassische Theorie weitgehend verfallen ist, nämlich daß dieser den wirtschaftlichen Akten zugesprochene Wert nicht bloß außerwirtschaftliche Werte widerspiegelt, sondern dem Mechanismus der freien Konkurrenz entspringt oder gar übergeschichtlich der W i r t schaftsordnung als solcher innewohnt.

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IV. Die jüngste Debatte über Wohlfahrtstheorie und insbesondere die klassische Studie von Kenneth A r r o w 1 sollten uns eines Besseren belehrt haben. U m die volle Tragweite dieser abstrakten Überlegungen zu würdigen, müssen w i r sie i n den Zusammenhang der praktischen Erfahrungen der industriellen Entwicklung stellen. Dann w i r d klar, daß jedenfalls i n der westlichen Welt Massenarmut nicht mehr das typische Schicksal, und dauernde Maximierung der Produktionsausbeute keine Existenzbedingung mehr darstellt. Wenn w i r auch weit von der Wohlstandsutopie entfernt sind, die i n manchen zeitgenössischen Schriften ausgemalt wird, so ist es doch etwa i n den Vereinigten Staaten gelungen, zwei Drittel der Bevölkerung auf einen Lebensstandard zu erheben, der früheren Zeitaltern als Reichtum erschienen wäre. Und dieser Versorgungsgrad w i r d normalerweise m i t der Ausnützung von kaum vier Fünftel des Erzeugungspotentials erreicht. I n anderen Worten, der industrielle Fortschritt hat die natürlichen und technischen Schranken der Vergangenheit soweit durchbrochen, daß man heute nicht mehr von bloß einem möglichen Wohlstandsniveau sprechen kann. Zum ersten M a l i n der Geschichte haben w i r wirklich „Wahlfreiheit" i n der materiellen Sphäre, nämlich Freiheit, i n weiten Grenzen zu wählen, zwischen Arbeit und Muße, Verbrauch und Investition, und vor allem zwischen maximierenden und „homeostatischen" Verhaltungstypen. Diese Vielfalt von offenen Möglichkeiten spiegelt sich theoretisch i n der radikalen Formalisierung der sogenannten „Wohlfahrtsfunktion". U m ihr konkreten Inhalt zu verleihen, müssen w i r spezielle Zielsetzungen einführen, eine unabhängige Variable, die auf keinen ökonomischen Mechanismus zurückgeführt werden kann. Zur Rechtfertigung solcher Zielsetzungen haben w i r uns an den politischen Philosophen zu wenden. So lange es keine Wahl gab, konnte man praktisch ohne sein Urteil auskommen. I n der modernen Wohlstandsgesellschaft w i r d er zum Schiedsrichter. I m Zusammenhang der Wohlfahrtstheorie ist das ein Gemeinplatz. Was jedoch keineswegs allgemein erkannt wird, sind die Rückschlüsse, die sich aus einer Vielheit von Wohlfahrtszielen für die positive W i r t schaftsforschung ergeben. Die neuklassische und selbst die Keynes'sche Theorie haben wenig an den Grundlagen geändert, auf denen die ursprüngliche klassische Theorie aufbaute. Immer noch gilt es als ein Axiom, daß die mikro-ökonomischen Handlungsantriebe unveränderlich und daher vorausberechenbar seien, und daß diese Handlungsantriebe makro-ökonomisch auf ein Gleichgewicht der Vollbeschäfti1

Social Choice and I n d i v i d u a l Values, N e w York, 1951.

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gung oder, dynamisch gesehen, auf ein harmonisches Wachstum hinstreben, jedenfalls wenn sie von einer angemessenen Geld- und Steuerpolitik begleitet sind. Solch dogmatisches Festhalten am Extremalprinzip, das auch für die meisten ökonometrischen Modelle gilt, steht i n scharfem Widerspruch zu den Ergebnissen empirischer Studien über das typische Verhalten auf den Märkten des industriellen Kapitalismus. Sie berichten von einer Vielheit individueller Antriebskräfte und vor allem von der Unbeständigkeit der Erwartungen, auf denen sich die Verbrauchs- und Investitionsentscheidungen aufbauen. Eine ähnliche Wahlfreiheit, wie sie i n der Makrosphäre gegenüber den Wohlfahrtszielen besteht, herrscht i n der Mikrosphäre der Haushalts- und Betriebsdispositionen. Diese Wandlungen i m wirtschaftlichen Handlungsgefüge sind Symptome unserer Emanzipation aus den Fesseln materieller Not und primitiver technischer Organisation, und als solche Bürgschaft entscheidenden sozialen Fortschritts. Das darf uns aber nicht darüber täuschen, daß dieselbe Entwicklung den Marktprozeß jener pseudo-mechanischen Eingleisigkeit beraubt hat, welche die überwundenen Schranken erzeugt hatten und welche die konventionelle Theorie so trefflich abbildet. Die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Veränderung des Erkenntnisobjekts für die praktische Anwendung der herrschenden Theorie ergeben, sind wohl bekannt. Sie äußern sich darin, daß trotz aller formalen Verfeinerung unserer Forschungsmethoden Voraussagen über den Wirtschaftsgang kaum zuverlässiger sind als zu der Zeit, da unser gedankliches Arsenal aus ein paar Faustregeln bestand. Hier ist nicht der Ort, i n eine grundsätzliche Erörterung darüber einzutreten, auf welche Weise die moderne Wirtschaftstheorie zu einer empirisch gültigen Wissenschaft ausgestaltet werden kann. Immerhin ist die Richtung nicht zu verkennen, i n der die Lösung zu suchen ist. Wenn es wahr ist, daß die autonomen Handlungen der Marktpartner keine Bürgschaft mehr bieten für die Verwirklichung irgend eines Wohlfahrtszieles, sei es eines Pareto Optimums oder eines anderen stabilen Makrozustandes, so bleibt als einziger Ausweg die öffentliche Kontrolle der privaten Wirtschaftshandlungen. U m jedoch diese Aufgabe erfüllen zu können, muß solche Kontrolle selbst sich an Zielen orientieren , über welche die legitimen politischen Instanzen zu bestimmen haben. Aufgabe der Wirtschaftstheorie ist es dann, für diese politischen Zwecke die geeigneten M i t t e l aufzuzeigen, nämlich die zielgerechten Anpassungsprozesse sowie die den Verlauf solcher Prozesse fördernden privaten Verhaltensweisen und öffentlichen Kontrollmaßnahmen 2 . 2 Vgl. f ü r eine ins einzelne gehende Darstellung des Gehalts u n d der Methode einer solchen Politischen Ökonomik mein Buch " O n Economic K n o w ledge", New York, 1965. Eine deutsche Ausgabe w i r d von der Europäischen Verlagsanstalt, F r a n k f u r t am Main, vorbereitet.

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Offenbar kann i n einer so verstandenen Wirtschaftstheorie die scharfe Trennung zwischen dem positiven und dem normativen Gesichtspunkt nicht länger aufrecht erhalten werden. Eine solche Trennung war während der kurzen Epoche des laissez-faire Kapitalismus erträglich, als die Selbststeuerung eindeutig orientierter Marktkräfte auf ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht hinzustreben schien. Sie muß versagen, wenn es darum geht, die Prozesse der zeitgenössischen Mischsysteme zu erklären und vorauszusagen. Aus dem Vorstehenden sollte klar geworden sein, daß die moderne Markttheorie und die antikmittelalterlichen Wirtschaftslehren schon immer i n engerem Zusammenhang standen als unsere Lehrbücher das wahr haben wollen. Der Augenblick ist gekommen für die bewußte Verbindung positiven und normativen Verfahrens, oder besser für die Unterstellung der theoretischen Analyse unter normative Prinzipien, eine Aufgabe, die eines modernen Aristoteles würdig wäre.

Zielkollision oder Instrumentenkollision? (Sinnvolle Ordnung oder geordnete Sinnwidrigkeiten) Von Gisbert Rittig Der Beitrag zu einer Festgabe für eine Persönlichkeit, zu deren wesentlichsten Charakterzügen unter anderem der des Nichtkonformismus gehört, mag es gestatten, eine Frage aufzurollen, die ebenfalls keineswegs konform den mehr oder weniger heute praktizierten und i n Schrift und Wort vertretenen Attitüden wirtschaftspolitischen Tätigseins ist, und die auch nicht i n einem besonderen Sinn aktuell ist und ganz bestimmt nicht bequem. Auch über die Chancen, die darin geäußerten Ansichten durchzusetzen, sollen keine Überlegungen angestellt werden. Ebenso soll wenig Rücksicht genommen werden darauf, ob die hier anzudeutende Konzeption m i t irgendwelchen Strömungen philosophischer Grundlagenforschung übereinstimmt oder Verwandtschaft mit älteren, vielleicht auch mit noch nicht (wieder) modernen Auffassungen hat oder nicht hat. Die letzten Jahrzehnte standen, i m Bereich der Wirtschaftspolitik, al]em Anschein nach unter dem Zeichen einer außerordentlichen Vergrößerung des wirtschaftspolitischen Instrumentariums. Ja, wenn man den Begriff des wirtschaftspolitischen Instruments nicht allzu eng, aber genau faßt, geht diese Entwicklung auch heute noch weiter, etwa i n der Ausarbeitung des technischen Apparates ökonometrischer Modelle, insbesonders von Entscheidungsmodellen. Fortschritte i n der Institutionalisierung nicht neuer, längst vorgeschlagener wirtschaftspolitischer Instrumente (Stabilisierungsgesetz), Ausarbeitung von Zielprojektionen und mittelfristigen Finanzplänen sind ebenfalls zu verzeichnen. Dieser Prozeß ist nicht ganz neu, er wurde durch Wirtschaftskrisen, insbesondere durch die Weltwirtschaftskrise vorwärtsgetrieben. Es handelt sich dabei weniger u m die „Entdeckung" neuer wirtschaftspolitischer Instrumente, sondern u m die Benutzung von wirtschaftspolitischen Zweck-Mittel-Bereichen, die je ihren eigenen Sach- und Sinnzusammenhang hatten, nunmehr auch für andere Bereiche und für den ganzen wirtschaftspolitischen Zusammenhang. Führten die längste Zeit i n der Geschichte der Wirtschaftspolitik die einzelnen Sachbereiche, schon allein nach der Gliederung gemäß den großen Wirtschaftszwei10 Festgabe für Gert von Eynern

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gen, Agrarpolitik, Industriepolitik, Handelspolitik, Verkehrspolitik usw. ein ziemlich partielles Dasein und wurden sie sowohl i n der praktischen Wirtschaftspolitik wie auch i n der wissenschaftlichen Behandlung ebenso partial gehandhabt, so galt dies i n noch größerem Maße von den Gebieten der allgemeinen Wirtschaftspolitik, die nicht W i r t schaftszweige i. e. S., sondern Wirtschaftspolitiken auf — den W i r t schaftszweigen überlagerten — Ebenen waren, wie die Geld- und Währungspolitik und die Finanzpolitik oder auch die Sozialpolitik (Einkommens- bzw. Lohnpolitik). Sie alle führten ein ziemlich isoliertes Dasein, nicht nur hinsichtlich ihrer immanenten, mehr technisch-deskriptiven Spezialphänomene und Spezialprobleme (in dieser Hinsicht werden sie schon vom Stofflichen her immer ihre monographische Darstellung benötigen und behalten), sondern auch als Teilbereiche einer ganzen Volkswirtschaft und Volkswirtschaftspolitik. Rühmliche Ausnahmen, die die Grenzen dieser Einzelbereiche überschritten, sind sicher bei genauerer dogmenhistorischer Betrachtung schon vor dem optisch so deutlich bemerkbaren Wendepunkt, wie er etwa mit der Weltwirtschaftskrise zeitlich fixiert werden kann, sicher zu finden, es sei nur auf dem Gebiet der Sozial- und Finanzpolitik an Adolf Wagner erinnert, später an die sowohl sozialpolitischen wie einkommenspolitischen Arbeiten von v. ZwiedineckSüdenhorst. Solchen Ansätzen soll hier nicht nachgegangen werden, es ist nur gerechtigkeitshalber an sie hier zu erinnern. Es waren sehr verschiedene Quellen der Motive, die dazu veranlaßten, diesen Zustand zu ändern. Es waren einerseits empirisch-historisch neue Phänomene, die zu einer anderen Praxis geradezu, jedenfalls mindestens dem Anschein nach, zwangen, wie z. B. die Abnahme von Preis- und Lohnflexibilität für die Geld- und Währungspolitik, die Ausdehnung des Anteils der öffentlichen Finanzen für die Berücksichtigung volkswirtschaftlicher Auswirkungen der Finanzpolitik, die Auswirkungen protektionistischer Außenhandelspolitik auf das Währungswesen, so daß beide, Außenhandelspolitik und Währungspolitik, näher zusammenrückten und ferner der Zwang der öffentlichen Meinung — als Folge der Erfahrungen m i t der Weltwirtschaftskrise —, es sei eine vordringliche, wenn nicht die vordringlichste wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Andererseits die problematischere Quelle, die wissenschaftliche: das (sehr langsame) Vordringen der Theorie i n die Wirtschaftspolitik zu einer Theorie der Wirtschaftspolitik, begleitet von der zunehmenden Erkenntnis und Erfassung interdependenter Zusammenhänge über alle „Bereichsgrenzen" hinaus, die Anwendung des spezifisch „volkswirtschaftlichen Aspekts" i n allen Bereichen der Wirtschaftspolitik. Es ist eigentlich erstaunlich, wie langsam dieser Prozeß sich fortbewegte und

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auch heute noch nicht alle Gebiete voll durchdrungen hat, was insbesondere für fast das ganze Gebiet der Betriebswirtschaftslehre gilt, soweit diese m i t Größen (Preisen, Mengen) arbeitet, über deren Entstehung und Bedeutungswert sie i m Unklaren bleibt und vielleicht bleiben muß, und sogar manche Ansätze einer neuen Partialisierung deuten sich rückschrittlich i m Zuge gewisser Spezialisierungen, insbesonders i m Zuge der Anwendung spezieller mathematischer Methoden an (Operations Research, Überbetonung limitationaler Faktoren auf der einzelwirtschaftlichen Ebene, auf dem Geld- und Kreditgebiet allzu starke Hingabe an gerade bestehende institutionelle Gegebenheiten des Banksystems usw.). Das Ärgernis der nichtvollständigen Integrierung von Teilgebieten i n den gesamtvolkswirtschaftlichen Zusammenhang wurde aber doch allmählich abgebaut. A m deutlichsten macht sich das vielleicht auf dem Gebiete der Finanzpolitik bemerkbar. Schon früh genoß ein „rein fiskalischer" Standpunkt einen schlechten Ruf. Auch die als nur negativ empfundene Abschirmung gegenüber der übrigen Volkswirtschaft durch die Forderung einer wirtschaftspolitischen Neutralität der Finanzpolitik, sowieso exakt theoretisch nicht erfüllbar, wurde als ungenügend empfunden, obgleich immerhin schon ein — wenn auch eben negativer — gesamtvolkswirtschaftlicher Bezug hier vorlag. I m ganzen wurden diese „Grenzüberschreitungen" und ihre Erfassung als wissenschaftlicher Fortschritt empfunden, sowohl theoretisch wie hinsichtlich der realen Wirtschaftspolitik. Es ist sicher auf die Dauer untragbar und ungenügend, irgendwelche Aussagen über Partialbereiche und über das Geschehen und die Maßnahmen i n ihnen ohne einen vollständigen volkswirtschaftlichen und volkswirtschaftspolitischen Blick auf dem volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang stehen zu lassen. Diese Aufsaugung aller Gebiete durch eine umfassende Volkswirtschaftspolitik ist ein folgerichtiger Vorgang, den aufzuhalten bzw. nicht zu fördern, unsinnig wäre. Aber anderes, auf das hier aufmerksam gemacht werden soll, begleitete diesen Vorgang. Inzwischen sind die einzelnen Bereiche so zusammengewachsen, daß nur noch schwer die traditionellen Teilungen, etwa Wirtschaftspolitik, i. e. S., Geld- und Währungspolitik und Finanzpolitik, Wachstumspolitik, Beschäftigungspolitik aufrechtzuerhalten sind, wenn Probleme der volkswirtschaftlichen Wirtschaftspolitik abzuhandeln sind. Denn es ist schwer, solche Probleme zu behandeln ohne gleichzeitige Berücksichtigung aller dieser Hauptsparten. Dieser Prozeß eilt nun seinem Ende entgegen. Es ist schon sichtbar. Schließlich gibt es keine ökonomische Größe, die nicht als Ansatzpunkt wirtschaftspolitischer Maßnahmen i n Frage käme, mindestens dem Prinzip nach. Gewiß w i r d es graduelle Unterschiede geben, die Variationsbreite mancher Größe w i r d gering 10*

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sein, die Wirkungsausstrahlung ihrer Änderung w i r d verschieden effizient sein. Aber prinzipiell hat jede ökonomische Größe Wirkungen auf die Beschäftigung, auf die Einkommen und die Einkommensverteilung, auf das Wachstum, die Konjunktur, die Struktur, die Nachfragezusammensetzung und die außenwirtschaftlichen Beziehungen, kurz auf alle anderen Größen, sofern diese nicht natural-technisch gegeben sind. Und selbst dies ist keine absolute Grenze mehr, nur noch eine konventionelltheoretische, von manchen Autoren sich selbst gesetzte Grenze, die überschritten wird, wenn z. B. an funktionelle Beziehungen zwischen Aufwand für Forschung und technischen Fortschritt gedacht wird. I m einzelnen 1 spielten sich diese Prozesse i n der Hauptsache i n folgenden Richtungen ab: Die Geldpolitik, ursprünglich beauftragt, die Währung nach außen und innen zu sichern, insbesondere den Wechselkurs auf Kosten der (wenn auch nur kurzfristig jeweils gestörten und deswegen langfristig doch ungestörten) Stabilität des Preisniveaus zu stabilisieren, w i r d für konjunkturpolitische (beschäftigungspolitische) Zwecke eingesetzt. Dieser Prozeß ist allerdings nicht so sehr einer Ausweitung der wissenschaftlichen Erfassung der Zusammenhänge zu danken, sondern ist mehr oder weniger erzwungen worden durch die A b nahme der Preis- und Lohnflexibilität; die theoretische Erfassung dieser Zusammenhänge (durch Keynes) erfolgte sozusagen ex post i n bezug auf die Wirklichkeit. Damit w i r d offenbar der Weg offen, die Geldpolitik zur Manipulierung der Gesamtnachfrage zu benützen, zunächst im Sinne der Vollbeschäftigungspolitik, soweit wie möglich unter Aufrechterhaltung der anderen Aufgabe der Geldpolitik, der Erreichung eines angenähert stabilen Geldwertes, dann aber i m Schlepptau wachstumspolitischer Ziele auch unter Vernachlässigung des Geldwertziels bzw. sogar bei passiver Duldung von Abweichungen von diesem, um der Wachstumspolitik willen. Hand i n Hand damit, teils sich m i t Beschäftigungspolitik deckend, teils darüber hinausgehend, stand das geldund kreditpolitische Instrumentarium immer mehr einer aktiven Konjunkturpolitik zur Verfügung. Eine ähnliche Ausweitung und eine ähnliche Entfernung von der ursprünglichen Aufgabe ist — hinreichend bekannt — bei der Finanzpolitik festzustellen. Die schlichte Aufgabe der Finanzpolitik, für die Deckung des Staatsbedarfs zu sorgen, warf frühzeitig, nämlich schon i n einer Zeit maßvollen Gebrauchs wirtschaftspolitischer Instrumente, Fragen ihres Verhältnisses, ihrer Beeinflussung der „übrigen" W i r t schaft auf. A u f eine letzte Wurzel gebracht entstanden Probleme da1 Vgl. die anregende Darstellung der Wirkungszusammenhänge der Geld-, Finanz- u n d L o h n p o l i t i k bei Werner Ehrlicher: Die Geld-, Finanz- u n d L o h n p o l i t i k i m volkswirtschaftlichen Systemzusammenhang. Jahrbuch f. Sozialwissenschaft, Bd. 12 (1961), H. 1, insbesonders S. 95.

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durch, daß Kollektivgüter nicht stückweise zu Stückpreisen verkauft werden können und Steuersysteme, hauptsächlich aus finanztechnischen und fiskalistischen Gründen, nicht i n einer das ganze wirtschaftliche Kontinuum gleichmäßig erfassenden Weise diesem aufgelegt werden können. So entstand das Postulat der Neutralität des Finanzsystems, um Verzerrungen des Preismechanismus und des Wirtschaftsablaufes zu vermeiden, soweit diese nicht ökonomisch begründet waren, eine Sorge, die zu Unrecht als eine, die nur das liberale Zeitalter angehe, oft gekennzeichnet wird. Denn die Deckung des Finanzbedarfs als solche rechtfertigt nie Verzerrungen des Preissystems. Nur Änderungen des Preissystems durch Beschaffung der Mittel für den Staatsbedarf, sofern sie nicht anders sind als sie wären, wenn die Steuern als Nachfragepreise für Staatsleistungen interpretiert werden könnten, wären keine Verzerrungen. Dies gilt für jedes Steuersystem auch heute. Der Ansatzpunkt zu einer wirtschaftspolitischen Ausnutzung der Finanzpolitik ergibt sich allein daraus, daß Steuern Zwangsabgaben sind. Es lag von vornherein ein Instrument vor, das nur auf seine Benutzung zu warten brauchte. Über die Benutzung der Finanzpolitik für sozialpolitische Zwecke erweiterte sich ihre Verwendung allgemein für Zwecke der Einkommensredistribution, später für Zwecke der konjunkturpolitischen Manipulierung der Gesamtnachfrage (deficit-spending und Überschuß-Stillegung), Manipulierung der Sparquote und Investitionsrate durch steuerliche Begünstigung entsprechender Einkommensverwendung, Investitionsprämiierung, teils mit, teils ohne Hilfsstellung der Geldpolitik, und schließlich die Einspannung der Finanzpolitik für Zwecke langfristiger Wachstumspolitik. Schließlich bestehen Tendenzen, auch die Lohnbildung, den Lohn als ökonomische Größe für wirtschaftspolitische, insbesondere auch wieder konjunkturpolitische Zwecke instrumental zu benützen. Wenn gegenüber Lohnsteigerungen, gleichgültig ob diese verteilungspolitisch begründet oder nicht begründet sind, argumentiert wird, sie seien aus Gründen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, etwa angesichts einer vorliegenden konjunkturellen Wirtschaftslage, nicht erwünscht oder wenn, ebenfalls unter Hinweis auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge, es als angebracht angesehen wird, den Lohn an die Entwicklung der Produktivitätssteigerung zu binden, gleichgültig ob der bestehende Lohn bereits ein Gleichgewichtslohn ist oder nicht, so heißt das, den Lohn als Verteilungsgröße, als Anteilsgröße am Sozialprodukt anderen als verteilungspolitischen Gesichtspunkten zu unterwerfen. Das gleiche gilt für Versuche, Lohnentwicklungen unter dem Hinweis auf die Schmälerung der Gewinne und damit der Investitionen zu inhibieren oder umgekehrt, Lohnsteigerungen damit zu begründen, sie seien ein brauchbares M i t t e l der Steigerung der Gesamtnachfrage,

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Auch andere Teile der Wirtschaftspolitik haben i n zunehmendem Maße eine Tendenz, die ökonomischen Zusammenhänge oder einzelne ökonomische Größen, die ihren Sinn i n sich tragen, für ihre Zwecke zu manipulieren. Wachstumspolitik als bewußte, auf Steigerung oder Verstetigung des Wachstums ausgerichtete Politik i n einem ähnlichen Sinn wie die besprochenen Politiken für eine Phase vor der Benutzung dieser Wirtschaftspolitik für andere als ihre ursprünglichen Zwecke nachzuweisen, würde umständliche historische Untersuchungen benötigen, die hier nicht angestellt werden sollen. I m allgemeinen ergab sich wohl das Wachstum, soweit es durch Realkapitalbildung veranlaßt war, durch einen freiwilligen, nicht direkt beeinflußten, allenfalls indirekt durch die Einkommens- und Besitzverteilungspolitik beeinflußten Anfall von Sparen und durch einen durch inflatorische Prozesse veranlaßten Anfall von Zwangssparen. Zunehmend sind Tendenzen bemerkbar, die darüber hinaus auf eine Manipulierung der Investitionsquote abzielen. Das „natürliche" Element wäre hier die Bestimmung des Wachstums aus der freiwilligen, nicht durch inflatorische Effekte beeinflussten Spartätigkeit, allerdings aus Einkommen einer nach persönlicher Leistung geordneten Einkommens- und Vermögensverteilung. Alle diese Ausdehnungen, Erweiterungen des wirtschaftspolitischen Instrumentariums, stellen i n Wahrheit eine Vermehrung der Ansatzstellen für wirtschaftspolitische Maßnahmen dar, und zwar hauptsächlich deswegen, weil Grenzen, die dadurch gezogen waren, daß gewisse Ansatzstellen für gewisse Zwecke reserviert waren, nunmehr auch für andere Zwecke verwendet werden. Diese Erweiterung der wirtschaftspolitischen Klaviatur wurde i m allgemeinen begrüßt. Sofern es sich um Ansatzstellen handelt, die nicht gewissen Zwecken ihrem Sinn nach zugeordnet sind, oder verwendet werden können, ohne diesen Sinn oder einen über den Einzelsinn noch hinausgehenden Sinnzusammenhang zu stören, w i r d das sicher als Fortschritt zu begrüßen sein, insbesondere dann, wenn dadurch gewisse Tabus überwunden werden. Aber noch eine Weile weiter i n dieser Richtung w i r d der Zustand erreicht, i n dem jede variierbare Größe durch jede andere variierbare Größe variiert werden kann, gewiß zwar i n einem Rahmen, den einige aus naturaltechnischen Gründen nicht variierbare Größen setzen und praktisch begrenzt durch manche empirische, ebenfalls schwer variierbare Gestalt mancher Funktion. Es gibt Konzeptionen, die auf dem besten Wege hierzu sind. Die Folge dieses Spiels m i t vielen Kugeln ist eine geradezu explosive Vermehrung von sogenannten Zielkollisionen und die weitere Folge ist der Ruf nach einer Rangordnung dieser „Ziele", einer Prioritätenskala, u m sie — offenbar i n Analogie zur Rangordnung individueller Bedürfnisse, — i n einer operablen Reihenfolge zu befriedigen,

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wobei hier i n den meisten Fällen nicht einmal der zweite Gossen-Satz zu Hilfe kommen w i r d 2 . Dieser Weg scheint, wenn vielleicht auch nicht zur Gänze, so doch in einigen wichtigen oder den wichtigsten Fällen, ein Irrweg zu sein. Und zwar nicht nur deswegen, weil wenig Aussicht besteht, zu einer Rangordnung, zu etwas ähnlichem wie einer social welfare function, zu kommen, die aus tieferen Gründen als denen bloßer Wilkürlichkeit akzeptiert werden könnte. Auch nicht deswegen, weil sie oft wegen der Sinnlosigkeit der Fragestellung gar nicht akzeptiert werden kann. Denn manche Alternative sieht dann so aus, als ob ich gefragt werden würde, ob mir das linke oder das rechte Rad meines Wagens lieber sei. Sondern deswegen, weil dieser Weg von gewissen sinnhaltigen, natürlichen Gegebenheiten und Strukturen hinwegführt und i n einem Chaos endet oder i n einer Prädominanz eines Machtinhabers, mag dieser sein, wer auch immer oder welche Gruppe auch immer, oder weil er schließlich als Spielzeug i n den Händen von Technokraten endet. Spätestens bei der Erweiterung der Lohnpolitik, bei der der Lohn zu einem M i t t e l für konjunkturpolitische Ziele gemacht w i r d oder aus gesamtwirtschaftlichen Rücksichten i n einer bestimmten Höhe gehalten werden soll, mußte deutlich werden, daß hier etwas nicht i n Ordnung ist. Bei Lohnpolitik kann — solange der Lohn doch etwas anderes ist als ein technisches Werkzeug irgendeiner Wirtschaftspolitik — es sich ja wohl primär allein darum handeln, den dem Produktionsfaktor Arbeit zukommenden Anteil am Sozialprodukt zu sichern, den Anteil, der i h m zusteht. Es ist hinreichend dem gesamtwirtschaftlichen Interesse gedient, wenn die Lohnpolitik rücksichtsvoll i n bezug auf einen rationalen Gesamtzusammenhang ist, indem sie sich das Ziel eines Gleichgewichtslohnes gemäß der Knappheit der Produktionsfaktoren stellt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es dürfte keinen zureichenden Grund geben, — solange man nur sonst, d. h. auf allen anderen Gebieten den Regeln eines rationalen Preissystems nicht ausdrücklich abgeschworen hat — i h m davon etwas wegzunehmen oder vorzuenthalten, denn es ist weit und breit unerfindlich, welch anderes Ziel einen „höheren Rang" haben sollte. A u f diesen Lohn kommt es an und es ist durchaus nicht aussichtslos, diesen mit allem theoretischen und ökonometrischen Rüstzeug zu ermitteln, auch wenn dies keine leichte Aufgabe sein mag. Trotz der Schwierigkeit, i h n zu ermitteln, kann seine logische Existenz nicht geleugnet werden. M i t keinem Argument aus dem Rüstzeug der 2 Vgl. die recht aufschlußreiche Studie von Joachim Klaus: Makroökonomische Wahlhandlungen. Modellüberlegungen zur Darstellung wirtschaftspolitischer Entscheidungen u n d Zielkonflikte. Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 123/1.

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ökonomischen Theorie kann gezeigt werden, daß — i h n anzustreben — einem irgendwie definierbaren wirtschaftlichen Gesamtinteresse widerspreche. Leichter als i h n genau anzugeben, kann deduktiv gezeigt werden, wann er jedenfalls noch nicht erreicht ist. U m nur ein Beispiel zu nennen: Zur Zeit des Hereinholens von Gastarbeitern war der Lohn trotz aller Lohnerhöhungen mit Sicherheit nicht der Gleichgewichtslohn, der die Knappheitsverhältnisse der Produktionsfaktoren auf dem innerwirtschaftlichen M a r k t darstellte. Diese Abweichung führte übrigens zu falschen, zu wenig kapitalintensiven Kombinationen der Produktionsfaktoren, ein Umstand, der m i t zur Überhitzung der Konjunkt u r beitrug, aus deren Folgen unsere heutigen Beschwernisse kommen. Es läßt sich sicher vom gesamtwirtschaftlichen Aspekt etwas sagen gegen eine Lohnpolitik, die mehr als das w i l l . Solange aber dies angebrachte Ziel nicht erreicht ist, können keine sich auch noch so schön ausnehmenden Argumente zureichende Gründe anführen, die Lohnpolitik sollte von diesem Ziel absehen. Das gilt natürlich auch für die Zumutung, den Lohn an den erreichten oder erwarteten Produktivitätsfortschritt zu koppeln, was ja nur dann für zukünftige Lohnentwicklungen richtig wäre, wenn i m Ausgangspunkt der Lohn seine Gleichgewichtsgröße bereits erreicht hätte und abgesehen davon, daß Lohnänderungen allein aus der Verschiebung der Mengenverhältnisse der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit notwendig wären. Dafür, daß der Lohn i m Zeitpunkt der Anwendung der Produktivitätsthese bereits seine Gleichgewichtslage erreicht hätte, fehlt jeder Hinweis und erst recht jeder Nachweis (der auch nicht zu erbringen ist, solange es i n einem faktischen Zustand der Volkswirtschaft Teile des Sozialproduktes gibt, die noch nicht auf die Produktionsfaktoren voll aufgeteilt sind). Das gilt auch für den Hinweis, daß die Lohnpolitik sich deswegen dem Produktivitätstheorem zu unterwerfen hätte (etwa i m Sinne eines von der Regierung gesetzten „guiding light") „ u m der Preisstabilität willen". Es ist eine gänzlich i n die Irre führende Formulierung, zur Kennzeichnung dieses Zustandes, zu sagen: (eine solche Politik verlange), „daß die Gewerkschaft das Ziel (!), einen gerechteren Anteil am Sozialprodukt zu erhalten, hinter das Ziel der Preisstabilität stelle" 3 . Durch solche außerordentlich häufig vorkommenden Formulierungen w i r d der Anschein erweckt, es läge eine echte Zielkollision vor und es sei eine „Entscheidung" — ein ebensooft strapazierter Ausdruck — erforderlich. 3 Als Beispiel unter vielen s. Markos Altwegg : Rezession von: Erich Schnei der (Hrsg.); Probleme der Einkommenspolitik. Beiträge auf der Round Table Konferenz des Instituts f ü r Weltwirtschaft an der Universität K i e l v o m 17. bis 19. 5. 1965, Tübingen 1965, Besprechung des Vortrages von C. T. Saunders, i n : Kyklos, Vol. X X — 1967/2.

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Das Anstreben einer Gleichgewichtsgröße kann, man könnte fast sagen, ex definitione, nicht die Preisstabilität gefährden, es sei denn, andere Strebungen widersetzten sich der Erreichung dieser Gleichgewichtsgröße, eben durch Inflationierung über die Preise. Wenn ein 100 m Läufer seinem Ziel zustrebt und die Stopp-Uhr geht nicht richtig, geht zu langsam, dürfte es absurd sein, vom Läufer zu verlangen, er möge sich der Stopp-Uhr anpassen. Jeder Vernünftige würde stattdessen zum Uhrmacher gehen. Der Appell zur Rücksichtnahme auf allgemeine volkswirtschaftliche Zusammenhänge macht sich natürlich immer gut, ist aber dann ein Taschenspielertrick, wenn er auf Manipulierung des faktischen Lohns, weitab von der Gleichgewichtspreisnorm, aus konjunkturpolitischen, preisstabilitäts- oder gar wachstumspolitischen Gründen hinausläuft. Worauf es hier ankommt, ist das Erkennen zweier verschiedener Ebenen: Die eine ist der Aspekt des zustehenden Anteils am Sozialprodukt, sozusagen (sit venia verbo) die „natürliche" Funktion des Lohnes und das „natürliche" Ziel der Lohnpolitik. Die Abweichung davon — und nicht nur die, die darin besteht, daß die Lohnpolitik dieses Ziel noch nicht erreicht hat, sondern insbesondere die, die m i t Momenten zu t u n hat, die auf einer ganz anderen Ebene ihre Begründung haben und die durch eine bewußte Wirtschaftspolitik i n den Vordergrund geschoben werden: das ist die Denaturierung. Sie führt zu A b surditäten, zu Verzerrungen, die sich früher oder später — meist recht bald, rächen, auch wenn sie vorübergehend ein scheinbar abgerundetes, womöglich durch eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung i n sich geschlossen erscheinendes B i l d ergeben. Ähnlich, wenn möglich etwas weniger deutlich auf der Hand liegend, sind die Verhältnisse auf dem Gebiet der Finanzpolitik und hier eine ähnliche Interpretation zu versuchen, scheint noch mehr liebgewonnenen, dem Schein nach als fortschrittlich empfundenen Erkenntnissen zu widersprechen. Gibt es Konjunkturschwankungen und mit ihnen sinkende und steigende monetäre Gesamtnachfrage, erscheint es logisch und technisch naheliegend, an eine antizyklische Finanzpolitik zu denken. Und — sofern sie gelingen mag — ist zuzugeben, daß es wahrscheinlich besser sein mag, wenigstens etwas hinsichtlich Konjunkturstabilisierung zu t u n als gar nichts zu tun, auch wenn das, was man tut, mannigfache Mängel hat und — genau besehen — ebenso falsch ist, wie die hauptsächlich monetär veranlaßte Konjunkturschwankung selbst. So sehr antizyklische Finanzpolitik ein letzter Ausweg sein mag, sollte auch hier nicht übersehen werden, daß es sich dabei keineswegs um eine ideale konjunkturpolitische Lösung handelt und auch nicht u m eine widerspruchsfreie, daß es sich auch hier um Denaturierungen handelt, die mit einer einigermaßen sich nicht selbst widersprechenden Konzep-

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tion schwer zu vereinigen sind. Ganz abgesehen davon, daß es bereits eine Derivation der Bedürfnis- bzw. Bedarfsseite bedeutet, öffentliche Ausgaben, insbesondere öffentliche Investitionen z. B. i m Schulwesen, Gesundheitswesen usw. einem antizyklischen Rhythmus zu unterwerfen, während sie ihrer Natur nach ziemlich eindeutig bei weitem mehr zu einem kontinuierlichen stetig sich entwickelnden Trend zuneigen, ist es viel gravierender, daß etwa die Abschöpfung von Einnahmenüberschüssen und ihre Stillegung eine recht merkwürdige Sache ist. Es sind Einnahmen, Abzüge von erworbenen Einkommen, die keinem Staatsbedarf dienen und so einer eigentlichen Rechtfertigung entbehren. Sofern i m Konjunkturaufstieg und i n der Hochkonjunktur die steigenden Einkommen und damit, u. U. überproportional steigende Staatseinnahmen nur monetär veranlaßt wären, ließe sich gegen ihre „Streichung" durch Stillegung nicht viel einwenden. Das sind sie aber i n der Regel nur zum Teil, u. U. zu einem kleinen Teil, sie sind i m übrigen wohl erworbene Anteile am gestiegenen Sozialprodukt, teils durch Mehrarbeitsleistung, teils durch Vermehrung des realen Produktivkapitals. I m krassen Grenzfall: Wer mehr leistet, muß mehr Steuern zahlen und erhält nicht einmal dafür den auf ihn entfallenden Anteil an Kollektivgüternutzung. Ein monetär (geldpolitisch) entstandener Nachfrageüberhang w i r d fiskalisch beseitigt. Nachfrageausdehnung und Nachfrageeinschränkung sind nur als Globalgrößen das gleiche, mikroökonomisch handelt es sich um die Nachfragen verschiedener Wirtschaftssubjekte und deswegen ist m i t Nachfrageverschiebungen zu rechnen. Es läßt sich auch so sehen: Ein Wirtschaftssubjekt erfährt einen Abzug von seinem Einkommen, besonders verstärkt dann, wenn zum Zweck der öffentlichen Überschußerzielung Steuererhöhungen vorgenommen werden, — dieses Wirtschaftssubjekt gehört aber u. U. nicht der Gruppe von W i r t schaftsteilnehmern an, die über den konjunkturell veranlaßten Nachfrageüberhang verfügten oder i n deren Hände (mit etwaigen Einkommenssteigerungen) er gelangte. Wie dieses Beispiel zeigt, würden weitere fortgesetzte Untersuchungen m i t Sicherheit ergeben, daß durch eine solche Politik, eine Politik um des höheren konjunkturpolitischen Zweckes willen, eine Reihe von Steuerprinzipien (das der Leistungsfähigkeit, das der Gleichmäßigkeit, das der Proportionalität zur Inanspruchnahme von öffentlichen Leistungen und wie sie alle heißen mögen) mißachtet würden, Prinzipien, die doch alle nach wie vor i n Geltung sind und i m allgemeinen angenähert zu realisieren versucht werden und zu beachten sind, wenn anders man nicht ein Postulat der Willkürlichkeit aufstellen w i l l . Das ganze Steuersystem, sofern es ein überlegtes System war, w i r d durcheinandergebracht. Schließlich sei noch folgender Gesichtspunkt vermerkt: Es wurde schon weiter oben gesagt, daß ein monetär verursachter Nachfrageüber-

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hang fiskalisch beseitigt wird. Es soll damit zum Ausdruck gebracht werden, daß dies zwei verschiedene Paar Schuhe sind und daß es sich, da erst etwas abgeschöpft werden kann, wenn dies Abzuschöpfende bereits (zuviel) da ist, um eine ex post-Korrektur handelt, die — da es sich eben um zwei verschiedene Sphären handelt — i n ihren W i r kungen nicht kongruent ist und die daher auch nicht (entgegen der Absicht) kompensierend wirken kann. Es dürfte nicht schwer sein, ähnliche Zerstörungen grundlegender Beziehungen bei deficit spending nachzuweisen. Es mag nur darauf hingewiesen werden, daß auch dies nicht ohne beträchtliche Nachfrageverschiebungen abgehen kann, deficit spending schafft Nachfragerichtungen und Nachfrageströme, die gewiß andere sind als sie wären, kämen sie aus einer unter sonst gleichen Umständen vergleichbaren Gleichgewichtslage. Es wäre gut, hier nicht mißverstanden zu werden. Wenn das Gesamtsystem schon einmal wesentlich gestört ist, mögen Mittel, die ebenfalls eine Abweichung vom Richtigen darstellen (in diesem Sinne also ebenfalls ein Störfaktor sind), durchaus angebracht sein. Wenn es brennt, genügt nicht der normale Aschenbecher und das Abstellen der Zentralheizung, weil es zu w a r m wird, sondern es muß dann schon die Feuerwehr helfen. Und wenn private Investitionen wegen abrupter Änderungen der Gewinnerwartungen — diese Änderungen ausgelöst durch Veränderungen der Prozeßrichtung durch monetäre Restriktion nach jahrelanger Inflationierung —, ebenso abrupt abnehmen, müssen öffentliche Investitionen an ihre Stelle treten 4 . Es ist aber wichtig zu sehen, daß — selbst wenn der Zweck (Konjunkturstabilisierung) einigermaßen erreicht würde, (der übrigens nur schlecht als Konjunkturstabilisierung bezeichnet werden kann, denn gerade der Konjunkturzyklus selbst w i r d durch einen Antizyklus nicht aus der Welt geschafft, sondern letzterer setzt ersteren voraus), dies keine befriedigende Lösung des Problems darstellt, die Verzerrungen und Denaturierungen bleiben bestehen. Das ergibt sich auch daraus, daß ein Symptomkomplex (die Konjunktur der nicht-staatlichen Wirtschaft) durch einen Gegensymptomkomplex zu einem Ganzen gefügt wird, während die Ursachen bestehen bleiben. Deficit spending und Überschußstillegung genügt ja wohl nicht, so lange beide quantitativ nur die Aufrechterhaltung einer durch die Konjunkturphasen hindurch konstanten Budgetgröße bedeuten, es müßte wohl, vielmehr, zu Quantitäten führen, die tatsächlich einen „Antizyklus" darstellen. 4 I m Sinne von möglicher positiver Verwendung von deficit spending: G. Rittig: Das Dilemma der K o n j u n k t u r p o l i t i k . Deutscher V o l k s w i r t , 21. Jahrg. (1967, Nr. 27). Die Probleme, die sich hierbei aus gewissen Disproportionalitäten zwischen Investitions- u n d Konsumgüterindustrie ergeben, sind ebenda aufgezeigt.

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Aber i m ganzen sind es Maßnahmen, die deutlich erkannt werden müssen als eine Angelegenheit faute de mieux, die i n einer Zwangslage notwendig sind, die aber nicht als ein Teil einer funktionierenden Wirtschaft angesehen werden sollten. Es w i r d stets und immer wieder zwischen einer Konjunkturpolitik angesichts des geschehenen Malheurs und einer Konjunkturpolitik zu unterscheiden sein, die sich bemüht, Konjunkturen erst nicht entstehen zu lassen. Es dürfte gut sein, die erstere als Krisenpolitik und die zweite als Konjunkturpolitik i m engeren Sinne auch terminologisch auseinander zu halten. Was für die eine richtig sein mag, ist noch lange nicht ein ordentliches Instrument für die andere. Alle Überlegungen, sowohl die lohnpolitischen wie die finanzpolitischen — i n ihrer Beschränkung auf ihre „natürliche Sphäre" — sondieren den geldpolitischen Komplex gerade auch wieder als eigenständisches Gebiet heraus, das die „Hilfen" der anderen Gebiete nicht benötigt, wenn auch es selbst sich auf seine „natürliche Aufgabe" beschränken würde. Erfahrungen darüber, daß „Geldpolitik nicht genügt", bzw. Grenzen ihrer Wirksamkeit hat, dürften wohl nur, mindestens zu einem sehr großen Teil — auf den Eigentümlichkeiten einer ganz bestimmten institutionellen Gestaltung des Bankwesens, und damit des Geld- und Kreditwesens beruhen. Ganz abgesehen von dem Fremdkörper fester Wechselkurse, läßt sich kaum sagen, daß eine einigermaßen exakte Bestimmung des Geld- und Kreditvolumens nach der heutigen Institutionierung möglich ist. Bei einem nicht überelastischen Geld- und Kreditsystem würde die Lohnpolitik ziemlich schnell ihren Gleichgewichtslohn finden, und bei einer inflationsfreien Handhabung wäre es nicht notwendig, nach jahrelanger schleichender Inflation inflatorisch überhöhte Gewinnerwartungen zu zerstören, welche Zerstörung selbstverständlich zu Investitionseinbrüchen führen muß, die dann wieder die Hilfe der Finanzpolitik mit deficit spending benötigen. Erst wenn inflatorische Prozesse eingelaufen sind und früher oder später gestoppt werden müssen (oder gestoppt werden wollen), kommt es zu den Erscheinungen, daß scheinbar Geldwertstabilisierungspolitik m i t Vollbeschäftigungspolitik nicht kompatibel ist. Daß geldwertstabile, das heißt nicht manipuliert übersteigerte Wachstumspolitik nicht mit Vollbeschäftigung vereinbar wäre, wenn das Geldsystem eine parallele Linie zur realen Mehrproduktion einhalten würde, ist schlechthin unerfindlich. Die Schwierigkeiten einer Konjunkturpolitik kommen i n hohem Maße von der monetären Seite und erfordern eine, den modernen Erkenntnissen über die monetären Verhältnisse exakter angepaßte Instrumentalisierung. Es w i r d von langen, allzu langen Bremswegen gesprochen. Sie sind so lang, daß inzwischen der Wagen vom Fahrweg abgekommen

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ist. Das dürfte dann ja wohl an den Bremsen liegen. Aber auch der Fahrstil, lange Strecken bremsen, ebenso lange Strecken Gas geben, ist nicht i n Ordnung. Immer ist der Fahrer der bessere, der seine Geschwindigkeit so einrichtet, daß er m i t möglichst wenig bremsen auskommt. Dies w i r d u m so dringlicher, da immer mehr die monetäre Seite bei Konjunkturbewegungen von der realen zu trennen sein wird, und Bemühungen u m saubere Trennung dringend notwendig sein werden, denn es kann kaum ein sinnvoller Ehrgeiz der K o n j u n k t u r p o l i t i k sein, echte reale Datenänderungen wie z. B. Abnahme des Anfalles von technischem Fortschritt oder Zunahme desselben i n eine „stabilisierte" K o n j u n k t u r m i t ökonomischen M i t t e l n zu verwandeln. Solchen „realen" Konjunkturbewegungen gegenüber wäre Stabilisierungspolitik sinnlos, aber gewiß ergibt sich hieraus ein noch wenig bearbeitetes Bündel von Problemen, die sich m i t den Anpassungsbewegungen an sich ändernde reale Wachstumsraten oder m i t den Anpassungsbewegungen einer wachsenden Wirtschaft an eine mehr stationäre beschäftigen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß es also nicht so ist, daß sich alle diese Ziele gegenseitig i m Wege stehen und etwa deswegen das eine oder andere unter Vernachlässigung, ja Zerstörung des anderen Ziels rangordnungsmäßig präferiert werden müßte. Es stehen sich deutlich die Instrumente i m Wege, und u m so mehr, je zweckentfremdeter sie verwendet werden, oder es handelt sich, schlicht gesagt, um schlechte Qualität der Instrumente. Sehr deutlich muß gesagt werden, daß es sich bei den vorgeblichen Zielkollisionen keineswegs u m logische Schwierigkeiten einer Quadratur des Kreises oder einer Magie von Dreiecken handelt. Z u m Schluß sei noch die folgende Bemerkung gestattet: da das Gespenst von Werturteilsjägern umgeht, Hand i n Hand m i t neopositivistischen Sprachlogikern — i n Wiederholung von jahrzehntealten, längst i n ihre Grenzen verwiesenen, i n diesen Grenzen sicher berechtigten neopositivistischen Erkenntnissen —, die die ökonomische Welt nach „pseudoempirischen Leerformeln ohne Sachgehalt" und „pseudonormativen Leerformeln ohne Normgehalt" absucht 5 , ein i m Ganzen sicher löbliches Bemühen, diese Jäger aber offenbar so viel Spaß an ihrer Sache haben, daß sie ziemlich w i l d die ökonomische Welt selbst allmählich leer schießen, ist es notwendig, einiges zurechtzurücken: wenn hier von einer „natürlichen" Bestimmung der Lohnpolitik und einer ebensolchen der Finanzpolitik und der Geldpolitik gesprochen wird, so kann das nicht durch die Behauptung erledigt werden, es handele sich u m nicht be5 u. a. Ernst Topitsch: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, i n : L o g i k der Sozialwissenschaften, hrsg. von Ernst Topitsch, K ö l n / B e r l i n 1965.

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Gisbert R i t t i g

gründbare platonische Wesensschau oder u m Anleihen aus dem Naturrecht. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie hier die Zusammenhänge liegen. Eines ist jedoch sicher: so weit kann die Nominalisierung nicht gehen, und keine Sprachlogik kann den Beweis dafür antreten, daß die Namen, die w i r den Dingen geben, nicht sachbezogen und nicht strukturbezogen sind. Der Lohn ist nicht einfach das Zeichen x. Der Lohn ist keine Katze, und der Staatsbedarf ist keine Notenbank, und der Rechenmaßstab (Geld) kann wie jeder Maßstab, der messen soll, nicht aus Gummi sein. Dagegen ist es des Nachdenkens wert, wie es dazu gekommen ist, daß die schlichte Besinnung auf gewisse „natürliche" Verhältnisse inzwischen geradezu revolutionär w i r k t , und revolutionäre Konsequenzen haben muß, sehr wahrscheinlich i n Hinsicht auf Wirtschaftsordnung und Wirtschaftssystem und hierin wieder besonders i m Institutionellen und gegen die konformistische Hinnahme entstandener Institutionen.

Grenzen der rationalen Beurteilung sozialökonomischer Ziele Von Rudolf Meimberg Ein hohes Maß von Übereinstimmung zeigt sich — m i t einer auch heute noch stark durch Max Weber geprägten Begründung — gegenüber dem Satz, daß i n der Wissenschaft streng zu unterscheiden sei zwischen rational begründeten Aussagen und subjektiven Werturteilen. Soweit auf letztere Bezug genommen werde, sei das unmißverständlich zu sagen1. Z u denken gibt aber, daß auch gescheite Köpfe oft gegen diesen Satz verstoßen, obwohl sie i h n als solchen durchaus anerkennen. So w i r d einzelnen Zielsetzungen ein überragender Rang unter einer Vielzahl vorhandener Ziele zuerkannt, w i r d so getan, als gebe es eine Hierarchie von Zielen und ist von richtiger oder überlegener Wirtschaftsordnung die Rede, ohne daß deutlich gemacht wird, inwieweit hierbei Glaubenssätze zur Begründung dienen. Bezugswerte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Würde werden oft auch i n der Wissenschaft — implicite wie explicite — i n einer Weise gedeutet, als ob sich bestimmte Interpretationen m i t Hilfe der Vernunft als einfachhin überlegen und allgemeingültig nachweisen ließen. Derartige Verstöße gegen das Postulat der Trennung von rationalen und arationalen Aussagen sind so häufig, daß man sich fragen muß, ob hierin nicht mehr zu sehen ist als allein ein Ausdruck eines einfachen Mangels an Einsicht, ob nicht dieser Grundsatz als solcher unklar, mißverständlich, mehrdeutig interpretierbar ist oder sogar eine unausführbare Forderung enthält. Dieses Phänomen soll hier interessieren. Ohne zu bezweifeln, daß sich rational begründete Aussagen von Glaubenssätzen grundlegend unterscheiden, sei gefragt, ob und inwieweit sich die Abgrenzung zwischen vernunftbedingten Erkenntnissen und subjek1 So etwa bei Giersch, Herbert: Allgemeine Wirtschaftspolitik, 1. Bd. Grundlagen, Wiesbaden 1961, S. 47 et passim; Jöhr, W. A . u n d H. W. Singer: Die Nationalökonomie i m Dienste der Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., Göttingen 1964, S. 87; Tuchtfelds Egon: Die wissenschaftliche Fundierung der W i r t schaftspolitik, i n : Hamburger Jahrbuch f ü r Wirtschafts- u n d Gesellschaftspolitik, Bd. 4 (1959) S. 306 f.; Myrdal, Gunnar: Das Wertproblem i n der Sozialwissenschaft, Schriftenreihe der Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hannover 1965, S. 43; ders.: Das Zweck-Mittel-Denken i n der Nationalökonomie, i n : Zeitschrift f ü r Nationalökonomie, Bd. 4 (1933), S. 305 ff.

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tiven Werturteilen, behutsamer ausgedrückt, solchen Urteilen, die nicht i n Erfahrung und Denken begründbar erscheinen, einigermaßen zuverlässig vollziehen läßt. Diese uralte Streitfrage w i r d sich allerdings durch eine bescheidene Studie, wie diese hier, nicht aus der Welt schaffen lassen. Es kann allenfalls gelingen, ihren echten Gehalt deutlicher werden zu lassen, indem die eine oder andere Schwierigkeit, die sich bei der Erörterung einschlägiger Zusammenhänge stellt, als Pseudoproblem kenntlich gemacht wird. Viele halten, u m eine unzulässige Beeinflussung der Wissenschaft durch Werturteile der erwähnten A r t zu vermeiden, eine scharfe Trennung zwischen sozialökonomisch relevanten Zielen und M i t t e l n für vollziehbar und für angezeigt 2 . Derartige Ziele seien durch die Politik oder sonstwie vorgegeben, die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers habe sich auf die Instrumente und die Verfahrenslehre, auf die modelltheoretische Wirkungsanalyse wirtschaftspolitischer Maßnahmen, manche meinen, auf die Beschäftigung m i t quantifizierbaren Größen zu richten. I n der Tat läßt sich, wenn die Eignung eines Mittels für einen gegebenen Zweck untersucht wird, eine rationale Aussage darüber machen, ob die Anwendung des Mittels i m Sinne einer Zieladäquanz richtig oder falsch ist. Ebenso kann rational über unterschiedliche Grade der Eignung eines Mittels ausgesagt werden, etwa darüber, ob das M i t t e l A oder B geeigneter ist, u m i n einer bestimmten Situation den Geldwert stabil zu erhalten. I n der Praxis ist nun aber nicht allein an der Eignung von etwas als M i t t e l für ein einziges Ziel gelegen. Unvermeidlich ergeben sich aus der Verwendung eines Mittels gewollte oder ungewollte Auswirkungungen auf viele Interessen und Ziele. Die These, Ziele seien vom Wissenschaftler als gegeben anzusehen, muß demnach, u m verwertbar sein zu können, besagen, daß das Vorhandensein eines Zielkatalogs m i t Rangunterschieden unterstellt wird. Sonst müßte man sich bei der Prüfung eines Mittels i n zahllosen, miteinander nicht i n Übereinstimmung zu bringenden Konditionalsätzen verlieren, wäre eine große Zahl von Zielkombinationen zu erörtern, von denen viele wirklichkeitsfremd wären. Wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit vornehmlich auf jene Fälle zu richten, an denen i m Leben der Gesellschaft gelegen ist, könnte sich die Auswahl an Unterschieden i m tatsächlichen oder vermeintlichen Gehalt, der einzelnen Zielen zukommt, oder an unterschiedlichen Aktualitätsgraden orientieren. Ohne W i l l k ü r , das heißt hier, ohne Zuhilfenahme von Entscheidungselementen, die 2 Bresciani-Turroni, Constantino: Einführung i n die Wirtschaftspolitik, Bern 1948, S. 28 et passim; Eulenburg, Franz: Allgemeine Wirtschaftspolitik, Zürich/Leipzig 1938, S. 11 ff.; Küng, E m i l : Der Interventionismus, Bern 1941, S. 7 ff.; Morgenstern, Oskar: Der theoretische Unterbau der Wirtschaftspolitik, Köln/Opladen 1957.

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nicht auf rationalem Urteil beruhen, wäre eine Bestimmung jener Ziele, die bei der Prüfung eines Mittels zugrunde gelegt werden, aber nicht zu erreichen. Der Theoretiker kann i n einem als gegeben angenommenen Ziel nur dann eine ausreichende Grundlage für seine Überlegungen sehen, wenn das betreffende Ziel einigermaßen eindeutig bestimmt ist. Nur bei vordergründiger Betrachtung erscheint diese Bedingung für die Zahl und den Inhalt der jeweils i n einer Gesellschaft als relevant geltenden Ziele erfüllt, wenn Auffassungen von Politikern oder fremde Meinungen sonstiger A r t oder eigene, nicht rational überprüfte und präzisierte Urteile zugrunde gelegt werden. Bei näherem Zusehen erweisen sich die Interessen und die sich daraus ergebenden Aufgaben und Ziele der hier gemeinten A r t als ungemein vielfältig. Zahlreiche Gegensätzlichkeiten oder zumindest Spannungen werden sichtbar. Viele unter den Interessen, die das politische Handeln beeinflussen, treten erst voll i n Erscheinung, wenn über die Dauerhaftigkeit von Zielsetzungen und ihren I n halt i m einzelnen, ihre Beziehung zu anderen, gleichfalls als aktuell geltenden Zielen, ihre relative Bedeutung und die Veränderungen nachgedacht wird. Die Intensität der Anteilnahme an derartigen Zielen pflegt sehr davon abhängig zu sein, inwieweit Belangen, die nicht oder nur wenig i n Erscheinung treten, entsprochen ist. Vollbeschäftigung mag für wichtiger gehalten werden als Wachstum als solches. Ist aber der Zusammenhalt oder die Sicherheit des Gemeinwesens bedroht, so interessiert deren Festigung mehr als viele andere Belange, von denen gemeinhin weit mehr die Rede ist. Droht Tod durch Hunger oder Durst, dann verliert irgendwann für die weitaus meisten Individuen sogar die äußere Sicherheit an Dringlichkeit. Das Überlebenwollen als solches verdrängt andere Interessen. Was den großen Zielaggregaten gegenüber gilt, t r i f f t ebenso i m kleinen zu. Das relative Gewicht der einzelnen Bestrebungen verändert sich ständig. Sozialer Wohnungsbau, Ausbau des Erziehungs- und Bildungswesens, Förderung der wissenschaftlichen Forschung, finanzielle und monetäre Stabilität, Stetigkeit der Konjunktur, die Erhaltung überkommener Strukturen, aber auch ihre Anpassung an veränderte Absatzmöglichkeiten, das Interesse an einer bestimmten Regionalordnung, Straßenbau, Verbesserung des Wettbewerbsrechts, Wahrung einer als befriedigend angesehenen Relation von Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben, Reinhaltung des Wassers und der Luft, Ausdehnung der Freizeit, Hilfen für Entwicklungsländer, diese und viele andere Punkte prägen, unterschiedlich abhängig vom Wandel ideologischer, politischer, wirtschaftlicher und sonstiger Kräfte, die Programme und Taten von Parteien und Regierungen. Jede nähere Bestimmung von Mitteln und Zielen ist schon deshalb willkürlich, weil sich die Zusammensetzung und das Gewicht der als 11 Festgabe für Gert von Eynern

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aktuell geltenden Belange ändert und bei Entscheidungen nicht alles übersehbar ist, was von Einfluß auf das Geschehen ist oder Einfluß haben sollte, ferner, weil infolge der Interdependenzen gleitende Übergänge zwischen Ziel- und Mittelkomplexen bestehen und sich die A b grenzungen i m einzelnen sehr verschieden vornehmen lassen. Vor allem aber: I n der Gesellschaft besteht keine volle Klarheit über die Kriterien der Zielbestimmung — sie gibt es nicht einmal bei einzelnen Gruppen und den Individuen als solchen. Weder die Interessen, noch die Auswahl der Ziele und deren genauer Inhalt lassen sich, sofern der W i r k lichkeit entsprochen werden soll, also als ein Gegebenes ansehen. Das Neben-, Mit-, Für- und Gegeneinander von Zielen und Mitteln, die zwiespältige Natur der M i t t e l und Ziele, ihre Austauschbarkeit, ihre mangelnde Bestimmtheit machen erklärlich, daß sich Wissenschaftler so lebhaft für die Ziele selbst interessieren. Würden sie streng dabei bleiben, allein M i t t e l für als gegeben angesehene Ziele zu analysieren, dann müßten sie vieles von dem, was i m gesellschaftlichen Leben problematisch und Gegenstand unaufhörlicher Auseinandersetzung ist, dem Nichtwissenschaftier überlassen, Ideologen, ,Praktikern' oder dem eigenen subjektiven Werturteil. Das, was auf diese Weise zur Bestimmung von Zielen geschieht, reicht aber selten aus, um das relative Gewicht, das den einzelnen Zielen zuerkannt wird, näher zu charakterisieren und daraufhin jene Mittel auszumachen, die der Gesamtheit der Interessen entsprechen. Es bleiben Lücken, Unbestimmtheiten, Widersprüche i n nicht zu Ende konzipierten Programmen, speziell i m Hinblick auf die Bedeutung derjenigen Belange, die als nicht bedroht gelten oder nicht ohne weiteres als aktuell erkennbar sind. Es bleibt dem Theoretiker daher gar nichts anderes übrig, als das problemlos Vorfindbare zu ergänzen. Wenn er dabei meint, sich auf eine kritische Auseinandersetzung mit den Zielen selbst nicht einlassen zu dürfen, um nicht Gefahr zu laufen, daß er vernünftige Einsichten und Glaubenssätze durcheinanderbringt, hat das mit Hilfe unkritisch ausgewählter Hypothesen zu geschehen. Solche etwa, die das Interesse an Wachstum präzisieren, die damit auch die Intensität dieses Interesses bestimmen, zum Beispiel gegenüber jenem an der Wahrung der Stabilität des Geldwerts oder an einer kontinuierlichen Fortentwicklung der Strukturen einerseits, ihrer Anpassung an die sich ändernden Marktverhältnisse andererseits. Hypothesen könnten, um weitere Beispiele zu nennen, näher bestimmen, was unter Freiheit der Tarifpartner, der Investoren, unter Freiheit von Oligopolisten einerseits, von schwachen Marktparteien andererseits verstanden wird. Ein anderer Typ von Hypothesen bestünde i n der Annahme eines hohen Grades von Abstraktion: es werden nur wenige Ziele, und diese nur schwach differenzierend zugrunde gelegt. Das letztere ist ein häufig

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geübtes Verfahren, auf das ganz zu verzichten gewiß nicht i n Betracht kommen kann. Soweit es angewandt wird, heißt dies, sich auf Modellfälle, die von der Wirklichkeit weit entfernt sind, zu beschränken. Doch auch, wenn das erste der beiden Verfahren gewählt wird, also der Theoretiker unkritisch-hypothetisch Ziele und Zielkombinationen näher bestimmt, wäre es nicht eben häufig, daß er zu wirklichkeitsnahen Ergebnissen käme. Unkritisch zu sein gegenüber der Realisierbarkeit der Ergebnisse hieße, sich entweder am Vordergründigen oder am Denkbaren, logisch Schlüssigen zu orientieren. Letzteres umfaßt aber eine schier grenzenlose Zahl von Möglichkeiten, während jene, welche sich tatsächlich, anscheinend oder vielleicht verwirklichen ließen, begrenzt ist. M i t alledem ist nicht etwa bewiesen, daß die kritische Auseinandersetzung m i t Zielen der hier interessierenden A r t innerhalb den der Vernunft gezogenen Grenzen liegen würde. Eine Komplikation, die prima vista Anlaß dazu gibt, die Beschränkung des Wissenschaftlers auf die bloße Mittelanalyse überhaupt i n Frage zu stellen, ergibt sich daraus, daß realiter Ziele und M i t t e l durcheinandergehen, also nicht allein die Übergänge zwischen ihnen fließend sind, öffentliche Haushalte, die ohne Geldschöpfung oder exzessive Inanspruchnahme von Krediten ausgeglichen sind, wirken sich unter Umständen als ein M i t t e l (A) zur Wahrung der Geldwertstabilität (Z x ) aus. Z x wiederum ist M i t t e l für eine als sozial gerecht empfundene Bildung von Einkommen (Z 2 ) sowie für eine entsprechende Eigentumsverteilung (Z 3 ). Diese Ziele wiederum sind M i t t e l zur Erhaltung und Festigung des sozialen Friedens (Z 4 ) sowie gegebenenfalls auch zur Förderung des Wachstums (Z 5 ), für ausgeglichen sich entwickelnde internationale Wirtschaftsbeziehungen (Z 6 ) und anderes mehr. Für Wachstum kann andererseits zeitweise eine ziemlich ausgedehnte Defizitfinanzierung förderlich sein. A. kann also als M i t tel für Z 5 dienen und gleichzeitig indirekt nachteilig für Z 5 sein, ohne daß sich stets zuverlässig i m voraus erkennen ließe, welche seiner beiden Wirkungen stärker ins Gewicht fällt. Wachstum ist die Folge der Verwirklichung von Z t — Z 4 . Diese werden ihrerseits gefördert, wenn es zu Wachstum kommt. Auch Ziele wie ein hoher Beschäftigungsgrad, pflegliche Behandlung überkommener Strukturen, zugleich aber Anpassung der Strukturen an die sich ändernden Marktverhältnisse, Ausweitung der Freizeit, Zunahme des Aufwands für Erziehung und Bildung, hohes Maß von Freiheit der Konsumenten, der schwachen Produzenten, aber auch privater Monopolisten lassen sich zugleich als M i t t e l für andere Belange sehen. Zahlreich sind auch hier die Wechselwirkungen. Doch auch mit solchen Hinweisen ist noch nicht die These entkräftet, daß sich rational nur über M i t t e l zu Gunsten gegebener Zwecke, nicht n*

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aber über Ziele aussagen lasse. Wenn es sich so verhält, daß Mittel Ziele und Ziele M i t t e l sind, daß es Wechselwirkungen gibt und daß M i t t e l A für das Ziel Z t i n einer Hinsicht ein geeignetes, i n anderer Hinsicht ein ungeeignetes M i t t e l darstellt, dann schließt das nicht aus, etwas lediglich i n seiner Eigenschaft als M i t t e l untersuchen zu können: Vollbeschäftigung etwa als M i t t e l für Wachstum oder Wachstum als M i t t e l für die Hebung des allgemeinen Wohlstands oder für eine als sozial gerecht empfundene Einkommens- und Eigentumsverteilung. Wenn so verfahren wird, dann ergäbe sich die Qualität der betreffenden Belange jeweils allein aus ihrer Eignung für bestimmte Ziele. Es könnte nicht die Eignung eines Mittels für die Gesamtheit der Ziele, auf die es i n der einen oder anderen Weise w i r k t , erforscht werden. Dazu wäre die Zahl der Ziele zu groß und die Unbestimmbarkeit und Wandelbarkeit vieler Ziele zu ausgeprägt. Es käme zu miteinander nicht auf einen Nenner zu bringenden Teilergebnissen. A ist etwa für Z t und Z 2 geeignetes Mittel, für Z 3 bis Z 6 ist es neutral, für Z 7 bis Z 1 0 ist es nachteilig, wobei Z 8 bis Z 1 0 wiederum förderlich wären für Z t bis Z 2 . Wenn nun aber zum Beispiel die Geldwertstabilität allein als M i t t e l für Wachstum angesehen würde, liefe das darauf hinaus, sie unter einem weit engeren Aspekt zu betrachten und zu würdigen als es der W i r k lichkeit entspricht. I n ihr ist sie nicht allein M i t t e l für eines oder für mehrere sozialökonomische Ziele, sie besitzt obendrein eine Position, die sich m i t Eigenständigkeit charakterisieren läßt; Eigenständigkeit i n dem Sinne, daß i h r Unabdingbarkeit zuerkannt wird, nicht einfachhin, aber i m Dienste außerökonomischer Bezugswerte. Eigenständigkeit besäße etwa die Erhaltung des Geldwerts, sofern i n ihr ein unabdingbares M i t t e l zur Verwirklichung von Gerechtigkeit gesehen wird. Eigenständigkeit käme ferner der Wahrung eines hohen Beschäftigungsgrades zu, wenn sie als M i t t e l zur Sicherung für wesentlich gehaltener Freiheiten betrachtet wird. Belange, obwohl ihnen Eigenständigkeit zuerkannt wird, allein i n ihrer Eigenschaft als M i t t e l für andere als gegeben angenommene konkrete Ziele zu sehen, hieße, aus ihnen etwas generell anderes zu machen als es der Wirklichkeit entspricht. Aber auch derartige Überlegungen schließen nicht aus, daß der Theoretiker darauf angewiesen ist, Zielkombinationen und Zielinterpretationen als gegeben zu behandeln — so unbefriedigend das auch i n mancher Hinsicht ist. Ausschlaggebend dafür, ob eine kritische Auseinandersetzung mit Zielen — soweit sie nicht M i t t e l zu einem als gegeben angesehenen Zweck sind — gelingen kann, ist, ob die Bestimmung derartiger Ziele nur unter Zuhilfenahme eines arationalen Entscheidungselements erreichbar ist und ob sich dieses Element zuver-

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lässig von dem, was an der Zielbestimmung rational ist oder sein kann, unterscheiden läßt. I n einem weiteren Sinne sind nun alle sozialökonomisch relevanten Ziele Mittel. Sie sind es gegenüber den nicht eindeutig bestimmbaren außerökonomischen Belangen. Dazu gehören auch jene Wertungen, die über Freiheiten oder Gleichheiten oder für gerecht Gehaltenes aussagen, und überhaupt jene, die eine gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ordnung charakterisieren. Auch Mittel, die eindeutig bestimmbaren Zwecken dienen, stehen letztlich i m Dienste problematischer Bezugswerte. Genau bestimmbare Zwecke können ihrerseits für ein drittes Ziel M i t t e l m i t Eigenständigkeit sein. Stets werden sich i n der Kette der Bezüge irgendwann Eigenständigkeit, Unbestimmtheit sowie Vielfalt der Interpretierbarkeit einstellen. Wer Massenarbeitslosigkeit ablehnt, indem er auf die damit für die Betroffenen bewirkte Not hinweist, die zu vermeiden ,Pflicht der A l l gemeinheit sei', interpretiert damit, was er i n bestimmten Lagen für gerecht hält. Wer Arbeitslosigkeit ablehnt, allein oder unter anderem deshalb, weil er die durch sie geförderte Neigung zu politisch-ideologischer Radikalisierung fürchtet, bekennt sich damit zu Wertungen, die speziell die geltende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung prägen. Je weiter der Rekurs vollzogen wird, je weiter nach Bezugswerten gefragt wird, um so mehr verlieren sich die Antworten i m Arationalen. Etwa: Die Vermeidung von Arbeitslosigkeit verhindert materielle und geistige Not. A n der Verhinderung solcher Not ist gelegen i m Interesse von als gerecht empfundenen Lebensbedingungen für die Mitglieder der Gesellschaft. Für gerecht w i r d etwas deshalb gehalten, w e i l Oder noch deutlicher: Die Vermeidung von Arbeitslosigkeit w i r k t der Gefahr einer Radikalisierung i n der Gesellschaft entgegen. Radikalisierung w i r d abgelehnt, weil sie die bestehende Ordnung gefährdet. A n der bisher bestehenden Ordnung ist gelegen, weil i n ihr näher bezeichnete Werte zur Geltung kommen. A n den betreffenden Werten ist gelegen, w e i l sie Freiheit zu näher bezeichneten Werterlebnissen geben. A n den Werterlebnissen ist gelegen, weil Wenn nun alle sozialökonomischen Ziele nur M i t t e l sind, bleibt dann dem Theoretiker nicht doch erspart, sich über die Qualität von Zielen Gedanken zu machen3? Kann er überhaupt etwas anderes tun, als die Eignung von Mitteln zu erforschen? Offenbar nein. Damit ist aber nur scheinbar einige Klarheit über die dem Verstand gezogene Grenze gewonnen. Es geht darum, die Aufgaben der Vernunft gegenüber jenen Belangen zu klären, die nicht allein M i t t e l zur Erreichung eindeutig bestimmbarer, allgemein als problemlos angesehener Zwecke sind. Auch über Ziele, soweit sie sich aus problematischen Interpretationen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Würde, Ordnung ergeben, läßt 3

Vgl. dazu i m wesentlichen A n m . 2,

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sich rational manches aussagen. So über das Mit-, Neben- und Gegeneinander verschiedener Ziele solcher A r t sowie über deren Auswirkungen i m allgemeinen. Überhaupt läßt sich darüber aussagen, welche Auswirkungen bestimmte Interpretationen von Bezugswerten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Würde auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung haben, wenn ihnen entsprochen wird. Ferner läßt sich ermitteln, welche sozialökonomischen Interessen i n einer Gesellschaft insgesamt als aktuell gelten und aus welchen Gründen sie als gemäß angesehen werden. Weiterhin ist der Forschung zugänglich, welche Interessen unter der Oberfläche zu vermuten sind, die, falls gefährdet, i n Erscheinung treten. Daß sich Antinomisches und Ambivalentes i n Bezugswerten wie Ordnung, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit auf solchem Weg überwinden lassen, ist zwar ausgeschlossen. Es läßt sich aber das, was jeweils bei Würdigung aller erkennbaren Umstände als Problem, als nicht zweifelsfrei angesehen zu werden verdient, reduzieren. Für die Behauptung, daß mehr nicht erreichbar ist, mögen hier wenige Hinweise genügen. Unsicherheit und Zwiespältigkeit, die eine unterschiedliche Auswahl und Interpretationen von Bezugswerten unvermeidlich sein lassen, zeigen sich zum Beispiel erstens bei der näheren Bestimmung dessen, was Menschen für sich selbst und andere als gleich postulieren, zweitens i m Verhalten zu Tradition, Konvention, Beharrung einerseits, Veränderungen, solchen die fließend und jenen, die abrupt vorgenommen werden, andererseits; drittens gegenüber übersehbaren, widerspruchsfrei erscheinenden, hierarchisch geordneten Wertungen einerseits, nuancenreichen, sich i m Halbdunkel verlierenden, nicht untereinander i n Harmonie zu bringenden Wertungen andererseits; viertens gegenüber der Alternative: Orientierung an Nah- oder an Fernzielen; fünftens gegenüber der Alternative Wettbewerb/Zusammenarbeit; sechstens gegenüber Bindungen innerhalb politischer und sonstiger Gemeinschaften einerseits, der Wahrung einer relativ ausgeprägten Freiheit allen oder einigen Gemeinschaften gegenüber andererseits. Die Zuversicht, daß sich gleichwohl das Ausmaß willkürlicher Wertinterpretationen reduzieren läßt, gründet sich i n der hier nicht näher zu belegenden These, daß es eine Neigung gibt zu bekennen, sich auf Tradition, Glauben oder schlechthin auf das eigene Wertgefühl zu berufen, wo sich auf Grund von Erfahrung und Denken begründete Aussagen über nach Lage der Dinge i n Betracht zu ziehende Wertungen machen ließen — eine Neigung, die i n der anzutreffenden Stärke nicht schlechthin dem Menschen eigen zu sein scheint. Ist es zur Lösung konkreter wirtschaftspolitischer Probleme aber nicht doch besser, sich zu bescheiden, d. h. mit vereinfachenden Prämissen zu operieren, insbesondere m i t als gegeben behandelten Auswahlen und

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Interpretationen von Bezugswerten? Einer derartigen Auffassung neigt etwa Jöhr 4 zu: „Die Wirtschaftspolitik muß handeln . Sie w i r d zweckmäßiger handeln, wenn sie von der Nationalökonomie beraten wird. Infolgedessen muß ihr die nationalökonomische Forschung innerhalb nützlicher Frist die aktuellen Probleme begutachten. Diese Aufgabe kann sie nur lösen, wenn sie auf d e n . . . regressus ad infinitum verzichtet. Das aber heißt: wer ein Problem lösen will, muß die nächstweiteren Probleme als gelöst voraussetzen; er muß diese Lösung als Datum i n sein eigenes K a l k ü l einsetzen. Gewiß: wer eine solche Lösung voraussetzt, fällt ein Vor-Urteil, aber es ist ein Vor-Urteil, das unerläßlich ist." Für den von Jöhr beispielhaft genannten Fall, daß dem Bergbauern zu helfen sei, mag das gelten. Anders verhält es sich, wenn an einer Präzisierung von Urteilen über Ziele gelegen ist wie Wahrung der Geldwertstabilität, Wahrung eines hohen Beschäftigungsgrades, Stetigkeit des wirtschaftlichen Wachstums, breitere Streuung von Eigentum sowie Erhaltung und Mehrung der Freiheit der Individuen i m Wirtschaftsleben. Wenn es dabei darum geht, echte von Pseudoalternativen zu unterscheiden, oder wenn Aussagen über die erstrebenswerte und zugleich realisierbar erscheinende Wirtschaftsordnung gemacht werden sollen, wenn Alternativen i m Rahmen ,liberaler' und sozialistischer' Konzeptionen ermittelt werden sollen, erscheint es unerläßlich und auch erreichbar, daß sich Sozialökonomen, Soziologen und andere u m die Ermittlung solcher Interpretationen von Bezugswerten bemühen, die von den Verhältnissen her i n die engere Wahl gezogen zu werden verdienen, zwischen denen sich dann allerdings letztlich nur unter Zuhilfenahme eines arationalen Elements entscheiden läßt. Verstöße gegen das Postulat der Trennung von rationalen und arationalen Aussagen sind, so war eingangs gesagt worden, so häufig, daß man sich fragen muß, ob hierin nicht mehr zu sehen ist als allein der Ausdruck eines einfachen Mangels an Einsicht, ob nicht dieser Grundsatz als solcher unklar, mißverständlich, mehrdeutig interpretierbar ist oder er sogar Unausführbares beinhaltet. Hierzu läßt sich i m Anschluß an die eben angestellten Überlegungen einiges bemerken; es bedarf allerdings der Präzisierung und Ergänzung. Die verbreitete Neigung, gegen das eben erwähnte Postulat zu verstoßen, hat eine Wurzel darin, daß es den kritischen Geist nach klar definierten, von i h m i m Rahmen seiner Untersuchungen nicht angezweifelten Prämissen verlangt. Wenn i m sozialökonomischen relevanten Bereich M i t t e l auf ihre Eignung für Ziele untersucht werden, kommt den jeweils zugrunde gelegten Zielen und deren Interpretation die Funktion solcher Prämissen zu. Diejenigen nun, die mit ihren Überlegungen zu Ergebnissen gelangen möchten, die 4

Jöhr, W. A. u n d H. W. Singer: a.a.O., S. 32,

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sich i m Leben verwerten lassen, können dabei Ziele nicht allein als unverbindliche und wenig kontrollierte Arbeitshypothesen gelten lassen. Derartigen Hypothesen und den von ihnen ausgehenden Überlegungen müßte es oft an Wirklichkeitsnähe fehlen, zumal die i m Leben der Gesellschaft als relevant geltenden Ziele, die als Prämissen i n Betracht kämen, selten klar und eindeutig definiert sind. Insbesondere ist das relative Gewicht der einzelnen Ziele und der davon abhängigen Zielkombinationen vielfach unbestimmt. Der Theoretiker, der trotz solchen Mangels seiner Prämissen i m Rahmen von Untersuchungen über die Eignung sozialökonomischer Mittel zu Ergebnissen kommen w i l l , die für die Politik verwertbar sind, sieht sich zwei Versuchungen ausgesetzt: erstens, Ziele und Bezugswerte i m Hinblick auf ihre Wirklichkeitsnähe oder Wünschbarkeit zu Unrecht als rational begründet anzusehen, zweitens, sich dort arational auf Wertungen zu stützen, wo es auch Möglichkeiten der Prüfung durch den Verstand gibt. Jede dieser einander ausschließenden Verhaltensweisen mag eine Zeit lang eine Illusion von Sicherheit den Prämissen, hier also den Zielen, und den Zielkombinationen gegenüber zustande bringen. Solange aber die Ziele nicht auf ihre Vereinbarkeit, Realisierbarkeit und gegebenenfalls auch Wünschbarkeit überprüft oder überprüfbar sind, w i r d eine solide Sicherheit kaum erwartet werden können. Während die schädlichen Auswirkungen einer Vermengung rational begründeter Aussagen und arationaler Wertungen als solche i n der Theorie durchaus gesehen sind und es vornehmlich daran hapert, dieser Einsicht auch zu entsprechen, sind die nachteiligen Auswirkungen des Verhaltens, sich dort auf arationale Urteile zu verlassen, wo sich i n Erfahrung und Denken begründete Erkenntnisse gewinnen ließen, weniger bewußt. Zumindest ließe sich das für arationale Aussagen über sozialökonomisch relevante Zielsetzungen und deren Bezugswerte nachweisen. Sollte sich erreichen lassen, die dem Verstand den sozialökonomischen Zielsetzungen und deren Bezugswerten gegenüber gegebenen Möglichkeiten besser wahrzunehmen, würde sich die Häufigkeit des einen wie des anderen Fehlers verringern. Es käme dann auch seltener vor, daß aus Furcht vor einem der beiden Fehler jeweils der andere Fehler begangen wird.

Die ordnungspolitische Bedeutung der wirtschaftlichen Mitbestimmung Von Oswald v. Nell-Breuning S. J.

Unter den heute zur Lösung anstehenden Aufgaben dürften zwei von überragender gesellschaftspolitischer Bedeutung sein: breitere Streuung der Vermögen und Verwirklichung echter wirtschaftlicher Mitbestimmung, vor allem auf der Ebene der Unternehmen (nur von dieser soll hinfort die Rede sein). Welcher von beiden Aufgaben die größere Bedeutung zukomme, darüber mag man verschiedener Meinung sein; ich selbst war früher geneigt, der breiteren Vermögensstreuung („Vermögensbildung i n Arbeitnehmerhand") das größere Gewicht zuzuschreiben, bin aber heute überzeugt, daß das Problem der Mitbestimmung den zentralen Platz einnimmt. Glücklicherweise besteht zwischen den beiden Aufgaben keine Alternative; w i r stehen also nicht vor der Frage, die eine zurückzustellen oder gar auf sie zu verzichten, um die andere zu lösen. Die beiden stehen einander i n keiner Weise i m Wege; viel eher ergänzen sie einander und kommt der Fortschritt der einen auch der anderen zugute. Darum kann und soll man beide zugleich i n Angriff nehmen; dabei mag der einzelne sich derjenigen von beiden besonders zuwenden, die i h m die gewichtigere erscheint oder für die er besonderes Interesse oder besondere Begabung mitbringt. Hier soll die ordnungspolitische Bedeutung der wirtschaftlichen M i t bestimmung behandelt werden. Als w i r 1948 uns dafür entschieden, an die Stelle der zusammengebrochenen Zwangswirtschaft die m i t dem Etikett „sozial" versehene Marktwirtschaft zu setzen, nannten w i r das die „ordnungspolitische Entscheidung"; der Ausdruck hat sich fast als Eigenname für die damals getroffene Entscheidung eingebürgert. Gegenstand der Entscheidung war die für richtig gehaltene und daher gewollte Ordnung der Wirtschaft Die Erörterungen um die wirtschaftliche Mitbestimmung kreisen zum guten Teil darum, ob sie m i t dieser Ordnung der Wirtschaft logisch vereinbar sei, ob sie sich bruchlos i n sie einfüge, oder ob sie nicht vielmehr zu einer Transformation der Wirtschaftsordnung führe, indem sie — wie man glaubt fürchten zu müssen — den M a r k t außer Funktion setze und damit die freie M a r k t wirtschaft i n eine zentralgesteuerte Verwaltungswirtschaft verwandele. Wäre dem so, dann liefe die allgemeine Einführung wirtschaftlicher

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Mitbestimmung auf einen Widerruf oder mindestens eine wesentliche Abänderung der 1948 getroffenen ordnungspolitischen Entscheidung hinaus. Ob oder inwieweit das zutrifft und die diesbezüglichen Besorgnisse begründet sind, soll i m ersten (ausführlicheren) Teil dieser Studie untersucht werden. Denen, die für die wirtschaftliche Mitbestimmung eintreten, geht es nicht darum, die Wirtschaftsordnung der wie immer verstandenen Marktwirtschaft zu beseitigen und durch eine zentralverwaltungswirtschaftliche Ordnung zu ersetzen. Ihr Anliegen ist ein völlig anderes: sie wollen das Zusammenspiel der beiden gesellschaftlichen Großgruppen, deren eine ihr Kapital und deren andere ihre Arbeit i m Wirtschaftsprozeß einsetzt, auf eine andere Grundlage stellen; was geändert werden soll, ist nicht die Wirtschaftsordnung, sofern darunter Marktwirtschaft oder Zentralverwaltungswirtschaft verstanden wird, sondern die i n den Vollzug des Wirtschaftsprozesses hineinspielende und umgekehrt wieder von i h m weitgehend geprägte gesellschaftliche Ordnung. Auch hier geht es um eine ordnungspolitische Entscheidung, eine Entscheidung von anderer Art, aber wohl kaum geringerem Gewicht als die 1948 getroffene Entscheidung über die Wirtschaftsordnung. Darauf soll i n einem zweiten (kürzeren) Teil dieser Studie eingegangen werden. Da Wirtschaftsordnung, gesellschaftliche Ordnung und politische Ordnung interdependent sind, müssen w i r uns schließlich auch noch der Frage stellen, ob die grundsätzlich und allgemein eingeführte w i r t schaftliche Mitbestimmung nicht nur, wie ihre Gegner ihr zur Last legen, die wirtschaftliche, sondern auch die politische Ordnung i n M i t leidenschaft ziehen würde. Der m. E. nicht sachdienliche Sprachgebrauch mancher Befürworter der wirtschaftlichen Mitbestimmung, die sie als ein Stück „Wirtschaftsdemokratie" feiern, ist dazu angetan, den Verdacht zu erwecken, ihnen gehe es letzten Endes um eine Änderung, wenn nicht gar um den Umsturz der politischen Ordnung. So drängt sich i n der Tat die Frage auf, ob der Entschluß, die wirtschaftliche M i t bestimmung grundsätzlich und allgemein einzuführen, zugleich auch eine ordnungspolitische Entscheidung bedeute i n Bezug auf die Ordnung des öffentlichen (staatlichen) Lebens. — U m darauf später nicht mehr zurückkommen zu müssen, sei die A n t w o r t auf diese Frage gleich hier vorweggenommen. U m der Interdependenz der Ordnungen w i l l e n bedarf die bestehende demokratische Ordnung des politischen Bereichs einer komplementären Ordnung des wirtschaftlichen Lebens. Eine solche komplementäre Ordnung kann man sich i n vielerlei Gestalt vorstellen und zu verwirklichen vornehmen. Die wirtschaftliche Mitbestimmung — mindestens i n der Form, wie w i r sie uns vorzustellen gewohnt sind — erscheint als ein gangbarer Weg zu diesem Ziel, ohne daß sie darum der einzig gangbare Weg sein müßte. Weit entfernt, die bestehende poli-

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tische Ordnung aus den Angeln zu heben, ergänzt sie dieselbe nach der wirtschaftlichen Seite und stützt sie von dieser Seite her ab. Nicht die Anhänger und Verfechter der bestehenden demokratischen Ordnung des sozialen Rechtsstaates haben die wirtschaftliche Mitbestimmung zu fürchten, sondern diejenigen, die Lippenbekenntnisse zu dieser Ordnung ablegen, am liebsten aber sie zur Farce machen möchten und insgeheim sie verwünschen. — Ein dritter Teil dieser Studie erübrigt sich daher. I. Die ordnungspolitische Bedeutung der wirtschaftlichen Mitbestimmung für die Wirtschaftsordnung Die von Unternehmer- oder Arbeitgeberseite gegen die wirtschaftliche Mitbestimmung erhobenen Einwände laufen mehr oder weniger alle darauf hinaus, sie sei m i t der Marktwirtschaft unvereinbar. Sehr oft sieht es so aus, als werde die „Marktwirtschaft" i m Sinne des laisserfaire-Liberalismus oder Manchestertums verstanden; soweit dies der Fall ist, sei unumwunden zugegeben: laisser-faire-Liberalismus oder Manchestertum und wirtschaftliche Mitbestimmung verhalten sich zu einander wie Feuer und Wasser. Ebenso entschieden ist jedoch zu bestreiten, daß Marktwirtschaft und paläoliberales laisser-faire ein und dasselbe seien; es gibt auch eine neoliberale Marktwirtschaft, es gibt i n verschiedenen Sinndeutungen „soziale" Marktwirtschaft, es gibt moderne Formen global gesteuerter Marktwirtschaft, nur eines, die idealtypisch reine Marktwirtschaft, gibt es nicht. Die angebliche Unvereinbarkeit von wirtschaftlicher Mitbestimmung und Marktwirtschaft w i r d auf verschiedene Weise zu begründen versucht: 1. wirtschaftliche Mitbestimmung und Marktwirtschaft seien begrifflich nicht mit einander vereinbar. Für die Marktwirtschaft sei es konstitutiv, daß sie auf den beiden Säulen des Privateigentums und der Vertragsfreiheit ruhe; indem die wirtschaftliche Mitbestimmung sowohl gegen das Eigentumsrecht als auch gegen die Vertragsfreiheit verstoße, stürze sie die beiden tragenden Pfeiler der Marktwirtschaft und hebe diese damit begrifflich auf. 2. Eine zweite Begründung wählt als Ausgangspunkt das zu erwartende Verhalten der mitbestimmten Unternehmen: sie würden sich nicht „marktgerecht" verhalten, i n der Sprache von Franz Böhm, sie würden nicht „marktgehorsam" sein, und stellten sich damit i n Gegensatz zu den Funktionsnotwendigkeiten einer Marktwirtschaft. 3. Eine dritte Begründung knüpft an die vermuteten Folgen an: i n einer Marktwirtschaft würden die mitbestimmten Unternehmen keine Geldgeber finden, die bereit wären, sich mit verantwortlichem Kapital bei ihnen zu engagieren.

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4. Eine vierte Begründung unterstellt, die Gewerkschaften würden über ihre i n die Organe der Mitbestimmung delegierten Funktionäre die Unternehmen nach zentralem Plan fernsteuern und so unter Wahrung äußerer marktwirtschaftlicher Formen tatsächlich eine Zentralverwaltungs w i r tschaft praktizieren. Zu 1. Zweifellos sind Privateigentum und Vertragsfreiheit tragende Säulen der Marktwirtschaft. Daß Vertragsfreiheit nicht unbeschränkte Freiheit bedeutet, Verträge beliebigen Inhalts abzuschließen, am allerwenigsten die Freiheit des Stärkeren, dem schwächeren Partner die Vertragsbedingungen zu diktieren, w i r d — mindestens grundsätzlich — auch von extrem liberalen Kreisen anerkannt. I n Bezug auf das Eigent u m sind w i r noch nicht ebenso weit; auch heute nehmen sehr viele Eigentümer immer noch mit ethischem Pathos die Befugnis i n Anspruch, m i t dem, was sie ihr eigen nennen, zu t u n und zu lassen, was ihnen beliebt. Daß sogar der i n der Hochblüte des Individualismus redigierte § 903 BGB, auf den sie sich gern berufen, dem Belieben des Eigentümers Grenzen zieht, überlesen sie; daß A r t . 153 WeimRV und Art. 14 BGG die soziale Gebundenheit des Eigentums unterstreichen, nehmen sie nicht zur Kenntnis. I m übrigen berufen sie sich auf die unbestreitbare und unbestrittene Tatsache, daß die Arbeitnehmer i m Lohnarbeitsverhältnis sich der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers unterstellen; wenn also etwa die Berufung auf das Eigentumsrecht nicht ausreiche, um den A n spruch auf wirtschaftliche Mitbestimmung auszuschließen, so sei durch den Arbeitsvertrag klargestellt, daß ausschließlich der Arbeitgeber zu bestimmen befugt sei, der Arbeitnehmer dagegen nur die i h m erteilten Weisungen auszuführen habe. Man braucht nur aus der unbestreitbaren und unbestrittenen Tatsache eine Norm zu machen, und der schlüssige Beweis ist erbracht. Aber diese Schlüssigkeit ruht einzig und allein auf der Umfälschung des rein Faktischen zur ethischen und rechtlichen Norm. Normativer Charakter käme dieser Tatsache nur zu, wenn entweder die Eigentümer der Produktionsmittel einen Rechtsanspruch darauf hätten, daß andere Menschen, die über keine eigenen Produktionsmittel verfügen, i n ein Lohnarbeitsverhältnis der vorbeschriebenen Form zu ihnen treten, oder wenn die öffentliche Ordnung, m. a. W. die bestehende Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft, diesen anderen geböte, sich i n dieser Weise den Eigentümern der Produktionsmittel unterzuordnen. Daß ersteres nicht zutrifft, darüber sind wohl keine Worte zu verlieren. Letzteres aber wäre nichts anderes als ein Zirkelschluß, eine petitio principii. Als Obersatz stellt man auf, es gehöre zur Marktwirtschaft, daß Menschen, die über keine eigenen Produktionsmittel verfügen, an denen sie ihre Arbeitskraft nutzbar machen und ihren Lebensunterhalt erwerben könnten, sich den Eigentümern von Produktionsmitteln zur Verfügung

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stellen, u m ihre Arbeitskraft an deren Produktionsmitteln und — folgerecht? — ausschließlich nach deren Weisungen zu betätigen. Mitbestimmung, schon gar wirtschaftliche Mitbestimmung, widerspricht dem stracks. Also ist sie m i t der Marktwirtschaft unvereinbar. Woher weiß man, was zur Marktwirtschaft „gehört"? I m Begriff der M a r k t w i r t schaft, d. h. i n den begrifflichen Merkmalen, durch die w i r festlegen, was gemeint ist, wenn w i r von Marktwirtschaft sprechen, ist nichts derart enthalten. Man kann es daher nur entweder i n den Begriff der Marktwirtschaft, i n den es von Rechts wegen nicht hineingehört, hineinschmuggeln, oder es könnte allenfalls erschlossen werden aus dem, was gewährleistet sein muß, damit die Marktwirtschaft funktionsfähig ist. Das, was von hause aus nicht zum Begriff der Marktwirtschaft gehört, elegant i n ihn hineinzuschmuggeln, gelingt m i t Hilfe des Kunstgriffs, sie i n „unternehmerische Wirtschaft" umzubenennen. Marktwirtschaft ist i n der Tat unternehmerische Wirtschaft; es sind die Unternehmen, die als Wirtschaftssubjekte i m M a r k t einander gegenübertreten. Sehen w i r nicht i n abstracto die Unternehmen, sondern i n concreto die Menschen, die für ihre Unternehmen am Markte anbieten und nachfragen, die darüber entscheiden, wie sie ihr Angebot erstellen und wie sie die nachgefragten Güter verwenden, dann haben w i r den „Unternehmer" vor Augen. Wer „kann" diese für die Marktwirtschaft wesentliche Unternehmerfunktion ausüben, wer „kann" Unternehmer sein? Diese Frage kann i n zweifachem Sinn verstanden werden; zweierlei „Können" kann gemeint sein: das rechtliche Können (wer ist rechtlich befugt, ein Unternehmen aufzumachen, als Unternehmer aufzutreten?) und das tatsächliche Können (wer ist imstande, sich — m i t Erfolg — unternehmerisch zu betätigen?). Kein anderer hat diese beiden Sinndeutungen der Frage klarer auseinandergelegt als der scharfsinnigste Gegner der wirtschaftlichen Mitbestimmung unter den neoliberalen Juristen, Franz Böhm: „ E i n Zusammenhang zwischen rechtlicher Legitimation zu unternehmerischer Tätigkeit und Privateigentum besteht nicht." „ A l l e Autoren, die das Privateigentum für die Legitimationsgrundlage der unternehmerischen Tätigkeit halten, verwechseln die Legitimation zu einer Tätigkeit mit der Erfolgsgrundlage für eine Tätigkeit" (in „Mitbestimmung?", hrsg. Götz Briefs, Stuttgart 1967, S. 164 bzw. 165). Treffender kann man es nicht sagen. Gehörte das Eigentum an den i m Unternehmen eingesetzten Mitteln zur Legitimationsgrundlage der unternehmerischen Tätigkeit, dann könnte rechtlich nur derjenige Unternehmer sein, der entweder selbst Eigentümer dieses Mitteleinsatzes ist oder seine Legitimation von dessen Eigentümer herleitet. I n Wirklichkeit ist das Eigentum aber nicht Legitimationsgrundlage; zum mindesten rechtlich kann daher eine W i r t -

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schaft durchaus „unternehmerisch" sein und als solche sich klar von einer Zentralverwaltungswirtschaft unterscheiden, ohne daß die Führung der Unternehmen bei deren Eigentümern liegen oder doch von ihnen her ihre Legitimation beziehen müßte; aus dem Begriff der Marktwirtschaft, auch wenn w i r sie i n „unternehmerische Wirtschaft" umbenennen, folgt i n gar keiner Weise die Ineinssetzung von Eigentümer und Unternehmer. Zum mindesten rechtlich läßt das Merkmal „unternehmerisch" es völlig offen, ob Eigentümer oder Nicht-Eigentümer oder auch Eigentümer und Nicht-Eigentümer zusammen berufen sind, die Unternehmerrolle zu spielen. Es t r i f f t auch nicht zu, was an sich denkmöglich wäre, daß die öffentliche Ordnung oder Rücksichten des allgemeinen Wohls demjenigen, der nicht selbständig an eigenen Produktionsmitteln arbeitet, die Verpflichtung auferlegen, sich einem Eigentümer von Produktionsmitteln in der Weise als Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, daß er sich dessen zwar nicht schrankenloser, aber doch ausschließlichen Weisungsbefugnis unterwirft. Das würde bedeuten, daß beispielsweise ein Gebilde von der A r t einer offenen Handelsgesellschaft, i n die der eine Gesellschafter Kapital, der andere jedoch nur seine Arbeitskraft einbringt, unzulässig wäre. Unsere Rechtsordnung läßt solche Gebilde unbeanstandet zu, und unsere Praxis macht davon nützlichen Gebrauch, um tüchtigen, aber vermögenslosen Menschen den Aufstieg zur wirtschaftlichen Selbständigkeit zu ermöglichen. Kein vernünftiger Mensch hat dagegen etwas einzuwenden; niemand erblickt darin eine der privatrechtlichen Ordnung unserer Wirtschaft zuwiderlaufende „ständische Privilegierung" des sog. Juniorpartners. Diese und ähnliche Einwendungen werden nur geltend gemacht für den Fall oder unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß zwischen den beiden, deren einer sein Kapital und deren andere seine Arbeit i m Unternehmen einsetzt, kein Gesellschafts- oder Beteiligungsverhältnis, sondern ein Lohnarbeitsverhältnis vereinbart wird. Da dies heute der Regelfall ist, setzt man fälschlich die Frage, ob Lohnarbeitsverhältnis und wirtschaftliche Mitbestimmung miteinander vereinbar seien, m i t der Frage nach der Vereinbarkeit von wirtschaftlicher Mitbestimmung und Marktwirtschaft gleich. Das ist nichts anderes als eine logische Erschleichung. Selbst wenn Lohnarbeitsverhältnis und wirtschaftliche Mitbestimmung als miteinander unvereinbar erwiesen werden könnten, würde daraus i n keiner Weise folgen, daß w i r t schaftliche Mitbestimmung die Marktwirtschaft oder, wie Franz Böhm a.a.O. meint, unmittelbar die Privatautonomie und damit mittelbar die i n ihr gründende Marktwirtschaft aufhebe. Zudem ist die Privatautonomie niemals unbeschränkt. So versagt Böhm selbst den Unternehmern oder Unternehmen m i t vollem Recht, von der Vertragsfreiheit einen Gebrauch zu machen, der i m Endergebnis zur Aufhebung der Ver-

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tragsfreiheit, des freien Wettbewerbs usw. führen würde; damit hebt Böhm die Privatautonomie nicht auf, sondern i m Gegenteil: er schützt sie vor ihrer Selbstaufhebung. Ein Gesetz, das es den Eigentümern untersagen würde, Lohnarbeitsverträge, die den Arbeitnehmern keine Beteiligung an den unternehmerischen Entscheidungen einräumen, abzuschließen, beschnitte offenbar die Vertragsfreiheit an einer weiteren und gewiß nicht unwichtigen Stelle; trotzdem könnte es sehr wohl sein, daß diese Beschränkung der Vertragsfreiheit die Privatautonomie i n ähnlicher Weise vor der Gefahr schützen würde, sich selbst aufzuheben, wie das gesetzliche Verbot autonomer Wettbewerbsbeschränkungen den Wettbewerb vor Selbstaufhebung bewahrt. Ob dem wirklich so ist, braucht hier, wo es nur um den Mangel der gegnerischen Beweisführung an Schlüssigkeit geht, nicht untersucht zu werden. Hier genügt die Feststellung, daß auch der speziell auf den unternehmerischen Charakter der Marktwirtschaft sich stützende Beweis für die behauptete grundsätzliche Unvereinbarkeit von wirtschaftlicher Mitbestimmung und Marktwirtschaft der Schlüssigkeit ermangelt; die Gegner der wirtschaftlichen Mitbestimmung sind den Beweis schuldig geblieben. Zu 2. Die zweite Begründung dafür, daß wirtschaftliche Mitbestimmung und Marktwirtschaft unvereinbar seien, stützt sich darauf, daß ein mitbestimmtes Unternehmen sich nicht marktgerecht verhalten, nicht „marktgehorsam" sein werde. Dieser Einwand gegen die w i r t schaftliche Mitbestimmung steht und fällt mit den stillschweigenden Voraussetzungen die ihm zugrunde liegen; diese Voraussetzungen gilt es daher bloßzulegen und zu prüfen; es sind ihrer mehrere. Grundlegend ist die Voraussetzung, das hypostasierte Anonymum „ M a r k t " sei eine den Unternehmen vorgegebene Größe, der sie sich anzupassen oder i n die sie sich einzufügen hätten. Nicht die Unternehmen (und ihre Kunden) „machten" den Markt, sondern der Markt sei Herr und Gebieter über die Unternehmen, und dies gelte nicht etwa nur von den kleinen und mittleren, sondern gerade auch von den Groß- und Größt-Unternehmen, die man der wirtschaftlichen Mitbestimmung unterstellen oder denen man eine Unternehmensverfassung verpassen wolle. Als eindrucksvoller Beweis dafür werden die heute bereits der qualifizierten Mitbestimmung unterstehenden Unternehmen des Bergbaus angeführt: obwohl zu den mächtigsten Unternehmen der deutschen Wirtschaft zählend seien sie doch der Marktlage gegenüber ohnmächtig; wenn der Markt ihre Kohle nicht begehrt, bleiben sie auf ihr sitzen. Das Beispiel ist vor allem deswegen eindrucksvoll, weil es das genaue Gegenteil von dem beweist, was es beweisen soll. Nicht weil „der M a r k t " ihre Kohle nicht begehrt, müssen die Zechen sie auf Halde schütten oder die Förderung einstellen, sondern weil stärkere Unternehmen mit preisgünstigerem Angebot von Primärenergie am Markte sind, werden sie

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von diesen aus dem M a r k t geworfen. Eine ganz kleine Zahl von Unternehmen bzw. Unternehmenskomplexen, deren top-manager alle einander persönlich kennen, macht diesen Markt. I n diesem Beispielsfall ist das mystifizierte und mythologisierte Anonymum „ M a r k t " nichts anderes als das Ergebnis des Verhaltens dieser kleinen Zahl keineswegs anonymer, sondern durchaus „namhafter" Persönlichkeiten. Der von Unternehmen Gehorsam heischende Markt ist eine Mystifikation . Stattdessen kann man auch sagen: er ist ein letzter Restbestand jener verhängnisvollen Verwechslung von Denkmodell und Realität, die immer noch den Idealtypus der vollständigen, heterogenen und atomistischen Konkurrenz als Realtypus mißversteht und immer noch nicht von dem Versuch lassen kann, die ökonomische Realität nach diesem vermeintlichen Ideal zu modellieren. Die „Entmythologisierung" des Marktes läßt durchaus bestehen, daß die Unternehmen auf den Markt (auch wenn er das Ergebnis ihres eigenen Tuns und Lassens ist) genauestens achten müssen. Ist der Markt auch kein Herr und Gebieter, so doch ein überaus beachtliches Reagens. Das Unternehmen muß beachten, wie der Markt, d. h. die anderen Marktteilnehmer, auf seine Aktionen reagieren, und bemüht sein, möglichst zuverlässig abzuschätzen, wie sie vermutlich künftig darauf reagieren werden. Das gilt selbst von den sog. „marktbeherrschenden" Unternehmen, deren Name offenbar besagen w i l l , daß sie zu „ M a r k t gehorsam" nicht gehalten sind. Gegen die wirtschaftliche Mitbestimmung w i r d nun eingewendet, ein mitbestimmtes Unternehmen werde die der Marktlage zu entnehmenden Erkenntnisse für sein Verhalten nicht nutzen, bildhaft ausgedrückt, es werde die „Marktsignale" nicht beachten, sondern überfahren, und habe daher weder Kompaß noch Steuer, um sich richtig zu verhalten. Damit w i r d zweierlei behauptet: erstens, es sei unerläßliche Lebensbedingung für ein Unternehmen, sich an den Marktdaten zu orientieren, und zweitens, ein mitbestimmtes Unternehmen werde (oder könne) diesem Erfordernis nicht genügen. Was die erstere Behauptung genau besagen w i l l , muß geklärt werden. So, wie sie lautet, ist sie unbestreitbar richtig; stillschweigend aber ist mehr gemeint, als die Worte besagen. Gemeint ist, i n der M a r k t w i r t schaft gebe es ein einziges und eindeutiges K r i t e r i u m richtigen unternehmerischen Verhaltens, nämlich die Rentabilität oder i n anderer begrifflicher Fassung, aber sachlich das Gleiche, die Gewinnmaximierung. Demgegenüber ist zunächst daran zu erinnern, daß es wirtschaftliche Unternehmen gibt, die bewußt und gewollt auf Rentabilität verzichten, die daher auch keine Gewinne oder Verluste, dafür aber sehr genau Aufwand und Ertrag verbuchen. Die Marktwirtschaft besteht keineswegs aus lauter erwerbswirtschaftlichen Unternehmen, sondern aus Un-

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ternehmen sehr verschiedenen institutionellen Sinngehalts, darunter solche, die Kostendeckung erwirtschaften, und andere, die selbst darauf verzichten oder die wegen der Unentbehrlichkeit ihrer Leistungen von der öffentlichen Hand auch dann aufrecht erhalten werden, wenn ihnen die erstrebte Überschußerzielung oder auch nur Kostendeckung nicht gelingt (z. B. Verkehrsunternehmen). Soweit der gegen die wirtschaftliche Mitbestimmung erhobene Einwand stillschweigend unterstellt, i n der Marktwirtschaft seien alle Unternehmen erwerbswirtschaftlich eingestellt und könnten sich an Rentabilität oder Gewinnmaximierung eindeutig orientieren, t r i f f t das einfach nicht zu. Selbstverständlich ist für alle Unternehmen, gleichviel, ob erwerbswirtschaftlich oder nicht, gleichviel, ob sie einer Markt- oder einer Zentralverwaltungswirtschaft angehören (soweit man i n letzterer überhaupt von Unternehmen reden kann), die Kostenrechnung von höchster Bedeutung. Götz Briefs 9 Formulierung, Aufgabe des Unternehmers sei, „die Kosten i n Schach und Proportion zu halten", ist unübertrefflich schön und zutreffend, nicht zuletzt deswegen, weil diese Redewendung dem mit „Kostenminimierung" so leicht sich verbindenden Mißverständnis vorbeugt oder jedenfalls keinen Vorschub leistet, nur das, was i n Geldbeträgen meßbar oder abzählbar ist und sich i n der eigenen Kostenrechnung des Unternehmens niederschlägt, seien „Kosten". Den stillschweigend unterlegten, manchmal allerdings auch offen ausgesprochenen Sinn des Einwands, i n der Marktwirtschaft seien Rentabilität oder Gewinnmaximierung bzw. die Befolgung der „Marktsignale" mit dem Ziel der Maximierung von Gewinn und Rentabilität sowohl die einzige als auch eine eindeutige Richtschnur für unternehmerisches Verhalten, ist also einschränkend dahingehend zu berichtigen, daß die Unternehmen scharf auf ihre Ergebnisrechnung, insbesondere auf ihre Kosten, zu achten haben und sich hüten müssen, die durch die M a r k t daten ihnen gegebenen Signale zu übersehen oder gar zu überfahren. Mitbestimmte Unternehmen aber können oder werden jedenfalls nach der gegnerischen Meinung sich daran nicht halten; sie werden infolgedessen nur eine Kette von Fehlleistungen aufweisen und schließlich i m Zusammenbruch enden. Warum eigentlich? Als Grund w i r d angegeben, an Gewinn und Rentabilität der Unternehmen seien nur die Eigentümer oder Kapitalbeteiligten interessiert; die Arbeitnehmer dagegen seien daran nicht nur uninteressiert, sondern ihre Interessen liefen dem sogar stracks zuwider . Anders ausgedrückt: Eigentümerinteressen am Unternehmen und Interessen des Unternehmens seien identisch ; Arbeitnehmerinteressen und Interessen des Unternehmens seien konträr. Wäre dem so, dann wäre logisch zu folgern: bei Strafe des Untergangs muß das Unternehmen ausschließlich i m Sinne der i n Rentabilität und Gewinnmaximierung 12 Festgabe für Gert von Eynern

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zum Ausdruck kommenden Eigentümerinteressen geführt werden; die Arbeitnehmerinteressen dürfen nicht berücksichtigt werden (es sei denn, sie liefen i m Einzelfall einmal ausnahmsweise m i t den Eigentümerinteressen gleich). Da die Arbeitnehmerinteressen keinen Anspruch auf Berücksichtigung haben, darf den Arbeitnehmern kein Einfluß auf die unternehmerischen Entscheidungen eingeräumt werden. Die Arbeitnehmer sind eben bloß Mittel für die Interessen der Eigentümer und haben diesen zu dienen; diese allein sind Ziel des Unternehmens. Selbstverständlich vermeidet man sorgfältig, es so schroff zu formulieren; der Ehrlichkeit und Klarheit käme es aber sehr zustatten. Lieber bedient man sich umschreibender Formeln: die Eigentümer (Kapitalbeteiligten) seien am Unternehmen langfristig, die Arbeitnehmer dagegen nur kurzfristig interessiert und urteilten daher auch nur kurzsichtig. Den Eigentümern w i r d ohne weiteres Weitblick und höhere Einsicht zugute gehalten; ebenso w i r d — aller Erfahrung zuwider — unterstellt, die Interessen verschiedener Eigentümer (Kapitalbeteiligter) liefen stets i n gleicher Richtung; i n Wirklichkeit stehen beispielsweise die Interessen von Großaktionär und Kleinaktionären oft (und keineswegs bloß i n Bezug auf die Ausschüttungspolitik der Unternehmen) i n scharfem Gegensatz zueinander. Ebensowenig t r i f f t es zu, daß die Arbeitnehmerinteressen denjenigen des Unternehmens konträr seien. A n dem, was gerade i m Sinn der Marktwirtschaft die wahre Leistung eines Unternehmens ist, nämlich seiner Wertschöpfung , sind die Eigentümer (Kapitalbeteiligten) und die Arbeitnehmer i n völlig gleichlaufender Richtung interessiert. Der trügerische Schein des Interessengegensatzes entsteht nur dadurch, daß w i r uns angewöhnt haben, die Leistung oder den Erfolg eines Unternehmens nicht i n seiner Wertschöpfung zu sehen, sondern als solchen nur das gelten zu lassen, was nach Abzug des den Arbeitnehmern zufallenden Anteils als Rest verbleibt und i m Rechnungswerk des Unternehmens als „Gewinn" erscheint, aus dem sich, wenn w i r ihn auf das eingesetzte Kapital beziehen, die Rentabilität errechnet. Ein Interessengegensatz zwischen Eigentümern (Kapitalbeteiligten) und Arbeitnehmern t r i t t erst i n Erscheinung, wenn es u m die Verteilung dessen geht, was gemeinsam an Werten geschaffen worden ist. A n der echten Unternehmensleistung, d. i. seiner Wertschöpfung, und folgerecht auch an allen Entscheidungen, die es mit günstigster Leistungserstellung zu tun haben, d. i. den i m strengen Sinn unternehmerischen Entscheidungen, sind beide i n völlig gleichem Sinn interessiert. Selbstverständlich ist es kein Zufall, daß die Einkommensübertragungen aus dem Unternehmen an die Arbeitnehmer als „Kosten", die Entnahmen der Eigentümer (Kapitalbeteiligten) aus dem Unternehmen dagegen nicht als Kosten, sondern als Gewinnausschüttung verrechnet werden. I n der Wahl dieser

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Bezeichnungen drückt sich eine „Philosophie des Unternehmens" aus: der Anteil der Arbeitnehmer an den i m Unternehmen geschaffenen Werten ist ein unvermeidliches Übel; auch Leistungserstellung und Wertschöpfung i m Unternehmen sind nicht Ziel des Unternehmens, sondern nur Mittel; Ziel des Unternehmens ist einzig und allein, was für die Eigentümer (Kapitalbeteiligten) herausspringt, und darum sollte deren Anteil so nahe an die gesamte Wertschöpfung herankommen wie nur eben möglich (den meisten Einwendungen gegen die wirtschaftliche Mitbestimmung liegt diese oder eine ähnliche „Philosophie des Unternehmens" bewußt oder unbewußt zugrunde). Soviel zu der zweiten Begründung, warum wirtschaftliche Mitbestimmung und Marktwirtschaft unvereinbar seien. Die Schlüssigkeit ist dieser Begründung nicht abzusprechen; dafür aber sind die Voraussetzungen tatsächlicher A r t , die sie zugrunde legt und von denen sie ausgeht, unzutreffend; spitz könnte man sagen: paläoliberale Irrtümer oder Philosopheme i n neoliberalem Aufputz! Zu 3. Der dritte Einwand — i n einer Marktwirtschaft würden m i t bestimmte Unternehmen keine Geldgeber finden, die bereit wären, sich mit verantwortlichem Kapital bei ihnen zu engagieren — ist insofern nicht ganz unbeachtlich, als sich zum mindesten zu prüfen lohnt, ob sich für mitbestimmte Unternehmen Wettbewerbs- und insbesondere Finanzierungs-Nachteile i m Vergleich zu nicht mitbestimmten Unternehmen ergeben könnten. Der Einwand bzw. die Fragestellung setzt voraus, daß mitbestimmte und mitbestimmungsfreie Unternehmen nebeneinander bestehen und i m Wettbewerb miteinander liegen. Die Erfahrung unserer der qualifizierten Mitbestimmung unterstellten Montan-Unternehmen hat die angedeutete Befürchtung bisher keineswegs bestätigt; die bei Einführung der qualifizierten Mitbestimmung und i m Kampf gegen sie gemachten finsteren Voraussagen haben sich nicht erfüllt. W i r d jedoch nicht für einen einzelnen Wirtschaftszweig, sondern für alle (Groß-)Unternehmen eines Landes die wirtschaftliche Mitbestimmung eingeführt und besteht i m Sinne der Marktwirtschaft freier Kapitalverkehr über die Landesgrenzen hinweg, dann muß man sich selbstverständlich ernsthaft die Frage vorlegen, ob alsdann ausländisches Kapital sich zur Anlage i n diesem Lande bereit finden, ja, ob nicht umgekehrt inländisches Kapital zur Anlage i m Ausland drängen würde. I n einer freien, auch nach außen offenen Verkehrswirtschaft hängt das ab von den Erwartungen der Geldgeber hinsichtlich der Sicherheit und der Rentabilität (sie!), die sie bei der Kapitalanlage i n mitbestimmten Unternehmen sich glauben versprechen zu dürfen. Unterstellt man, die Geldgeber lassen sich bei ihren Entschlüssen von Vernunftgründen leiten — und mindestens i m theoretischen Modell der Marktwirtschaft handeln alle Marktteilnehmer rationell, also „vernünftig" —, dann w i r d 12•

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man sagen müssen: es w i r d einzig und allein darauf ankommen, wie die wirtschaftliche Mitbestimmung bzw. die mitbestimmten Unternehmen funktionieren, und dies hängt wiederum davon ab, wie diese wirtschaftliche Mitbestimmung institutionalisiert w i r d und wie die an ihr Beteiligten sie handhaben. Was das erstere anbetrifft, muß bestimmt die denkbar größte Sorgfalt darauf verwendet werden, die wirtschaftliche Mitbestimmung i n jeder Hinsicht einwandfrei funktionsfähig zu gestalten; letzteres ist weitgehend eine Erziehungsaufgabe. Man vergesse aber nicht, daß es gerade i n diesem Bereich „selbsterfüllende Erwartungen" gibt. Wenn beispielsweise die öffentliche Meinung den Trägern oder Organen der wirtschaftlichen Mitbestimmung Vertrauen entgegenbringt, liegt darin für diese ein gewaltiger Ansporn, sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen, es zu rechtfertigen; umgekehrt, wenn ihnen alles Bösartige und Schlechte unterstellt wird, kann das für viele Träger von Mitbestimmungsfunktionen eine schwere Versuchung bedeuten; mancher w i l l nun einmal nicht besser sein, als man von i h m denkt oder ihn einschätzt. So beweist auch dieser dritte Einwand keineswegs, daß für wirtschaftlich mitbestimmte Unternehmen i n der Marktwirtschaft keine Daseinsund Entfaltungsmöglichkeit bestehe. Immerhin hat er das Verdienst, auf Gefahrenpunkte hinzuweisen, die bei der konkreten Ausgestaltung der wirtschaftlichen Mitbestimmung oder Unternehmensverfassung zu beachten sind. Das gilt insbesondere angesichts der derzeitigen Bemühungen, ein für alle EWG-Länder gemeinsames Gesellschaftsrecht zu schaffen und auch für die Kapitalgesellschaften völlige Freizügigkeit innerhalb sämtlicher EWG-Länder herzustellen. Kommt es dazu, dann muß ein einzelnes EWG-Land sehr sorgfältig prüfen, wie weit es sich i n Fragen der wirtschaftlichen Mitbestimmung oder der Unternehmensverfassung einen Alleingang leisten kann, ohne sich der Gefahr auszusetzen, daß Unternehmen ihren Sitz i n andere, weniger mitbestimmungsfreundliche Länder der Gemeinschaft verlegen. Nicht die Marktwirtschaft steht der wirtschaftlichen Mitbestimmung entgegen; ist sie aber nur i n einzelnen Ländern eingeführt, dann ermöglicht der freiheitliche Charakter der Marktwirtschaft es den Unternehmen, sich durch Sitzverlegung der wirtschaftlichen Mitbestimmung zu entziehen. I n dieser Hinsicht verhält sich die Marktwirtschaft zur wirtschaftlichen Mitbestimmung nicht anders als etwa zum Steuersystem; die Marktwirtschaft eröffnet Möglichkeiten wie der Steuerflucht so auch der Flucht vor der wirtschaftlichen Mitbestimmung, solange die Regelungen i n verschiedenen Ländern des gemeinsamen Marktes unterschiedlich sind. Zu 4. Das vierte für die Unvereinbarkeit von Marktwirtschaft und wirtschaftlicher Mitbestimmung vorgebrachte Argument malt die Gefahr an die Wand, die Gewerkschaften würden die mitbestimmten Un-

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ternehmen nach zentralem Plan fernsteuern und so, wenn erst einmal alle (Größt- und Groß-)Unternehmen der wirtschaftlichen Mitbestimmung unterlägen, die Marktwirtschaft i n eine gewerkschaftlich gesteuerte Zentralverwaltungswirtschaft überführen. Obwohl Mitbestimmung und Beteiligung der Gewerkschaften an der Mitbestimmung durchaus nicht, wie es vielfach fälschlich hingestellt wird, dasselbe sind, wie auch das Modell der Montanmitbestimmung (Gesetz vom 21. 5. 1951) nicht mit Mitbestimmung schlechthin gleichgesetzt werden darf, w i r d man nach heutiger Lage der Dinge immerhin davon auszugehen haben, daß die Gewerkschaften, wenn auch nicht unbedingt förmlich und rechtlich, so aber doch zum mindesten tatsächlich an der Mitbestimmung beteiligt sein werden. Wirtschaftliche Mitbestimmung ohne gewerkschaftlichen Beitrag zu ihr oder Beteiligung der Gewerkschaften an ihr wäre unter den heutigen Umständen zweifellos nicht funktionsfähig; ebensowenig aber dürfte es möglich sein, den Gewerkschaften eine Beteiligung an der wirtschaftlichen Mitbestimmung zu versagen, sie von der wirtschaftlichen Mitbestimmung, auszuschließen. Nur die A r t und Weise der gewerkschaftlichen Beteiligung kann so oder anders geregelt werden, wie auch das Maß ihres Anteils oder ihres Einflusses größer oder kleiner bemessen werden kann. Sind die Gewerkschaften an der wirtschaftlichen Mitbestimmung stark beteiligt, so stünde es — sofern nicht wohlüberlegte Vorkehrungen dem vorbeugen oder das Neben- und Gegeneinander mehrerer Gewerkschaften es vereitelt — durchaus i n ihrer Macht, über ihre i n die Organe der wirtschaftlichen Mitbestimmung delegierten Funktionäre, wenn sie es wollten, die mitbestimmten Unternehmen bis zu einem gewissen Grad fernzusteuern. Die Gefahr, daß es dazu kommt, dürfte dort, wo mehrere Richtungsgewerkschaften miteinander rivalisieren, am geringsten sein; größer wäre sie bereits, wo der Gedanke der Einheitsgewerkschaft i n Gestalt eines verhältnismäßig locker organisierten Gewerkschaftsbundes verwirklicht ist; wirklich ernst zu nehmen wäre sie nur, wenn die Arbeitnehmerschaft i n einer einheitlichen, zentral geleiteten Organisation zusammengefaßt wäre — ein Zustand, der ausschließlich i n Ländern anzutreffen ist, die sich ohnehin zur Zentralverwaltungswirtschaft bekennen, und wohl eher eine Auswirkung als die Ursache dieser Zentralverwaltungswirtschaft sein dürfte. — Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, ob denn die Gewerkschaften eine solche Fernsteuerung der mitbestimmten Unternehmen überhaupt beabsichtigten . I n der BRD, wo sich ihnen i m Montansektor immerhin die Gelegenheit geboten hätte, es zu versuchen, haben sie nicht das Allergeringste i n dieser Richtung unternommen. Die Tatsache, daß der Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften, als er zum Wirtschaftsminister i n Nordrhein-Westfalen berufen wurde, keinerlei Plan zur Sanierung des

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Ruhrbergbaus mitbrachte, beweist schlagend, daß die Stelle, die doch an allererster Stelle dazu berufen gewesen wäre, zentralverwaltungswirtschaftliche Absichten der Gewerkschaften der Verwirklichung näher zu bringen, noch nicht einmal vorbereitende Schritte i n dieser Richtung getan hat. Vereinzelte Äußerungen von Gewerkschaftsführern, i n denen Absichten solcher A r t durchzuschimmern scheinen („die Investitionen i n den Griff bekommen"), wiegen dieser Tatsache gegenüber nicht schwer. Vielleicht w i r d man sagen dürfen, die Gefahr einer Fernsteuerung der mitbestimmten Unternehmen durch die Gewerkschaften sei ähnlich hoch oder jedenfalls nicht höher zu veranschlagen als die Gefahr der Fernsteuerung der Unternehmen durch die Banken (Bankenvertreter i m Aufsichtsrat zuzüglich Depotstimmrecht), das bisher unsere M a r k t w i r t schaft noch nicht aus den Angeln gehoben hat. Aber ebenso, wie w i r uns angelegen sein lassen, den Bankeneinfluß einerseits offen zu legen, anderseits i n Grenzen zu halten, so werden w i r uns auch Gedanken darüber zu machen haben, wie einem Mißbrauch gewerkschaftlichen Einflusses auf mitbestimmte Unternehmen vorgebeugt werden kann. Soviel zu den Argumenten, mit denen die wirtschaftliche Mitbestimmung als m i t der Marktwirtschaft unvereinbar erwiesen werden soll m i t der Folge, daß sie, nachdem einmal die ordnungspolitische Entscheidung für die Marktwirtschaft getroffen ist, für uns nicht mehr i n Frage kommen könne. Keines dieser Argumente sticht. Trotzdem mag es sich lohnen, gewissermaßen noch eine Gegenprobe zu machen und zu untersuchen, ob denn die angeblich nur m i t der Zentralverwaltungswirtschaft vereinbare oder doch unvermeidlich zu ihr hinführende w i r t schaftliche Mitbestimmung überhaupt zur Zentralverwaltungswirtschaft paßt. I n der Zentralverwaltungswirtschaft werden alle i m engeren Sinn „wirtschaftlichen" Entscheidungen, die i n der Marktwirtschaft auf der Unternehmensebene getroffen werden und die w i r daher „unternehmerische" Entscheidungen nennen, an zentraler Stelle getroffen. Für „unternehmerische" Entscheidungen i n unserem Sinn ist i n der Zentralverwaltungswirtschaft kein Raum, letzten Endes deshalb, weil es i n ihr strenggenommen keine „Unternehmen" gibt, sondern nur Betriebe. I n diesen Betrieben sind — ganz wie i n unseren Betrieben — Entscheidungen i n personellen und sozialen Angelegenheiten zu treffen, und es muß daher geregelt sein, wer diese Entscheidungen zu treffen befugt ist und auf welche Weise sie Zustandekommen. A n der Bestellung der Entscheidungsträger wie auch an den Entscheidungen selbst kann die i n geeigneter Form repräsentierte Arbeitnehmerschaft, sei es des einzelnen Betriebs, sei es des Wirtschaftszweigs oder wie immer, beteiligt sein. Für das, was w i r Mitbestimmung i n personellen und sozialen Angelegenheiten nennen, bietet die Zentralverwaltungswirtschaft durchaus Raum.

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Für wirtschaftliche Mitbestimmung auf Unternehmensebene dagegen ist i n ihr, weil es keine Unternehmen und folgerecht auch keine unternehmerischen Entscheidungen auf Unternehmensebene gibt, schlechterdings kein Raum. I n der v o l l sozialisierten, autoritär-totalitären Zentralverwaltungswirtschaft ist auch auf der höheren wirtschaftspolitischen oder gesamtwirtschaftlichen Ebene für wirtschaftliche Mitbestimmung kein Raum, denn hier besteht Identität zwischen Produktionsmittelbesitzern und an den Produktionsmitteln beschäftigten Werktätigen; m i t sich selbst kann man nicht „mit"-bestimmen! A u f Grund dieser Gegenprobe erscheint die Behauptung nicht übertrieben: unter ordnungspolitischer Rücksicht ist die wirtschaftliche M i t bestimmung m i t der Marktwirtschaft nicht nur vereinbar, sondern gerade ihr und nicht der Zentralverwaltungswirtschaft zugeordnet. I I . Die ordnungspolitische Bedeutung der wirtschaftlichen Mitbestimmung für die gesellschaftliche Ordnung Die unserer Wirtschaftsweise, gleichviel ob w i r sie mehr m a r k t w i r t schaftlich oder mehr zentralverwaltungswirtschaftlich ausgestalten, zugrunde liegende gesellschaftliche Ordnung nennen w i r die „kapitalistische". Darin kommt zweierlei zum Ausdruck: nicht nur, daß diese Wirtschaftsweise auf dem Zusammenspiel zweier gesellschaftlicher Großgruppen beruht, deren eine die sachlichen Produktionsmittel (das „Kapital") und deren andere den lebendigen Produktionsfaktor „Arbeit" zum gemeinsamen Wirtschaftsvollzug beistellt, sondern auch, daß die von ihrem Kapitaleinsatz her selbst kurz als „das Kapital" bezeichnete Gruppe bei diesem Zusammenspiel führend ist und die zahlenmäßig sehr viel größere Gruppe, die w i r nach ihrem Beitrag kurz als „die A r beit" zu bezeichnen pflegen, i n ihren Dienst nimmt. Die Bestrebungen u m breitere Vermögensstreuung setzen sich zum Ziel, die zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Gruppen bestehende, scharf ausgeprägte Grenze aus der Welt zu schaffen; i m Endergebnis könnte es zu völliger Auflösung dieser Gruppen kommen, indem mehr oder weniger alle sowohl durch Kapitaleinsatz als auch durch eigene Tätigkeit am Wirtschaftsprozeß beteiligt sein könnten. Diesen Gedanken weiter zu verfolgen gehört nicht zum Thema dieser Studie. Die wirtschaftliche Mitbestimmung hat es zu tun m i t dem die gesellschaftliche Ordnung spezifizierenden Merkmal, daß die Führung i n der Wirtschaft und weit darüber i m Gesamtbereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens bei der schlagwortartig „Kapital" genannten Gruppe liegt. Zum mindestens denkmöglich wäre es, daß die Führung umgekehrt bei der gesellschaftlichen Großgruppe „Arbeit" läge, die ihrerseits das „Kapital" — hier nicht als gesellschafliche Gruppe, sondern schlicht als Sachmitteleinsatz verstanden — i n ihren Dienst nähme.

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Nicht nur denkmöglich, sondern durchaus praktisch realisierbar erscheint die dritte Möglichkeit, daß nämlich „Kapital" und „Arbeit" gleichberechtigt nebeneinander stehen. I n der Tat ist es schwer einzusehen, warum dem „Kapital" der Vorrang vor der „Arbeit" zustehen solle. Als Menschen stehen die Angehörigen beider gesellschaftlicher Gruppen einander gleich; was ihren Beitrag zum gemeinsamen Vollzug der Wirtschaft angeht, steht der persönliche Beitrag der Arbeit zweifellos an Rang und Würde unvergleichbar höher als der Einsatz toter Sachmittel. Erstere tragen, um den volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen, „ihre Haut zu Markte", letztere riskieren nur Teile ihres Vermögens. I m Grunde genommen aber sind beide Alternativen, sowohl die „kapitalistische" als auch die „laboristische", Fehlkonstruktionen . Beiden fehlt ein wesentliches Element. Welches dieses ist, springt sofort i n die Augen, wenn man den Blick auf die dritte Lösung richtet: Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit. Wer gewährleistet i n diesem Fall die unerläßliche Kooperation von Kapital und Arbeit? Ist einer der beiden Produktionsfaktoren Kapital oder Arbeit führend, so kann es scheinen, zu dieser seiner führenden Rolle gehöre wesentlich, daß er diese geordnete Kooperation herbeiführe, indem er dem anderen Teil das kooperierende Verhalten auferlegt, i h m die Kooperation sowie die A r t , wie er sie zu leisten hat, vorschreibt. Stehen dagegen beide gleichberechtigt nebeneinander, dann erkennt man auf den ersten Blick, daß diese Lösung zu billig ist. Das Zwei-Klassen-Schema erweist sich als unzulänglich, um die Gesellschaft adäquat zu erfassen; es bedarf der Überhöhung durch ein gemeinsames Drittes. Ganz ebenso reicht das zweipolige Modell Kapital und Arbeit nicht aus, u m das Unternehmen i n den Griff zu bekommen, dessen Schlüsselfigur nun einmal der Unternehmer ist, der i m zweipoligen Modell nicht unterkommt. Die Unterschätzung, wenn nicht gar das völlige Übersehen des Unternehmers und die daraus sich ergebende verzerrte Auffassung vom Unternehmen, die zweifellos auch Mitschuld trägt an der Wahl des unglücklichen, weil mißverständlichen Wortes „Mitbestimmung", hat den Einblick i n die wirklichen Sachprobleme geradezu versperrt. Da jedoch ein eigener Beitrag über Unternehmensverfassung für diese Festschrift vorgesehen ist, soll diesem Gedanken hier nicht weiter nachgegangen werden. Nur so viel sei klargestellt: die A n t w o r t auf die Frage „mitbestimmen m i t wem?" lautet nicht: „ m i t dem Unternehmer", sondern: „ m i t dem Kapital". Keiner der beiden Produktionsfaktoren, weder das Kapital noch die Arbeit, sollen i n die unternehmerischen Entscheidungen hineinreden; ihre „Teilhabe an den unternehmerischen Entscheidungen" besteht vielmehr darin, daß Kapital und Arbeit gemeinsam den Unternehmer bestellen und sich ihm für die Unternehmenszwecke zur Verfügung stellen, wogegen der Unter-

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nehmer ihnen beiden gemeinsam für seine unternehmerischen Entscheidungen verantwortlich ist. Während breite Vermögensstreuung die zwischen Besitz und Nichtbesitz bestehende Klassenscheidung abbaut, überwindet die wirtschaftliche Mitbestimmung die Alternative kapitalistischer oder laboristischer Gesellschaftsordnung und führt damit auf ihrem Wege aus der kapitalistischen Klassengesellschaft heraus oder besser über sie hinaus. Gerade hier zeigt sich, daß breite Vermögensstreuung und wirtschaftliche Mitbestimmung einander nicht widerstreiten, sondern einander i n glücklicher Weise ergänzen. Dabei greift die gesellschaftspolitische W i r kung der wirtschaftlichen Mitbestimmung tiefer als diejenige der breiteren Vermögensstreuung. K e r n des Mißbehagens über die heutige Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist doch, was man die „Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln" nennt. Das Mißliche an dieser Trennung und die Ursache der sog. „Selbstentfremdung" liegt gar nicht darin, daß die Produktionsmittel, an denen der Mann arbeitet, nicht sein Eigentum sind; der wirkliche Übelstand besteht vielmehr darin, daß der arbeitende Mensch den Eindruck hat, die von der Unternehmensleitung getroffenen Entscheidungen und die an ihn selbst ergehenden Weisungen seiner Vorgesetzten seien nicht so sehr an sachlichen Erfordernissen, denen sich unterzuordnen er ohne weiteres bereit ist, als vielmehr am einseitigen Interesse der Kapitaleigner ausgerichtet; so sieht er sich nicht bloß der aus sachlichen Gründen unvermeidlichen Fremdbestimmtheit unterworfen, i n die jeder vernünftige Mensch sich schickt, sondern einer sachlich unbegründeten Fremdherrschaft ausgeliefert, aus der er nicht ausbrechen kann, solange der andere Teil stärker ist als er. Franz Böhm erblickt i n der wirtschaftlichen Mitbestimmung ein Kondominium' über das Unternehmen, das sich unausbleiblich zur Alleinherrschaft des Faktors „Arbeit" weiterentwickeln werde. Das, was durch die wirtschaftliche Mitbestimmung erreicht werden soll, kann man i n der Tat als ein ,condominium , bezeichnen: die Arbeit soll nicht mehr der Alleinherrschaft des Kapitalinteresses, die als solche eine Fremdherrschaft über sie bedeutet, unterstehen, sondern dem ,condominium , der Interessen beider konstituierender Faktoren des Unternehmens, also von Kapital und Arbeit gemeinsam. Keiner der beiden konstituierenden Faktoren, weder das Kapital noch die Arbeit, soll der Alleinherrschaft der Interessen des anderen Teils und damit der Fremdherrschaft unterworfen sein, vielmehr sollen beide an der i n ihrer beider Namen und i n ihrer beider Interesse ausgeübten Herrschaft beteiligt sein. Die Apologeten des bestehenden Zustands werden einwenden, auch heute herrsche das Kapitalinter esse keineswegs allein i m Unternehmen;

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die Arbeitnehmerschaft sei keiner Willkürherrschaft ausgesetzt, auch ihr Interesse werde gewissenhaft gewahrt. I n gutgeleiteten Unternehmen t r i f f t das ohne Zweifel weitgehend zu; unter den Groß- und GrößtUnternehmen dürfte es nur wenige geben, bei denen es nicht zutrifft. Nichtsdestoweniger verhält es sich so, daß die herrschende „Philosophie des Unternehmens" die Interessen des Unternehmens kurzerhand mit denjenigen des Kapitals identifiziert; die Interessen der Arbeitnehmer werden berücksichtigt, soweit das Gesetz deren Verletzung verbietet oder die eigene Stärke der Arbeitnehmerschaft oder ihrer Gewerkschaften diese Interessen sichert; i n beiden Fällen sind es i m Grunde nicht die „Interessen", sondern die Ansprüche der Arbeitnehmer, die respektiert werden. Zweifellos gibt es Betriebs- und Unternehmensleiter, denen es darüber hinaus ehrlich um das Wohl und Wehe ihrer Arbeitnehmer zu t u n ist. Gerade solche Männer sind nicht selten entschiedene Gegner der wirtschaftlichen Mitbestimmung, i n der sie einen Angriff gegen sich, undankbare Verkennung ihrer wohlmeinenden Gesinnung zu erkennen glauben; i n Wirklichkeit sind nicht sie, sondern i m geraden Gegenteil die anderen, die nicht oder weniger wohlmeinenden, betroffen; diesen w i r d der institutionelle Zwang auferlegt, sich so zu verhalten, wie die ehrlich Wohlmeinenden es aus eigener innerer Haltung heraus ohnehin tun. Gesellschaftspolitisch gesehen ist dieser institutionelle Zwang, von der Arbeitnehmerseite her gesehen diese institutionelle Sicherung ihrer Interessen, das Entscheidende. Es kann wohlmeinende Diktatoren geben; ein absoluter Monarch kann ein wahrer „Landesvater" sein. Trotzdem wünschen w i r keine Diktatur, auch keine absolute Monarchie, sondern eine demokratische politische Ordnung, die unsere politischen Rechte und Freiheiten institutionell sichert. Schon die bloße Ungewißheit, ob der Diktator wohlmeinend sein oder der absolute Monarch sich als Landesvater bewähren würde, wäre Grund dafür; sie ist aber nicht der einzige, ja nicht einmal der letztlich ausschlaggebende Grund. Entscheidend ist vielmehr, daß die institutionalisierte demokratische Ordnung uns aus Objekten diktatorialen Wohlmeinens oder landesväterlicher Fürsorge zu Subjekten des politischen Lebens macht. U m genau das Entsprechende geht es bei der wirtschaftlichen Mitbestimmung. Nach der herkömmlichen Vorstellung, derzufolge das Unternehmen — mindestens das erwerbswirtschaftliche Unternehmen — seinem institutionellen Sinn nach den Eigentümer- oder Kapital-Interessen dient, sind die Arbeitnehmer i n jedem Fall Objekt der unternehmerischen Entscheidung und Maßnahmen, i m günstigen Fall überdies auch noch Objekt seiner wohlmeinenden Fürsorge. Aus dieser Objektrolle überführt die wirtschaftliche Mitbestimmung sie i n die Subjektstellung. Geschieht dies i n Einzelfällen — z. B. indem dieser oder jener einzelne Inhaber eines Unternehmens den darin beschäftigten

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Arbeitnehmern eine echte Partnerschaft einräumt —, so verdient das Anerkennung, hat aber gesellschaftspolitisch kein Gewicht. Anders, wenn allgemein oder doch i n allen Unternehmen, die auch ohnehin schon eines institutionalisierten Managements bedürfen, die wirtschaftliche Mitbestimmung eingeführt wird. Alsdann rückt die gesellschaftliche Großgruppe der Arbeitnehmerschaft i n eine ihr bisher verschlossene Position i n der Gesellschaft ein. Die „Vitalsituation" des einzelnen Arbeitnehmers w i r d davon so viel und so wenig berührt wie die Vitalsituation des einzelnen Staatsangehörigen durch Einführung der demokratischen politischen Ordnung, die ihn, der bis dahin „Untertan" des Herrschers war, zum freien „Staatsbürger" erhebt. Insofern besteht durchaus eine Analogie und läßt sich die Wortprägung rechtfertigen, die wirtschaftliche Mitbestimmung mache aus dem Wirtschaftsuntertan den Wirtschaftsbürger. Von da ist dann auch der Weg bis zur Redeweise von der Wirtschaftsdemokratie nicht mehr weit; auch sie kann durchaus richtig verstanden werden. Da jedoch die Gefahr besteht, daß sie — absichtlich oder unabsichtlich — mißverstanden wird, und da die Erfahrung lehrt, wie häufig dies vorkommt, ziehe ich für meinen Teil es vor, diese Redeweise zu vermeiden. Als wesentlichen Mangel unserer gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet man m i t Recht, daß die Großgruppe der Arbeitnehmerschaft immer noch nur beschränkt an der Subjektstellung i n dieser Gesellschaft Teil hat und gerade i n ihrer eigenen Funktion — als Produktionsfaktor „ A r b e i t " — sich darauf verwiesen sieht, die Objektrolle zu spielen. Dieser Mangel wächst sich zu u m so größerem Widersinn aus, je mehr unsere Gesellschaft sich zur Arbeitnehmergesellschaft entwickelt. Die wirtschaftliche Mitbestimmung hilft diesem Mangel ab. Darin liegt ihre gesellschaftspolitische Bedeutung. Vielleicht hieße es ihr zu viel zuschreiben, sie allein reiche aus, u m diesen Mangel restlos auszuräumen. Auch noch so breite Streuung der Vermögen ändert an der Entwicklung zur immer ausgesprocheneren Arbeitnehmergesellschaft nichts; wohl aber wäre sie als materielle Grundlage für die durch die w i r t schaftliche Mitbestimmung rechtlich gesicherte Subjektstellung der Arbeitnehmerschaft, obwohl nicht unbedingt erforderlich, so doch i n hohem Grade erwünscht. So bildet die breite Vermögensstreuung eine höchste willkommene Ergänzung; das Schwergewicht der ordnungspolitischen Entscheidung für eine Gesellschaft, i n der die Arbeitnehmerschaft sich uneingeschränkter Subjektstellung erfreut, liegt jedoch bei der wirtschaftlichen Mitbestimmung — selbstverständlich nicht auf der i n dieser Studie ausschließlich behandelten Unternehmensebene allein , sondern auf allen Ebenen, auf denen wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen sind, von denen Arbeitnehmer betroffen werden und an denen deswegen die Arbeitnehmer auch beteiligt sein sollten.

Die Verfassung großer Unternehmen als gesellschaftspolitisches Problem Von Otto Kunze I.

A u f der Tagung des Vereins für Socialpolitik i n Bad Kissingen 1960 hat Edgar Salin i n seinem einleitenden Referat über die „Soziologischen Aspekte der Konzentration" von dem unvermeidlichen und unerläßlichen Prozeß der Konzentration als der dem technischen Fortschritt entsprechenden Form 1 und von der „Verflüchtigung des Eigentums" 2 gesprochen. Darauf, was es mit der „Verflüchtigung des Eigentums" auf sich hat, w i r d noch einzugehen sein. Die These von der Unentrinnbarkeit des Prozesses der Konzentration ist schon deshalb schwer zu verifizieren, weil der Begriff der Konzentration äußerst umstritten ist. Für die Zwecke dieses Beitrages genügt aber die Feststellung, daß sich immer mehr große Unternehmen bilden und daß die großen Unternehmen immer größer werden 3 . Damit ist nichts über den Anteil der großen Unternehmen an der Zahl der Wertschöpfung aller Unternehmen und vor allem nichts darüber ausgesagt, ob eines Tages diese Entwicklung zum Stillstand kommen oder gar rückläufig sein wird. Sicher ist nur, daß sie auf absehbare Zeit i m Bereiche der Massenproduktion aus technischen Gründen, i m übrigen i m Zuge der Bildung des Gemeinsamen Marktes und aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt fortdauern wird; höchstwahrscheinlich w i r d sie sogar beschleunigt verlaufen. Die Haltung der Öffentlichkeit zu diesem Prozeß hat sich gewandelt. Er stieß i n seinen Anfängen — i n den fünfziger Jahren — auf K r i t i k , ja auf heftigen Widerstand, insbesondere auf Seiten der Gewerkschaften. Die K r i t i k verstärkte sich, als durch das Umwandlungsgesetz 4 eine 1 Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. Bd. 22, Verhandlungen über die Tagung i n Bad Kissingen 1960, Die Konzentration i n der Wirtschaft, B e r l i n 1961, S. 16 ff., insbes. S. 22, 38 u n d 41. 2 Daselbst, S. 24, unter Bezugnahme auf Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus — Sozialismus — Demokratie, B e r l i n 1950, S. 228 f. u n d 256 ff. 3 Siehe den vom Bundesamt f ü r gewerbliche Wirtschaft erstatteten „ B e richt über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration der W i r t schaft" v o m 29. 2. 1964 — Bundestagsdrucksache IV/2320. 4 Gesetz über die steuerlichen Erleichterungen bei der U m w a n d l u n g von Kapitalgesellschaften u n d bergrechtlichen Gewerkschaften v o m 11. 10. 1957 (BGBl. I S. 1713).

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regelrechte Konzentrationswelle ausgelöst wurde, die nicht nur zwingende technische und betriebswirtschaftliche, sondern häufig i n erster Linie steuerliche, gelegentlich auch außerökonomische Gründe hatte und ihren markantesten Niederschlag i n politischen und wissenschaftlichen Stellungnahmen 5 zu dem sog. Feldmühleurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. 8. 19626 fand. Seither ist diese kritische Einstellung einer ruhigeren Beurteilung gewichen. Daß die Bildung größerer Unternehmenseinheiten oft eine unausweichliche ökonomische Notwendigkeit ist, wenn die deutsche Industrie i m EWG-Raum und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben w i l l , w i r d ernstlich von keiner Seite mehr bestritten; ja, die ablehnende Haltung ist heute geradezu einem Wohlwollen gegenüber der Konzentration gewichen. Gleichwohl bleibt i n der Öffentlichkeit ein Unbehagen, das schwer bestimmbar, aber deutlich ist und auch von ruhigen Beurteilern i m Unternehmerlager nicht i n Abrede gestellt wird. Geht man diesem Gefühl nach, so stößt man auf eine merkwürdige Zwiespältigkeit. Nicht nur die i n den großen Unternehmen Beschäftigten, sondern auch viele andere Arbeitnehmer beurteilen die Tätigkeit i n solchen Unternehmen insgesamt positiv, jedenfalls günstiger als die Tätigkeit i n mittleren oder gar kleinen Unternehmen. Die größere Sicherheit des Arbeitsplatzes, soziale Vergünstigungen, insbesondere die Altersversorgung, sowie größerer Schutz durch Betriebsrat und Mitbestimmung spielen dabei eine wichtige Rolle. Ungeachtet dieser positiven Beurteilung vom Standpunkte des Arbeitsverhältnisses ist aber die Öffentlichkeit den großen Unternehmen keineswegs wohlgesonnen. Zumindest hat die deutsche Öffentlichkeit den großen Unternehmen gegenüber nicht die positive Einstellung, die deren Bedeutung für die Gesamtwirtschaft und Gesamtgesellschaft erwarten lassen müßte. Dieses Unbehagen hat nun gewiß weitgehend emotionale Gründe und w i r d einerseits aus der Angst der Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen vor der wirklichen oder vermeintlichen Bedrohung ihrer Existenz durch die großen Unternehmen, andererseits aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zu erklären sein. Dennoch ist es ein Indiz dafür, daß die großen Unternehmen i n die Gesamtgesellschaft nicht so integriert sind, wie es deren freiheitliche und demokratische Struktur nach dem Grundgesetz erfordert. U m schon hier einem Mißverständnis vorzubeugen, dem man i n der Diskussion um die w i r t 5 Siehe z. B. Erich Fechner, Das Umwandlungsgesetz u n d das Bundesverfassungsgericht, kritische Bemerkungen zum U r t e i l des BVerfG i m Feldmühleurteil, i n : Die Aktiengesellschaft 1962, S. 229; Fechner - Schneider, V e r fassungswidrigkeit u n d Rechtsmißbrauch i m Aktienrecht, Tübingen 1960; Fechner - Schneider, Verfassungswidrigkeit u n d Rechtsmißbrauch i m A k t i e n recht, Tübingen 1962. 6 BVerfGE Bd. 14 S. 263 ff.

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schaftliche Mitbestimmung häufig begegnet: es handelt sich nicht nur und nicht i n erster Linie um die Integrierung der Arbeitnehmer i n das Unternehmen, sondern vor allem um die Integrierung der großen Unternehmenseinheiten i n die Gesamtgesellschaft. Zur Lösung dieses Problems 7 , das auch schon seit vielen Jahren Gegenstand der Forschungen des Jubilars ist, sollen hier einige Gedanken beigesteuert werden.

n. Wenn als Anlaß des Unbehagens, das der Konzentrationsprozeß auslöst, die großen Unternehmen bezeichnet worden sind, so liegt es auf der Hand, daß der Grund des Unbehagens nicht die Unternehmen als solche sind. Es ist schon dargelegt worden, daß die großen Unternehmen als Arbeitgeber nicht nur nicht auf Ablehnung stoßen, sondern geradezu beliebt sind. Selbstverständlich lösen sie auch als die Darbieter von Gütern und Leistungen kein Unbehagen aus, wie das Beispiel der Kaufhäuser zeigt, i n dem der Staatsbürger unmittelbar als Konsument mit den großen Unternehmen i n Berührung kommt. Gegenstand des Unbehagens ist vielmehr die sich i n den großen Unternehmen verkörpernde Macht, die meist als an sich böse Macht i m Sinne von Burckhardt 8 , hier aber i m rein soziologischen, neutralen (wertfreien) Sinne Max Webers verstanden w i r d : „Macht bedeutet jede Chance innerhalb einer Sozialbeziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht 9 ." Obwohl diese Definition exakt und völlig unagressiv ist, stößt die Feststellung, daß Unternehmen Macht und große Unternehmen viel Macht haben, eigenartigerweise immer wieder auf Widerspruch der Unternehmerseite. Dieser Widerspruch ist unbegründet, wie noch zu zeigen sein wird. A n dieser Stelle soll nur vom Einflußbereich der großen Unternehmen gesprochen werden. Daß dieser Einflußbereich groß ist, kann nicht bestritten werden. I m ureigensten Operationsgebiet der Unternehmen — am Markt — spricht sogar das Kartellgesetz vom marktbeherrschenden, d. h. M a r k t macht besitzenden Unternehmen. Marktmacht bedeutet Einfluß auf die Preise von Gütern und Leistungen, bedeutet vor allem auch Einfluß auf den Arbeitsmarkt und damit auf den Beschäftigungsgrad und bedeutet — auf dem Wege über Preise und Löhne — schließlich auch Einfluß 7 Nur dieses Problem! Fragen der betrieblichen Ordnung, die von gleicher Wichtigkeit, aber ganz anderer A r t u n d — i m Gegensatz zur wirtschaftlichen Mitbestimmung i n den großen Unternehmen — von besonderer Bedeutung f ü r die kleinen u n d mittleren Unternehmen sind, werden hier — als Probleme der Betriebsverfassung — bewußt beiseite gelassen. 8 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Taschenbuchausgabe des Verlags Kiepenheuer & Witsch, K ö l n 1954, S. 75. 9 Wirtschaft u n d Gesellschaft, 4. Aufl., 1. Halbband 1956, S. 28 § 16.

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auf den Geldwert. Der Einfluß der großen Unternehmen reicht aber über den wirtschaftlichen Bereich weit hinaus. Sie setzen — nicht nur m i t den Gehältern ihrer Manager, sondern auch mit ihren sozialen Leistungen — einen sozialen Standard, wirken durch ihre sich aller modernen Massenkommunikationsmittel bedienenden Reklame und die A r t und Richtung ihrer Produktion auf den Geschmack und die Konsumwahl des Publikums und können mit den beträchtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Kunst und Wissenschaft fördern und dadurch das kulturelle Gesicht der Epoche prägen. Sie können schließlich über ihre Verbände und bei gehöriger eigener Größe auch unmittelbar über Öffentlichkeit, Regierung und Parlament auf die staatliche Politik und die Gesetzgebung Einfluß nehmen. Neben diesen Möglichkeiten, vom Unternehmen nach außen zu w i r ken, steht der Einfluß des Unternehmens „nach innen". Was unter diesem „inneren" Einflußbereich des Unternehmens zu verstehen ist, w i r d noch näher zu erörtern sein. Hier mag der Hinweis darauf genügen, daß nicht nur die i n die Tausende und Zehntausende gehenden Arbeitnehmer, sondern auch die Lieferanten, Abnehmer und Gläubiger und, wenn es sich um Aktiengesellschaften i m Streubesitz handelt, auch viele Tausende von Aktionären i m Einflußbereich des Unternehmens stehen. Auf die Arbeitnehmer erstreckt sich dieser Einfluß nicht nur i m Betriebe; hier unterliegen diese i m Produktionsprozeß sogar den Weisungen der Unternehmensleitung. Sondern der Einfluß großer Unternehmen erreicht die Arbeitnehmer auf vielen Wegen über Werksfürsorge, Werkssport, Werkswohnungen usw. auch i n ihrem privaten Leben. Daß der Einfluß der großen Unternehmen nach innen und außen weit reicht und beträchtlich ist, kann nach alledem nicht geleugnet werden. Ist das aber der Fall, dann haben große Unternehmen gesellschaftspolitische Relevanz; dann sind sie keine privaten Veranstaltungen mehr, sondern tragende Säulen der modernen Wirtschaft und — gesellschaftspolitisch, nicht i m Rechtssinne — öffentliche Institutionen.

III. Ehe aus dieser Erkenntnis Folgerungen gezogen werden, bedarf es jedoch einer näheren Bestimmung dessen, was i n diesem Zusammenhang unter einem Unternehmen verstanden wird. Es ist oben bereits angemerkt worden, daß hier nicht vom Betrieb die Rede sein soll. Jedes große Unternehmen hat mehrere Betriebe. Schon daraus folgt, daß der Betrieb nur ein Teil des Unternehmens und die — i n der Betriebswirtschaftslehre zum Teil anzutreffende — Gleichsetzung von Betrieb und Unternehmen falsch ist. Dem Juristen

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fällt die Unterscheidung leichter, weil ein besonderes Gesetz, das Betriebsverfassungsgesetz, i h m positivrechtliche Anhaltspunkte für die Abgrenzung gibt, wenn diese sich auch keineswegs immer mit der betriebswirtschaftlichen oder der soziologischen Abgrenzung zu decken braucht. Aber auch nach der Ausgrenzung des betrieblichen Bereiches bleibt der Begriff des Unternehmens umstritten, und zwar nicht nur der j u r i stische Unternehmensbegriff. Von Feinheiten und Einzelheiten abgesehen, hat dieser Streit seinen Grund darin, daß das jeweilige Erkenntnisziel nicht genügend scharf ins Auge gefaßt wird. Hier ist von einem Gebilde die Rede, i n dem Menschen zusammenwirken, also von einem Sozialgebilde. Unternehmen ist i n dieser Sicht infolgedessen nicht das Unternehmensvermögen, das sogenannte Kapital, auch nicht die sichtbare Produktionsapparatur und auch nicht der Träger oder Inhaber des Unternehmens Vermögens, der meistens und juristisch nicht immer zutreffend als Eigentümer bezeichnet wird. Wenn ein Unternehmen von einer juristischen Person betrieben wird, ist diese der Vermögensträger. Auch sie darf nicht m i t dem Unternehmen identifiziert werden. Unter einem Unternehmen w i r d schließlich hier auch nicht das sogenannte und i m einschlägigen Schrifttum viel erörterte „Unternehmen an sich" verstanden. Was damit gemeint ist, ist nicht leicht zu sagen. I n der Regel involviert der Terminus „Unternehmen an sich" ein Unwerturteil; und es hängt von der Zielrichtung dieses Unwerturteils ab, was „Unternehmen an sich" heißen soll. I m Sinne soziologischer Betrachtung kann darunter nur die sich mit dem Unternehmen identifizierende, um größtmögliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit bemühte Unternehmensleitung, insbesondere i m Aktienrecht die aus Vorstand und A u f sichtsrat bestehende sog. „Verwaltung", verstanden werden. Die Unternehmensleitung (Verwaltung) ist aber nur ein — wenn auch äußerst wichtiger — Teil des Unternehmens. Sieht man sich — nach diesen negativen Abgrenzungen — das Sozialgebilde Unternehmen etwas näher an, so zeigt sich, daß es eine i m Zusammenwirken von Menschen bestehende Produktionsveranstaltung ist. Bei dem üblichen und i n der heutigen Wirtschaftsordnung „normalen" Unternehmen w i r d nicht um der Produktion willen, sondern wegen des Gewinnes produziert. Es gibt aber auch — vor allem i m gemeinwirtschaftlichen Sektor — Unternehmen mit dem Auftrage, bestimmte Güter oder Leistungen selbst dann zu erbringen, wenn die Erlöse nicht die Kosten decken. I n allen Fällen soll wirtschaftlich produziert werden. I n der Regel soll aber — darüber hinaus — auch rentabel produziert werden. Bei dem (normalen) Erwerbsunternehmen ist also das Rentabilitätsstreben i m Sinne unserer Wirtschaftsordnung legitim. 13 Festgabe für Gert von Eynern

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Die Teilnehmer dieser an den genannten Zielen orientierten Veranstaltung bilden das Sozialgebilde „Unternehmen". U m den hier verwendeten Unternehmensbegriff deutlich von anderen Unternehmensbegriffen zu unterscheiden, ist es zweckmäßig, von dem „Unternehmensverband" zu sprechen. Gemeint ist damit nicht ein Verband von Unternehmen, sondern das Sozialgebilde, das aus den i m menschlichen Verband des Unternehmens kooperierenden Interessengruppen besteht: Unternehmen als Kooperationsverband von Menschengruppen verschiedener — nicht nur materieller — Interessen.

IV. Als die wesentlichen Gruppen (Mitglieder) dieses Verbandes sind zu nennen einerseits die Unternehmensleitung, andererseits, wie schon erwähnt, die Arbeitnehmer, die Eigentümer und die Geschäftspartner (Lieferanten, Abnehmer, Banken, sonstige Gläubiger), schließlich i m weiteren Sinne auch die Öffentlichkeit. M i t den Arbeitnehmern ist die Kooperation der Unternehmensleitung selbstverständlich am intensivsten. Z u den Unternehmens-insidern gehören ferner — naturgemäß — die Inhaber des Unternehmensvermögens, die (wirtschaftlichen) Eigentümer. Aber auch die Kooperation m i t Geschäftspartnern kann sich so verdichten, daß i h r Verhältnis zum Unternehmen beteiligungsähnlich wird, daß sie als dem Unternehmensverband zugehörig betrachtet werden müssen. I n einem ganz weiten Sinne gilt das heute bei den großen Unternehmen auch für die Allgemeinheit. Die großen Unternehmen sind i n vielfältiger Hinsicht Gegenstand des Interesses der Öffentlichkeit 1 0 . A u f dieses Interesse müssen die großen Unternehmen Rücksicht nehmen und nehmen sie auch Rücksicht, w e i l große Unternehmen heute nicht mehr unter gänzlicher Außerachtlassung des Gemeinwohls betrieben werden können. Das ist schon deshalb nicht möglich, w e i l die Unternehmen vielfältig auf Unterstützung und Hilfe durch die Allgemeinheit angewiesen sind. Den ganz großen Unternehmen, die, wenn sie notleidend werden, i m öffentlichen Interesse nicht der Marktgesetzlichkeit, also dem Konkurs, überlassen werden können, gewährt der Staat sogar finanzielle Hilfe. Dafür bietet die Wirtschaftsgeschichte dieses Jahrhunderts bis i n die allerneueste Zeit hinein Beispiele. Diese kurze Analyse bestätigt die Richtigkeit der oben getroffenen Feststellung, daß das Unternehmen nicht m i t den Eigentümern gleichgesetzt werden darf und daß es auch nicht eine Veranstaltung nur der 10 Über Öffentlichkeit und öffentliche Interessen siehe Otto Kunze, Die Publizität des Großunternehmens, i n : Normen der Gesellschaft, Festgabe für Oswald v. Nell-Breuning zu seinem 75. Geburtstag, 1965, S. 292 ff., insbesondere S. 302 ff.

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Eigentümer ist. Es ist also kein interessenmonistisches, sondern ein interessenpluralistisches Gebilde — eine Erkenntnis, die sich allerdings i m geltenden Unternehmensrecht nur i n wenigen, alsbald noch darzustellenden Bestimmungen wiederspiegelt. V. M i t der Charakterisierung des Unternehmensverbandes als interessenpluralistisch ist indessen noch nicht alles über seine Struktur ausgesagt. Unter den Gruppen, die i m Unternehmensverband kooperieren, hat nämlich die Unternehmensleitung eine von allen anderen verschiedene und besonders wichtige Stellung. Sie ist dadurch ausgezeichnet, daß sie die Produktionsveranstaltung leitet. Sie übt den Einfluß des Unternehmens „nach innen" aus, von dem oben die Rede war. Sie repräsentiert das Unternehmen und t r i t t i n dieser Eigenschaft allen übrigen Interessengruppen gegenüber. Selbstverständlich vertreten die Mitglieder der Unternehmensleitung auch eigene Interessen. Sie sind daran interessiert, ihre Funktion und damit i h r Einkommen und ihre soziale Stellung zu halten. Aber diese persönlichen Interessen decken sich nahezu ganz m i t dem Interesse des Unternehmens, weil das Schicksal der Unternehmensleitung engstens m i t dem des Unternehmens verbunden ist. Deshalb kann — unter Vernachlässigung dieser persönlichen Interessen der Unternehmensleiter — festgestellt werden, daß die Unternehmensleitung das Interesse des Unternehmens vertritt, während alle übrigen kooperierenden Gruppen i n erster Linie je ihre eigenen Interessen verfolgen. Das Interesse des Unternehmens ist nun aber kein von vornherein feststehendes, als solches bestimmbares Interesse. Es muß vielmehr bei jeder unternehmerischen Entscheidung immer wieder neu dadurch gefunden werden, daß die Unternehmensleitung die Interessen aller M i t glieder des Unternehmensverbandes berücksichtigt und gegeneinander abwägt und dabei — je nach der Sachlage und der zur Entscheidung anstehenden Frage — einmal dieses, einmal jenes Interesse stärker ins Gewicht fallen läßt. Diese Aufgabe, bei jeder Entscheidung prinzipiell alle Interessen zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen, kann die Unternehmensleitung nur erfüllen, wenn sie von den einzelnen Interessengruppen unabhängig und wenn sie stark genug ist, ihnen gegenüber immer das Interesse des Unternehmens durchzusetzen, m i t h i n zu verhindern, daß das Interesse des Unternehmens nicht einseitig von einer Interessengruppe oder einigen Interessengruppen bestimmt wird, also z. B. nicht überwiegend oder gar allein von den Eigentümern, aber auch nicht überwiegend oder gar nur von den Arbeitnehmern. Das gilt für 13*

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Unternehmen aller Rechtsformen. Erfordert aber die Stellung der Unternehmensleitung, daß sie i n der Lage ist, sich gegenüber den übrigen i m Unternehmen kooperierenden Gruppen m i t dem Interesse des Unternehmens durchzusetzen, dann muß sie auch die dazu erforderliche Macht haben. Ob die Unternehmensleitungen immer nach allen Seiten unabhängig sind, wie es dem vorstehend gezeichneten Idealbild entspricht, bedarf noch der Prüfung. Außer Zweifel steht aber, daß sich i n ihnen der Einfluß ihrer Unternehmen verkörpert, der oben skizziert worden ist; d. h. der sehr erhebliche Einfluß, den die großen Unternehmen nach außen und innen haben, ist ein Ausdruck der Macht der Unternehmensleitungen. Macht haben sie also insbesondere gegenüber allen übrigen M i t gliedern des Unternehmensverbandes. M i t Recht ist deshalb der Unternehmensverband als Herrschaftsverband bezeichnet worden 1 1 . Dabei ist unter Herrschaft nichts anderes als Macht i n dem oben angegebenen Max Weberschen Sinne, und zwar ein „Sonderfall der Macht" 1 2 , zu verstehen. Von Herrschaft w i r d i m allgemeinen i n Fällen institutionalisierter Macht gesprochen 13 . Von der Herrschaftsstruktur des Unternehmens zu sprechen, klingt vielleicht etwas hart und scheint der Wirklichkeit nicht ganz adäquat zu sein. Daß jede der i m Unternehmen kooperierenden Gruppen von der Unternehmensleitung abhängig werden kann und häufig abhängig ist, kann aber nicht zweifelhaft sein. Das gilt für Unternehmen aller Rechtsformen und i n allen Fällen für die Arbeitnehmer. Sie unterliegen dem Weisungsrecht der Unternehmensleitung schon kraft des Arbeitsvertra11

So schon Otto v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Erster Band, Leipzig 1895, S. 697/699/700; dort heißt es: „Sodann entspringen den geschäftlichen U n t e r nehmungen mannigfach gestaltete Herrschaftsverbände, bei denen der Geschäftsherr Träger einer Gemeinschaft ist, der auch die dem Geschäft eingeordneten Beamten, Gehülfen u n d Arbeiter angehören." S. 697 spricht er v o m „Gewalthaber u n d den Gewaltunterworfenen". Siehe ferner Herbert W. Köhler, ,„Betrieb 4 u n d »Unternehmen* i n wirtschaftsverfassungsrechtlicher Sicht", i n : Juristenzeitung 1953, S. 713 ff. (S. 715), u n d „Rechtsform u n d U n t e r nehmensverfassung", i n : Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft, 115. Bd., 1959, S. 716 ff. (S. 722); K o n r a d Littmann, „Uber einige Zwangsläufigkeiten der Vermögensverteilung i n der Marktwirtschaft", i n : Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft, 113. Bd., S. 205—222 (S. 219—221); Oswald von Nell-Breuning, „Eigentum u n d Verfügungsgewalt i n der modernen Gesellschaft", i n : 5. Europ. Gespr., S. 185 (S. 199) = Wirtschaft u n d Gesellschaft I I I , S. 261, „Das Managertum i n der heutigen Gesellschaft", i n : Bayer, Der Angestellte zwischen Arbeiterschaft u n d Management, B e r l i n 1961, S. 282, u n d „ W o r u m geht es bei der Mitbestimmung?", i n : Stimmen der Zeit, 1966, S. 266 ff. (241, 273); L u d w i g Preller, Sozialpolitik — Theoretische Ortung, Tübingen - Zürich 1962, S. 237 („Herrschaftsgebilde Betrieb"). Siehe auch M a x Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, 4. Aufl., 2. Halbband 1956, S. 542, der v o n „Herrschaftsstruktur" spricht. 12 M a x Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, w i e vor, S. 541 u n d 552, I 1. 13 M a x G. Lange, Politische Soziologie, 1961, S. 10—12.

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ges, sind aber darüber hinaus tatsächlich i n vielen Hinsichten von der Unternehmensleitung abhängig. Viel weniger einheitlich ist das Verhältnis der Unternehmensleitung zu den Eigentümern. M i t Ausnahme der Aktiengesellschaft ist die Unternehmensleitung nach dem Recht aller Rechtsformen an Weisungen der Eigentümer gebunden, soweit nicht anderes vereinbart wird. Immerhin können trotzdem aus tatsächlichen Gründen die Eigentümer i n die Abhängigkeit der Unternehmensleitung geraten, insbesondere bei großen Unternehmen, zu deren Leitung der Eigentümer selbst nicht bereit oder i n der Lage ist. Für die Aktiengesellschaft bestimmt das Gesetz, daß der Vorstand das Unternehmen unter eigener Verantwortung zu leiten hat. Dieser Rechtsposition entspricht die tatsächliche Stellung des Vorstandes nicht immer, jedenfalls aber u m so mehr, je größer die Zahl der Aktionäre ist. Deshalb ist unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte des Aktienrechts eine Geschichte des Kampfes um die Durchsetzung des Rechts der Kleinaktionäre gegenüber Vorstand und Großaktionären. Bei den großen Gesellschaften i m Streubesitz ist also die Abhängigkeit der Kleinaktionäre von der Unternehmensleitung recht beträchtlich. Der Grad der Abhängigkeit der Geschäftspartner von der Unternehmensleitung hängt ab von der Größe und Dauer des Engagements. Die Allgemeinheit kann „ i n Abhängigkeit" von den großen Unternehmen und damit ihres Managements geraten, wenn die Gesamtwirtschaft durch drohende Zusammenbrüche dieser Unternehmen gefährdet ist und sich deshalb der Staat zum Eingreifen genötigt sieht. VI. Trotz des geschilderten Einflusses, den die Leitungen großer Unternehmen nach außen und innen haben, ist aber selbstverständlich ihre Macht keineswegs unbegrenzt, und zwar aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen. I n tatsächlicher Hinsicht sorgt der Wettbewerb dafür, daß die Bäume nicht i n den Himmel wachsen, wenn auch große Unternehmen am M a r k t i n der Regel stärker sind als kleinere; bei diesen ist die Chance, eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen, viel geringer. Vor allem aber ist die Macht der Unternehmen rechtlich vielfältig gebunden. Sie unterliegen den zahlreichen Gesetzen über die öffentliche Bindung und den Vorschriften, die die innere Ordnung des Unternehmens betreffen. M i t dem Begriff der öffentlichen Bindung hat sich Gert von Eynern näher befaßt 14 . Es handelt sich dabei u m gesetzliche Maßnahmen, die i m öffentlichen Interesse die Handlungsfreiheit der Unternehmenslei14

Die öffentliche Bindung privater Unternehmen, i n : Die öffentliche W i r t schaft, Heft 3/57 S. 6 ff.

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tung beschränken, gegebenenfalls Aufsichts- und Eingriffsbefugnisse verleihen, aber immer nur zu Eingriffen i n die unternehmerische Entscheidungsfreiheit gewissermaßen von außen her führen, dagegen nicht i n die Willensbildung i m Unternehmen eingreifen und nicht die Struktur des Unternehmensverbandes beeinflussen. Zu denken ist hier i n erster Linie an das Kartellgesetz sowie die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des Montanunionvertrages und des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, sodann an alle Gesetze, die Fachaufsichten vorsehen, wie das Gesetz über das Kreditwesen, das Gesetz über die Errichtung eines Aufsichtsamtes für das Versicherungs- und Bausparwesen, das Güterfernverkehrsgesetz, das Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft und die Vorschriften über die staatliche Gewerbeaufsicht. Die unternehmerische Entscheidungsfreiheit w i r d aber auch durch zahlreiche andere Gesetze beschränkt, die keine öffentliche Bindung i m engeren Sinne bewirken, wie das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und vor allem die öffentlichen und privatrechtlichen Arbeitsschutzvorschriften, die i m Rahmen der Tarifautonomie, unter Umständen nach vorausgegangenem Arbeitskampf, abgeschlossenen Tarifverträge und die zwingenden Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechts. Zu den letzteren ist zu bemerken, daß sie Außenbindungen darstellen, obgleich sie die Beziehungen des Arbeitnehmers zum Unternehmen regeln; denn arbeitsvertragsrechtlich sind die Arbeitnehmer nach unserer Rechtsordnung gegenüber dem Unternehmen „Dritte". M i t der inneren Ordnung des Unternehmens hat somit das Arbeitsrecht nichts zu tun. Die geltenden rechtlichen Normen, die die innere Ordnung des Unternehmens regeln und die ich als Unternehmensrecht i m engeren Sinne bezeichnen möchte, binden die Unternehmensleitung — aus einer vorwiegend vermögensrechtlichen Sicht des Unternehmens und entsprechend der herrschenden Auffassung von der interessenmonistischen Struktur des Unternehmens — i n erster Linie i m Interesse der Eigentümer und der Gläubiger. Der Gläubigerschutz ist i n allen Rechtsformen hoch und verdienstvoll entwickelt. Die Rechtsstellung der Eigentümer ist unterschiedlich gut, i n den Aktiengesellschaften, soweit es die Kleinaktionäre anlangt, voll befriedigend erst durch das neue Aktiengesetz vom 6. 9. 1965 geregelt, das zugleich — wie schon das Aktiengesetz vom 30. 1. 1937 — den Vorstand frei von Weisungen durch Aufsichtsrat und Hauptversammlung stellt. Die Rechte, die die Arbeitnehmer als Mitglied des Unternehmensverbandes haben, sind i m Betriebsverfassungsgesetz, i m Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 und i m Mitbestimmungsergänzungsgesetz von 1956 geregelt. Die Arbeitnehmer, repräsentiert durch den Betriebsrat, haben i m betrieblichen Bereiche zahlreiche Mitbestimmungsrechte i n allen Unternehmen, die die vor-

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geschriebene Mindestgröße von 5 (nur Betriebsobmann) oder 20 A r beitnehmern erreichen. Wirtschaftliche Mitbestimmung i m Unternehmen, also Teilhabe an der wirtschaftlichen Planungs- und Entscheidungsgewalt, ist aber nur für die Kapitalgesellschaften vorgesehen. Was schließlich die Allgemeinheit anlangt, so war sie als ein zu berücksichtigendes Interesse i n § 70 Abs. 2 des Aktiengesetzes von 1937 erwähnt. Außerdem können die sog. weiteren Mitglieder i n den nach dem Montanmitbestimmungsgesetz gebildeten Aufsichtsräten — zumindest auch — als Vertreter der Allgemeinheit, als sog. „Vertreter des öffentlichen Interesses", angesehen werden. VII. Die Frage ist nun, ob die i n den beiden vorstehenden Abschnitten skizzierten Grenzen des Entscheidungsraumes der Unternehmensleitung eng genug sind, d. h. ob die i n diesen Schranken liegende Bindung der unternehmerischen Planungs- und Entscheidungsgewalt den Erfordernissen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung genügt. Die Frage wird, soweit es sich u m die vorerwähnte Außenbindung, insbesondere u m die öffentliche Bindung i m engeren Sinne, handelt, mit dem Vorbehalt der K r i t i k an Einzelheiten, prinzipiell zu bejahen sein, wenn nicht gar der deutsche Hang zu Reglementierung und der Wunderglaube an die Wirksamkeit gesetzgeberischer Maßnahmen manchmal schon des Guten zuviel getan hat. Von der inneren Ordnung der — hier allein zur Erörterung stehenden — großen Unternehmen kann das nicht gesagt werden, wenn natürlich auch hier sorgsam die Notwendigkeit rechtlicher Institutionalisierungen geprüft werden muß und die gesellschaftspolitische Effektivität gesetzlicher Regelungen nicht überschätzt werden darf. Nun verbietet allerdings der für diesen Beitrag zur Verfügung stehende beschränkte Raum, hier eine Gesamtvorstellung von der gesellschaftspolitisch gebotenen inneren Ordnung großer Unternehmen zu entwickeln und sie i n ihren Einzelheiten zu begründen. Das erscheint aber auch nicht notwendig. Wie die nähere Beschäftigung mit der Verfassung unserer großen Unternehmen ergibt und die Diskussion über die Mitbestimmung und Unternehmensverfassung immer wieder bestätigt, gipfelt die innere Ordnung der großen Unternehmen i n der Stellung der Unternehmensleitung. Die Unternehmensverfassung hat demgemäß, wie auch immer sie ausgestaltet ist, welche Organe auch immer sie vorsieht und wie auch immer diese Organe zusammengesetzt sind, i n erster Linie die Aufgabe, die Unternehmensleitung i n Verfassung zu bringen. Das w i r d i n der Tagesdiskussion meist übersehen. Sie versteht unter (wirtschaftlicher) Mitbestimmung i n der Regel nur die Teilhabe der Arbeitnehmer an der wirtschaftlichen Planungs- und Ent-

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scheidungsgewalt i m Unternehmen 15 . Das verführt zu der Annahme, die Mitbestimmungsforderung sei eine Interessentenforderung, und rechtspolitisch handele es sich nur darum, den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften das Recht zu verschaffen, „mitzubestimmen". U m die vielen Mißverständnisse zu vermeiden, die sich aus dieser Annahme ergeben, w i r d hier bewußt von der „inneren Ordnung des Unternehmens" und von der „Unternehmensverfassung" gesprochen. Beide Bezeichnungen werden insofern rein formal verstanden, als sie Unternehmensordnungen und -Verfassungen jeden Inhalts decken. Sie sagen also über den Inhalt der Ordnung oder der Verfassung nichts aus. Sie haben aber den großen Vorzug, schon terminologisch nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß es sich nicht u m das Anliegen einer der i m Unternehmen kooperierenden Interessengruppen, sondern um ein gesellschaftspolitisches Problem handelt. Erst wenn auf diese Weise bewußt wird, daß es die Aufgabe einer Unternehmensordnung, die m i t den Grundnormen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung i n Einklang steht, ist, alle beteiligten Interesse angemessen zu berücksichtigen, werden die zentrale Stellung und die Wichtigkeit der Funktion der Unternehmensleitung deutlich. Deshalb ist es nicht nur systematisch richtig, bei dem Nachweis der Notwendigkeit der rechtlichen Regelung der inneren Ordnung der großen Unternehmen durch eine Unternehmensverfassung von der Unternehmensleitung auszugehen, sondern genügt es auch, die folgenden Ausführungen auf diesen Problemkreis zu beschränken. U m einem Einwand entgegenzutreten, der i n der Diskussion häufig erhoben wird, w i r d nochmals darauf hingewiesen, daß hier nur die innere Ordnung der großen Unternehmen zur Erörterung steht. I n den mittleren und kleinen Unternehmen verbietet sich eine rechtliche Institutionalisierung ihrer inneren Ordnung, w e i l es dort gesellschaftspolitisch unbedenklich und der Struktur des Unternehmens angemessen ist, die Ausgestaltung der Unternehmensordnung, soweit es die beiden konstituierenden Faktoren Kapital und Arbeit angeht, dem Eigentümer zu überlassen. Die Ordnung der sozialen Verhältnisse, die häufig gerade i n den kleinen viel problematischer als i n den großen Unternehmen ist, ist Sache der Betriebsverfassung, die, wie oben gesagt, hier ausgeklammert wird.

vra. Werner Flume hat i n einem Anfang dieses Jahres erschienenen A u f satz 16 , i n dem er sich m i t der Forderung der Gewerkschaften, die quali15

Siehe Kunze, in: Kunze - Christmann, Wirtschaftliche Mitbestimmung im

Meinungsstreit, Bd. I , 1964, S. 25/26. 16 Die Forderung der Gewerkschaften auf Erweiterung der qualifizierten Mitbestimmung, i n : Der Betrieb 1967 S. 294 ff.

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fizierte Mitbestimmung auf die großen Kapitalgesellschaften aller W i r t schaftszweige zu erstrecken, auseinandersetzt und i n dem er diese Forderung ablehnt 1 7 , ausgeführt 18 , i n der Mitbestimmungliteratur sei i m allgemeinen nicht von der unternehmerischen Leistung die Rede, welche von den Führungskräften i n den großen Unternehmen erwartet werde. Diese Führungskräfte würden unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit zu unternehmerischen Leistungen kooptiert, unter dem sich die Kooptierenden selbst hätten bewähren müssen. Die unternehmerische Fähigkeit müsse sich gerade auch hinsichtlich der Ergänzung der Führung durch Kooptation erweisen. Auch diese Ergänzung sei eine nicht von jedermann zu erbringende Leistung, die auf unternehmerischem Können und unternehmerischer Erfahrung beruhendes Urteilsvermögen voraussetze. Die Führungsschicht müsse sogar die für ihre Ergänzung i n Frage kommenden Personen selbst heranbilden. Diese Ausführungen können nur dahin verstanden werden, daß tatsächlich m i t dem Management unserer großen Unternehmen alles i n Ordnung und eine weitergehende Berücksichtigung der interessenpluralistischen Struktur des Unternehmens durch die Rechtsordnung überflüssig, wenn nicht gar schädlich sei. Diese Auffassung Flumes dürfte von der ganz überwiegenden Mehrzahl der Unternehmer geteilt werden. Seine Darlegungen überzeugen aber nicht, weder hinsichtlich der großen Aktiengesellschaften und der übrigen Kapitalgesellschaften, insbesondere der großen personenbezogenen Gesellschaften m i t beschränkter Haftung, noch für den Bereich der großen einzelkaufmännischen Unternehmen und der großen Personalgesellschaften. Daß i n dem letztgenannten Bereich m i t den Unternehmensleitungen nicht alles so „ i n Ordnung" ist, wie es nach den Ausführungen Flumes scheinen könnte, lehren die Fälle Borgward, Schlieker und Krupp. Sie sprechen eine beredte Sprache, ganz besonders auch davon, wie sehr die Interessen der Allgemeinheit vom Schicksal solcher Unternehmen berührt werden. Flumes Aussagen gelten allerdings i m wesentlichen nur für die großen A k tiengesellschaften i m Streubesitz. Daß Flume die Betrachtung auf diese Unternehmen beschränkt, erleichtert seine Beweisführung. Unternehmen anderer Rechtsform als der der Aktiengesellschaft weisen soziologisch und rechtlich Besonderheiten auf, die bei der gesellschaftspolitischen Würdigung und rechtlichen Gestaltung ihrer inneren Ordnung erheblich ins Gewicht fallen und zu abweichenden Ergebnissen führen. Aber i m Prinzip gilt für die Unternehmen anderer Rechtsform 17

Soweit nicht die Anregung am Schluß des Buches (S. 301) hinter diese Ablehnung doch ein Fragezeichen setzt, nämlich die Erwägung, ob nicht der Versuch gewagt werden sollte, „auch ohne Mitbestimmungsgesetze Angehörige der Führungsschicht der Gewerkschaften i n die Aufsichtsräte der großen Kapitalgesellschaften zu berufen". 18 a.a.O., S. 299.

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nichts anderes als für die Aktiengesellschaften i m Streubesitz. Daher soll hier fortan nur noch von der Aktiengesellschaft die Rede sein. Gegen Flumes Auffassung sprechen nun drei Argumente: die durch zu starkes Elitedenken beeinflußte Zusammensetzung der Leitungen der großen Unternehmen, die Gefahr einer gesellschaftspolitisch isolierten Technokratie i n den Unternehmensleitungen und ihre unzureichende Legitimation. M i t der Zusammensetzung der Unternehmensleitungen hat sichFlume ausführlich befaßt 19 . Er sieht i n meiner Forderung, daß sich die Mitglieder der Unternehmensleitung aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutieren 2 0 , die Antithese „Arbeiter—Bürger" i n der Form, „daß alle Nichtarbeiter als Bürger sich nur m i t dem Kapital identifizieren und der Klasse der Arbeiter die Klasse der Bürger gegenübersteht". Diese A n t i these hält er für überholt; von einer Identifizierung der Führungsschicht unserer großen Unternehmen m i t dem Kapital könne, „was die Herkunft der Führungskräfte, was die Intention ihrer Tätigkeit anbetrifft, schlechthin keine Rede sein"; i m übrigen sei das Petitum, daß sich die Mitglieder der Unternehmensleitung aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutierten, nur dadurch zu verwirklichen, daß allen Bevölkerungsschichten i n gleicher Weise der Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten offenstehe. Dazu ist folgendes zu sagen. Flume folgert, qualifizierte Mitbestimmung sei paritätische Mitbestimmung; „die Sachlogik der Parität" heiße, „daß jede Hälfte als Gruppe verstanden" werde und sei „ i m Grunde . . . nichts anderes . . . als die alte Antithese von Kapital und Arbeit, die man hier hinsichtlich des Managements wieder neu zu begründen" versuche. Das ist aber gerade nicht die Sachlogik einer m i t den Grundsätzen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung i m Einklang stehenden Unternehmensordnung, wie noch näher dargelegt werden wird. Eine richtige Unternehmensordnung muß vielmehr möglichste Homogenität der Unternehmensleitung anstreben und erhöhte Gewähr dafür bieten, daß die Einheit der unternehmerischen Entscheidungsgewalt i m Interesse einer sachgemäßen und sachgerechten Erfüllung der Produktionsaufgabe des Unternehmens nicht beeinträchtigt w i r d 2 1 . I m übrigen ist es zwar richtig, daß schon immer Kinder von Arbeitern und einfachen Angestellten und sogar Personen ohne gehobene Vorbildung i n die Führungsschicht der großen Unternehmen gelangt sind. Das waren aber nur Ausnahmefälle, die eine außergewöhnliche Begabung voraussetzten. Die Situation mag sich nach dem 1. Weltkriege etwas und 19

a.a.O., S. 299. Gewerkschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Festgabe f ü r L u d w i g Rosenberg, 1965, S. 144. 21 Siehe Otto Kunze, Festgabe für L u d w i g Rosenberg, S. 138. 20

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nach dem 2. Weltkriege noch weiter aufgelockert haben. Aber auch heute noch läßt die soziale Durchlässigkeit zu Positionen i n den Leitungen der großen Unternehmen zu wünschen übrig. Eine wissenschaftliche Erhärtung dieser These wäre allerdings nur durch schwierige und i n t r i kate soziologische Untersuchungen möglich. Immerhin dürfte zumindest feststehen, daß eine Unternehmensleitung um so einseitiger zusammengesetzt, die soziale Durchlässigkeit also u m so geringer ist, je einseitiger das Bestellungsorgan zusammengesetzt ist. Deshalb galt es auch als eine Sensation, als vor einiger Zeit die Leitung eines großen Unternehmens einen Gewerkschaftssekretär i n ihren Stab berief, obwohl es sich u m eine anerkanntermaßen sehr qualifizierte K r a f t handelte. Selbst wenn die Unternehmensleitung nicht von einem nur von der Eigentümerseite abhängigen Organ bestellt wird, birgt aber das von Flume empfohlene Verfahren, daß die Mitglieder der Unternehmensleitung mehr oder minder allein von dieser bestimmt werden, die Gefahr i n sich, daß sich i n dieser ein exklusives Elitebewußtsein entwickelt. Ein solches Elitebewußtsein des Spitzenmanagements ist angesichts seiner Qualifikation verständlich. Es engt jedoch die Offenheit gegen Kandidaten aus Gesellschaftsschichten, die der Unternehmensleitung ferner stehen, ein. Dieser Sachverhalt läßt sich soziologisch noch schwerer beweisen. Für ihn sprechen aber viele Einzelbeobachtungen. Zuzugeben ist, daß die Rekrutierung der Mitglieder der Unternehmensleitungen aus allen Schichten der Bevölkerung durch eine geeignete Bildungspolitik gefördert wird. Ob und wann dieses Ziel i n Deutschland, i n dem Rang, Stand und Herkommen immer noch eine wesentlich größere Rolle als i n älteren Demokratien spielen, nur mit Bildungspolitik erreicht wird, ist aber ganz ungewiß. Bis es erreicht wird, werden jedenfalls die Unternehmensleitungen unter der derzeitigen interessenmonistisch auf das Eigentum ausgerichteten Unternehmensverfassung immer wieder dazu neigen, sich mit dem Kapital zu identifizieren. Das zweite Argument geht dahin, daß das von Flume gepriesene Verfahren der Ergänzung der Unternehmensleitung die wirtschaftliche Führungsschicht i n die Gefahr bringt, sich gesellschaftspolitisch zu isolieren. Gegen eine M i t w i r k u n g des Vorstandes bei der Bestellung neuer Vorstandsmitglieder ist nichts einzuwenden — i m Gegenteil: es ist durchaus sachgemäß, daß der Vorstand dem Auf sichtsrat geeignete Vorschläge für neue Bestellungen unterbreitet, auch wenn damit die vom Gesetz vorgeschriebene Bestellung der Vorstandsmitglieder durch den Aufsichtsrat praktisch einer Kooptierung durch den Vorstand sehr ähnlich wird. Es liegt jedoch nahe, daß sich der Vorstand dabei ganz auf die technisch-ökonomischen Aufgaben konzentriert und die Mitglieder der Unternehmensleitung dadurch zu Technokraten werden. Unternehmensleitungen werden sich von Politikern immer durch eine mehr oder min-

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der technokratische Haltung unterscheiden und unterscheiden müssen. Aber je größer das Unternehmen, u m so mehr muß der Blick des Managements über das Unternehmen hinausreichen und die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Rückwirkungen seiner Entscheidungen berücksichtigen. Dem deutschen Management fehlt keineswegs völlig der Sinn für diese Notwendigkeit. Viele Unternehmensleiter sehen aber ihr Unternehmen noch allzu sehr als rein wirtschaftliches Phänomen und orientieren sich immer noch allzu sehr ausschließlich an vordergründigen Rentabilitätserwägungen. Dieser Gefahr kann nur durch eine die pluralistische Struktur des Unternehmens wiederspiegelnde Zusammensetzung des Bestellungsorganes wirksam begegnet werden.

IX. Damit kommen w i r zum dritten Argument: der fehlenden Legitimation der Unternehmensleitungen. Es ist rein gesellschaftspolitischer Natur und daher gegenüber einer rein wirtschaftlichen Betrachtung schwer verständlich zu machen. Es kann m i t der Behauptung, daß sich das i n den Aktiengesellschaften geübte Verfahren der Vorstandsergänzung „bewährt" habe, nicht ausgeräumt werden, weil es hier gerade u m den gesellschaftspolitischen Standpunkt geht, von dem aus die „Bewährung" beurteilt wird. Wenn, wie dargelegt, die Leitung eines Unternehmens Herrschaft über die Mitglieder des Unternehmensverbandes ist, wenn zugegeben wird, daß jede Herrschaft, die Aussicht auf Stabilität haben soll, legitimiert werden muß, dann ist zu fragen, ob die Leitungen der großen Unternehmen ausreichend legitimiert sind. Max Weber 2 2 unterscheidet drei „Legitimitätsgründe": Charisma, Tradition und Legalität. N u r die letztere kommt hier i n Frage. Der Terminus „Legalität" könnte allerdings zu der Annahme verführen, jede Herrschaft, die rechtmäßig ist, sei legitim, und unsere Überlegungen allzu sehr i n die Nähe des Streites um den Rechtsbegriff bringen. So aber kann heute, insbesondere seit Kelsen 23 , „Legalität" nicht mehr verstanden werden. Das w i r d ganz augenfällig, wenn positives Recht reformbedürftig ist. Das ist der Fall, wenn Zweifel an seiner Legitimität auftauchen. Das positive Recht muß dann i m Sinne dessen reformiert werden, was nunmehr legitim erscheint. Daß auch Max Weber nicht die formale positivrechtliche Legalität gemeint hat, läßt sich daraus folgern, daß er an anderer Stelle 2 4 von „rationaler" Herrschaft spricht. Soziologisch 22

a.a.O., 2. Halbband, S. 551 ff. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. A u f l . 1960, insbes. S. 31 ff. u n d 60 bis 71. 24 a.a.O., 1. Halbband, S. 124 bis 126, u n d 2. Halbband, S. 549. 23

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kann daher „Legalität" nichts anderes als Übereinstimmung m i t den Grundnormen der geltenden Gesellschaftsordnung bedeuten, m i t denen i m allgemeinen das positive Recht übereinstimmen wird, jedoch gerade i n der Reformsituation nicht übereinstimmt. Ein anerkanntes Prinzip der freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist es nun aber, daß gesellschaftspolitisch relevante Macht nur legitim ist, wenn sie i n einer die Freiheitlichkeit der Gesellschaft gewährleistenden Weise gebunden ist. I n diesem Sinne bedarf jede gesellschaftspolitisch relevante Macht der Legitimation. Nach welchen Grundsätzen diese Bindung vorzunehmen ist, lehrt ein Blick auf den Staat und auf den w i r t schaftlichen Bereich. Bei allen sonstigen wesentlichen Unterschieden stimmen die Verfassung eines demokratischen Staates und die Verfassung der Aktiengesellschaft darin überein, daß die Träger der Macht (die „Herrscher") unmittelbar oder mittelbar von den Machtbetroffenen (den „Beherrschten") bestellt, und zwar auf Zeit bestellt, kontrolliert und gegebenenfalls abberufen werden. Demgemäß muß jedes Sozialgebilde, dessen „Herrscher" gesellschaftspolitisch relevante „Macht" hat, Organe für die Bestellung, die Abberufung und die Kontrolle des Herrschers haben, und zwar Organe, i n denen alle Machtbetroffenen ihrer Bedeutung für das Gebilde entsprechend zum Zuge kommen. Die Aktiengesellschaft verfügt über solche Organe. Die Berufung und etwa notwendig werdende Abberufung des Vorstandes obliegt dem Aufsichtsrat. Kontrolliert w i r d der Vorstand ebenfalls — i n erster Linie — vom Aufsichtsrat und i n gewissem Sinne von der Hauptversammlung, dann aber auch von der Öffentlichkeit aufgrund der i m Gesetz eingehend geregelten Publizität. A u f die Publizität, die für die Kontrolle der Unternehmensleitung eine nicht zu überschätzende Bedeutung hat, soll hier nicht näher eingegangen werden 2 5 . Die formale Organisation der Aktiengesellschaft entspricht also der Grundnorm der Legitimation gesellschaftspolitisch relevanter Macht i n einer freiheitlichen Gesellschaft. Selbst die Verfassung der Aktiengesellschaft — von der Verfassung von Unternehmen anderer Rechtsformen ganz zu schweigen — leidet aber an dem Mangel, daß i n den Bestellungs- und Kontrollorganen die „Eigentümer" (Aktionäre) noch eindeutig das Übergewicht haben, weil gerade die grundlegenden Entscheidungen von der Hauptversammlung — einem reinen Eigentümerorgan — getroffen werden. Das gilt sogar für die qualifiziert mitbestimmten Montangesellschaften. I n den einfach (nach dem Betriebsverfassungsgesetz) mitbestimmten Gesellschaften fehlen außerdem i m Aufsichtsrat unabhängige Repräsentanten der Allgemeinheit (Vertreter des öffentlichen Interesses), etwa wie die „weiteren Mitglieder" nach dem Montanmitbestim25 Siehe den bereits (Fußnote 10) erwähnten Beitrag zur Festgabe f ü r von Nell-Breuning.

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mungsgesetz; und die Arbeitnehmer stellen nur ein Drittel der Mitglieder, womit die Parität von Arbeit und Kapital (derjenigen, die die A r beit einbringen, und derjenigen, die das Kapital zur Verfügung stellen) i m Sinne der Unentbehrlichkeit beider für die Produktion nicht gewahrt ist. Daraus folgt, daß das von Flume gutgeheißene Verfahren der Ergänzung der Unternehmensleitung durch Kooptierung zwar nicht wegen der Kooptierung, wohl aber deshalb zu beanstanden ist, weil die Struktur der heutigen Bestellungs- und Kontrollorgane 2 6 entweder überhaupt interessenmonistisch ist oder doch die Pluralität der beteiligten Interessengruppen nur unzulänglich berücksichtigt. Diese Abweichung des geltenden Hechts der Aktiengesellschaft (und erst recht des Rechts aller anderen Rechtsformen) von der gesellschaftspolitischen Grundnorm der Legitimation besteht i n der Übermacht des Faktors „Eigentum" i m geltenden Unternehmensrecht und beruht auf der Überzeugung, daß das Eigentum die Kraft habe, die Unternehmensleitung ausreichend zu legitimieren. Diese Überzeugung ist der eigentliche Grund des Widerstandes weiter Kreise, nicht nur der Unternehmer, gegen die Einführung einer modernen Unternehmensverfassung. Sie ist indessen, wie auch Flume — allerdings nur für die großen Publikumsgesellschaften — zugibt, eine bare Ideologie. Weil sie jedoch tief i n der Meinung der Öffentlichkeit verwurzelt ist, bereitet es große psychologische Schwierigkeiten, sie zu widerlegen. Falsch ist sie allerdings nicht deshalb, weil sich, wie Salin gemeint hat, das Eigentum immer mehr verflüchtige. Das t r i f f t nicht zu und ist nicht einmal erwünscht. Festzustellen ist vielmehr, daß sich die Struktur und die Verteilung des Eigentums ändert. Das mindert aber i n keiner Weise die Bedeutung des Eigentums oder — genauer — der Rolle der Eigentümer i m Unternehmen. Falsch ist die These von der allein legitimierenden Kraft des Eigentums, weil — unter Mißbrauch des Eigentumsbegriffes — dem Eigent u m prägende K r a f t i n einer Ordnung zugeschrieben wird, die nicht seine Ordnung ist. Die Regeln des Eigentums gelten nur i n der Eigentums« oder — allgemein — der Vermögensordnung. Wer sein Vermögen unternehmerisch nutzen w i l l und zu diesem Zweck m i t anderen kooperiert, unterstellt es der ganz anderen Grundsätzen folgenden Unternehmensordnung. Diese ist die höhere Ordnung 2 7 und beschränkt die legitimierende K r a f t des Eigentums auf die Legitimation der Rechte der Eigentümer i n der Unternehmensordnung 28 . 26

Nicht des Managements selbst! „ . . . denn die Ordnung der Dinge muß der Ordnung der Personen dienstbar gemacht werden, u n d nicht umgekehrt" (Pastoralkonstitution — Die Kirche i n der Welt von heute — v o m 7. 12. 1965, von den deutschen Bischöfen approbierte Übersetzung, T r i e r 1967, T e i l I Kap. I I Ziff. 26 Abs. 3, S. 25). 28 Siehe Otto Kunze, Die F u n k t i o n des Eigentums i m modernen Gesell27

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X. Es ist leicht zu erkennen, daß zwischen den drei Argumenten, die der Auffassung Flumes entgegengehalten worden sind — gesellschaftspolitisch unbefriedigende Zusammensetzung der Unternehmensleitung, Technokratiegefahr und mangelnde Legitimation der Unternehmensleitungen — eine innere Beziehung besteht, daß die beiden ersten auf das dritte Argument hinführen und daß der Mangel ausreichender gesellschaftspolitischer Legitimation der wichtigste, weil ein grundsätzlicher Einwand ist. Die Grundsätzlichkeit besteht i n seiner Normativität. Wegen seiner Normativität kann dieses Argument nur erschüttert werden, wenn die gesellschaftspolitische Grundnorm, auf die es sich stützt, als falsch erwiesen wird. Wenn es richtig ist, daß die Freiheitlichkeit einer Gesellschaft nur durch ausreichende Bindung gesellschaftspolitisch relevanter Macht gewährleistet werden kann und wenn das Wesen einer demokratischen Herrschaftsordnung darin besteht, daß die Herrscher ihre Macht von den Beherrschten ableiten, dann ist nicht zu sehen, wie die hier entwickelte Grundnorm unter Demokraten auf ernstlichen W i derspruch stoßen könnte. Immerhin sollen zum Schluß noch drei Gründe angeführt werden, die die überragende gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Grundnorm unterstreichen und zeigen, daß um der Beachtung dieser Grundnorm w i l l e n ökonomische und organisatorische Zweckmäßigkeitserwägungen zurücktreten müssen, selbst wenn sie an sich richtig sind. Der erste und wichtigste dieser drei Gründe ist die Notwendigkeit, auch dann, wenn keinerlei akuter Anlaß besteht, Vorsorge gegen Machtmißbrauch zu treffen. Diese Notwendigkeit der Sicherung rechtsstaatlicher Grundwerte durch institutionelle Ordnungen hat Herbert W. Köhler wie folgt begründet 2 9 : „Es ist hier ganz allgemein das Verhältnis zwischen der Sicherung rechtsstaatlicher Grundwerte durch institutionelle Ordnungen und ihre Verwirklichung durch die Tugend der Mächtigen angesprochen. Ohne diese Tugend und ohne diese weise Selbstbeschränkung der Mächtigen ist i n der Tat keine menschliche Ordnung ertragbar. Selbst institutionell unzulängliche, ja verwerfliche staatliche oder gesellschaftilche Ordnungssysteme können durch die Tugend der Mächtigen den i n solchen Ordnungen lebenden Menschen erträglich erscheinen, ihnen vielleicht sogar vorübergehend einen rechtsstaatsähnlichen Freiheitsraum verschaffen. Jedoch: so wenig die Tugend der Mächschaf tsrecht. Gestaltungsformen u n d Probleme, i n : Marburger Gespräch über Eigentum — Gesellschaftsrecht — Mitbestimmung, herausgegeben v o n der Rechts- u n d Staatswissenschaftlichen Fakultät der Philipps-Universität M a r burg, 1967, S. 77 ff. 29 Rechtsform u n d Unternehmensverfassung, i n : Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft, 115. Band, S. 716 ff. (736).

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tigen fehlen darf, so wenig darf sich der Verfassungsrechtler auf sie allein verlassen oder sich m i t ihrem Vorhandensein schon zufrieden geben. Ohne eine institutionelle Ordnung nämlich, die die Mächtigen zur Tugendhaftigkeit, d. h. zum rechtlichen und rechtmäßigen, zum weisen Gebrauch der Macht anhält bzw. ihre Untugend bezwingt, wäre jede gesellschaftliche Ordnung auf die Dauer zum Scheitern verurteilt, weil die unkontrollierte persönliche Macht, auf welche Legitimität immer sie sich auch berufen mag, i n unserer säkularisierten Welt die Weisen und Tugendhaften an den Schlüsselpunkten der Macht immer seltener werden läßt." Dem ist nichts hinzuzufügen. Der zweite Gesichtspunkt ist der der Mitverantwortung der Mitglieder des Unternehmensverbandes, vor allem der Eigentümer und der Arbeitnehmer. Die Mitverantwortung der Eigentümer, insbesondere der Aktionäre der großen Aktiengesellschaften i m Streubesitz, war nie streitig — i m Gegenteil: für die Aktienrechtsreform, die zu dem neuen Aktiengesetz von 1965 geführt hat, war der Gedanke der „Aktiendemokratie" = der Demokratie der Aktionäre einer der wichtigsten Gesichtspunkte. Ganz anders steht es mit der Mitverantwortung der Arbeitnehmer i n der Unternehmensebene. Von Arbeitgeberseite w i r d immer wieder auf Meinungsbefragungen hingewiesen, die ergeben hätten, daß die Arbeitnehmer i n ihrer Mehrheit über die wirtschaftliche Mitbestimmung nicht oder mangelhaft unterrichtet und an ihr nicht sonderlich interessiert seien. Frühere wissenschaftliche Untersuchungen, auch von Gewerkschaftsseite, haben kein wesentlich anderes Ergebnis gehabt. Es kann hier schon deshalb darauf verzichtet werden, auf Einzelheiten einzugehen, weil die Ergebnisse solcher Meinungsbefragungen ganz entscheidend von den Fragestellungen und von der A r t der Befragung abhängen. Wie aber auch immer die Ergebnisse solcher Befragungen zu würdigen sind: von vornherein müßte klar sein, daß immer nur eine Minderheit am Schicksal des Ganzen interessiert und dementsprechend unterrichtet ist und daß von der Gelegenheit, Mitverantwortung zu übernehmen, immer nur eine Minderheit Gebrauch macht. Das haben die erwähnten Meinungsbefragungen bestätigt: i n negativer, aber auch sehr nachdrücklich i n der positiven Beziehung, daß die aktive Minderheit bereit ist, Mitverantwortung zu übernehmen und sie auch tatsächlich übernimmt. A u f diese Minderheit aber kommt es i n der Demokratie, i n der freiheitlichen Gesellschaft überhaupt, und dort wieder i n allen Sozialgebilden an. Die Freiheit kann nur erhalten werden, wenn sich Menschen finden, die sich für die Freiheit verantwortlich fühlen und für sie einsetzen. Ausschlaggebend ist nicht, daß alle oder die Staatsbürger i n ihrer Mehrheit Verantwortung übernehmen, sondern daß allen hierzu Gelegenheit gegeben ist. Auch i m Staate fehlen vielen die elementarsten Kentnisse der Institutionen und Personen, ohne daß das ein Grund

Verfassung großer Unternehmen als gesellschaftspolitisches Problem

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wäre, sie von der Teilnahme an den Wahlen auszuschließen oder gar ein autoritäres System der Demokratie vorzuziehen. I n ganz ähnlicher Weise ist es nicht Aufgabe einer Unternehmensverfassung, die einzelnen A r beitnehmer an unternehmerischen Entscheidungen zu beteiligen (wohin i n bezug auf die den Arbeitnehmer unmittelbar berührenden betrieblichen Entscheidungen die Betriebsverfassung tendieren muß), sondern vielen einzelnen Arbeitnehmern Gelegenheit zur Übernahme von M i t verantwortung zu geben: Mitverantwortung durch — wenn auch nur mittelbare — Beteiligung an der Legitimation der Unternehmensleitung. M i t diesem Gedanken der Mitverantwortung hängt eng die letzte der drei Überlegungen — eine rein politische — zusammen. Die Forderung einer pluralistischen Unternehmensverfassung, insbesondere i n der Form der wirtschaftilchen Mitbestimmung, ist deutschen Ursprungs, und es hat seine Gründe, daß diese Forderung m i t besonderer Dringlichkeit i n der Bundesrepublik erhoben w i r d und dort auch viel weitergehender als i n irgendeinem anderen Lande schon verwirklicht worden ist. Die Gründe sind historischer 30 , aber auch politischer Art. Die Auswirkungen der russischen Revolution auf Deutschland nach dem 1. Weltkriege, die Erfahrungen m i t dem nationalsozialistischen Regime und die Entwicklung i n der sowjetischen Besatzungszone haben unseren Blick für den engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und politischem Regime geschärft und nötigen zu der Einsicht, daß das freie Deutschland als unmittelbarer Nachbar totalitärer Systeme i n einer besonderen Lage ist. Es muß eindringlicher als andere Länder dartun, daß die Grundwerte seiner freiheitlichen Ordnung i n allen Bereichen gelten 3 1 . Deshalb ist die Einführung einer den Grundnormen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung entsprechenden rechtsstaatlichen Unternehmensverfassung ein besonders wichtiges und überzeugendes Argument i n der Auseinandersetzung mit dem totalitären System 32 .

30 Siehe — f ü r die Entwicklung bis zum 1. Weltkriege — Hans-Jürgen Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung i n Deutschland, 1961. 31 Siehe Norbert Blum, Zurück i n den Klassenkampf?, i n : Soziale Ordnung, 1967, Nr. 2 S. 4. 32 Dazu siehe Gert v. Eynern, Tendenzen wirtschaftlicher u n d politischer Annäherung von Ost u n d West, i n : Universitätstage 1965, Wissenschaft u n d Planung, B e r l i n 1965, S. 200 ff.

14 Festgabe für Gert von Eynern

Bemerkungen zur Entwicklung der Mitbestimmungsdebatte Von K u r t Nemitz M i t dem vom Bundestag am 15. März 1967 verabschiedeten „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer i n den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie" ist die Mitbestimmungsdebatte i n ein neues Stadium eingetreten. Das Gesetz hat den Zweck, „den status quo i m Mitbestimmungsbereich so lange zu erhalten, bis eine Neuregelung des gesamten Fragenbereichs auf Grund des Ergebnisses der von der Sachverständigenkommission zu erarbeitenden Grundlage möglich ist, die von dem Herrn Bundeskanzler i n seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 angekündigt worden ist" 1 . Praktisch w i r d das Auslaufen der Montanmitbestimmung nach § 1 6 des Mitbestimmungs-Ergänzungsgesetzes bei einigen Konzernen (Rheinstahl, Salzgitter und Gelsenberg) u m rund drei Jahre hinausgeschoben. Die eigentliche Bedeutung des Gesetzes liegt also darin, daß zwar nunmehr zur Diskussion der Materie einige Zeit gewonnen wird, daß sich der Gesetzgeber aber gleichzeitig einen Termin für die notwendig werdende politische Entscheidung setzt. Angesichts dieser nunmehr deutlich werdenden Zeitplanung — bis spätestens 1970 müßte über die Zukunft der Mitbestimmung entschieden werden — ist es verständlich, daß sich die Diskussion intensiviert. Die direkt Beteiligten beziehen ihre Ausgangspositionen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat seine Forderung nach Ausweitung der bisher nur i n der Montanindustrie praktizierten qualifizierten Mitbestimmung auch auf andere Wirtschaftsbereiche präzisiert und trägt sie deutlich hörbar vor 2 . Auch die Gegner der qualifizierten Mitbestimmung formieren ihre Reihen 3 . Und i m Bereich der Wissenschaft mehren sich die Zei1 Schriftlicher Bericht des Ausschusses f ü r A r b e i t v o m 13. März 1967, Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, zu Drucksache V/1525. 2 Hierzu u. a.: Mitbestimmung — eine Forderung unserer Zeit, Hrsg. Deutscher Gewerkschaftsbund — Bundesvorstand, o. D. (Frühjahr 1966) sowie Referate auf der Veranstaltung der Hans-Böckler-Gesellschaft am 12. A p r i l 1967 i n : Das Mitbestimmungsgespräch, Nr. 4/5 1967. 3 Hierzu u. a.: Goetz Briefs (Hrsg.): Mitbestimmung? — Beiträge zur Problematik der paritätischen Mitbestimmung i n der Wirtschaft, Stuttgart 1967 sowie „Mitarbeiten, Mitverantworten, Mitbestimmen", Bd. 7 der Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, K ö l n u n d Opladen 1966, u n d Franz

14*

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chen dafür, daß man gewillt ist, sich stärker als bisher mit diesem Problemkreis zu beschäftigen 4 . Alle gemeinsam aber richten ihre Blicke mit erheblichen Erwartungen auf die Arbeit der Kommission der Sachverständigen. Diese Intensivierung der Mitbestimmungsdiskussion ist zu begrüßen. Sie dient der Klärung des Sachverhalts und unterstreicht die Bedeutung des ganzen Fragenkomplexes für die soziale Ausgestaltung der modernen Industriegesellschaft. Dabei gewinnt die aktuelle Diskussion auch insofern an Gewicht, als sie sich nicht mehr nur auf die theoretischen Aspekte zu beschränken braucht: die Praxis der Mitbestimmung i n den vergangenen 15 Jahren bietet ein umfangreiches Erfahrungsmaterial, das eine fundierte Analyse ermöglicht. Mitbestimmung und Wettbewerbsordnung Versucht man eine A r t Zwischenbilanz der Diskussion zu ziehen, so fällt auf, daß die Gegner der qualifizierten Mitbestimmung nach wie vor die Frage der Vereinbarkeit der Mitbestimmung mit der Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung stark i n den Vordergrund schieben. So w i r d erklärt, die Montanmitbestimmung „ist und bleibt i n der sozialen Marktwirtschaft ein Fremdkörper 5 " und die Ausdehnung des wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer stehe „ i m Widerspruch zu den Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung und zum Prinzip unseres sozialen Rechtsstaates" 6 . Erklärungen dieser A r t sind m. E. nicht zu halten. Vielmehr kann mit weit größerer Durchschlagskraft die Ansicht vertreten werden, daß die qualifizierte Mitbestimmung nicht nur m i t den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und der freiheitlichen Gesellschaftsordnung vereinbar sei, sondern darüber hinaus entscheidend zu ihrer Vervollkommnung beitrage. Wendet man sich unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten der Frage der Möglichkeiten und Grenzen einer Einordnung der Mitbestimmung i n eine Wettbewerbsordnung zu, so ist die Tatsache von Bedeutung, daß sich die jetzt praktizierte Mitbestimmung nach ihren gesetzlichen Grundlagen nur auf das Einzelunternehmen bezieht. Das entscheiBöhm: Mitbestimmung, Referat v o r der Aktionsgemeinschaft Soziale M a r k t wirtschaft am 20. u n d 21. J u n i 1966 (Tagungsprotokoll Nr. 27), ferner: „ B o n ner Leitsätze" des Wirtschaftstages der CDU/CSU v o m 27. Januar 1967. 4 Hierzu u. a.: K u r t Nemitz u n d Richard Becker (Hrsg.): Mitbestimmung u n d Wirtschaftspolitik, K ö l n 1967. D a r i n auch weitere Quellen u n d Hinweise auf ältere Literatur. 5 Wirtschaftliche Mitbestimmung u n d freiheitliche Gesellschaft, Stellungnahme des Arbeitskreises Mitbestimmung der B d A v. Oktober 1965 i n : M i t arbeiten, Mitverantworten, Mitbestimmen, a.a.O., S. 239. 6 So z. B. i n der „Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zum Grundsatzprogramm des D G B " , K ö l n 1963, S. 6.

Bemerkungen zur E n t w i c k l u n g der Mitbestimmungsdebatte

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dende ordnungspolitische Problem ist die Abstimmung der Bedürfnisse der Einzelhaushalte m i t den Erfordernissen des volkswirtschaftlichen Gesamthaushaltes, beziehungsweise die Koordinierung zwischen Einzelplänen und Gesamtplan. Nach Eucken sollte „ i n den Wirtschaftsordnungen der industrialisierten W e l t . . . eine ordnende Ratio zur Geltung kommen, die das bewältigt, was i n der kleinen Eigenwirtschaft die Ratio des Leiters tagtäglich vollzieht" 7 . I m Modell der Wettbewerbswirtschaft w i r d jene geforderte Ratio dem Konkurrenzmechanismus zugeschrieben. Der Ausgleich zwischen den Einzelplänen und dem Gesamtplan findet auf dem Markte statt 8 . W i r d die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit des Einzelunternehmens i m großen und ganzen nicht eingeengt, so bleibt die dem Unternehmen i n der Wettbewerbsordnung zukommende Funktion erhalten. Insoweit ist also die Mitbestimmung systemkonform. Eucken — der i m übrigen eine M i t w i r k u n g der Arbeiter durchaus bejaht — zieht die Grenze dort, wo „die Autonomie der Planung des einzelnen Betriebes i n der geschäftlichen Sphäre durch die Mitbestimmung beeinträchtigt" w i r d 9 . Grundsätzlich ist also — so z. B. auch Preiser 10 — die Mitbestimmung mit dem Funktionieren des marktwirtschaftlichen Prozesses vereinbar. Entscheidend ist somit die Frage, ob die institutionelle Form und die Praxis der Mitbestimmung so ausgestaltet werden können, daß die Ziele der betrieblichen Mitbestimmung ohne Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Unternehmens erreicht werden können. Greift man auf die Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre zurück, so läßt sich auch bei vorsichtiger Beurteilung die Ansicht vertreten, daß die konkrete Form der qualifizierten Mitbestimmung i n der Bundesrepublik weitgehend jenen Bedingungen entspricht, die oben genannt wurden. Nennenswerte Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit der Unternehmen, die ausschließlich auf die Mitbestimmung zurückzuführen wären, sind jedenfalls nicht festgestellt worden. Aufschlußreich ist die Tatsache, daß die These von der angeblichen Unvereinbarkeit von qualifizierter Mitbestimmung und marktwirtschaftlicher Ordnung heute i m Bereich der Wissenschaft kaum noch vertreten wird. Vielmehr mehren sich die Stimmen, die ausdrücklich die Vereinbarkeit unterstreichen. So betont z. B. Zeitel, die erweiterte Mitbestimmung der Arbeitnehmer i n den Aufsichtsorganen erscheine „durchaus vereinbar m i t einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die wesentlichen 7

Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, S. 7. Über den Unterschied der Lösung des ordnungspolitischen Problems i n der reinen Wettbewerbswirtschaft u n d i n einer sozialistischen M a r k t w i r t schaft siehe K u r t Nemitz: Sozialistische Marktwirtschaft, F r a n k f u r t 1960. 9 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, a.a.O., S. 320. 10 Erich Preiser: Die Z u k u n f t unserer Wirtschaftsordnung, 1955, S. 63. 8

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Elemente dieser Ordnung werden durch die Realisierung eines solchen Anliegens i n ihrer Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt 11 ." Auch Krelle äußert sich dezidiert i n ähnlichem Sinne 12 . Und selbst Böhm (der seine K r i t i k auf die, wie er meint, „privatrechtswidrigen Eingriffe" i n die privatrechtliche Zuständigkeit stützt) ist neuerdings der Meinung, daß „das wirtschaftsreformerische Mitbestimmungsrecht i n die marktwirtschaftliche Ordnung hineinkomponiert" sei und der m a r k t w i r t schaftliche Lenkungsmechanismus nicht tangiert werde 1 3 . I n diesem Zusammenhang ist auch die Frage von Bedeutung, welche Auswirkungen sich aus der Mitbestimmung i m Hinblick auf eine optimale volkswirtschaftliche Faktorkombination ergeben. Hier scheint sich weitgehend die Ansicht durchgesetzt zu haben, daß die Institution M i t bestimmung dazu beitragen könne, eine verbesserte Kombination der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu erreichen, wobei allerdings eine quantitative Aussage noch nicht möglich erscheint. So spricht z. B. Voigt von einer durch die Mitbestimmung bewirkten „Verbesserung der Faktorkombination", die durch „die Verbesserung der Qualität des Produktionsfaktors Arbeit und das gegenüber der Zeit vor Einführung der Mitbestimmung (als frühzeitig wirkendes Ventil zur Behebung mindestens eines Teiles der sonst auftretenden produktivitätshemmenden Spannungen) verbesserte Zusammenwirken der Produktionsfaktoren" zustande komme 1 4 . Eine besondere volkswirtschaftliche Bedeutung kommt der qualifizierten Mitbestimmung gegenwärtig vor allem auch deswegen zu, w e i l sie i n zwei Bereichen praktiziert wird, die erhebliche Strukturprobleme zu bewältigen haben. Die gesamtwirtschaftlich bedeutsamen Chancen, die darin liegen, daß die Strukturprobleme i m Bergbau und i m Stahlbereich nicht i n einer Kampfsituation zwischen Arbeitgebern und A r beitnehmern bewältigt werden müssen, sondern vielmehr zwischen beiden Seiten gemeinsam beraten werden, sind erstaunlicherweise selten gesehen worden. Eigentlich müßte die Wirtschaftspolitik an einer solchen Entwicklung stärkstens interessiert sein. Wenn sie dennoch langfristig darauf verzichten sollte, diese Chance voll zu nutzen, dann würde 11 Gerhard Zeitel: Die Mitbestimmung — Auswirkungen auf Wettbewerb u n d Wirtschaftswachstum i n Verbindung m i t dem unternehmerischen E n t scheidungsprozeß i n : Mitarbeiten, Mitverantworten, Mitbestimmen, a.a.O., S. 62. 12 W i l h e l m Krelle: Mitbestimmung u n d marktwirtschaftliche Ordnung, i n : Mitbestimmung u n d Wirtschaftspolitik, Hrsg. K u r t Nemitz u n d Richard Becker, a.a.O., S. 119 ff. 13 Franz Böhm: Mitbestimmung, Tagungsprotokoll der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft Nr. 27, a.a.O., S. 137. 14 Fritz Voigt: Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer i n den Unternehmungen, i n : Z u r Theorie u n d Praxis der Mitbestimmung, Hrsg. Walter Wediggen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF. Band 24, S. 500.

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dies auf eine Nichtnutzbarmachung an sich gegebener Möglichkeiten einer verbesserten Faktorkombination — und damit auf einen Verzicht auf die entsprechende Zuwachsrate der gesamtwirtschaftlichen Produktivität — hinauslaufen. Die Ablehnung einer Ausdehnung der qualifizierten Mitbestimmung auch auf andere Bereiche sollte deshalb unter diesem Gesichtspunkt und angesichts der auf uns zukommenden Strukturprobleme i n verschiedenen Sektoren der Wirtschaf t überprüf t werden. Wo die Ansatzpunkte einer unter Einschaltung der Mitbestimmung praktizierten Strukturpolitik liegen, hat die Praxis i m Bergbau i n zahlreichen Fällen bereits bewiesen. Ohne die gleichberechtigte M i t w i r k u n g der Arbeitnehmer an der Ausarbeitung und Durchführung von Sozialplänen wäre zweifellos so manche Strukturmaßnahme nicht reibungslos zu bewältigen gewesen. Unternehmungsdynamik und Marktanpassung I n der aktuellen Diskussion w i r d immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Konsequenzen aus der qualifizierten Mitbestimmung für die wirtschaftliche Unternehmenspolitik — vor allem auch für die unternehmerische Dynamik — erwachsen. I m Rahmen einer ökonomischen Analyse der Mitbestimmung erscheint eine sorgfältige Erörterung gerade dieses Punktes als besonders wichtig. I n den vergangenen Jahren ist vor allem i m Anschluß an die Untersuchung von Böhm 1 5 wiederholt der Versuch gemacht worden, die hier vorliegende Problematik m i t den M i t t e l n der marktwirtschaftlichen Modelltheorie zu untersuchen. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß solche theoretischen Modellanalysen mitunter der schärferen Ausprägung der Fragestellung dienen. Gerade aber an dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand erweist sich das marktwirtschaftliche Modell mit seinem hohen Abstraktionsgrad als kaum geeignet, zu verwertbaren Aussagen zu kommen. Die theoretische Modellkonstruktion des abstrakten Unternehmers entspricht gerade i n denjenigen Bereichen, für die die qualifizierte Mitbestimmung i n Frage kommt, nämlich bei den großen Kapitalgesellschaften, i n keiner Weise auch nur annähernd der Wirklichkeit. „Der blitzschnell reagierende Unternehmer, dem niemand i n die Arme fallen dürfte", so betont Lohmann völlig zu Recht, „ist nicht typisch, wenn w i r etwa an das Zustandekommen von Entschlüssen i n großen Unternehmungen denken 1 6 ." Insofern hätte also die gedank15 Franz Böhm: Das wirtschaftliche Mitbestimmungsrecht der Arbeiter i m Betrieb, i n : ORDO, 4. Jg. (1951). 18 M a r t i n Lohmann: Wirtschaftsordnung, Unternehmungen u n d M i t b e s t i m mung, i n : Wege zum sozialen Frieden, Hrsg. H. D. Ortlieb u n d H. Schelsky, Ring-Verlag Stuttgart u n d Düsseldorf 1954, S. 109.

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liehe Konstruktion des durch die Mitbestimmung i n seinen ökonomischen Entschlüssen behinderten Unternehmers nur eine rein modellmäßige Aussagekraft, die i n dem Augenblick hinfällig wird, i n dem das Modell der Wirklichkeit angenähert wird. Diese Wirklichkeit ist heute dadurch gekennzeichnet, daß bei den Großunternehmungen die entscheidenden ökonomischen Entschlüsse i m Rahmen der verwissenschaftlichten Unternehmensführung wochen-, monate- und oft jahrelang (bei Großinvestitionen) von vielfältigen Arbeitsgruppen, Stabsabteilungen und Beraterteams vorbereitet und erst nach eingehender Diskussion aller Einzelfragen i n die Tat umgesetzt werden. Geht man von dieser wirklichkeitsnahen Darstellung aus, so erscheint die besorgte Warnung davor, daß die unternehmerische Willensbildung durch die Mitbestimmung „verumständlicht" 1 7 oder bürokratisiert 1 8 werden könnte, i n einem neuen Licht. Tatsächlich ist die Gefahr der Bürokratisierung und Verumständlichung der unternehmerischen Willensbildung ganz allgemein ein Problem der modernen Großwirtschaft, das schon lang vor Einführung der Mitbestimmung i n seiner ganzen Tragweite bekannt war. Die Diskussion hat lediglich dadurch eine neue Komponente erhalten, daß bei der Vorbereitung von unternehmerischen Entscheidungen nunmehr auch jene Argumente Berücksichtigung finden müssen, die von den Arbeitnehmervertretern i n den Organen der M i t bestimmung vorgetragen werden. W i l l man hierin eo ipso ein Negativ u m sehen, so erübrigt sich eine weitere Diskussion. Bei vorurteilsfreier Betrachtung ist allerdings auch daran zu denken, daß die zusätzlich i n die unternehmerische Willensbildung von Arbeitnehmerseite einfließenden Argumente auch zu einer zusätzlichen sachlichen Absicherung der zu fassenden Entscheidung führen kann. Wenn man z. B. berücksichtigt, daß auf Vorschlag der Gewerkschaften als sogenannte „weitere Mitglieder" i n zunehmendem Maße auch anerkannte Fachleute zur Wahl i n den mitbestimmten Aufsichtsrat vorgeschlagen werden — hierzu gehören z. B. Professoren der Betriebswirtschaft und technischer Disziplinen — dann ist diese Vorstellung von der durch die Mitbestimmung bewirkten zusätzlichen sachlichen Fundierung unternehmerischer Entscheidungen keineswegs abwegig, wenn auch die Gewöhnung an solche Gedankengänge manchem Traditionalisten schwerfallen mag. Bei einer solchen Betrachtungsweise — die sich nicht nur auf die stereotype Wiederholung von Warnungen beschränkt, sondern auch die 17

Franz Böhm: Das wirtschaftliche Mitbestimmungsrecht . . . , a.a.O., zit. nach: Wirtschaftliche Mitbestimmung i m Meinungsstreit, Hrsg. Otto Kunze, K ö l n 1964, S. 21 Bd. I I . 18 So z. B. i n : Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen A r b e i t geberverbände zum Grundsatzprogramm des DGB, K ö l n 1963, S. 6.

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wirtschaftspolitischen Chancen einer solchen Institution anzuerkennen bereit ist — lassen sich dem Problem der unternehmerischen Freiheit und Dynamik i n mitbestimmten Betrieben der Großwirtschaft gewiß neue Aspekte abgewinnen. „ I m übrigen kann ich m i t dem besten Willen nicht einsehen, weshalb es eine unzumutbare Einschränkung der unternehmerischen Freiheit sein soll, wenn bei allen wirtschaftlichen Überlegungen und Maßnahmen von vornherein auch die Gesichtspunkte m i t berücksichtigt werden sollen, die voraussichtlich von den Vertretern der abhängig Arbeitenden vorgebracht werden", meint der Praktiker Spindler 1 9 , und fügt hinzu: „Das müßte doch eigentlich selbstverständlich sein." I m Prozeß der unternehmerischen Willensbildung der wirtschaftlichen Großgebilde kommt es unter möglichst weitgehender Vermeidung unnötiger Bürokratisierung i n zunehmendem Maße darauf an, daß — wie Nordhoff betont — m i t Hilfe eines „stufenweisen, planmäßigen Reifmachens eines Entschlusses" ein „sorgfältiges Durcharbeiten eines Problems unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten die Möglichkeit einer Fehlentscheidung auf das überhaupt mögliche Kleinstmaß reduziert" 2 0 . I n diesem Prozeß die durch die Mitbestimmung gegebenen Chancen optimal auszunutzen, ist eine Aufgabe, vor die sich jede Unternehmensleitung i n einem mitbestimmten Unternehmen gestellt sieht. Was die Vielfalt der bei der Formulierung von wirtschaftlichen Unternehmensentscheidungen zu beachtenden Argumente anbetrifft, so ist es i m übrigen i n der Praxis keineswegs so, daß sich i n den Organen der Mitbestimmung etwa i n der überwiegenden Zahl der Fälle die Arbeitnehmervertreter i n einem Gegensatz zu dem Vorstand befinden. „Oft bestehen", wie Voigt festgestellt hat, „zwischen den virtuellen Aktionssektoren der Gruppen der Aktionäre und der Unternehmensleitung erheblich größere Gegensätzlichkeiten und Differenzen i n den Zielsystemen und i n der Auswahl der Wege, die zur Erreichung der Ziele eingeschlagen werden sollen, als zwischen Unternehmensleitung und den Repräsentanten der Mitbestimmung der Arbeitnehmer 2 1 ." Diese Feststellung hat vielfache Bestätigung erfahren. Voigt ist zuzustimmen, daß an diesem Tatbestand jeder Versuch scheitert, das Wirken der Institution Mitbestimmung, ausgehend von der These einer strikten Gegensätzlichkeit der Positionen von „Arbeit" und „Kapital", von Arbeitneh19

S. 36. 20

Gert P. Spindler:

Mitbestimmung — ja!, i n : Zeit Nr. 15 v. 8. A p r i l 1966,

Aus einer Rede von Generaldirektor Heinz Nordhoff v o r der Industrieu n d Handelskammer Braunschweig, zit. i n : Die Welt v. 9. A p r i l 1966. 21 Fritz Voigt: Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer i n den Unternehmungen", i n : Z u r Theorie u n d Praxis der Mitbestimmung, Hrsg. Walter Weddigen, Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik, NF, Bd. 24/1, B e r l i n 1962, S. 506.

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mern und Unternehmensleitung, m i t Hilfe der Theorie der (Zwei-Personen-Nullsummen) Spiele analysieren zu wollen. „Keinesfalls darf also die Mitbestimmung der Arbeitnehmer als Gegenposition zu der Entschlußfreiheit des „Unternehmers" (im Sinne des Schumpeterschen Begriffs) gesehen werden 2 2 ." Der paritätisch besetzte Aufsichtsrat Die vom Gesetzgeber gewollte gleichberechtigte Teilnahme der A r beitnehmer am Prozeß der unternehmerischen Willensbildung und Entscheidung hat i n dem paritätisch besetzten Aufsichtsrat und i m Arbeitsdirektor ihren institutionellen Niederschlag gefunden. Was zunächst den Aufsichtsrat anbetrifft, so kann die Frage nach der Bewährung der i m Montan-Mitbestimmungsgesetz fixierten Konstruktion an Hand des inzwischen vorliegenden Erfahrungsmaterials 23 durchaus positiv beantwortet werden 2 4 . Weder ist es zu einer permanenten Blockierung oder unzumutbaren Verzögerung von wirtschaftlich wichtigen Unternehmensentscheidungen gekommen, noch hat die Parität die Kampfabstimmung i m Aufsichtsrat zur Regel werden lassen. Vielmehr ist der Aufsichtsrat i n vielen Fällen wieder zu einem echten Beratungsorgan geworden, das seine Entscheidungen nicht i m geschäftsordnungsgemäßen Parforce-Ritt, sondern erst nach ausführlichen und lebhaften Diskussionen trifft. Eine solche Entwicklung ist als eine erfreuliche Aufwertung des Aufsichtsrates durchaus zu begrüßen. Diese Auffassung ist besonders nachdrücklich auch von Hax unterstrichen worden 2 5 . Gegenstand einer lebhaften Erörterung ist die Tatsache, daß für die Wahl i n den Aufsichtsrat nach den gesetzlichen Bestimmungen (bei einem 11-Personen-AR) nicht nur zwei betriebliche, sondern auch drei außerbetriebliche Arbeitnehmervertreter vorgeschlagen werden. „ A u f diese Weise", so betont neuerdings Hermann J. Abs, „werden von außen kommende, mit den Problemen des Unternehmens nicht vertraute und der Belegschaft häufig gänzlich unbekannte Funktionäre i n den Aufsichtsrat gewählt 2 6 ." Z u diesem Argument ist zu sagen, daß diese Cha22

Fritz Voigt: Die Mitbestimmung . . a . a . O . , S. 506. Hierzu Erich Potthoff, Otto Blume, H e l m u t Duvernell: Zwischenbilanz der Mitbestimmung, Tübingen 1962, u n d vor allem auch F r i t z Voigt: Die M i t bestimmung der Arbeitnehmer . . . , a.a.O., S. 287 ff. 24 So z. B. H e l m u t Duvernell: Mitbestimmung — Heute u n d morgen, i n : Zwischenbilanz der Mitbestimmung, a.a.O., S. 324 u n d 327. 25 K a r l Hax: Die Aufgaben des Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft unter dem Einfluß der qualifizierten Mitbestimmung, i n : Mitbestimmung u n d Wirtschaftspolitik, Hrsg. K u r t Nemitz u n d Richard Becker, a.a.O., S. 195 ff. 26 Hermann J. Abs: Z u den Forderungen nach Ausweitung der M i t b e s t i m mung, Vortrag vor dem Industrierechtlichen Seminar der Universität Bonn am 27. J u n i 1966, Sonderdruck, S. 9. I n diesem Zusammenhang mag der H i n 23

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rakterisierung seit jeher zum Beispiel auf die zahlreichen Bankenvertreter i n den Aufsichtsräten zutrifft. „Ein Bankier aber", so meint Böhm völlig zu Recht, „der etwa dem Aufsichtsrat einer Konservenfabrik, eines Werks der chemischen Industrie und eines Kugellager-Unternehmens angehört, fühlt sich zwar i n seiner Bank als Unternehmer, nicht aber i n der Konserven-, chemischen und Kugellager-Branche .. , 2 7 ." Man sieht, daß man auch hier die Dinge unter verschiedenem Blickw i n k e l sehen kann. Bei vorurteilsfreier Betrachtung w i r d wohl zu sagen sein, daß die außerbetrieblichen Mitglieder des Aufsichtsrates (Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter) der volkswirtschaftlichen Bedeutung der großen Kapitalgesellschaften insoweit Rechnung tragen, als sie das betriebliche Geschehen i n den größeren wirtschaftlichen Zusammenhang eingebettet sehen, während die betrieblichen Vertreter auf Grund ihrer größeren internen Kenntnisse naturgemäß gewisse innerbetriebliche Vorgänge besser beurteilen können. Hier ergibt sich also die Möglichkeit der Urteilsbildung auf Grund der unterschiedlichsten Erfahrungsbereiche (Anteilseigner- und Arbeitnehmergesichtspunkte, und zwar sowohl innerbetrieblicher als auch außerbetrieblicher Art). Die Gemeinwichtigkeit der großen Kapitalgesellschaften könnte selbstverständlich noch stärker betont werden, wenn es bei einer anzustrebenden Reform der Unternehmensverfassung (etwa nach den Vorschlägen der Kommission des Deutschen Juristentages) zu einer Ausgestaltung der Unternehmensorgane kommen sollte, die neben den Anteilseigner- und A r beitnehmerinteressen auch das öffentliche Interesse berücksichtigt. Was die i m paritätisch besetzten Aufsichtsrat nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz verankerte Position des neutralen „Elften Mannes" anbetrifft, so ist dieser Konstruktion mit erheblichen Zweifeln begegnet worden. W i r d nicht, so ist gefragt worden, der neutrale Mann i n eine äußerst schwierige Position kommen, wenn sich beide Seiten i m Aufsichtsrat konträr gegenüberstehen und somit die Entscheidung auf seinen Schultern ruht? Eine solche Fragestellung wäre berechtigt, wenn es i m Aufsichtsrat — analog zu der Entscheidungspraxis i n politisch-parlamentarischen Gremien — bei jeder Entscheidung zu einer formalen Kampfabstimmung kommen würde. Es wurde bereits dargelegt, daß eine solche Vorstellung keineswegs der Realität entspricht. Vielmehr w i r d jeder wichtige Beweis von Interesse sein, daß die ablehnende H a l t u n g von Abs zur Mitbestimmung erst neueren Datums ist. A u f dem CDU-Parteitag 1954 hatte Abs i n der Mitbestimmung noch „einen echten Erfolg" gesehen. Zit. bei H a r a l d Koch: Die Bedeutung der Mitbestimmung i n Deutschland, i n : Stellung der Arbeitnehmer i n der modernen Wirtschaftspolitik, Hrsg. Hans Bayer, B e r l i n 1959, S. 130. 27 Franz Böhm: Das wirtschaftliche Mitbestimmungsrecht . . . , a.a.O., S. 20.

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schlußvorschlag so sorgfältig vorbereitet und durchdiskutiert, daß eine allgemeine Übereinstimmung zu erzielen ist. Dabei mag bei diesem Prozeß des „Zusammenraufens" dem neutralen Mann gelegentlich die A u f gabe zufallen, durch sachlich motivierte Vermittlungsvorschläge die Einigung beider Seiten zu erleichtern. Warum diese Aufgabe „unerträglich" sein soll („Der Weg zum K u h handel ist dann nicht weit") 2 8 , ist bei nüchterner Betrachtung nicht recht einzusehen. Durch sachlich fundierte Vermittlungsvorschläge zu einer Annäherung unterschiedlicher Standpunkte beizutragen, ist durchaus eine gleichermaßen vornehme wie reizvolle Aufgabe, deren Bewältigung zu sinnvollen Ergebnissen führen kann. Der abwertende Slogan vom „Kuhhandel" ist i m übrigen zur Verächtlichmachung von kollegialen Beschlußgremien von den Anhängern des Führerprinzips so oft mißbraucht worden, daß man i h n aus der seriösen Auseinandersetzung streichen sollte. Der Arbeitsdirektor M i t dem Arbeitsdirektor hat der Gesetzgeber eine Institution geschaffen, die die gleichberechtigte Teilnahme des Faktors Arbeit an den laufenden Entscheidungen des Vorstands sicherstellt. Wie die übrigen Vorstandsmitglieder w i r d der Arbeitsdirektor von der Mehrheit des Aufsichtsrats bestellt, wobei eine Berufung gegen den Willen der Mehrheit der Arbeitnehmervertreter nicht möglich ist. Was die Bewährung der Institution des Arbeitsdirektors anbetrifft, so hat die bisherige Erfahrung gezeigt, daß man auch hier zu einer durchaus positiven Beurteilung kommen kann. Selbst Throm, der — wie bereits ausgeführt — der Mitbestimmung äußerst kritisch gegenübersteht, spricht davon, daß die Erfahrungen m i t dem Arbeitsdirektor „eher positiv als negativ" zu nennen seien 29 . I m Mittelpunkt der Diskussion u m diesen Bereich steht immer wieder die Frage, ob das m i t dem Vertrauen der Arbeitnehmerseite ausgestattete Vorstandsmitglied nicht i n einen unlösbaren Loyalitätskonflikt geraten müsse, wenn er seine i m Aktiengesetz vorgeschriebenen Pflichten i m Interesse des Unternehmens m i t seiner inneren Bindung an die Arbeitnehmerseite i n Einklang bringen wolle. Abs meint dazu, damit werde dem Betroffenen „ein Interessenzwiespalt zugemutet, der i n dieser Intensität i n unserem Rechtssystem einzigartig dasteht" 3 0 . 28 W i l h e l m Throm i n : Die Parität l ä h m t den Aufsichtsrat, F A Z v. 10. November 1965. 29 W i l h e l m Throm, i n : F A Z , a.a.O. 80 Hermann J. Abs: Z u den Forderungen nach Ausweitung der M i t b e s t i m mung, a.a.O., S. 13.

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Während hier also auf die altbackene Rechtskonstruktion des Aktiengesetzes abgestellt wird, gibt es auch andere Stimmen, denen der Gedanke einer A r t vermittelnder Funktion auch eines Vorstandsmitgliedes keineswegs so abwegig zu sein scheint. So weist Voigt darauf hin, daß der Arbeitsdirektor i m Spannungssystem des Organismus „Unternehmen" eine nicht nur soziologisch, sondern auch ökonomisch relevante Position einnehme, die es i n der überkommenen Unternehmensstruktur des Kapitalismus nie gegeben habe, die ihn aber jetzt „geradezu zum Mittler entgegengesetzter Anschauungen" mache 31 . Daß diese vermittelnde Funktion auch volkswirtschaftlich bedeutsam sein kann, ist eigentlich leicht einzusehen: bei Lohnauseinandersetzungen zum Beispiel werden die Gewerkschaften i n zunehmendem Maße auch auf die sachkundige Meinung der Arbeitsdirektoren hören, die auf Grund ihrer intimen Kenntnisse der Kostenstruktur ihres Unternehmens und ihrer Branche am besten beurteilen können, welche Folgen aus möglicherweise überhöhten Lohnforderungen für die Kostenentwicklung, die Wettbewerbs- und Ertragslage und damit auch für die Beschäftigungslage der Unternehmen erwachsen können. Eigentlich müßte man meinen, daß diese bereits i n der Praxis bewährte „Nebenfunktion" der Institution Arbeitsdirektor i m Hinblick auf ihre volkswirtschaftlichen Auswirkungen allgemein gewürdigt wird. Die Sachkenntnis der Arbeitnehmervertreter Wer die Mitbestimmungsdiskussion aufmerksam verfolgt, der w i r d feststellen, daß die Frage nach der Sachkenntnis der Arbeitnehmervertreter immer wieder i n den Vordergrund geschoben wird. Insofern hat sich seit dem Jahre 1889, als die angeblich mangelnde Sachkenntnis der Arbeiter als Argument gegen die Einführung von betrieblichen Arbeiterausschüssen verwandt wurde, nichts geändert 32 . Geht man dem tatsächlichen Sachverhalt nach, so w i r d deutlich, daß man die Personalfrage nicht als eine A r t Dauerargument i n der Sachdebatte u m die Institution Mitbestimmung verwenden kann. Selbstverständlich ist ohne jeden Umschweif anzuerkennen, daß die Mitbestimmung die Gewerkschaften i m Hinblick auf die personelle Auswahl der vorzuschlagenden Kandidaten zunächst vor eine sehr schwierige Problematik stellte. Die Beurteilung personeller Schwächen läßt auch i n 31

Fritz Voigt: Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer . . . , a.a.O., S. 504. Resolution des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Saarindustrie u n d der südwestlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- u n d Stahlindustrieller v o m 17. Dezember 1889, zit. nach: A r b e i ter-Ausschüsse i n der deutschen Industrie, Gutachten, Berichte, Statuten, Hrsg. M a x Sering, Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik X L V I , Leipzig 1890, S. 176. 32

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den Kreisen der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer keineswegs zu wünschen übrig 3 3 . Seit der Zeit der Erstbesetzungen der Organe haben sich jedoch erhebliche Veränderungen vollzogen. Was zunächst die Arbeitnehmervertreter i m Aufsichtsrat anbetrifft, so ist auf breiter Ebene ein intensives Schulungsprogramm i n Angriff genommen worden, das die grundlegenden rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnisse zu vermitteln versucht. Dabei mag man den Erfolg positiv oder weniger positiv beurteilen. Fest steht jedenfalls, daß i n zahlreichen Aufsichtsräten heute Arbeitnehmervertreter m i t w i r ken, die es auf Grund jahrelanger Erfahrung durchaus m i t so manchem unternehmerischen „Selfmademan" aufnehmen können, und die i n der Lage sind, die i m Aufsichtsrat zur Entscheidung gestellten Probleme i n den wesentlichen Punkten zu diskutieren und zu beraten. Wenn man ferner berücksichtigt, daß die Gewerkschaften, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, i n zunehmendem Maße auch akademisch ausgebildete Praktiker und wissenschaftlich gebildete Fachleute (z. B. Hochschulprofessoren) nominieren, dann ergibt sich ein Bild, das i m Hinblick auf die Sachkunde ein allgemein abwertendes Urteil nicht mehr zuläßt. Und ist zum Beispiel ein 30 Jahre i m Betrieb arbeitender, durch Menschenkenntnis und Lebenserfahrung gereifter, durch das Vertrauen von mehreren Tausend Beschäftigten getragener Betriebsratsvorsitzender eines Großunternehmens i n seiner A r t nicht auch ein „Sachkundiger"? Kommende Generationen werden möglicherweise nicht verstehen können, wie es möglich war, daß man i n den Organen industrieller Großunternehmen auf diese (den Faktor „Arbeit" betreffende) spezielle Sachkunde jahrzehntelang verzichtet hat. Was die Qualifikation der Arbeitsdirektoren angeht, so sind selbstverständlich hier jene strengeren Maßstäbe anzusetzen, die für Vorstandsmitglieder ganz allgemein gelten. Dabei w i r d man anerkennen müssen, daß i m Zuge der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Managements neben dem erfahrenen Praktiker mehr und mehr akademisch geschulte Kandidaten vorzuschlagen sein werden. Die Gewerkschaften haben dieser Notwendigkeit weitgehend Rechnung getragen. Bereits heute, 15 Jahre nach Beginn der Montanbestimmung, unterscheiden sich die Arbeitsdirektoren zahlreicher Unternehmungen nach Ausbildung und Erfahrung nicht mehr von ihren kaufmännischen oder technischen Vorstandskollegen. Wenn man bedenkt, daß als Mitarbeiter dieser Arbeitsdirektoren zahlreiche voll ausgebildete Handlungsbevollmächtigte und Prokuristen tätig sind, dann wächst u. a. auch hier ein personelles Reservoir heran, aus dem bei zukünftigem Nachholbedarf geschöpft werden kann. Die besorgte Frage, wie die bei einer V e r w i r k 33 Hierzu Otto Blume: Mitbestimmung, a.a.O.

Zehn Jahre Mitbestimmung, i n : Zwischenbilanz der

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lichung der gewerkschaftlichen Forderung nach Ausweitung der Mitbestimmung auszufüllende Position von Arbeitsdirektoren besetzt werden sollen („Wo sollen diese Leute eigentlich herkommen?" 34 ), verliert schon aus diesem Grunde einen erheblichen Teil ihrer Brisanz.

Betriebsklima und Produktivitätssteigerung Über die Bedeutung des „Betriebsklimas" für die Entwicklung der betrieblichen Produktivität besteht heute weitgehend Einigkeit. Wenn auch eine weitere wissenschaftliche Durchdringung des hier bestehenden Zusammenhanges — wobei Betriebssoziologie und Wirtschaftswissenschaften mehr als bisher zusammenarbeiten müßten — noch vonnöten erscheint, so gilt es doch als gesichert, daß von der Verbesserung des Betriebsklimas entscheidende Impulse für eine Produktivitätssteigerung ausgehen können. I n den Unternehmungen des Montan-Bereichs hat sich gezeigt, daß die Institutionen der qualifizierten Mitbestimmung entscheidend dazu beigetragen haben, innerbetriebliche soziale Spannungszustände rechtzeitig i n ihrer ganzen Tragweite zu erkennen und durch Verhandlungen einer für alle Beteiligten akzeptabelen Lösung zuzuführen. Hierdurch konnte zweifellos i n vielen Fällen, wie Blume festgestellt hat, eine „wesentliche Verbesserung der Betriebsatmosphäre" erreicht werden 3 5 . Die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen auf die betriebliche und gesamtwirtschaftliche Produktivität dürften erheblich sein, wenn auch ihre quantitative Erfassung schwer fällt. Weddigen spricht i n diesem Zusammenhang von der sozial befriedenden „und dadurch vermutlich mittelbar auch produktivitätsfördernden psychologischen Wirkung der betrieblichen Mitbestimmung auf das Betriebsklima" 3 6 . Zweifellos besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen Mitbestimmung, verbessertem Betriebsklima und der Tatsache, daß es seit der Einführung der qualifizierten Mitbestimmung i m Montanbereich keinen länger dauernden Streik mit allen seinen schwerwiegenden volkswirtschaftlichen Auswirkungen mehr gegeben hat. Selbst wenn man annimmt, „daß infolge der Besonderheiten des Erlebnishorizontes des deutschen Arbeiters nach dem zweiten Weltkrieg eine gewisse Streikmüdigkeit herrschte", so meint Voigt, „hat die Mitbestimmung durch vorzeitige Entgiftung auftretender Spannungen zu einem Rück34 So z. B. Rolf Buchholz: Die strapazierte Mitbestimmung, i n : Die Zeit v. 5. November 1965. 35 Otto Blume: Zehn Jahre Mitbestimmung, a.a.O., S. 278. 36 Walter Weddigen: Begriff u n d P r o d u k t i v i t ä t der Mitbestimmung, a.a.O., S. 57.

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gang der Streiks beigetragen" 37 . Auch hier erweist sich naturgemäß eine quantitative Bemessung der positiven einzel- und gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Mitbestimmung als außerordentlich schwierig. Dennoch wäre es wissenschaftlich unstatthaft, sie deswegen einfach zu übersehen. Gesellschaftsordnung und Eigentumsrecht I n der aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung u m die Zukunft der Mitbestimmung kommt der Frage nach der Rolle des Privateigentums (an den Produktionsmitteln) i n der modernen Industriegesellschaft und dem Zuordnungsverhältnis von Kapital und Arbeit eine zentrale Bedeutung zu. Von den Gegnern einer Ausdehnung der Mitbestimmung w i r d die Eigentumsfrage zuweilen stark i n den Vordergrund geschoben38. Diese Richtung der Argumentation stützt sich vor allem auf den i m Grundgesetz verankerten Schutz des Eigentums, wobei das personengebundene Eigentumsrecht und die damit verbundene Verfügungsgewalt weitgehend auch für die große Kapitalgesellschaft als anwendbar erklärt werden. Gerade aber an diesem Punkt setzt die K r i t i k ein. M i t Recht w i r d seit langem auf die i n der großen Kapitalgesellschaft vollzogene Trennung von Eigentum und Verfügungsmacht hingewiesen. Diese i n einer umfangreichen Literatur dargestellte Entwicklung hat für die Neuordnung der Unternehmensverfassung — d. h. für die Anpassung des Gesellschaftsrechts an die veränderte Struktur der modernen Industrie — entscheidende Bedeutung. Allenthalben reift die Erkenntnis heran, daß die Legitimation zur Herrschaftsausübung i m industriellen Großunternehmen eben nicht mehr ausschließlich aus dem Eigentum abgeleitet werden kann. So ist es durchaus folgerichtig, wenn Böhm die Gegner der Mitbestimmung in ihrem Eigeninteresse davor warnt, das Eigentumsargument i n den Vordergrund zu schieben und erklärt: „Ich halte es für falsch zu sagen: das Mitbestimmungsrecht ist ein Eingriff i n das Eigentumsrecht 39 ." I n diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Bedeutung, daß, wie Böhm ausführt, „Eigentum kein Direktionsrecht über fremde A r beiten verleiht" 4 0 . Eigentum ist „Verfügungsgewalt über Sachen, nicht über Menschen", betont auch Krelle und fügt hinzu: „Wer zur Nutzung 37

Fritz Voigt: Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, a.a.O., S. 472. Siehe z. B. Z u den Auswirkungen der wirtschaftlichen Mitbestimmung auf die Ordnungsfunktion des Eigentums, Stellungnahme des Arbeitskreises Mitbestimmung bei der B d A , i n : Mitarbeiten, Mitverantworten, M i t b e s t i m men, a.a.O., S. 258 ff. 39 Diskussionsbeitrag Franz Böhm i n Tagungsprotokoll Nr. 27 der A k t i o n s gemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, a.a.O., S. 198. 40 Ebenda. 88

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seines Eigentums andere Menschen benötigt, muß m i t ihnen über die Bedingungen der Kooperation übereinkommen. Bedingen sie sich diese eine M i t w i r k u n g oder Mitbestimmung aus, so ist dagegen vom Gesichtspunkt des Eigentumsrechts gar nichts einzuwenden. Ich meine: i m Gegenteil; es zeigt, daß sich diese Menschen nicht mehr als Handlanger, sondern als wirkliche, an der Unternehmung als Ganzes interessierte, verantwortliche Mitarbeiter verstehen 41 ." Die Zuordnung von Arbeit und Kapital und die Stellung des Menschen i m Produktionsprozeß stehen auch i m Mittelpunkt der Überlegungen, die i m kirchlichen Raum angestellt werden. Von dieser Seite her hat die Mitbestimmungsdiskussion i n den letzten Jahren starke Impulse erhalten. Was die evangelische Sozialethik anbetrifft, so brachte die Vollversammlung der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen i m A p r i l 1966 einen guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diskussion 42 . Besondere Beachtung hat auch die positive Bewertung durch Rieh gefunden, der betonte, die Mitbestimmungsbewegung bleibe, „gerade wenn man ihre Möglichkeiten realistisch- k r i tisch einschätzt, eine Chance, vielleicht die einzige Chance, u m die Objektlage des Erwerbstätigen i n der industriellen Arbeitssituation aufzuheben und i h m dort die personale Stellung eines Mitverantwortlichen, Mitbestimmenden und Mitentscheidenden einzuräumen, ohne die es i n den konkreten Produktionsverhältnissen kein mitmenschliches Dasein geben kann" 4 3 . I m Bereich der katholischen Soziallehre hat die Mitbestimmungsdiskussion i n den letzten Jahren einen sehr breiten Raum eingenommen. Während Messner und Rauscher 44 kritisch Stellung bezogen, traten besonders von Nell-Breuning, Klüber und Wallraff als energische Befürworter der Mitbestimmung i n Erscheinung. M i t dem Vatikanischen Konzil scheint endgültig eine Entscheidung zugunsten der Mitbestimmung getroffen zu sein. Das Dekret vom 7. Dezember 1965 über die „Kirche i n der heutigen Welt" nimmt (in Teil II, Kapitel I I I , Ziffer 68 „Von der Teilhabe an den Unternehmen und an der Gestaltung der Gesamtwirtschaft sowie von den Arbeitskämpfen") eindeutig zugunsten der „aktiven Beteiligung aller an der Unternehmensführung" Stellung. Von Nell-Breuning, der sich wegen seiner Haltung zeitweise gegen schwere Anschuldigungen und Verdächtigungen wehren mußte, 41 W i l h e l m Kr eile: Mitbestimmung u n d marktwirtschaftliche Ordnung, i n : Mitbestimmung u n d Wirtschaftspolitik, Hrsg. K u r t Nemitz u n d Richard Becker, a.a.O. 42 Bericht über die Verhandlungen der Vollversammlung der Evgl. A k t i o n s gemeinschaft für Arbeitnehmerfragen i n Duisburg i m A p r i l 1966. 43 A r t h u r Rieh: Christliche Existenz i n der industriellen Welt, hier zit. nach: Das Mitbestimmungsgespräch, 2/1967, S. 27. 44 z. B. A n t o n Rauscher: A r b e i t u n d Eigentum i n der Problematik der paritätischen Mitbestimmung, i n : Mitbestimmung?, Hrsg. Goetz Briefs, a.a.O., S. 56 ff.

15 Festgabe für Gert von Eynern

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betont jedenfalls nicht ohne deutliche Genugtuung, das Konzil habe „die schlimmsten Befürchtungen der Mitbestimmungsgegner, wenn möglich, noch übertroffen" 4 5 . Und Klüber stellt fest, die Stellungnahme des Konzils bedeute „eine prinzipielle und generelle Entscheidung zugunsten der wirtschaftlichen Mitbestimmung", wobei unter den gegenwärtigen Umständen und i m Blick auf das politisch Mögliche „die paritätische Mitbestimmung als die der Konzilsforschung angemessene Norm" betrachtet werden müsse 46 . Europäische Perspektiven I n der Reihe derjenigen Problemkreise, die i n der weiteren Entwicklung der Mitbestimmungsdebatte eine Rolle spielen werden, dürfen schließlich die internationalen Aspekte nicht übersehen werden. Der fortschreitende Prozeß der europäischen Integration bringt i n absehbarer Zeit die Notwendigkeit der Schaffung eines europäischen Gesellschaftsrechts m i t sich. Bereits jetzt w i r d über die Möglichkeiten der internationalen Fusion nach Art. 220 Abs. 3 des Römischen Vertrages verhandelt. Außerdem spricht man über den Plan zur Konstruktion einer europäischen Handelsgesellschaft. Es liegt auf der Hand, daß die Zukunft der Mitbestimmung von der hier eingeleiteten Entwicklung entscheidend berührt wird. Bereits jetzt ist gelegentlich die Ansicht zu vernehmen, eine Ausdehnung der Mitbestimmung i n der Bundesrepublik sei schon deswegen nicht möglich, w e i l dadurch die europäische Einigung erschwert werde, was doch sicher niemand wolle. Man kann es den Gegnern der Mitbestimmung nicht verübeln, wenn sie die i n dieser Linie liegende Chance der Argumentation ergreifen. Für die Gewerkschaften der Bundesrepublik w i r d diese Entwicklung zwangsläufig die Notwendigkeit m i t sich bringen, mehr als bisher m i t ihren Kollegen i n den Mitgliedstaaten der EWG über die Mitbestimmung zu reden. Vielleicht ließe sich i m Rahmen der EWG zunächst eine Kompromißlösung finden, bei der die Arbeiten an einem europäischen Gesellschaftsrecht zügig vorangetrieben, gleichzeitig aber die Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer bis zu einer endgültigen Lösung der nationalen Zuständigkeit zugeordnet bleibt. Für den Gesetzgeber i n der Bundesrepublik aber geht es u m die bis spätestens 1970 zu treffende bedeutsame Entscheidung, ob er die erste beste Gelegenheit ergreift, um das Ärgernis der Mitbestimmung aus der Welt zu schaffen, oder ob er dem i n der Mitbestimmung zum Ausdruck 45

O. von Nell-Breuning i n : Welt der Arbeit, v. 17. Dezember 1965. Franz Klüber: Mitbestimmung als gesellschaftspolitisches Ziel der katholischen Soziallehre, i n : Mitbestimmung u n d Wirtschaftspolitik, Hrsg. K u r t Nemitz u n d Richard Becker, a.a.O., S. 49 ff. 46

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kommenden Grundgedanken der sozialen Fundierung der Demokratie zustimmt und daraus die notwendigen Konsequenzen zieht. Wenn man sich den Blick für die großen Zusammenhänge offen hält, w i r d man zugeben müssen, daß das, was seit nunmehr 15 Jahren m i t Erfolg i m Montanbereich praktiziert wird, als eines der wenigen Beispiele wirklicher Neuschöpfungen i n die Geschichte der Gesellschaftspolitik der Bundesrepublik nach 1945 eingehen wird. A l l e i n dieser Gesichtspunkt sollte für jeden, der die Integration der Arbeitnehmerschaft i n den demokratischen Staat als eine staatspolitische Aufgabe ersten Ranges ansieht, Anlaß zu besonders sorgfältiger Prüfung der Materie sein. Dabei dürfte Europa nicht i m Wege stehen. Es stände den Deutschen gut an, wenn sie i n die größere Wirtschaftsgemeinschaft nicht nur ein beachtliches Industriepotential und die Tüchtigkeit deutscher Unternehmer und Arbeitnehmer, sondern auch den Willen zur sozialen Ausgestaltung des kommenden Europas einbringen würden.

Erziehung für die Arbeitswelt von morgen Von Herwig Blankertz

Erziehung ist ein Versprechen auf die Zukunft, ein Handeln für die Welt von morgen. Schon lange bevor die ausdrückliche pädagogische Frage nach Chancen und Risiken einer partiellen Vorwegnahme des Schicksals auftauchte, gab es i m Bewußtsein von Zusammengehörigkeit und Geschlechterfolge die Verpflichtung der älteren Generation für das kommende Leben der Jüngeren. Definiert als animal educandum, ist der Mensch angewiesen auf den i m erzieherischen Handeln zu realisierenden Entwurf seiner selbst. Demzufolge könnte die Frage nach der Erziehung für die Arbeitswelt von morgen so verstanden werden, als ob das seit eh und je gegebene Problem auf die Bedingungen unserer Zeit zu präzisieren sei. Denkbar wäre freilich auch, daß diese Bedingungen das Problem selbst i n prinzipiell anderer Weise stellen und ein neues Verhältnis der Erziehung zur „Welt von morgen" verlangen. A n t worten heißt hier beides: Rückbesinnen und Blick i n die Zukunft. Das Rückbesinnen ist unerläßlich, weil es die „Zukunft i n der Geschichte" zeigt. Denn es gibt, ganz allgemein gesehen, historische Zusammenhänge, „ i n denen w i r Folgen aufdecken und Wirkungen nachrechnen können" 1 , deren vergangene Zukunft also unserem Blick freigegeben ist. Aber wie nicht alles, was i n der Vergangenheit geschehen, als bestimmende Größe für Späteres erklärbar w i r d 2 , so ist der Zukunftswille des erzieherischen Handelns eigentümlich gebrochen. Ob die Jugend das ihr von der älteren Generation Vorgegebene realisiert oder gerade i m Gegensatz dazu die eigene Form gewinnt, war — bisher jedenfalls — immer ungewiß. Das hat seinen Grund nicht allein i n der relativen Ineffizienz pädagogischer Bemühungen, wie sie unserem nur ganz lückenhaften Wissen über die Bedingungen des erzieherischen Erfolges korrespondiert, sondern auch darin, daß Erziehung auf die Freigabe des Subjekts zu Mündigkeit und Selbstbestimmung tendiert. Das ist freilich eine noch verhältnismäßig junge und bereits ausdrücklich pädagogisch formulierte Zielsetzung, deutlich greifbar erst bei Rous1 Reinhard Wittram: Z u k u n f t i n der Geschichte, Kleine VandenhoeckReihe 235/236, Göttingen 1966, S. 9. 2 Vgl. Reinhard Wittram, a.a.O., S. 19; W i t t r a m nennt diese Einsicht „eine der tiefsten Erfahrungen der modernen Geschichtswissenschaft".

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seaus Votum für das „Eigenrecht des Kindes" und das Verdikt gegen die Opferung seiner Gegenwart für eine ungewisse Zukunft 3 . Bevor dem Menschen über Zweifel und Staunen der Vorgang der Erziehung fragwürdig wurde, bevor er also darüber nachzudenken begann, was das eigentlich sei, wenn er handelnd und reglementierend i n das A u f wachsen seiner Kinder eingreife, war i h m das Ziel der Erziehung gegeben m i t der Lebensform, den Überzeugungen, dem Verhalten, der Sitte und dem Glauben der älteren Generation, ebenso auch die Erziehungsmittel i n den natürlichen Lebensbezügen. Problematisieren konnte sich dieser Zusammenhang erst, wie Erich Weniger gezeigt hat 4 , auf der Stufe der Hochkultur, bei größerer Arbeitsteilung, gegliederter Gesellschaft, staatsähnlichen Organisationen m i t Heer- und Beamtenwesen. Denn i n solchen Verhältnissen gab es dann nicht nur besondere Verhaltensregeln für einzelne Stände und Funktionen, sondern immer auch besondere Kunstformen der Erziehung, bezogen auf die spezifischen Anforderungen des jeweils gegenwärtigen Arbeitslebens, und dem entsprach die Überlegung, wie für einzelne, besonders exponierte gesellschaftliche Funktionen der Nachwuchs erzogen werden müsse — i m Unterschied zu allen anderen. Von da aus — von den durch Arbeitsteilung und gegliederter Gesellschaft geforderten besonderen Ansprüchen an die Erziehung für einzelne Funktionen — sprangen Zweifel und Frage auf das Ganze der Erziehung zurück. So entstand die K r i t i k an der unbefragt überlieferten Erziehung, und zwar als K r i t i k am Zustand der Erwachsenengeneration. Die Menschen, die die gesellschaftlichen Einrichtungen tragen und gestalten, erscheinen als unzulänglich, mißraten, unerzogen: Die Erziehung w i r d haftbar gemacht für die Mängel der Welt. „Nicht der Erzieher sagt es von sich und seiner Arbeit, sondern der Nichterzieher sagt es dem Fachmann oder — i m schwerwiegendsten Fall — der Erzogene sagt es seinem E r z i e h e r . . . Aber der Erzieher ist selber am schwersten erziehbar, empfindlich gegen K r i t i k , und so entwickeln die Nichterzieher, die Vertreter des L e b e n s . . . ihre Theorien von der idealen Erziehung, ihre Utopien, die zunächst i m Gegensatz zur herrschenden Erziehung i n allen ihren Formen entstehen, bloße Theorie sind, wie dann die Praktiker der geltenden Erziehung verächtlich sagen 5 ." Darum ist die Theorie der Utopie älter als die 3 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emile ou de l'éducation, Editions Garnier, Paris o. J., bes. S. 61: „Que f a u t - i l donc penser de cette éducation barbare q u i sacrifie le présent à u n avenir incertain, q u i charge u n enfant de chaines de toute espèce, et commence par le rendre misérable, pour l u i préparer au l o i n je ne sais quel prétendu bonheur dont i l est à croire q u ' i l ne jouira jamais?" Vgl. auch M a r t i n Rang: Rousseaus Lehre v o m Menschen, Göttingen 1959, S. 267 ff. 4 Erich Weniger, Z u r Geistesgeschichte u n d Soziologie der pädagogischen Fragestellung (1936), jetzt i n : Erziehungswissenschaft u n d Erziehungswirklichkeit, hrsg. von H. Röhrs, F r a n k f u r t a. M. 1964, S. 346 ff. 5 Erich Weniger, a.a.O., S. 349/350.

Erziehung für die Arbeitswelt von morgen

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Theorie der Erziehungswirklichkeit — i n der Geschichte des pädagogischen Denkens, ebenso aber auch i n der Entwicklung pädagogischer Gedanken bei jedem einzelnen Menschen — und zwar darum, weil die faktische Erziehung erst durch das utopische Gegenbild herausgefordert wird, mit den Mitteln des Wissens und der vernünftigen Überlegung die Bedingungen der Wirklichkeit zu erfassen und zu beschreiben. Für unsere Absichten ist nun folgendes wichtig: Das utopische Element, wie es die großen Entwürfe einer besseren Erziehung seit Plato beherrscht, war nie abgelesen an den realen Erwartungen für eine Welt von morgen, wie sie sein wird, sondern projiziert aus Hoffnung und Vertrauen auf das, was einmal sein sollte — gemessen an den der Utopie unterlegten Normvorstellungen. Das ist die eine Seite der Sache. Die andere ist die, daß i n solcher Utopie die Möglichkeit aufleuchtet, Erziehung nicht allein als Reproduktion und Perpetuierung vorgegebener Verhältnisse, sondern als Chance einer besseren Zukunft zu sehen, als Chance für Veränderung. I m Schlagwort des 19. Jahrhunderts gefaßt, hieß das: Wer Schule und Jugend hat, der hat die Zukunft. K r i t i ker haben diesen Satz eine Phrase genannt 6 , denn, so machten sie geltend, Schule und Erziehung sind und bleiben vom Leben abhängig. Statt zu behaupten, wer Schule und Erziehung habe, besitze die Zukunft, solle man besser umgekehrt sagen: Wer über das Leben und seine Mächte verfügt, der verfügt über Erziehung und Unterricht. So sah es auch der große Historiker des deutschen Bildungswesens, Friedrich Paulsen, der als Ertrag seiner Studien geradezu als Gesetz formulierte: „Die Schule hat keine eigene Entwicklung, sondern sie folgt der Entwicklung der K u l t u r nach 7 ." Erst muß die K u l t u r da sein, erst muß über den Wert ihrer Gehalte entschieden sein, dann erst weiß die Schule, was sie wollen kann. Reform bedeutet: Anpassung veralteter Formen und Wege der Erziehung an die veränderte Wirklichkeit — und zwar i n gemessenem Abstand. Paulsen hatte dafür das Maß etwa von einem Menschenalter, das zwischen verändertem Leben und Gestaltung der Schule nach ihrem Ertrag zu liegen pflege, bzw. schien i h m das die Distanz, die bisher die Gesellschaft zuzulassen geneigt war. Denn eine Eigenbewegung haben Erziehung und Schule wohl, auch nach Paulsen, nämlich 6 So A d o l p h Diesterweg; dazu vgl.: Hugo G. Bloth: Wer die Schule hat, der hat die Zukunft, i n : Zeitschrift f ü r Pädagogik 1962. 7 Friedrich Paulsen: Das deutsche Bildungswesen i n seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1906, Vorwort. Vgl. auch: Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts v o m Ausgang des Mittelalters bis auf die Gegenw a r t m i t besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 2 Bände, Leipzig 1885, 3. Aufl. 1921. Eine kritische Einschränkung des Paulsenschen „Gesetzes" formulierte Erich Weniger; Schulreform u n d K u l t u r k r i t i k u n d pädagogische Bewegung, i n : E. Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung i n Theorie u n d Praxis, Weinheim 1952, S. 59 ff.

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die Tendenz, diesen Abstand zwischen den Anforderungen des Lebens und den Gehalten der Erziehung größer werden zu lassen. Die A n t w o r t darauf sind Reformbestrebungen, die Versuche, den Abstand wieder auf das Maß etwa eines Menschenalters zu reduzieren. W i r können also sagen, daß, obschon die finale Energie der Erziehung immer auf die Zukunft gerichtet war, die Jugend doch bisher durchweg nach Maßgabe der Anforderungen der Vergangenheit geschult wurde. Das läßt sich sogar für den besonderen Fall der Vorbereitung des Nachwuchses auf die Arbeit i m Zeitalter der großen Industrie belegen. Das soll nun zunächst mit einigen kurzen Strichen angedeutet werden: Die technisch-ökonomischen Notwendigkeiten der industriellen A r beitswelt forderten einen i n bestimmter Weise qualifizierten Nachwuchs. Während der Zeitspanne, die w i r heute rückschauend die erste industrielle Revolution nennen, entstand — den Anforderungen nachfolgend — ein differenziertes Fachschulwesen für gehobene technische und kaufmännische Berufe, beginnend i n einer 1. Phase zunächst bei einem mittleren Niveau, dann i n einer 2. Phase aufsteigend bis zu Hochschulen m i t Universitätsrang (Technische Hochschulen, Landwirtschaftliche Hochschulen, Handelshochschulen), und ebenso sich ausbreitend für alle niederen Qualifikationen, doch m i t Ausnahme der Lehrlingsbildung, d. h. mit Ausnahme von Einrichtungen für die Ausbildung der überwiegenden Mehrzahl der werktätigen Jugend. Gleichzeitig erfolgte eine Trennung dieses Fachschulwesens von dem der Bildung und der allgemeinen Erziehung zugeordneten Schulwesen. Dieses allgemeine Schulwesen, insbesondere die lückenlose Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht während des 19. Jahrhunderts, hatte selbstverständlich einen ökonomischen Hintergrund. Für die Industrialisierung war die elementare Schulbildung aller Glieder der Gesellschaft unerläßlich; ohne diesen ökonomischen Druck wäre die Schulpflicht kaum v e r w i r k licht worden. Aber — und daran können w i r die Wirksamkeit der von Paulsen behaupteten Gesetzlichkeit ablesen — über diese Elementarbildung hinaus wurden keine industrietypischen Formen der Lehrlingsbildung entwickelt, und also nichts — vom damaligen Standort aus gesehen — für die Arbeitswelt von morgen. Warum nicht? Die Arbeitsanforderungen auf der Stufe der Mechanisierung machten nur einen Zwang zur theoretischen Qualifikation für mittlere und höhere Führungskräfte sichtbar, während die große Masse der Arbeiter sogenannte ungelernte Kräfte sein konnten. Es herrschte die Meinung vor, diese Tendenz werde sich verstärken. Darum zeigte die Industrie, von einigen Ausnahmen abgesehen, bis zum ersten Weltkrieg überhaupt kein Interesse an einer eigenen Lehrlings- und Facharbeiterausbildung. So konnte es geschehen, daß an der Wende zum 20. Jahrhundert ein berufliches Ausbildungssystem geschaffen wurde, das bis heute i n seiner Grund-

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struktur maßgeblich geblieben ist, welches gleichsam als „Ironie der Entwicklung die Konturen und Inhalte nicht von den Trägern der Industrialisierung, sondern von vorindustriell-berufsständisch denkenden und handelnden Kräften" bestimmen ließ 8 . Die dafür maßgeblichen Entscheidungen i n den Novellen zur Gewerbeordnung am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waren motiviert durch politischkonservative und christlich-soziale Mittelstandspolitik 9 . I m Lichte dieser Politik wurde der wirtschaftliche Kampf unter den Bedingungen des Hochkapitalismus als Vorschule für Klassenkampf und soziale Revolution erachtet; darum gälte es, das Handwerk als sozial ausgleichendes und beruhigendes Element wieder herzustellen, auch den gesamten industriellen Facharbeiternachwuchs durch diese „Schule der Nation" laufen zu lassen. Ein wirtschaftlich sicher gestelltes Handwerk sei, so war die Meinung, eine staatserhaltende Kraft ersten Ranges 10 . M i t anderen Worten: Weil i n einer bestimmten Situation der technisch-industriellen Entwicklung eine ausdrückliche industrietypische Schulung des Nachwuchses betriebswirtschaftlich gesehen nicht unbedingt erforderlich war, verzichtete man auch i n der Erziehung darauf, d. h. weil die gegenwärtigen Anforderungen es nicht verlangten, geschah auch nichts für die Zukunft, überließ vielmehr die Gestaltung des beruflichen Ausbildungssystems anderen, z. T. gegenläufigen Tendenzen. Wenn w i r heute von einem anachronistisch gewordenen handwerklichen Leitbild i n unserer Berufsausbildung sprechen, wenn an manchen Stellen i n der W i r t schaft die Lehrlingsausbildung i n vorbildlicher Weise modernisiert wird, wenn zahlreiche Institutionen und Organisationen Gutachten zu einer grundlegenden Reform der Berufserziehung vorlegen, zuletzt noch vom Deutschen Ausschuß i m Jahre 1964, so kann das doch alles nicht darüber hinwegtäuschen, daß die dahingehenden Bemühungen an den A n forderungen der Gegenwart abgelesen sind, keinesfalls an der Arbeitswelt von morgen. Gegenstand dieser, noch immer gegen vielfältige W i derstände durchzusetzenden Reform ist der Rückstand der Erziehung gegenüber der gegenwärtigen Struktur der Arbeitswelt. Das ist, der Sache nach, gemeint, wenn w i r heute sagen, die Erziehung unseres Nachwuchses müsse industrietypisch werden. 8

Heinrich Abel: Das Berufsproblem, Braunschweig 1963, S. 42. Vgl. Heinrich Abel, a.a.O., ebenso: Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- u n d Bildungswesen, Gutachten über das berufliche Ausbildungs- u n d Schulwesen, Folge 7/8 der Ausschuß-Veröffentlichungen, Stuttgart 1964, S. 68. Wolf gang Lempert leitet von da aus „antidemokratische Tendenzen" i m gegenwärtigen Berufsausbildungssystem der Bundesrepublik Deutschland ab; vgl. W. Lempert: Berufsbildung u n d Demokratie, i n : Neue Sammlung 1965/4. 10 Dahingehende zeitgenössische Formulierungen lassen sich i n zahlreichen Schriften nachweisen; hier sind sie übernommen von Friedrich Rücklin: Das neuzeitliche Handwerk, 1880, S. 15/16 u n d S. 30. 9

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Hätte es damit sein Bewenden, so bliebe unsere Frage kompliziert genug. Indessen stehen w i r i n einer Situation, i n der das Problem der Erziehung sich zugleich i n einer gegenüber aller bisherigen Menschheitsgeschichte neuen Weise präsentiert, darum nämlich, weil sich die Struktur der Arbeitsanforderungen i n einem Tempo zu ändern beginnt, dem sich der Generationenwechsel nicht mehr wie bisher überlagern kann, d. h. der Abstand zwischen einschneidenden Veränderungen i n den Arbeitsanforderungen w i r d kleiner als die Zeitspanne, die zwischen den Generationen liegt. Schon jetzt muß ein großer und ständig wachsender Teil der Berufstätigen i m Laufe des Arbeitslebens mehrfach durch Umlernen und permanente Weiterbildung neu orientiert werden: Mobilität, nicht als Übergangsphänomen, sondern, wie w i r m i t Sicherheit voraussagen dürfen, als Dauererscheinung 11 . Unser gesamtes Erziehungssystem, besonders aber die Berufserziehung auf der Lehrlingsebene, bezieht sich bestenfalls auf die i m Augenblick der Ausbildung jeweils maßgeblichen Spezialleistungen, i n der Regel freilich mit einer Verzögerung hinterherhinkend. Solange der Abstand nicht zu groß war und, vor allem, solange die technisch-ökonomischen Veränderungen langsamer vor sich gingen als der Wechsel der Generationen, war diese Form der Nachwuchsbildung möglich, weil dem Ausgebildeten ein ganzes Arbeitsleben lang Leistungen abverlangt wurden, die entweder gleich blieben oder jedenfalls doch eine kontinuierliche Fortsetzung des einmal Angeeigneten waren. I n dem Augenblick aber, i n dem die berufsstrukturellen Veränderungen schneller als der Generationenwechsel vor sich gehen und der volkswirtschaftlich geforderte Vorgang vielfältigen Berufswechsels eine Mobilität größeren Ausmaßes verlangt, stellt sich die Frage nach der Erziehung für die Arbeitswelt von morgen anders. Die mehr oder weniger nahe Anpassung der Erziehung an die gegenwärtigen Anforderungen hat keinen Sinn mehr, sondern nur noch die Antizipation der Zukunft. Was aber ist die Zukunft? I m Rockefeller-Report von 1960 heißt es: „Es ist nicht möglich, heute vorauszusagen, welche besonderen Fähigkeiten w i r i n 10 Jahren brauchen werden. Vielleicht ist der Bedarf, der uns dann am meisten bedrängen wird, heute noch völlig unbekannt 1 2 ." Dieses Nichtwissen bezieht sich auf „besondere Fähigkeiten", d. h. besondere Spezialleistungen, nicht ist es so zu verstehen, als ob w i r die Tendenz der Anforderungen überhaupt nicht abschätzen könnten. Es gibt eine Fülle von 11 Vgl. B. Lutz, F. Weltz: Der zwischenbetriebliche Arbeitsplatzwechsel, Z u r Soziologie u n d Sozioökonomik der Berufsmobilität, F r a n k f u r t 1966; Heinrich Abel, Berufswechsel u n d Berufsverbundenheit, i n : Zeitschrift f ü r Pädagogik, 1962. 12 Der Rockefeller-Report ist zusammen m i t dem Conant-Report ins Deutsche übersetzt u n d herausgegeben worden von H a r t m u t von Hentig: Die Schule zwischen Bewahrung u n d Bewährung, Stuttgart 1960.

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Untersuchungen: und sowohl i n der wissenschaftlichen als i n der mehr praxisorientierten Literatur w i r d überwiegend die Auffassung vertreten, daß die Automation eine allgemein höhere theoretische Qualifikation aller arbeitenden Menschen erfordern wird. „Konzentrierte und hochverantwortliche Aufmerksamkeit, technisches Verständnis und Reaktionsgeschick werden — so heißt es i n einem Zitat, das hier stellvertretend für viele stehen möge — die Hauptanforderungen i n dem A r beitsleben der Zukunft sein. Diese Anforderungen werden den Arbeiter in die Nähe des Technikers drängen, denn Kontrollfunktionen an automatischen Anlagen sind primär Intelligenzfunktionen; sie werden neue Wege der Ausbildung und Auslese der Arbeiterschaft, ein ganz neues Berufsinteresse und eine Reihe bisher nicht dem Arbeiter zuzuzählender Berufsqualifikationen erfordern 1 3 ." Solche Prognosen sind schnell umgesetzt i n die Deutung eines sich zwangsläufig vollziehenden Selbstheilungsprozesses, der eine allgemeine Wiederbeseelung und Vergeistigung der Arbeit erbringen werde. Die zweite industrielle Revolution, an deren Anfang w i r stehen, w i r d nach diesem Urteil alle Schäden der Technisierung beheben, ja es w i r d alles besser sein als je zuvor, weil bald nicht nur — wie schon jetzt — die menschenverbrauchenden A r beiten der vorindustriellen Zeitalter, sondern auch die Monotonie der repetitiven Arbeit i n der Phase der mechanisierten Produktion aus der Welt geschafft, der Arbeiter zum Befehlshaber der Technik eingesetzt sein w i r d 1 4 . Von dieser Basis argumentierte auch die Dokumentation zu Berufsaussichten und Berufsausbildung der Illustrierten „Der Stern" 1 5 , die i n den letzten Jahren eine breitere Öffentlichkeit i n Deutschland mit dem fraglichen Problem konfrontierte. Die künftigen Anforderungen der Arbeitswelt wurden hier, i n einer etwas populären Formulierung, als hochintellektuell präzisiert: „Da w i r d es keine stupiden Bürokraten mehr geben, da w i r d es keine Leute mehr geben, die Formulare i n sechsfacher Ausfertigung m i t Belanglosigkeiten ausfüllen — der Angestellte von morgen w i r d ein denkendes Wesen sein. Er muß m i t elektronischen Datenverarbeitungsanlagen ebenso vertraut sein wie mit der Planung rationaler Arbeitsweisen, mit den Vorgängen seines Betriebes 13 Wigand Siebel: Berufsqualifikationen i m automatisierten Industriebetrieb, i n : Soziale Welt, 1964, S. 300 — das Z i t a t ü b e r n i m m t Siebel von Louis Emrich: Fabriken ohne Menschen, Wiesbaden 1957, S. 33, der es seinerseits aus einer A r b e i t von D. B r i n k m a n n entlehnt — ein Zeichen dafür, i n welch hohem Maße diese Formulierungen die Auffassung verschiedener Autoren zu decken scheint. 14 Dazu vgl. H e r w i g Blankertz: Die Menschlichkeit der Technik, i n : B l a n kertz u. a.: Technik — Freizeit — Politik, neue pädagogische bemühungen, Heft 26, Essen 1965. 15 B. Lutz u. a.: Berufsaussichten u n d Berufsausbildung i n der Bundesrepublik. Eine Dokumentation des „STERN", 3 Bände, Hamburg, 1964, 1965, 1966.

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ebenso wie m i t der Vorbereitung für den Einsatz neuer Maschinen. Diese Entwicklung steht unmittelbar bevor, sie ist i m Gange 16 ." A u f der anderen Seite hat der Stern die so vorausgesagte Entwicklung der Arbeitsanforderungen auf Ausbildung und Erziehung zurückprojiziert und zu Recht darauf hingewiesen, wenn auch m i t journalistisch übertriebenen Titeln die sozialen Ängste der Menschen treffend, daß die heutigen Lehrlinge auf der Höhe ihrer Lebenskraft den ihnen dann abverlangten Leistungen überhaupt nicht mehr gewachsen sein werden, wenn nicht unverzüglich neue Formen der Nachwuchserziehung entwickelt würden. Das ist selbstverständlich ein pessimistisches Urteil. Aber dieser Pessimismus bezieht sich auf die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit unserer Gesellschaft, das für die Berufsausbildung Erforderliche zu tun. Optimistisch ist hingegen die vom Stern erwartete Entwicklung der berufsstrukturellen Veränderungen, insofern nämlich, als eine allgemeine Steigerung der intellektuellen Ansprüche für die Berufstätigen aller Bereiche vorausgesagt wird. Dagegen steht die Auffassung von James R. Bright, der schon 1958 i n seinem Standardwerk der Automationsliteratur ganz andere Prognosen stellte 17 . Nach Bright spricht viel dafür, daß die Aufwertung der menschlichen Arbeit i m Sinne einer Höherstufung nicht nur nicht eintritt, sondern daß sogar eine durchgehende Abqualifizierung zu erwarten sei. Das ist als Prognose und Analyse der Gegenwart dahin zu verstehen, daß die für die Bewältigung der Automationsarbeit erforderlichen Qualitäten i m Durchschnitt geringer sind als vergleichbare Tätigkeiten i n vorhergehenden Phasen des technischen Fortschritts. Bright fragt, um das Problem auf eine einfache Formel zu bringen, i m Vergleich: „Ist das moderne Auto mit automatischem Getriebe und automatischer Kuppelung, m i t Servo-Bremsen und Servo-Steuerung schwerer oder leichter zu fahren als ein Ford T-Modell? Wer braucht größeres Können und größere Erfahrung zur erfolgreichen Arbeit: Die Hausfrau, die i n einem automatischen Ofen backt oder ihre Großmutter, die die Kunst des Backens i n ihrem Kohleofen durch lange Erfahrung lernen und ununterbrochen sorgfältig aufpassen mußte, damit der Kuchen gelingen sollte 18 ?" So ist das Resümee bei Bright: Die Stufen des technischen Fortschritts, von der Werkzeugbenutzung über die Maschine bis zu selbstkontrollierenden automatischen Anlagen führen zu einer Arbeitserleichterung i n jeder Hinsicht. Die Anforderungen an die einzelnen Qualifikationsmerkmale erreichen je nach dem gegebenen Me18

STERN-Dokumentation, S. 217. James R. Bright: Automation and Management, Boston 1958. James R. Bright: Erhöht die Automatisierung die Anforderungen an das Können?, i n : Zeitschrift f ü r fortschrittliche Betriebsführung (Arbeitswissenschaftlicher Auslandsdienst) 1959, S. 20. 17

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chanisierungsgrad irgendwann einmal ihren Höhepunkt, sinken dann aber i m Zuge des weiteren technischen Fortschritts so gut wie immer ab. Gegen die Untersuchung von Bright kann man allerlei einwenden; insgesamt aber ist wohl richtig, daß die Wirkungen der Automation i n mancher Hinsicht überschätzt, bzw. i n einer zu simplen Weise positiv ausgelegt wurden, nämlich durch die kurzschlüssige Folgerung, Höherqualifizierung bedeute Höherqualifizierung i n dem uns naheliegenden, aus Vergangenheit und Gegenwart abgeleiteten Sinne. Diese Einstellung kommt selbst bei Bright noch zum Ausdruck, wenn er resignierend konstatiert: „Ich bedaure den Verlust der Geschicklichkeit und des beruflichen Könnens. Es scheint mir, daß die Automation diese wunderbare Quelle der Arbeitsbefriedigung zerstört 1 9 ." Solcher Pessimismus scheint indessen auf einem zu engen Blickfeld zu beruhen; die Frage ist noch gar nicht radikal genug gestellt. Denn die von Bright ermittelte Herabstufung der Berufsqualifikation bezieht sich auf das Maschinenbedienungspersonal, dessen Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten zurückgeht 20 . A u f eine längere Zukunft gesehen, muß man wohl sagen, daß die von Bright ermittelte Herabstufung ein Teilaspekt der Freisetzung und der daraus folgenden Umsetzung von Arbeitskräften ist 2 1 . I n der vollautomatisierten Fabrik verschwindet „der Mensch als m i t w i r kende Ursache aus dem Zweckmittelsystem", weil i n ihr die „nicht mehr aktivierte menschliche Tätigkeit i n einen Vorprozeß verlegt ist, zu dem die automatisierte Fabrik den Anhang bildet" — dieser Anhang w i r d eines Tages völlig menschenleer sein 22 . W i r fragen als Pädagogen: Wo aber werden die Menschen sein? Die technisch-wissenschaftliche Zivilisation definiert das „Arbeiten" als zu vermeidendes oder wenigstens zu beschränkendes Übel. Hans Achinger hat das den Kampf gegen die Arbeit genannt 23 . I n solcher Formel sind alle Kräfte gefaßt, die auf Verminderung der Arbeitslast i n physischer und zeitlicher Beziehung zielen, nämlich Übertragung der körperlich anstrengenden Funktionen auf die Apparatur, Verkürzung der Arbeitswoche, aber auch die Einschränkung des Arbeitslebens dadurch, daß die Ausbildungszeiten verlängert und die Altersgrenze für den Ruhestand herabgesetzt wird. „Jeder Rückzug aus der Arbeit gilt 19 James R. Bright : Lohnfindung an modernen Arbeitsplätzen i n den USA, i n : Automation u n d technischer Fortschritt i n Deutschland u n d den USA, F r a n k f u r t a. M. 1963, S. 192. 20 Vgl. Wolf gang Lempert: Die Z u k u n f t der Lehre, i n : Neue Sammlung 1963. 21 Vgl. Wigand Sieb ei: Berufsqualifikationen i m automatisierten Industriebetrieb, i n : Soziale Welt 1964, S. 304. 22 Vgl. Wigand Siebel, a.a.O., S. 304 (nach einem Zitat von Goetz Briefs aus dem Jahre 1931!). 23 Hans Achinger: Der K a m p f gegen die Arbeit, i n : Unser Verhältnis zur Arbeit, Stuttgart 1959.

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als Fortschritt" 2 4 . Solcher Fortschritt aber hat seinen Preis. Er fordert die Transformation der Bedingungen, unter denen der Mensch sich zur Gesellschaft und über sie zu sich selber verhält. Ohne genau sagen zu können, welche technischen Anforderungen morgen an den Menschen gestellt werden, an wie viele und i n welchem Ausmaß, so ist doch sicher, daß diese Anforderungen immer mehr und immer schneller, und zwar i n dem Maße, i n dem die körperlich schwere Arbeit der Apparatur übertragen wird, auf Planung, Entwicklung und Forschung bezogen sein werden. Unter dem Aspekt der Erziehung ist es demgegenüber ein fruchtloser Streit, nach dem definitiven Maß solcher theoretisch-intellektuellen Höherqualifizierung zu fragen. Denn an diesem, als solchem unzweifelhaften Vorgang hängt ein Weiteres: Damit der Mensch die K u l tur schaffen konnte, war eine institutionalisierte Unterdrückung von Lebensfreude und Bedürfnissen notwendig 2 5 . Verzicht und Unterdrükkung, wie sie harte und mühselige Arbeit verlangt, war begründet i n Lebensnot. Diese Rechtfertigung für die Unterdrückung w i r d aber hinfällig, je mehr Möglichkeiten zur mühelosen Bedürfnisbefriedigung sich mit wachsender Naturbeherrschung ergeben. Die Technisierung der Welt vermindert also die repressive Ausnützung der menschlichen Arbeitskraft, gibt Zeit frei für die Entfaltung individueller Bedürfnisse und gestattet es, die ökonomisch notwendige Ausbildung nicht allein ökonomisch sehen zu müssen. Die Großartigkeit dieses Ergebnisses des technischen Fortschritts muß gegen allen sich wichtig nehmenden K u l t u r pessimismus betont werden. Aber je näher die reale Möglichkeit rückt, den einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien, desto mehr stärkt sich gleichwohl der Widerstand gegen solche Freisetzung 26 . Die Abwehr besteht i n der Hauptsache i n der Verstärkung der Kontrolle über unser Bewußtsein. Die Manipulierung des Bewußtseins aber ist selbst eine Möglichkeit technologischer Rationalität. D. h. i n der gleichen Kraft, die die Befreiung des Menschen zu leisten vermöchte, liegt die Tendenz, den Menschen erst recht zu versklaven und zwar so, daß er es vielleicht selber überhaupt nicht mehr merkt. Das bedeutet, daß für den Augenblick, i n dem die Bewußtseinsmanipulation lückenlos gelingt, die gegebene Herrschaftsstruktur verewigt wird, obwohl sie keinen Grund mehr hat: Technische Verfügung über die Geschichte durch einen lernenden Automaten, der die Gesellschaft kybernetisch steuert 27 . 24

Christian v. F erb er: Arbeitsleid i n der Wohlstandsgesellschaft, i n : Soziale Welt 1964, S. 293. 25 Der Gedankengang w i r d hier i n enger Anlehnung an Formulierungen von Herbert Marcuse: Triebstruktur u n d Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M. 1965, S. 94/95, vorgetragen. 26 Vgl. Herbert Marcuse: a.a.O., S. 95. 27 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie u n d Praxis, Neuwied 1963, S. 250.

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W i r können an dieser Stelle einhalten. Was w i r bisher bedacht haben, erlaubt einige Bemerkungen zur Erziehung für die Arbeitswelt von morgen: 1. W i r können nicht sagen, welche speziellen Fähigkeiten wieviele Menschen i n der Arbeitswelt von morgen haben müssen. Die Aussagen darüber sind kontrovers, mehrschichtig und vorerst wenig exakt. Entsprechende Forschungen beginnen erst 28 . Der Pädagoge ist kein Superwissenschaftier, der hier zum Urteilsspruch ermächtigt wäre. Wohl aber besteht Gewißheit darüber, daß w i r i n Zukunft sehr viel mehr theoretisch und wissenschaftlich qualifizierte Menschen benötigen als bisher, daß die Anforderungen sich von den gegenwärtigen wesentlich unterscheiden werden und schließlich, daß die Anforderungen während eines Arbeitslebens für viele Menschen mehrfach grundlegend wechseln werden. Daraus folgt: I n der Erziehung können die Spezialleistungen nicht mehr für das ganze Arbeitsleben lernend vorweggenommen werden. Vielmehr müssen i n erster Linie die Voraussetzungen für das Erlernen mannigfacher Spezialleistungen gelegt werden, d. h. die Disponibilität für sehr verschiedene und i m einzelnen nicht vorhersehbare Befähigungen. Es ist klar, daß eine solche Erziehung sehr viel intellektueller sein w i r d als die bisherige, daß insbesondere der Praktizismus und die Übertragung von akkumulierten Erfahrungsregeln i n der betrieblichen Lehrlingsausbildung ihre Bedeutung verlieren werden 2 9 . 2. Die Arbeits weit von morgen w i r d den Menschen zumindest zeitlich weniger i n Anspruch nehmen als bisher und die wie auch immer i m einzelnen bestimmten wechselnden Funktionen werden kein Berufsbewußtsein i m überlieferten Sinne mehr durch den Handlungsvollzug stiften 3 0 . Da aber der einzelne über seine Berufsarbeit teilnimmt an der politischen Ordnung, enthält seine Stellungnahme zur Arbeit zugleich eine solche zur Gesellschaft. Denn die Arbeit bildet ein wesentliches Stück der gesellschaftlichen Praxis, so daß sich an der kulturellen Definition der Arbeit ein Stück gesellschaftlichen Bewußt28

Vgl. H e r w i g Blankertz, Dieter Ciaessens , Friedrich Edding: E i n zentrales Forschungsinstitut f ü r Berufsbildung? Gutachten i m Auftrage des Senators f ü r A r b e i t u n d soziale Angelegenheiten des Landes Berlin, B e r l i n 1966 (als Manuskript vervielfältigt). 29 Diese industriestaatliche Tendenz ist stärker als andere Bedingungsfaktoren u n d setzt sich darum i n erstaunlich gleichsinniger Weise sowohl i n sozialistischen als auch i n kapitalistischen Ländern durch; vgl. H a r t m u t Vogt: B i l d u n g f ü r die Z u k u n f t , Entwicklungstendenzen i m deutschen Bildungswesen i n West u n d Ost, Göttingen 1967. 80 Vgl. H e r w i g Blankertz: Z u m Begriff des Berufs i n unserer Zeit, i n : H. Blankertz: Die Arbeitslehre i n der Hauptschule, neue pädagogische bemühungen, Essen 1967.

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seins offenbart 31 . Darum w i r d zentral zur Erziehung gehören, was vordem das Leben selbst zu leisten vermochte, die partielle Identifikation des Menschen mit seiner Arbeit. Andernfalls würde die A r beitssphäre als Zentralbereich gesellschaftlicher Macht der demokratischen Kontrolle vollends entzogen, statt — wie es die vernünftige Emanzipation des Menschen zu fordern hat — diese Kontrolle durchzusetzen. Aus diesem Grunde hat die Erziehung unter dem Postulat einer expansiven Bildungspolitik zu stehen, selbst dann, wenn die Arbeitsanforderungen das nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft forderten. Insofern ist Erziehung und ihre Projektierung nicht behindert durch die Widersprüchlichkeit verschiedener technokratischer Prognosen — das Bürgerrecht auf Bildung 3 2 ist ohnehin gesellschaftlich geboten, also unabhängig davon, ob Bright m i t seinen Thesen zur Abqualifizierung des Maschinenbedienungspersonals an automatischen Anlagen i m Recht ist oder nicht. 3. Die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen sind nicht allein definierbar durch die Arbeitsanforderungen i m engeren Sinne. Denn dasjenige, was dem Menschen zunächst zu seinem Nachteil auszuschlagen schien, ihn i n die Selbstentfremdung der industriellen A r beit trieb, eröffnet i h m nun eine nie dagewesene Chance. Aber die möglich gewordene Befreiung bringt das Maß der tatsächlichen Verknechtung zum Bewußtsein und legt gerade diese Diskrepanz, die Diskrepanz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, i n die Hand der Erziehung für morgen. Denn der hohe Lebensstandard der fortgeschrittenen Industriegesellschaft stellt sich der freigegebenen Möglichkeit hemmend entgegen. Produktion und Konsum rechtfertigen die Herrschaft des Menschen über den Menschen und verleihen ihr Dauer. So zahlt, wie Herbert Marcuse gesagt hat, der Mensch „ m i t dem Opfer seiner Zeit, seines eigenen Bewußtseins, seiner Träume; die K u l t u r zahlt dafür mit der Preisgabe ihrer eigenen Versprechungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für alle" 3 3 ; die K u l t u r zahlt mit der Preisgabe der Humanität. Damit sind w i r an jenen Punkt zurückgekehrt, bei dem unsere Überlegungen einsetzten, bei dem utopischen Element aller Erziehung, die Menschlichkeit des Menschen und damit eine bessere Welt i m Vorgriff zu sichern. Bisher mußte solche Utopie bloße Utopie bleiben, weil sie ohnmächtig war gegen den Zwang der jeweils gegenwärtigen Anforderungen der Arbeitswelt, die die Unterdrückung zum Zwecke des Fortschritts erzwangen. Die Erziehung für die Arbeitswelt von morgen hin31 Christian von F erb er: Arbeitsleid i n der Wohlstandsgesellschaft, i n : Soziale Welt, 1964, S. 297. 32 Ralf Dahrendorf: B i l d u n g ist Bürgerrecht, Die Zeit-Bücher 1965. 33 Herbert Marcuse: T r i e b s t r u k t u r u n d Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M . 1965, S. 102.

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gegen muß schon u m der Anforderungen selbst willen diese Schranke überspringen, dies freilich nicht mehr als Utopie eines einzelnen Denkers, sondern m i t den M i t t e l n der Wissenschaft: Analyse, Modell, Planung. Dahingehende Aufgaben nehmen Bildungsforschungen und Erziehungswissenschaft gerade heute i n Angriff. Das Ergebnis w i r d — das kann man schon heute mit einiger Sicherheit voraussagen — das Konzept einer Erziehung sein, gekennzeichnet durch Aspekte, die hier lokker, unsystematisch und ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit oder definitiver Verbindlichkeit i n 8 Punkten angedeutet werden sollen: 1. Relative Entspezialisierung i m praktischen Bereich: Theoretisierung und Reflektivität 3 4 ; 2. Aufhebung des Unterschiedes von Allgemeinbildung und Berufsbildung 3 5 ; 3. technisch-wissenschaftliche und ökonomische Grundbildung für alle 3 6 ; 4. Konzeption des Schul- und Hochschulwesens aus einem übergreifenden Prinzip 3 7 ; 5. allgemeine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr 3 8 ; 6. Absterben der uns noch so vertrauten betrieblich-praktischen Lehrlingsausbildung 39 ; 7. enorme Steigerung der Quote der Abiturienten, der Fach- und Hochschulabsolventen 40 ; 8. planmäßige und m i t allen zur Verfügung stehenden M i t t e l n durchgesetzte Erfassung der bisher für höhere Bildungsqualifikationen unterrepräsentierten Gruppen — Landkinder, Arbeiterkinder, Mädchen und katholische Kinder 4 1 . Die naheliegende Frage, ob einem solchen Erziehungssystem nicht unüberwindbare Hindernisse i n der Begabungs- und Intelligenzstruktur 34 Vgl. z. B.: Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- u n d Bildungswesen, Folge 7/8 der Ausschuß-Veröffentlichungen, Stuttgart 1964; Heinrich Abel: Berufsvorbereitung u n d Berufsausbildung, i n : Automation, Risiko u n d Chance, Bd. I I , F r a n k f u r t 1965; H a r t m u t Vogt: B i l d u n g f ü r die Z u k u n f t , Göttingen 1967; Wolf gang Lempert: Berufsbildung u n d Demokratie, i n : Neue Sammlung 1965. 35 Vgl. H e r w i g Blankertz: Berufsbildung u n d Utilitarismus, Düsseldorf 1963. 36 Vgl. Hans Bokelmann: Die ökonomisch-sozialethische Bildung, Heidelberg 1964; H e r w i g Blankertz: Bildungstheorie u n d Ökonomie, i n : Pädagogische Provokationen I , Weinheim 1966; H e r w i g Blankertz: Die Arbeitslehre i n der Hauptschule, neue pädagogische bemühungen, Essen 1967. 37 Vgl. C a r l - L u d w i g Furck: Schule f ü r das Jahr 2000, i n : Neue Sammlung 1963. 38 Vgl. C a r l - L u d w i g Furck , a.a.O. 39 Vgl. C a r l - L u d w i g Furck , a.a.O.; Wolfgang Lempert: Die Z u k u n f t der Lehre, i n : Neue Sammlung 1963; Wolfgang Lempert , Heinrich Ebel : Lehrzeitdauer, Ausbildungssystem u n d Ausbildungserfolg, Freiburg 1965. 40 Vgl. Ralf Dahrendorf: B i l d u n g ist Bürgerrecht 1965. 41 Vgl. Ralf Dahrendorf, a.a.O.

16 Festgabe für Gert von Eynern

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der Menschen gesetzt seien, ist dahingehend zu beantworten, daß zwar nicht anzunehmen ist, eine grenzenlose Expansion der intellektuellen Bildung sei möglich, daß aber von diesen Grenzen selbst die m i t ihren Bildungseinrichtungen am meisten fortgeschrittenen Industrienationen noch weit entfernt sind. Selbst unter Berücksichtigung unserer gegenwärtigen Möglichkeiten, ist es absurd anzunehmen, Kinder vom Lande, Arbeiterkinder, Mädchen und Katholiken seien weniger bildungsfähig als andere, sondern es ist evident, daß unsere Gesellschaft und das von ihr getragene Erziehungssystem es diesen Gruppen, oder einigen von ihnen, besonders schwer macht, Begabungen entfalten zu können. Doch das ist ein Problem der Bildungspolitik von heute. Für eine weitere Zukunft ist demgegenüber noch etwas ganz anderes zu bedenken, nämlich daß die Wissenschaft von der Erziehung kaum erst angefangen hat. Zwar hat die abendländische Pädagogik eine große und unaufgebbare Tradition, aber diese Tradition ist ein philosophierendes Denken über U r sprung, Sinn und Maß menschlicher Bildung, nicht eine Technologie zur Steigerung der Effektivität des Handlungsvollzuges. Verglichen beispielsweise m i t dem, was an wissenschaftlicher Potenz für die Weltraumforschung aufgeboten ist, befinden w i r uns m i t unserem Wissen über die Bedingungen von Lehren und Lernen, Stiften von Begabungen und Stärkung der individuellen Möglichkeiten noch auf einer Steinzeitstufe. Welche Möglichkeiten hier die Zukunft bringen wird, ist i m einzelnen ebensowenig abzusehen wie die konkreten Anforderungen der künftigen Arbeitswelt. Sicher hingegen ist, daß nicht allein die Organisation der Erziehung wissenschaftlich geplant sein wird, sondern daß auch Erziehung, Schule und Unterricht selbst i n einer uns befremdlich dünkenden Weise technisch-wissenschaftlichen Charakter haben werden 4 2 : Schon sehen w i r den Schüler vor uns, dessen bildungsrelevante Daten eine Lochkarte aufnimmt, die er einer Maschine zuführt und daraufhin sein Lehrprogramm erhält. I m Maschinenraum w i r d er sich m i t der Lochkarte identifizieren, eine Maschine w i r d die Leitung seiner Studien übernehmen, eine Maschine w i r d i h m die Selbstkontrolle ermöglichen, audiovisuelle Hilfen geben und den Fortschritt des Lernens seinem individuellen Leistungsvermögen anpassen. Wohl w i r d er i n der Schule auch noch m i t Menschen zusammentreffen, m i t Lehrern, Maschinenmeistern und Experten verschiedener Wissenschaften, aber dieses Zusammentreffen w i r d i n hohem Maße emotional entlastet und versachlicht sein 43 . Solche Konsequenzen sind unausweichlich; sie liegen auf dem Wege i n die Zukunft. Der Bereich des Objektivierbaren, Machbaren und Reproduzierbaren muß unaufhörlich wachsen, weil die von Menschen 42 Vgl. Alfons Otto Schorb: Der programmierte Unterricht — Automatisierung der Bildung?, neue pädagogische bemühungen 27, Essen 1966. 43 Vgl. Wolfgang Hochheimer: Lernen m i t Maschinen? i n : Blankertz u. a., Technik — Freizeit — Politik, neue pädagogische bemühungen 26, Essen 1965.

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geschaffenen Bedingungen für die Entwicklung der technischen Zivilisation identisch sind m i t dem Willen zum Künstlichen, zur Emanzipation von der organischen Natur 4 4 . Insofern gibt es hier keine letzten Bastionen zu verteidigen; das müßte bald so lächerlich sein, wie uns gewisse zeitgenössische Einwände bei der Erfindung der Fotografie oder ähnlichen Anlässen erscheinen. Gibt es also an dieser Stelle nichts zu verteidigen für den, der die Jugend i n Zukunft gewinnen lassen w i l l , so kann und muß doch die Frage gestellt werden, was denn eigentlich zu t u n ist, damit die durch Wissenschaft und Technik entgötterte Welt nicht selbst zu einem Mythos werde 4 5 , daß nicht Erziehung durch Manipulation des Bewußtseins Unterwerfung und Preisgabe fördert, statt die soziale Mobilität als die Daseinsmöglichkeit der freigesetzten Subjektivität zu nutzen. Die A n t w o r t darauf hat i n einem allgemeinen Umriß Theodor Adorno formuliert, als er darauf hinwies, daß der Fortschritt i m humanen Sinne seine Wahrheit darin hat, daß er, während er die gesellschaftliche Bewegung artikuliert, dieser zugleich widerspricht 4 6 . Pädagogisch gewandt heißt das, daß die i m Medium der Wissenschaften und des Machbaren entfaltete Erziehung für die Welt von morgen zugleich kritische Vernunft gegen das Diktat jener Prinzipien entbindet. Die dadurch entstehende Distanz macht den Widerspruch gegen das jeweils Gegebene und seinen Herrschaftsanspruch allererst möglich 47 . So w i r d die Erziehung für die Arbeitswelt von morgen bei aller Planung und technologischer Rationalität entscheidend eine bisher immer wieder als utopisch verworfene Anstrengung enthalten müssen, nämlich die intellektuelle Potenz der Gesellschaft, die handelnden gesellschaftlichen Subjekte zu befreien zu ihrer wahren Möglichkeit, und zwar durch A u f klärung und Bildung, nicht durch sozialtechnische Bewußtseinsmanipulationen. Freilich, die Erinnerung an die aufgehäufte Schuld der Menschheit gegenüber ihren Opfern verdunkelt — wie ich abschließend noch einmal m i t Herbert Marcuse sagen möchte — die Aussichten auf eine K u l tur ohne Unterdrückung 4 8 . Aber vielleicht ist dieser dunkle Schatten der Vergangenheit die durchschlagende Triebkraft einer Erziehung für die Zukunft. 44 Vgl. H e r w i g Blankertz: Die Menschlichkeit der Technik, i n : Blankertz u. a., Technik — Freizeit — Politik, a.a.O. 45 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie u n d Praxis, Neuwied 1963, S. 256. 46 Theodor W. Adorno: Fortschritt, i n : Argumentationen, Festschrift für Josef König, Göttingen 1964, S. 6. 47 Vgl. H e r w i g Blankertz: Bildungstheorie u n d Ökonomie, i n : Pädagogische Provokationen I, Weinheim 1966; H e r w i g Blankertz: Bildungsbegriff, i n : Dahmer, Klafki: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche, Weinheim 1967. 48 Herbert Marcuse: Triebstruktur u n d Gesellschaft, F r a n k f u r t a. M. 1965, S. 233.

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Ein Klassenkampf der Intellektuellen? Prolegomena zu einer unabweisbaren Theorie Von Otto Heinrich von der Gablentz Neue soziale Fronten A m 27. Januar 1848 warnte Alexis de Tocqueville die französische Regierung und die Opposition, der er selber angehörte, i n einer großen Parlamentsrede: es möge richtig sein, daß kein Anlaß zu einer politischen Revolution bestände; aber es seien alle Anzeichen einer sozialen Revolution zu erkennen, die alle Fundamente der Gesellschaft ins Wanken bringen könnte. Drei Wochen später war die politische Revolution m i t dem sozialen Hintergrund da, die „soziale Republik", nach 4 weiteren Monaten die echte soziale Revolution. Sollte unsere westliche Gesellschaft i n ähnlicher Lage sein? Für eine politische oder soziale Revolution von innen sind weder Gründe noch Träger zu entdecken. Arbeiter und Bauern sind nicht mehr revolutionär; der Klassenkampf ist i n den Hintergrund getreten. C. Wright Mills, der Abgott der jungen amerikanischen Radikalen, ist ein unverdächtiger Zeuge 1 . Aber dem Betrachter unserer Zustände kommen ähnliche Sorgen, wie sie Tocqueville bewegt haben. Hinter einer bedrückenden politischen Apathie grollt ein soziales Unbehagen neuer A r t . Weder das Subjekt noch das Objekt dieses Unbehagens ist recht deutlich. Es richtet sich gegen „die da oben, die m i t uns ja doch machen, was sie wollen". Aber „die da oben" sind keine fest umrissene führende Schicht, i n keinem der betroffenen Länder. Fragt man die Unzufriedenen i n Deutschland, dann sind es je nachdem die Parteien — ohne Unterschied zwischen Regierung und Opposition; von unten gesehen, ist die große Koalition längst vorweggenommen. Es ist die Bürokratie, nicht nur die öffentliche, auch die der Gewerkschaften und anderer Verbände; es ist alles, was nach sozialem Apparat aussieht, die Schulen und Universitäten, kurz und gut die etablierte Macht i m Großen wie i m Kleinen, das establishment. Fragt man i n Amerika, dann sind es die Bürokratie, big business, das management i n Unternehmung und Verwaltung, die Liberalen, die sich i n der demokratischen Partei nicht von den Reaktionären des Sü1 C. W r i g h t Mills: On the N e w L e f t (1961), abgedruckt i n Paul Jacobs u n d Saul Landau: The New Radicals. A Report w i t h Documents. New Y o r k 1966 S. 109.

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dens trennen können — erst i m Hintergrund und bei wenigen Aufgeklärten eine definierbare Gruppe, die Power Elite 2 . N u n erheben sich zwei Gruppen von Sprechern, keineswegs als solche von den Massen anerkannt, aber ernsthaft versuchend, zu artikulieren, was sie bewegt: die Künstler und die Studenten. Die Kunst provoziert das Establishment, von der Bühne wie von den Ausstellungen her, sie sprengt die alten Formen und schockiert m i t neuen Inhalten, politisch radikal, massiv amoralisch, religiös blasphemisch. Dafür daß die Künstler nicht als Außenseiter abgetan werden können, sorgen die Studenten. Sie fangen an mit hergebrachten Forderungen des Fortschritts: die Berliner wollen Kuby hören, den politisch Radikalen; ein ungeschickter Rektor verbietet es ihnen. Die Studenten von Berkeley verlangen Free Speech auch für die Verbreitung politischer Schriften; ein hilfloser chancellor ruft die Polizei. Aber nachdem der Widerspruch einmal entfesselt ist, sind neue Töne zu hören. Das ist nicht mehr Unbehagen, das ist eine verzweifelte Enttäuschung; das ist nicht Skepsis, sondern — oft i n zynischer Maske — der Ausdruck einer Sehnsucht nach Sinn und Zusammenhang, nach Selbstbestimmung und Verantwortung. Das ist nicht Revolution einer Gruppe, sondern Revolte der vielen Einsamen. „ I am a human being — don't fold or mutilate" steht auf einem Plakat i n Berkeley. „ W i r wollen nicht von Fachidioten zu Fachidioten abgerichtet werden" rufen die Berliner. Jetzt geht es nicht nur gegen die Universitätsverwaltung, sondern auch gegen die Universitätslehre. Es geht nicht nur gegen die „Reaktion", gegen Politiker, Kirchenleute, Professoren, die an der alten Sinndeutung einer „heilen Welt", an staatlicher Autorität, an sozialer Hierarchie, an puritanischer Moral festhalten. Genau wie Tocqueville 1848 vorausgesagt hatte, geht es auch gegen die Opposition. Die Liberalen sind am meisten enttäuscht: sie hatten reformiert und rationalisiert, sie hatten den Studenten die Kategorien gelehrt, die moderne Welt zu begreifen i n ihrer unvermeidlichen technischen und organisatorischen Spezialisierung, sie hatten sie vorbereitet für wissenschaftliche Betriebsund Verwaltungsführung, für Demokratie. Und nun wurden sie selber zum alten Eisen geworfen; Lieber i n Berlin wurde sowenig m i t den Studenten fertig wie Clark Kerr i n Berkeley. Nun sollten sie, die überzeugten Humanisten, „Fachidioten" sein! Was sich hier ankündigt, bei den Künstlern wie bei den Studenten, ist etwas anderes, als die soziale Umwälzung. Diese Aufkündigung der Autorität ist Ausdruck einer geistigen Revolution. Die hergebrachte Sinndeutung der Welt, die religiöse, die philosophische, die politische, ist unglaubhaft geworden. Aber der relativistische Verzicht auf Sinndeutung ist unerträglich. Ein schöpferischer Künstler, ein junger Mensch, 2

C. W r i g h t Mills:

The Power Elite. New Y o r k 1956.

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der gestalten w i l l , kann damit nicht auskommen. U n d nun bricht sich Bahn der ungestüme Wille nach etwas ganz Neuem, von dem nur Eins feststeht: es muß wieder Person und Sache, Mensch und Ding, Freiheit und Verantwortung verbinden. Das Leben muß einen Sinn haben, er muß gefunden und erfüllt werden. Es geht nicht u m Einzelheiten, es geht ums Ganze. Auch das hatte Tocqueville schon 1848 gewußt: „Halten Sie meinetwegen an den Gesetzen, sogar an den Personen fest. Aber ändern Sie um Gottes w i l l e n den Geist der Regierung, denn dieser Geist von heute führt Sie i n den Abgrund." U m die gesellschaftliche Bedeutung und den historischen Ort dieser Erscheinungen zu fassen, muß man den Versuch machen, diese Begriffe „establishment" und „homme révolté" i n allgemeinen Kategorien auszudrücken. Handelt es sich um einen Klassenkampf? Handelt es sich um eine Revolution? W i r müssen fragen, wieviel soziale Realität überhaupt mit dem Begriff „Klasse" erfaßt wird, ob der Begriff der Revolution so eindeutig ist, daß man den homme révolté von i h m lösen könnte. A l l e soziologischen Begriffe sind Verallgemeinerungen bestimmter historischer Modelle. W i r können und müssen den Begriff Klasse so abstrakt fassen, daß er auf verschiedene Epochen und Kulturen paßt. Aber er ist nicht zu trennen von der Erfahrung der Proletarierklasse i n der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Und der Revolutionsbegriff ist geprägt von der einmaligen Erscheinung der großen französischen Revolution und ihren Folge- und Nebenerscheinungen. Zum Klassenbegriff gehört die Scheidung i n zwei: oben und unten. Eine soziale Gruppe w i r d zur Klasse, wenn das verbindende Element nicht mehr — oder nicht mehr i n erster Linie — durch Herkunft, Leistung oder Bekenntnis gebildet wird, sondern durch die bloße Tatsache, oben oder unten zu sein, zu herrschen oder unterdrückt und ausgebeutet zu werden. Die Klassenlage kann sich i n sehr verschiedener Weise i n Klassenbewußtsein manifestieren. Der Oberklasse w i r d es sehr oft und sehr lange fehlen, weil sie ja noch andere Bindungen hat und sich leicht m i t dem sozialen Ganzen identifiziert. Klassensolidarität erscheint dann als National- oder Kulturbewußtsein. I n der Unterklasse w i r d die Solidarität bewußter und führt zum Klassenkampf i n den verschiedensten Formen, bis hin zur Revolution. Revolutionen erkennt man daran, daß nach ihrem Ablauf die Ordnung der Gesellschaft, der Stil des Lebens andere geworden sind. Sie beschränken sich nicht auf Teilabschnitte der Gesellschaft. Die geistigen Revolutionen des Humanismus und der Reformation gingen Hand i n Hand m i t der Erfindung des Buchdrucks und den großen geographischen Entdeckungen. Die französische Revolution setzte sich politisch fort m i t Hilfe der industriellen Technik, die russische Revolution wurde weltbewegend, weil sie sich der neuesten Verkehrs- und Informationsmittel

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und Waffen bedienen konnte. Alle großen Revolutionen gehen vor sich unter Bedingungen, hinter die die betroffene Gesellschaft nicht zurück kann, und sie ziehen alle Nationen, mindestens des betreffenden K u l turkreises i n Mitleidenschaft. Solche eine Wandlung von Grund auf ist heute i m Gange. Das Bildungsproblem und die Intellektuellen Vergleicht man die europäischen Revolutionen der letzten Jahrhunderte, dann fällt auf, wie sich die Bedeutung der gesellschaftlichen Grundfunktionen verschoben hat. I m 16. Jahrhundert und bis i n den dreißigjährigen Krieg hinein stand i m Vordergrund die Religion. Sie wurde abgelöst durch die Politik. I m 19. und i n der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Wirtschaft bestimmend. Seit den 50er Jahren gehen i n allen Ländern die öffentlichen Diskussionen u m die Bildung — m i t einer Intensität, die bisher unbekannt war. Wirtschaft, teilweise sogar Politik, treten dahinter zurück — wenigstens i n der Diskussion, wenn auch noch längst nicht i n der realen Bewertung. Man kann es auch so ausdrücken: der Bereich der Sorge u m die Freiheit hat sich verlagert, von der Kultusfreiheit des Gläubigen zur politischen Mitbestimmung des Bürgers, von da einerseits zur Freiheit des Wettbewerbs, andererseits zur Mitbestimmung des Arbeiters und Konsumenten über die Produktion, und schließlich zur Teilnahme aller an allen Gütern der B i l dung, wobei sich dann diese Güter und noch mehr die Methoden ihrer Vermittlung als recht fragwürdig erweisen. Bei der Umwertung aber treten die Grundfragen nach dem Sinn des Lebens und Handelns wieder i n den Vordergrund; i n der Profanität w i r d der Bereich der Religion als sozialer Grundfunktion wieder erschlossen. Die Frage nach dem Geist beschäftigt die öffentliche Diskussion vordringlich, und damit wendet sich die Aufmerksamkeit den Gruppen zu, die hier i n erster Linie betroffen sind: der Jugend, besonders der akademischen, und den Intellektuellen. I m Verlauf der abendländischen Geschichte hat sich das Problem der Bildung und Erziehung lange Zeit hinter anderen versteckt. Einer der Gründe war die Teilung i n weltliche und geistliche Gewalt. Sie führte zu klerikaler und ritterlicher Standesbildung. I m Humanismus wurde die Gelehrsamkeit profaniert, i n der Reformation wurde die Mündigkeit des einzelnen Christen entdeckt und ein Mindestmaß von Volks-Schulbildung eingeführt. Aber brennend wurde das Problem erst m i t der Aufklärung. Sie half dem Nationalstaat die Schulpflicht durchzusetzen, die er brauchte, um die Bevölkerung für Staats- und Heeresdienst wie für Industrie und Handel manipulieren zu können. Sie schuf den Anspruch der Bildungsschicht, die Gesellschaft zu führen, wie der Klerus i m frühen Mittelalter. Aber die Schule war

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Staats- oder Gemeindesache, der Lehrer also ein Bediensteter der politischen Macht. Die höhere Bildung für die Oberklasse, die Volksbildung für die Unterschicht blieben getrennt, am stärksten bis heute i n Deutschland. Für die technische Bildung wurden Sondereinrichtungen geschaffen. Bildung und Ausbildung waren Sache des Lehrers, Erziehung Sache der Familie. I m angelsächsischen Bereich sah es etwas anders aus. Die Schularten waren besser verzahnt, der Familie wurden schon früher Aufgaben abgenommen, die sie i n der spezialisierten Industriegesellschaft nicht mehr leisten konnte. Systematische Pflege der Wissenschaft war für die Regierungen ein Prestigefaktor, für den man sich wissenschaftliche Institute hielt, oder eine Routineaufgabe innerhalb der Wirtschaft und vielleicht noch der Wehrmacht. Wenn man schon nach öffentlicher Bedeutung fragte, dann galt die fragwürdige Symbiose „Kunst und Wissenschaft" die man dann als „ K u l t u r " , als Dekoration, der realen Banalität von Politik und Ökonomie gegenüberstellte. Widerspruch kam von Lehrern und Gelehrten, die als Interessenten behandelt, und von einzelnen Intellektuellen, die als Außenseiter beiseitegeschoben wurden. Die Leistungen der Schule und der Wissenschaft schienen dieses System zu rechtfertigen. Inzwischen aber hatte Rußland aus der Not des Analphabetentums die Tugend eines neuen Anfangs gemacht, der unbelastet war von den Vorstufen und Vorurteilen der westlichen Entwicklung. Von der Volksschule bis zur Universität und zur akademischen und außerakademischen Weiterbildung wurde ein einheitliches System aufgebaut, i n dem die technische Bildung von vornherein den Platz hatte, der ihrer Bedeutung i m 20sten Jahrhundert entsprach. Und eines Tages flog der Sputnik u m die Erde. Der Schock war am größten i n Amerika, wo man sich seiner Überlegenheit am sichersten geglaubt hatte. Aber er übertrug sich schnell auf die westlichen Länder. Man zog Bilanz und war erschüttert von den Ergebnissen. I n Deutschland dauerte es besonders lange, bis die Öffentlichkeit durch Pichts Vorhersage der „Bildungskatastrophe" aufgescheucht wurde. Die deutsche Lage ist beispielhaft, weil sich i n unserem System der unübersichtlichen Dezentralisation die Vorbelastungen, auch aus den positiven Entwicklungen der letzten 200 Jahre, besonders deutlich erkennen lassen. Natürlich geht jedes K i n d zur Schule. Natürlich w i r d es von einem Lehrer unterrichtet, der etwas gelernt hat. Natürlich unterrichtet der Lehrer nach Vorschrift. Drei Feststellungen — drei Fragen. Sind die Schulen so gut, daß sie die Kinder für das Leben i n der gegenwärtigen Gesellschaft vorbereiten? Haben die Lehrer das gelernt, was sie brauchen, um richtig zu unterrichten? Entsprechen die Vorschriften und Lehrbücher den Anforderungen unserer Tage? W i r wissen, wie negativ

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die A n t w o r t auf alle drei Fragen lautet. Nicht nur, das Schulsystem zu reformieren, sondern für die nächsten Jahrzehnte den Lehrernachwuchs zu gewinnen und zu bilden, die nötigen Räume für Schulen wie für Lehrerbildung zu erstellen, erfordert einen Konsumverzicht, den dem Volk zuzumuten, unsere Politiker sich noch längst nicht durchgerungen haben 3 . Die amerikanischen Verhältnisse sind mit den deutschen nicht zu vergleichen. Der Abgang von der Highschool liegt 2 Jahre früher als unser Abitur, und das College vermittelt weniger Spezialausbildung als unsere Hochschule, hat seinen eigenen B.A.-Abschluß und ist keineswegs nur Vorstufe zur Universität. A u f der anderen Seite entsteht auch bei den Universitäten ein verstärkter Andrang. Die Berkeley-Unruhen sind zum großen Teil von undergraduates und drop-outs — wegen Versagens i m Examen ausscheidenden Studenten — getragen worden. Niemand bezweifelt mehr ernsthaft, daß w i r viel mehr Menschen brauchen m i t einer Bildung, die gleichzeitig speziell ist und doch vielseitig genug, um Umstellungen zu erleichtern. Dem aber steht gegenüber ein Universitätssystem, das sich diesen wachsenden Ansprüchen qualitativ und quantitativ schwer anpassen kann. Es w i r d immer fraglicher, ob auch die beste Spezialbildung m i t den besten Lehrern unter den günstigsten Bedingungen überhaupt die Bedürfnisse der jungen Generation erfüllen kann. Nutzt die Aufwertung der Bildung, die w i r heute erleben, subjektiv und objektiv der Generation, der w i r sie vermitteln wollen? Subjektiv — das w i r d von den Führern der Studentenschaft leidenschaftlich abgelehnt. Sie wollen keine Kartothekkarten, keine austauschbaren Teile i n der Organisation sein, sondern Menschen, die frei über sich verfügen und selber die Organisationen auswählen und umbauen, i n denen sie einmal zu t u n haben. Das ist eine sehr verständliche Stimmung; erstens entspricht sie überhaupt dem Generationsgegensatz, und zweitens ist jede Studentengeneration aufsässig, denn der Student ist alt genug für berufliche und öffentliche Verantwortung und sitzt doch noch als Abhängiger auf der Schulbank. Aber für diese Generation kommt noch ein objektives Element dazu. I h r Erfahrungsbereich ist ein anderer als der ihrer Lehrer. Die heute 60- bis 70jährigen haben als Kinder noch mit ungläubigem Erstaunen den Zeppelin und die ersten Flugzeuge gesehen und lasen von den Erfolgen der drahtlosen Telegraphie. Z u ihren Füßen sitzt die TV-Generation. McLuhan erklärt diesen Gegensatz der Erlebnisdimension für

3 Georg Picht: 1964 S. 95.

Die deutsche Bildungskatastrophe. Ölten u. Freiburg i. B.

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eins der einschneidendsten Ereignisse der Weltgeschichte. Jedenfalls bringt das „elektronische Zeitalter" eine neue Erlebnisart und stellt eine ganz neue Klasse von Anforderungen an die Menschen — und das muß geistig bewältigt werden. Das aber kann nur eine Schicht tun, die über die nötige Einsicht verfügt und doch Abstand hat von der unmittelbaren Verantwortung; gleichzeitig w i r d von ihr verlangt, daß sie Einfluß nimmt auf die Verantwortlichen. Sie muß die Jugend verstehen und muß die Einsichten, die sie mit der Jugend teilt, den anderen vermitteln. Diese Schicht sind die Intellektuellen. Wer sind sie, wo stehen sie, wie sind sie für solche Aufgaben vorbereitet? Der Begriff „intellektuell" w i r d hier relativ breit verstanden: Glieder der Bildungsschicht, soweit sie nicht völlig zu Philistern degeneriert oder zu Interessenvertretern pervertiert sind. Sie dürfen die Fähigkeit, zwischen den Klassen zu schweben 4 , nicht verloren haben, auch wenn sie i m Augenblick festen Fuß gefaßt haben. Theodor Geiger gibt sich große Mühe, die „schöpferische Intelligenz" von den bloß „Gebildeten" oder gar den Akademikern — die ja außerhalb ihres Faches nicht selten herzlich ungebildet sind — zu unterscheiden 5 . Schon als Clémenceau i m Dreyfus-Streit den Titel für das „Manifeste des intellectuels" erfand, meinte er damit i n erster Linie die nicht professionell — als Anwälte, Ärzte, Professoren — abgestempelten Freunde Zolas, und Barrés erwiderte prompt m i t Goebbel'schem Geifern auf diese „wurzellosen, zersetzenden Elemente" 6 . Schumpeter 7 nimmt seine Beispiele gern von schillernden Gestalten, von den Sophisten, von Aretino, Voltaire, Wilkes. Er sieht als charakteristisches Merkmal den Mangel an direkter Verantwortung für praktische Dinge, den Mangel an jeder Kenntnis aus erster Hand, die nur aktuelle Erfahrung verleihen kann, und konstruiert sich danach die Schießbudenfigur eines Journalisten. M i r scheint hier eine Verwechslung vorzuliegen zwischen der Definition einer Rolle und der Definition einer Schicht. Die Rolle des Intellektuellen verlangt Abstand von der direkten Verantwortung, aber nicht jeder Vertreter der Schicht muß i n jedem Augenblick die Rolle ausüben. Rathenau war ein Intellektueller, aber er hatte Erfahrung i m Geschäft und i n der Politik; i n seinen Büchern verleugnete er sie nicht, aber er sah sich selber i n selbstkritischer Distanz. Das gilt aber für jeden gebildeten Fachmann, sobald er i n die Rolle des Diagnostikers oder „Futurologen" eintritt. 4

K a r l Mannheim: Ideologie u n d Utopie. Bonn, 1929. S. 123. Theodor Geiger: Aufgaben u n d Stellung der Intelligenz i n der Gesellschaft. K ö l n - Hagen, 1949. S. 12 ff. 6 Louis Bodin et Jean Touchard: Les intellectuels dans la société française. Révue française de Science Politique 1959 S. 837. 7 Joseph Schumpeter : Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie, Bern 1950, S. 240 f. 5

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Diese Rolle aber, der Blick i n die Zukunft und ihre Bedürfnisse, ist unabweisbar. Intellektuelle i n diesem Sinne hat es seit eh und je gegeben. Sie haben als Sophisten, als Kleriker, Humanisten, Juristen ihre Rolle gespielt als Berater der Herrschenden, als Seelsorger, nicht selten auch als prophetische Deuter revolutionärer Bewegungen. Auch Cola diRienzo und Thomas Müntzer gehören i n diese Reihe. Aber fast immer banden sie sich an die Interessen anderer Gruppen oder einzelner Mäzene. Das w i r d erst anders m i t der Aufklärung. Nicht nur die geheimen Gesellschaften w i r k e n als Gruppen, sondern grade auch ein öffentlicher und offener Kreis wie die Enzyklopädisten. Die Aufklärung war eine soziale Macht, „la révolution déjà en action". Daß einer ihrer reinsten Vertreter, Condorcet, Präsident der législative wurde und dann vor den Henkern Robespierres i n den Selbstmord flüchtete, zeigt ihre soziale Bedeutung und ihre Grenzen. Aus der Aufklärung erwuchs die spintisierende „Ideologie" eines Destutt de Tracy, aber auch die genialische, philantropische Spekulation eines St. Simon. Die Herrschaft der Weisen, von der er träumte, blieb eine wunderliche Utopie, erst recht i n der pedantischen Pseudoreligion seines großen und undankbaren Schülers Comte. Aber wie die Schüler St. Simons merkwürdigerweise auf ganz anderen Gebieten, z. B. i n der Bankorganisation und Verkehrstechnik, Großes geleistet haben, ohne seine Grundideen vom öffentlichen Dienst der Gebildeten zu verleugnen, so wurde er auch m i t Recht zum Ahnherrn des Sozialismus proklamiert. A u f seinen Wegen, „sagte ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr los und schloß sich der revolutionären Klasse an, . . . namentlich ein Teil der Bourgeois-Ideologen", der meinte, „sich zum Verständnis der ganzen historischen Bewegung hinaufgearbeitet zu haben" 8 . Man kann die Geschichte des Sozialismus i n dreifacher Weise schreiben: als Ideengeschichte — dann bleibt sie gerade i n den fesselndsten Abschnitten eine Geschichte der intellektuellen Bemühungen von Außenseitern; als Geschichte der Arbeiterbewegung — die aber ist nur zum Teil sozialistisch; oder als Geschichte der spannungsreichen Begegnung von Intellektuellen und Proletariern, deren Höhepunkte die posthume Durchsetzung der Marx'schen Lehren und der Durchbruch von Lenins Berufsrevolutionären sind. (Auch hier macht sich Schumpeter m i t seiner zynischen Schilderung der Beziehungen die Sache viel zu leicht 9 .) Die Intellektuellen haben aber auf der anderen Seite auch als stabilisierende Macht gewirkt. Ich denke hierbei nicht so sehr an Kreaturen wie Adam Müller, den Carl Schmitt so kongenial gekennzeichnet hat 1 0 , sondern an die ernsthaften Reformer i m preußischen Beamtentum, die Schüler 8 9 10

K a r l Marx u n d Friedrich Engels: Kommunistisches Manifest. Schumpeter, a.a.O., S. 154. Carl Schmitt: Politische Romantik, Münden 1925.

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Kants, Hegels, Lorenz v. Steins, Gustav v. Schmollers und an diese Lehrer selber, die sich als „allgemeiner Stand" i m Sinne Hegels fühlten 1 1 . Ich denke aber auch an jene „trahison des clercs", an die Gebildeten unter den Verächtern der Bildung von Gobineau bis Spengler. Dabei möchte ich den naiven Schülern und Nachbetern ihrer Lehrer, wie den Gymnasiallehrern aus der Schule Treitschkes, nicht die Verantwortung aufbürden, die i n dem Wort „Intellektueller" liegt. Sie waren i m Gegensatz zu Treitschke, der u m seinen endgültigen Standpunkt schwer gerungen hat, von vornherein festgelegt als Glieder der „Stände von Besitz und Bildung" und als loyale Staatsbürger, so daß ihnen der Gedanke des „Schwebens" gar nicht kommen konnte. Mannheims und Alfred Webers Definition von der „sozial freischwebenden Intelligenz als relativ klassenloser Schicht" erweist sich also grade an solchen Grenzfällen als brauchbar. Geigers Polemik t r i f f t Mannheim nur i n einem Punkt wirklich: i n der Bewertung der Bildung. Mannheim bewertet die „moderne B i l d u n g 1 2 " positiv, und damit w i r d seine Forderung der richtigen Synthese, die er von den Intellektuellen verlangt, „antirevolutionär, evolutionistisch, kurz liberal 1 3 ". Das ist ein negatives Urteil vom Standpunkt des Wertnihilismus aus, zu dem sich Geiger i n seinen letzten Schriften bekennt 1 4 . Mannheim t r i t t aber gerade diesem philosophischen Standpunkt i n allen seinen Schriften konsequent entgegen. Seine politische Forderung richtet sich darauf, daß der Mensch seinen „ O r t i m Gesamtprozeß 15 " finden und festhalten soll. I n dem er einen solchen Gesamtprozeß der Geschichte anerkennt, steht er als Humanist i n der Tradition der Aufklärung, die überzeugt ist, daß Vernunft nicht nur kritisieren, sondern auch aufbauen kann. U m die Deutung eines solchen Gesamtprozesses geht auch der heutige Streit. Gibt es ihn, dann sind alle Partikulärstandpunkte einseitig und müssen ausgerichtet werden auf ein Gemeinwohl hin. Dann gibt es eine objektive gesellschaftliche Funktion für die freischwebende geistig geschulte Schicht. Drei amerikanische Aspekte Die Überzeugung von solch einer objektiven Funktion verbindet die Menschen und Gruppen, die sich selbst als Intellektuelle fühlen. Streit über die Methoden, die zum Ziel führen, trennen sie, machen aber gerade deutlich, wie sie doch i m Bewußtsein der Aufgabe zusammengehören. 11

Hegel: Rechtsphilosophie § 291. Mannheim, a.a.O., S. 124. 13 Theodor Geiger: Arbeiten zur Soziologie (Soziologische Texte, Bd. 7), Neuwied 1962, S. 458. 14 Geiger, a.a.O., S. 390. 15 Mannheim, a.a.O., S. 133. 12

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Das soll an drei amerikanischen Beispielen gezeigt werden. Zunächst handelt es sich um die Rolle der Intellektuellen i n der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft, zweitens um das Selbstverständnis der radikalen Jugend und schließlich um einen verblüffenden Versuch, die ganze Problematik i n einem umfassenden Geschichtsbild aufzulösen. Der strittige Punkt ist dabei die Deutung der gegenwärtigen Gesellschaft, jener Mannheimsche „Ort i m Gesamtprozeß". Die liberalen Reformer ordnen sie i n einen positiven Entwicklungsprozeß ein. Sie sind befriedigt von ihren Erfolgen und sehen die Gesellschaft auf gutem Wege der Rationalisierung und Demokratisierung zugleich. Sie riskieren ihre intellektuelle und moralische Unschuld i n der Verantwortung um des relativ Guten willen. Die Radikalen widersprechen leidenschaftlich: nichts Wesentliches sei erreicht, die Liberalen seien einflußlos gegenüber der nach wie vor regierenden Power Elite von big business, political management und Militär, mit ihrer Selbsttäuschung verewigten sie die Herrschaft des Kapitalismus und Imperialismus. Die Wählerdemokratie des Repräsentativsystems müsse ersetzt werden durch eine „participatory democracy", i n der sich der Mensch als Person entfalten könne. Nach McLuhans Theorie vom elektronischen Zeitalter gehen beide noch von veralteten Voraussetzungen aus. Die technische Entwicklung habe die ganze Fragestellung überholt, w i r ständen bereits i m Beginn einer neuen organischen und personalen Epoche, und i n ihr käme der integrale Mensch zu seinem Recht. Typisch für den liberalen Aspekt ist John Kenneth Galbraith. Er zieht die soziologischen und ökonomischen Konsequenzen aus der Tatsache, daß die Knappheitswirtschaft sich zur „affluent society" gewandelt hat, zur Konsumgesellschaft, i n der nicht mehr knappe Güter zu verteilen sind und die Produktion zu steigern ist, sondern die Produktion längst für die Versorgung ausreicht und auf Touren gehalten werden muß. Galbraith sieht die negativen Seiten dieses Vorgangs. „Verkäufertricks und Reklame machen die Gesellschaft zum Modell eines Eichhörnchentretrades 16 ." Er beklagt, daß der Produktion der überflüssigsten Güter der größte Wert beigemessen würde, und daß die Ausgaben für die wichtigsten Dienstleistungen, wie Erziehung, nur u n w i l l l i g geleistet würden 1 7 . Aber er ist Optimist auf lange Sicht. Er sieht objekt i v die Unvermeidlichkeit öffentlicher Lenkung der Wirtschaft: Anlagen für die Atomkraft, für die großen Verkehrsbedürfnisse und schließlich für die Entwicklungshilfe können nicht mehr von der Privatwirtschaft geplant und finanziert werden 1 8 . Und er sieht auch die subjektiven Vor16 John K e n n e t h Galbraith: 1959, S. 170. 17 Galbraith, a.a.O., S. 148. 18 Galbraith, S. 325 f.

Gesellschaft i m Überfluß, München - Zürich

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aussetzungen i n einer gewandelten menschlichen Haltung. Der Zauber des wirtschaftlichen Erfolges, der die amerikanische Gesellschaft beherrscht hat 1 9 , ist gebrochen. Eine „neue Klasse" ist erschienen, „für die Arbeit nicht nur die alte Vorstellung von Mühe, Erschöpfung oder anderer geistiger oder physischer Unlust h a t 2 0 " . Sie hält es für natürlich, daß Arbeit Freude macht, daß sie lohnt auch ohne Rücksicht auf Bezahlung. Diese Klasse ist „nicht i n erster Linie vom Gelde bestimmt. Sie erzieht ihre Kinder von f r ü h auf i n der Vorstellung, daß es darauf ankommt, eine Beschäftigung zu finden, die Befriedigung gibt 2 1 ." Die neue Klasse ist nicht exklusiv. Weitaus die wichtigste Qualifikation ist B i l dung. „Die Zahl derer, die sich zunächst m i t ihrem Beruf identifizieren, statt m i t dem Einkommen, das er bringt, geht zweifellos i n die M i l l i o nen." „Eines der unvermeidlichen Ergebnisse der intellektuellen Energie und der Findigkeit der neuen Klasse w i r d darin liegen, die Routine und die Wiederholungen der manuellen Arbeit durch andere Tätigkeiten zu ersetzen." U n d nun wieder die objektive Seite: „Da Bildung der Angelpunkt für die Ausbreitung der Klasse ist, w i r d Investition i n Bildung, qualitativ wie quantitativ, geradezu der Grundmaßstab für sozialen Fortschritt 2 2 ." A l l e Züge dieser „neuen Klasse" lassen sich i n der amerikanischen Gesellschaft von heute finden. „Education" w i r d überall großgeschrieben. Wenn ein reaktionärer Gouverneur wie Reagan i n Californien den Bildungsetat beschneidet, erregt es mindestens so sehr Verwunderung wie Empörung, denn er stellt sich dem amerikanischen Trend entgegen. E i n amerikanischer Universitätspräsident ist „public face", ein Direktor m i t wesentlich höherem Gehalt ist es nicht mehr 2 3 . Der Präsident einer größeren Universität ist ein Teil des „amerikanischen establishment" und „repräsentiert deutlich Macht und Einfluß i n unserer Gesellschaft". E i n Unterstaatssekretär i m Verteidigungsministerium, der sich m i t seinem Chef nicht versteht, wechselt gerne auf solchen Posten über. Das wäre vor dem zweiten Weltkrieg kaum denkbar gewesen. Aber schon die Überschrift des Artikels i n der New York Times zeigt den Pferdefuß: „ E i n Collegepräsident muß sein: Verkäufer, Philosoph und Bändiger von Studentenunruhen." Die Funktion des Gelehrten ist eingerahmt durch die wirtschaftliche und die administrative. Er muß Geld schnorren bei Mäzenen und Stiftungen — und er bekommt es selten ohne bestimmte Auflagen und Erwartungen. U n d er muß Ordnung halten nach den Wünschen der regents, des Verwaltungsrats. Und darin sitzen die großen Geschäftsleute und die Politiker. Meist hat man auch i n die19 20 21 22 23

Galbraith, Galbraith, Galbraith, Galbraith,

a.a.O., S. 22. a.a.O., S. 358. a.a.O., S. 360. a.a.O., S. 362 f.

Andrew Hacker i n New Y o r k Times Magazine, 7. 5. 1967, S. 111.

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sem Kreis heute geistig interessierte Leute genug für solche Posten. Aber ihre Maßstäbe sind nun einmal Gewinn und Macht. Der Präsident ist gut, wenn er für die Produktion brauchbarer junger Beamter und Direktionsassistenten sorgt 24 , aber schlecht, wenn er Reformen betreibt, die sich nicht unmittelbar auszahlen. Das mußte Clark Kerr erfahren, als er von Reagan entlassen wurde. Und i n seinem Interview m i t „ L o o k " 2 5 stellt er denn auch fest, daß die K l u f t zwischen den Intellektuellen und der Gesellschaft sich verbreitert habe. So bestände z. B. kaum noch eine Beziehung zu den Gewerkschaften. Diese Bemerkung ist übrigens bezeichnender für die Gewerkschaften als für die Intellektuellen. Die Sorge um den sozialen Fortschritt ist ein verdienter Ehrentitel der amerikanischen Bildungsschicht. Diese Sorge verband sie lange mit der organisierten Arbeiterschaft; das Bündnis hatte seinen Höhepunkt i m Kampf gegen die Depression und um den New Deal unter Roosevelt. Inzwischen sind die Gewerkschaften i n das establishment eingerückt, und die Sorge u m den Fortschritt hat andere Objekte gefunden i n den Negern und den „Armen" schlechthin, die keineswegs alle organisiert sind 2 6 . (Die Parallele zu dieser Entfremdung bietet die erschütternde Verständnislosigkeit der Berliner SPD bei den Studentenunruhen 1967.) Selbst unter Kennedy war das Verhältnis der Intellektuellen zur politischen Führung nicht so rosig, wie es sich von Europa aus oft ansah. Das Idol der Intellektuellen war Adlai Stevenson, und sein Verhältnis zum Präsidenten war voll von Spannungen, die nur dadurch ausgeglichen wurden, daß jeder von beiden Verständnis für das ungewöhnlich hohe Niveau des Anderen hatte. I m Kampf um die Bürgerrechte der Neger bewährte sich das Bündnis der Intellektuellen m i t den liberalen Politikern. Aber es war nur ein Teilaspekt. Als Bayard Rustin, der Vertraute von Martin Luther King, dieses Bündnis i m Februar 1965 verteidigte, hoffte er auf eine endgültige Reform des Senioratssystems i m Kongreß, und Harrington schrieb zur gleichen Zeit, daß Johnsons „Kampf gegen die A r m u t " und für die „große Gesellschaft" davon abhinge, daß es keine Eskalation i n Vietnam gäbe. Sie mußten sich von dem radikalen Staughton Lynd sagen lassen, daß die Koalition machtlos gewesen sei gegen die Eskalatio und gegen die Reaktion i m Kongreß 2 7 . Clark Kerr spricht denn auch von der politischen Schwäche der Massengesellschaft, die i m Repräsentativsystem nicht mit den Realitäten konfrontiert werde, sondern nur m i t Symbolen, mit „images". I h m ist auch deutlich, daß die junge Ge24

Mario Savio nach „The New Radicals, S. 233. „The T u r m o i l i n Higher Education", „ L o o k " 18. 4.1967, S. 17. 26 Michael Harrington: The Other America. Poverty i n the U n i t e d States. New Y o r k 1962. 27 The New Radicals, S. 295 u n d 312/13. 26

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neration der Intellektuellen i n ganz anderer Weise i n diese Massengesellschaft verwoben ist als die ältere, die noch — teilweise sogar mit Recht — glaubte, durch ausgeprägte Einzelpersonen als Elite handeln zu können. „Die Studenten sind so zahlreich geworden, daß sie handeln wie städtische Massen." Damit hat sich aber der ganze Charakter der Bildung und der Bildungsschicht verschoben. Kerr „stellt die peinliche Frage: kann die Bildung als Herr so gut sein wie als Diener"? Da stehen also die Studenten. 8 0 % der Jugend, die von der Highschool abgehen, gehen i n Californien aufs College. Die University of California mit ihren Zweigstellen an 10 Orten hat über 80 000 Studenten, davon 27 000 allein i n Berkeley. Dabei nimmt die UC nur die besten 1 2 % der Highschoolabsolventen auf. Für die ganzen Vereinigten Staaten rechnet man 1970 m i t 7 1 I 2 Millionen Studenten. 3 Millionen Lehrer bilden die größte geschlossene Berufsgruppe. Kerr sieht die Probleme i n ihrem Gewicht für die Jugend — darum machen i h n die Reaktionäre zum Sündenbock. Er sieht sie aber auch von der Gesellschaft aus, die ja ein Recht hat, von der Universität berufstüchtigen Nachwuchs zu verlangen — und das hat i h n das Vertrauen der Studenten gekostet. Eine Studentenbewegung soziologisch einzuordnen, ist recht schwer. Jacobs und Landau versuchen ist m i t dem Begriff „The New Radicals" und behandeln hier i n erster Linie den Aufbruch der akademischen Jugend seit 1960. Ihre Chronologie verzeichnet für dieses Jahr die Demonstrationen i n San Francisco gegen das „House Committee on Unamerican Activities". 1962 bis 1964 standen i m Mittelpunkt die Demonstrationsmärsche i n den Süden für die Rechte der Neger. Die Studenten beteiligten sich am Students Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). 1962 wurde aber auch auf einer Tagung i n Michigan SDS gegründet, die Organisation „Students for Democratic Society", eine Bewegung, die zunächst nur i n Studiengruppen arbeitete, später auch nach außen hervortrat i n „Community Projects", i n der Organisation von Armen i n städtischen Siedlungen. I m Herbst 1964 erfolgte der Paukenschlag i n Berkeley: das Free Speech Movement. I n den folgenden Jahren hat sich die A k t i v i t ä t auf die Kampagne gegen den VietnamKrieg verlagert. Das Stichwort „Make Love, not War" klingt naiv und unpolitisch. Aber es zeigt zugleich den tiefsten K e r n der Bewegung auf: diese Jugend verlangt radikale neue Politik aus radikal neuer Haltung. Den besten Schlüssel gibt wohl die Rede, die Mario Savio auf dem Campus i n Berkeley gehalten hat. „Einen Platz i n dieser Gesellschaft zu haben, ist viel weniger wichtig, als eine Gesellschaft zu schaffen, i n der man einen Platz haben möchte 28 ." Für die Universitätsbürokratie schiene die Geschichte zu Ende, die gegenwärtige Gesellschaft die end28

The New Radicals, S. 61.

17 Festgabe für Gert von Eynern

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gültige zu sein. Aber „die Geschichte ist nicht zu Ende, eine bessere Gesellschaft ist möglich, sie ist wert, daß man für sie stirbt" 2 9 . Dem Deutschen kommt vieles recht bekannt vor. A m Anfang der SNCCBewegung fiel der Satz: „ W i r suchen eine Gemeinschaft, i n der man den vollen Sinn seines Selbst verwirklichen kann, und das verlangt Offenheit gegenüber den anderen 30 ." Das klingt wörtlich an die Formel vom Hohen Meißner an: „ W i r wollen ein Leben aus eigener Verantwortung." Die Worte „Gemeinschaft" und „Bewegung" kehren immer wieder 3 1 . Es geht um die Bedeutung des Individuums und seine Fähigkeit, sinnvolle Entscheidungen zu treffen 3 2 . Der allgemeine personalistische Idealismus der Jugendbewegung benutzt die Schlagworte der amerikanischen Tradition. Savio verlangt für seine Studenten den „consent of the governed", „a j u r y of our peers" und „due process of l a w " 3 3 . Tom Hayden, der Ideologe des SDS, prägt das Wort von der „participatory democracy", die natürlich eine weitgehende Dezentralisation der Gesellschaft verlangt. Dem „corporate liberalism" w i l l man eine „counter-community" entgegensetzen 34 . I m Augenblick der direkten A k t i o n hat man erlebt, „daß Gemeinschaft möglich ist, daß es für eine gute Gesellschaft eine Existenzmöglichkeit g i b t " 3 5 . Savio schwärmt: „Für den Augenblick war alles Unrecht beiseitegefegt, und w i r sahen die Welt m i t einer größeren Klarheit als bevor 3 6 ." Der nüchterne Hayden beginnt 1962 sein „Port Huron Statement" 3 7 m i t der Feststellung von der „Entwürdigung des Menschen". Er sieht sie zunächst i n der Rassenideologie des Südens, aber dann kommt er gleich auf die Masse der trotz aller technischen Entwicklung noch immer sinnlosen Arbeit, auf die hungernden 2 / 3 der Menschheit, auf die unkontrollierte Ausbeutung der Naturschätze und die Anarchie als Hauptprinzip der internationalen Beziehungen. A l l dieses Versagen w i r d abgeleitet aus dem einen Grunde: daß der Mensch als M i t t e l zu den Zwecken der Gesellschaft mißbraucht wird. Er spricht von „der noch immer unerfüllten Konzeption des Menschen, der dazu kommen soll, Einfluß zu nehmen auf seine eigenen Lebensumstände", von seinen „unerfüllten Fähigkeiten zu Vernunft, Freiheit und Liebe". „Menschliche Beziehungen sollten Brüderlichkeit und Redlichkeit enthalten. W i r wollen die Macht, die i n Besitz, Privileg oder Zufall wurzelt, ersetzen durch eine Macht, deren Wurzeln Liebe, Überlegung, Vernunft und schöpferischer Geist sind. Die größe29 30 31 32 33 34 35 36 37

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S. S. S. S. S. S. S. S. S.

232. 16. 30. 32. 232. 33 u. 35. 214. 215. 150 ff.

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ren Rohstoffquellen und Produktionsmittel sollen offen sein für demokratische Mitbestimmung und demokratischer sozialer Regelung unterliegen." W i r erkennen den ganzen Katalog sozialistischer Forderungen wieder, allerdings viel mehr Proudhon als Marx. Die Studenten nehmen die Warnung von Mills vor dem viktorianischen Marxismus auf. Sie lehnen die Ideologie von der Mission der Arbeiterklasse ausdrücklich ab 3 8 . I h r Grundbegriff ist derjenige der „Entfremdung" i m weitesten Sinne. Lewis Feuer hat diesem Problem einen langen, sehr einleuchtenden Aufsatz gewidmet: „Alienation: The Marxism of Contemporary Student Movement 3 9 ." Er fragt: „Warum fühlt eine Strömung des gegenwärtigen Marxismus i m Westen und i n der Sowjetunion sich veranlaßt, sich eher m i t dem prähistorischen Marx zu identifizieren, als mit dem historischen Marx?" „Der Trend zum Entfremdungsbegriff ist i n erster Linie ein Versuch, das ethische Bewußtsein i m Marxismus wieder herzustellen 40 ." Feuer stellt Parallelen fest zwischen Amerika, Japan und Sowjetrußland und weist auf den Kampf hin, den Lenin gegen ein Free Speech Movement trotzkistischer Studenten geführt hat 4 1 . Er zitiert ausgiebig Savio. „Entfremdung heißt, daß der Arbeiter entfremdet ist von seinem Produkt; aber der Begriff läßt sich auch auf die Studenten anwenden. . . . Überall ist jemand von etwas entfremdet... Die Studenten sind frustriert; sie können keinen Platz i n der Gesellschaft finden, wo die Entfremdung nicht existiert, wo sie sinnvolle A r beit leisten k ö n n e n . . . W i r brechen die Fiktion der Vorschriften nieder. W i r brechen alle die Barrieren nieder, die gegen die Persönlichkeit aufgerichtet sind. Das treibt die Studentenbewegung vorwärts 4 2 ." Feuer hat es leicht, den unrealistischen Rückfall i n die Frühzeit der sozialistischen Bewegung zu kritisieren. Aber ist es nicht zugleich eine Rückbesinnung auf die überhistorischen Quellen der Bewegung? „Immer ist irgendjemand von irgendetwas entfremdet" — Hegel hatte es gewußt, und er hatte es aus seiner Bibel gelernt. Seit dem Sündenfall ist der Mensch von der Welt und von sich selbst entfremdet; aber erst damit erhielt er die schöpferische Freiheit. Was die Studenten meinen, und was alle Denker von Format gemeint haben, ist nichts anderes, als was Kleist klassisch formuliert hat: „ W i r müssen zum zweiten mal vom Baum der Erkenntnis essen." Es ist die Wiederherstellung der Einheit von Mensch und Welt als Sinn der Weltgeschichte. 38

a.a.O., Lewis Feuer i n M i l o r a d Drachkowitch: M a r x i s t Ideology i n the Contemporary World. Its Appeals and Paradoxes, New Y o r k 1966. 40 Feuer, a.a.O., S. 37. 41 Feuer, a.a.O., S. 57. 42 Feuer, a.a.O., S. 43/44. 39

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Diese Feststellungen könnten uns verleiten, i n der amerikanischen Studentenbewegung nichts anderes zu sehen, als das wieder einmal fällige Aufflackern romantischer Schwärmerei gegen die nüchterne Realität des Lebens, wie es nun einmal ist und immer sein wird. Selbst damit wäre sie nicht entwertet, denn schließlich hat jeder schöpferische Impuls i n der Geschichte ähnlich begonnen. Aber es gibt zwei Punkte i n dieser Entwicklung, auf die man besonders eingehen muß: ihr Verhältnis zur Weltpolitik und ihr Verhältnis zur Technik. Nicht zufällig sind die A k tivisten i n den letzten beiden Jahren i n die Antikriegsbewegung eingetreten. Solch eine „mobilization" macht einen merkwürdigen Eindruck. Sie ist ein fröhliches Volksfest, und i n dem New Yorker Fall, den ich beobachtet habe, konnten auch aufreizende Ansprachen die Disziplin nicht stören. Aber dazwischen w i r d es dann ernst: Einberufungsbefehle werden verbrannt, Vietcong-Fahnen werden aufgesteckt. Sicher sind die aktiven Kriegsgegner eine Minderheit i n den Vereinigten Staaten, aber der bewußte und begründete Widerstand eines so großen Teiles der jungen Generation schafft eine Atmosphäre, die über die Grenzen des Landes hinaus bedeutsam ist. Sie verbindet sich m i t einem unbeugsamen Widerspruch der Kirchen und eines großen Teils der Professoren. Dieser Widerspruch ist aber nicht nur moralisch begründet, sondern auch sachlich. Die Politik Johnsons w i r d verurteilt, weil sie gleichzeitig unmenschlich und falsch ist. (Interessant ist, daß ausgerechnet Galbraith neuerdings die Führung i n diesem Kampf übernommen hat.) Hier ist die Einheit des establishment zerbrochen und eine neue Verbindung zwischen den Intellektuellen innerhalb und außerhalb der gesellschaftlichen Führung geschlagen. Das zweite ist die Stellung zur Technik. Wenn ein Student i n Berkeley seinen Immatrikulationsschein hochhält und ruft: „ B i n ich ein Student oder eine IBM-Karte?", dann sieht das nach romantischer Ablehnung aus. Aber wenn sich die Studenten leidenschaftlich gegen Spezialisierung wehren, dann ist das nicht nur Reaktion, sondern es entspringt auch dem Gefühl, i n einer nach-industriellen Epoche zu leben 43 . Television ist etwas Selbstverständliches, Psychoanalyse imponiert nicht mehr 4 4 . Nicht gegen die Technik wendet man sich, sondern gegen die stumpfsinnige Anwendung, als ob sie nicht grade neue Möglichkeiten sinnvoller Arbeit eröffnete 45 . Man ist überzeugt: „ M i t uns geht die neue Zeit." A u f amerikanisch heißt diese Parole der deutschen Jungsozialisten: „We shall overcome." Die Forderung nach Wiederherstellung des ganzen Menschen ist ja als ein Durchbruch nach vorne gemeint. Nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft ist die Losung. Man glaubt, 43 44 45

The New Radicals, S. 78. a.a.O., S. 5. a.a.O., S. 151.

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daß ein Studium auch so eingerichtet werden kann, daß es nicht auf einen Spezialberuf abrichtet, sondern einen Überblick verschafft, m i t dessen Hilfe der junge Mensch selbst bestimmen kann, wo er seine Kräfte einzusetzen hat zu einem Dienst an der Gesellschaft, der u m so wirkungsvoller wird, je selbständiger er ist. Nicht Anti-Intellektualismus, sondern wissenschaftliche Radikalität verlangt SDS 4 6 . Damit sind w i r nun wieder bei Mannheims Forderungen und Galbraiths Hoffnungen. Hier setzen nun die vielumstrittenen Thesen von Marshall McLuhan ein. Sein Stichwort ist: „The medium is the message 47 ." Das heißt: von der A r t , wie w i r uns über die Welt informieren, hängt es ab, was w i r erfahren, und wie w i r handeln. Er gliedert die Weltgeschichte nach Informationsquellen: i n das Zeitalter der mündlichen Überlieferung, das Zeitalter der Schrift, speziell der Buchstabenschrift, das Zeitalter des Druckes und das Zeitalter der elektronischen Information durch Film, Radio, Fernsehen und Computer. Das hat natürlich einen guten Sinn, und vor allem die Gegenüberstellung der mündlichen und gedruckten Überlieferung liefert zwar gerade keine neuen Erkenntnisse, läßt aber Bekanntes i n neue Beleuchtung treten. Der primitive, schriftlose Mensch erfährt Weniges, aber diese seine enge Welt ist zusammenhängend, unter sich und m i t ihm; er ist an allem beteiligt, sein Leben und Wissen ist eine organische Einheit; aber der Stamm, i n dem er lebt, ist auch Alles für ihn, die Außenwelt ist fremd und feindlich. Der Mensch der „Gutenberg-Welt" ist fragmentarisch — er erfährt viel, aber er verliert die Zusammenhänge — er ist Auge auf Kosten des Ohres und des Gefühles — er ist Individualist, und wenn er sich bindet, dann t u t er es i n der mittelbaren Gemeinschaft der Nation — er beherrscht die Welt mechanisch, rechnend, analytisch und künstlich synthetisierend — sein Leben expandiert i n ständigen Explosionen 48 . Dafür hat er die Fähigkeit der Distanz gewonnen, der leidenschaftslosen Beobachtung, er kennt „action without reaction" 4 9 . Die Definition des Spezialisten muß das ganze Entzücken der rebellierenden Studenten erregen: „Der Spezialist ist jemand, der niemals kleine Fehler macht, während er auf dem Wege zum großen Versagen ist 5 0 ." Der Mensch des elektronischen Zeitalters aber — und hier geht Analyse und Prophetie merkwürdig ineinander über — erlebt wieder i m Ganzen, vor allem durch das Fernsehen. Er „involviert" die Erfahrungen, er erlebt „Implosion" statt „Explosion", er entwickelt wieder die Sinne des Hörens und des Fühlens, er lebt organisch, er kann die Ge46

a.a.O., S. 41. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man. New Y o r k 1964, S. 23. 48 McLuhan, a.a.O., S. 19. 49 a.a.O., S. 88. 60 a.a.O., S. 118. 47

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sellschaft dezentralisieren wie einst i m Zeitalter der Stämme, ohne daß er den Zusammenhalt verliert 5 1 . Kurz, die vollendete Technik macht alles wieder gut, was die vorläufige verdorben hat. „Die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug." Und das alles ist nach McLuhan das Ergebnis der modernen Bildung und führt zu einer Ausweitung der Bildung, von der w i r uns erst eine schwache Vorstellung machen können. Denn die Dynamik der Technik geht i n diesem „Organismus" nicht verloren, und w i r können sie nur lenken und verstehen, wenn w i r die Bildung immer weiter verfeinern und verbreitern. Das elektronische Zeitalter ist die Schöpfung und das Reich der Intellektuellen; allmählich w i r d die ganze Menschheit zu ihnen gehören 52 . Der Traum Condorcets von der Bruderschaft einer aufgeklärten Menschheit ist erfüllt. Es ist leicht, die Skurrilitäten dieses Systems aufzuweisen. Das Geschichtsbild ist nicht so neu, wie McLuhan meint. Wo er selbständig v/erden will, kommt manchmal etwas Absurdes heraus. So, wenn er den Verfall des weströmischen Reiches von dem Ausfall der Papyruslieferung aus Ägypten nach der mohammedanischen Eroberung ableitet — die aber erst 200 Jahre nach dem Verfall des Westreiches erfolgte 53 . Die Unterscheidung von Symbolschrift und Buchstabenschrift ist einleuchtend, aber die arabische Schrift ignoriert er, obwohl sie auch eine Buchstabenschrift ist. Aber m i t seiner Unterscheidung des mechanischindustriellen und des elektronischen Zeitalters gibt er einen wesentlichen Hinweis auf die soziale Entwicklung. Was die Berkeley-Studenten dunkel empfanden: w i r haben diese A r t von Spezialisierung doch gar nicht mehr nötig, eine richtige Wissenschaft kann uns doch schon viel weiter bringen, das w i r d bei i h m artikuliert. Dabei verblüfft oft, wie er aus der Not eine Tugend macht. Ein Hauptvorwurf gegen das Fernsehen ist gerade, daß es die Zersplitterung der Eindrücke verstärkt und die Konzentrationsfähigkeit der Jugend schwächt. Das gilt besonders für das amerikanische Fernsehen, m i t den immer wieder eingeschobenen „ads" (advertisement = Reklame). Dem entspricht die zersplitterte A u f machung der Zeitungen: auf der ersten Seite alle wichtigen Nachrichten, aber kaum ein A r t i k e l abgeschlossen; man muß die Fortsetzung irgendwo weit hinten suchen und findet sie da wieder m i t ganz neuen Nachrichten oder A r t i k e l n zusammen. „Mosaik" nennt McLuhan das m i t Recht 54 . Aber er verteidigt das System. „Things are made instant" 5 5 , w i r erleben alles auf einmal. „Das Fernsehkind ist ein Krüppel i n unserer W e l t " 5 6 , „das Fernsehkind kann nicht mehr geradeaus sehen" 57 — McLu51 52 53 54 55 56 57

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23. 102. 100. 183. 27. 289. 290.

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han übernimmt diese Sorgen der heutigen Erzieher, aber er dreht den Spieß um. Die Fernsehkinder sind uns eben voraus, sie erleben die Welt als Einheit, also weg mit dem Unterricht i n Fächern. (Der Deutsche der alten Generation hat vor 50 Jahren schon einmal von Berthold Ottos „Gesamtunterricht" gehört.) Die Fernsehkinder sehen sich um nach allen Seiten; w i r sollen keine Einseitigkeiten von ihnen verlangen. „The Medium is the Message", das Mosaiksystem ist nur die Konsequenz aus der telegrafischen und telephonischen Information der Zeitungen, aus der Möglichkeit, i m Fernsehen alles auf einmal zu berichten. Nach McLuhan haben w i r uns also nicht nur damit abzufinden, sondern w i r sollen uns daran als an einen Fortschritt gewöhnen. Dann leben w i r damit so selbstverständlich, wie der Primitive m i t seinen Riten, die das Ergebnis mündlicher Informationen festhalten. Immer wieder betont er die Rückkehr des Organischen, den „New tribalism". Die Harmonie des neuen Zeitalters ist beinahe ungetrübt, jedenfalls wenn w i r die große Einsicht des vorigen Zeitalters von der leidenschaftslosen Betrachtung bewahren. Die Sorgen unserer Generation werden beiseitegeschoben. Macht, politische Kämpfe? Soweit davon überhaupt die Rede ist, meint McLuhan, sie würden uninteressant vor der selbstverständlichen Dezentralisation, vor der Möglichkeit für jeden Menschen, mit Jedem zu verkehren 5 8 . Produktionsregelung, Monopol, Arbeitslosigkeit — alles fällt weg in der Automation. „ W i r können heute mit Hilfe des Computers mit komplizierten sozialen Bedürfnissen mit derselben Sicherheit fertigwerden, wie früher der Architekt beim Hausbau 59 ." Es gibt keine Berufe, keine festen Arbeitsplätze mehr — der einzige Beruf ist „lernen", und dafür w i r d der Mensch bezahlt, wie schon heute der weitschauende Arbeitgeber seinen Angestellten bezahlten Urlaub für Fortbildungskurse gibt 6 0 . Das Leben ist eine Lust geworden. Die unmittelbare Schöpferkraft, für die Handwerk und Kunst eins sind, w i r d wiedergewonnen. Was die Revolution der modernen Kunst seit dem Kubismus und dem Bauhaus — beide werden als Vorbilder genannt 6 1 — begonnen hat, w i r d Gemeingut einer aufgeklärten Menschheit. „ I l l u m i n a t i o n " 6 2 w i r d ausdrücklich als Kennwort für die neue Welt genannt. Die menschliche Bosheit scheint sich damit von selbst erledigt zu haben. Diese Utopie ist phantastisch, wie die des Frühsozialisten Fourier. Schon die immer wieder betonte Wiederkehr des „Organischen", Unmittelbaren, ist leider ganz unbewiesen. Aber Utopien sind immer wich58 59 60 61 62

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306. 311. 304. 28 u n d S. 105. 304.

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t i g gewesen, u m neue Kategorien für Urteil und Handeln zu gewinnen. Und zwei Gedanken von McLuhan, scheint mir, sind unabweisbar: „Eine Masse von Dingen sind nicht mehr möglich, nachdem das Fernsehen einmal da ist"* 3 , denn „es liefert nicht Produkte, sondern es beteiligt den Menschen an Prozessen" 64 . Die Folgerung, damit wecke es schöpferische K r a f t und Verantwortungsgefühl, mag dahingestellt bleiben. Der andere Gedanke ist: „Das Leben ist ein ständiges Lernen geworden 6 5 ." Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, sondern sie läuft schneller und schneller, und die Lehrer müssen am meisten lernen, wenn sie den Schülern wirklich Hilfe für deren Leben i n einer neuen Umgebung bieten wollen. Damit wächst die Verantwortung derer, die erkennen und neue Erfahrung aufnehmen und verarbeiten können, der Intellektuellen, i n unerwartete Dimensionen. Eine neue Klasse? Es kann nicht unsere Sache sein, die Zukunft der Intellektuellen zu prophezeien. Die prophetische Hemmungslosigkeit von McLuhan schreckt eher ab, als daß sie verlockte. Aber es scheint möglich, gewisse Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen und m i t der gegenwärtigen Lage zu vergleichen. Da ist zunächst der Massencharakter der Entwicklung etwas Neues. Berkeley ist i m Augenblick ruhig; die Masse der Studenten arbeitet fleißig auf die Eingliederung i n das establishment hin. Es ist allerdings aus Gründen der allgemeinen Entwicklung wenig wahrscheinlich, daß die ganze Bewegung i m Sande verläuft. Der Bedarf an höher Gebildeten wächst unverhältnismäßig, an Akademikern und an vielseit i g geschulten Technikern, m i t denen man die ständig wechselnden Rollen besetzen kann, die eine m i t Hilfe des Computers dirigierte Gesellschaft erfordert. M i t der Zahl dieser Positionen steigt der Bedarf an Lehrern, an Lehrmitteln und Räumen so stark, daß eine wesentliche und planmäßige Umschichtung des Volkseinkommens unvermeidlich wird. Der Druck der „Neuen" w i r d wachsen, der Widerstand der „ A l ten" w i r d sich versteifen. I n Californien sind es buchstäblich die Alten, die Rentner, die keine Schulkinder mehr haben, die sich gegen die B i l dungsausgaben sträuben. Damit ist aber jene Dichotomie gegeben, die zur fruchtbaren Anwendung des Klassenbegriffes gehört: „Die da oben" und „die da unten", amerikanisch die underdogs. Die Zweiteilung w i r d sich nicht i n der Stärke ausprägen wie bei dem Aufkommen der Proletarierklasse. Dafür sind vielzuviel Gemeinsamkeiten und Übergänge da. Viele Positionen 68 64 65

a.a.O., S. 271. a.a.O., S. 269. a.a.O., S. 271.

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für die „Neuen" lassen sich innerhalb des establishments finden, viele Glieder des establishment sind gebildet und weitschauend genug, um die „Neuen" zu unterstützen. Die Bündnisse zwischen Radikalen und Liberalen sind ja keineswegs sinn- und erfolglos gewesen. Ob die Bündnisse der amerikanischen Intellektuellen m i t den Farbigen und den A r men sehr dauerhaft sein werden, steht dahin. Sehr Vieles w i r d von weltpolitischen Entwicklungen abhängen. Die internationalen Parallelen sind sehr beachtenswert. C. Wright Mills erklärt geradezu den Klassencharakter der Arbeiterschaft für überholt. „ N u r i n gewissen Frühstadien der Industrialisierung und i m politischen Zusammenhang mit Autokratie usw. tendierten die Lohnarbeiter dazu, eine Klasse für sich zu b i l d e n . . . Die Intellektuellen sind seit 1960 die möglichen, unmittelbaren, radikalen Träger des Wandels . . . W i r haben diese jungen Generationen von Intellektuellen rings u m die Welt zu studieren als lebendige Träger des historischen Wandels." Dann folgen die Hinweise auf Polen, Ungarn und Sowjetrußland, auf Cuba und die Entwicklungsländer und die Mahnung: „vergeßt den viktorianischen Marxismus, lest Lenin (mit Vorsicht) und Rosa Luxemburg 6 6 ." Ist die internationale Übereinstimmung aber wirklich so groß? Natürlich ist die gegenseitige Sympathie stark. Es bestehen persönliche Beziehungen über Studentenorganisationen, Friedensbewegung u. ä., es besteht auch direkter Einfluß von den kommunistischen Parteien und den „Left-overs", den Überbleibseln der alten Radikalen, Trotzkisten usw. 67 . Bei einigen Gruppen ist Mao Tse Tung Mode, weil er so radikal ist und man so wenig von i h m weiß. Das sind allerdings grade die A n archisten, denen die harte Disziplin des chinesischen Kommunismus wohl am peinlichsten werden würde. Man soll diese direkten Beziehungen aber nicht überschätzen. Die westlichen Kommunistenriecher wärmen das alte bürgerliche Geschwätz von den „verhetzten Massen" auf und drücken sich damit u m die Betrachtung der objektiven Lage. Nicht Marx hat die internationale Haltung des Sozialismus geschaffen, sondern die international ähnlichen Bedingungen haben es getan. Dasselbe gilt heute. Wenn die westliche intellektuelle Jugend — oft sehr u n k r i tisch — politische Parolen aus dem Osten übernimmt, dann liegt es zunächst an der ehrlichen Teilnahme für alle wirklich oder angeblich Unterdrückten und dann an der Unglaubwürdigkeit des Gegners. Unglaubwürdig ist diese Gegenschicht, das establishment, geworden. Subjektiv unglaubwürdig für die Jugend. Das establishment w i l l erhalten — die Jugend w i l l Neues schaffen. Das establishment ist nationalistisch — die Jugend weiß, daß die Erde dafür zu klein geworden ist. Das establishment setzt Ordnung vor Freiheit, es predigt Kompro66 67

Mills: The New Radicals, S. 111/14. The New Radicals, S. 42 ff.

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misse — die Jugend möchte am liebsten erst einmal die ganze ungeordnete Freiheit, um dann eine neue freiwillige Ordnung aufzubauen. Noch wichtiger ist aber: Das establishment ist auch objektiv unglaubwürdig geworden für die Intellektuellen. Mag Mills Darstellung der Power Elite viele Einseitigkeiten und Übertreibungen enthalten, die Tatsachen der amerikanischen Politik sprechen für seine Thesen. Die Verfilzung von big business, politischer Führung und Militär ist nicht zu leugnen 88 . Es ist den Liberalen nicht gelungen, die Eskalation des Vietnam-Krieges zu hindern. Der Kampf gegen die Korruption geht vorwärts, aber i m Zeitlupentempo. Die Ausstoßung von Powers aus dem Repräsentantenhaus, die Zensierung von Dodd i m Senat sind Beispiele, aber ob Beides gelungen wäre, wenn nicht Rassendünkel und Parteiinteresse mitgesprochen hätten, ist sehr fraglich. Der „white backlash" gegen die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung hat den Reaktionären die Hilfstruppe des M i t telstandes zugeführt. Die Ideologie des kalten Krieges und des McCarthyismus flammt wieder auf, und eine kraftvolle politische Opposition ist nicht zu sehen. I n Europa hat De Gaulle es fertig bekommen, alle übernationalen Bestrebungen lahmzulegen, und dabei hat sich u m ihn ein Braintrust von beachtlichem intellektuellen Niveau gebildet. I n der Bundesrepublik hat die große Koalition den Durchbruch i n der Deutschland-Politik nicht gebracht. Allerdings, w i r haben gewiß keine Power Elite, höchstens ein „ K a r t e l l der Angst" 6 9 zwischen verschiedenen Gruppen, die grade Einfluß haben. Prüft man die soziale Lage i n der ganzen westlichen Welt, dann ergibt sich eine bedenkliche Lähmung aller Kräfte. Die Wirtschaft produziert für einen Konsum, den sie sich immer mühsamer schaffen muß. Die großen Gemeinschaf tsaufgaben werden vernachlässigt. Die Rüstungsausgaben stellen einen beträchtlichen Posten der Konjunktursicherung dar. Dabei sieht man nirgends unter den führenden Wirtschaftsleuten einen echten „tycoon", einen brutalen großen Unternehmer m i t neuen organisatorischen oder technischen Ideen. Wahrscheinlich bietet auch das gegenwärtige Stadium der Industrialisierung nur Raum für Manager. Diese Schicht ist aber fehl am Platze, wenn sie nicht den M u t zur Planung nach gesellschaftlichen, d. h. politischen Gesichtspunkten hat. Bei der politischen Führung ist nicht selten die Einsicht für diese Aufgaben vorhanden; aber dann scheut man das Risiko, sie zu übernehmen. Die geistige Führungsschicht ist i n Gefahr, sich auch lähmen zu lassen, entweder durch einen Relativismus, der keine Entscheidung ganz ernst nimmt, oder durch einen optimistischen Reformismus, der die Chancen überschätzt, m i t kleinen Schritten den großen Wandel herbeizuführen. 68

Beispiele i n New Radicals, S. 261/63. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, München 1965, S. 296. 69

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Diese Schicht ist keineswegs eine geschlossene Aristokratie; man ist froh, wenn man neue Gruppen eingliedern kann: die Führer der Arbeiterbewegung, die Oberschicht der Neger i n USA, die technische Intelligenz, die man zufriedenstellt, indem man ihr die Möglichkeit gibt, ihre Virtuosität zu zeigen. Diese Schicht hat kein starkes Bewußtsein gemeinsamer Werte. Aus humanistischer Tradition ist wohl die Hochschätzung des Rechtsstaates geblieben und der Lippendienst für Kunst und Wissenschaft. Aber der Rechtsstaat findet recht enge Grenzen, wenn es u m die Gegner des establishment geht, und die Kulturwerte werden entweder erst geschätzt, wenn sie museal geworden sind, oder sie werden wahllos gefördert, weil man doch wenigstens an einer Stelle modern sein möchte. Zur Haltbarkeit des Besitzes, der Machtverteilung, der Lebenshaltung hat man kein großes Zutrauen. Bei den Intellektuellen aber formiert sich ein Bewußtsein, dessen einzelne Elemente längst bekannt sind, deren Verbindung aber neue Aussichten eröffnen. Daß es Pflicht der Aufgeklärten ist, für Überwindung der A r m u t und für Überwindung der Angst zu sorgen, für eine gerechtere Verteilung der Güter und für den Frieden — das ist ein Erbe aller Reformbewegungen, wie es ein Erbe der sozialistischen Revolution ist. Das Neue ist das Wissen u m die technischen und die psychologischen Möglichkeiten. Wenn alle Quellen der Produktion planmäßig ausgenutzt, wenn die erzeugbaren Lebensmittel nach dem — für Entwicklungshilfe ja doch immer betonten — Dienstprinzip rational verteilt werden, dann ist die nackte Not überwindbar; dann erst läßt sich das Problem der Bevölkerungsexplosion praktisch angreifen. Das Wissen um diese Möglichkeit zu verbreiten, ist allerdings Sache der freischwebenden Intelligenz. Die Durchführung setzt aber Vertrauen voraus, zwischen Ost und West, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen haves und have-nots. Das Stichwort der amerikanischen Kriegsgegner „make love, not w a r " klingt lächerlich billig. Aber — und das ist die neue psychologische Voraussetzung — m i t Gewaltlosigkeit ist i n den letzten 50 Jahren Erstaunliches erreicht worden: immerhin die Freiheit Indiens und die amerikanischen Bürgerrechte. Gewaltlosigkeit ist kein Rezept; man kann nicht überall den geduldigen Opferwillen der Inder und die Fairneß der Engländer erwarten. Aber für unsere Problematik bedeutet sie viel. Sie ist ein entscheidendes Gegengewicht gegen alle Haßparolen von Nationen und Klassen. Auch die ungeduldige Jugend kann ihnen leicht einmal wieder erliegen; aber m i t diesem Wort kann man sie zur Ordnung rufen. Diese Überwindung des Hasses dringt auch hinter die Propagandaphasen mancher Friedensbewegungen. Sie gibt die Möglichkeit, den Idealismus rational zu begründen und die scheinbare Realpolitik als unrealistisch

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zu entlarven. Die Kräfte i m Kampf u m friedliche und vernünftige Ordnung sind nicht ganz ungleich verteilt. Ob man hier die Intellektuellen als Klasse i m vollen Sinn bezeichnet oder nicht, ist nicht so wichtig, als die Feststellung, daß man m i t Hilfe dieser Kategorie fruchtbare Erkenntnisse gewinnen kann. Der Massencharakter der neuen Bildungsschicht ist nicht mehr abzustreiten. Das drückt sich nicht nur i n der Zahl aus, sondern auch i n der Tatsache, die der alten Generation so viel Kummer macht: Das hohe Niveau, das einmal unser Stolz war, ist bei Millionen nicht mehr zu halten, und die Empfänglichkeit für emotionale Parolen ist groß. Die Entwicklung hängt davon ab, ob es gelingt, den Kontakt zwischen den liberalen Reformern und den Revolutionären zu bewahren. Die Reformer haben sich ja nicht alle und nicht völlig i n Kompromissen ausgegeben. Sie könnten bereit sein, sich von der Jugend neuen Auftrieb geben zu lassen, grundsätzliche Reformen, die sie bereits zurückgestellt hatten, wieder aufzunehmen, weil sie jetzt ja die Menschen dafür haben. Die Jugend aber muß von ihnen die Unterscheidung lernen zwischen Glaube und Ideologie. Der Glaubende vertraut auf den Sinn der Welt und der Geschichte und läßt sich durch keine Enttäuschung davon abbringen, die Dinge nüchtern zu sehen, wie sie sind. Der Ideologe vergewaltigt sein Bewußtsein, zu sehen, was er wünscht, und von da aus vergewaltigt er Menschen und Dinge. Diese Gefahr dürfte bei den amerikanischen Intellektuellen besonders stark sein. I h r „transcendentalist populism" 7 0 verführt sie dazu, jede Volksbewegung gegen eine bestehende Macht i n Analogie zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, jede demokratische Phrase i n Analogie zu Lincoln's „government of the people, by the people, for the people" zu sehen. Aber auch i n Deutschland hat das Trauma von 1848 i n manchen Kreisen eine ähnliche Ideologie hinterlassen. Ich erinnere mich des leidenschaftlichen Protests eines liberalen Kollegen, als ich das geheiligte Wort „Revolution" auf den bösen Nationalsozialismus anwendete. I n einem Fall droht allerdings selbst für die besonnensten Reformer die Gefahr der Radikalisierung: wenn sich das establishment dem Block der reinen Beharrung auslieferte. Es gibt ja noch immer jene Mittelschichten, an deren Umfang jeder Versuch scheitert, die westliche Gesellschaft einfach nach dem Klassenschema aufzuteilen. Sie sind von oben gesehen, Unterschicht, von unten gesehen, gehören sie m i t der Oberschicht zusammen; sie selber pflegen sich naiv m i t dem Ganzen gleichzusetzen. Ob man sie Klasse nennen w i l l oder nicht, sie haben mindestens die Bedeutung einer Klasse. So hat ja auch Marx i n seiner 70 Unübersetzbar, w e i l „populism" die Erinnerung an radikale „populistische" Parteien weckt. Vgl. I r v i n g Kristol: American Intellectuals and Foreign Policy („Foreign Affairs", J u l i 1967, S. 594).

E i n Klassenkampf der Intellektuellen?

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realistischen Analyse „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte" seinen dichotomischen Klassenbegriff aufgegeben und die Parzellenbauern, die Louis Bonaparte vertrat, als „die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft" bezeichnet. Wenn sich diese Mittelgruppen gegen die wachsende Bedeutung der Bildung mobil machen lassen, dann zwingen sie die Intellektuellen, sich zu radikalisieren. Wenn sich m i t ihrer Hilfe das establishment behauptet, dann ziehen sie ihre Länder i n den Weltbürgerkrieg hinein. Viele der hier gewonnenen Einsichten lassen sich auch auf den kommunistischen Osten und auf die Entwicklungsländer anwenden: Die wachsende Bedeutung der Bildung, die kritische Haltung einer Jugend, der ein bestimmtes Mindestmaß von Lebenssicherheit bereits vertraut ist, und der das alte Ressentiment aus Kriegen und Bürgerkriegen fehlt. Ob sie sich einmal durchsetzen kann, und wann und wie, hängt von vielen Bedingungen ab, die hier nicht erörtert werden können, auch soweit sie bereits bekannt sind. Einen entscheidenden Einfluß hat die zur Religion verhärtete Ideologie. Grade deswegen ist an eine Entspannung nur zu denken, wenn der Westen glaubwürdig ist. Die Sorge um diese Glaubwürdigkeit ist der tiefste Grund für das Bündnis von Realisten wie Hans Morgenthau und Radikalen i m Kampf gegen Johnsons Vietnam-Politik. Vor den schwersten Belastungsproben steht die intellektuelle Führung i n den Entwicklungsländern. Ganz wenige überragende Gestalten haben gleichzeitig die westliche Bildung aufnehmen und die Rolle eines Symbols für das eigene Volk durchhalten können, wie der große französische Dichter Sedar Senghor, der von Malinowski geschulte Soziologe Jomo Kenyatta. Selbst Nehru hat sich weder ganz als Inder noch ganz als Europäer gefühlt. Noch viel schwieriger ist die Lage der jungen Generation, die unvermeidlicherweise oft nur unzulänglich gebildet ist. Der Ausbruch ins Emotionale, i n den Haß, der sich ebensogut gegen farbige Nachbarn wie gegen die Weißen richten kann, liegt zu nahe. Daher ist auch die kleinste glaubwürdige Hilfe, etwa durch das Friedenskorps, von größter Bedeutung. Daher sind Begegnungen auf gleicher Ebene gar nicht zu überschätzen, selbst wenn sie m i t so minimaler Effizienz vor sich gehen, wie i n den Vereinten Nationen. Es ergibt sich aus dem Charakter des planetarischen Zeitalters, für das w i r den Begriff „elektronisch" noch gar nicht zu bemühen brauchen, daß man kein soziales Problem isoliert behandeln kann. Alle Fäden laufen zusammen, und jeder Versuch, sie zu entwirren, macht die Komplikationen nur deutlicher. So kann auch dieser Versuch i m besten Fall ein paar Durchblicke geben und darauf hinweisen, wo zukünftige Forschung m i t fruchtbaren Fragen einsetzen kann. Und er kann zeigen, wo geistig und politisch die Sackgassen sind. Es gehört ja leider zum

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Otto Heinrich von der Gablentz

Charakter der politischen Wissenschaft, daß die negativen Werturteile sehr viel sicherer sind als die positiven. U m so wichtiger ist es, festzuhalten, daß es so etwas gibt, wie einen „Gesamtprozeß der Geschichte", ein Gemeinwohl der Klassen, Völker und Menschen, daß es lohnt, an seiner Erkenntnis und Verwirklichung zu arbeiten. Für diese Arbeit ist eine große und wachsende Schicht da, nicht nur mit einer Idee, sondern auch m i t einem Interesse, ohne dessen M i t w i r k u n g sich bekanntlich die Idee immer blamiert.

Die Universität als Ort politischer Bildung Von Fritz Borinski I.

Das hier gewählte Thema hat Aktualität. Es hat, wie ich weiß, ein nicht nur aktuelles, sondern grundsätzliches Interesse für den Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist. Es war und ist seit Jahren Gegenstand gemeinsamer Gespräche zwischen uns, gemeinsamer Sorge und Bemühung, — nicht nur i m Beirat des Beauftragten für politische B i l dungsarbeit. Wenn ich versuche, an diesem Ort einige Gedanken zu diesem umstrittenen politischen und pädagogischen Gegenstand zu äußern, so w i l l ich damit Gert von Eynern danken für Jahre guter, freundschaftlicher Zusammenarbeit, die der Freien Universität und ihrer freien Studentenschaft i m Zeichen demokratischer Verantwortung galt. II. Die politische Bildung einer Gesellschaft ist der politischen Struktur dieser Gesellschaft zugeordnet. Sie erhält i n der Demokratie Auftrag und Funktion von der demokratischen Gesellschaft. Die Demokratie setzt politische Bürger voraus. Sie beruht auf dem politischen Bewußtsein und dem Freiheitswillen ihrer Bürger. Beide zu wecken, zu formen, zu vertiefen, ist Aufgabe der politischen Bildung. Dabei muß sich der Bildende bewußt sein, daß die Elemente seiner Arbeit, das Politische und das Pädagogische, i n einem unausweichlichen dialektischen Spannungsverhältnis zueinander stehen. W i r haben i n diesen Jahren des öfteren erlebt, daß politische Gruppen versuchten, die „politische Bildung" einseitig für ihre Machtzwecke zu mißbrauchen. Der politische Erzieher darf nicht zum politisierenden Agitator werden. Er darf aber auch nicht i m Eifer seines pädagogischen Berufs die Gegebenheiten des politischen Lebens übersehen, ihre Gegensätze und Kämpfe zu einer billigen harmonischen Partnerschaft verharmlosen wollen. Politische Bildung i n der Demokratie ist i m Ausgang und i m Ziel auf die Demokratie bezogen. Wer zur Demokratie bilden w i l l , muß sich für sie entschieden haben. Die klare eigene Entscheidung bedeutet aber

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nicht, daß man dem anderen seine freie Entscheidung vorenthalte oder ausrede. Erziehung zur Demokratie ist Erziehung zum kritischen Bewußtsein, zur eigenen, freien Entscheidung. I n der politischen Bildung der Demokratie hat Indoktrinieren ebenso wenig einen Platz wie ein unverbindliches, unentschiedenes Theoretisieren und Informieren. I n der Demokratie gibt es keine unpolitische Bildung. Deshalb bemüht man sich i n unserer westdeutschen Demokratie, politische Bildung als Bildungsprinzip und als Unterrichtsfach i n die Schule einzufügen. Über die Probleme dieses Bemühens kann hier nicht gesprochen werden. Jedenfalls muß man sich der Grenzen bewußt sein, die die psychologische Entwicklung und der Mangel an selbständiger gesellschaftlicher Erfahrung solchen — i n sich berechtigten — Bemühungen bei Kindern und Jugendlichen setzen. Die Schule kann nur eine erste Fundamentalbildung, eine „politische Propädeutik" vermitteln. Der politische B i l dungsprozeß muß weiter gehen: über die berufliche Ausbildung zur B i l dung des erwachsenen, mündigen Menschen, der sein eigenes Leben in Beruf, Familie und Staat führt, seine eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen macht und sie m i t politischem Urteil verbinden soll. Die politische Bildung schreitet fort mit den Lebenserfahrungen und Lebensentscheidungen der Menschen. A u f jeder Stufe ihres Weges, — in der Schule, der Jugendarbeit, der Berufsschule, der Hochschule, der Erwachsenenbildung — steht sie unter besonderen Gesetzen, gemäß der besonderen Bildungssituation. Trotzdem gelten für alle Stufen des Prozesses gewisse gemeinsame Gesetze. Es handelt sich immer darum, den einzelnen Menschen, m i t seinen persönlichen Eigentümlichkeiten, Voraussetzungen und Interessen, i n eine i h m gemäße Verbindung zu bringen mit den Sachverhalten der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Diese Sachverhalte sind nicht als totes Wissen zu übernehmen, — sie müssen selbsttätig begriffen und i n das eigene Denken und Verhalten einbezogen werden. Die Lehre von der politischen Wirklichkeit lehrt sowohl Achtung vor den Gegebenheiten, i n denen w i r zu leben und zu wirken haben, („Anpassung"), wie stete, wachsame K r i t i k , — Bereitschaft zum „Widerstand". Dabei muß diese „politische Didaktik" stets aktuell und auf das geordnete Ganze bezogen sein. Sie geht aus vom Geschehen des Tages, auf das sie immer wieder Bezug nimmt, aber sie zielt zugleich auf den systematischen Zusammenhang, der dem aktuellen Ereignis seinen Sinn gibt, es erst recht verstehen läßt. Diese Lehre muß eine Fülle von sachlichen Informationen vermitteln über das Geschehen, die Institutionen und Verfahren der politischen Welt. Sie darf aber bei der Information und Institution nicht stehenbleiben. Sie muß zeigen, wie Informationen kritisch aufzunehmen und auszuwerten sind und wie die Bewegung des politischen Lebens i n den Institutionen und Gesetzen ihren Ausdruck

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findet und über sie hinausdrängt, — wie das Wesen des Politischen sich weder i m Tagesklatsch der Journale noch i n der Maschinerie der politischen Verbände erfüllt, sondern vom Widerstreit des Lebens getragen ist und immer von neuem die Menschen und Gruppen zum aktiven M i t wirken, zur eigenen Entscheidung auffordert. Politische Bildung umgreift Wissen und Verhalten, soll den Verstand wie den Willen der Menschen m i t politischem Bewußtsein erfüllen. Hierfür genügt nicht die Beschränkung auf ein einzelnes Fach, dem allein der Auftrag politischer Lehre übertragen wird, während die anderen Fächer sich völlig unpolitisch geben und die Struktur, der Lehr- und Lebensstil der Bildungsstätte oft wenig m i t Demokratie gemein haben. Demokratie muß nicht nur als Theorie gelehrt, sie muß auch als Praxis geübt werden. A l l dies gilt für jede Stufe des Prozesses politischer Bildung, — auch für die Stufe der Hochschule.

in. Auch die Universität ist ein Ort politischer Bildung. Auch für die Universität gilt, daß es i n der Demokratie keine unpolitische Bildung gibt. Wie steht es um die Bildungssituation der Universität? Die Studenten sind keine unmündigen Jugendlichen mehr, sondern junge Erwachsene. Sie stehen jedoch, — anders als der Lehrling eines kaufmännischen oder industriellen Betriebs, dessen Ausbildung dem Erwerbsleben eingeordnet ist, — i n einem Bildungs- und Ausbildungsbereich eigener A r t , i n einem Zwischenreich zwischen Schule und Erwerbsleben, das der autonomen Wissenschaft gewidmet ist. Sie sollen „zwischen der Schule und dem E i n t r i t t ins Leben eine Anzahl von Jahren ausschließlich dem wissenschaftlichen Nachdenken... widmen", i n „Freiheit und hilfreicher Einsamkeit" i n sich selbst „die Einsicht i n die Wissenschaft finden". So sieht Humboldt die Studenten. Aber auch Humboldt weiß von Grenzen dieser geistigen Autonomie. Er räumt ein, daß es dem Staat bei seinen Studenten nicht „ u m Wissen und Reden, sondern u m Charakter und Handeln zu t u n ist", und daß die Universität „immer i n enger Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates steht". Nunmehr aber sind i n der modernen demokratischen Gesellschaft Universität und Studium der Gesellschaft und dem Staat noch näher gerückt. Das Studium ist nicht mehr autonome Bildung durch „reine Wissenschaft", sondern Ausbildung für die Gesellschaft und ihre Berufe. Geblieben ist freilich das eigenartige Zwischenreich „zwischen der Schule und dem E i n t r i t t ins Leben". I n der modernen „Leistungsgesellschaft" ist seine Zwischenstellung aber von schweren sozial-psychologi18 Festgabe für Gert von Eynern

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sehen Problemen belastet, die sich ergeben durch den Widerspruch zwischen formaler Mündigkeit und materieller Unselbständigkeit, geistigem Anspruch und mangelnder gesellschaftlicher Geltung, dem selbständigen sozialen Status als Wähler und Familiengründer und der Unselbständigkeit einer Existenz, die dem beruflichem Erwerb noch vorgeschaltet ist. Diese Problematik kennzeichnet die Bildungssituation der Studenten i n der Gegenwart. Hinzu kommt der Anspruch auf Wissenschaft, den alle Bildung i m Bereich der Universität erfüllen muß. W i r haben von der hier nur kurz skizzierten Bildungssituation auszugehen und nunmehr die Notwendigkeit politischer Bildungsarbeit auf der Stufe der Hochschule abzuleiten von ihrer Aufgabe, den Nachwuchs für die Wissenschaft und für leitende Berufe i n Gesellschaft und Staat zu bilden und auszubilden. Die Gesellschaft braucht „ i n wachsender Zahl Menschen, die mehr sind als mit Fachwissen ausgestattete und für ihre Berufsarbeit ausgebildete Praktiker" 1 . Der künftige Jurist, Arzt oder Forscher muß frühzeitig die gesellschaftliche Funktion und Verantwortung seines Berufes kennen und verstehen lernen und er muß begreifen, daß eine leitende, verantwortliche Stellung i n der Gesellschaft politisches Bewußtsein, politische Kenntnis und Urteilsfähigkeit verlangt. Deshalb hat die politische Bildung an der Universität ihren notwendigen und legitimen Ort. Sie kann sich nicht beschränken auf Lehrveranstaltungen der politischen Fachwissenschaft, sondern muß als B i l dungs- und Ausbildungsprinzip i n allen Fakultäten und Disziplinen beachtet und als Grundwissen für die Studenten aller Fakultäten gelehrt werden. Das hat zur didaktischen Konsequenz: I n allen Fakultäten muß die Beziehung des Fachs und Berufs zur Gesellschaft und Politik dargelegt werden, so daß die Stellung des Juristen, des Arztes, des Lehrers, des Ingenieurs i n der Gesellschaft bewußt wird. (Daß dies keine einseitige Politisierung der Fachwissenschaft, keine totalitäre Gleichschaltung bedeutet, w i r d noch gezeigt werden.) Darüber hinaus ist eine Grundlehre von der politischen Wirklichkeit zu entwickeln, die die A n wärter aller akademischen Berufe befähigt, das politische Geschehen mit kritischem Verständnis zu verfolgen und sich, wenn sie die Universität verlassen und ihren Beruf ergriffen haben, m i t Hilfe der Informationsmittel, der einschlägigen Literatur und des Angebots weiterbildender Kurse (Kontaktstudium, Erwachsenenbildung) auf dem Laufenden zu halten. Hier wäre ein didaktisches Programm der politischen akademischen Grundbildung zu entwerfen. W i r müssen uns jedoch auf einige wenige Bemerkungen beschränken. Ziel der Grundbildung kann es nicht sein, Spezialisten der Außen-, Verfassungs-, Wirtschafts- oder Bildungspoli1

Empfehlungen des Wissenschaftsrats, 1966, S. 14.

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t i k auszubilden, wohl aber soll sie Bürger bilden, die um die grundlegenden Sachverhalte und Probleme des vielfältigen politischen Lebens wissen und fähig sind, sich über die jeweils zur Entscheidung stehenden Fragen ein selbständiges, sachlich fundiertes Urteil zu bilden. Wer die Grundfragen und elementaren Voraussetzungen der Machtverteilung i n der Welt, des Wahlrechts und des Parteiwesens, der wirtschaftlichen Konzentration und Konjunktur oder der Demokratisierung unseres Bildungswesens nicht kennt, nicht versteht, ist ein politischer A n alphabet; er ist den fragwürdigen „Informationen" manipulierter Meinungsmache ausgeliefert und unfähig, sein Recht und seine Pflicht als demokratischer (und akademischer!) Bürger mit der erforderlichen Selbständigkeit und Verantwortung wahrzunehmen. Die politisch-pädagogische Didaktik zielt auf den freien, verantwortlichen und kritischen Bürger der Demokratie. Darum muß ihre Lehre frei, verantwortlich und kritisch sein. Sie soll sich dem Prinzip, der Lebensform der Demokratie verpflichtet wissen und, indem sie Engagement und K r i t i k , Anpassung und Widerstand, Freiheit und Verantwortung i n sich verbindet, die jungen Bürger i n dieser von uns und von ihnen geforderten Verbindung bilden. Es geht aber nicht nur u m die didaktische Zielsetzung und Auswahl der politischen Lehre, es geht auch um ihre Methode. Bildung zur Freiheit muß i n Freiheit geschehen, muß Selbsttätigkeit und Selbstbildung sein. Das gilt schon für die Schule; noch mehr aber für die Hochschule, wo junge Erwachsene zu wissenschaftlich-kritischem Denken und Verhalten angehalten werden. I n ihrer politischen Lehre sollte der autoritative Monolog vom Katheder herab keinen Platz haben. Dialog und Diskussion, freie Kooperation und Teamarbeit i n kleinen, alle zu aktiver Arbeit verbindenden Gruppen, Seminare und Colloquien sind die gegebenen Arbeitsformen freier politischer Bildung an der Universität. Die Studenten sollen die Lehre nicht passiv hinnehmen, sondern sich aktiv erarbeiten. Sie sollen — wie i n der demokratischen Erwachsenenbildung — den Gang ihrer politischen Studien mitbestimmen und eigene Initiative entwickeln. Die Lehrveranstaltungen der Universität sind zu ergänzen durch das — von der Universität zu fördernde — Werk der politischen Selbstbildung, das von den Studentenvertretungen, den Studentengruppen und Studentenheimen unternommen, durch Studenten geleitet und getragen wird, die sich nach Bedarf Wissenschaftler und Experten der Politik zu ihrer Unterstützung heranholen. Hiermit berühren w i r ein letztes wichtiges Arbeitsfeld der politischen Bildung an der Universität: die studentische Selbstverwaltung und M i t bestimmung. Das hessische Hochschulgesetz vom 16. Mai 1966 legt fest, daß die Studentenschaft ihre Angelegenheiten selbst verwaltet und an 18*

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der Selbstverwaltung ihrer Hochschulen m i t w i r k t (§ 34 I). Es macht die Studentenschaft zu einer rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts, m i t Pflichtbeiträgen der Studenten und einem eigenen Haushaltsplan (§ 33). Es nennt als Aufgaben der Studentenschaft u.a.: die Vertretung der Gesamtheit ihrer Mitglieder, die Wahrnehmung der hochschulpolitischen Belange und der wirtschaftlichen Selbsthilfe ihrer Mitglieder, die M i t w i r k u n g bei der Studentenförderung und die Förderung der politischen Bildung und des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins der Studenten (§ 34 II). Ähnliches gilt für die Universitäten i n anderen westdeutschen Ländern, an der Spitze die Freie Universität Berlin (das „Berliner Modell"). Es gilt auch für die studentische Selbstverwaltung i n vielen Studentenheimen und Studentendörfern. I n diesem gesetzlich festgelegten, öffentlich garantierten Recht der studentischen Selbstverwaltung und Mitbestimmung zeigt sich der besondere, die Mündigkeit der jungen Erwachsenen anerkennende Status der Hochschulstudenten. Diese rechtliche und institutionelle Regelung geht weit über die Versuche der Schulbehörden hinaus, Jugendliche zur „Schülermitverantwortung" heranzuziehen. Hier w i r d nicht mehr „ i m Sandkasten gespielt", sondern eine klare rechtliche Stellung fixiert, eine klare öffentliche Verantwortung übertragen. Die kommunale Selbstverwaltung ist i n vielen Staaten zur Schule der Demokratie geworden. W i r d das der Selbstverwaltung deutscher Studenten gelingen? Die Möglichkeiten dazu sind gegeben: Die studentische Exekutive (Studentenvertretung) hat z. B. i n Berlin eine „Gemeinde" von 15 000 Köpfen zu verwalten, — mehr als viele Bürgermeister! Der Studentenvertreter w i r d i m Studentenparlament und i m Studentenausschuß, i n den studentischen Ämtern, den Fachschaften und Institutsvertretungen, i n der M i t w i r k u n g bei Beratungen und Beschlüssen der verschiedenen Universitätsorgane vor Aufgaben der öffentlichen Willensbildung und Entscheidung gestellt, an denen er demokratisches Verhalten lernen kann. W i r wissen, daß gerade auf dem Feld der Politik und der politischen Bildung das praktische Leben, die eigene praktische Erfahrung entscheidendes Gewicht hat. Deshalb kommt der Möglichkeit, i n den Funktionen der Selbstverwaltung auf einem begrenzten, dem eigenen Lebensbereich verbundenen Bereich politische Erfahrungen zu sammeln, eine wesentliche Bedeutung für die politische Bildung zu. Diese „Schule der Praxis" müßte freilich enger und bewußter m i t der politischen Lehre verbunden werden als es heute zumeist geschieht. Da sind z. B. die Theorien und Probleme der Selbstverwaltung und der Bildungspolitik, speziell der Hochschulpolitik, i n der modernen Demokratie, Probleme, an denen die formalen Chancen studentischer Selbstverwaltung heute zu scheitern drohen, — sehr zum Schaden demokratischer Bildung.

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Ich nenne drei von diesen Problemen: das Problem der realen Begrenzung aller Selbstverwaltung durch die ihr übergeordnete Körperschaft (in unserem Fall: Universität und Staat), das Problem der Abhängigkeit des demokratischen Funktionierens einer Selbstverwaltung von dem demokratischen Bewußtsein und Stil ihrer Träger und Partner, und schließlich das Problem des schnellen Umschlags der beteiligten Menschen, des raschen Wechsels der Personen i m A m t und i n der Gemeinde, das der Übergangscharakter des Studiums m i t sich bringt (im Gegensatz zu den Amtsträgern und Gemeinden der kommunalen Selbstverwaltung). Diese Probleme machen uns Sorgen. Sie haben heute die studentische Selbstverwaltung als Bildungsweg zur Demokratie i n Frage gestellt. Die tiefe Unruhe und Unzufriedenheit großer Teile der Studentenschaft i n Deutschland und i n der modernen Gesellschaft kommt hinzu. Die Universität droht, statt zu einem Ort politischer B i l dung zu einem Kampfplatz der Generationen und pseudogewerkschaftlich organisierten Interessengruppen zu werden, auf dem die politische Bildung durch politische A k t i o n und Agitation ersetzt wird. Wie ist unter solchen Umständen politische Bildung möglich? IV. Die Ereignisse der letzten Jahre haben an unserer Universität mit dem „Berliner Modell" auch die hier versuchte politische Bildungsarbeit auf eine harte Probe gestellt. Man hat gefragt, ob die Freie Universität nicht allzu frei sei. Manche haben der politischen Bildung die Schuld gegeben, — sie habe die Universität „politisiert" und heillose Unruhe gestiftet, — während andere i n der Radikalisierung von Teilen der Studentenschaft ein Versagen eben dieser politischen Bildung sehen und i n diesen Tagen sich ein Aktionskomitee des A S t A daran macht, i n der geplanten „Kritischen Universität" eine ungenügende „Politische Bildung" durch die richtige zu ersetzen. Wer hat recht? Die recht verstandene politische Bildung besteht keineswegs i n einer künstlichen Politisierung der Wissenschaft, auf Kosten ihrer Freiheit und ihrer Wahrheit. Sie w i l l nicht die Wissenschaft gewaltsam politisieren, sondern den Studenten der Wissenschaft zum Bürger bilden, zumal es dem Staat, sagt Humboldt, „ u m Charakter und Handeln zu t u n ist". Die i n der Bewegung des Juni von extremistischen Studenten erhobene Forderung auf Politisierung der Wissenschaft widerstreitet als Versuch gewaltsamer Indoktrinierung aller demokratischen politischen Bildung; sie wendet sich gegen die Freiheit der Wissenschaft und der auf diese gegründeten Demokratie. Zum zweiten fragen w i r : Wie weit kann politische Bildungsarbeit allein eine Radikalisierung junger Menschen verhindern, wenn unbe-

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friedigende Zustände i n der Hochschule und i n der Gesellschaft sie befördern? Damit ist nicht gesagt, daß i n der bisher geübten politischen Bildungsarbeit nicht wichtige Aufgaben, wie z. B. die kritische Behandlung der Probleme der Demokratie und des Extremismus i n der modernen Gesellschaft vernachlässigt worden sind. Dies führt zu den Vorwürfen der Verfechter einer „Kritischen Universität" gegen die bisher geübte politische Bildungsarbeit. W i r meinen, daß diesen Vorwürfen einseitig-polemische Begriffe von „ P o l i t i k " und „Politischer Bildung", von „Bildung durch A k t i o n " und „plebiszitärer Demokratie" zu Grunde liegen. Davon ist später zu sprechen. Vorher ist jedoch zu fragen: Wie weit sind heute an deutschen Universitäten, speziell an der Freien Universität Berlin, die unumgänglichen Voraussetzungen für eine demokratische Bildungsarbeit gegeben? Ernst Fraenkel hat vor einigen Monaten darauf hingewiesen, daß das Gelingen des „Berliner Modells" als eines demokratischen Experiments abhängt von der Existenz und von der A n erkennung eines „ M i n i m u m des Nicht-Kontroversen" und von der allgemeinen Geltung von Grundprinzipien des akademischen und demokratischen Verhaltens, der Fairneß und des Takts. W i r fragen: Wie weit gelten diese Prinzipien, die das öffentliche Leben i n älteren Demokratien wie England beherrschen, heute i n unserer deutschen Gesellschaft und an unseren Universitäten? I n den Auseinandersetzungen an der Freien Universität werfen die Studenten den Professoren autoritäres Verhalten vor, die Professoren entgegnen mit dem Vorwurf eines Mangels an Takt auf Seiten der Studentenvertreter. Beide Vorwürfe verallgemeinern, beide Vorwürfe sind begründet. Es läßt sich nicht leugnen, daß die starken traditionellen Elemente i n der Struktur deutscher Universitäten — auch der Freien Universität — autoritären Charakter haben und sich bisher seltener als z. B. i n England mit demokratischen Formen und Verhaltensweisen verbinden konnten. Das hängt mit der Problematik demokratischer Entwicklung i n der deutschen Gesellschaft zusammen, einer Problematik, die politische Bildung i n Deutschland erschwert, aber zugleich um so dringlicher verlangt. Das bezieht sich auch auf den Bildungsraum der Universität, wo das gleiche gilt, was schon vor vierzig Jahren Georg Kerschensteiner für den Bildungsraum der Schule feststellte: Erziehung zur Demokratie setzt nicht nur ein demokratisches Engagement derer voraus, die politische Bildungsarbeit leisten, sondern eine entsprechende Verfassung der Bildungsstätte und eine entsprechende Verhaltensweise möglichst aller Lehrenden. W i r müssen fragen, ob nicht allzu oft das selbstsicher-überlegene Benehmen von Professoren und der konventionelle obrigkeitliche Amtsstil von Universitätsorganen die Beziehungen zwischen Professor und Student, Rektor bzw. Dekan und Studentenvertreter unnötig formalisiert und versteift, so daß jene informelle

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Gelassenheit und menschlich gelöste Offenheit, die das Benehmen der Lehrenden und Lernenden an den Hochschulen alter Demokratien kennzeichnet, bei uns noch nicht zur Regel geworden ist. W i r wissen, daß w i r hier an eine schwierige Frage rühren. Demokratie wurzelt i n Gesinnung und Haltung der Menschen. Es ist nicht leicht, altgewohnte Vorstellungen und Verhaltensweisen, die das Verhältnis zwischen A l t und Jung, Wissenden und Lernenden, „Etablierten" und unselbständigen „Anwärtern" betreffen und regeln, zu revidieren. Wo aber die gelöste Atmosphäre gegenseitiger Anerkennung und Offenheit nicht besteht, da ist schwerlich jene freie, verständnisvolle Kooperation möglich, die zum Wesen demokratischer Selbstverwaltung und Bildung gehört. M i r scheint, daß verschiedene Mißverständnisse der letzten Jahre aus dieser Wurzel stammen. Wer mit Studentenvertretern und Leitern studentischer Gruppen zusammenarbeitet, konnte beobachten, wie sich die Haltung dieser Studenten zum Negativen wandte. Ihr Mißtrauen, ihre K r i t i k an der „Ordinarienuniversität", am „Establishment", an der „Sandkastendemokratie", wurden schärfer; — es ist kein Zufall, daß ein beträchtlicher Teil dieser aktiven Studentenvertreter von der „SchülermitVerantwortung" und der Schülerpresse herkommt, Enttäuschungen über das Versagen dieser Versuche einer demokratischen Jugendbildung mitbringt und nun an der Universität festzustellen meint, daß ihnen hier wiederum ein überholter Autoritätsanspruch und eine Scheindemokratie entgegentritt. Enttäuschung führt zu Unsicherheit, Unsicherheit zu Taktlosigkeit und Mißtrauen. Amerikanische Vorbilder von Studentenunruhen und deutsche Enttäuschungen an der Demokratie, nicht nur i m Schulzimmer und Hörsaal, sondern i m großen Bau der Gesellschaft, kommen hinzu. Vor zwölf Jahren warnte der Deutsche Ausschuß für das Erziehungsund Bildungswesen: „Aber die politische Erziehung des Volkes i m ganzen geschieht wesentlich durch die Politik selbst. Deshalb werden die Bemühungen um politische Erziehung scheitern, wenn nicht die Politiker sich der erzieherischen Wirkungen bewußt sind, die i m Guten und Schlechten von ihrem Handeln ausgehen." Unter den Studenten — freilich nicht nur i n Deutschland — hat sich eine Haltung des „Unbehagens an der Politik" verbreitet, die sich gegen die bestehende Gesellschaft, ihren Staat und ihre Hochschule wendet und zu Protestaktionen drängt. Sie weist der studentischen Selbstverwaltung und politischen Selbstbildung wesentlich veränderte Funktionen zu. Die noch i m Aufbau begriffene, noch nicht i n ihren Möglichkeiten und Grenzen, ihren Rechten und Pflichten voll eingespielte studentische Selbstverwaltung gerät i n den Sog der politischen Radikalisierung. Die studentische Selbstverwaltung erscheint nicht mehr als ein von der übergeordneten Körperschaft Universität an die Studenten

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delegierter Bereich der Selbstbestimmung i m Rahmen der allseitig anerkannten gemeinsamen Ordnung, sondern als politische Waffe i m „Emanzipationskampf" der Studenten gegen die „etablierte Ordinarienuniversität". I n diesem Befreiungskampf gelten statt der demokratischen Spielregeln amoralische Kampfesregeln. Sie gelten i n der Auseinandersetzung mit Vertretern des „Establishment". Man überschreitet bewußt die Grenzen der eigenen Kompetenz, indem man für die Studentenvertretung ein „Politisches Mandat" beansprucht und wahrnimmt. Man sucht und steigert den Konflikt, da i n i h m die „unpolitische Masse" der Studenten zur politischen Parteinahme getrieben werden soll. Sie soll m i t allen M i t t e l n politisiert werden. Dem dient auch die politische Intervention (s. den Offenen Brief des Konvents der F U an die Vertreter der Regierungen der Alliierten Mächte i n Berlin vom 30. 6. 1967) und die politische Demonstration. Die „direkte politische A k t i o n " spielt nunmehr eine hervorragende Rolle i n den Aktivitäten der Studentenvertretung und der von ihr (und den i n ihr herrschenden hochschulpolitischen Gruppen) ausgehenden Politischen Bildung. Die — • unklar begründete — These vom Emanzipationskampf der Studenten wandelt die studentische Auffassung vom Wesen und Ziel politischer Bildungsarbeit. Wie i m Bereich der Selbstverwaltung und Mitbestimmung steht man der „anderen Seite", d. h. hier den Lehrveranstaltungen der Professoren, mit gesteigertem Mißtrauen gegenüber. Es geht aber nicht nur u m die Person, es geht auch u m den Inhalt und die Form einer diesem politischen Selbstverständnis der Studenten angemessen erscheinenden politischen Bildungsarbeit. Diesem Selbstverständnis entspricht nicht mehr eine kritische Einführung i n das Wesen und die Wirklichkeit der Politik, eine kritische Information und Diskussion über politische Vorgänge und Probleme (wie sie z.B. i n den Students Unions der britischen Universitäten geschieht), sondern bewußte Parteilichkeit, einseitige Propaganda und gemeinsame Aktion. Die politische A k t i v i t ä t ist nicht mehr Ziel, Ergänzung und Erprobung theoretischer Bildungsarbeit. Sie ist Anreiz und Hebel einer — emotionalen und irrationalen! — Politisierung. Man geht daran, den Studenten und die Hochschule zu politisieren, indem man Front bezieht gegen die bestehende Gesellschaft, gegen die realen Institutionen und Formen der Demokratie. Berechtigte Gesellschaftskritik und Non-Konformität verengen sich zur Leugnung aller freiheitlichen Möglichkeiten i m Rahmen der bestehenden Ordnung, zu einem negativen, irrealen Konzept der Verwirklichung von Demokratie i m Staat, i n der Gesellschaft, — auch i n der Hochschule. Man begegnet den Prinzipien der Vertraulichkeit und Repräsentation, wie sie i m Senat und i n den Fakultäten zum Ausdruck kommen, m i t den Forderungen nach unbegrenzter öffentlicher Diskussion und nach studentischen Vollversammlungen als den einzigen

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Mitteln einer unverfälschten Willensbildung i n der wahren, plebiszitären Demokratie. I n der Bildungsarbeit der Studenten t r i t t das sachlich-kritische Seminar, das Podiumsgespräch mit gleich starken Vertretern verschiedener Richtungen zurück hinter Schulungsgruppen und Großveranstaltungen einseitiger Tendenz. Die Grundlagen aller freien politischen Bildungsarbeit, nämlich stete Bereitschaft zur verantwortlichen K r i t i k , menschliche und sachliche Offenheit, werden verlassen. Sie weichen einseitiger Agitation und Aktion. Die der Demokratie angemessene politische B i l dung verwandelt sich i n ein System der tendenziösen Schulung und Propaganda. Politische Bildung w i r d zum Instrument extremistischer revolutionärer Machtpolitiker, die den Menschen und die Wissenschaft zu politisieren suchen i m Interesse und i m Gefolge der einen, absoluten machtpolitischen und wissenschaftspolitischen Richtung. So w i r d politische Bildung mißverstanden und mißbraucht als totale Politisierung, als einseitige politische Radikalisierung der Studenten, der Dozenten, der wissenschaftlichen Lehren und Methoden. Ein solches Mißverständnis der politischen Bildung (in Verbindung m i t einer entsprechend politisierten Studien- und Hochschulreform) liegt dem Konzept einer „Kritischen Universität" zugrunde, wie es jetzt vom A S t A verkündet wird. Seine Verwirklichung wäre das Ende der freien politischen Bildungsarbeit wie der freien Wissenschaft.

V. Was aber ist zu tun? Es kann nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, das Berliner Modell zu verbessern oder das Programm einer besseren politischen Bildung am Ort der Universität zu entwerfen. Wie steht es aber um die Geltung von Grundprinzipien des demokratischen Verhaltens, von den Prinzipien der Fairneß und des Takts, der gegenseitigen Achtung und Toleranz an unseren Universitäten? W i r müssen antworten, daß diese Voraussetzung nur sehr begrenzt erfüllt ist. Der Berliner Konflikt hat eben dadurch seine Schärfe erhalten und sich zur „Eskalation" gesteigert, daß demokratisches Benehmen an unserer Universität zu schwach entwickelt war und, als die Spannung wuchs, weiter an Geltung verlor. Damit sind elementare Voraussetzungen demokratischer Bildungsarbeit fragwürdig geworden. Kann man das ändern? W i r versuchen, realistisch zu antworten, ohne zu resignieren. W i r brauchen nicht zu resignieren, wenn w i r aus dem Verlauf des Konflikts die richtigen Lehren ziehen. Sie heißen: Reform, realistische Entschiedenheit, gesellschaftskritische Pädagogik, demokratische Lebens- und Umgangsformen. W i r wollen das noch kurz erläutern:

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1. Die durch die studentischen Unruhen i n ihrer Notwendigkeit bestätigte politische Bildungsarbeit kann ihren wahren Charakter und ihre volle Wirksamkeit nur i n einer i n ihrer Verfassung und i n ihren Studien reformierten Universität erhalten. Die Reform muß auf der gültigen Überlieferung und auf den Erfordernissen freier Lehre und Forschung aufbauen. Sie muß offen sein für die Gebote der modernen beruflichen Ausbildung und der internationalen gesellschaftlichen Entwicklung. Sie muß gemeinsam von den Dozenten und Studenten i n theoretischen Erörterungen und praktischen Versuchen erarbeitet und verwirklicht werden. Die Tendenz, die Studien- und Hochschulreform politisch zu mißbrauchen, darf den Willen zur Reform nicht lähmen, die Entschlossenheit, sie voranzutreiben, nicht schwächen. Hochschulpolitik und Hochschulpädagogik bedingen einander, Studienreform und Hochschulreform sind untrennbar miteinander verbunden. Jeder Fortschritt auf diesem gemeinsamen Wege verbindet die Reformer, schafft Vertrauen und Mut zur Zusammenarbeit, steuert dem negativen Radikalismus und der Verwirrung. 2. Freilich läßt sich das politische Motiv der studentischen Unruhe nicht allein durch Reformen i m Raum der Hochschule abbauen. Der politische Radikalismus verlangt eine politische Antwort. Wenn i n der Bewegung der letzten Wochen die „Solidarisierung" großer Teile der Studentenschaft gegen die Berliner Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt hat, so ist damit auch die Berlin-Politik des Berliner Senats und des Bundes der K r i t i k unterworfen worden, — mit ihr unsere Außen- und Gesellschaftspolitik. Das Unbehagen an der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Politik läßt sich nicht durch einen unkritischen Pragmatismus blinder Anpassung beschwören. I h m kann nur die Haltung realistischer Entschiedenheit mit Erfolg begegnen, die m i t M u t und Offenheit es unternimmt, Schwächen, Mißstände und antidemokratische Tendenzen i n unserer Gesellschaft anzugreifen. Man darf die lebensnotwendige Gesellschaftskritik nicht antidemokratischen Kreisen überlassen, die sich zum A n w a l t der Freiheit aufwerfen, um die Freiheit vollends abzuschaffen. Es ist zu wünschen, daß die Studenten innerhalb und außerhalb der Hochschule vertrauenswürdigen Vertretern einer verantwortungsvollen, positiven Gesellschaftskritik begegnen, die aus dem Willen zur lebendigen Demokratie heraus die Mißstände und Gefahren der Gegenwart m i t realistischer Entschiedenheit bekämpfen. 3. Die hier geforderte Gesellschaftskritik macht nicht halt vor der Pädagogik, insbesondere vor der politischen Bildungsarbeit. Da eine moderne soziologisch-pädagogische Richtung die pädagogischen Reformer der zwanziger Jahre schlankweg als weltfremde K u l t u r - und Gesellschaftskritiker abtat, haben sich viele Pädagogen gar zu unkritisch

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einem billigen Pragmatismus und Positivismus ausgeliefert. Da man der jungen, von Problemen umstellten Bonner Demokratie i n den Sattel helfen wollte, stellte man die K r i t i k zurück und beschränkte sich auf positive Institutionenkunde. Die politische Bildungsarbeit darf aber auch an der Hochschule nicht zur unkritischen Anpassungslehre werden, die den Stachel der K r i t i k stumpf werden läßt und die Widersprüche von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit, die mannigfachen Mächte der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Meinungsbildung, die das Aufwachsen einer funktionierenden Demokratie i n Frage stellen, unberücksichtigt läßt. Eine gesellschaftskritische politische Bildungsarbeit muß auch den extremen Gegner ernst nehmen, seine geistigen und gesellschaftlichen Wurzeln aufdecken und sich mit i h m ernst und entschieden auseinandersetzen. Wirklichkeitsnahe politische Bildungsarbeit muß Bezug nehmen auf die dem Studenten gegebenen Möglichkeiten des praktischen Handelns i m begrenzten Bezirk der studentischen Selbstverwaltung wie i m breiten Bereich allgemeiner politischer Willensbildung i n Parteien und Verbänden. Die realen Möglichkeiten und Grenzen politischer A k t i v i t ä t i n den gegebenen Institutionen (oder gegen sie!) müssen kritisch überprüft und kontrolliert werden. 4. Die Demokratie verwirklicht sich nicht nur i n Rechtsformen und Institutionen, sondern vor allem i m Benehmen, i n der Denk- und Verhaltensweise der Menschen. Es ist sinnlos, einer formalen Demokratisierung, etwa i n plebiszitären Formen der politischen Willensbildung, nachzujagen, wenn die Menschen, die den politischen Willen bilden, Autokraten und Untertanen bleiben. Damit kommen w i r zurück auf die zu Anfang dieses Abschnitts gestellte Frage: Wie kann man den Grundprinzipien demokratischen Verhaltens, die i n der deutschen Gesellschaft nur schwach entwickelt sind, Geltung verschaffen? Prinzipien demokratischen Verhaltens sind gegenseitige Achtung und Toleranz, Fairneß und Takt. Sie setzen positive Erfahrung, Vertrauen i n den anderen Menschen voraus. Der Konflikt hat an unserer Universität negative Erfahrungen gehäuft, er wurde zur Vertrauenskrise. Vielleicht aber können Professoren wie Studenten i n der gemeinsamen Arbeit an den notwendigen Reformen, i m Bemühen um eine konstruktive Gesellschaftskritik und i m freien Zusammenwirken beim Aufbau einer verantwortlich-kritischen politischen Bildungsarbeit einige positive Erfahrungen gewinnen, die den Menschen die Kraft, die innere Freiheit zum demokratischen Verhalten geben. Freilich geht es nicht ohne Selbstüberwindung, ohne eine Vorausleistung auf beiden Seiten. Man kann nicht zusammenarbeiten, wenn man von Vorurteilen und Vorbehalten gegen den anderen beherrscht wird. Die ersten Erfahrungen i n den Reformkommissionen haben jedoch gezeigt,

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Fritz Borinski

daß es nicht unmöglich ist, i m direkten persönlichen Kontakt und i m Dienst an der Sache das Vorurteil zu revidieren. Man muß den M u t zum neuen Anfang haben. Man muß die innere Freiheit haben, u m dem anderen den Willen zu dem gerechten Urteil über Menschen und Sachen zuzubilligen, um das man sich selber bemüht. Dann w i r d die Arbeit an der demokratischen Reform der Hochschule zur demokratischen Reform des eigenen Verhaltens. Diese Reform soll den Umgang von Professoren und Studenten untereinander, ihre Beziehungen bei der Arbeit, ihr Zusammenwirken bei der akademischen Selbstverwaltung durchdringen. Sie kann helfen, i m Raum der Universität jenen freien Stil des öffentlichen Lebens zu schaffen, der der deutschen Demokratie heute noch weithin fehlt. Wenn die negativen Erfahrungen des Konflikts schließlich zu einer solchen positiven Leistung führen sollten, dann wären die Jahre des Zerwürfnisses und der Bitterkeit nicht umsonst gewesen. — VI. Auch die Universität ist ein Ort politischer Bildung. Sie mag zeitweilig von ihr gestört, ja erschüttert werden, — sie kann und darf ihrer Verpflichtung nicht untreu werden. Lehre und Forschung können i n der modernen Welt nicht von der Gesellschaft getrennt werden. I n der Stufenfolge politischer Bildung darf keine Stufe fehlen, sollen Bildung und Gesellschaft nicht ernsten Schaden leiden. Wenn die politische B i l dung i n der Schule versagt, so hat die Universität den Schaden zu tragen. Verfehlt die politische Bildung an der Universität ihre Aufgabe, so müssen Schule und Volk darunter leiden. W i r stehen am Anfang und haben i n Theorie und Praxis noch viel zu lernen. Die politische Bildungsarbeit an der Universität muß mit Mut und Umsicht, m i t kritischem Wirklichkeitssinn und unparteiischer Wissenschaftlichkeit ausgebaut werden, damit das politische Bewußtsein und der Freiheitswille der Bürger i n unserer Welt bestehen.

Mit Prognosen leben: Der Einfluß von Wahlvoraussagen auf das Wählerverhalten Von Wolfgang Hartenstein Siegessicherheit ist ein altes M i t t e l der Wahlkampfführung. Seit u m Wählergunst gestritten wurde, hat es an Versuchen nicht gefehlt, weitere Stimmen durch den Hinweis auf bereits vorhandene zu mobilisieren. Ob die Methode, mit den eigenen Siegeschancen zu werben, besonders logisch und wirkungsvoll ist, sei dahingestellt; daß sie legitim ist, wurde nie bestritten. Seit es ein Instrument gibt, m i t dem sich Meinungen rasch und präzise registrieren lassen, gerät die Methode i n den Geruch des Unerlaubten. Nicht nur i n der Bundesrepublik sind Kontroversen entbrannt, ob die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen über die Parteisympathien die Stimmabgabe merklich beeinflussen kann; und ob dies denn sein dürfe. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde i n der Nacht der letzten Bundestagswahl erreicht, als ein prominenter Politiker den V o r w u r f erhob, Öffentlichkeit und Wählerschaft seien mit Hilfe der Demoskopie bewußt irregeführt worden. I n den dann folgenden methodologischen, terminologischen und ideologischen Scharmützeln zwischen Instituten, Parteien und Professoren wurde so viel Staub aufgewirbelt, daß m i t t lerweile kaum noch auszumachen ist, worum gestritten wurde. Waren falsche Zahlen veröffentlicht worden? Oder richtige Zahlen zurückgehalten? Oder richtige Zahlen zum falschen Zeitpunkt bekanntgegeben? Es dürfte dem Thema dienlich und dem Anlaß angemessen sein, das Schlachtfeld von 1965 zu verlassen, das Streitobjekt aus einiger Entfernung neu anzuvisieren und dabei festzustellen, daß es sich u m einen der politologischen Betrachtung würdigen Gegenstand handelt. Möglichkeit u n d Grenze der Wahlprognose

Ob und unter welchen Voraussetzungen es überhaupt möglich ist, ein künftiges Wahlergebnis einigermaßen exakt vorauszusagen, ist an sich für unser Thema ohne Belang: wenn Wähler sich beeinflussen lassen, dann ohne Rücksicht darauf, ob es sich um gute oder um schlechte Prognosen handelt. Doch hängen beide Fragen eng zusammen. Die öffentliche Kontroverse hat sich ebensosehr an der Qualität von Prognosen

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Wolfgang Hartenstein

wie an ihrem Effekt entzündet. Weil die methodischen Grundlagen und Grenzen einer Wahlvoraussage etwa so deutlich zutage liegen wie die eines delphischen Orakelspruchs, schleicht sich bei abweichenden Resultaten gern der Verdacht bewußter Manipulation ein. Und die Meinungsforschungsinstitute pflegen Wahlumfragen und ihre Veröffentlichung damit zu rechtfertigen, daß man der Öffentlichkeit diesen Test auf die Zuverlässigkeit der Methode doch schuldig sei. Bisher ist dieser Test etwa ebenso oft geglückt wie mißlungen. Es ist zu erwarten, daß die politische Prognostik von den Fortschritten i n der Erforschung des Wählerverhaltens einerseits, i n der Technik der Wahlkampfführung andererseits profitieren wird. Doch würde es beträchtlichen wissenschaftlichen Aufwand erfordern, die für sichere Voraussagen notwendigen Instrumente zu entwickeln; die Zahl der Unbekannten ist erheblich größer als bei Prognosen des generativen und kaum geringer als bei Prognosen des ökonomischen Verhaltens. Nun besteht i m Falle der Wahlen — anders als bei Bevölkerung oder Wirtschaft — kein offenkundiges gesamtgesellschaftliches Interesse an einer Vorausschau, das den erforderlichen Aufwand rechtfertigen könnte. Also w i r d man sich noch einige Zeit mit dem heute üblichen, recht groben Verfahren begnügen. Dieses Verfahren besteht darin, die i n einer Querschnittsbefragung geäußerten Parteipräferenzen vor einer Wahl auf die Stimmabgabe am Wahltag unreflektiert zu übertragen. Äußerliche Ähnlichkeiten scheinen diese Übertragung zu rechtfertigen: i n der Umfrage wie i m Wahlakt haben alle Stimmen das gleiche Gewicht; die Frageformulierung läßt sich dem Stimmzettel fast völlig angleichen; die Abgabe von Meinung oder Stimme ist geheim und anonym. Einige der methodischen Probleme sind allgemein bekannt und halbwegs berechenbar: daß die Befragten nur einen Bruchteil der Wählerschaft darstellen und ihren Antworten ein statistischer Unsicherheitsfaktor abzuziehen ist; daß zwischen Befragung und Wahl eine Zeitspanne liegt, i n der noch mancherlei passieren kann; daß jede Umfrage eine Gruppe von „Meinungslosen" aufweist — Verweigerer, Desinteressierte und Unschlüssige —, die nicht einfach proportional auf die Parteien aufgeschlüsselt werden dürfen. Andere methodische Schwierigkeiten werden gerne übersehen und lassen sich durch technische Handgriffe nicht bewältigen 1 . Dazu gehört die Tatsache, daß sich über das Wie einer Wahlentscheidung sehr viel 1 I n einer Studie des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft „ W ä h l e r meinung u n d Wahlprognose. Acht Gesichtspunkte zur Lektüre von W a h l vorhersagen" (infas politogramm M a i 1966) sind die Schwierigkeiten ausführlich erörtert. Z u m Thema „Wahlprognosen" ist i n der Politischen V i e r t e l jahresschrift ein Aufsatz von Klaus Liepelt vorgesehen.

M i t Prognosen leben

287

genauere Aussagen machen lassen als über das Ob; die Höhe der Wahlbeteiligung läßt sich aus Umfragen nicht ableiten. Ferner besteht zwischen der A n t w o r t auf eine Interviewerfrage irgendwann vor der Wahl und dem Ankreuzen eines Stimmzettels am Wahltag ein erheblicher sozialpsychologischer Unterschied. Der Befragungssituation haftet etwas Unverbindliches, Hypothetisches an; keine der gängigen Fragestellungen kann die Realität des Wahllokals herbeizaubern, auch das berühmte „Angenommen, am nächsten Sonntag wären Bundestagswahlen..." nicht. Denn es sind nun einmal am nächsten Sonntag keine Bundestagswahlen. Kurz: Meinungen lassen sich — bei genügender technischer Sorgfalt — exakt bestimmen; künftige Verhaltensweisen nicht. Der Schluß von den Stimmungen vor der Wahl auf die Stimmen bei der Wahl ist ein Kurzschluß. Es ist eben nur wahrscheinlich, daß beide übereinstimmen. Daran vor allem sind viele Versuche gescheitert, Wahlergebnisse vorauszuschätzen. Es sind die gleichen Fallstricke, i n denen sich jeder zu verfangen droht, der die Auswirkungen von Vorausschätzungen auf das Wahlergebnis zu messen versucht.

Prognose-Effekt: Was ist das?

Es ist zweckmäßig, das Phänomen zunächst breit zu umschreiben: es w i r d vermutet, daß sich Wähler durch Informationen über die Chancen der einen oder der anderen Partei dazu bewegen lassen, sich bei der Wahl anders zu verhalten, als sie es ohne diese Informationen getan hätten. Diese Informationen können veröffentlichte Umfragen oder Trendextrapolationen sein; aber auch unbelegte Behauptungen von Politikern oder Publizisten könnten i m Prinzip einen solchen Effekt auslösen. Eine psychologische Theorie dieses Vorganges ist bislang nicht eindeutig formuliert worden. Die am häufigsten beschriebene Variante ist der bandwagon effect, womit jene Leute beschrieben werden, die auf den vorneweg fahrenden Wagen mit der Musik springen; i n Deutschland hat sich dafür der Terminus Mitläufereffekt eingebürgert. Voraussetzung ist eine durch Umfragen erhärtete klare Führung einer Partei. Sie kann nach Schmidtchen drei Wirkungen haben, und zwar zur gleichen Zeit: — daß Wähler zu dieser Partei überlaufen — daß Anhänger dieser Partei zu Hause bleiben, weil ihr ohnedies der Sieg gehört

288

Wolfgang Hartenstein

— daß Anhänger der anderen Parteien zu Hause bleiben, weil doch nichts mehr zu holen ist 2 . Für den umgekehrten Vorgang haben die Amerikaner den Begriff underdog effect geprägt: es kann Situationen geben, i n denen gerade der offenkundig Schwächere erfolgreich an Verstand oder Gefühl der Wähler appelliert. Die hierzulande gängige Spielart besteht darin, die eigenen Leute m i t dem zu befürchtenden Sieg der „anderen" Partei zu mobilisieren (Bürgerschreck-Effekt wäre hier wohl eine passende Bezeichnung). Schließlich kommt es nicht eben selten vor, daß die Umfragen keinen eindeutigen Favoriten ausweisen. Berichte über ein „Kopf-an-KopfRennen" dürften vornehmlich dazu beitragen, die Anhänger beider großer Parteien anzuspornen; vielleicht auch, der einen oder anderen einige Unentschlossene zuzuführen. Kurz: Wenn über die Auswirkungen von Wahlumfragen diskutiert wird, wäre es einseitig, nur diejenigen ins Auge zu fassen, denen es eine zusätzliche Befriedigung bedeutet, auf der Seite des Siegers zu stehen. Gerade an dieser Möglichkeit aber hat sich der Zorn derer entzündet, die jedes irrationale Element aus der Politik verbannt wissen wollen, und derer, denen Demokratie und Demoskopie nicht vereinbar scheinen. Die Verteidiger kommen, wie kann es anders sein, vor allem aus dem Lager der Meinungsforschungsinstitute. George Gallup ist auch hier ihr Prophet. I n den USA gilt weithin die Wahl von 1948, i n der Truman gegen alle Prognosen und gegen fast alle Leitartikler doch noch Dewey den sicheren Sieg entreißen konnte, als definitiver Beweis für die Unhaltbarkeit der bandwagon-Theorie. I n der Bundesrepublik gehört es zum Ritual der Institute, alle Jahre wieder Zahlen zu veröffentlichen, aus denen sich die Harmlosigkeit von Umfragen ablesen läßt. Zunächst genügte der Hinweis auf die kleine Zahl von Menschen, die überhaupt von solchen Umfragen wußten. Damit ist es spätestens seit 1965 nicht mehr getan. Die Demoskopen wurden i n die Defensive gedrängt, und zwar zur gleichen Zeit gegen zwei Vorwürfe: ihr Handwerk sei politisch gefährlich; und ihr Handwerkszeug sei wissenschaftlich unsauber. Was haben sie zu ihrer Verteidigung anzuführen? D i e Kenntnisse nehmen z u

Den Wähler unmittelbar m i t der Frage anzugehen, ob er sich absichtlich auf die Seite des Siegers oder des Verlierers geschlagen habe, würde 2 Gerhard Schmidtchen: Die befragte Nation. Über den Einfluß der M e i nungsforschung auf die P o l i t i k (zuerst 1959). Fischer Bücherei, F r a n k f u r t / M . 1965, S. 283.

M i t Prognosen leben

289

wenig erbringen. Bei den bisherigen Analysen des Mitläufer-Effekts w i r d daher mit einem Ansatz gearbeitet, der zwei Größen enthält. Zunächst w i r d i m Rahmen einer Umfrage festgestellt, wer von einer Veröffentlichung von Umfrageergebnissen gehört oder gelesen hat; sodann w i r d ermittelt, ob sich bei dieser Gruppe — gegenüber denen, die nichts gehört oder gelesen hatten — eine Änderung des Verhaltens registrieren läßt. Jeder dritte Wahlberechtigte konnte sich i m Sommer 1965 erinnern, von Ergebnissen der Meinungsforschung zur Parteienpopularität gehört zu haben. Keine gewaltige Zahl; erstaunlich aber die Zunahme gegenüber dem Jahre 1957, wo nur jeder Sechste davon gehört hatte 3 . Daß der Anteil der Informierten binnen acht Jahren von 17 auf 35 Prozent angestiegen ist, w i r d mit der größeren Zahl der Umfragen, m i t der heftigeren Diskussion darüber, vor allem aber m i t ihrer stärkeren Publizität zu erklären sein: so berichtete i m Sommer 1965 der STERN regelmäßig über den vom Allensbacher Institut für Demoskopie registrierten Stand der Parteiensympathien. Wahrnehmung und Erinnerung sind i n hohem Maße vom Bildungsgrad abhängig. Nach der DIVO-Umfrage 1965 konnten sich an U m fragen erinnern: Volksschule ohne Lehre

21 °/o

Volksschule m i t Lehre

37 °/o

Mittelschule, Fachschule

51 °/o

Abitur

69 °/o

Hochschule mit Abschluß

94 %

Eine solche Verteilung zeigt deutlich die Grenzen der Fragestellung, die auf ein relativ abstraktes, durch Lektüre gewonnenes Tatsachenwissen abzielt. Es mag sein, daß genau diese Gruppen der Bevölkerung unmittelbar i n Berührung mit Veröffentlichungen gekommen sind. Ganz gewiß aber ist damit die volle Reichweite nicht erfaßt: denn diejenigen, die davon selbst gelesen haben, werden m i t anderen darüber sprechen; und diese wiederum können bei Diskussionen m i t Nachbarn und Kollegen zum Thema „Wahlchancen der Parteien" m i t einem solchen Vorwissen einen größeren Eindruck hinterlassen, als es die Lektüre einer kurzen Zeitungsnotiz je getan hätte. 3 Nach Umfragen des Frankfurter D I V O - I n s t i t u t s v o m A p r i l 1957 u n d J u l i 1965, zitiert bei Eugen Lupri: Soziologische Bedeutung der Wahlprognose, Referat bei einer Tagung des Berufsverbandes Deutscher Psychologen i m Oktober 1965 i n M a r b u r g (Manuskript).

19 Festgabe für Gert von Eynern

Wolfgang Hartenstein

290

Die Kenntnis von Umfragen ist i n den politischen Lagern nicht i n gleichem Maße verbreitet. I m J u l i 1965 hatten von Ergebnissen der Meinungsforschung gehört: Anhänger der FDP

66 °/o

Anhänger der SPD

41 € /o

Anhänger der CDU

36%

Unentschiedene

18 °/o

Dies ist zum Teil durch den Bildungsgrad (FDP-Anhänger) zu erklären. Offenbar kommt als weiterer Faktor das politische Interesse hinzu, das zu einer stärkeren Kenntnisnahme solcher Informationen führt; damit ist der geringfügig über dem Durchschnitt liegende Wert der SPD-Anhänger, vor allem aber der geringe Kenntnisstand bei den sogenannten Meinungslosen erklärt. Über den möglichen Einfluß der Veröffentlichungen läßt sich natürlich aufgrund dieser unterschiedlichen Verteilung auf die Parteianhänger gar nichts sagen. Dazu ist es erforderlich, die Veränderungen der Wahlabsichten zu registrieren und i n Beziehung zur Kenntnis oder Unkenntnis veröffentlichter Umfragen zu setzen.

D i e Kenntnisreichen w ä h l e n nicht anders

Als Beispiel für einen typischen Untersuchungsansatz, m i t dem sich die These vom Mitläufereffekt belegen oder widerlegen ließe, sei eine Studie gewählt, die unmittelbar nach der Bundestagswahl durch E M N I D vorgenommen wurde 4 . Es wurde dabei gefragt, ob (und wann) man von Umfrageergebnissen zur Parteienstärke gehört oder gelesen habe; welches Wahlergebnis danach zu erwarten war; und für welche Partei der Befragte 1965 und 1961 gestimmt hatte. A u f diese Weise ließen sich „Konstante Wähler" und „Wechselwähler" definieren. Die Analyse zielte darauf ab, einen statistischen Zusammenhang zwischen dem „Wechseln" zu einer bestimmten Partei einerseits und der Information über ein bestimmtes Umfrageresultat andererseits aufzudecken. Da die Ergebnisse der Institute vor der letzten Bundestagswahl sich nicht gerade durch Einhelligkeit auszeichneten, war eine solche Versuchsanordnung erforderlich; aus der Tatsache allein, daß jemand von Umfragen gehört hatte, hätte kein Schluß auf die Richtung des Einflusses gezogen werden können. 4 Klaus D. Eberlein: Wahlnachuntersuchung zur Bundestagswahl 1965, veröffentlicht v o m E M N I D - I n s t i t u t f ü r Politische Meinungsforschung (hekt.). Abschnitt I V handelt von „Bekanntheit von Meinungsumfrageergebnissen zur Parteienpräferenz u n d deren W i r k u n g i m Meinungsfeld".

M i t Prognosen leben

291

I n der Tat waren alle drei möglichen Umfrageergebnisse vor der Wahl zur Kenntnis genommen worden, vielfach sogar von ein- und demselben Befragten. Von einem Kopf-an-Kopf-Rennen hatten 30 Prozent gehört, von einer CDU-Führung 15 Prozent, von einer SPD-Führung 9 Prozent der Befragten 5 . Was immer auch registriert wurde: ein verstärkter Wechsel der Partei zwischen 1961 und 1965 läßt sich daraus nicht ableiten. Das Verhältnis der „stabilen" Wähler zu den „Wechslern" ist i n allen drei Gruppen ungefähr gleich. Genauer: die Unterschiede sind statistisch nicht signifikant. Auch die Gegenüberstellung von Richtung der erinnerten Veröffentlichung und Richtung der Stimmabgabe fördert keinen Beweis der A r t zutage, daß besonders häufig zur CDU übergewechselt wäre, wer vor der Wahl vom CDU-Sieg i n der Zeitung gelesen hat. Von 100 Befragten dieser Gruppe geben 6 an, diesmal (im Gegensatz zu 1961) SPD, und nur einer, diesmal CDU gewählt zu haben! Der A n t e i l der CDU-Wechsler i n der Kopf-an-Kopf-Gruppe und i n der SPD-Sieg-Gruppe dagegen liegt jeweils bei 4 Prozent. Die Befunde sind, bedingt durch geringe Fällezahl und ungesicherte Repräsentanz, ausgesprochen diffus. M i t genügender Schärfe t r i t t lediglich eine Tendenz hervor; dabei ist die frühere Stimmabgabe nicht berücksichtigt: Information über Parteienstärke und eigene Stimmabgabe V o r der W a h l gehört von . . .*) CDU-Sieg

SPD-Sieg

Kopf-an-KopfRennen

28 °/o 38 34

35 °/o 36 29

Stimmabgabe 1965: CDU SPD andere, keine Angabe

45% 30 25 100 °/o

Z a h l der Fälle

(112)

*) Nur Befragte, die von e i n e r Überschneidungen.

100 °/o

(54)

100 °/o

(367)

dieser Informationen gehört hatten, d. h. ohne

Hier jedenfalls wäre der Schluß erlaubt, daß ein Zusammenhang zwischen A r t der erinnerten Voraussage und Richtung der eigenen Stimmabgabe besteht. Es bleibt eine Frage der Interpretation, was dabei als Ursache und was als Wirkung verstanden wird. Bezeichnen5 Mehrfachnennungen sind hierbei mitgerechnet. Insgesamt erinnerten sich nach E M N I D 46 °/o aller Befragten, vor der W a h l Umfrageergebnisse gehört zu haben, allerdings „nach Erinnerungshilfe"; spontan erinnerten sich 33 °/o, was den D I V O - Z a h l e n ziemlich genau entspricht.

19*

292

Wolfgang Hartenstein

derweise w i r d i n der EMNID-Studie nur eine Möglichkeit ernst genommen: „Allenfalls läßt sich eine gewisse Neigung zur sogenannten sozialen Wahrnehmung 4 erkennen, d. h. die betreffenden Befragungsgruppen ,kennen 4 zu etwas höheren Anteilen das für ihre Gruppe positivere Umfrageergebnis 6 ." Zahlreiche andere Untersuchungen sind methodisch ähnlich angelegt wie die hier zitierte; ihre Befunde sind meist ähnlich vage und unschlüssig; die Schlußfolgerung läuft i n aller Regel mit ähnlicher Entschiedenheit darauf hinaus, daß es keinen Mitläufereffekt gegeben habe. Für Schmidtchen ist die These vom Mitläufereffekt „das Loch-NeßUngeheuer der politischen Wissenschaften" 7 . Andere Meinungsforscher bringen es auf eine vorsichtigere Formel: daß ein von veröffentlichten Umfrageergebnissen ausgehender Effekt auf die Stimmabgabe, wenn überhaupt vorhanden, dann sehr gering und jedenfalls bislang nicht nachgewiesen sei. Und weil ein Verdacht nicht völlig ausgeräumt werden konnte, halten die meisten Institute an der Übung fest, i n den letzten Tagen vor der Wahl keine Ergebnisse mehr zu veröffentlichen 8 . I n der Tat: so sehr die vorliegenden empirischen Belege den Schluß nahelegen, ein Effekt sei nicht nachweisbar, so leicht würde es sein, aus eben diesen Daten oder aus zu diesem Zweck neu erhobenen den umgekehrten Schluß zu ziehen: es ist nicht bewiesen und nachweisbar, daß von Wahlprognosen kein Effekt ausgehe. Ob mit dem bisher praktizierten Untersuchungsverfahren das Problem exakt geklärt werden kann, ist fraglich, w e i l es methodische Schwächen aufweist und den offenbar komplexen Vorgängen nicht gerecht wird. U m f r a g e n i n der Sackgasse

Daß die Befunde so wenig schlüssig sind, hat mehrere Gründe. Bei ihrer Erörterung sei vorübergehend unterstellt, daß es einen PrognoseEffekt gäbe. 1. Eine Stichprobenbefragung bei wenigen tausend Wahlberechtigten muß dazu verleiten, Unterschiede und Veränderungen von 2 oder 3 Prozent als statistisch insignifikant zu übersehen. Wenn sich 2 oder 6 Eberlein, a.a.O., S. 44. Ohne Zweifel ist das eine plausible Erklärung. Was jedoch — nicht n u r i n dieser Studie — stutzig macht, ist die Beliebigkeit, m i t der Umfrageergebnisse i n einigen Fällen für bare Münze genommen, i n anderen psychologisch gedeutet werden. 7 Gerhard Schmidtchen, a.a.O., S. 285. 8 „Ob Wähler durch solche Prozentzahlen beeinflußt werden, w i r d man vielleicht nie zuverlässig herausfinden, aber schon der bloßen Möglichkeit wollten w i r ausweichen, u n d zwar auf sicherste Weise: Fast drei Wochen machten w i r einfach keine Umfrage mehr." Elisabeth Noelle-Neumann: Entscheidung erst i m Wahlkampf, Die Zeit, 24. 9. 1965.

M i t Prognosen leben

293

3 Prozent der Wahlberechtigten durch Umfragen beeinflussen ließen — immerhin an die 1 M i l l i o n Wähler —, kann das politisch höchst wirksam und politologisch sehr relevant sein. 2. Der Einfluß w i r d über einen längeren Zeitraum hinweg wirksam, und bei verschiedenen Wählern zu verschiedener Zeit. Eine einmalige Befragung kann immer nur einen Ausschnitt bringen; mehrfach wiederholte Befragungen derselben Personen sind außerordentlich aufwendig. Das von E M N I D und anderen praktizierte Verfahren, wonach die Befragten über frühere Stimmabgaben Auskunft geben sollen, ist wegen der starken Erinnerungstäuschungen unbrauchbar. Die DIVO-Untersuchung der 57er Wahl konnte nachweisen, daß von denen, die i m Laufe des Wahlkampfes ihre Sympathien von einer Partei zur anderen verlagert haben, nicht weniger als 52 Prozent auch ihre angebliche Stimmabgabe von 1953 mitverlagerten 9 . 3. Ein möglicher Effekt könnte i n der Verstärkung bereits vorhandener Sympathien — und das könnte heißen: i m Nichtvollziehen eines Wechsels — bestehen; das aber würde sich weder i n den Antworten noch i m Verhalten nachweisbar niederschlagen. 4. Der wahrscheinlichste Effekt wäre der einer Mobilisierung (im Falle eines prophezeiten Kopf-an-Kopf-Rennens) oder Lähmung des Interesses (im Falle eines eindeutigen Vorsprunges), d. h. einer erhöhten oder verringerten Wahlbeteiligung; davon könnten die Anhänger aller Parteien, aber auch nur einer Partei betroffen sein. Wahlbeteiligung aber gehört zu den Sachverhalten, zu denen die Umfrageforschung bisher nahezu nichts hat beitragen können. Wählen gilt als Pflicht, die verletzt zu haben niemand gerne zugibt, schon gar nicht, wenn Desinteresse der Grund war 1 0 . 5. Wenn einerseits von einer bestimmten Prognose verschiedenartige Effekte ausgehen können, und wenn andererseits die vor der Wahl bekannt gewordenen Voraussagen einander so widersprechen wie bei der letzten Bundestagswahl, besteht eine gewisse statistische Wahrscheinlichkeit, daß sich die Auswirkungen gegenseitig ausgleichen; jedenfalls w i r d ihre Meßbarkeit erheblich erschwert. Das Instrumentarium, das von den Demoskopen zum Beweis der eigenen Unschuld herangezogen wurde, erweist sich als ziemlich ungeeignet. 9 Wolfgang Hartenstein und Klaus Liepelt: Wählerbewegungen 1957. I n : Fritz Sänger und Klaus Liepelt (eds.), Wahlhandbuch 1965, F r a n k f u r t / M . 1965, Abschnitt 2.373. 10 Wolf gang Hartenstein und Günter Schubert: Mitlaufen oder Mitbestimmen, F r a n k f u r t / M . 1961, S. 36 ff. (Abschnitt „Stimmabgabe: Recht oder Pflicht?"). Über die „Partei der Nichtwähler" u n d ihre Bedeutung f ü r das politische System der Bundesrepublik vgl. Klaus Liepelt u n d Alexander Mitscherlich: Thesen zur Wählerfluktuation, F r a n k f u r t / M . 1967.

294

Wolfgang Hartenstein

I m methodischen Ansatz der Untersuchungen bereits w i r d das Problem verzerrt und eingeengt: statt die Frage zu behandeln, welche Auswirkungen das voraussichtliche Ergebnis der Wahl auf das Verhalten des Wählers haben kann, w i r d A n t w o r t auf die Frage gesucht, welche Auswirkungen das Ergebnis einer Umfrage auf die Meinungen der Wahlberechtigten hat. Es dürfte vor allem zwei Wege geben, aus dieser Sackgasse wieder herauszukommen. Einerseits ließe sich eine systematische Versuchsanordnung m i t kleinen Gruppen denken, die unterschiedlichen Stimuli ausgesetzt und deren Reaktionen erfaßt werden. A u f diese Weise ließe sich der psychologische Mechanismus des Prognose-Effekts verdeutlichen; doch wären solche Experimente realitätsfern und i n ihrer Größenordnung schwer abzuschätzen. Andererseits wäre ein höherer statistischer Wahrscheinlichkeitsgrad und größere Wirklichkeitsnähe bei der Analyse von tatsächlichen Wahlergebnissen gegeben, an denen Wirkung oder Nichtwirkung von Prognosen abzulesen wären; allerdings bedürfte es dazu einer laborartigen Situation, bei der einige Gebiete einer Prognose ausgesetzt waren, andere — m i t möglichst gleichartiger Struktur — dagegen nicht. Solche Situationen hat es i n den letzten Jahren zweimal gegeben. Sie waren nicht zum Zwecke der Analyse geschaffen; doch eignen sie sich vorzüglich, die Mitläufertheorie zu überprüfen und neue Aspekte des Problems aufzuzeigen. D e r Test m i t d e m Wahlergebnis

Die eine Situation hat sich bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1964 zum ersten Mal ergeben, w i r d sich aber voraussichtlich bei künftigen Wahlen wiederholen. Die Größe des Landes bringt es mit sich, daß die Wahllokale zu verschiedenen Zeiten schließen: i m Osten werden die Stimmen schon gezählt, wenn i m Westen noch gewählt wird. Die mittlerweile auch nach Deutschland importierte Technik der „Hochrechnungen" auf der Basis vorliegender Einzelergebnisse und die Verbreitung solcher Meldungen durch das Fernsehen führte dazu, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wählerschaft i n den westlichen Bundesstaaten sich m i t der Tatsache der Wahl Johnsons zum Präsidenten vertraut gemacht hatte, bevor er das Wahllokal aufsuchte. Daß eine solche Praxis K r i t i k hervorrufen würde, liegt auf der Hand. Doch konnte sie i n weitem Maße abgefangen werden durch die Ergebnisse einiger Untersuchungen, die i n Kalifornien angestellt wurden 1 1 . 11 Harold Mendelsohn: Election-day Broadcasts and Terminal Voting Decisions, Public Opinion Quarterly 1966, Nr. 2, S. 212—225; Douglas A. Fuchs: Election-day Radio-Television and Western Voting, ebda. S. 226—236.

M i t Prognosen leben

295

Aus Befragungen von Wählern, die i n den letzten Stunden ihre Stimme abgegeben und zum Teil von den voraussichtlichen Endergebnissen der nationalen und lokalen Wahlen gehört hatten, wurde der Schluß gezogen, daß die Hochrechnungen auf das Wählerverhalten keinen Einfluß gehabt hätten. „There is no evidence from the research to support the contention that Eastern network coverage of the unfolding national voting pattern on November 3, 1964, was responsible for either a bandwagon or an underdog effect among the voters studied 12 ." I n der Formulierung ist dieses Resümee ähnlich behutsam wie die Äußerungen deutscher Meinungsforscher: ein Tatverdacht kann wegen Mangels an Beweisen nicht aufrechterhalten werden. I n ihren Befunden scheinen die amerikanischen Studien nicht zwingender zu sein als etwa die oben beschriebene EMNID-Analyse. I m methodischen Ansatz unterscheiden sie sich wenig: die Beobachtungen wurden durch (mehrfaches) Befragen einer Stichprobe gewonnen, bei der festgestellt wurde, wer mit der kritischen Information i n Berührung gekommen ist; diese allerdings bestand nicht aus Umfrageergebnissen, sondern aus einem vorweggenommenen Wahlergebnis. Die methodischen Einwände gelten also auch i n diesem Falle, die unter Punkt 2 und 5 angeführten indessen nur bedingt. Eine i n mancher Hinsicht vergleichbare Situation war bei der Bundestagswahl von 1965 gegeben, als i n zwei Wahlkreisen (135 Obertaunus und 236 Schweinfurt) wegen des Todes eines Kandidaten die Stimmabgabe um 3 Wochen herausgeschoben wurde. Auch hier lag also das Wahlergebnis bereits vor, als Teile der Wählerschaft ihre Stimme noch gar nicht abgegeben hatten. Den Computer-Hochrechnungen fiel i n diesem Falle nicht die Aufgabe zu, einen Informations-Stimulus für die noch Wahlberechtigten zu erzeugen, sondern das voraussichtliche Ergebnis i n diesen beiden Nachwahlen zu schätzen und damit eine Vergleichsbasis zu schaffen. Als i n der Wahlnacht die Ergebnisse aller Wahlkreise — bis auf jene beiden — vorlagen, wurde i m Institut für angewandte Sozialwissenschaft aufgrund des allgemeinen Stimmentrends und der politisch-soziologischen Strukturdaten der beiden Wahlkreise errechnet, wie sich dort wahrscheinlich die Stimmen verteilt hätten, wenn am gleichen Tage gewählt worden wäre; das Ergebnis der Rechnung wurde noch i n der Nacht bekanntgegeben. Diese Projektion ließ sich drei Wochen später dem tatsächlichen Ergebnis gegenüberstellen. Wenn die These vom M i t läufer-Effekt stimmen soll, hätte sich der klare Sieg der CDU auf das 12

Mendelsohn, a.a.O., S. 225. Fuchs schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, daß sich das vorweggenommene Ergebnis auf die Wahlbeteiligung auswirkt.

Wolfgang. Hartenstein

296

Verhalten der Wähler auswirken müssen. Denn zweifellos müßte von einem Wahlergebnis ein weit stärkerer Einfluß ausgehen als von der Veröffentlichung einer demoskopischen Vorausschätzung 13. Sofern man der Projektion Vertrauen schenkt und beim Vergleich nur die Zweitstimmen betrachtet, erweist sich der Einfluß als denkbar gering. Für die CDU/CSU wurden i n beiden Wahlkreisen die Ergebnisse beinahe mikroskopisch genau vorausgesagt: CDU/CSU-Anteile bei den Nachwahlen 1965

Obertaunuskreis Schweinfurt

Ergebnis

Projektion

40,4 °/o 57,2 %

40,4 % 56,9 %

Abweichung 0,0 +0,3

Bei den SPD-Stimmen ist die Abweichung i m Wahlkreis Schweinfurt erheblich größer, hält sich aber noch innerhalb von Grenzen, die bei Repräsentativumfragen akzeptiert würden; ob hier die Projektion schief lag oder neue Faktoren ins Spiel kamen, mag zunächst offen bleiben. SPD-Anteile bei den Nachwahlen 1965

Obertaunuskreis Schweinfurt

Ergebnis

Projektion

42,5% 30,2%

41,9 °/o 32,7%

Abweichung +0,6 -2,5

Die These vom Mitläufereffekt i n ihrer vulgären Version kann damit wohl als widerlegt gelten. Für Vermutungen über einen PrognoseEffekt subtilerer Spielart dagegen wurden neue Gesichtspunkte gewonnen. I n zweifacher Hinsicht nämlich unterschieden sich tatsächliches und erwartetes Ergebnis recht spürbar. Erstens. Die Wahlbeteiligung i n beiden Nachwahlkreisen lag 1965 deutlich unter, 1961 dagegen deutlich über der Wahlbeteiligung i m ganzen Bundesgebiet: Wahlbeteiligung 1961 und 1965 Abweichung v o m Bundesdurchschnitt

Obertaunuskreis Schweinfurt 13

1961

1965

+2,0 +2,6

—2,4 -2,7

Vgl.: Wählermeinung u n d Wahlprognose, infas politogramm M a i 1966, S. 26. Z u r Technik der Hochrechnungen: Wahlnacht am Computer, infas politogramm J u n i 1967.

M i t Prognosen leben

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oder anders gesagt: sie war zwischen 1961 und 1965 i m Bund um 0,9 Prozentpunkte gesunken, i m Wahlkreis 135 u m 5,3 Prozentpunkte, i m Wahlkreis 236 um 6,2 Prozentpunkte. Dies mag m i t dem Nachlassen der überregionalen Wahlkampfaktivitäten (insbesondere i m Fernsehen) und dem Abflauen des Interesses allgemein zu t u n haben, doch sicher auch m i t der Tatsache, daß am wichtigsten Resultat der Wahl — relative Mehrheit der CDU/CSU i m Bundestag — nichts mehr zu ändern war. Die Wahl hatte aufgehört, spannend zu sein. Zweitens. Das Verhältnis von Erst- und Zweitstimmen bot i n beiden Wahlkreisen ein auffallendes Bild: der Kandidat der CDU (bzw. CSU) konnte nennenswert mehr Erststimmen auf sich vereinen, als Zweitstimmen auf seine Partei entfielen. I m Obertaunuskreis betrug dieser Vorsprung 7,7 Prozent, i m Wahlkreis Schweinfurt 3,6 Prozent. Dies ist weit mehr als bei früheren Wahlen i n diesen Wahlkreisen und mehr als i n anderen Wahlkreisen bei dieser Wahl. Erst- und Zweitstimmen 1961 und 1965 Differenz der Erst- u n d Zweitstimmen

Obertaunuskreis CDU SPD Schweinfurt CDU SPD

1961

1965

+3,3 +0,3

+7,7 +1,1

+0,8 -0,1

+3,6 -0,1

Für die Neigung vor allem zahlreicher FDP-Wähler, ihre beiden Stimmen zu teilen, gibt es einleuchtende Gründe. I n beiden Wahlkreisen waren die SPD-Kandidaten (Gscheidle und Langebeck) bereits über die Landeslisten i n den Bundestag gekommen, i m Obertaunuskreis auch der FDP-Kandidat (Staratzke); die CDU/CSU-Kandidaten dagegen (Leisler Kiep und Schulze-Vorberg — beide übrigens zum ersten Mal aufgestellt) waren auf die direkte Wahl angewiesen und konnten i n ihrem Nach-Wahlkampf überzeugend argumentieren, daß die Erststimmen ihren Gegenkandidaten viel weniger nützten als ihnen selbst. Die örtliche FDP übernahm dieses Argument und empfahl ein split ballot. Das gute Abschneiden der CDU-Kandidaten ist also kaum als unmittelbare Nachwirkung des CDU-Erfolges vom 19. September zu interpretieren; ein Mitläufer-Effekt i m üblichen Sinne lag nicht vor. Aber dennoch wirkte das seit Wochen vorliegende Endergebnis insofern mit, als es vielen Wählern eine neue, differenziertere Entscheidung erlaubte. Diese Nachwahlen enthielten Elemente der Persönlichkeitswahl, wie sie sonst

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i n unserem „personifizierten Verhältniswahlrecht" nicht auftreten und auch bei einem Mehrheitswahlrecht kaum zu erwarten sind, wie sie sich aber ohne das „Vorwissen" nur schwerlich hätten aktualisieren lassen. Versuch einer Bilanz Die Vorstellung, der Wähler werde sich zu den stärkeren Bataillonen schlagen, sobald er nur weiß, wo sie stehen, darf hiernach wohl zu den A k t e n gelegt werden. Veröffentlichungen über den Stand der Wählersympathien haben auf die Wähler selbst eine sehr viel geringere unmittelbare Wirkung als auf die Politiker, die sich beizeiten auf künftige Koalitionspartner einstellen 14 , oder auf die Wahlkampfmanager, die sich u m die Moral ihrer Truppe Sorge machen. Einen Einfluß auf die Wähler ganz zu leugnen, wäre indessen ähnlich naiv, wie dem Wahlkampf jegliche Wirkung abzusprechen. Viel hängt dabei von den politischen Verhältnissen eines Landes, von der jeweiligen Kräftekonstellation und von den Parteien ab, denen da Sieg oder Niederlage prophezeit wird. I n einem Wahlklima wie dem der Bundesrepublik von heute kann sich ein Prognose-Effekt nicht voll auswirken. Das Verhältniswahlrecht erzieht dazu, jede Stimme gleich wichtig zu nehmen. Zur Wahl zu gehen, gilt als Pflicht. Die beiden großen Parteien werden — zumindest vor einer Wahl — von Demoskopen und Publizisten als nahezu chancengleich betrachtet. Alle drei Parteien des Bundestages sind wählbar, regierungsfähig und einigermaßen kompatibel (wie es i m Computer-Jargon heißt; „verträglich" lautet die Übersetzung). Kurz: i n der Sozialpsychologie des deutschen Wählers gibt es i m Jahre 1967 nicht allzu viel Raum für ein Kalkül, wonach man nur den Sieger oder gerade den Verlierer oder i m Zweifelsfalle gar nicht wählen sollte. Dies t r i f f t auf die etablierten Parteien und ihre Anhänger zu. Für die politischen Gruppierungen, die nicht zum Establishment gehören und aus der demokratischen Tabu-Zone auftauchen wollen, gelten andere Regeln. Sie können durchaus davon profitieren, wenn ihnen „die öffentliche Meinung" ernsthafte Chancen auf 5 oder 10 Prozent einräumt. Die NPD konnte i n den letzten Landtagswahlen Erfolge nicht zuletzt deswegen erzielen, weil sie als Rechtspartei auftrat, die erfolgreich

war.

14 Bekanntlich hat Bundespräsident Lübke wenige Tage vor der W a h l von 1965 einen Brief an die vier Parteivorsitzenden geschickt, i n dem es u. a. hieß: „Dieses M a l aber werden die Koalitionsmöglichkeiten wahrscheinlich undurchsichtiger, u n d es w i r d schwieriger sein, dem Bundestag einen K a n didaten vorzuschlagen, der i m ersten Wahlgang gewählt w i r d . " Der ungewöhnliche Schritt ist n u r damit zu erklären, daß die bekanntgewordenen Umfragen einen klaren Erhard-Sieg nicht erwarten ließen.

M i t Prognosen leben

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Ob das reine Mehrheitswahlrecht, bei dem Wählerstimmen vergeudet sind, sofern sie nicht dem siegreichen Wahlkreisbewerber zufallen, dem Prognose-Effekt mehr Raum bietet, muß zunächst Spekulation bleiben. Ganz sicher w i r d auch i n Deutschland — wie etwa i n England — das Interesse und die Wahlbeteiligung i n den Hochburgen beider großer Parteien absinken. Dieser Prozeß kann verstärkt werden, wenn örtliche Voraussagen die Chancenlosigkeit der Mitbewerber offenbaren. Doch auch hier darf der Einfluß einer Veröffentlichung von Prognosen nicht überschätzt werden.

Der Wähler weiß es besser Das Merkwürdige ist: die Wähler sind auf die Prognosen gar nicht angewiesen. Wer w i l l , kann sich die Informationen auch anderweitig verschaffen. Viele empirische Untersuchungen enthalten Belege dafür, daß kurz vor der Wahl eine klare Mehrheit imstande war, einen richtigen Tip auf den Sieger abzugeben. Auch i m Sommer 1965, als i n den Zeitungen fast nur von einem knappen Rennen zu lesen war, sagten die meisten Befragten ungerührt einen Sieg der CDU voraus. Dieser Vorsprung hatte sich bereits i m Frühjahr abgezeichnet und i m Laufe des Wahlkampfes ständig vergrößert 15 . Die privaten Prognosen waren offenbar ziemlich unabhängig von den publizierten Umfrageergebnissen. Die von EMNID nach der Wahl Befragten vermochten sehr wohl zu differenzieren: von 100 Wahlberechtigten, die sich zur Frage des wahrscheinlichen Wahlausgangs äußerten, vermuteten 48 einen CDU-Sieg 37 ein Kopf-an-Kopf-Rennen 15 einen SPD-Sieg; von 100 Befragten, die sich an Umfrageergebnisse innern konnten, referierten

vor der Wahl er-

28 einen CDU-Vorsprung 55 ein Kopf-an-Kopf-Rennen 17 einen SPD-Vorsprung 16 . Es ergibt sich somit das paradoxe Bild, daß aus Querschnittsbefragungen zur Wählersympathie etwa gleiche Chancen für beide großen Parteien ermittelt werden, daß derselbe befragte Querschnitt aber die 15

Wählermeinung u n d Wahlprognose, infas politogramm, S. 24 f. Errechnet aufgrund der bei Eberlein, a.a.O., auf S. 42 u n d 46 angegebenen Zahlen. 16

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Chancen der Parteien ganz anders — und realistischer — einschätzt. Zwei Tendenzen w i r k e n dabei zusammen. Auf der einen Seite neigen Politiker und Publizisten dazu, i m Falle unterschiedlicher Ergebnisse dasjenige auszuwählen, das die Parteien möglichst nahe beieinander zeigt: weil damit das Interesse i n den eigenen Reihen bis zum Schluß wachgehalten und die Spannung erhöht werden kann; und weil Chancengleichheit dem demokratischen Modell eher entspricht. A u f der anderen Seite besitzen die Wähler eine gewisse Fertigkeit darin, Stimmungsveränderungen zu erfassen, bevor sie sich i n geäußerten Meinungen manifestiert haben. Dieses radar-ähnliche Gespür 17 funktionierte auch bei früheren Wahlen. Für die Bundestagswahl von 1957, als Umfragen i n der Öffentlichkeit eine geringe Rolle spielten, ist das i n der DIVO-Untersuchung ausführlich dokumentiert 1 8 . Offenbar verfügen die meisten Wähler über relativ stabile Orientierungsgruppen — Kollegen, Freunde, Nachbarn—, deren Reaktionen und Stimmungen mehr oder weniger bewußt registriert werden. Die Bedeutung dieser sozialen Kontakte für die politische Meinungsbildung ist den Soziologen seit langem geläufig. Ebenfalls bekannt ist die Tatsache, daß sich i n diesen Primärgruppen subtile Anpassungsprozesse vollziehen: Kontroversen werden i n der Regel vermieden, divergierende Meinungen einander angeglichen. Die sozialen Bezugsgruppen dienen somit einerseits der eigenen politischen Orientierung, andererseits der Abschätzung der Parteichancen. So erklärt sich auch der enge Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Siegeserwartungen: CDU-Anhänger rechnen m i t großer Mehrheit auf den Sieg „ihrer" Partei, SPD-Anhänger rechnen der SPD unverhältnismäßig gute Chancen aus. Eine „wissenschaftlich" abgesicherte Prognose aufgrund von Umfragen kann hier und da verstärkend wirken, kann zusätzliche Legitimation für diejenigen sein, die ihrer bedürfen. Eine isolierte und isolierbare Wirkung geht von ihr nicht aus. Umfrage-Stop vor Wahlen?

Trotzdem ist das Unbehagen an der Meinungsforschung weit verbreitet: bei Politikern, bei Journalisten und bei den Meinungsforschern selbst. Es ist ein Unbehagen, das uns aus anderen Bereichen von Wissenschaft und Politik vertraut ist. Was soll mit einem Wissen geschehen, 17 Elisabeth Noelle-Neumann spricht von einem „geheimen statistischen Organ, das mitzählt, wieviele Bekannte sagten, sie wählten diese oder jene Partei". Referat auf der Tagung der Evang. Akademie Loccum über „Die Bundesrepublik nach der W a h l " vom 29.—31. 10. 1965; Protokoll S. 18. 18 Untersuchung der Wählerschaft u n d Wahlentscheidung 1957, D I V O - I n stitut F r a n k f u r t / B a d Godesberg (hekt. 1958), S. 183—197.

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über das einige verfügen, dessen Verbreitung aber möglicherweise Auswirkungen hat, die außerhalb der Kontrolle derer liegen, die dieses Wissen zur Verfügung stellen? Zwei Reaktionen sind denkbar und i n verschiedenen Spielarten historisch vorgekommen: man kann das Wissen oder die Wissenden oder die Verbreitung beeinflussen; oder die Auswirkungen zu mildern suchen. Nun gehört es zu den Grundregeln des demokratischen Spiels, daß die Öffentlichkeit Anspruch auf jedwede Information nicht nur erheben, sondern auch durchsetzen kann, sofern diese nicht dem Grundgesetz, der öffentlichen Sicherheit oder der allgemeinen Moral grob widerspricht. Das Ergebnis einer Meinungsbefragung fällt mit Sicherheit i n keine dieser Kategorien. Vergleichende Werbung ist ja i m Bereich der Politik durchaus statthaft, wenn sie auch neuerdings wenig praktiziert wird. Auch ist der Meinungsforschung eigentlich nicht vorgeworfen worden, die von ihr bereitgestellten Informationen seien falsch; eher schon, sie seien überflüssig oder störend. Insofern ist schwer einsehbar, wer denn dem Wahlvolk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, vorschreiben dürfe, was es erfahren soll und was nicht. Zwei Vorgänge aus jüngster Zeit zeigen an, wie Parteien, Parlament und Verwaltung auf das allgemeine Unbehagen zu reagieren beabsichtigen. Sie verdienen höchste Aufmerksamkeit. Insbesondere der Politologe sollte die weitere Entwicklung beider Vorgänge verfolgen; er w i r d manches daraus lernen und manches dazu sagen können. Ein vom Sprecher des englischen Unterhauses geleiteter Ausschuß zu Wahlrechtsfragen hat neben anderen Vorschlägen zur Reform des Wahlgesetzes dem Premierminister eine Empfehlung zugeleitet, wonach i n den letzen drei Tagen vor der Wahl Ergebnisse von Meinungsumfragen und Wetten auf den Wahlausgang nicht veröffentlicht werden dürften 1 9 . Von den Mitgliedern des Ausschusses stimmten 9 für und 5 gegen diese Empfehlung. Eine Begründung wurde nicht gegeben. Vielleicht soll damit etwas ähnliches erreicht werden wie m i t der Praxis, am Wahlsonntag selbst keine aktive Werbung mehr zu treiben: eine leichte A b kühlung der erhitzten Gemüter und eine Absicherung gegen unbewiesene und unbeweisbare Behauptungen i n letzter Minute. Wenn damit jedoch ein Einfluß von Umfragen auf die Wählermeinung verhindert werden soll, ist die Regelung praktisch wirkungslos: Wahlforschung und eigene Anschauung belegen zur Genüge, daß i n den letzten Minuten kaum noch neue Entscheidungen getroffen werden. Je weiter 19 „There should be no broadcast, or publication i n a newspaper or other periodical, of the result of a public opinion poll or of betting odds on the l i k e l y result of a parliamentary election during the period of seventy-two hours before the close of the poll." Conference on Electoral L a w , letter dated 24th A p r i l , 1967, from M r . Speaker to the Prime Minister. Cmnd. 3275.

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der Termin aber nach vorne verlegt würde — auf eine Woche, vier Wochen, drei Monate vor dem Wahltag — um so inkonsequenter wäre die Maßnahme. Denn die Partei, die kurz vor diesem Zeitpunkt i n Führung gelegen hat, würde eine psychologische Vorgabe erhalten, einen frühzeitig gewundenen Siegerkranz, den ihr i n offenem Kampf niemand mehr entreißen darf und der i n einem Glaskasten künstlich frisch gehalten wird. I n der Bundesrepublik ist man so weit noch nicht; doch ist nicht auszuschließen, daß man eines Tages weiter gehen wird. Einige Akzente sind bereits gesetzt. I m Juni 1966 fand i m Bundesinnenministerium eine Besprechung zwischen den für Verfassungsschutz und Parteiengesetz zuständigen Referenten und den Vertretern einiger renommierter Meinungsforschungsinstitute statt, bei der die Auswirkungen von Veröffentlichungen und die Möglichkeiten einer Beschränkung diskutiert wurden 2 0 . Von der Voraussetzung ausgehend, daß ein Prognose-Effekt nicht auszuschließen sei, wurde von den Vertretern des Ministeriums folgende Argumentation vorgetragen: auf den Wähler werde damit ein gewisser Zwang ausgeübt, er sei i n seiner Entscheidung nicht völlig frei; um diese Freiheit vorsorglich zu garantieren und den Mißbrauch der Wissenschaft i n einer wissenschaftsgläubigen Gesellschaft zu verhindern, sollten sich die Institute darauf einigen, vor den Wahlen keine Ergebnisse mehr zu veröffentlichen. Die Tatsache, daß die Vertreter aller geladenen Institute einhellig bereits die Prämisse i n Frage stellten und einen Einfluß jedenfalls nicht für bewiesen hielten, bremste den Eifer der Gastgeber erheblich. Da vor oder nach der nächsten Bundestagswahl m i t einiger Sicherheit die Kontroversen um die Demoskopie neu aufflammen werden, ist nüchtern zu prüfen, was von einem Stillhalteabkommen zwischen den Instituten zu halten ist. W i e m ü n d i g darf der W ä h l e r sein?

Zunächst ist die Grundeinstellung aufschlußreich, m i t der das für die Verfassung zuständige Ministerium der Wählerschaft gegenübersteht. M i t Sorge w i r d dort die Möglichkeit registriert, der Wähler könnte mit Sachverhalten konfrontiert werden, die ihn bei seiner Entscheidung überfordern. Gewiß: eine akute Bedrohung seiner Entscheidungsfreiheit liegt nicht vor; aber für den Ernstfall ist beizeiten Vorsorge zu treffen. Es ist nicht nur das Recht, sondern die Pflicht des Innenministers dieser Republik, von Staats wegen schädliche Einflüsse von i h m fernzuhalten. 20

Der Spiegel, Nr. 25 v o m 13. 6.1966, S. 28: „ E i n gewisser Zwang."

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Dies ist eine Auffassung vom demokratischen Prozeß, wonach die Bürokratie eine möglichst direkte und reibungslose Beziehung zwischen Wählern und Gewählten zu garantieren hat. Die öffentliche Meinung bleibt dabei ausgeklammert, die Rolle der publizistischen Medien als Aufklärungs- und Kontrollinstanz mit eigenen Rechten und Pflichten — etwa der, Neuigkeiten zu erwerben und zu verbreiten — fehlt bei diesem Modell. Bezeichnenderweise waren i n dem ersten Gespräch i m Innenministerium die Vertreter der Daten Produzenten geladen, hingegen nicht die der Distribution. Und für weitere Gespräche waren wiederum nicht die Publizisten, sondern die Politiker als Partner vorgesehen, d. h. die Konsumenten. Nun geht es bei einem Stillhalteabkommen gar nicht um das Verhältnis der Parteien zu den Meinungsforschungsinstituten: nach wie vor würden Umfragen bestellt und zur internen Meinungsbildung benutzt werden. Es geht primär um die Beziehungen zwischen den Medien und den Ermittlern der öffentlichen Meinung. Für den Journalisten ist der Stand der Parteiensympathien news, auf die er nicht verzichten w i l l , zumal wenn er weiß, daß solche Informationen existieren. Es kann nicht überraschen, daß der britische Presserat zu dem vom Parlamentsausschuß empfohlenen Veröffentlichungs-Stop eine Erklärung abgegeben hat, die man wohl als geharnischt bezeichnen darf. „Von allen Wegen, die dem Staat zur Beeinträchtigung der Pressefreiheit offenstehen, ist dieser der heimtückischste. M i t dem Argument, man wolle keine Geheimhaltung erzwingen, sondern nur die schädlichen Wirkungen übertriebener Publizität verhindern, kann der Staat Informationen hintertreiben, die offen und frei zugänglich sein sollten 2 1 ." Doch sind nicht nur die Publizisten auf die demoskopischen Neuigkeiten angewiesen: auch die Meinungsforscher wollen auf Publizität nicht verzichten. Wenn etwa eine große Illustrierte Umfrageergebnisse veröffentlichen w i l l und das dafür vorgesehene Institut i m Hinblick auf das Stillhalteabkommen darauf verzichtet, werden andere der Versuchung schwer widerstehen können.

Stillhalteabkommen: w e r hält still?

Neben den prinzipiellen Bedenken gibt es praktische Einwände. Der Versuch, die Demoskopie unter Kontrolle zu halten, kann leicht i n das Gegenteil umschlagen. Falls ein Stillhalteabkommen zustande kommt, w i r d ein Konsensus zwischen den Instituten die Grundlage sein. Die 21 Z i t i e r t nach dem Bericht des Londoner Korrespondenten der F A Z : A b geordnete u n d Journalisten streiten über die Demoskopie, Frankfurter A l l g e meine Zeitung v o m 18. 7. 1967.

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Zahl der Institute ist groß, die Konkurrenz ist hart, ein allgemeiner berufsständischer Sittenkodex existiert nicht. Wenn einige Institute sich an das Abkommen nicht halten, werden weiterhin Informationen durchsickern. Oder es werden neue Institute zu eigens dem Zwecke gegründet, Wahlumfragen vorzunehmen. Da die Meinungsforschung ihre Daten i n Eigenfertigung produziert, ist es für die Öffentlichkeit außerordentlich schwierig, die Qualität der dargebotenen Informationen zu beurteilen und kritisch zu überprüfen. Jede Veröffentlichung zweifelhafter Befunde aber würde diejenigen Institute, die sich an das Abkommen halten wollen, i n Konflikt bringen: sollen sie weiter schweigen, auch wenn sie selbst andere Ergebnisse vorliegen haben? Aber auch wenn sich jede Form der Veröffentlichung verhindern ließe, wären nicht alle Probleme aus der Welt geschafft. Fragen nach der Parteienstärke würden nach wie vor gestellt: die Institute daran hindern zu wollen, hieße die Freiheit der Forschung oder der w i r t schaftlichen Betätigung zu beschränken. Die Auftraggeber werden darauf bestehen, die Ergebnisse unverzüglich zu erhalten und darüber frei verfügen zu dürfen. Wenn aber lediglich die publizistische Verbreitung eingeschränkt würde — m i t welchen Handhaben auch immer —, bliebe eine finanzkräftige und einflußreiche Minderheit, die sich die Information verschaffen (d. h. auf legalem Wege kaufen) kann, während der großen Mehrheit diese Information vorenthalten würde. Umfrageergebnisse würden so zu einer Form des Herrschaftswissens. Wenn aber einige Wenige über Wissen verfügen, das andere nicht besitzen, kann m i t diesem Wissen viel wirksamer und geheimnisvoller operiert werden. Spekulationen über die politische Stimmung werden dann m i t Hinweisen auf irgendwo existierende Umfrageergebnisse untermauert, deren Offenlegung und Kontrolle nicht möglich ist, eben weil die Veröffentlichung untersagt ist. Phantastische Gerüchte können sich unbehindert verbreiten. Sie mögen genau so unwirksam sein wie die harten Zahlen: dem K l i m a der politischen Auseinandersetzung sind sie sicher nicht dienlich. Besser zuviel als zuwenig

Einige mögen bedauern, daß eine wirksame Kontrolle nicht möglich ist; andere mögen sich damit abfinden, daß ein Einfluß ohnedies nicht nachweisbar ist. M i t welchen Gefühlen auch immer: man w i r d m i t der Prognose leben müssen. Es dürfte an der Zeit sein, die Prämisse, die allen diesen Reaktionen zugrunde liegt, energisch i n Frage zu stellen: daß es sich u m einen schädlichen Einfluß handeln müsse. I n der Tat wäre zu hoffen, daß Wahlvoraussagen nicht ganz so wirkungslos sind oder bleiben werden,

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wie es nach mannigfacher empirischer Evidenz heute den Anschein hat. Unsere These lautet: Informationen über den möglichen Wahlausgang sind erwünscht, sie können zu einem nützlichen und sogar notwendigen Bestandteil der Meinungsbildung und Wahlentscheidung werden. Durch die Verbreitung und öffentliche Diskussion solcher Daten ließe sich das Interesse am Vorgang der Wahl steigern. Die politische Auseinandersetzung erhält den Charakter eines Wettstreites, eines Spiels m i t festen Regeln, mit Gewinnern und Verlierern; sie gewinnt stärker pragmatische Züge, verliert ihren Absolutheitsanspruch. Das durch Umfragen erhärtete Vorwissen kann dem einzelnen Wähler aber auch eine Orientierungshilfe geben und damit andersartige Motivationen der Wahlentscheidung ermöglichen, die uns rationaler erscheinen als Tradition, Ideologie und sozialer Zwang. Die Theorie des demokratischen Prozesses sieht durchaus die Möglichkeit vor, daß ein Wähler seine Stimme mit dem Ziel abgibt, klare Verhältnisse und eine arbeitsfähige Regierung zu schaffen. Wie aber soll er dazu beitragen, eine „starke" Regierung zustande zu bringen, oder die absolute Mehrheit einer Partei zu verhindern, oder einen Wechsel zu bewirken, wenn er nicht weiß, wie die Kräftekonstellation zur Zeit beschaffen ist? M i t anderen Worten: eine am wahrscheinlichen Ausgang der Wahl orientierte Entscheidung ist völlig legitim und kann eminent politisch sein. Daraus folgt: demoskopische Informationen über die jeweilige Parteienstärke sollen möglichst vollständig veröffentlicht, möglichst exakt dargeboten und möglichst breit gestreut werden. Das stellt hohe A n sprüche an die Meinungsforscher, an die Presse, an die Politiker und an die Wähler. Niemand w i r d behaupten wollen, daß diese Ansprüche heute erfüllt sind; sie werden auch nie i n idealer Form erfüllbar sein. Dem Ideal ein gehöriges Stück näher zu kommen, sollte indessen möglich und einige Anstrengung wert sein. Voraussetzung dafür, daß Politiker und Wähler einen sinnvollen Gebrauch von Umfragedaten machen — das gilt nicht nur für Umfragen zur Parteienpopularität —, ist eine hohe Qualität der veröffentlichten Informationen. Das geht zunächst die Institute selbst an. Ihre Ergebnisse müssen solide, eindeutig und vernünftig kommentiert sein. I m Prinzip sind die Methoden heute weit genug entwickelt, daß sich Pannen vermeiden oder rasch erkennen lassen. Je offener und kritischer die Diskussion, um so größer die Chance für eine Steigerung der Qualität. Das Kernproblem betrifft die Kommunikation zwischen Instituten und publizistischen Medien. Hier liegt — nicht nur i n der Bundesrepub l i k — vieles i m Argen. Die Schwierigkeiten, i n die technischen Details von Erhebung, Aufbereitung und Interpretation hineinzusteigen, sollen nicht unterschätzt werden. Aber es führt kein Weg daran vorbei. So20 Festgabe für Gert von Eynern

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lange jeder Unsinn kommentarlos abgedruckt wird, der irgendwo und irgendwie repräsentativ ermittelt wurde, w i r d man von den Produzenten nicht erwarten können, daß sie sich allzu viel Mühe machen. Es gibt heute Spezialisten i n den Redaktionen, die sich kritisch mit der Qualität von Parlamentsdebatten, von diplomatischen Noten, von neuen Automodellen, von Fußballspielen oder von Jazz-Konzerten beschäftigen und darüber sachkundig berichten. Sollte sich nicht auch jemand finden lassen, der über demoskopische Neuigkeiten verständig zu unterrichten weiß? Bevor der Gesetzgeber zur Hilfe gerufen wird, sollte der ernsthafte Versuch gemacht werden, m i t unbequemen Informationen auf demokratische Weise fertig zu werden, d. h. sich ihnen kritisch zu stellen. Bis 1984 ist ja noch ein bißchen Zeit.

Zweiter

Teil

ökonomische Determinanten der Politik Politische Determinanten der Wirtschaft

Letter to Gert v o n E y n e r n Von Gerhard Colm Dear Gert: I was happy when I heard that a Festschrift w i l l be prepared i n your honor. I am happy that a friend of a lifetime is to be honored. Beyond the personal, honoring you also means emphasizing the importance of the problems to which you are devoting your professional life. As you do, I also feel the need to integrate an element of political science into economics and an element of economics into political science. I hoped I could contribute an essay to this Festschrift but have found that a student of political economy is rarely master of his time. Therefore, I can only use a few hours during a Fourth of July weekend for w r i t i n g you a letter i n which I want to raise some questions concerning future developments i n our fields of common interest. The form of a letter signifies not merely an article sketched without time for elaboration. A letter calls for response if i t is to become correspondence. The article which should emerge from this may be w r i t t e n by you or me, or most likely by somebody else stimulated by such correspondence. Reviewing the development of economics over the last few decades I find two different tendencies which to some extent contradict each other. One is the development of an often sterile scientism, the other the development of an action-oriented economics. Most promising is recent crossfertilization between the two developments. The scientistic attitude appears i n the penetration, if not domination, of economics by mathematical symbolism. I f the symbols are translated into ordinary language i t often turns out that the substance did not reveal any new knowledge. This symbolism makes some economic literature understandable exclusively to insiders who have nothing but disdain for "literate" economics. However, mathematical formulations even of previously known relationships have to some extent contributed to the clarification of the logic of economics. Heroic efforts are being made i n the social sciences to approach, by some k i n d of objective procedures, problems whose solution requires judgment and which involve both quantifiable and non-quantifiable elements. Computerized simulation and games are such methods which can be very useful but often involve the danger that they give the

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appearance of precise objectivity where i n reality the solution of a problem depends largely on judgment and intuition. The electronic computer is a research device of t r u l y revolutionary significance but there is the inclination to regard everything as infallible that has been figured out w i t h the help of a computer. There is, however, the fact that the computer and intelligent use of econometrics have greatly aided the action-oriented economics which has developed i n recent decades. The depression problems of the 1930s, the inflation problems of the postwar period, the problems of growth and development became so dominant that political leaders looked more and more to economics for an answer to the most pressing world problems. While u n t i l a few decades ago i n the United States, not less than i n Europe, jurists trained i n law and public administration maintained a virtual monopoly of high government positions, today economists are i n many key positions. For the t h i r d time i n a row an economist is director of the powerful U. S. Bureau of the Budget; the chairman of the Council of Economic Advisers is a key figure i n the Executive Office of the President; the Joint Economic Committee i n the Congress, served by a staff of economists, plays an important role; Ken Galbraith, besides being professor of economics is head of a political organization, the Americans for Democratic Action. The role of economists is problably most pronounced i n the American society but the same tendencies appear also i n other "Western" countries. After all, Germany had an economist as Chancellor and has now a prominent economist i n the cabinet, and Great Britain has an economist as Prime Minister. I t is understandable that Daniel Fusfeld published a popular book under the title The Age of the Economist 1. The questions I want to raise i n this letter are the following: W i l l economics as i t has been developing be able to meet the challenges implied i n the position which i t has attained i n the American society? Before outlining an answer, two other questions need to be raised, namely: (1) To what extent has the so-called "new economics" been a success? and (2) More generally, to what extent is economics equipped to deal w i t h the most urgent problems of a modern society of the "Western" type? I n which direction should economics, as part of the social sciences, move to serve the emerging needs? Recent Developments i n the New Economics The last few years brought i n the United States a great success followed by a k i n d of crisis for the so-called "new economics". Signifi1

Scott, Foresman and Company, Glenview, Illinois, 1966.

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cant efforts have been made recently to make the "new economics" operational. Concepts like the "GNP gap" and the "full-employment budget", susceptible to statistical measurement, were developed; advances were made i n the coordination of fiscal and monetary policies; the use of electronic computers has made feasible much more meaningful processing of empirical data than was previously possible. The success of the prolonged period of expansion from 1961 to 1965 helped to make the „new economics" politically acceptable. Walter Heller's book New Dimensions of Political Economy is the proud record of one who has significantly participated in, and contributed to, this development. The years 1966-1967 brought, however, increasing voices of criticism. The theory of the "new economics" was attacked by M i l t o n Friedman and disciples who regard changes i n the circulation of money as the key for explaining and influencing economic development. Errors i n economic forecasting cast doubts on the ability of economists to recommend preventive, i n contrast w i t h remedial, action. Actual and anticipated budget deficits, i n excess of those regarded as a desirable means of an active growth-promoting fiscal policy, scared the politicians and again brought to the fore conventional thinking about budget balancing 2 . Failure to improve the balance-of-payments deficit has been another criticism of recent economic policies 3 . I believe that the period of 1966-67 is not a fair test of the "new economics". This period is characterized by recessionary tendencies i n the private sector of the economy and the potentially inflationary effects of the military build-up i n Vietnam and a threatening involvement i n the Near East conflict. I t can be said that the complications are more of a political than of an economic nature. Nevertheless, certain questions need to be answered, namely: (1) The prescriptions of the "new economics" are clear and easy to administer i n a period of substantial under-utilization of resources, or substantial demand inflation. I t is, perhaps, not entirely accidental that the advocates of monetary policy made themselves heard when the problem was maintaining economic growth at an existing high level of activities. Do we need a better integration of fiscal and monetary policy both i n theory and practice? (2) Considerable success has been achieved i n measuring the impact of an increase i n government expenditures and of a reduction i n tax 2 Views vacillating between accepting "new economics" and "conventional" t h i n k i n g are reflected i n the report of the Joint Economic Committee on the January 1967 Economic Report of the President (March 1967). 3 See especially H. Christian Sonne, Our Achilles Heel: World Liquidity, published by the author, June 1967.

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rates on economic activities (multiplier effect), but much less is known about the impact of changes i n credit policy and interest rates. (3) L i t t l e progress has been made w i t h provisions for dealing w i t h cost-push inflation, especially w i t h income policy. (4) While we have been relatively successful in improving the domestic economic performance the balance-of-payments situation has remained unsatisfactory. (5) The quantitative evaluation of the effect of government policies depends on the use of certain coefficients which are regarded as relatively constant (i. e., relative to the autonomous change i n absolute magnitudes, such as government expenditures, business investments, and so on). There is reason to assume that coefficients such as the multiplier or accelerator vary depending on general circumstances, such as peace or war conditions or anything i n between. L i t t l e is known about the confidence factor which is involved here. I n spite of this list of deficiencies i n economic analysis and policy instruments (which unfortunately could be prolonged) the economic problems of our era appear manageable — as long as international conflict and social problems do not intervene. Must we accept international turbulence and domestic strife as a "normal" condition for our age? I f we do, what follows for economic policy? The National Goals and Priority Debate Economics i n the narrowest sense is concerned w i t h the level of activity, employment and unemployment, consumption and investment, the balance of payments, the price level, economic growth, and similar characteristics of economic performance. I have called these economic performance goals 4. Economics is said to be neutral vis a vis the questions: employment for what? what kind of activities? When i t is the task of government to help a country to p u l l out of a depression the main concern is to create additional job opportunities. Whether the additional jobs are i n the private production of consumer goods or i n government service may be a secondary concern. B u t when relatively high employment is reached the questions of the substance of work, of the achievement goals of society, become of paramount importance. There is, however, a close relationship between performance and achievement goals. For example, performance w i t h respect to economic growth depends on achievements i n health, education, research, training, and so on. 4 See, for instance, m y contribution to the Festschrift for Hans Schäffer , Neue Perspektiven aus Wirtschaft und Recht, Duncker & Humblot, B e r l i n 1967.

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I t might be argued that decisions on the allocation of resources i n our society depend either on consumer preferences (and on business allegedly merely responding to actual or anticipated consumer demands) and on political decisions concerning goals pursued through government programs. The study of consumer attitudes may belong to the domain of behaviorists, the study of political decision making to political science. I do not deny that behavioristic studies and political science have to contribute to the study of goals and how priority decisions are made, but there are aspects w i t h which these sciences are not likely to deal 5 . Some skeptics may doubt that any objective analysis of goals is possible. I t may appear that decisions on priorities among various goals are simply a matter of individual choices or of political attractiveness. From 1965 to 1975 total production of goods and services per year could increase by something like $ 340 billion (in constant prices). I t may appear that this permits consumers and governments to do virtually everything they choose. Actually, under existing and anticipated conditions a large part of the additional production potential is "preempted". The increase i n population and the shift of population from rural to metropolitan areas, and particularly suburbs, requires almost by necessity increased expenditures for urban development, transportation, education, health and sanitation, law enforcement — even before standards of performance i n any of these fields are really improved. Some minimum increase i n the level of living of the masses of consumers through an increase i n real wages and salaries and increased social security benefits is a necessity simply i n order to protect the social fabric of society. W i t h industrialization and urbanization programs of pollution control and noise abatement become a necessity. I t is even doubtful that they should be regarded as "goals" rather than as social costs. Actually, many of the so-called national goals are means rather than ends, means toward a rather vague concept of a "good society". Goals studies i n a way deal w i t h the most basic economic problem, namely the allocation of resources. Progress has been made i n goals and priority analysis and program evaluation. But here we are still far from a state of the art i n which decision makers can obtain the professional advice they would need for more rational decision making. Most interesting is the Planning-Programming-Budgeting System (PPBS) recently introduced by the Federal Government for program evaluation. Also some states and local governments are experimenting w i t h the system. There are still serious unsolved problems, particularly 5 For goals and p r i o r i t y research i n general I refer to the article i n the Hans Schäffer Festschrift, I. c.; and to Leonard A. Lecht, Goals, Priorities , Dollars: the Next Decade (New Y o r k : The Free Press, 1966).

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because most programs serve more than one purpose and because no method has been developed to give proper weight to non-quantifiable factors. (See the statement by the always provocative Admiral Rickover i n Volume 6 of hearings i n the Spring of 1967 before a subcommittee of the U. S. House of Representatives Appropriations Committee on Department of Defense appropriations for fiscal year 1968.) The Counteroffensive of the Social Scientists I n response to the fact that many, especially academic economists, have approached social problems i n a rather narrow and abstract fashion, some social scientists have claimed that parallel to national economic accounts and economic indicators there should be developed social accounts and social indicators. They also propose that i n the Executive Office of the President there should be a Council of Social Advisers responsible for preparation of a Social Report of the President parallel to the Council of Economic Advisers which is responsible for preparing the Economic Report of the President. A n d they propose that i n Congress there should be a Joint Committee on the Social Report parallel to the Joint Economic Committee 6. I n the recent "seminar" arranged by the Senate Committee on Government Operations I took a position i n support of paying increased attention to social problems but criticizing the establishment of " r i v a l " economic and social councils and committees 7 . I pleaded for an eventual integration of the economic and social approach. Questioning the Social Assumptions Underlying Economic Analysis The counter-offensive of the social scientists against the dominance of economists i n the councils of government could be dismissed or resolved as an interdisciplinary quarrel. There is, however, a more fundamental attack on the social assumptions implicitly made by the economists. The economists' thinking about market expectations, policy requirements, and potentials for future social programs are based on projections. These projections take account of the demographically conditioned increase i n the number of people of working age, of the labor participation rates i n various age groups, of technological advances, and so on. They also assume that education and training w i l l respond to technological requirements as they evolve. They take i t for granted 6 Senator Mondale, associated w i t h a group of other Senators, duced a bill, "The F u l l Opportunity and Social Accounting Act of the proceedings of a Seminar-Hearing on the b i l l held June 26, hearings on subsequent days. See also Social Indicators, Raymond editor (Cambridge: M I T Press, 1966). 7 See the Seminar-Hearing referred to i n footnote 6 above.

has i n t r o 1967". See 1967, also A. Bauer,

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that individuals w i l l always play the game according to the rules, which are largely determined by modern technology. There are now social critics, Paul Goodman 8 the most vocal among them, who cast serious doubts on this tacit assumption. Is there perhaps a generation growing up who w i l l not respond to the traditional work incentives and refuse to become "robots" i n our technological system? Goodman and others are critics rather than prophets. They only cast doubts on the conventional assumptions made by economists and social scientists alike. I am not persuaded by their arguments — i n spite of the unrest among the youth you have experienced at the Free University i n Berlin and we have experienced at various American universities. As I argued i n an earlier section of this letter, while the strictly economic issues are by no means solved they are manageable; goals analysis and program evaluation are still i n an early stage of development. More serious, however, are the problems implied i n the maintenance and development of the social fabric under the impact of the stresses of rapid technological change i n a society that attempts to take seriously the democratic ideals o f . . . (Here I take the privilege of a letter, which i n contrast to an article may leave i t to the recipient to f i l l i n some blanks.) I come back to the beginning. I feel as you do that elements of political science should be integrated into economics and elements of economics into political science. I could add that the same is true w i t h respect to elements of social sciences and technological knowledge. Does this, then, lead us into a condition i n which we deny the advances i n knowledge brought about by specialization? I n Hegelian dialectic we have moved from the ideal of the universal scientist of the 18th and part of the 19th century to the dominance of the specialists of our present age. Our present problem is that we need a new synthesis, without losing the advantages of specialization. I n engineering there is the new concept of system engineering. A n automobile is no longer designed as a piece of mechanical equipment, perhaps w i t h a stylist adding to its attractiveness i n the showroom. The automobile as a system of transportation includes the driver, the passengers, and even the auto mechanic. A space rocket system is so built that i n case of failure of one part other parts w i l l take over its function, or the failure w i l l be promptly communicated so that corrections can be made by the astronaut or the ground personnel. Here also the space exploration system includes the equipment and the people operating it. Similarly, i n the social world errors and failures have to be considered. We are dealing w i t h decision making under conditions of uncertainty. As far as we cannot rely on self-correction (feedback 8 See, for instance, "The New Aristocrats", Playboy, March 1967. (This is a magazine for which you w i l l look i n v a i n i n any scientific library. His ideas can, however, also be found i n many other articles and several books.)

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effect), as i n a pure market system, communications are needed which then lead to remedial actions. The communications can be of the most diverse types. They may include formal reports and statistics but also art and literature, which sometimes more clearly than statistical reports indicate failures and voice protests (particularly under dictatorial conditions). Systems analysis by necessity supplements a discipline-oriented w i t h a problem-oriented approach. We do need the specialization of disciplines because each field of knowledge has become so complex that the universal man almost by necessity often w i l l be a superficial man. I see i n this situation two possible approaches, each w i t h its merits and limitations. One is the team approach as developed i n so-called "operations research". Here the synthesis is brought about by w e l l planned and directed cooperation of a number of specialists from different fields. I t is right that, for example, foreign aid problems require knowledge from such diverse fields as economics, political science, anthropology, behaviorism, technology, and so on. But being a behaviorist i n itself does not yet make a person suitable to work on the behaviorist aspects of foreign aid. A team of even first-class representatives of various disciplines may still be a failure i n work on a particular problem. The other approach requires individuals to work on a specific problem using methods of various disciplines. Here an individual combines, so to speak, a team i n himself. This is possible without superficiality if these people l i m i t themselves not to specific disciplines but to specific problem areas. Several American universities have courses of study which concentrate on areas, such as Russia, China, Japan. The studies include language, history, art, political science and economics — all focused on the specific area. I wonder if there would not be other areas for studies which are problem-oriented rather than discipline-oriented, such as education, or the poverty problem, or any other area of specific concern. What we need are — paradoxical as i t may sound — specialists i n interdisciplinary research. They should become familiar w i t h methods and tools used by various disciplines i n the social sciences so that they are equipped for problem-oriented research and can also become leaders of interdisciplinary teams. Your work and teaching is an example of the problem-oriented approach. Perhaps the main message of this long letter is simply: Please do more of what you have been doing. W i t h all good wishes, Yours, Gerhard Colm July 4, 1967 Big Meadows Lodge, Virginia, USA

Der Einfluß der Wirtschaftsforschung auf die Wirtschaftspolitik in Deutschland in den letzten 53 Jahren Von Fritz Baade Die Geschichte dieses Einflusses zeigt nicht nur positive, sondern auch recht negative Aspekte. I n manchen Situationen ließ die Wirtschaftspolitik sich von der Wirtschaftsforschung beraten und konnte auf Grund dieser Beratung große, zum Teil sogar spektakuläre Erfolge erzielen. I n anderen Fällen aber hat die Wirtschaftspolitik und insbesondere die große Politik gar nicht daran gedacht, vor wichtigen Entscheidungen den Hat der Wirtschaftsforschung einzuholen, oder aber, wenn ein solcher Rat erteilt wurde, sie ihn nicht befolgt. Das Ergebnis waren dann spektakuläre Fehlentscheidungen der Wirtschaftspolitik und dementsprechend spektakuläre Mißerfolge. Die Geschichte dieser 53 Jahre i n Deutschland beginnt mit einem der krassesten negativen Fälle. Als Kaiser Wilhelm II. i n den Ersten Weltkrieg hineinstolperte, war die Achtung seiner Regierung gegenüber der Wirtschaft und schon gar gegenüber der Wirtschaftswissenschaft so gering, daß das damalige kaiserliche Kabinett nicht einmal ein W i r t schaftsministerium hatte. Diese Aufgabe wurde von einem Unterstaatssekretär i m Reichsamt des Inneren wahrgenommen. Kein Wunder also, daß man nicht i m entferntesten daran dachte, das Generalkonzept dieses Krieges, so wie es i m großen Generalstab ausgearbeitet worden war, irgendwie von Wirtschaftskennern oder gar Wirtschaftswissenschaftlern nachprüfen zu lassen. Das Konzept des großen Generalstabs war der Schlieffen-Plan. Nach der Parole „Macht m i r den rechten Flügel stark" hielt man den Überfall auf das neutrale Belgien für „kriegsnotwendig". Daß ein solcher Überfall auf Belgien einen Kriegseintritt Englands gegen Deutschland zwangsläufig zur Folge haben würde, hatte zwar der Botschafter des Kaisers i n London, Fürst Lichnowsky, mehrfach berichtet, aber die Herren i n der obersten Heeresleitung focht das nicht an. Die Tatsache, daß das kaiserliche Deutschland auf Leben und Tod von Einfuhren von Nahrungsmitteln und Rohstoffen abhängig war, lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Sie kamen infolgedessen gar nicht auf die Idee, daß der Krieg, den sie innerhalb von drei Monaten zu gewinnen hofften, zu einer Blockade und zur Abschneidung Deutschlands von den Einfuhren an Nahrungsmitteln und Rohstoffen führen würde, die die endgültige Niederlage praktisch unvermeidbar machte.

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Auch rein militärisch war allerdings diese Konzeption, die auf dem Überfall auf Belgien aufbaute, eine Fehlrechnung. I n der Marne-Schlacht erhielten die kaiserlichen Heere ihre erste große Niederlage, und zum erstenmal trat das Erdöl als entscheidender Faktor i n die Kriegesgeschichte ein. Der französische General Gallieni stellte alle Automobile von Paris, einschließlich der Taxen, i n seinen Dienst, um Truppen mit größter Beschleunigung an die von i h m erkannte schwache Stelle der deutschen Front zu werfen. Aber die verlorene Marne-Schlacht hat nicht zur endgültigen Niederlage des kaiserlichen Deutschlands ausgereicht. Entscheidend war die von Kriegsjahr zu Kriegs jähr sich immer stärker auswirkende Blockade. Deutschland war nicht nur von der Einfuhr von Getreide und Futtergetreide für seine Ernährung abhängig, sondern auch i n der Versorgung des Ackers m i t Pflanzennahrung. Der Stickstoff kam als Salpeter aus Chile und der Phosphorsäuredünger als Rohphosphat aus Marokko oder sogar von der Insel Nauru i m Pazifik. I n dem Maße, wie die Versorgung des Ackers mit Pflanzennahrung immer unzulänglicher wurde, sanken die Ernteerträge und verschärfte sich der Hunger. Wie weltfremd das Wirtschaftsbild des Militärs war, zeigt auch die Tatsache, daß man aus der besonders guten deutschen Ernte von 1914 selbst nach Ausbruch des Krieges noch Millionen Tonnen von Roggen und von Futtergetreide m i t dem „bewährten M i t t e l " des Einfuhrscheins aus Deutschland hinausschickte. Erst i m zweiten Kriegs jähr fing man an, sich über die Grundtatsachen der Kriegsernährungswirtschaft überhaupt Gedanken zu machen. Eine Einschaltung der Wissenschaft erfolgte erst, als durch den „Schweinemord" ein besonders schwerer und kaum noch wiedergutzumachender Schaden angerichtet worden war. Aber selbst die beste Beratung durch die Wirtschaftswissenschaft hätte die Hungerkatastrophe nicht verhindern können, nachdem der entscheidende Fehler, der Überfall auf Belgien und der dadurch herbeigeführte Kriegseintritt Englands, begangen worden war. Auch auf dem Gebiet der Rohstoffversorgung war zunächst alles unterlassen worden, um den drohenden Mangel lebenswichtiger Rohstoffe wenigstens durch eine sofort einsetzende Erfassung und Bewirtschaftung der knappen Bestände zu mildern. Erst i m dritten Kriegs jähr wurde ein Mann an den entscheidenden Platz berufen, der dann noch wenigstens einiges retten konnte: Walter Rathenau, ein Mann, der zwar kein Wirtschaftsprofessor, aber ein praktischer und erfolgreicher Wirtschaftsführer von hohen geistigen und durchaus wissenschaftlichen Qualitäten war. Aber auch er konnte eine Rohstoffwirtschaft, die von überseeischen Zufuhren abhängig war, nur von einigen besonders schlimmen Fehlern befreien, aber nicht mehr retten. Der Krieg wurde schließlich nochmals durch einen überseeischen Rohstoff zu einer für das kaiserliche Deutsch-

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land vernichtenden Entscheidung gebracht: A u f einer Woge von Erdöl schwammen i m letzten Kriegsjahr die Alliierten zum Sieg, als sie m i t der neuerfundenen Tankwaffe die durch Hunger und Materialmangel zermürbten deutschen Truppen i m Westen überrannten. Der Zeitabschnitt 1914—1918 ist also bezüglich unseres Problems „Einfluß der Wirtschaftsforschung auf die Wirtschaftspolitik" eindeutig negativ. Man hat die Wirtschaftsforschung gerade da nicht gefragt, wo sie entscheidende Zusammenhänge hätte aufweisen und zur Vermeidung entscheidender Fehler hätte beitragen können. Aber auch das, was die Siegermächte dann i n den verschiedenen Vororten von Paris und insbesondere i n Versailles bei der Planung des „Friedens" beschlossen, stand i m Widerspruch zu den einfachsten Erkenntnissen der Wirtschaftsforschung. Man belastete das geschlagene Deutschland m i t Reparationsverpflichtungen i n unbegrenzter und, soweit Ziffern genannt wurden, astronomischer Höhe. Man kümmerte sich aber nicht i m geringsten darum, wie solche Reparationen an die westlichen Siegermächte und wie von den europäischen westlichen Siegermächten die Kriegskredite an die Vereinigten Staaten geleistet werden sollten. Jedem Wirtschaftswissenschaftler, ja, man darf wohl sagen, jedem Studenten der Wirtschaftswissenschaft muß es klar sein, daß Summen i n einer solchen Größenordnung aus einer Volkswirtschaft i n die andere nicht i n Geld, sondern nur i n Form von Arbeitsleistungen transferiert werden können. Das entscheidende Empfängerland, die Vereinigten Staaten, dachte aber gar nicht daran, die Rückzahlung seiner Kriegskredite i n dieser einzigen funktionsfähigen Währung entgegenzunehmen. So vergiftete das ungelöste Reparationsproblem, genauer gesagt, das durch Annahmeverweigerung des größten Gläubigers unlösbar gemachte Reparationsproblem, nicht nur die politische Atmosphäre der Nachkriegs jähre, sondern trug entscheidend dazu bei, daß die Weltwirtschaftskrise am Ende der 20er und am Beginn der 30er Jahre ein so entsetzliches Ausmaß erreichte. Amerikanische Bankiers hatten sich die „Patentlösung" ausgedacht, langfristige politische Schulden, die wegen Annahmeverweigerung des Gläubigers nicht transferierbar waren, durch das Hineinpumpen von kurzfristigen privaten Krediten i n das Schuldnerland Deutschland scheinbar transferierbar zu machen. I n der Weltwirtschaftskrise wurden diese Kredite dann kurzfristig zurückgefordert, und dieser Vorgang trug entscheidend zur Verschärfung der Weltwirtschaftskrisis bei. Bei der weltweiten Erörterung des Reparationsproblems haben zwar namhafte, nicht nur deutsche, sondern insbesondere auch englische und amerikanische Wissenschaftler hervorragende kritische Beiträge geleistet. Die Politiker aber waren nicht bereit, auf diese Ratschläge zu hören. Und so führte die Nichtbewältigung der Probleme, die der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, weitgehend

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zur Weltwirtschaftskrise und über die — eng damit zusammenhängende — Machtergreifung Adolf Hitlers zum Zweiten Weltkrieg. Die junge Weimarer Republik hat sich redlich bemüht, vieles von dem nachzuholen, was das kaiserliche Deutschland versäumt hatte, insbesondere der Wirtschaftsforschung den entsprechenden Platz i n der Beratung der Wirtschaftspolitik und der gesamten Politik einzuräumen. Zunächst geschah das Wichtigste: die Errichtung eines Reichswirtschaftsministeriums und die Besetzung hoher Ämter i n diesem M i n i sterium m i t Männern wirtschaftswissenschaftlicher Erfahrung. Staatssekretär Julius Hirsch, Ministerialdirektor Staudinger und Oberregierungsrat Lautenbach waren drei Männer, die für diesen neuen Kurs i n der deutschen Wirtschaftspolitik bezeichnend sind. Auch i m Reichsfinanzministerium war der spätere Staatssekretär Hans Schäffer ein hoher Verwaltungsbeamter von ausgesprochen wissenschaftlicher Prägung. Eine der ersten Maßnahmen der Weimarer Regierung war die Berufung der sogenannten Sozialisierungskommission. Sie hat zwar trotz ihres Namens nicht ein Rezept für die Sozialisierung der deutschen Industrie ausgearbeitet, dafür aber für zwei wichtige Wirtschaftsgüter, nämlich für Kohle und für Kali, Lösungen erdacht und ausgearbeitet, die sich als ungewöhnlich glücklich und wirksam erwiesen. Die Einrichtungen, die das Kohlenwirtschaftsgesetz, das i m wesentlichen i n der Sozialisierungskommission erarbeitet worden war, uns gebracht hat, waren wesentlich besser konstruiert als das, was nach dem Zweiten Weltkrieg von der Montan-Union aufgebaut wurde. Das Kohlenwirtschaftsgesetz schaffte eine elastische Lenkung der deutschen Kohlenwirtschaft unter paritätischer Beteiligung von Unternehmern und A r beitern und unter starker Mitbeteiligung der Verbraucher. Selbstverständlich war es auf dem Prinzip des zentralen Kohlenverkaufs aufgebaut. Es unterschied sich daher sehr zu seinem Vorteil von der Montanunion, i n deren Hoher Behörde die Deutschen stets überstimmt werden konnten und die auf der Verhinderung des zentralen Kohlenverkaufs i n Deutschland bestand; man darf wohl sagen: bis zum bitteren Ende, d. h. bis zu einer westeuropäischen Kohlenkrise, zu deren Lösung diese Behörde bisher kaum einen positiven Beitrag geleistet hat. Wenn die von der Sozialisierungskommission seinerzeit ausgearbeiteten Konstruktionsprinzipien nach dem Zweiten Weltkrieg für den Aufbau der westeuropäischen Kohlenwirtschaft nutzbar gemacht worden wären, so wären die Probleme, m i t denen sich nicht nur der deutsche, sondern der gesamte westeuropäische Kohlenbergbau heute herumzuschlagen hat, von vornherein wesentlich leichter lösbar gewesen. Auch auf dem Gebiet der Kaliwirtschaft hat die Sozialisierungskommission, besetzt teils m i t ausgesprochenen Wissenschaftlern, wie Rudolf

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Hilferding, Robert Wilbrandt, E m i l Lederer, teils m i t Wirtschaftskennern von wissenschaftlicher Grundrichtung, wie Walter Rathenau, Hervorragendes geleistet. Die Kaliwirtschaft, die sie vorfand, war auf das Schwerste i n Unordnung, weil i m Bestreben, neue Quoten zu verdienen, Schächte i m Übermaß abgetäuft worden waren, für deren Produktion kein Absatz vorhanden war. Die Sozialisierungskommission erdachte eine Konstruktion, die mit dem Reichskalirat und dem Kalisyndikat der Konstruktion der Kohlenwirtschaft i n mancher Beziehung ähnlich war. Sie erdachte aber auch das Instrument zur Beseitigung übermäßiger Kapazitäten, zur Stillegung unrentabler Bergwerke und zur Vergrößerung der Kapazität rentabler Bergwerke durch Quotenkauf, das geradezu als genial bezeichnet werden kann. Während bei Beginn der Tätigkeit der Sozialisierungskommission i n Deutschland noch 175 fördernde Schachtanlagen vorhanden waren, war diese Zahl bis zum Jahre 1928 auf 60 zurückgegangen. I m engen Zusammenhang damit war die Förderleistung pro Schicht von 0,159 t Reinkali auf 0,417 t gestiegen. Auch i m Kalisyndikat wurde natürlich ein zentraler Verkauf geschaffen, der für die Steigerung des Absatzes an K a l i dadurch besonders wirksam war, daß für das ganze Reichsgebiet ein einheitlicher Verkaufspreis frei Empfängerstation festgesetzt wurde. A u f Kosten der i n der Nähe der Gruben liegenden, überwiegend wohlhabenden Landwirtschaft wurde das K a l i der Landwirtschaft i n den entfernten und meist ärmeren Gebieten verbilligt zugeführt. Aber die Sozialisierungskommission war nur ein erster Anfang i n der Schaffung von Instrumenten für die Nutzbarmachung wirtschaftswissenschaftlicher Forschungen i n der Wirtschaftspolitik. Es entstanden i n der Weimarer Republik zwei Forschungsinstitute, die an Umfang und Leistungsfähigkeit alles übertrafen, was es i n der westlichen Welt auf diesem Gebiet gab: das von Ernst Wagemann geschaffene Institut für Konjunkturforschung i n Berlin und das von Bernhard Harms geschaffene Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Die Leistungsfähigkeit dieser beiden Institute zur Erarbeitung von Tatbeständen und zur Erteilung von Ratschlägen für die Wirtschaftspolitik war so groß, daß sich daraus i n Deutschland eine ganz neue Form, die A b grenzung zwischen abhängiger, d. h. von Ministerien abhängiger W i r t schaftsforschung und unabhängiger Wirtschaftsforschung ergab. Da bei der Gründung der Weimarer Republik — wie erwähnt — vom kaiserlichen Deutschland kein Wirtschaftsministerium übernommen wurde, waren hier die wirtschaftswissenschaftlichen Institute früher vorhanden als das Ministerium. Aufgaben, die i n anderen Ländern durch hauseigene und deshalb von der politischen Leitung abhängige Forschung übernommen wurden, konnten von vornherein i n der Weimarer Republik den unabhängigen Instituten überlassen bleiben. So 21 Festgabe für Gert von Eynern

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ist das Institut für Weltwirtschaft an der Universität K i e l i n den ersten 50 Jahren seiner Tätigkeit von 1912—1962 ständig i n irgendeiner Weise m i t Aufgaben betraut gewesen, die i n den Vereinigten Staaten von einer Abteilung i m Department of Commerce und i m Vereinigten Königreich vom Board of Trade bearbeitet werden. Das von Ernst Wagemann gegründete Institut für Konjunkturforschung i n Berlin wurde mit seinen praktischen Arbeitsmethoden nicht nur Vorbild für die Konjunkturforschung i n der westlichen Welt, sondern es rüstete sich auch dafür, besonders wertvolle Ratschläge für die praktische Konjunkturpolitik zu geben. Allerdings werden w i r sehen, daß die Nichtbefolgung dieser Ratschläge dann entscheidend zu dem katastrophalen Mißerfolg der deutschen Wirtschaftspolitik i n der großen Krisis beitrug. Zunächst einmal aber wurde i n der Weimarer Republik ein besonders groß dimensioniertes Instrument für die Beratung der Wirtschaftspolit i k durch die Wirtschaftsforschung geschaffen, nämlich der große Enquete-Ausschuß, m i t vollem Titel: Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft. Er hatte 35 Mitglieder und war von 1926 bis 1930 tätig. Er hat seine Ergebnisse i n mehr als 50 Bänden veröffentlicht. Das Präsidium bestand aus einem Institutsleiter, nämlich Bernhard Harms, einem wissenschaftlich besonders erfahrenen Politiker, Rudolf Hilferding, und einem wissenschaftlich begabten früheren Ministerialdirektor, Graf von Kayserlingk. Die Tätigkeit dieses großen Enquete-Ausschusses ist zuweilen kritisiert worden und zum Teil m i t Recht. Man hatte sich, indem man die gesamten Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft untersuchen wollte, ein reichlich großes Ziel gesteckt. Aber trotzdem ist das, was geleistet worden ist, sehr bedeutsam. Noch zehn Jahre nach dem Ende der Tätigkeit dieses Ausschusses konnte jemand, der irgendeine Frage der deutschen Wirtschaft bearbeiten wollte, nichts besseres tun, als sich zur Einführung i n das Problem zunächst einmal m i t dem betreffenden Band der Enquete-Publikationen vertraut zu machen. Und selbst heute kann es vorkommen, daß mindestens die Durchsicht des betreffenden Bandes, der vor nunmehr fast 40 Jahren geschrieben wurde, dem Bearbeiter wertvolle Gesichtspunkte für eine wirtschaftswissenschaftliche Untersuchung liefert. Von besonderer Bedeutung ist auch die Technik gewesen, die sich der Enquete-Ausschuß erarbeitet hat. Man versuchte zunächst, nach dem Muster der englischen Enqueten vorzugehen, bei denen Sachverständigenvernehmungen das wichtigste Instrument für die Auffindung von Tatbeständen waren. Sehr bald aber nahm die Arbeit der wissenschaftlichen Sekretäre des Ausschusses und seiner Unterausschüsse einen immer größeren Umfang an und gewann eine immer größere Bedeutung für die erzielten Resultate. Und hier kam eine interessante Ver-

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flechtung zwischen den großen Instituten, insbesondere dem Institut für Weltwirtschaft an der Universität K i e l und dem Institut für Konjunkturforschung i n Berlin, einerseits und dem Enquete-Ausschuß andererseits zustande. Hervorragende Nachwuchskräfte der Institute w u r den wissenschaftliche Sekretäre des Enquete-Ausschusses oder seiner Unterausschüsse, und diese Verflechtung von Institutsarbeit und Enquetearbeit hat besonders wertvolle Resultate geliefert. Es sei hier nur an die große Darstellung der Außenhandelsverflechtung der deutschen Wirtschaft erinnert, die vom Enquete-Ausschuß unter dem Titel „Der deutsche Außenhandel unter der Einwirkung weltwirtschaftlicher Strukturwandlungen" hervorgebracht wurde und deren Hauptverfasser die damaligen „jungen Nachwuchskräfte" des Kieler Instituts, Gerhard Colm, Hans Neisser und Rudolf Freund waren. Auch Gert von Eynern hat damals beim großen Enquete-Ausschuß als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" mitgewirkt. Aber i n den Jahren der Weimarer Republik wurde noch ein weiteres Instrument der Wirtschaftsforschung geschaffen, das ganz ausgesprochen auf die Gewinnung von praktischen Erkenntnissen für die W i r t schaftspolitik ausgerichtet war, nämlich die Friedrich-List-Gesellschaft. Ihr geistiger Vater war ebenfalls Bernhard Harms, die sehr ergiebigen Tagungen wurden i m Institut für Weltwirtschaft, Kiel, unter der Leitung des damals noch jungen Edgar Salin gründlich vorbereitet. Die Tagungen der Friedrich-List-Gesellschaft brachten eine sehr lebendige Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftswissenschaftlern an den Universitäten und Instituten und hohen Beamten i n den Ministerien und Männern aus der Wirtschaft. Die Tagungen über das Reparationsproblem und Kapitalbildung und Steuersystem brachten wichtige Fortschritte i n der Erkenntnis dieser Probleme. Die Tagung über die Agrarpolitik wurde allerdings schon von der Machtergreifung Hitlers überschattet, aber die i n drei Bänden niedergelegten Ergebnisse sind ein noch heute wertvolles Instrument für jeden, der sich mit den Fragen der Agrarpolitik konstruktiv beschäftigen will. Und schließlich ist auch ein völlig neuer Zweig der Wirtschaftswissenschaft zu erwähnen, der i n den 20er Jahren i n der Weimarer Republik entstanden und ganz ausgesprochen auf die Beratung und Beeinflussung der Wirtschaftspolitik ausgerichtet ist: die Wissenschaft vom „Agricultural Marketing". Zwei Institute wurden für die Pflege dieser neuen Wissenschaft gegründet, eines an der Berliner Landwirtschaftlichen Hochschule unter der Leitung von K a r l Brandt, das andere, die Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen, unter der Leitung von Fritz Baade i m Reichsministerium für Ernährung und L a n d w i r t schaft. Durch die Forschung beider Institute sind große praktische Fort2*

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schritte i n der Wirtschaftspolitik erzielt worden. Die Untersuchung von K a r l Brandt über die Milchversorgung Berlins hat unmittelbar zur konstruktiven Neuordnung der Milchversorgung nicht nur von Berlin, sondern auch von anderen großen Verbrauchszentralen geführt. Aus den Arbeiten der Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen gingen die grundsätzlichen Erkenntnisse hervor, die zeigten, wie man den deutschen Getreidemarkt vor den immer chaotischer und politischer werdenden Zuständen auf den Weltmärkten abschirmen kann. Diese Abschirmung konnte nicht durch starre Zölle erreicht werden, sondern nur durch ein Instrument, das i m sozialdemokratischen Agrarprogramm von 1927 noch als „Getreidemonopol" bezeichnet wurde und das der direkte Vorläufer aller agrarischen Außenhandelsregulierungen wurde, die heute i n fast allen Ländern der westlichen Welt bestehen. M i t dem Maismonopolgesetz von 1928 wurde für ein Getreidemonopol die Form gefunden, die dann später überall i n unzähligen Ländern wiederholt wurde, ein Staatsmonopol für die Ein- und Ausfuhr, bei dem der Staat selbst nicht den Handel betrieb, sondern auf Grund einer Andienungspflicht Abschöpfungsbeiträge erhob. Heute, fast 40 Jahre nach dem Erlaß des Gesetzes über das Maismonopol, sehen wir, wie i n den sechs Ländern der EWG die sechs verschiedenen nationalen Abschöpfungsstellen zu einer übernationalen gemeinsamen Abschöpfungsstelle zusammengefaßt werden. Ein anderes Gebiet, auf dem die Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen zusammen mit dem Institut für K o n j u n k t u r forschung erfolgreich tätig war, ist die Stabilisierung der Schweinepreise. Nachdem A r t h u r Hanau die grundsätzlichen Zusammenhänge zwischen dem zyklischen Wechsel von übermäßig starker und allzu geringer Produktionssteigerung und den zyklischen Schwankungen der Preise i n einem Sonderheft des Instituts für Konjunkturforschung festgestellt hatte, erfolgte durch die Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen m i t der „Schweinefibel" und den viermal jährlichen Ermittlungen nicht nur des gesamten Bestandes an Schweinen, sondern auch des Altersklassenaufbaus eine Vermittlung der Erkenntnisse an Hunderttausende von Landwirten, die man viermal i m Jahr belehren konnte, wie sie aus dem Schweinezyklus herauskommen könnten. Und schließlich ergab sich aus der jungen Wissenschaft des „Agricultural Marketing" die Erkenntnis, daß die Preise der landwirtschaftlichen Produkte und damit der Lohn, den der Bauer für seine Arbeit bekommt, von keinem Faktor i n so entscheidender Weise abhängt wie von der Kaufkraft der Verbraucher. Die oben schon erwähnte dreibändige Darstellung der Friedrich-List-Gesellschaft ist völlig von dieser Erkenntnis erfüllt.

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Nachdem i n der Weimarer Republik ein so umfangreiches und schlagkräftiges Instrumentarium auf der Basis einer Beratung der W i r t schaftspolitik aus der Wirtschaftsforschung geschaffen worden war, hätte man hoffen können, daß dieses Instrumentarium der riesigen Aufgabe gewachsen gewesen wäre, welche m i t der Weltwirtschaftskrise vom Ende der 20er Jahre und zu Beginn der 30er Jahre auf die W i r t schaftsforschung und die Wirtschaftspolitik zukam. Leider müssen w i r feststellen, daß die Wirtschaftspolitik es hier wieder einmal — und i n einem für das Schicksal der Menschen katastrophalen Ausmaß — versäumte, sich von der Wirtschaftsforschung beraten zu lassen. Allerdings wurden i n der großen Krise von vielen einzelnen Wissenschaftlern und auch von Gruppen von Wissenschaftlern Ratschläge für die Überwindung dieser Krise erteilt. Der Wirtschaftspolitik aber gelang es nicht, unter diesen Ratschlägen die richtigen auszuwählen, nämlich diejenigen, die geeignet waren, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Das liegt entscheidend daran, daß es bis zur großen Krise zwar eine K o n j u n k t u r wissenschaft gab und daß die Veröffentlichungen über K o n j u n k t u r theorie viele Bände füllten, daß aber der Begriff der „aktiven Konjunkturpolitik", d. h. einer Politik der Krisenbekämpfung und Krisenverhinderung, i n der Wirtschaftswissenschaft damals noch so gut wie unbekannt war. Die Forschung der Konjunkturwissenschaft beschränkte sich darauf, den zyklischen Wechsel zwischen Hochkonjunktur und Wirtschaftskrisis zu beschreiben und die Entstehung der Krisen zu analysieren. Die Lehre, daß der zyklische Wechsel von Hochkonjunktur und Krisis ein unentbehrlicher Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft ist, war ein ziemlich allgemein anerkanntes Dogma. K a r l Diehl hat damals i n seinem A r t i k e l „Krisen" i m Wörterbuch der Volkswirtschaft diesem Dogma eine geradezu klassische Formulierung gegeben, indem er schreibt: „Die allzu kühnen Hoffnungen mancher Konjunkturforscher, daß man durch wirtschaftspolitische Maßnahmen die Konjunktur stabilisieren oder gar zu einer konjunkturlosen Wirtschaft kommen könnte, machten immer mehr der Einsicht Platz, daß die Grundlagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems beseitigt werden müßten, wenn man die Konjunkturen »regeln* wollte." I n ähnlichem Sinne sprachen sich Schumpeter und Spiethoff aus, und L. Albert Hahn nannte die „konjunkturlose Wirtschaft" ein „entgöttertes Paradies". W i r wissen heute, daß dieser Glaube an die Unentrinnbarkeit des zyklischen Wechsels von Hochkonjunktur und Krisis ein Aberglaube war. W i r wissen, daß man auch i n der freien Verkehrswirtschaft Krisen verhindern und, soweit sie aus irgendwelchen Gründen einmal ausgebrochen sind, durch staatliche Eingriffe heilen kann. M i t der Zerstörung des alten Aberglaubens von der Unentrinnbarkeit des K o n j u n k t u r zyklus ist buchstäblich der wissenschaftliche Grundstein zu der aktiven

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Konjunkturpolitik gelegt worden, die heute zum unentbehrlichen Bestandteil der praktischen Wirtschaftspolitik jedes modernen Staates gehört. Z u dieser wissenschaftlichen Grundsteinlegung hat i n Deutschland insbesondere die große Debatte beigetragen, die durch die Weltwirtschaftskrisis am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre ausgelöst wurde, eine Krisis, die i n Deutschland schließlich zu einer Zahl von 6 Millionen Arbeitslosen geführt hat. Zwei Lager standen damals einander gegenüber. Ohne übermäßige Vereinfachung können w i r das eine dieser Lager als das der „Orthodoxen" oder der „klassischen Konjunkturtheoretiker", das andere als das der „Reformer" oder der „Verfechter aktiver Konjunkturpolitik" bezeichnen. Die „Orthodoxen" vertraten folgende Lehren: a) Es gibt i n der kapitalistischen Wirtschaft einen unentrinnbaren Konjunkturzyklus, der vom Boom zur Depression und von der Depression zu neuem Boom führt und so fort. b) Die moderne Wirtschaft entwickelt außer den Kräften, die immer wieder zu Krisen führen, auch die Kräfte zu ihrer Überwindung. Dieser Automatismus der Krisenüberwindung darf nicht durch wirtschaftspolitische Eingriffe, insbesondere nicht durch Kreditschöpfung, gestört werden. Man muß auf die „Selbstheilung" vertrauen. c) Eine der klassischen Voraussetzungen dieser Selbstheilung ist die Preissenkung. Administrative Preissenkungsmaßnahmen können diese Selbstheilung beschleunigen. Die „Reformer" setzten dem die folgenden Thesen entgegen: a) Krisen sind keineswegs unvermeidbar. Die Wirtschaftspolitik verfügt heute über so starke Steuerungsinstrumente, daß es möglich ist, Krisen gar nicht erst zum Ausbruch kommen zu lassen oder sie beschleunigt zu heilen, wenn sie dennoch zum Ausbruch gekommen sein sollten. b) Unabhängig von der Frage, ob dies bei früheren Krisen so war, ist diese Krisis am Ende der zwanziger Jahre nicht durch Kräfte der Selbstheilung, sondern nur durch aktive Konjunkturpolitik zu überwinden. c) Allgemeine Preissenkungen sind keine Heilmittel, sondern das Gegenteil. Je stärker die Wirtschaftspolitik m i t dem M i t t e l der Preissenkungen arbeitet, desto gewisser w i r d sich die Krisis verschärfen und auf alle Wirtschaftsbereiche ausdehnen. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler i n Deutschland vertrat die Lehre der „Orthodoxen".

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Immerhin stand aber doch eine nennenswerte Minderheit der „zünftigen" Nationalökonomen i m Lager der „Reformer". Zu den „Reformern" gehörten vor allem Wissenschaftler, die i n den Instituten der praktischen Wirtschaftsforschung tätig waren. Hier ist an erster Stelle Ernst Wagemann, Präsident des Statistischen Reichsamts und Gründer und Leiter des Instituts für Konjunkturforschung i n Berlin, zu nennen. Er hat m i t der von i h m gegründeten „Gesellschaft für Kreditreform" unermüdlich für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit durch Maßnahmen der aktiven Konjunkturpolitik gekämpft und höchst konkrete Vorschläge für die dringend notwendige Kreditausweitung entwickelt. Vom Institut für Weltwirtschaft an der Universität K i e l gehörten Gerhard Colm und Hans Neisser zum Kreis der „Reformer". Der Verfasser verfügte als Leiter der Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen über ein besonders großes Instrumentarium der praktischen Wirtschaftsforschung. Er hat damals m i t dem Ersten Vorsitzenden des deutschen Holzarbeiterverbandes, Fritz Tarnow, und dem Statistiker Wladimir Woytinski zusammen den sogenannten WTB-Plan (Woytinski-Tarnow-Baade-Plan) verfaßt, einen Plan, der zur Überwindung der Arbeitslosigkeit eine produktive Kreditschöpfung i n Höhe von 4 Mrd. R M vorsah. Dieser Plan wurde vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund zum offiziellen Krisenüberwindungsprogramm der deutschen Gewerkschaften erklärt, aber leider war die Regierung Brüning nicht bereit, diesen Plan zu akzeptieren. Die Weimarer Republik ist damals nicht den Ratschlägen der „Reformer", sondern denen der „Orthodoxen" gefolgt. Nichts oder fast nichts wurde i m Sinne der aktiven Konjunkturpolitik getan. Die Arznei der Preissenkungen wurde der kranken Wirtschaft reichlich eingeflößt. „Hier war die Arznei, die Patienten starben, / und niemand fragte, wer genas. / So haben w i r mit höllischen Latwergen / i n diesen Tälern, diesen Bergen / weit schlimmer als die Pest gehaust." Dieses Faust-Zitat drängt sich auf, wenn man an die tragische Periode der deutschen Konjunkturdebatte und der durch sie beeinflußten wirtschaftspolitischen Entscheidungen denkt. Die Folgen sind bekannt. Je wirksamer Preise und Löhne gesenkt wurden, desto höher stieg die Arbeitslosigkeit. Das Versagen der Weimarer Republik gegenüber der Krisis trug entscheidend zum politischen Zusammenbruch der Demokratie und zur Machtergreifung Hitlers bei. Die „Reformer" hatten die brachliegende Leistungskraft von 6 Millionen Arbeitslosen schon seit Jahren als „Kapital i m dynamischen Sinne" und als die wichtigste volkswirtschaftliche Manövrierreserve zur Überwindung der Krisis erkannt. Dieses Kapital wurde dem Nationalsozialismus i n die Hände gespielt und von i h m mobilisiert: zunächst zum Bau von Autobahnen und

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von Fabriken zur Erzeugung synthetischer Rohstoffe, dann aber immer stärker zur Rüstung und Kriegsvorbereitung. Unter Hitler wurden dann mit dem Instrument der „Mefo"-Wechsel fast 40 Mrd. R M Kredite „geschöpft". Solange diese Kreditschöpfung auch nur einigermaßen zur Finanzierung produktiver Vorhaben diente, trat keinerlei Inflation ein. Diese begann erst, als ein immer größerer Teil der brachliegenden Leistungskraft der Arbeitslosen für Rüstungen verwandt wurde. Die Entfesselung des damit vorbereiteten Zweiten Weltkrieges brachte dann die hemmungslose Inflation und den Zusammenbruch. Das vielleicht beste Beispiel aktiver Konjunkturpolitik i n den 30er Jahren bietet Schweden. Schweden kann heute auf mehr als ein Vierteljahrhundert der erfolgreichen Krisenüberwindung und einer erfolgreichen Vollbeschäftigungspolitik zurückblicken. Diese Politik begann am Anfang der 30er Jahre. Überblickt man die gesamte Periode seit 1933, so kann man feststellen, daß es i n diesem Zeitraum i n Schweden keinen „Konjunkturzyklus" i m klassischen Sinne mehr gegeben hat, d. h. kein überhitztes Wachstum des Sozialprodukts, das danach zur Krisis mit Schrumpfung des Sozialprodukts oder gar mit Arbeitslosigkeit geführt hätte. Das Sozialprodukt i n Schweden ist i n dieser Zeit nominal von 6,4 Milliarden skr auf 38,7 Milliarden skr gestiegen. Die Steigerung war während dieser Periode ungleichmäßig, und zwar einmal rascher und einmal langsamer. I n keinem dieser Jahre aber lag das Sozialprodukt niedriger als i n dem vorangegangenen Jahr. Der Großhandelspreisindex ist i n dieser Periode von 87,6 auf 282,9 des Standes von 1930, d. h. auf etwas mehr als das Dreifache, der Index der Lebenshaltungskosten von 93,3 auf 217, d. h. etwa auf das Zweineinhalbfache, gestiegen. Rechnet man das Volkseinkommen über die Lebenshaltungskosten auf stabile Werte um, so ist es i n der gleichen Periode von 6,4 M i l l i a r den skr auf 16,6 Milliarden skr gestiegen; es hat sich also auch i n Realwerten mehr als verdoppelt. Das, was die Anhänger der aktiven Konjunkturpolitik um das Jahr 1930 herum i n Deutschland vergeblich forderten, nämlich eine Politik des deficit spending, i n einer Situation mit brachliegender Kapazität der Arbeitskräfte und drohender Massenarbeitslosigkeit, ist heute überall i n der Welt das selbstverständliche Instrument der K o n j u n k t u r politik. Die umfassende theoretische Begründung dieses Instruments hat John Maynard Keynes i n seinem Standardwerk gegeben, das fünf Jahre nach dieser Debatte erschien. Er hat allerdings schon etwa zum Zeitpunkt dieser Debatte einige der Grundideen i n A r t i k e l n ausgesprochen, die aber ziemlich sicher keinem derer, die in Deutschland, i n den Vereinigten Staaten und i n Schweden für deficit spending und damit für aktive Konjunkturpolitik kämpften, zu Gesicht gekommen waren. Daß

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i n Deutschland die Wirtschaftspolitik den Weg der Deflation ging und damit die Machtergreifung der Nazis vorbereitete, ist wohl das größte Unglück, das jemals durch Nichtbeachtung der Erkenntnisse der W i r t schaftsforschung seitens der Wirtschaftspolitik angerichtet worden ist. I n den „1000 Jahren" der Nazi-Herrschaft hat sich die Wirtschaftspolitik i n keiner Weise um Forschungsergebnisse der Wirtschaftswissenschaft gekümmert. Wir überspringen diesen Zeitabschnitt und wenden uns der Lage des Deutschlands zu, das aus dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus hervorgegangen ist. Dieses Deutschland ist ein gespaltenes Deutschland. I m östlichen Teil werden Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft für die Wirtschaftspolitik nur insoweit angewandt, als es mit der Doktrin vereinbar erscheint. Es gibt auch hier Entwicklungen i m Sinne des immer stärkeren Eindringens von wissenschaftlichen Erkenntnissen i n das sozialistische Denken. Besonders interessant ist hier wohl eine geistige Entwicklung, die sich an den Namen Wassily Leontief anknüpfen läßt. Wassily Leontief war i n Rußland eng mit Bucharin befreundet und veröffentlichte seine ersten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Input-Output-Rechnung i n der Sowjetunion kurz bevor Stalin nicht nur Bucharin, sondern fast alle selbständigen Denker ausrottete. Es gelang ihm, rechtzeitig nach Deutschland zu kommen, und er arbeitete hier i m Institut für Konjunkturforschung weiter an seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Rechtzeitig vor der Machtergreifung Hitlers ging er dann i n die Vereinigten Staaten und hat dort die Input-Output-Methode zur vollen Entwicklung gebracht. Schließlich fing man sogar an, i n Rußland zu begreifen, daß, wenn die Input-Output-Rechnung schon i n der „kapitalistischen Wirtschaft" ein unentbehrliches Instrument der sinnvollen Gestaltung ist, diese i n der Planwirtschaft noch i n viel höherem Maße der Fall sein muß. Derselbe Wassily Leontief, der einer Ermordung durch Stalin knapp entgangen war, war dann wohl der erste russische Emigrant, insbesondere wohl der einzige emigrierte Wirtschaftswissenschaftler, der zu Vorträgen über die InputOutput-Rechnung nach Rußland eingeladen wurde. M i t diesem kurzen Seitenblick wollen w i r es bezüglich der Zusammenhänge zwischen W i r t schaftsforschung und Wirtschaftspolitik i n der östlichen Welt i m allgemeinen und i m östlichen Deutschland für heute bewenden lassen und uns der Entwicklung i n Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zuwenden. Die Lage war dadurch charakterisiert, daß es eine „deutsche" W i r t schaftspolitik i n dieser Zeit nicht gab. Die Wirtschaftspolitik wurde von den Besatzungsmächten und insbesondere von der amerikanischen Besatzungsmacht diktiert. Ihre Richtlinien waren i n der Direktive 1075 niedergelegt, i n der es General Eisenhower strikt verboten wurde, i r gend etwas für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft zu tun.

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Diesen destruktiven Richtlinien entsprach auch die politische Durchführung. Es sollten i n Westdeutschland alle größeren industriellen Kapazitäten der Demontage verfallen. Das, was i m zweiten Level-of-industry-Plan Deutschland zugestanden werden sollte, war bei dem wichtigsten Produkt, bei Stahl, eine Produktion von 11,2 Millionen t als Summe der drei westlichen Besatzungszonen. Die Geschichte dieser Demontage und des Kampfes dagegen ist i n dem A r t i k e l „Demontage" i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften eingehend dargestellt worden. Hier möge es genügen festzustellen, daß ein wirtschaftlicher Wiederaufstieg Westdeutschlands und ein Erfolg des Marshall-Plans für Europa niemals möglich gewesen wäre, wenn diese Demontage durchgeführt worden wäre. I m Kampf gegen die Demontage haben deutsche Wirtschaftswissenschaftler, die durch den Nationalsozialismus aus Deutschland vertrieben worden waren, aber i n Amerika wichtige Positionen i n Wissenschaft und Wirtschaft erlangt hatten, eine entscheidende Rolle gespielt. Bereits i m November 1947 veröffentlichten 41 ehemalige deutsche Wissenschaftler i n der New York Times einen flammenden Aufruf gegen die Demontage, i n dem sie feststellten: „ W i r sind der Ansicht, daß die Demontage den besten Interessen der Vereinigten Staaten zuwiderläuft, denn sie zerstört weiter potentielles Produktivkapital, ohne anderen Ländern mehr als einen unbedeutenden Bruchteil seines wirklichen Wertes zu geben. Kein Volkswirt auf der Welt kann heute m i t gutem Gewissen genau abschätzen, wie groß die deutsche Industrie sein muß, um den Bedürfnissen des übervölkerten Rumpfdeutschlands zu genügen. Alle verfügbaren Unterlagen verweisen auf den Schluß, daß Deutschland nicht nur den heutigen Rest seiner Industrie, sondern erheblich mehr benötigen wird, u m für seine Nahrungs- und Rohstoff importe zu bezahlen . . . " Dieser Aufruf war — wie erwähnt — von 41 ehemals deutschen und nun i n Amerika tätigen Wirtschaftswissenschaftlern unterschrieben worden, zu denen u. a. gehörten: Herbert von Beckerath , Karl Brandt , Goetz Briefs, Max Delbrück, Rudolf Heberle, Carl Landauer, Fritz Machlup, Hans Rothfels, Joseph A. Schumpeter, Melchior Palyi, Gustav Stolper. Gustav Stolper konnte dann noch i n besonders wirkungsvoller Weise den Kampf für die Umstellung der amerikanischen Deutschlandpolitik von der Zerstörung zum Aufbau unterstützen. Der frühere Präsident Herbert Hoover war von Präsident Truman gebeten worden, die Lage i n Deutschland zu studieren, als die amerikanische Regierung einsah, daß sie i n Gefahr war, sich mit ihrer Deutschlandpolitik hoffnungslos festzufahren. I m dritten Hoover-Report sind die Prinzipien einer neuen Deutschlandpolitik, d. h. einer völligen Freigabe der Friedensproduktion

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einschließlich der Schwerindustrie, besonders überzeugend dargelegt worden. Große Teile dieses Reports tragen unverkennbar die geistige Handschrift von Gustav Stolper. Gewonnen war der Kampf gegen die Demontage aber mit diesem dritten Hoover-Report noch nicht. I h n i n Deutschland zu führen, war bei der damaligen Stellung der Militärregierung aussichtslos; er konnte nur i n Amerika geführt und dort gewonnen werden. Der Verfasser hat ein wenig dazu beitragen dürfen, indem er zusammen m i t Christopher Emmet eine Kampfschrift gegen die Demontage unter dem Titel „Destruction at our expense" veröffentlichte. Diese Kampfschrift hat i n der Beeinflussung der öffentlichen Meinung der USA dadurch einige Wirksamkeit erreicht, daß der frühere Präsident Hoover das Vorwort dazu schrieb. Der entscheidende Satz dieses Vorworts heißt: „ W i r können Deutschland i n Ketten halten, aber damit halten w i r Europa i n Lumpen". Es gelang, i n Amerika eine breite Front der Demontagegegner aufzuziehen, auf deren rechtem Flügel Herbert Hoover stand. Als prominentesten Vertreter des linken Flügels können w i r den damaligen Präsidenten des Automobilarbeiterverbandes, Walter Reuther, nennen, der mit einer vom Verfasser und dem Forschungsstab des Automobilarbeiterverbandes erarbeiteten Denkschrift dem Präsidenten Truman darlegte, wie unerträglich die Zerstörung von Kapazitäten i n der Stahlindustrie i n einer Zeit ist, i n der die amerikanischen Automobilarbeiter wegen der Knappheit von Stahlblechen Feierschichten einlegen mußten. Gewonnen wurde dieser Kampf auf dem Kapitolhügel, und nur dieser Sieg auf dem Kapitolhügel ermöglichte es dann, daß auf einem anderen Hügel, dem Petersberg bei Bonn, die Politik der Demontagen zwar nicht völlig, aber doch überwiegend eingestellt wurde. Die Stahlwerke von Salzgitter wurden auf dem Petersberg noch nicht gerettet, sondern ihre Rettung wurde dann von der Arbeiterschaft durch mutig geführte Streiks erkämpft. Eine Zahl mag genügen, u m zu zeigen, was die Rettung der auf der Demontageliste stehenden Betriebe nicht nur für die deutsche W i r t schaft, sondern für die Erfolgsaussicht des Marshall-Plans i n Europa bedeutete. I m Jahre 1954 exportierte die Bundesrepublik Deutschland Produkte der Schwerindustrie, des Maschinenbaus und der chemischen Industrie i m Werte von 3,8 Milliarden Dollar. Produkte i m Werte von nicht weniger als rund 2 Milliarden Dollar sind davon i n Produktionsanlagen erzeugt worden, die 1949 noch auf der Demontageliste gestanden hatten. Ebenso wie nach dem Ersten Weltkrieg ging die deutsche Wirtschaftsforschung i n der noch katastrophaleren Lage nach dem Zweiten Weltkrieg daran, sofort leistungsfähige Instrumente für die Beratung der Wirtschaftspolitik und damit für einen erfolgreichen wirtschaftlichen

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Wiederaufbau zu schaffen. Es war klar, daß vor allem die neu gebildeten Ministerien der Bundesregierung m i t solchen Instrumenten einer wissenschaftlich fundierten Beratung versehen werden mußten. Aber i n noch krasserer Weise als nach dem Ersten Weltkrieg war hier zunächst auf Regierungsebene ein absolutes Vakuum. I n leeren Kasernenstuben mußten Ministerien aufgebaut werden. I n diesen Ministerien aber gleichzeitig auch die Instrumente der Konjunkturforschung, der allgemeinen Wirtschaftsforschung und der Beratung der praktischen Wirtschaftspolitik aufzubauen, wäre eine Fehllösung gewesen. Wieder waren — wie i m Jahre 1920 und i n den folgenden Jahren — die wissenschaftlichen Institute früher da als die Ministerien. Den Leitern des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung i n Berlin gelang es, die neue Regierung davon zu überzeugen, daß es sinnvoll ist, statt einen riesigen Apparat von hauseigener Forschung i n den Ministerien aufzubauen, sich der Dienste der vorhandenen Institute zu bedienen. Zunächst waren vier große Institute vorhanden, nämlich außer den Instituten i n K i e l und Berlin das Ifo-Institut i n München und das Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften i n Köln. Zu diesen vier Instituten kamen i m Laufe der Zeit noch kleinere Institute hinzu, so daß eine Gesamtheit von zunächst 15 und heute 26 Instituten i n der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute zusammengeschlossen werden konnte. Zwischen dieser Arbeitsgemeinschaft, deren Institute heute über mehr als 1000 Mitarbeiter insgesamt, darunter 600 wissenschaftlich ausgebildete Volkswirte, verfügen, und der Bundesregierung wurde ein Werksvertrag geschlossen. A u f Grund dieses Vertrages sollten die Institute all die Untersuchungen durchführen, die von Bundesministerien für wünschenswert gehalten wurden, wobei natürlich das Bundeswirtschaftsministerium, das Bundesfinanzministerium, das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und das Bundesministerium für Arbeit sowie das i n den ersten Jahren nach dem Kriege neu geschaffene Bundesministerium für den Marshall-Plan die Hauptinteressenten waren. A u f Grund des Werksvertrages sollten aber die Institute nicht für die einzelnen Gutachten honoriert werden, sondern die Arbeitsgemeinschaft erhielt einen i m Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums verankerten Pauschalbetrag, den sie dann auf die einzelnen Institute verteilte. Diese Form der Pauschalvergütung war lange Zeit umstritten, da die höheren Beamten der Ministerien darin — m i t Recht — eine starke Einschränkung ihrer Einflußmöglichkeiten auf die Themenstellung und ihre Resultate erblickten. Aber es gelang, die entscheidenden Minister immer wieder davon zu überzeugen, daß gerade i n dieser Unabhängigkeit der Forschung die größte Garantie für ihren Nutzeffekt liegt. Dieses System ist nun seit fast 20 Jahren i n

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Kraft, und der Nutzeffekt der i n der Unabhängigkeit geleisteten Arbeit ist wohl so überzeugend, daß keinerlei Bestrebungen zum Verlassen des Systems der Pauschalvergütung mehr auftauchen dürften. Angesichts des ursprünglichen absoluten Vakuums von Dokumentation i n den Bonner Amtsstuben hat das Institut für Weltwirtschaft an der Universität K i e l jahrelang einen großen Teil des Rüstzeugs für die nun einsetzenden Handelsvertragsverhandlungen geliefert. Außerdem hat es an den Auswärtigen Dienst eine größere Anzahl von besonders erfahrenen Kräften abtreten können, die dann Leiter von Wirtschaftsabteilungen der Botschaften bzw. von Abteilungen i m Auswärtigen A m t wurden. Das Ifo-Institut hat m i t dem Ifo-Test ein vollkommen neues Instrument der Konjunkturbeurteilung und insbesondere der Investitionsabsichten i n den entscheidenden Zweigen der Wirtschaft aufgebaut. Das Berliner Institut hat sich bis zu einem gewissen Grade auf Ostprobleme der Wirtschaft konzentriert, aber doch ganz allgemein i n seiner Forschung und seinen Publikationen die große Tradition des Wagemannschen Instituts fortgesetzt. Schon i m ersten Jahr nach der Errichtung der Bundesregierung hatte die Arbeitsgemeinschaft Veranlassung, sich mit den Grundfragen der deutschen Wirtschaftspolitik kritisch auseinanderzusetzen. Trotz der grundsätzlichen Aufhebung der Demontage und der Lockerung mancher Restriktionsmaßnahmen i n der deutschen Wirtschaft vertrat ein Memorandum der englischen, der französischen und der amerikanischen Oberkommissare noch immer einen anti-liberalen Kurs. Das Memorandum sprach die Besorgnis aus, „daß Westdeutschland seine künftigen Ausfuhrerträge durch überaus starke Einfuhren nicht lebensnotwendiger Güter belaste". Vier der i n der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen Institute, nämlich das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, das Berliner Institut für Wirtschaftsforschung, das RheinischWestfälische Institut für Wirtschaftsforschung i n Essen sowie der Bremer Ausschuß für Wirtschaftsforschung veröffentlichten eine Studie über „Lebensfähigkeit und Vollbeschäftigung". I n dieser Studie wurde der antiliberalen Konzeption der Militärregierung eine Konzeption der Liberalisierung des deutschen Außenhandels unter voller Entwicklung des Verbrauchs nicht nur an lebensnotwendigen, sondern auch an weniger lebensnotwendigen Produkten mindestens auf das N i veau des Vorkriegsverbrauchs entgegengesetzt. Dadurch ergab sich allerdings eine Konzeption der Entwicklungsnotwendigkeit i n der deutschen Industriewirtschaft und des deutschen Exports, die weit über die damaligen Ideen der Besatzungsmächte hinausging. Es wurde damals i m A p r i l 1950 von den Instituten eine Steigerung der deutschen Ausfuhr auf vier Milliarden Dollar, d. h. auf das Dreifache der Ausfuhr des Jahres 1949, und dies i m Laufe weniger Jahre für notwendig gehalten. Eine

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solche Steigerung war selbstverständlich nur denkbar, wenn nicht nur die deutsche Industrie einschließlich der Schwerindustrie von sämtlichen Restriktionen befreit werden würde, sondern auch i m deutschen Schiffbau die damals noch geltenden Beschränkungen über die Größe der Schiffe und ihre maschinelle Ausrüstung aufgehoben werden würden. Diese von den Instituten erarbeitete Konzeption einer lebensfähigen deutschen Wirtschaft setzte sich dann praktisch auch i n der Wirtschaftspolitik gegenüber den Sachverständigen der Besatzungsmächte durch. Dabei war es natürlich von großer Bedeutung, daß diese radikal liberale Konzeption der Institute sich auch restlos mit der persönlichen Konzeption des Bundeswirtschaftsministers L u d w i g Erhard deckte. Ein anderer Punkt, i n dem die Wirtschaftsanalyse der Institute Erkenntnissen anderer Stellen weit vorauseilte, war die Feststellung, daß der große Einstrom von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen letzten Endes nicht eine Belastung, sondern ein A k t i v u m für den Aufbau der deutschen Wirtschaft bedeutete. Der Titel dieser Arbeit „Lebensfähigkeit und Vollbeschäftigung" zeigt ja schon, daß hier dargelegt wurde, wie die deutsche Wirtschaft zur Lebensfähigkeit und zur Vollbeschäftigung gebracht werden konnte, insbesondere durch volle Eingliederung der zunächst noch arbeitslosen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge i n die deutsche Wirtschaft unter Schaffung nicht nur von Arbeitsplätzen, sondern auch von Wohnmöglichkeiten i n den besonders entwicklungsfähigen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland. A l l diese Ideen, die damals i m Frühjahr 1950 noch revolutionär neu waren, sind inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden. Nachdem die Zusammenarbeit von vier Instituten bei der Studie „Lebensfähigkeit und Vollbeschäftigung" gezeigt hatte, wie fruchtbar eine solche Gemeinschaftsarbeit sein kann, wurde dann i m Rahmen der A r beitsgemeinschaft eine sehr viel weitergehende, dauernde Gemeinschaftsarbeit i n Angriff genommen: Zweimal i m Jahr erfolgte eine „Gemeinschaftsdiagnose der deutschen K o n j u n k t u r " durch einen Arbeitskreis von sechs Instituten. Diese Institute, nämlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv, das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung i n München, das Institut für landwirtschaftliche Marktforschung der Forschungsanstalt für Landwirtschaft i n Braunschweig-Völkenrode, das Institut für Weltwirtschaft an der Universität K i e l und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung i n Essen veröffentlichen schon seit nunmehr 17 Jahren zweimal i m Jahr eine solche gemeinsame Diagnose, und diese Diagnose hat sich zu einem unentbehrlichen Bestandteil der Beratung der Wirtschaftspolitik durch die Wirtschaftswissenschaft entwickelt. Sie hat i n der Öffentlichkeit von Jahr zu Jahr eine stärkere Beachtung gefunden, wobei bei dem einzigen Mal, bei dem nicht alle Institute

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i n der Beurteilung der Lage einig waren, sondern wo neben einem Mehrheitsgutachten auch ein Minderheitsgutachten erstattet wurde, der Widerhall i n der Wirtschaftspresse ganz besonders groß war. Seit 16 Jahren werden die Ergebnisse dieser Gemeinschaftsdiagnose an einem sog. „Jour Fixe" i n Bonn von einem Kreis diskutiert, der sich aus hohen Beamten der wirtschaftlich interessierten Ministerien und den Wissenschaftlern der i n der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen Institute zusammensetzt. Auch diese regelmäßigen Diskussionen über die Wirtschaftslage zwischen hohen Beamten der Ministerien und den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten haben sich zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Beeinflussung der Wirtschaftspolitik durch die Wirtschaftswissenschaft entwickelt. Die letzte dieser Diskussionen am 16. Januar 1967 stellte insofern einen Höhepunkt dar, als zum erstenmal Bundeswirtschaftsminister K a r l Schiller intensiv daran teilnahm. Die Tatsache, daß der heutige Bundeswirtschaftsminister nicht nur ein Wirtschaftswissenschaftler ist, sondern jahrelang Leiter des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung i n Berlin war und daß er als parlamentarischen Staatssekretär einen langjährigen Mitarbeiter dieses Instituts, Dr. Klaus Dieter Arndt, berufen hat, zeigt, bis zu welchem Grad sich die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik heute i n der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat. Aber die Überzeugung der wirtschaftlich wichtigen Ministerien, daß sie eine Beratung brauchen, hat sich auch darin niedergeschlagen, daß die wichtigsten Bundesministerien seit Jahren wissenschaftliche Beiräte besitzen, unter denen der des Bundesfinanzministeriums und der des Bundeswirtschaftsministeriums für die Beeinflussung der W i r t schaftspolitik durch die Wirtschaftsforschung am wichtigsten sind. Daß hier eine wirklich sehr kritische Arbeit geleistet wird, geht schon aus der Tatsache hervor, daß mehrmals gerade diese beiden Beiräte Gutachten erstattet haben, die sich von der Meinung ihres Ministers erheblich unterschieden. Auch diese Gutachten haben eine besonders große Aufmerksamkeit i n der Tagespresse und i n der Wirtschaftspresse gefunden. Aber dann verstärkte sich bei Bundeswirtschaftsminister L u d w i g Erhard die Überzeugung, daß die Bundesregierung darüber hinaus eine ständige Beratung durch eine wissenschaftliche Körperschaft brauchte, die i n ähnlicher Weise arbeitet wie der seit Jahren i n den USA bestehende Council of Economic Advisors (CEA). Diese Meinung von Professor Erhard war um so bemerkenswerter, als es sich hier doch letzten Endes um ein planendes Gremium handelt, also um eine Einrichtung, die eigentlich seiner grundsätzlich ablehnenden Haltung zur „Planwirtschaft" zuwiderläuft. Es ist ein merkwürdiges Paradoxon, daß Erhard sich mit diesem Bekenntnis zur Notwendigkeit eines planenden Gre-

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miums zunächst nicht durchsetzte. Es gelang dem Bundesverband der deutschen Industrie, dieses Projekt durch eine Einflußnahme auf den Bundeskanzler Adenauer zunächst zu torpedieren. Aber wenige Jahre danach wurde das Bedürfnis nach einem solchen Gremium so dringend, daß die Bundesregierung, zur Zeit, als L u d w i g Erhard bereits Bundeskanzler war, ein solches Gremium einzuberufen beschloß und i m Bundestag ein entsprechendes Gesetz durchbrachte. Eine Verbindung zwischen diesem Gremium und der Arbeitsgemeinschaft deutscher w i r t schaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute ist dadurch hergestellt, daß Professor Bauer, der Direktor des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung i n Essen, zunächst Mitglied und dann Vorsitzender dieses „Sachverständigenbeirats" wurde. Schließlich ist noch zu berichten, daß das System der Gemeinschaftsarbeit verschiedener Institute über Fragen der Konjunkturbeurteilung auf Grund einer Initiative von Ferdinand Friedensburg über den Raum der Bundesrepblik Deutschland hinaus auf den europäischen Raum ausgeweitet wurde. Es wurde am 25./26. 10. 1957 eine Association d'Instituts Européens de Conjoncture Economique gegründet, die regelmäßig Tagungen, und zwar meistens i n Lüttich, abhält. Dieser Association gehören i n Deutschland die der A r beitsgemeinschaft angehörenden Institute i n Berlin, Essen, Hamburg, K i e l und München an, i n Wien das österreichische Institut für W i r t schaftsforschung, i n Belgien zwei Institute, eines i n Brüssel, eines i n Louvain, i n Frankreich fünf Institute, alle mit dem Sitz i n Paris, i n Italien drei Institute, i n den Niederlanden das sehr wichtige Centraal Planbureau, i m Vereinigten Königreich das National Institute of Economic and Social Research, i n der Schweiz das Institut für Wirtschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule i n Zürich, i n Griechenland das Centre de Planification et de Recherches Economiques, i n Irland The Economic Research Institute und i n Jugoslawien das Institut za spoljnu trgovinu (Foreign Trade Research Institute). A u f die Weise kommen jedes Jahr 22 europäische Wirtschaftsforschungsinstitute zusammen, u m die wirtschaftliche Lage i n ihren Ländern zu analysieren und die voraussichtliche Entwicklung i n naher Zukunft zu diskutieren. Erklärlicherweise können die Gutachten dieses Gremiums nicht die Präzision haben wie die Gutachten des Arbeitskreises „Gemeinschaftsdiagnose" der deutschen Institute oder die Gutachten des Sachverständigenbeirats, aber sie stellen doch einen wesentlichen Beitrag zur Beratung der Wirtschaftspolitik i n Europa durch die Wirtschaftsforschung dar. Die Beachtung, die die Tagungen der Association d'Instituts Européens de Conjoncture Economique und ihre Gutachten i n der Öffentlichkeit finden, ist von Jahr zu Jahr gewachsen, so daß man wohl sagen kann, daß es sich auch hier um ein unentbehrliches Instrument der Beratung der Wirtschaftspolitik durch die Wissenschaft handelt.

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Wenn man bedenkt, wie sehr sich der Apparat der ausgesprochen auf die Beratung der Wirtschaftspolitik ausgerichteten Wirtschaftsforschung i n der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat, so könnte man versucht sein zu sagen, daß eigentlich nunmehr alles auf diesem Gebiet erreicht worden ist, was erreicht werden sollte. Es hat sich aber gerade i n den letzten Jahren i n der Bundesrepublik eine Panne ereignet, die schon deswegen erwähnt werden muß, weil man daran sieht, daß die Beeinflussung der Wirtschaftspolitik durch die Wirtschaftsforschung auch bei uns noch nicht völlig problemlos geworden ist. Es handelt sich u m die sog. Energieenquete und die jahrelange Nichtbeachtung ihrer Ergebnisse durch die Wirtschaftspolitik. Schon seit Jahren hatte sich gezeigt, daß die deutsche Energiewirtschaft i m Begriff ist, i n eine schwere Krise hineinzugeraten und daß es dringend notwendig ist, die Probleme der deutschen Energiewirtschaft und ihre künftige Gestaltung wissenschaftlich zu erforschen. Eine Bundestagsfraktion hatte den Antrag gestellt, eine Energieenquete zu veranstalten. Der CDU-Abgeordnete Burgbacher schlug i n einem zuständigen Bundestagsausschuß vor, diese Enquete der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute zu übertragen. Diesem Vorschlag wurde entsprochen. Der Betrag aus öffentlichen Geldern, der dann beschlossen wurde, war mit 2,5 Millionen D M sehr ansehnlich. Aber eine Summe i n dieser Größenordnung war doch wohl nötig, weil auf Grund des Wunsches des Bundestages und der Bundesregierung durch die Enquete nicht nur die wirtschaftlichen Fragen der deutschen Energiewirtschaft, sondern auch betriebswirtschaftliche Fragen i m Kohlenbergbau geklärt werden sollten. Die Energieenquete wurde dann am 12. Juni 1959 beschlossen, und 1961 haben die Institute das Ergebnis ihrer Arbeit i n einem Band von 300 Seiten abgeliefert. Die Feststellungen des Gutachtens bezogen sich auf Grund des A u f trags des Bundestags i n erster Linie auf die Lage des vor einer Krisis stehenden deutschen Steinkohlenbergbaus. Die Energieenquete hat festgestellt, daß die geologischen Verhältnisse i m deutschen Steinkohlenbergbau viel ungünstiger sind als i m Steinkohlenbergbau der Vereinigten Staaten. I n den Vereinigten Staaten w i r d der Steinkohlenbergbau selbst Verdoppelungen der Löhne i n den vor uns liegenden Jahrzehnten verkraften können, indem die Produktivität bei der Steinkohlengewinnung fortgesetzt gesteigert wird. Der A n t e i l der Tagebauten ist bereits von 3 v. H. vor etwa 30 Jahren auf mehr als 30 v. H. der Förderung zur Zeit der Erstattung des Gutachtens der Energieenquete angestiegen, und äußersten Falls könnte auf Grund der günstigen Lagerstätten der 22 Festgabe für Gert von Eynern

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Steinkohlenbergbau i n den Vereinigten Staaten selbst eine zweimalige Verdoppelung der Löhne überstehen, indem er fast restlos vom Tiefbau auf den Tagebau übergeht. I n den USA werden heute i m Tagebau schon 35 t pro Arbeiter und Schicht erzielt, während w i r i n der Bundesrepublik Deutschland schon stolz sind, daß die Schichtleistung von 1,5 t auf fast 3 t gesteigert worden ist. Die sehr eingehende betriebswirtschaftliche Untersuchung hatte gezeigt, daß zwischen den einzelnen Berggruben und Flözen große Unterschiede i n den Produktionskosten bestehen: von einem M i n i m u m von weniger als 45,— D M pro Tonne bis zu einem Maximum von mehr als 90,— D M pro Tonne. Die Energieenquete stellte klar, daß angesichts der Konkurrenz nicht nur der amerikanischen Kohle, sondern insbesondere des Erdöls die förderungsfähige Menge deutscher Steinkohle stark zurückgehen würde: von 140 Millionen t zur Zeit der Erstattung des Gutachtens auf etwa 90 Millionen t i m Jahre 1970 und etwa 70 Millionen t i m Jahre 1975. Sie stellte ferner fest, daß der Schutz des deutschen Steinkohlenbergbaus gegenüber der amerikanischen Kohle wohl aufrecht erhalten werden sollte, weil sonst der gesamte Steinkohlenbergbau zum Erliegen kommen würde. Die Enquete stellte aber fest, daß der wichtigste m i t der Steinkohle konkurrierende Energieträger, das Erdöl und insbesondere das Heizöl, aller Voraussicht nach i n der vor uns liegenden Zeit nicht knapper, sondern reichlicher und nicht teurer, sondern billiger werden würde. I n diesen Feststellungen der Enquete lag also die Erkenntnis, daß ein erheblicher Teil der deutschen Steinkohlenbergwerke stillgelegt werden müßte, unter Konzentrierung der restlichen Kapazität auf die Gruben und Flöze m i t den günstigsten geologischen Verhältnissen. Diese Feststellungen waren aber den Auftraggebern, zunächst dem Bundeswirtschaftsministerium, aber dann auch dem Bundestag so unbequem, daß sie einfach nicht bereit waren, sie zur Kenntnis zu nehmen. Keine Partei des Bundestags hat aus dieser Feststellung der Enquete, die vom Bundestag i n Auftrag gegeben worden war, die Konsequenz gezogen, und Professor Erhard, der zur Zeit der Auftragserteilung Bundeswirtschaftsminister war und dann Bundeskanzler wurde, hat noch vor der Bundestagswahl von 1965 dem Ruhrkohlenbergbau eine gesicherte Absatzmenge von 140 Millionen t i n Aussicht gestellt. Diese Nichtbeachtung der m i t einem so großen Aufwand von wissenschaftlicher Forschung erarbeiteten Resultate hat natürlich nichts daran geändert, daß die Entwicklung dann genau so erfolgte, wie die Enquete es vorausgesagt hatte. Von einer Verkaufsmöglichkeit von 140 M i l l i o nen t war längst nicht mehr die Rede. Die Kohlenhalden an der Ruhr wurden immer größer, und schließlich mußte man sich zu weitgehenden Stillegungen entschließen, i n einer Zeit, i n der die Möglichkeiten für eine schmerzlose Verkraftung sehr viel schlechter geworden waren. Es

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war klar, daß die Zahl der Arbeitnehmer i m Steinkohlenbergbau an der Ruhr u m etwa 200 000 vermindert werden würde, und für jeden, der ein wissenschaftliches Gutachten zu lesen versteht, stand dies sehr deutlich i m Bericht der Energieenquete. Hätte man i m Jahre der Erstattung des Gutachtens, 1961 — also vor sechs Jahren —, daraus die Konsequenzen gezogen, so hätte bei der damaligen Arbeitslage die Unterbringung der i m Steinkohlenbergbau freizusetzenden Arbeitskräfte unvergleichlich viel weniger Schwierigkeiten gemacht als heute und i n den vor uns liegenden Jahren. Noch wichtiger ist, daß die Investitionsneigung i n den meisten Zweigen der deutschen Industrie damals so groß war, daß Ersatzindustrien zur Aufnahme dieser Arbeitskräfte i m Ruhrgebiet schnellstens entstanden wären, insbesondere wenn — wie der Bericht der Energieenquete es deutlich herausgearbeitet hat — die großen Zechengesellschaften bereit gewesen wären, einen Teil ihres gewaltigen Grundbesitzes für die Ansiedlung neuer Industrien zur Verfügung zu stellen. Nun müssen diese Konsequenzen i n der deutschen Wirtschaftspolitik heute und i n den nächsten Jahren gezogen werden, und dies unter wesentlich ungünstigeren Umständen. Man darf wohl schätzen, daß das „Gesundschrumpfen" des deutschen Steinkohlenbergbaus heute mindestens 250 Millionen D M mehr kosten wird, als es i m Jahre 1961 und i n den darauf folgenden Jahren gekostet haben würde. Diese Panne ist so eingehend dargelegt worden, w e i l hier für das Zusammenwirken von Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik grundlegende Erkenntnisse gewonnen werden können. Der Schaden, der i n diesem Fall durch die Nichtbeachtung der Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung seitens der verantwortlichen Stellen i n der W i r t schaftspolitik und i n der allgemeinen Politik angerichtet worden ist, ist natürlich i n keiner Weise mit dem nicht wiedergutzumachenden Schaden zu vergleichen, der dadurch 1914 angerichtet wurde, daß Kaiser Wilhelm II. i n völliger Unkenntnis grundlegender wirtschaftlicher Tatbestände eine Blockade Deutschlands durch England heraufbeschwor und damit eine Niederlage i n diesem Krieg unvermeidbar machte. Es gibt auch, wie i n dieser historischen Betrachtung dargelegt wurde, leider eine Fülle von anderen Beispielen dafür, daß durch ungenügende Beachtung der Feststellungen der Wirtschaftsforschung durch die Wirtschaftspolitik großer und nicht wiedergutzumachender Schaden angerichtet wurde. Gemessen an diesen Katastrophen ist der Fall der Energieenquete natürlich ein kleines Objekt, aber auch dieses Objekt kann uns zeigen, daß die Beachtung der Erkenntnisse der W i r t schaftsforschung durch die Wirtschaftspolitik und durch die große Polit i k lebensnotwendig ist, wenn die Wirtschaft sich ohne schwere Fehldispositionen entwickeln soll. 22*

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Wenn w i r von dieser zum Glück nicht irreparablen Panne absehen, so können w i r aber feststellen, daß i n den 53 Jahren von 1914 bis 1967 eine geradezu staunenswerte Entwicklung eingetreten ist. Diese Periode beginnt mit einer 100 % i g e n Fehlanzeige auf dem Gebiet der Beeinflussung der Wirtschaftspolitik durch die Wirtschaftsforschung, und sie endet mit einem Zustand, bei dem w i r uns i n Deutschland außerordentlich leistungsfähige Instrumente einer auf Beratung der Wirtschaftspolitik ausgerichteten Wirtschaftsforschung geschaffen haben. Und was wohl noch wichtiger ist: Gerade bei den entscheidenden Personen und Institutionen i n der Wirtschaftspolitik ist die Bereitwilligkeit, sich von der Wirtschaftsforschung beraten zu lassen, ausgesprochen positiv. Es sind für die Durchführung dieser Beratung Institutionen von sehr hoher Leistungsfähigkeit geschaffen worden. Daß jetzt 53 Jahre nach der völligen Nichtbeachtung grundlegender wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse durch Kaiser Wilhelm II. ein aus den deutschen Instituten für Wirtschaftsforschung hervorgegangener Wirtschaftsminister m i t dem Stabilisierungsgesetz ein Instrument der aktiven Konjunkturpolitik von allerhöchster Wirksamkeit geschaffen hat, kennzeichnet mehr als alles andere, was i n diesen 53 Jahren erreicht worden ist.

Die Änderungen in der Führerstellung und der Struktur des organisierten Kapitalismus Von Hans Staudinger I. Die Aufgabe Dieser Aufsatz stellt einen Versuch dar, m i t einer unkonventionellen Methode das gegenwärtige Funktionieren, wie künftige Entwicklungen der komplizierten Wirtschaftsstrukturen der westlichen Welt zu verstehen. Es besteht eine Tendenz, unsere nationale Wirtschaft als ein einheitliches System anzusehen, — ja sie als eine organische Einheit zu betrachten. Eine solche ökonomische Gesamteinheit gibt es nicht. Meine erste These i n diesem Aufsatz ist, aufzuzeigen, daß es i n jeder nationalen Wirtschaft eine Reihe von Wirtschaftssystemen gibt, wovon jedes einzelne seine eigene Gestalt, seine innere Ordnung und seine besonderen Interessen besitzt. I n unserer modernen Welt gibt es erstens das geplante oder administrierte kapitalistische System (managed capitalistic system) und zweitens noch das alte kapitalistische System freier Konkurrenz. Ein drittes System von zunehmender Bedeutung ist das geplante politisch-wirtschaftliche System m i t zentraler Führung und dezentralisierten W i r kungsplänen der Staaten, der Städte und der Gemeinden. Das vierte ist das älteste unter ihnen, das System der konsumptiven wie produktiven Familienhaushaltswirtschaft. Als Sonderfall oder auch als ein selbständiges fünftes System wäre das bauernwirtschaftliche System i n Europa zu nennen. Es gibt noch mehrere andere untergeordnete Systeme, die mit verschiedenartigen Prinzipien arbeiten, wie das Genossenschaftssystem und das private Wohlfahrtssystem, dem i n Amerika eine große Aufgabe zukommt. So erhält unsere moderne Wirtschaft zunehmend eine vielgestaltige und komplexe Form. Die wichtigsten fünf Systeme sind wechselseitig von einander abhängig (interdependency) und beeinflussen sich daher. Doch stehen ihre „Interessen" oftmals i n scharfem Gegensatz. Z u gewissen Zeiten und i n manchen Zielrichtungen zeigen sie eine Parallelität, ja oft eine Gemeinsamkeit ihrer Interessen (interaction, Cooperation and accommodation). Wie dem auch sei, sie behalten die Verschiedenheit ihrer Grundzüge wie der Prinzipien für ihre Handlungen bei.

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Was sind die entscheidenden Merkmale dieser Wirtschaftssysteme? Jedes dieser fünf wichtigsten Systeme verfolgt i h m eigene Wirtschaftsziele (economic goals). I n der Aufstellung dieser Ziele spielen oft nichtwirtschaftliche Motive (motivations) mit. Sie haben verschiedenartige Antriebe des wirtschaftlichen Handelns (incentives) und damit andersgeartete Quellen ihrer Dynamik. Die Mittel und die Wege sind unterschiedlich. So bildet sich i n jedem System ein eigenartiges Grundverhalten heraus (attitude), das verstärkt wird, wenn es von einer Ideologie beseelt ist. Diese Systeme sind so grundverschieden, daß selbst i n einer von begeistertem Patriotismus getragenen Kriegszeit und mit scharfen Kontrollen des zentralen politisch-wirtschaftlichen Systems doch keine volle Übereinstimmung der verschiedenen wirtschaftlichen Zielrichtungen erreicht w i r d (consensus). I n Rußland merzte man die kapitalistischen Systeme aus, doch die familien- und bauernwirtschaftlichen Systeme zeigten nach wie vor einen immanenten Widerstand. Diese sich gegenüberstehenden, doch einander beeinflussenden Wirtschaftssysteme können also niemals als ein organisches Gesamtsystem funktionieren. Als zweite These möchte ich kurz die Änderungen feststellen, die in der führenden Rolle der einzelnen Systeme innerhalb der Gesamtstruktur der Wirtschaft eintreten. M i t Recht hebt man den für das Funktionieren und die Entwicklung aller Wirtschaftssysteme vorherrschenden Beitrag eines dieser Systeme hervor und bezeichnet dieses dann als das führende Wirtschaftssystem einer Zeitepoche. I m neunzehnten Jahrhundert war das freie kapitalistische Marktwirtschaftssystem entscheidend für den großen Wirtschaftsaufschwung der Nationen. Doch m i t der Entwicklung der Massenproduktion der Wissenschaft und der komplizierten Technik zeigte es sich, daß das neue, aus der freien Konkurrenzwirtschaft sich herausentwickelnde System der privaten geplanten kapitalistischen Marktwirtschaft den stärksten Beitrag zum Gesamtprodukt leistete. Nachdem die physischen und sozialen Lebensbedürfnisse gedeckt waren, wurden mit zunehmendem Produktionsüberfluß (affluent society) neue Erwartungen wachgerufen, die durch die M a r k t w i r t schaft nicht oder nicht allein befriedigt werden konnten. M i t neuen Werten, vor allem völlig geänderten sozialen Auffassungen i n den heutigen Massengesellschaften und damit wieder erweiterten Wirtschaftszielen mußte sich das Vorherrschen des privaten geplanten Kapitalismus vermindern. A n seiner Stelle wurde das politische System für die Stabilität und das Wirtschaftswachstum verantwortlich. I m Zusammenhang m i t meiner zweiten These möchte ich noch ein ernstes Problem anschneiden: Wie i n unserer demokratischen Gesellschaftsordnung diese Vielgestaltigkeit politischer und wirtschaftlicher

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Interessen (Pluralismus) doch zu einer fruchtbaren einheitlicheren Ausrichtung und sogar zu einem Einvernehmen, einem „consensus" gebracht werden könnten.

I I . Private Planung i n der kapitalistischen Wirtschaft Das selbständige System des „management" Kapitalismus, mit einer systematischen inneren Ordnung, existiert, ohne daß ihm eine Existenzberechtigung i n der breiteren wissenschaftlichen Welt zuerkannt worden ist. Man hat es noch nicht einmal m i t einem gebrauchsfähigen Namen getauft. Selbst führende Industrielle können kaum Klarheit über ihre Rolle i n diesem System geben. Sie haben kein „Image" davon, oder sie wollen es nicht haben. I n ihren jährlichen Versammlungen bekennen sie sich oftmals noch zu der vergangenen Wirtschaftsordnung eines sich selbst regulierenden Wirtschaftssystems. Jeglicher Wirtschaftseingriff der Regierungen, die Arbeitergesetzgebung, die Subventionen für eine i m Übergang begriffene Landwirtschaft und vor allem das öffentliche Wohlfahrtssystem (Welfarestate) werden von manchen als sicherer Weg zum Kommunismus aufgefaßt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Der wichtigste ist, daß die heutige Großwirtschaft sich als einen legitimen Sprößling des freien Konkurrenzsystemes betrachtet. Schlagen w i r i n unseren Textbüchern nach, so finden w i r unter der Rubrik „Beschränkter Wettbewerb (imperfect competition): „Kartelle, Trusts, wie Großbetriebe — also Größe an sich —, und auch kleinere Betriebe, wenn sie sich i m Markte durch Abreden (conspiracy) abnormal verhalten. Alles dies w i r d nur als ein Abweichen (deviation) von der Norm des vollständigen Wettbewerbs (perfect competition) behandelt. Die Ökonomen erkennen zwar an, daß der unvollständige Wettbewerb eine unvermeidliche, ja unabänderliche Folge unseres technischen Fortschrittes und der hohen Kapitalansprüche sei. Sie geben auch mit einer gewissen Selbstberuhigung zu, daß diese mächtigen Betriebe entscheidend zur Produktivität beitrügen, — doch i n der Öffentlichkeit ist eine moralische Verketzerung der Großbetriebe wegen der Heftigkeit ihrer anfänglichen Machtkonkurrenz übriggeblieben. U m ihre Machtausnutzung und die Konzentrationsentwicklung zu dämpfen, sowie Mißbräuche einzuschränken, wurden i n allen Ländern Kartell- oder Antitrustgesetze geschaffen. I n USA wurden richtige strafrechtliche und zivilrechtliche Verbotsgesetze gegen Vertrustung und Kartellisierung (conspiracy), gegen die Zusammenlegung von Betrieben und weitgehende „Public U t i l i t y " - K o n t r o l l e n erlassen. Dies geschah zum Schutz der kleinen und mittleren Betriebe, weniger zum Heil des letzten Verbrauchers. Richter und Politiker versuchten eine Marktordnung zu errichten, als ob „freie Konkurrenz" herrschte.

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I n Selbstverteidigung ihrer Existenz haben die großen Firmen den zerstörenden Preiskampf aufgeben müssen. Preiskonkurrenz kann nur i n Schleuderkonkurrenz (cut throat competition) enden. Die großen Betriebe benötigten kollektiven Schutz gegen die Konkurrenz. Die Strategie besonders der älteren Großfirmen wurde m i t den für dieses System charakteristischen Mitteln des kollektiven Zusammenschlusses betrieben. I n Europa durch Kartelle und Trusts, i n Amerika durch stillschweigendes Imitieren der Preis- und Lohnfestsetzungen der innerhalb einer Industrie führenden Firma (price and wage leader). Z u diesem seltsamen Phänomen des stillschweigenden Einvernehmens „silent collusion" schreibt George J. Stigler i n seinem anerkannten Buche über die Theorie der Preise 1 : „Mündliche und schriftliche Abreden sind nicht unbedingt notwendig, um über Produktionsumfang und Preise gemeinsam zu entscheiden. I n einer Industrie m i t wenigen Betrieben oder mit wenigen Großbetrieben beeinflußt jeder die Politik des anderen und sie können ohne ausdrückliche Zusammenarbeit eine gemeinsame Preispolitik entwickeln, wie ein erfahrenes Streichquartett das Zusammenspielen i n einer Einheit lernt. Sicher ist es wirkungsvoller, sich am Verhandlungstisch zu verständigen statt durch „ T r i a l and Error" (Versuchen und Korrigieren). Jedoch eine wirklich streng angewandte A n t i trust-Gesetzgebung zwingt die Oligopole zu dem Ausweg eines stillschweigenden Einvernehmens." Neben der unterschiedlichen Verhandlungskunst der Partner ist i n einem Kartell die wirtschaftliche Machtstellung entscheidend für die Bestimmung der Quoten der Produktion, des Preises und des Profits. Dabei orientieren sie sich an den Durchschnittskosten, an der Elastizität der Nachfrage und den notwendigen Neuinvestitionen bei sinkenden Kosten (economy of scale). Der Preis, der sich daraus ergibt, ist i n jedem Falle ein kollektiver und ein administrativer Preis. M i t i h m ist die Möglichkeit zum Bestimmen der Produktionsgröße gegeben und zur Erzielung der höchsten Profite und der geringsten Kosten per Produktionseinheit (maximization of profits and minimization of expenditures). — Doch gleichzeitig erhebt sich dann auch der öffentliche Protest gegen solche Wucherpreise. Das Preisnetz der administrierten Preise liegt daher zwischen dem optimalen Profit und den Preisen der Versorgungsbetriebe: als ob freie Konkurrenz walte. Alle Momente der Wettbewerbswirtschaft werden i n die Preisschätzungen einbezogen (expectations), wie z. B. die Möglichkeit des Neueintritts von Firmen, die Verfügbarkeit von Ersatzprodukten, die Weltmarktkonkurrenz m i t Übereinkommen und heimlichen Abreden. Auch die organisierten oder großen Betriebe der Käufer von Waren und 1

George J. Stigler: The Theory of Price, New York, M a c M i l l a n Co., 1964, Revised Edition, s. 229.

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Dienstleistungen, von Rohmaterialien und Arbeit üben gemäß ihrer wirtschaftlichen Machtstellung und gemäß der wirtschaftlichen Lage i n den betreffenden Märkten einen Einfluß oder Druck auf die Preisgestaltung der Verkäufer aus. Entscheidend, und zwar i n zunehmendem Maße, ist die Preisfestsetzung von dem Bewußtsein beherrscht, daß sie machtvollen wirtschaftlichen Gegenkräften i m Markte selbst (countervailing forces) ausgesetzt ist. Weiterhin bekommen bei der Preisfestsetzung die öffentlichen und politischen Faktoren ein i n wachsendem Maße entscheidendes Gewicht. I m ganzen kommen heute die folgenden fünf Gruppen von planvollen Interventionsmöglichkeiten und Kontrollen i n Betracht: Erstens , die Anwendung und die Durchführung der Anti-Kartell- und Trustgesetze z. B. die ausgedehnte Verwendung von Verwaltungseingriffen (consent decrees) anstelle langjähriger Prozesse. Untersuchungsausschüsse des Kongresses durchleuchten ganz allgemein die Preismißbräuche von Industrien, wie z. B. der pharmazeutischen Industrie, u m dem Antitrust Department Material zum Einschreiten zu beschaffen und die Ausnutzung einer Monopolstellung i n der Öffentlichkeit anzuprangern. I m Bereich der Versorgungsbetriebe w i r k t e n die Kontrollen i m Sinne der Integrierung, gemeinsamer Vorausplanungen von Hochspannungsleitungen wie Investitionen, und führen zu neuen „Standards" wie: „prudent cost, prudent investment and prudent return". Der zweite noch wichtigere Gegendruck kommt vor allem von den sich mehrenden und größer werdenden öffentlichen „Käufern", besonders wenn sie sich zusammentun oder wenigstens gleichen Einkaufsprinzipien folgen. Führend ist i n den Vereinigten Staaten das Wehrministerium, i n dem der frühere Direktor von Ford (McNamara), der lernte, was „Macht" bedeutet, es versteht, seine wirtschaftliche Machtstellung als Groß-, ja als größter Käufer „prudent" auszunutzen und neue beweglichere Regeln einzuführen. McNamara übt m i t neuen Regeln einen Druck i m Sinne eines „justum pretium" aus. Drittens : Interventionen und Kontrollen hinsichtlich Preis, Produktion und Investition durch die privaten wie öffentlichen Verkäufer von Krediten, durch Kreditgarantien und Subsidien. Frankreich macht von diesem Druckmittel weitgehend planwirtschaftlichen Gebrauch, besonders durch seine öffentlichen Bankeinrichtungen. Man hat oft geglaubt — und sollte annehmen —, daß i n allen demokratischen Wirtschaftsländern die Banken einen wesentlichen Gegendruck gegen die immanente Tendenz der Großbetriebe zur Überinvestition und Erweiterung der Machtstellung i m Markte und damit gegen eine Standortsverlagerung der nationalen Produktionsmittel ausüben würden. I n Deutschland versuchten die Banken (und das Finanzkapital)

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über die großen Werke Einfluß zu üben, die i n ihrem Aufsichtsrat und Kreditbereich lagen. Die deutschen Banken sollten an diese ihre soziale Funktion schon erinnert worden sein nach den schweren Zusammenbrüchen von großen Konzernen i n den Nachkriegs jähren. Oder haben sie ihre Wirtschaftsmacht eingebüßt wie dies i n Amerika durch die Strukturwandlungen i m Kapitalsmarkte nach dem Kriege geschah? Die Ausweitung der Kreditmärkte durch die wachsenden Versicherungsgesellschaften wie „Trust Funds" aller A r t und Stiftungen bringen neue Anlagekapitalien zum Markte. Seltsamerweise haben diese Kräfte bisher keine wesentlichen Kontroll- und Überwachungsfunktionen übernommen. Die Weitere und entscheidende Änderung i m Kapitalmarkte ist die verstärkte Selbstfinanzierung der Großbetriebe, u m damit „unabhängig" von Kreditgebern zu werden und die Entscheidung über die Sicherung del* Rohmaterialien, Preisgestaltung, Produktionsgröße, die künstliche Erweiterung der Nachfrage durch Reklame und Verkaufsapparat und damit über die Investitionen, wie ihre Stellung i m Markte den „Managers" zu sichern. Die kontrollierende Funktion des privaten Finanzkapitals über die Großindustrie ist daher erschüttert. Der vierte Druck kommt von der allgemeinen staatlichen Wirtschaftspolitik. Die „Economic Advisors" des Präsidenten ermahnten i n USA die Geschäftswelt, sich i n der Steigerung ihrer Gewinne zu mäßigen, u m nicht die inflationistischen Tendenzen i n der Gesamtwirtschaft zu stärken und gleichzeitig die Gewerkschaften nicht zu höheren Lohnansprüchen herauszufordern. Diese Berater des Präsidenten und des Kongress veröffentlichten Richtlinien (guideposts) für die allgemeine Lohn- und Preispolitik, die anzeigen sollten, wie die Interessen der Firmen und Gewerkschaften i m Mikroraume sich m i t der Wirtschaftspolitik der Regierung i m Makroraume i n Einklang setzen könnten. Die Löhne sollten i m Rahmen der Produktivitätssteigerung der Gesamtindustrie i m Durchschnitt der letzten fünf Jahre festgesetzt werden, weil die Preise i n Industrien mit überdurchschnittlicher Steigerung herabgesetzt werden sollten. Doch die Preissteigerungen, die den ruckhaften Steigerungen der Kriegsausgaben folgen mußten, machten diese Politik für die Gegenwart illusorisch. Die Bevölkerung lernte jedoch die ehernen gesetzlichen Beziehungen zwischen Produktivitätssteigerung, Löhnen und Preisen besser begreifen. Und damit komme ich fünftens zu den indirekten politischen und sozialen Widerständen, die nicht durch Gegenerklärungen der Industrie aufgewogen werden können. Der starke gesellschaftliche Druck kommt von der vorherrschenden öffentlichen Meinung. Selbst der Präsident i n USA hat diese Druckmittel benutzt, als er i m Kampfe mit der Stahlindustrie sich an die Öffentlichkeit wandte. Dieses Gegenmittel hat Dauerwirkung, da die Finanzteile der Zeitungen sich auf eine fortlau-

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fende kritische Berichterstattung über die Großunternehmen eingestellt haben. Ein sechster Druck sollte von der Verbraucherseite erwartet werden. Doch nur zeitweilig, i n aufsehenerregenden Fällen, organisieren sich die letzten Käufer i n direkter Aktion. Auch die Genossenschaften, die i n wichtigen Konsumgütern erfolgreiche Kämpfe gegen monopolistischen Druck geführt haben, sind doch i m ganzen mehr Verteilerorganisationen statt eine mächtige Verbrauchervertretung geworden. M i t Absicht habe ich diese fünf Typen verschiedenartiger planvoller Gegenkräfte gegen eine unbeschränkte Machtpolitik von Großfirmen wie organisierten Gruppen — Industrie, Verteilung, Verkehr und Gewerkschaften —, i m einzelnen aufgeführt, u m die i n der Öffentlichkeit soviel behandelte Frage aufzuwerfen, ob gegenüber der weiter wachsenden Wirtschaftsmacht nicht stärkerer Gegendruck seitens der staatlichen Politik notwendig werden muß? Die Verstaatlichung von Betrieben und Industrien habe ich jedoch nicht als ein effektiveres Druckmittel aufgezeigt. Dann wäre schon die Einführung von wirksamen staatlichen Preis- und Investitions-Kontrollen gesamtwirtschaftlich von besserer Wirkung, die zu einer staatlichen Betriebsaufsicht ohne Eigentum führen würde (public Utilities). Das Risiko bleibt bei der Privatwirtschaft. Zusammenfassend fragen w i r uns nun, was schließlich als „administered" Preis herauskommt. Es ist ein kollektives Preisdiktat, das die Machtstellung der Industrie wie der Betriebe widerspiegelt und dem wirtschaftlichen wie außerwirtschaftlichen Gegendruck Rechnung trägt. Es gibt also keine rein wirtschaftlichen „Normen" und keine Gesetzmäßigkeit mehr, von denen man heute die wirklich geltenden Preise ableiten oder verstehen könnte. Die Preistheorie hat das „Maximisationsprinzip" und damit sich selbst verloren. Es ist ein großes Paradox und doch wahr: I n diesem privat geplanten System besteht trotz allen kollektiven Preisvereinbarungen doch ein lebhafter, direkter Konkurrenzkampf zwischen den Betrieben gleicher A r t und mit ihren Substitutkonkurrenten. (Man darf dabei nicht vergessen, daß die modernen Großbetriebe oft hunderte von verschiedenen Produkten anfertigen, wovon eine große Zahl i m „freien" Marktsystem Absatz suchen und m i t konkurrenzfähigen kleineren und mittleren Betrieben konkurrieren.) Die großen Firmen kämpfen heftig um ihren Marktanteil m i t organisatorischen wie technischen Verbesserungen auf der einen Seite und andererseits m i t Reklamen, m i t Fernsehpropaganda für Markenartikel und neuen Modellen von Automobilen. Und nach Aussagen von älteren Direktoren ist diese A r t der Konkurrenz nervenmäßig schwerer zu ertragen als der frühere Konkurrenzkampf m i t dem

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Markte als Diktator. Sie müssen erst sichtbare Differenzen erfinden, sie dann i m Markte anpreisen, und damit die Nachfrage dafür schaffen. Es geht u m den Namen und die Zukunft der Firma. Die Firmen sichern sich i m bitteren Wettkampf Rohmaterialien für Jahrzehnte und schaffen neue Absatzmöglichkeiten für alte wie neue Produkte innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen. M i t diesem Wettbewerb jenseits des Preiskampfes, m i t den ansehnlichen Erfindungen und der enormen Produktivitätssteigerung dieses Systems trösten sich noch manche Ökonomen. Die Politiker schließen die Augen vor dem Problem, wie auf die Dauer diese zunehmende Machtstellung ausgeglichen werden kann. Man h i l f t sich m i t dem Ausdruck „workable competition" (Wettbewerb nach Tunlichkeit). 1.

Was sind nun die weiteren entscheidenden Merkmale, die es uns ermöglichen, m i t Recht von einem unabhängigen und nicht nur von einem abgeleiteten System zu sprechen? Was sind seine Grundziele (goals)? Sie sind Erhaltung und Erweiterung der Betriebe, was meist gleichbedeutend ist. Es ist nicht i n der Hauptsache der „Profit", der vorwärts treibt und zu einem dem Wettbewerb gewachsenen Verhalten zwingt. Der Profit spielt eine andere Rolle. Man sollte eigentlich nur von Überschüssen oder Gewinn sprechen. Ein Teil davon w i r d als Dividende ausgeschüttet, und dies i n den letzten Jahren i n erhöhtem Maße, je mehr die Gesamterträge steigen. Diese Dividenden werden heutzutage oft auch weitergezahlt, selbst wenn der Überschuß i m Verhältnis zum Gesamtkapital zurückgeht, und dies alles gemäß den Vorschlägen von den Managern. Und wer ist der Empfänger dieses Dividendenanteils am Gesamtertrag? Robert Heilbroner hat i n seinem letzten anregenden Buch „The Limits of American Capitalism" 2 eine A n t w o r t gegeben: „Das Funktionieren des Kapitalismus als real wirkendes System ergibt eine Schichtung von Besitz und Einkommen, die den Kapitalismus als ein System von Vorrechten charakterisiert... kaum unterschieden von den meisten anderen historischen Gesellschaftssystemen... eine Schichtung, i n welcher zwei Prozent aller amerikanischen Familien zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Aktienanteile besitzt und i n welcher die obersten zwei Prozent aller Einkommensbezieher sich etwa zehnmal höherer Einkommen erfreuen als der Durchschnitt der Einkommensbezieher innerhalb der betreffenden Nation." Es ist wieder eines der Paradoxe unserer Zeit, daß trotz der hohen sozialen Stellung dieser kompakten Besitzerschicht i n der Gesellschaft 2

Robert L. Heilbroner: The L i m i t s of American Capitalism, Harper and Row, New York, 1966, S. 72.

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diese wirklichen Besitzer unmittelbar kaum mehr einen wirtschaftlichen Einfluß auf die Betriebe und die Besetzung der Betriebsleitung ausüben. Das wirkliche Ziel des Managers ist, Rücklagen zu machen für die notwendigen Modernisierungen, für die Neuangliederungen und sonstigen Erweiterungen. Und wie geschieht das? Ich möchte dem liberalen Politiker und Forscher Adolph A. Berle jr. die A n t w o r t überlassen. Er sagt dazu i n seinem Buche „Power Without Property" 3 : „Von dem Kapital, das nichtlandwirtschaftlichen Betrieben zufließt, werden 6 0 % innerhalb des Betriebes selbst durch Rückinvestition von Gewinnen und durch Amortisationsfonds beschafft (die ihrerseits eine A r t zurückbehaltener Gewinne darstellen). Weitere 10 bis 15% werden durch die Investitionsabteilungen von Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds bereitgestellt, weitere 20 % stammen aus Bankdarlehen. Vielleicht 5 % kommen von Sparern, die solche Zwecke aussuchen. Ein winziger Anteil ist von Individuen riskiertes Kapital. So ist das System beschaffen — es ist ein verwaltetes System." Doch bevor ich mich m i t der zahlenmäßigen Bedeutung dieses „verwalteten" Systems und dem von innen bedingten Machtantrieb befasse, muß ich kurz auf seine starke Verzahnung mit den anderen Systemen verweisen. Man kann sich heute kaum eine moderne Wirtschaft ohne die wichtigen Großbetriebe vorstellen. Es ist nicht verwunderlich, daß i n den meisten Ländern dieselben Konzentrationsgruppen funktionell den K e r n der Wirtschaft bilden; die gleichen Industriegruppen sind i m Ansteigen, andererseits leiden dieselben Großindustrien unter der wachsenden Konkurrenz von Ersatzprodukten. Ein Großunternehmen, das „wirtschaftswichtig" ist, erhält sozusagen eine öffentliche Lebensversicherung, so daß i m Falle von Liquiditätsschwierigkeiten die Weiterexistenz durch Hilfe der Banken, des Staates und der Gemeinden garantiert bleibt. Bei absinkenden Industrien wie der Kohle werden Subventionen zur Umstellung gegeben, schon um eine unerträgliche Anhäufung der „sozialen Lasten" für Unterstützungen der Arbeiter und der bankrotten Gemeinden zu vermeiden. Nun zu den Größenordnungen: Das Ziel, die Machtposition i m Markte zu halten, das heißt, stetig der steigenden Nachfrage entsprechend zu, erweitern, führt zu einem dritten Paradoxon . Warum können die Betriebe nicht auf ständige Erweiterung verzichten und erst für die Sicherheit des so hochkapitalisierten Unternehmens sorgen? Gerade diese ihre Sicherung liegt jedoch i m Ausbau von neuen größeren optimalen Einheiten, die die Kosten vermindern. U m das wachsende Risiko von steigender Kapitalsanlage verbunden mit dem Zwange stetiger technischer 8 A d o l p h A. Berle Jr.: Power W i t h o u t Property, Harcourt, Brace & Co., New York, 1959, S. 45.

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Verbesserungen i n einem Produktionszweige zu vermindern, haben die „Großen" Angliederungen verschiedenartiger Unternehmen geschaffen. Diese Großindustrien sind selbst i n das Dienstleistungsgewerbe, i n das Fernsehen wie i n Zeitungen hineingegangen. Sie gliederten sich Industrien an mit möglichst hohen Produktivitätssteigerungen und gesichertem Absatz. Der Wettbewerb um das beste Größenpotential ist damit gleichzeitig Wettbewerb u m die Machtstellung i n den Märkten der verschiedenartigsten Unternehmungen geworden. Der „Große" steht unter dem Zwange zur Vergrößerung. Er hat sich Rohmaterialien und Halbfabrikate für die Zukunft zu sichern. So schafft er vertikale Integrationen. Dazu müssen die anfallenden größeren Gewinne wertgesichert angelegt werden. Das alles ist i n Amerika dadurch „geheiligt", daß Größe — bigness — schon ein Endzweck i n sich geworden ist, der zu Prestige und bleibender Anerkennung für die Firmen führt. Man könnte diesen wirtschaftlichen Zwang zur weiteren Konzentration und diese Angliederungen als einen Konkurrenzkampf der Giganten bezeichnen. Die Zahlen illustrieren dies: „Zwischen 1909 und 1920 erhöhten die größten nicht bankmäßigen Gesellschaften ihre M i t t e l (assets) um 40 % rascher als die übrigen Wirtschaftsbetriebe" — „während die 100 industriellen Spitzengesellschaften i m Jahr 1929 25 % des industriellen Reichtums besaßen, waren es i m Jahr 1960 31 °/o" 4. Nehmen w i r andere Statistiken, die eine größere Zahl von Gesellschaften umfassen als Basis, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Es gab 1964 i n den USA 5 „etwa 1,3 Millionen" Aktiengesellschaften (corporations), „von welchen etwa 3000 über Werte von 50 Millionen Dollar oder mehr verfügten. Diese 3000 größten Gesellschaften besaßen etwa 64 % aller Werte und 67 % alles Reineinkommens, verfügten jedoch nur über etwa 47 % des Bruttoumsatzes". Mittlere und kleine Gesellschaften folgen i n den meisten Märkten der Führung der großen Preisfestsetzer. Somit kann man das Wachstum der Märkte und den Gesamtumsatz unter bewirtschafteten Preisen nur schätzungsweise erfassen. Der Gesamtumsatz der Großbetriebe mag sich auf rund 6 5 % des Industrieumsatzes belaufen. Nach 1947 gab es übrigens keine bedeutende Tendenz zur äußersten Konzentration. I m Jahre 1947 bestritten die am höchsten konzentrierten Industrien 24 % aller industriellen Warenbewegung und 1958 nur 23%. Auch die Konzentration innerhalb der stark konzentrierten Industrien hat sich vermindert. Es ist richtig, daß sich i n den USA das Tempo der Konzentration abschwächte (mit Ausnahme der Banken). Das mag auf die politischen und gesetzlichen Gegenmaßnahmen zurückzuführen sein, und dies viel4

Heilbroner: ibid. Seite 15. Gerhard Colm, Theodor Geiger: The Economy of the American People, National Planning Association, Washington, D. C., 1967, S. 49. 5

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leicht — hauptsächlich auf dem Gebiete der Verschmelzungen — gegen die wirtschaftliche Vernunft. Andererseits spielen wirtschaftliche Faktoren eine Rolle: Manche der großen Industrien haben den Sättigungsgrad erreicht, und wenn man die Weltmarktentwicklung der Grundstoffe i n Betracht zieht, sogar überschritten. Ein weiterer wesentlicher Grund ist, daß trotz Kostenersparnissen durch technische Verbesserungen der Verwaltungsbetrieb unübersichtlich, unbeweglicher und damit teurer wird. Den Riesenunternehmungen sind von der Seite des wachsenden Risikos wie wegen der Gefahr der Überbürokratisierung natürliche Grenzen gesetzt. Nicht zuletzt das Bestreben, das einseitige Risiko der großen Spezialfirmen zu vermindern, hat zum Zusammenschluß von verschiedenartigen Unternehmen geführt, die die große Firma rentabler wie stabiler machte und damit die Konzentration auf viele Industrien verteilte wie verflachte. Das alles beweist, daß die vielgestaltigen und komplizierten GroßUnternehmungen sich ihrer empfindlich wie — durch ihre gewaltigen Kapitalanlagen m i t dem Zwange fortwährender organisatorischer und technischer Änderungen — risikohaften Lage bewußt sind. So suchen sie nach Mitteln und Wegen, ihre Mikroziele i m besseren gegenseitigen Übereinklang durchzuführen — nämlich Sicherung i n der Erweiterung der Firma. Dazu benötigen sie ein gleichmäßiges Wachstum von Produktion und damit technische Verbesserungen i m Verhältnis zu der oft noch zu schaffenden wachsenden Nachfrage. Das setzt langfristiges Planen der Firma wie der gleichartigen Firmen voraus. Ohne die Betriebsselbständigkeit aufzugeben, suchen sie industrieweite Investitionsvereinbarungen oder m i t den Banken zusammen langfristige Entwicklungsprogramme ihrer Betriebe auszuarbeiten. Diese haben zum Ziel Überund Unterinvestitionen möglichst zu verhindern. Sie brauchen für ihr gleichmäßiges Wachstum die Verflachung der wirtschaftlichen Bewegungsphasen ihrer Industrien, die durch die (staatliche) K o n j u n k t u r politik noch gefördert werden kann. Hier laufen die Interessen an einer langfristigen Betriebspolitik m i t der staatlichen Wachstums- und Stabilisierungspolitik parallel und erfahren somit gegenseitige Unterstützung. Dieses privat geplante System, das sich über alle Sektoren, wie Industrie, Banken, Handel, Verkehr und i n den Dienstleistungsunternehmen ausdehnt, zeigt, daß die wirtschaftliche Machtausübung, und dies m i t kollektiven Mitteln (collusion), unausweichlich ist. Die „Macht" w i r d kontrollieren, wenn sie nicht ihrerseits kontrolliert wird. Ist diese These absolut? Oder gibt es nicht auch andere M i t t e l als den harten Gegendruck, um vor allem Mißbräuche zu vermeiden, nämlich die Erziehung der führenden Elite? Es gibt Wirtschaftsreformer, die glauben, daß man die Wirtschaftsführer zum Dienst an ihren Versorgern und ihren Ver-

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sorgungsbezirken erziehen könnte. Ihre Unternehmen würden damit halböffentlichen Charakter annehmen. Müssen diese Manager nicht ihrem Ziele und seiner Verfolgung treu bleiben, nämlich die Firma und ihre Stellung am Markte zu stärken? Diese sich selbst verwaltenden und sich selbst — i n der Leitung — fortsetzenden Einheiten haben ihre eigene innere Ordnung, sowohl i m Zusammenspielen innerhalb der Industriegruppe wie durch die Erhaltung ihrer Sonderstellung i m Markte. Selbst wenn einzelne Werke innerhalb einer Industriegruppe verstaatlicht würden, könnte sich daran nicht viel ändern. Wie die Erfahrung zeigt, neigen die öffentlichen Unternehmungen, vielleicht i n stärkerem Maße als die privaten Firmen, dazu, m i t diesen zusammen in ihrem eigenen gegenseitigen Firmeninteresse zu handeln (siehe England und Deutschland.)

2. Ich habe versucht, die Eigenart dieses Systems herauszuarbeiten und habe seine besonderen Ziele und Interessen behandelt, habe seine kollektiven M i t t e l (collusion) wie auch die Impulse zu schärfster Konkurrenz dargestellt und seine innere Logik trotz der verschiedensten Paradoxe aufgezeigt. I n der „Gestalt" dieses Systems fehlt noch ein wichtiger Punkt: Welches sind die Anreize für seine Führer, sich ihrer Arbeit voll hinzugeben und von ihr Genugtuung zu empfangen? Der Großunternehmertyp, der den Willen hat, Risiken auf sich zu nehmen und eigene schöpferische Ideen zu entwickeln, ist i m Schwinden. Die Verwaltung w i r d von einem „Team" geführt, einer Gruppe von verantwortlichen Leitern und Sachverständigen auf ihrem Gebiet, Leuten m i t Erfahrungen und guter Vorschulung. Diese sind nicht die Söhne von früheren W i r t schaftsführern, sie haben ihre Bewährung i n der Betriebslaufbahn bewiesen oder haben i n gleichartigen Betrieben gelernt, um allmählich i n den oberen Rang der Verantwortlichen aufzurücken. I n schärfstem persönlichen Konkurrenzkampf erstreben sie die Leitung. Für die Mehrzahl ist diese enorme Verantwortung für die unter ihnen arbeitenden Menschen und Anlagen mehr wert als ein hohes Einkommen mit Anerkennung und Annehmlichkeiten und m i t der Öffnung des Zugangs zur privilegierten Gesellschaft. Diese leitende private Bürokratie ist von Hingabe für ihre Betriebe und ihre Arbeit erfüllt. I m Betrieb und um i h n herum finden sie Menschen ihresgleichen. Die großen Unternehmen stellen eine Welt für sich dar, i n sozialer Hinsicht (Wohnungskolonien) und i m kulturellen Leben (Klubs) — viel bleibt nicht für k u l turelle zentrifugale Interessen übrig.

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Wie ich auch schon vorher zeigte, kann man das innere Funktionieren eines Wirtschaftssystems nicht nur von dem spezifischen wirtschaftlichen Vorgehen ableiten, sondern muß es auch i n seinen soziologischen und politischen Bedingungen beweisen. Wie sonst könnte man letztlich herausfinden, was ein System zum Funktionieren bringt?

A m Ende dieser Gestaltdarstellung des „management Kapitalismus" möchte ich die am Anfang aufgeworfene Frage zu beantworten versuchen, warum die leitenden Führer so wenig, oder doch Falsches, über ihr System, i n dem sie täglich arbeiten, i n der Öffentlichkeit aussagen. Auch für A. A. Berle jr. war dies ein Problem. Er gab i n dem schon zitierten Buche** die folgende Lösung: „ I m großen ganzen leiden die Geschäftsleute unter einer gespaltenen Persönlichkeit. Sie sind sich bewußt, daß sie an wichtigen Dingen arbeiten, und sie haben das gesunde menschliche Bedürfnis, zu verstehen, wie bedeutend sie sind und andere zu veranlassen, dies einzusehen. Sie sind sich aber auch klar darüber, daß, wenn diese bedeutende Rolle verstanden wird, alle möglichen Leute ein gleiches Interesse entwickeln könnten, was ihren eigenen Bestrebungen geradewegs entgegen gerichtet sein und sogar ihre Existenz gefährden könnte. Daraus erwächst ein starkes Bedürfnis, die Sache m i t Schweigen zu übergehen." Kurz, sie möchten „Macht ohne Öffentlichkeit" haben. Sie wollen vermeiden, i n das Licht des öffentlichen Bewußtseins aufzutauchen. Fragen w i r uns weiter: Kann ein Großunternehmer vor die Öffentlichkeit treten und ein ausgesprochenes System wirtschaftlicher Machtausnutzung verteidigen? Er schweigt sich besser über die Grundzüge dieses Systems aus und läßt durch seine Reklameabteilungen lieber die ins Auge fallenden positiven Leistungen anpreisen, seine Beiträge für die Erziehung und Förderung der Wissenschaft, die technischen Wunder, die Produktivitätssteigerung sowie die ständige Aufbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen, Pensionen, nicht zuletzt die Beträge für gemeinnützige Zwecke. Alle diese so schönen allgemeinen und sozialen Ziele entsprechen heute den Mikrointeressen der Firmen, besonders ihrem Wachstumsziele. Aber auch i n dieser Hinsicht haben die Generaldirektoren es oft schwer, da sie sich oftmals öffentlich „zuerst" gegen solche Forderungen wehrten. Der entscheidende Grund für das „Sich Drücken" ist meines Erachtens, daß sie sogar das weitgehende private „kollektive Planen" vor sich selbst am liebsten verschweigen möchten. So verkleiden sie sich vor der Öffentlichkeit und treten als die ehrbaren Verteidiger des freien m a r k t w i r t schaftlichen Systems auf. 6

ibid. S. 23.

23 Festgabe für Gert von Eynern

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Hans S t a u i n g e r

I I I . Charakteristische Entwicklungszüge des Systems der freien Konkurrenz 1.

Fragen w i r zuerst, welches ist der am stärksten ins Auge fallende Unterschied zwischen den beiden kapitalistischen Systemen? I n der freien Konkurrenz diktiert der Markt den Preis, während i n der privaten geplanten Wirtschaft der Preis für den Markt festgelegt und sogar die Nachfrage nach der Marktware erst angeregt wird. Der Markt ist i n dem einen Falle der Schiedsrichter, i m anderen ein unentbehrlicher Prüfstein. Der wagende Unternehmer (Schumpeter-Type) steht zwischen den Extremen. Er bringt „Neues" an den Markt m i t verbesserten Mitteln und erhofft als A n t w o r t einen zusätzlichen Gewinn über seinen Konkurrenten. Auch er hatte für ein neues Produkt die Nachfrage zu schaffen, woran er oftmals verblutete. A m wenigsten ist i n dem Vergleich dieser Systeme beachtet worden, daß i m „freien Markte" durch die Zinssätze die bestmögliche Zuteilung der Kapitalien erfolgt gemäß den Bedürfnissen der verschiedenartigen Verbraucher, während i n der privaten geplanten Marktwirtschaft durch die Selbstfinanzierung sich eine einseitige Kapitalsablenkung i m Interesse einer Industriegruppe ergibt, — eine Gefahr, die durch die Konzentration der verschiedenartigsten Betriebe mit hoher Wachstumsrate i n einem Superunternehmen zum Teil ausgeglichen wird. Andererseits trieb die freie Konkurrenz ruckartig i n der Hochkonj u n k t u r zur Überproduktion an, während die kollektive private Planwirtschaft ihre Investitionen auf längere Fristen verteilen konnte. Entscheidend ist, daß zwischen beiden ein unterschiedlicher Zwang zum kurzfristigen Verhalten und langfristigen Planen bestand, jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten. Das theoretische System von Adam Smith war auf Hypothesen aufgebaut, die auf einer genialen soziologischen Beobachtung beruhten, des „Homo Economicus" mit seinem Profitstreben und mit dem selbstischen Ziele der Anhäufung von Geld — der Idealtyp des damaligen und noch heutigen Unternehmers. Das ökonomische System konnte dann auch die Prinzipien erklären, nach denen die Unternehmer handelten, ja handeln mußten. Diese wissenschaftlichen Gesetze konnten sie i n einer harten Krise vertrösten auf die automatische Umkehr zur Prosperität auf einer höheren produktiven Ebene. Trotz dieser theoretischen Erkenntnis war es für die praktischen Männer von größerer Bedeutung, daß von außen kommend eine stetig wachsende Nachfrage vorhanden war, die die Krisen abkürzte und ihren Unternehmungen neue Gewinnaussichten versprach. Ich nenne einige der Auftriebsfak-

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toren: Die stetige Bevölkerungszunahme, neue Erfindungen, neue Rohstoffmärkte und koloniale Absatzmärkte. Man kann heute nicht einmal wissenschaftlich feststellen, ob das freie Wirtschaftssystem sich ohne die neuen drängenden Nachfragemöglichkeiten „automatisch" von der Krise zur Prosperität bewegt hätte. Diese Nachfragesteigerungen verminderten das Risiko und dies erleichterte die Investierungen. Jedoch ein guter Teil der damaligen dynamischen Außenfaktoren w i r k t heute noch. Manche dauernden Auftriebsfaktoren haben sich eher verstärkt durch die organisierten wissenschaftlichen Arbeiten, die kettenartig zu immer neuen Erfindungen führen müssen. Sicher trägt die stetige Erneuerung und damit Modernisierung der ungeheuren Kapitalsinvestitionen letzten Endes zur Verflachung der Wirtschaftsschwankungen bei. A u f lange Sicht ist stetigeres Wachstum zu erwarten. Die Prinzipien des Systems der freien Marktwirtschaft sind dieselben geblieben. Die Gesetze von Angebot und Nachfrage wirken. Die Frage ist nur, ob unsere heutigen, aufgeklärteren Unternehmer m i t ihren w i r t schaftlichen Handlungen i n derselben Weise auf ein Steigen oder Sinken der Preise reagieren, wie es ihre Wirtschaftsvorfahren taten? Es kann wohl sein, daß viele heutige Leiter i m freien Markte längerfristigen Orientierungen für ihre Neuanlagen folgen — wie eine später wiedergegebene Untersuchung zeigt —. Ich sagte „viele"! Wie ist dies m i t der ehernen Voraussetzung i n der freien Konkurrenz zu vereinbaren, daß kein einzelner Käufer oder Verkäufer auf den Marktpreis und damit die Menge einen Einfluß ausüben darf? Sicherlich behält der Markt sein Recht, über den Preis zu entscheiden, wenn die Nachfrage sinkt. Doch nehmen sich heute die organisierten kleinen und mittleren Firmen das Recht, Richtlinien und Standards i n ihren Verbänden festzusetzen, wann und wie sie mit dem Angebot darauf reagieren wollen. W i r haben heute eingeschränktere freie Märkte in vielen Gebieten. Der organisierte Kapitalismus greift um sich und ändert die ehernen M a r k t gesetze selbst i n freien Märkten.

2. I n den Lehrbüchern steht als zweite Voraussetzung des Funktionierens eines Freien Marktes geschrieben, daß weder Regierung noch ein privater Zusammenschluß irgendwelche Hindernisse gegen die Beweglichkeit von Gütern oder Leistungen i n den oder aus dem freien Markte errichten darf. Es gibt aber unzählige Regulierungen verwaltungsmäßiger A r t , die den freien Marktverkehr nicht behindert haben. Es ist dies genau so wie m i t den Verkehrsampeln, die den schnellen Verkehr erst ermöglichen. M i t einem Gesetz über Mindestlöhne mögen ein paar Grenzunternehmen ausgeschaltet werden, doch der Verkehr geht auf 23*

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einer verbesserten produktiveren Grundlage weiter. Anders ist es mit Kontrollen, wie z. B. selektiven Investitionskontrollen, die eine der hauptsächlichen Unternehmerfunktionen hemmen oder fördern wollen. Dagegen wehren sich die großen und die kleinen Unternehmer m i t allen Mitteln. Doch ist der Widerstand der „kleineren" geringer, wenn die Großunternehmer ihre Massen-Markenartikel m i t Firmennamen und festen Preisen auf den freien Markt werfen. Die Reaktion der betroffenen Kleinhändler i n den USA war, eine Gesetzgebung zum Schutz des ordentlichen Handels (fair trade) durchzusetzen, die dem großen Detailhändler verbietet, die Massenartikel billiger i n seinen Supermarket zu verkaufen. — Das hatte aber den Effekt, daß die Monopolstellung der pharmazeutischen Industrie durch diese vom Gesetz durchgeführten Preisbindungen gestärkt wurde. Die freien Märkte sind heute durchsetzt mit gebundenen Preisen. Oft w i r d der Kaufmann zum Agenten. Die Großbetriebe als Preisführer übernehmen den Schutz der Kleinen, u m vor dem Anti-Trust-Gesetz oder den Politikern ein A l i b i zu haben. Ein guter Teil der kleineren Unternehmer lebt so i n einer Scheinkonkurrenz. Dazu kommt, daß die großen Werke m i t einer beträchtlichen Zahl ihrer vielfältigen Produkte auf den freien Märkten konkurrieren. Doch diese Mischung von starken Konkurrenten m i t den schwächeren führt wieder zu Regierungsbeihilfen für das notleidende Handwerk und die kleinen Kaufleute, um durch Sonderkredite oder Besserstellung bei öffentlichen Ausschreibungen ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken. Politische Gründe haben dabei den Vorrang vor wirtschaftlichen Erwägungen. Es ist kein Zweifel, daß die Interventionen zur Wiederherstellung des freien Wettbewerbs auch eine Schwächung der freien Marktfunktionen herbeigeführt haben und damit Standortverschiebungen, genau so wie i n der geplanten privaten Marktwirtschaft. Es wäre nun falsch zu übersehen, daß es auch noch Konkurrenzmärkte der klassischen A r t gibt. Diese Märkte zeigen die alte klassische Systemgestalt: Das Ziel ist „Verdienen", das Motiv bleibt das alte dynamische Profitmotiv. Das herrschende Prinzip ist das ökonomische K a l kül, mit geringstem Kostenaufwand den höchsten Geldertrag zu erzielen. Die scharfe Konkurrenz zwingt zum Modernisieren. I n den USA gibt es über 13 Millionen Unternehmen aller A r t , davon sind über 1,3 Millionen Aktiengesellschaften. Es gibt aber keine Schätzungsmöglichkeiten, wieviele davon i n „wirklich" freien Konkurrenzmärkten arbeiten. Auch das Profitmotiv hat i n manchen Geschäfts- und Handwerkskreisen keine entscheidende Rolle gespielt, obwohl oft bittere Konkurrenz herrschte. Die Geschäftsbesitzer geben sich oft m i t weniger als einem Tagelohn zufrieden, und dies als Preis für die Unabhängigkeit, für den

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Vorzug, ein eigenes Geschäft zu besitzen und dem sozialen Prestige zuliebe. Diese Inseln von Unterbeschäftigung sind über die Städte ausgebreitet und haben politische wie soziale Wirkungen. Als grausames Beispiel führt man immer die Bombenzerstörung Hamburg's an, wodurch Hitler Arbeitskräfte für seine Kriegsproduktion erhielt, die er selbst m i t diktatorischen Maßnahmen vorher nicht zur produktiven Arbeit bringen konnte. Trotz der Vollbeschäftigung und der Suche nach neuen Arbeitskräften hat sich nach dem Krieg eine sich vergrößernde Unter-Mittelschicht i n Deutschland, i n England und selbst i n Amerika gebildet — hier durch den Drang zum Doppelverdienen verstärkt. Ich habe mit diesen Beispielen zeigen wollen, wie fragmentarisch das System der freien Marktwirtschaft geworden ist, — einmal durch die starke Konkurrenz der privaten Planwirtschaft, andererseits teils aufrechterhalten durch künstliche Schutzmaßnahmen aus politischen Gründen und durch die Einflüsse ihrer eigenen wirtschaftlichen Zusammenschlüsse, die i n manchen Funktionen den Individualisten durch den Konformitätsbegriff „Viele" ersetzt. Und doch besteht ungestümer Konkurrenzkampf noch i n vielen, für unsere Versorgung entscheidenden Märkten. Haben doch kleine und mittlere Unternehmungen die Elektronenindustrie entwickelt! Die Außenseiter haben immer noch ihren Standort. Trotzdem — diese gegensätzlichen Tendenzen abwägend — komme ich zum definitiven Schluß, daß es ein einheitliches System der Konkurrenzwirtschaft nicht mehr gibt. Es ist ein gemischtes System geworden. 3.

Die Unternehmertypen der verschiedenen kapitalistischen Epochen haben sich zugleich m i t ihren jeweiligen Aufgaben geändert, und so änderten sich auch die Leiter derjenigen Betriebe, die noch i n freier Konkurrenz arbeiten. Das bewirkte der zweifache Druck, dem sie heute ausgesetzt sind. Sie haben nicht nur ihre Konkurrenten i n ihrer eigenen Branche; sie haben die starken gebundenen Märkte i m Einkauf und Verkauf; sie wissen, daß ihnen i n neuartigen Verkaufsmethoden die Großen überlegen sind, denn sie verfügen über bessere Informationen und organisatorische Technik. U m Widerstand leisten zu können — und sie wollen ihn leisten — müssen sie sich zusammenschließen. I n fast allen Ländern sind die Organisationen der „am schwersten zu Organisierenden" i m Wachsen. Ein erstaunlich weiter Umkreis von wirtschaftlichen wie technischen Vereinen organisiert sie und gibt ihnen die Kenntnisse und die Erfahrungen „Anderer" i m Kalkulieren und Planen. Sie besuchen „Management Kurse" und belehren sich über die allgemeine Wirtschaftslage wie über die spezielle Branchenentwicklung,

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nicht zuletzt über die technischen M i t t e l für moderne Geschäftsführung, von den Rechenmaschinen zu den Komputern. Das hat seinen Niederschlag i n der Verkleinerung der Lagerhaltung, i n der Ausbreitung von Konsumentenkredit, i n verbesserten Abschreibungen. So einigen sich die mittleren und kleinen Betriebe über wirtschaftspolitische Programme und üben erheblichen Einfluß auf die Politiker aus, besonders die aus ihren eigenen Reihen stammenden. Dies alles gibt der Konkurrenz eine neue und verstärkte Grundlage, ohne daß es zu gemeinsamen Preisfestlegungen führt. Dazu sind die Betriebe zu zahlreich und müssen bei der größeren Mobilität des Kapitals stets i n der Furcht vor Neugründungen leben. I n vielen Organisationen treffen sie sich m i t den Großen, die zu gemeinsamer Arbeit und zum Austausch ihrer Absichten auf technischorganisatorischen Gebiet und vor allem auf dem Preisgebiet gezwungen sind. Beide Gruppen entwickeln gemeinsame Interessen. Zusammen befassen sie sich m i t den modernen Methoden der Voraussage und des langfristigen Planens. Als Beispiel führe ich die Erfahrungen des „Center for Economic Protections" der „National Planning Association" i n Washington an. Seit Jahren hat dieses private Forschungsinstitut sich m i t Erhebungen beschäftigt, inwieweit eine breite Unternehmerschicht langfristige Pläne durchführt. I m Dezember 1966 veröffentlichte das „Center" die letzte Erhebung, aus der ich einige Resultate wiedergebe 7 . A n 1800 Firmen waren Fragebogen ausgesandt worden, und sie erhielten 400 Antworten, davon waren 62 °/o von kleinen, 21 % von mittleren und 17 o/o von großen Firmen. Das Ergebnis war: „Fast 85 °/o aller A n t wortenden gaben an, daß sie m i t langfristigem Planen beschäftigt seien. . . . Alle 19 öffentlichen Versorgungsbetriebe unter ihnen bestätigten ihr langfristiges Planen, dasselbe gilt von allen 11 Handelsfirmen, allen 6 Bauholz- und Möbelfirmen und von fast allen Betrieben für chemische Produkte, Verkehrsausrüstung, elektrische Apparate, für Steine und Erden und für G l a s . . . Etwas über die Hälfte aller Antwortenden (oder etwa zwei D r i t t e l der Planenden) arbeiten Pläne nur für eine fünfjährige Periode aus. Nur ein Viertel der Antwortenden planen für mehr als fünf Jahre i m Voraus. Für etwa 55 °/o aller Firmen und einen noch größeren Anteil der großen Firmen spielen Vorausschätzungen der w i r t schaftlichen Entwicklungen der gesamten Volkswirtschaft und der einzelnen Industrie eine wichtige Rolle . . . Betrachtet man alle Antwortenden, ohne Rücksicht darauf, ob sie langfristige Pläne ausarbeiten oder nicht, so bekunden 83 °/o aller Firmen und 94 °/o aller großen Firmen, 7 National Planning Association, Center for Economic Projections, „The Use of Economic Projections i n Long-Range Business Planning: Results of a Questionnaire Survey", National/Regional Economic Projections Series Report Nq. 66-J-5, Washington, D. C. December 1966, Seite 3, 4, 5.

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daß sie Vorausschätzungen verwenden. Ohne auf die logische Unterscheidung zwischen Planen und Vorausschätzen einzugehen, ist der A n wendungsbereich beider Methoden so gut wie identisch." 4.

Ich erwähnte zuvor die äußeren — heute wirkenden — Wachstumsfaktoren: die Bevölkerungszunahme (mit Ausnahme von England und Schweden), die Ergebnisse der technischen Forschungsinstitute und Laboratorien, die höhere Schulung, die Umschulung und Aufschulung (fast die Hälfte der Produktivitätssteigerung stammt von der geschulteren Arbeitskraft) und der Ausbau des internationalen Kapitals- und Warenaustausches (der neue West-Ost-Austausch). Alle diese Wachstumsfaktoren lassen auf lange Sicht eine optimistische allgemeine Prognose zu, obwohl die kriegerischen Situationen und die hoffentlich darauf folgenden Entspannungen i n manchen Ländern ernstere wirtschaftliche Umstellungen verlangen werden. Diese positiven Außenfaktoren vermindern das Risiko der auf lange Sicht geplanten Anlagen. Sie sollten Anlaß zu großzügigen Anlagen bilden, die die zukünftige Nachfrage einer wachsenden Bevölkerung i m Auge haben und nicht bloß Folgen augenblicklicher Einkommenssteigerungen sind. Nur dieses Vorausplanen für eine künftige Nachfrage, die durch die Investierungen selbst schon i n kettenartiger Weiterwirkung sich steigert, garantiert, daß der Zuwachs von jungen Arbeitern und die durch Automation freigesetzten Kräfte — neu geschult — i n die Produktion eingegliedert werden. Die Risiken i m Auslandsmarkte werden heute durch die Versicherung verringert. Die Auslandshilfen unterstützen die Absatzsteigerungen. Die heutigen Geschäftsleiter i n den Gruppen i n den Betrieben haben nicht nur bessere Kenntnisse über Zukunftsaussichten, sie werden i n ihrem Verhalten von ihrer Industriegruppe kontrolliert; es ist eine Konformität von wesentlichen Wirtschaftshandlungen und damit eine Zukunftsgewißheit erreicht, die selbst der klassische Unternehmer m i t seinen Anlagen auf kurze Sicht nie besaß. Dieser war auf seinen Wagemut i m Konkurrenzkampf, auf seine Erfahrungen und sein Glück gestellt. — Die langfristige Planung der beiden kapitalistischen Systeme h i l f t gegen Überinvestitionen und gegen Wirtschaftsstauungen. Die Interessen des Wettbewerbsmarktes und des geplanten Marktes sind gleichgeschaltet. Hat noch am Ende der zwanziger Jahre ein Vertreter des Maschinenbaues i n Deutschland die „Reinigungskrise" begrüßt, weil sie Spreu vom Weizen scheide, so verlangen die organisierten Wirtschaftsvertreter von heute schon bei einer Abschwächung der Nachfrage m i t vollem Recht und i n guter wirtschaftlicher Voraussicht, daß das staatliche System eingreife.

Hans S t a u i n g e r

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Damit hat der gesamte Kapitalismus eine neue Form angenommen und einen neuen Inhalt seiner wirtschaftlichen Ausblicke erhalten, und der Unternehmer eine Konformität im Denken und Verhalten. W i r können mit Recht heute von einem organisierten Kapitalismus, und zwar i n den beiden Systemen, sprechen. Die Literatur kennt bisher nur Kartelle und Trust unter dem Stichwort „organisierter Hochkapitalismus". Organisation ist für den heutigen Unternehmer jedoch eine allgemeine Form der Arbeit und des Lebens geworden. I V . Die Gestalt der öffentlichen Wirtschaftssysteme 1.

Die Privatwirtschaftler sind heutzutage oft vollblütige Keynesianer geworden (wenn sie auch seinen Namen nicht i n den Mund nehmen), während ein Teil der Ökonomen i n ihrem Denken schon über Keynes hinausreichen, so Adolph Lowe i n seinem ausgezeichneten Werk „On Economic Knowledge — Toward a Science of Political Economics" 8 . Hier beziehe ich mich auf die Ansicht A. Lowes über die staatliche Wirtschaftspolitik. Ich fasse seinen Standpunkt zusammen: „Mikro-Autonomie" weicht einer entschiedenen staatlichen Wirtschaftspolitik neuer Art. Ihr Grundprinzip ist die Kontrolle der Gesamtwirtschaft. Lowes Ausdruck „Kontrolle" ist nicht m i t den Kontrollen i n den Versorgungsbetrieben zu verwechseln, welche die monopolistischen Ausbeutungen der Verbraucher verhindern. I m Gegenteil, Lowe versteht darunter Wirtschaftslenkung durch eine vorausplanende Wirtschaftspolitik, die m i t den verschiedensten M i t t e l n die Motive und Handlungen der Wirtschaftler beeinflussen w i l l , um die i m „Makroraume" gesetzten wesentlichen Gemeinwirtschaftsziele optimal zu erreichen, wie z. B. Stabilisierung der w i r t schaftlichen Wachstumsrate und Vollbeschäftigung aller nationalen Hilfsquellen. Voraussetzung ist die klare Formulierung nationaler W i r t schaftsziele. Eine der hauptsächlichen Kontrollen ist Erziehung und Schaffung eines Verständnisses für ein gemeinsames Mikro-Makroverhalten zu den gesetzten Zielen. Nur durch eine Gleichschaltung der Interessen kann die notwendigste Mindestordnung erreicht werden, die dann auch Voraussagen ermöglicht. Es gilt, durch staatliche A k t i o n z. B. Steigerung der öffentlichen Ausgaben, durch Kreditpolitik wie integrierte fiskalische Politik und durch ihre Harmonie m i t der P r i v a t w i r t schaft eine Atmosphäre der dauernden Sicherheit für die einzelnen W i r t schaftsplanungen zu schaffen, die die Wirtschaft zur Vollbeschäftigung zurückbringt und sie dort hält; (soweit A. Lowe). W i r haben über die kapitalistischen Systeme und ihre positive Interesseneinstellung zu einer 8

Harper

& Row, New York, 1965.

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langfristigen Wirtschaftspolitik m i t großen allgemeinen rationalen Zielen gesprochen. Hier i n diesem Abschnitt ist die Frage zu stellen: Ist das staatliche Wirtschaftssystem, wie es heute besteht, für eine solche Politik geeignet und eingerichtet?

2. Die Frage: Was ist das System, bedingt die weitere Frage, wie entstand es? Aus dem alten produktiven wie konsumptiven öffentlichen Haushaltssystem der Fürsten. Politisch war das damalige System eine Ordnung von heiligen Rechten und Privilegien. Für alle Verantwortlichkeiten, die mit einer solchen Ordnung von Rechten und Verpflichtungen verbunden waren, mußten die M i t t e l beschafft werden. Der Staat hatte den inneren und äußeren Schutz zu „produzieren"; der Apparat mußte eingerichtet werden für den Schutz des privaten Eigentums, für Straßen, den Verkehr, Geld und den beginnenden Marktverkehr. Zu dieser staatlichen Produktion von teils doch i m materiellen Sinn höchst produktiven Gütern kamen die rein materiellen Produktionen und Dienstleistungen von Bauern und Handwerkern. Die machtvolle Kirche baute das private Wohlfahrtssystem auf, welches heute noch i n Amerika bedeutsam ist. Damals wie heute war der öffentliche Haushalt der Rahmen für w i r t schaftliche Ausgaben, die meist nur M i t t e l für andere Endzwecke waren. Damals (wie heute) war das öffentliche Wirtschaftssystem an den unbegrenzten Ausgaben orientiert, für die Einnahmen gefunden werden mußten. I n der nationalen-liberalen Zeit war die Rolle des Staates, neue Produktionen durch eine geplante Schutzzollpolitik zu erleichtern, Verkehrswege durch Subventionen oder durch Eigenproduktion der Staaten zu schaffen, Helfer und Schlichter zwischen den privaten Wirtschaftssystemen zu sein, zumal i n Europa noch das sogenannte staatserhaltende Handwerk seine Bedeutung für die Produktion und die Verbraucherversorgung hatte und dafür Schutz und Subventionen brauchte. Allmählich entwickelten die Staaten Regeln für den Arbeitsmarkt und eine öffentliche Wohlfahrtspolitik. Diese Politik, einschließlich der Sozialpolitik, störte nicht, sondern förderte die Produktivität der Wirtschaft und füllte damit die Staatskassen. Doch auch i n der liberalen Zeit ergab sich eine Gleichschaltung der privaten und öffentlichen Interessen. Es entstand eine sich i n Wechselw i r k u n g gegenseitig steigernde Abhängigkeit dieser Interessen. Es war das unmittelbare Staatsinteresse, das die kapitalistische Macht aufbaute (siehe Friedrichs des Großen Versuche, aus Kaufleuten, Händlern und Grundbesitzern Kapitalisten zu erziehen). Die Wirtschaft verpflanzte dann die Flagge i n die kolonialen Länder — das Ergebnis war nationalistischer Imperialismus.

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Hans S t a u i n g e r 3.

U m die vielgestaltigen Ziele der modernen Staatswirtschaft gruppieren zu können, müssen w i r die Frage nach den Motiven dieser Ziele anschneiden. Erstens: sind diese heute die gleichen wie früher, Beschaffung der M i t t e l für den Bestand, die Verteidigung und die innere Ordnung des Staates — ein Gemeinwesen mit selbstigen Forderungen an die privaten Wirtschaften. Diese vitalen, unmittelbaren Ziele haben Priorität i n der Hierarchie der nationalen Ziele. Dann kommt der Ausbau der allgemeinen Verwaltung. Die Erziehung des Bürgers gehörte zu diesen unmittelbaren Staatszielen. Ich wiederhole, w i r haben es hier m i t einem politischen System zu tun, das die wirtschaftlichen M i t t e l der Beschaffung von Steuern i m Mittelpunkt seines Interesses haben muß. I n der Verfolgung der Staatsinteressen als solcher hat sich seit Friedrich dem Großen nichts geändert. Das zeigen die Kriege, für welche der Staat alle M i t t e l aller anderen Systeme bis zum äußersten i n Anspruch nimmt. Für seinen Selbstzweck, das ist sein Gemeinwesen, produziert der Staat die materiellen und immateriellen Güter. Er produziert, wie w i r weiterhin sehen, öffentliche Güter und Leistungen für den individuellen Gebrauch der privaten Wirtschaftler. Zweitens: Für die unmittelbaren staatswirtschaftlichen Ziele müssen dem Staate die „ M i t t e l " (durch Steuern wie Dienstleistungen) auf die Dauer gesichert und wachsend zur Verfügung stehen. Das erfordert, daß der Staat, als abgeleitetes Ziel, die Wirtschaftssysteme, von denen er seine Mittel nimmt, zu „fördern" hat. Das Wohlergehen dieser ist seine dauernde Sorge. Es handelt sich dabei nicht allein u m Kanäle, Lagerhäuser, Straßensysteme und viele andere wirtschaftsfördernde Notwendigkeiten wie neuerdings die 23 Billionen jährliche Ausgaben i n USA für „Research and Development", — i m Kernpunkt dieser Pflege muß als mittelbares Wirtschaftsziel heutiger Staatskunst eine zielgerichtete W i r t schaftspolitik stehen. Sie ist unausweichlich auf Wachstum wie Stabilität und auf die volle Ausnutzung der nationalen Hilfsquellen ausgerichtet. Eine solche zentrale, nationale Ziele verfolgende Wirtschaftspolitik ist i n USA durch die zunehmenden politischen Ost-West-Spannungen und sichtbar durch die Sputnikerfolge Rußlands gefördert worden. Die Motive für diese mittelbaren wirtschaftlichen Zielsetzungen und Mittelbeschaffung sind die wirtschaftliche Förderung der nationalen Interessen und der unter 3. dargestellten sozialen WirtschaftsVerpflichtungen des zentralen Staates, der Staaten wie Gemeinden sowie der wachsenden nicht wirtschaftlichen Bedürfnisse eines modernen Gemeinwesens, sozialer, politischer und kultureller A r t (siehe unter 4), die durch die Haushaltspläne der öffentlichen Körperschaften politisch sanktioniert worden sind und damit Befriedigung finden können.

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Drittens: Schon von Alters her war es Ziel des staatlichen Wirtschaftssystems, spezielle Wirtschaftsinteressen der anderen Systeme i m öffentlichen Interesse zu unterstützen (Verpflichtungen des Staates). „Public interest" ist ein seltsamer politischer Begriff. Er dient dazu, wirtschaftliche Sonderinteressen zu verschönern. Die Öffentlichkeit ist alarmiert, daß ein allgemeiner Notstand wirtschaftlicher A r t vorliegt. Alle die sogenannten Übergangshilfen für notleidende Wirtschaftszweige und private Werke gehören zu dieser politischen Zielsetzung, die teils vor den Wahlen von den privaten Eigeninteressen i m Parlament und außerhalb des Parlamentes durchgesetzt werden. Zu diesen wirtschaftlichen Verpflichtungen sozialer A r t gehören auch die staatliche Wiedergutmachung der großen Schäden, die Landwirtschaft, Industrie und Verkehr verursachten —: die Abholzungen, die Bodenwegschwemmungen, die Luftverunreinigungen der großen Städte, die Wasservergiftungen usw. Was hier interessiert, ist, daß die Motive i n erster Linie politischer und sozialer A r t sind, doch können die Resultate von allgemein wirtschaftlichem Nutzen sein. Viertens gibt es Wirtschaftsziele zur Verfolgung nichtwirtschaftlicher nationaler politischer Zwecksetzungen sozialer und kultureller Art (national goals). M i t wachsendem Reichtum, m i t seiner freien Verfügbarkeit schärft sich das soziale Gewissen. Solche Umwertungen der Werte äußern sich i n solchen beachtenswerten Programmen wie dem der „Great Society" i n Amerika und der Weimarer „Sozialen und wirtschaftlichen Demokratie" i n Deutschland. Die sich mehrenden und wachsenden sozialen und kulturellen Bedürfnisse können jedoch nur zum kleinen Teil von den anderen Wirtschaftssystemen erfüllt werden. Staaten und Städte werden dafür ihre Etats erweitern. Das zentrale System w i r d koordinieren und wie i n USA durch Geldübertragungen (transfers) die anderen öffentlichen Körper stimulieren. Zahlenmäßig nehmen die unmittelbaren Staatswirtschaftsziele über 80 Prozent der M i t t e l i m zentralen Haushalt der 60er Jahre i n Amerika ein (von der Verteidigung zur Erziehung, für das Space Programm, Auswärtige Politik, Hilfe für Entwicklungsländer und für die Verwaltung selbst, wie für die Zinszahlungen). Über 5 % werden für Wirtschaftsförderung, über 4 °/o für Wirtschaftshilfen, über 8 °/o für die sozialen und kulturellen Ausgaben ausgegeben (wenn man von den großen Sozialversicherungssummen absieht). Doch solche Zahlen geben den wirklichen Wert des Produkts des staatlichen Systems nicht, nicht einmal i n seinen Verhältnissen, wieder. Eine der zentral bedeutsamsten Leistungen ist heute die Wirtschaftspolitik, und sie kostet am wenigsten.

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Hans S t a u i n g e r 4.

I n allen westlichen Ländern bestehen ziemlich ähnliche Reihen von Wirtschaftszielen. Die mittelbaren Staatswirtschaftsziele für das Wachstum (Performance goals) werden von den Parlamenten aller Staaten diskutiert — doch die realen Wege und Methoden, die zu einer einheitlichen planvollen Wirtschaftspolitik führten, sind politisch nur sehr teilweise festgelegt worden. Sind die Gegensätze zwischen Staat und W i r t schaft daran schuldig? Oder liegen die wirklichen Schwierigkeiten anderswo? Sie liegen sicher nicht bei den Ökonomen. Es hat für die ökonomischen Wirtschaftsberater kaum eine so dynamische Zeit gegeben wie die unsere. Sie wissen heute die Theorie auszuarbeiten, die sie selbst i n Wirklichkeit beeinflussen, um damit zutreffende Voraussagen zu machen. Bisher sind die Ökonomen und andere Experten noch nicht berufen, Entscheidungen über die M i t t e l und Wege mit zu treffen, die zu den allgemeinen politisch festgesetzten nationalen Wirtschaftszielen führen wie zum Beispiel: Erhaltung eines hohen Beschäftigungsgrades — ein Wirtschaftsziel wie dies i n Amerika durch Gesetz, den Employment Act von 1946, festgelegt ist. Es ist den Politikern heute noch voll vorbehalten, das Ausmaß und den Zeitpunkt der Anwendung von Steuersenkungen oder Erhöhungen nach langen Debatten zu bestimmen, die zur Erhaltung von Vollbeschäftigung ohne inflatorische Wirkungen beizutragen vermögen. Es ist den Politikern vorbehalten, die sozialen und kulturellen Zielsetzungen i n die Haushalte einzustellen. Es ist aber schon Sache der staatlichen ökonomischen Sachverständigen, die Kosten von diesen Maßnahmen — das ist ihre Mittelinanspruchnahme am Gesamtwirtschaftsprodukt — festzustellen und dies auf Jahre hinaus. Diese Schätzungen der künftigen nationalen ökonomischen Haushalte sind aber nur Materialien für politische Entscheidungen. Es ist eine entscheidende Frage für eine vorausschauende Wirtschaftspolitik und die Vorausplanungen der privaten Wirtschaftssysteme wie weit die nationalen Hilfsquellen schon i m voraus von den politisch angenommenen stets wachsenden Programmen w i r t schaftlicher und nichtwirtschaftlicher Natur i n Anspruch genommen werden. Wenn ein von interessierten Gruppen i n der Öffentlichkeit gefordertes soziales Ziel (aspiration goal) einmal von dem Parlament anerkannt und seine Priorität i m Haushalt zugeteilt worden ist (achievment goal), w i r d es zur wachsenden Belastung der künftigen Haushalte schon wegen Bevölkerungszunahme und notwendigen Verbesserungen. Immer ernster w i r d die Frage, ob für alle diese hohen Ziele trotz steigenden Volkseinkommens künftig die nationalen wirtschaftlichen Mittel zur Verfügung stehen. Kreuzen sich da nicht die Wege des öffentlichen Bedarfs mit dem Entwicklungsbedarf der für das Gesamtwachstum wich-

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tigen privaten Wirtschaftssysteme? So ergibt sich eine neue noch ernstere Prioritätsfrage zwischen den Wirtschaftssystemen. Der Politiker entscheidet auch über dieses Problem. Doch bevor w i r das Problem, Sachverständiger und Politiker, weiterführen, haben w i r klarzustellen, was der Inhalt einer neuen staatlichen Wirtschaftspolitik ist, wie er sich aus der Verfolgung der Ziele folgerichtig ergibt? Die staatliche Wirtschaftspolitik hat die Verantwortung, alle privaten und öffentliche Uberschüsse und die sich daraus ergebenden Kreditmöglichkeiten, die von den privaten Systemen nicht selbst ausgenutzt werden, zur schnellen, vollen Verwertung zu führen, d. h. sie entweder i n den privaten oder öffentlichen Konsum oder i n Investitionen zu leiten. Die staatliche Politik hat zweitens die Aufgabe, m i t einer geeigneten Mischung von Kredit, fiskalischen und erzieherischen Maßnahmen die stetige Steigerung der Gesamtproduktion und »nachfrage vorausschauend zu gewährleisten. Für die Bewältigung dieser beiden Grundaufgaben einer neuen W i r t schaftspolitik gibt es schon erprobte Methoden und neue Instrumente, deren Anwendung durch die jeweilige Wirtschaftsphase bestimmt wird. Es mag sich darum handeln, beschleunigt und wiederholt Kaufkraft i n die Wirtschaft zu pumpen m i t schneller stetiger Erhöhung der Verbrauchernachfrage, damit der „ M u l t i p l i e r " sich auswirken kann. I n einer weiteren Phase mögen Senkungen der Unternehmersteuern und A b schreibungserleichterungen private Investitionen und Modernisierungen anregen. „Steuerliche Uberschüsse", die sich m i t wachsender Prosperität ergeben, müssen entweder Staaten und Gemeinden ihre wachsenden Aufgaben erleichtern oder zu einer allgemeinen Steuersenkung führen. Und wieder, sobald Vollbeschäftigung erreicht ist, können Bremsen an öffentliche Erweiterungen und allgemeine oder spezielle Steuererhöhungen notwendig werden, um mit einer Anlagen einschränkenden Zins- und Kreditpolitik rechtzeitig das Wachsen der inflatorischen Tendenzen und damit der Lohn- und Preisspirale zu verhindern. Wir brauchen — und das gilt für USA — keine Rezession, keinen Niedergang der Gesamtnachfrage und Produktion; doch geplante Verschiebungen i m öffentlichen und privaten Verbrauch. Dr. W. W. Heller konnte mit Recht i m Jahresbericht von 1964 der ökonomischen Berater sagen: „Es ist eine Tatsache, daß die allgemeinen Wirtschaftsschwankungen keinen festen Rhythmus zeigen und daß Konjunkturrückschläge i m wissenschaftlichen Sinne vermeidbar sind". W i r werden mit Wirtschaftsstauungen (bottlenecks i n Gütern und qualifizierten Arbeitern wie Angestellten) und gleichzeitig auch m i t depressiven Rückwirkungen der Automation i n der Unterbeschäftigung der jungen Arbeitergeneration, die an sich schon i m Anschwellen ist, zu t u n haben. Die Mobilität des Kapitals vermindert sich allenthalben durch Spezialisierung, Vergrößerung der optimalen

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Einheiten und die wachsenden wirtschaftsfördernden Anlagen der öffentlichen Hand. Andererseits hat sich nach dem Kriege durch die wachsenden Unternehmungsüberschüsse und die stetigen Einkommensteigerungen ein gewaltiger Zustrom von Kapitalien bei starker Kreditausweitung ergeben, so daß fortlaufend erhöhte und stetigere private Neuinvestitionen möglich sind und werden — jedoch nur bei einer i n der Zukunft sicher i n Aussicht stehenden, geplanten wachsenden Nachfrage. Sind dafür die institutionellen Grundbedingungen gegeben? Kann i n unserer parlamentarischen demokratischen Ordnung die staatliche Wirtschaftspolitik i n Zusammenarbeit der öffentlichen Stellen und der Zentralbanken koordiniert, einheitlich beweglich und damit rechtzeitig handeln? Niemand würde heute wagen, diese Fragen m i t „Ja" zu beantworten. 5. Hier berühre ich eines der ernstesten Probleme unserer Zeit, das in Sicht kommt, wenn man eine Gestaltsanalyse des staatlichen Wirtschaftssystems unternimmt, die sich nicht nur m i t der wirtschaftlichen Politik sondern vor allem auch mit den institutionellen und politischen Fragen zu befassen hat. Welche Grundfragen der Wirtschaftspolitik hat ein Parlament zu entscheiden und welche Ausführungsentscheidungen — besonders über M i t t e l und Wege konjunkturpolitischer A r t wie Zeit des Vollzugs haben die Regierungen zu übernehmen? Sind unsere Parlamente willig, solche Autorität, Mobilität der Ausführungsentscheidung den Regierungen zu gewähren, die sie doch selbst i n den Sattel gesetzt haben und kontrollieren können? Oder ist sein Machtwille zur politischen Monopolherrschaft über die Finanz- und Wirtschaftspolitik so stark, daß dafür der teure Preis von Arbeitslosigkeit und Anlagemüdigkeit i n der Industrie gezahlt werden muß? Es handelt sich darum, daß Sachverständige i m staatlichen System m i t gleicher politischer Unabhängigkeit ausgestattet werden wie die Zentralbanken und daß sie die Verantwortung erhalten, Kreditpolitik und fiskalische Politik gemäß breiten und allgemeinen Richtlinien des Parlaments zu koordinieren. Die Regierung hat zudem ihre Politik und deren Durchführung dem Parlament schon aus Etatgründen zu erklären und rechtzeitig auch die Vertretungen der W i r t schaft und Arbeit wie die Öffentlichkeit m i t ihren Absichten vertraut zu machen.

6. Es fehlt für ein langfristiges Planen und selbst für kurzfristige Krisensituationen i n der Wirtschaft die institutionelle Voraussetzung, die Autorität und Befugnis der zentralen Behörde zum Koordinieren der notwendigsten Maßnahmen m i t den dezentralisierten öffentlichen Systemen,

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der Staaten und Gemeinden sowie der großen Vielzahl der staatlichen und halbstaatlichen Institute, der Wohnungsbaugesellschaften, der öffentlichen Spezialbanken sowie m i t den zentralen Banksystemen. Wenn nach der großen Krise F. D. Roosevelt versuchte, Kaufkraft i n die Wirtschaft zu pumpen, scheiterte er, weil Staaten und Gemeinden sich und ihre Banken dadurch liquid zu machen suchten. Heute haben die Gemeinwirtschaftskörper weniger Sorgen um die Unterstützung der A r beitslosen, jedoch größere um die Finanzierung ihrer notwendigen weitgehenden Programme des Städte-um-und-ausbaues, der Verkehrserweiterungen und ihrer Verbesserungen, der Wohnungsbauten, der Schulbauten, für neue Erziehungs- und Umschulungsmöglichkeiten, der Gesundheitspflege, der Versorgungsunternehmen, der Messen, nicht zuletzt für kulturelle Entwicklung und Freizeitgestaltung. Kann dieser oft sprunghaft steigende, zum großen Teil konsum-orientierte Anlagehunger der öffentlichen Körper neben den Bedürfnissen der kapitalistischen Wirtschaftssysteme kapitalsmäßig gleichzeitig gedeckt werden? Müssen nicht — wenn Preise und Zinsen steigen und Geldverknappungen eintreten, die Planungsbehörden — und nicht allein die Zentralbanken — Prioritäten für Anlagen setzen nach zeitlicher Wichtigkeit der sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse, und dies i n effektiver wie schneller Durchführung? Die öffentliche und private Anlagekonkurrenz muß sich i n der Zukunft weiter verschärfen. Dies setzt zeitige politische Lösungen voraus. W i r d das zentrale staatliche Wirtschaftssystem eine politisch unabhängige Planorganisation und die Vollmachten erhalten, um die verständlichen Forderungen der Gemeinwirtschaft zeitlich i n ihrer Ausführung so zu regulieren, daß die Gesamtproduktionssteigerung, die hauptsächlich von den Neuanlagen der Großwirtschaft ausgeht, nicht gedämpft w i r d und die Gesamtwirtschaft unter vermeidbaren Konjunkturschwankungen zu leiden hat? Ich wiederhole: die planvolle Wirtschaftslenkung muß bei dem zentralen System liegen — doch nicht die Ausführung, die bei koordinierten Zusammenarbeiten mehr wie heute dezentralisiert werden kann. Wenn ich die Notwendigkeit der Lösung dieser Schwierigkeiten, die sich aus den politischen Reibungswiderständen zwischen der Gesetzgebung und ihrer Ausführung ergeben, als entscheidend für die unvermeidliche staatliche Wirtschaftslenkung bezeichnet habe, so beziehe ich mich auf das Material und die Ergebnisse einer noch nicht veröffentlichten Doktorarbeit von Julius Fischer jr. Sie befaßt sich m i t den Möglichkeiten, wie unter demokratischer Parlamentsaufsicht der Executive wesentliche Entscheidungsbefugnisse i n der Wirtschaftspolitik (discretionary powers) gegeben werden können, und sie behandelt gleichfalls die Frage, wie weit auf Grund von Richtzahlen zusätzliche automatische Bremsvorrichtungen i n den Wirtschaftsablauf eingebaut werden können. Die

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Staatswissenschaften und die Soziologie haben an diesen Problemen zusammenzuarbeiten, u m eine öffentliche Planungs- und Betriebswirtschaftslehre zu entwickeln. Die Planstellen müssen koordinierend innerhalb der Regierungsmaschinerie die zentrale Politik des staatlichen Wirtschaftssystems ausführen. M i t diesen Problemen beschäftigt sich die ausgezeichnete Übersicht von Andrew Shonfield „Modern Capitalism — The Changing Balance of Public and Private Power" 9 , über den bereits erheblichen Umfang planwirtschaftlichen Handelns i n den westlichen Ländern. V. Das verbrauchswirtschaftliche System Das heutige konsumptive wie produktive Familienwirtschaftssystem ist das älteste von allen. Es war i n seinen Prinzipien und Einstellungen i n der freien Bauernwirtschaft schon seit Jahrhunderten geformt. Als landwirtschaftliches System hat es auch heute noch die Tendenz zur größtmöglichen Selbstversorgung. Das Familien-Verbrauchersystem hat auch seine produktive Seite behalten — i n den Haus-, Garten- und Wohnungsarbeiten. Eine stets steigende Grundindustrie von 15 Milliarden liefert i n Amerika die Werkzeuge und zubereiteten Materialien für das „Do i t yourself". Es ist trotz der sich ausbreitenden Mechanisierung und der zeitlichen Ersparnisse durch vorbereitete Waren das am wenigsten produktive System geblieben. Das heutige Familiensystem ist m i t den außerhalb erworbenen Einkommen als ein sehr empfindliches System zu bezeichnen, das nach „wachsendem" Einkommen orientiert ist. Das wesentliche Ziel der Familienwirtschaft ist, das naturgegebene Kollektiv zu erhalten und seine Lage zu bessern. Der vorsichtige Verbraucher spart i n Sparkassen und Versicherungen, er spart nachträglich für die Amortisationszahlungen des Verbraucherkredits, nachdem er schon das Automobil und Haus mit geliehenem Geld erworben hat und nutzt. Er ist optimistisch i m Aufnehmen der Kredite und verantwortlich i n der Rückzahlung, was durch die enorme Ausdehnung des fast risikolosen Verbraucherkredites erwiesen ist. Er ändert sein Kaufverhalten m i t den Auf- und Abbewegungen des i h m nach Abzug der Steuern verbleibenden frei verfügbaren Einkommens. Von 1949 bis heute schwankten seine Ausgaben i m Verhältnis zu seinem verfügbaren Einkommen jährlich zwischen 92 zu 94 % i n USA. Eine Änderung eines Prozentes i n dem Verhältnis von Ausgaben und Sparen macht rund 7 Milliarden Dollar aus. Größere Veränderungen zeigt sein Ankauf von dauerhaften Gütern, Wohnungen und Haushaltsanlagen. Steigen seine Einnahmen schnell, dann steigt zuerst die Sparrate auf 7,9 %>. Nach wenigen Monaten je9

Oxford University Press, London, 1965.

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doch mit weiter steigendem Einkommen legt er das ersparte Geld meist i n dauerhaften Gütern an. I m Ganzen gibt er dann noch mehr aus (Sparrate 6,1 °/o). — (Feststellungen über die Zeitspanne zwischen Einkommenserhöhung und der A r t der Ausgaben sind von wirtschaftspolitischen Wert.) Was uns i n den Betrachtungen über die wechselseitigen Wirkungen interessiert, ist, daß das Verbrauchersystem dem Verhalten der anderen Wirtschaftssysteme folgt, — es reagiert —, oft schon bevor wirkliche Einkommensverluste eintraten. I n den Konsumentenmärkten erteilt es seine A n t w o r t auf die sehr wohl vorausgeschätzte Konjunkturlage, auf staatliche Wirtschaftspolitik und die innen- und außenpolitischen Ereignisse i n merkwürdig schnellen einheitlichen Wellen. Das Verbrauchersystem ist eine Macht. Es verlängert und vertieft den Wirtschaftsaufschwung und Abschwung. Den Steuersenkungen folgt es nach Monaten des Abwartens m i t dann folgenden Einkäufen über das Einnahmewachstum hinaus. Die Politiker i n USA zögerten, rechtzeitig i m wachsenden „Boom" eine wirtschaftlich notwendige Steuererhöhung durchzuführen, weil sie die strafende A n t w o r t der wählenden Hausfrauen fürchteten. Mehr und mehr richten die Industrien ihre Produktionen kurzfristig nach den Erhebungen über den Kaufwillen des einkommenempfindlichen Käufers. George Katona, der Programmdirektor des „Survey Research Center" der Universität Michigan schreibt i n seinem Buch „Der Massenkonsum — Eine Psychologie der neuen Käuferschichten" 9 : Während der Erholung von der Rezession 1958 z.B. folgten die Konsumenteneinstellungen den Veränderungen, die von anderen W i r t schaftssektoren ihren Ausgang nahmen, gingen ihnen jedoch nicht voraus. Demnach gilt unsere These eines Zusammenhanges zwischen w i r t schaftlich-finanziellen Änderungen der Kauffähigkeit und psychologischen Gegebenheiten der Kauf Willigkeit vorbehaltlos." Es kommt auf das Verhalten der anderen Wirtschaftssysteme an, — doch zumeist auf die Wirtschaftspolitik des Staates! Sollte eine Wirtschaftspolitik möglich sein, durch welche das Einkommen stetig i m Wachsen gehalten wird? Die Verbraucher werden die stärkste und verläßliche Stütze i n der Konjunkturerhaltung sein. V I . Schlußbemerkung Ich bin mir voll bewußt, daß ich i n diesem Aufsatz die Grenzen des für einen Ökonomen üblichen weit überschritten habe. Doch ohne politische und soziologische, ja psychologische Untersuchungen über die organisatorischen Voraussetzungen und menschlichen Antriebe zum wirtschaftlichen Handeln kann man heute wenig über die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer einheitlichen Wirtschaftspolitik aussagen. 0

Düsseldorf 1965, S. 388.

24 Festgabe für Gert von Eynern

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Meinen wissenschaftlichen Beitrag, den ich zu machen versuchte, hoffe ich überzeugend dargelegt zu haben: Es gibt kein wirtschaftliches Gesamtsystem, sondern verschiedene Wirtschaftssysteme m i t teils gegen, teils miteinander wirkenden Interessen. Die Untersuchung ergibt zweitens, daß das staatliche System heute für die Koordinierung der Makro- und Mikrointeressen und damit für das langfristige Wachstum und die Stabilität des Konjunktur Verlaufs, wie nicht zuletzt für die Balancierung der wachsenden öffentlichen wie privaten Ausgaben und Investierungen verantwortlich und das führende System i n der modernen Wirtschaft geworden ist. V I I . Nachwort Erst nach Absenden des Manuskripts sind m i r die neuen Veröffentlichungen von John Kenneth Galbraith, seine A r t i k e l und sein neuestes Buch: „The New Industrial State" 1 0 bekannt geworden, die gleichartige Strukturprobleme berühren, wie sie i n meinem vorliegenden Aufsatz behandelt sind. Sein Werk gibt i n Schlagzeilen beleuchtende Einblicke i n unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ebenso wie sein früheres Buch: „The Affluent Society", m i t dem es i n innerer Verbindung steht. Das Letztere bezeichnet er als das Fenster, durch das er die neue Gesellschaft m i t ihren oft wertlosen privaten und so vernachlässigten öffentlichen Bedürfnissen betrachtete, während sein neues Werk das Gebäude unserer Wirtschaftsordnung systematisch darstellen w i l l . Ich habe dadurch leider nicht die parallelen Gedanken, — brillant und aufregend von i h m dargelegt —, zur Unterstreichung meiner Ergebnisse benützen können. Andererseits mußte ich feststellen, daß meine Systemanalysen über die heutige Wirtschaftsstruktur, — unbeabsichtigt — eine besonders scharfe K r i t i k an Galbraith's Überbetonung des einseitig dirigierten Einflusses der vorherrschenden Wirtschaftsmacht des Industriesystems über Staat und Gesellschaft darstellen. Darum ist der Haupttitel: „The New Industrial State". Dieses Industriesystem der wenigen „Großen" w i r d nicht mehr geführt und gemanaged von führenden Unternehmern, die die politischen Entscheidungen des Staates i n mehr oder minder diskreter Weise zu beeinflussen suchten, sondern von einer leitenden Gruppe von spezialisierten Experten (dem allmächtigen „Techno-structure"), die einen kontinuierlichen und unmittelbaren Einfluß auf die Staatsmaschinerie erstreben. So werden diese Expertengruppen ein A r m der Staatsbürokratie, m i t der sie einen neuen „Stand", den der „Intellektuellen" („educational and scientific estate") bilden. 10

John Kenneth Galbraith: Company, Boston, 1967.

The New Industrial State, Houghton M i f f l i n

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Galbraith geht methodisch von Änderungen und Vergleichen m i t dem Vergangenen aus, um dadurch gleichzeitig die Ursachen der Strukturwandlung aufzudecken. Das dynamische Element ist die neue komplizierte und spezialisierte Technik m i t ihren wachsenden ungeheuren K a pitalanlagen, die das System sich durch Selbstfinanzierung beschafft, um seine „Autonomie" erhalten zu können. Der Imperativ der sich stets ändernden spezialisierten Technologie verlangt die Organisation von Experten, die neue Wege und neue Modelle dem Markte aufoktroieren. Das verlangt Koordination und damit technisches und wegen der hohen Risiken langfristiges wirtschaftliches „Planen". Dieses verlangt wieder Stabilität und ständiges Wachstum. Das Risiko fordert, daß nicht Preise und Kosten allein, sondern die Nachfrage, die Rohmaterialien, der A r beitsbedarf und die Erziehung des Nachwuchses von den „Großen" gemanaged werden. Die „Ziele" dieser „managing" Experten sind „Erhaltung, Vergrößerung und Modernisieren der Firmen". Ihre Motive sind nicht persönlich geldliche Gewinne, sie identifizieren sich m i t ihrer eigenen Arbeit und dem Unternehmen. Ihre Ziele sind nicht mehr „maximization" von Profiten für die Aktionäre; sie sind die Sicherheit und gleichmäßige Zukunftsentwicklung der großen Werke. Diese leitenden Gruppen benötigen eine Wirtschaftspolitik des Staates für die Stabilität und Wachstum, sie brauchen die wachsenden Wehrausgaben als ständige Nachfrage, sie verlangen die Förderung der Technik und Erziehung durch den Staat,—der nun seinerseits wieder die Produktion dieses Giganten braucht für seine politischen Macht- und Verteidigungsinteressen und für die vielen neuen Bedürfnisse der Gemeinwesen. Der Imperativ der Technik und Organisation, nicht die „Images" der Ideologien, (—Galbraith weiß andererseits von der Macht der Ideen —) sind es, die die „Gestalt der Wirtschaftsgesellschaft" formen. Er sieht zwei Teile i n der Wirtschaft: die Welt der „wenigen Hunderte" von technisch-dynamischen, hochkapitalisierten Korporationen auf der einen Seite und von „tausenden" von kleinen und herkömmlichen Unternehmern auf der anderen; diese zwei Welten sind sehr verschieden; doch nicht allein zahlenmäßig sondern durch ihre ökonomische Organisation und ihr Verhalten zu Staat und Gesellschaft. Ich versuchte, das Galbraithische System des heutigen Wirtschaftsaufbaues kompakt zu schildern — mein A r t i k e l zeigt meine gegenteilige Auffassung. Galbraith sieht, obwohl er i n USA lebt, nicht den starken bitteren wirtschaftlichen Konkurrenzkampf der Großbetriebe m i t Ausnahme auf dem Preisgebiete. Er hält wenig von dem Druck der öffentlichen Meinung der öffentlichen Käufer, die den Großbetrieben eine Maximization der Profite unmöglich machen. Er sieht nicht die bedeutende Funktion des Marktes, ohne den die Betriebe z. B. die Aufnahme von neuen Erfindungen nicht gegenüber Substituten testen und die 2*

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Nachfrage prüfen könnten. Das „Edsel"-Automobilmodell von Ford, — obwohl Millionen hineingesteckt waren i n vieljähriger Arbeit — wurde von den Käufern verworfen. Da er i m Grunde nur zwei Wirtschaftssysteme kennt, von denen er dazu die politische Macht des freien — doch organisierten — Marktsystems i n einer demokratischen Gesellschaft unterschätzt, sieht er nur eine „Große", doch i m ganzen heute schon von den Giganten und von dem m i t ihnen verbündeten Staate weitgehend kontrollierte Wirtschaftsordnung. Er analysierte nicht das Verbrauchersystem, eine wirtschaftliche Macht, die i n der Makrosphäre B i l lionen zurückhalten kann, was bei zu spätem Reagieren der Politik des staatlichen Systems zu erheblichen Liquiditätsstörungen der „Großen" führte. Er verkennt die autonome, oft zu selbständige Interessenpolitik der staatlichen Wirtschaftssysteme, die zunehmend Konkurrenten i m Kapitalmarkte werden. Vor allem verkennt er die dominierende Stellung des zentralen Staatswirtschaftssystems, das heute für alle W i r t schaftssysteme entscheidend die Verantwortung für Wachstum und Stabilität trägt — eine Politik, die heute mehr und mehr von den beiden organisierten Kapitalsystemen, — als eine auch i n ihren eigenen MikroInteressen liegend —, anerkannt wird. Galbraith sieht Einfluß und Gegeneinfluß. Er sieht die Abhängigkeit von der Produktion der Großen und ihre Mitarbeit i m Staatsapparat. Er vernachlässigt das Problem des Einflusses durch Druck und Gegendruck der Interessen der großen Wirtschaftssysteme untereinander. Er verkennt das „Autonomiebedürfnis" der Behörden, die i n USA die Koordination einer staatlichen Politik erschweren und er kennt nicht den unabhängigen Charakter der Europäischen öffentlichen Bürokratie, die sich mit den Staatsinteressen weitgehend identifiziert. Er w i l l nichts wissen von den Initiativen der Nicht-Großunternehmer und der öffentlichen Meinung für eine große, soziale und kulturelle Gesellschaftsordnung. Daher zeigt er auch nicht neue politische Wege zu möglichen Verbesserungen, um unserer Gesellschaftsordnung des Westens ihren wirtschaftlichen und politischen Pluralismus zu erhalten. Das Buch Galbraiths schließt m i t der Zusammenfassung: daß die gereiften gigantischen Firmen nicht mehr ihre Zugehörigkeit zum kapitalistischen Markte als deckendes Feigenblatt für ihre w i r t schaftlichen und sozialen Machtinteressen der Öffentlichkeit vorspiegeln können. Selbst konservativ gerichtete Beurteiler müssen zu dem Schlüsse kommen, daß die meisten Entwicklungstendenzen des „technischen Systems" zu einer „Sozialisierung" führen müssen. Seine Kontrolle über die Preise, sein Einfluß auf das Verhalten der Konsumenten, seine stille Abschaffung der Macht der Aktionäre, die i n seinen Planungsinteressen liegende staatliche Wachstums- und Stabilisierungspolitik, die Rolle der öffentlichen Unterstützungen zur Förderung von Wissen-

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schaft und Technik, die Bedeutung der militärischen Rüstungen, der Einfluß der Firmen auf diese Regierungsmaßnahmen, nicht zuletzt sein zentrales Interesse an der Ausdehnung der Erziehung sind mehr oder minder heute schon anerkannte Tatsachen als Lebensäußerungen des „New Industrial State. — Nach Galbraith ist es die Aufgabe seines Buches, das gesunde und v/achsende Gefühl zu stärken, das die „Gefahren" dieser Vereinigung von öffentlicher und privater wirtschaftlicher Machtformung spürt. — Doch da fragt sich der „überkommene" Leser, ob diese neue Form des Sozialismus, den uns die großen Unternehmungen bringen — nicht ein Wiederaufleben der alten Marxschen Konzentrationstheorie des Kapitals ist, die jedoch hier durch „Evolution" zum zentralistischen Firmen-Staats-Sozialismus führt. Die große Rettung der humanistischen Werte, — von Wissenschaft und Kunst und damit der Freiheit — vor dem hundertprozentigen Wirtschaftsmaterialismus ist durch die Universitas der Erziehung gegeben, die von der Wirtschaftskonzentration i n riesenhaften Dimensionen gefördert wurde. Der wachsende freie und unabhängige Teil der Akademischen Gemeinde, — politisch geworden —, w i r d „affluence" und „automation" nutzen, sich selbst frei zu gestalten und das gigantische Firmen-Staatsmonopol über das heutige wirtschaftliche wie kulturelle und soziale Leben zu brechen, das dann nur noch die physischen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen hat. Galbraith wie auch Heilbroner i n seinem Buche über die „ L i m i t s of American Capitalism" sehen i n den Studentenrevolten die Anzeichen einer neuen Fragestellung über wirkliche Lebens werte, die m i t zunehmender „affluence" die Wirtschaftszwecke in den Hintergrund drängen. Trotz allem — glaube ich, daß man einen scharfen Trennungsstrich ziehen muß zwischen einer wissenschaftlich begründeten Analyse der wirklichen, vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge für heute und morgen — und dem reinen, wenn auch interessanten Utopisieren, wozu man dann auch berechtigt ist, subjektiv bemessene und besonders ausgewählte Tendenzen und Assoziationen übertrieben i n die Zukunft zu projizieren.

Das Koordinationsproblem bei staatlichen Planungen Von Helmut A r n d t Staatliche Planung und zentrale Planung werden i n der Regel gleichgesetzt. Das Wesen der staatlichen Planung erscheint „as the contrived co-ordination of economic activity by means of a centralized initiative" 1 . W i r d hierbei zentral lediglich m i t „obrigkeitlich" identifiziert, unter einem zentralen Eingriff also nur ein Eingreifen der öffentlichen Gewalten verstanden, so mag dies hingehen. W i r d jedoch diese „zentrale Planung", wie dies meist geschieht, zugleich als eine einheitliche und damit als eine i n sich widerspruchsfreie Planung aufgefaßt, so w i r d dem Begriff der staatlichen Planung ein Inhalt unterstellt, der m i t den realen Gegebenheiten nicht notwendig i n Einklang steht. Bereits i n einer zentralen Planwirtschaft wie etwa der Sowjet-Union oder der DDR können von denen, die diese Plangewalt ausüben, einander widersprechende Maßnahmen getroffen werden 2 . I n einer Marktwirtschaft stellt die Aufgabe einer einheitlichen und i n sich widerspruchsfreien Planung der staatlichen Gewalten noch ein weit größeres Problem dar 3 . Die Einheitlichkeit der Planung kann gefährdet werden durch das Nebeneinander politischer und unabhängiger Institutionen wie z. B. von Regierung und Zentralnotenbank, durch die mangelnde Abstimmung zwischen den Ressorts auf Bundes- und Länderebene, durch den föderalistischen Aufbau überhaupt, und nicht zuletzt durch die Verlagerung der Arbeit aus den Parlamenten i n unabhängig voneinander vorgehende Ausschüsse und Unterausschüsse. Selbst der Kreis u m Walter Euchen 4 hat für die Marktwirtschaft die Notwendigkeit der Zentralnotenbank und die von ihr ausgehende Steuerung der volkswirtschaftlichen Geldversorgung anerkannt. Hierzu 1 A r t h u r A. Shenfield: i n : Economic Planning i n a Democratic Society? 9th W i n t e r Conference, edited by T. E. H. Reid, University of Toronto Press, 1963, S. 31. 2 Vgl. dazu K a r l C. Thalheim: Grundzüge des sowjetischen Wirtschaftssystems, K ö l n 1962, S. 91. 3 Vgl. hierzu H e l m u t Arndt: Die Planung als Problem der Marktwirtschaft, i n : Erich Schneider (Hrsg.), Rationale Wirtschaftspolitik u n d Planung i n der Wirtschaft von heute, Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik, NF. Bd. 47, B e r l i n 1967, S. 14 ff. sowie die dazugehörige Diskussion. 4 Vgl. Walter Euchen: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hrsg. von E d i t h Eucken u n d Walter Hensel, Bern-Tübingen 1952, S. 263; Hans Gestrich: K r e dit u n d Sparen, Düsseldorf-München (1944) 19523, S. 107 f.

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mag beigetragen haben, daß man Zentralnotenbanken als vom Staat unabhängige Institutionen ansah und infolgedessen zwischen einer Steuerung durch die Zentralnotenbank einerseits und staatlicher Planung andererseits bewußt oder unbewußt unterschieden hat. Tatsächlich sind jedoch auch „unabhängige" Institutionen wie die Bundesbank vom Staat geschaffen und vom Staat zum Träger staatlicher W i r t schaftspolitik bestimmt. Der Präsident, der Vizepräsident und die übrigen Mitglieder des Direktoriums der Bundesbank werden i n der Bundesrepublik Deutschland vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt und können sich für den Fall, daß sie wiedergewählt werden wollen, m i t ihr nicht überwerfen. Daß die Parteien durch die A r t der Wahl des Direktoriums einen mittelbaren Einfluß ausüben, entspricht dem Wesen der Demokratie. Eine absolute Unabhängigkeit für diese Institution zu verlangen wäre ebenso utopisch, wie die Forderung wirtschaftspolitische Entwicklungen ihres politischen Charakters zu entkleiden. Der Gegensatz, auf den es ankommt, ist ein anderer. Die staatliche Wirtschaftsplanung kann politischen Instanzen wie dem Parlament oder — wenigstens ihrer Idee nach — unpolitischen Instanzen wie der Bundesbank übertragen werden. Die politische Bedeutung staatlicher Wirtschaftsplanung bleibt davon unberührt. Eine Diskontsenkung oder eine Geldverknappung, die von der Bundesbank vorgenommen werden, können ebenso eine Wahl beeinflussen wie eine vom Parlament vorgenommene Änderung eines Steuergesetzes. Entscheidend ist etwas anderes. Entscheidend ist, daß durch die relative Unabhängigkeit, die Institutionen wie die Bundesbank genießen, dafür gesorgt wird, daß wirtschaftspolitisch relevante Entscheidungen weitgehend wahltaktischen Überlegungen sowie Einflüssen von Lobbies entzogen werden. Allerdings — und dies ist die Kehrseite — gibt die Unabhängigkeit solcher Institutionen auch einen Spielraum dafür, daß i m Bereich staatlicher Planung divergierende Willensbildungen möglich werden. Bundesregierung und Bundesbank können eine gegebene konjunkturelle Lage unterschiedlich beurteilen und voneinander abweichende oder sogar entgegengesetzte Maßnahmen für zweckmäßig halten. So zeigten sich i n der ersten Zeit nach Bildung der großen Koalition Winter 1966/ 1967 deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Erklärungen des Bundeswirtschaftsministers und der Haltung der Bundesbank. Der volkswirtschaftliche Kreislauf w i r d nicht nur durch die Geldpolitik der Zentralnotenbank, sondern auch durch die Einnahmen- und Ausgabenpolitik der Regierung (und des Parlamentes) beeinflußt. Die weitverbreitete Identifizierung von staatlicher Planung m i t zentraler Lenkung ist ferner schon deshalb fragwürdig, weil bereits „die Regierung" nicht notwendig eine Einheit bildet. Sie zerfällt i n Ressorts,

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die gegensätzliche Einflüsse auf die Wirtschaft — auf ihre Struktur wie auf ihren Ablauf — ausüben können. Jedes Ministerium, das über eigene Etatsansätze verfügt, beeinflußt den volkswirtschaftlichen Kreislauf, wenn es diese M i t t e l ausgibt oder wenn es — wie i n den fünfziger Jahren das Bundesverteidigungsministerium — diese M i t t e l hortet. Jedes Ministerium, das für bestimmte Gruppen der Bevölkerung Sondervorteile (oder auch besondere Nachteile) durchsetzt, greift i n den Wettbewerb ein und ver- oder entzerrt den Wettbewerb. Während sich der Wirtschaftsminister beispielsweise für die Herstellung und Erhaltung der Marktwirtschaft einsetzt, kann gleichzeitig das Finanzminister i u m dadurch, daß es dem Parlament keine Anträge auf Änderung wettbewerbsverzerrender Steuern, wie etwa der berüchtigten deutschen Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer, unterbreitet, die Voraussetzungen für das Funktionieren dieser Marktwirtschaft zerstören. Einflüsse auf den wirtschaftlichen Kreislauf kann die Bundesbank vielleicht noch i n gewissem Umfange kompensieren. Gegenüber Subventionen, die den Wettbewerb verzerren, oder gegenüber einer Besteuerung, welche die wirtschaftliche Konzentration fördert, ist sie indessen machtlos. Es sind freilich nicht nur die Ressorts auf Bundesebene, die zu mehr oder minder selbständigen Einflußnahmen fähig sind. I n einem föderalistischen Staatswesen wie der Bundesrepublik Deutschland gibt es eine Vielheit öffentlicher Wirtschaften und damit zugleich eine Vielheit — auch rechtlich selbständiger — Planungsinstanzen: die Länder und die Gemeinden. Antizyklische Bemühungen der Bundesregierung können z. B. nur Erfolg haben, wenn sie — wie i m „Gutachten über die Finanzreform i n der Bundesrepublik Deutschland" von 1966 vorgetragen w i r d — „von den Ländern und Gemeinden durch gleichgerichtetes haushaltspolitisches Verhalten wirksam unterstützt werden" 5 . Eine solche A b stimmung erfolgt jedoch nicht von allein. Es gibt keinen Automatismus, der die Pläne öffentlicher Wirtschaften aufeinander abstimmt. I n ihrem Bereich gibt es weder eine „invisible hand" noch eine „prästabilierte Harmonie". Kein M a r k t koordiniert die Wirtschaftspläne der öffentlichen Hände. Die Pläne der öffentlichen Wirtschaften werden vielmehr, je nach der Stufe, der sie angehören, mehr oder minder divergieren, falls keine Zentralinstanz eine Abstimmung dieser Pläne übernimmt. Bei rückläufiger Konjunktur w i r d die Bundesregierung, wenn sie gut beraten ist, durch vermehrte Ausgaben, z. B. i m Rahmen eines Eventualhaushaltes, einen die Wirtschaft belebenden Effekt auszuüben suchen. Ob sich die Länder diesem Vorgehen gemeinsam anschließen, oder ob sie geschlossen das Gegenteil t u n oder sich unterschiedlich verhalten, ist i n die Einsicht oder das Belieben der Länderregierungen ge5 Kommission f ü r die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform i n der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, Köln, Berlin, Mainz 1966, S. 139.

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stellt. Die Gemeinden endlich werden einheitlich eine der Konjunkturpolitik des Bundes entgegengesetzte Kreditpolitik einschlagen. Denn bei rückläufigen Steuereinnahmen sind die Gemeinden gezwungen, ihre Ausgaben einzuschränken. Je stärker ihre Steuerquellen fließen, u m so leichter sind sie bereit, U-Bahnen, Stadthallen, Konzertsäle und dgl. durch Kredite zu finanzieren. Gehen jedoch ihre Einnahmen zurück, so schränken sie die Aufnahme neuer Kredite ein. Die Zinsen für die bereits aufgenommenen Kredite werden i n verstärktem Umfange spürbar, so daß auf die Verschuldungspolitik i n der Prosperität sogar eine Entschuldungspolitik i n der Depression folgen kann. I h r Verhalten verstärkt die Depression, wie es i n der vorausgegangenen Periode die Prosperität forcierte. Dieses die Konjunkturschwankungen verschärfende Faktum folgt aus dem Verhalten der Gemeinden, das Maß ihrer Schulden nach der Höhe ihrer Steuereinnahmen zu richten. Wenn der Bund also die Konjunktur dämpft, treiben die Gemeinden „deficit spending" und wenn der Bund i n der Depression „deficit spending" treibt, bauen die Gemeinden ihre Kredite ab. Von einer zentralen staatlichen Planung kann schon aus diesem Grund keine Rede sein 6 . Der zentrale Charakter staatlicher Planung w i r d i n einer pluralistischen Gesellschaft schließlich noch aus anderen Gründen i n Frage gestellt. Die Aufgaben eines Parlaments auf Bundesebene, dem letztlich die staatliche Einheit anvertraut ist, und das allein durch seine Gesetzgebung die erforderliche wirtschaftliche Einheit der Planung herstellen könnte, haben sich i m Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre vervielfacht. Die Vermehrung der Zahl der Abgeordneten hat hierfür keine Entlastung gebracht, sondern nur die Unübersichtlichkeit vermehrt. Die Folge ist, daß ein Parlament wie der Bundestag zwar noch formal beschlußfähig, materiell aber nur noch bedingt arbeitsfähig ist. I m Plenum w i r d zwar noch abgestimmt, aber die eigentliche Arbeit hat sich weitgehend i n die Ausschüsse verlagert. Das Gros der Abgeordneten stimmt infolgedessen über Vorlagen ab, deren politischer Zweck und deren wirtschaftspolitische Bedeutung ihrer Einsicht entzogen ist. I n folge der mangelhaften Kommunikation wissen selbst die Mitglieder eines Ausschusses i n der Regel nicht, was i n anderen Ausschüssen geschieht. Sie wissen vor allen Dingen nicht, welche Konsequenzen die aufgrund der Vorarbeit dieser Ausschüsse i m Bundestag herbeigeführten Beschlüsse für die Wirkungen der eigenen Beschlußvorlagen haben werden. Dies gilt insbesondere für wirtschaftspolitische Entscheidungen, zumal keineswegs nur die Tätigkeit des wirtschaftspolitischen Ausschusses, sondern auch die Ergebnisse der meisten anderen Ausschüsse w i r t schaftspolitisch bedeutsam sind. 6 Vgl. auch E r w i n Hielscher: i n : Rationale Wirtschaftspolitik u n d Planung i n der Wirtschaft von heute, a.a.O., S. 47 f.

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Niemand koordiniert die Entscheidungen dieser Ausschüsse, auch nicht das Parlament selbst, dem diese Aufgabe formal obliegt. Das Parlament kann diese Koordination nicht mehr vollziehen, wenn das Gros der A b geordneten Sinn und Wirkungen der ihnen vorgelegten Gesetzesvorlagen weder überschaut noch überschauen kann. K e i n Abgeordneter kann gleichzeitig i n Fragen der Landwirtschaft, des Verkehrs, des Gesundheitswesens, der Kreditpolitik, der Auswärtigen Angelegenheiten usw. hinreichend sachkundig sein. Das Wirtschaftsleben ist so kompliziert, und die Einflüsse auf Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsablauf sind so mannigfaltig geworden, daß es, wie von Eynern formuliert hat, „dem einzelnen Abgeordneten außerordentlich schwer, fast unmöglich ist, die Aufgabe zu erfüllen, die i h m eigentlich zusteht, nämlich eine politische Entscheidung zu fällen aufgrund sachlich geklärter Dinge" 7 . I h m bleibt daher nur übrig, i n mindestens 80 °/o der Fälle abzustimmen, ohne mehr als ahnen zu können, worum es geht. Von Bedeutung ist ferner, daß viele Ausschußsitzungen nicht, wie die Sitzungen des Parlaments, der Öffentlichkeit zugänglich sind. Dies begünstigt zugleich einen verstärkten Einfluß der Lobbies, obschon — wie hinzugefügt werden sollte — ein solcher Einfluß bald nicht mehr notwendig ist, wenn sich die Wahlen weiter wie bisher entwickeln. Schon heute haben nicht nur Verbände und Gewerkschaften, sondern auch Konzerne ihre Abgeordneten i m Parlament. Quer zu den politischen Parteien entwickelten sich neue und i m Grundgesetz nicht vorgesehene „parteiliche Bindungen", die mit den klassischen Vorstellungen demokratischer Meinungsbildung nicht mehr vereinbar sind. Selbst wenn die Parteien aus reinen Interessenvertretern verantwortlich entscheidende Parlamentarier machen sollten, wie Stammer 9 glaubt, werden die divergierenden Einflüsse innerhalb der politischen Parteien nur verstärkt werden. Ein Abgeordneter, der einen Konzern vertritt, w i r d die Probleme stets anders sehen als ein Vertreter des Mittelstandes oder ein Repräsentant der Gewerkschaften. Angesichts dieser Situation ist es notwendig, das Problem einer einheitlichen und i n sich widerspruchsfreien staatlichen Planung zumindest i n fünffacher Hinsicht neu zu durchdenken: 1. Wie können Planungen unabhängiger Institutionen wie der Zentralnotenbank und Planungen politischer Instanzen wie der Bundesregierung aufeinander abgestimmt werden? 7

Gert von Eynern: Probleme der Begrenzung wirtschaftlicher Macht, V o r trag, gehalten am 7. Okt. 1954 bei den Hochschulwocheri f ü r staatswissenschaftliche Fortbildung i n Bad Wildungen, Bad Homburg v. d. H., B e r l i n 1955, S. 17. 8 Otto Stammer: Politische Soziologie, i n : A r n o l d Gehlen u n d H e l m u t Schelsky (Hrsg.), Soziologie, E i n L e h r - u n d Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf, K ö l n 1955, S. 289.

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2. Wie kann i n einer i n Ressorts aufgespaltenen Exekutive eine einheitliche und damit widerspruchsfreie Planung durchgesetzt werden? 3. Wie lassen sich bei föderalistischem Staatsaufbau wirtschaftspolitische Entscheidungen koordinieren, ohne daß hierdurch die politische Selbständigkeit der Gemeinwesen auf unterer und mittlerer Stufe zerschlagen wird? 4. Wie ist bei wirtschaftspolitisch relevanten Fragen anstelle der zersplitterten Willensbildung i n parlamentarischen Ausschüssen und Unterausschüssen wieder eine — den ursprünglichen Vorstellungen eines Parlamentes entsprechende — einheitliche Willensbildung i m Parlament zu erreichen? 5. Was kann geschehen, daß sich i n den politischen Parteien der „volonté générale" gegenüber dem „volonté de tous" 9 stärker durchsetzt? Für keine der hiermit aufgeworfenen Fragen gibt es ein Patentrezept. Die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralnotenbank besitzt Vorteile, auf die man nicht leichten Herzens verzichten kann. Möglich wäre es, für Streitigkeiten zwischen Bundesregierung und Bundesbank einen Schiedsrichter vorzusehen. Diese Rolle könnte z. B. der deutsche „Sachverständigenrat" übernehmen, der von der Bundesregierung — und zwar ausschließlich von dieser — bei abweichender Politik der Zentralnotenbank angerufen werden könnte. Ob die Bundesregierung eine solche Aufwertung des Sachverständigenrates wünscht, kann hier dahin gestellt bleiben. Für eine Abstimmung der Maßnahmen verschiedener Ressorts einer Zentralregierung könnte eine Koordinierungsstelle geschaffen werden, die nicht nur alle Gesetzesvorlagen auf ihre Vereinbarkeit mit der politischen, insbesondere wirtschaftspolitischen Grundkonzeption zu prüfen, sondern auch zu untersuchen hätte, ob und inwieweit sich die Wirkungen dieser Gesetze widersprechen. Dies ist keine leichte Aufgabe. Eine wirtschaftspolitische Koordinierungsstelle könnte beim Wirtschaftsministerium, aber auch beim Kanzleramt eingerichtet werden. Vorschläge dieser A r t sind auf der Hannoveraner Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozial Wissenschaften i m Jahre 1966 gemacht worden 10 . Eine solche Koordinierungsstelle kann freilich nur funktionieren, wenn sie über den erforderlichen Apparat und ausreichende Vollmachten verfügt. Auch der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium verlangt neuerdings die Einrichtung einer „besonderen Stelle, die sich für 9 J. J. Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag, München 1948 (Du Contrat social ou Principes d u droit politique, Amsterdam 1762) S. 76. 10 Fritz Neumark : Planung i n der öffentlichen Finanzwirtschaft, S. 173 ff., u n d H e l m u t Arndt, Planung als Problem der Marktwirtschaft, S. 14 ff., i n : Rationale Wirtschaftspolitik u n d Planung i n der Wirtschaft von heute, a.a.O.

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alle Bundesverwaltungen und nach Möglichkeit zugleich für Länder und Gemeinden speziell m i t Subventionen und ihren Wirkungen" befassen soll, über „genügend Unabhängigkeit" verfügt und „ausreichende Auskunfts- und Anhörungsrechte" besitzt 11 . Die Koordination wirtschaftspolitischer Entscheidungen bei föderalistischer Staatsstruktur ist i n der Bundesrepublik durch das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" 1 2 vom 2. 6. 1967 i n Angriff genommen worden. Ob dieses Gesetz i n dieser H i n sicht die erhofften Wirkungen hat, bleibt abzuwarten. Für das vierte Problem, das für eine einheitliche und widerspruchsfreie Willensbildung i m Bereich staatlicher Wirtschaftspolitik nicht minder von Bedeutung ist, bieten sich mehrere Lösungen an. Einmal könnten die wirtschaftspolitischen Aufgaben dem Parlament entzogen werden. Der Vorschlag, neben dem politischen Parlament ein besonderes Wirtschaftsparlament zu konstituieren, verkennt jedoch die engen Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik und ist daher schon aus diesem Grunde nicht durchsetzbar. Auch die Übertragung wirtschaftspolitischer Aufgaben an einen Bundeswirtschaftsrat begegnet den gleichen Bedenken. Eher möglich wäre es, ein Gremium wie den Bundeswirtschaftsrat als eine A r t Koordinierungsinstanz für parlamentarische Entscheidungen einzusetzen, die nur auf Initiative des Bundeswirtschaftsministers oder auch des Bundeskanzlers tätig werden würde. Ob ein Bundeswirtschaftsrat seine Koordinierungsfunktionen erfüllen kann, w i r d nicht zuletzt von der A r t seiner Zusammensetzung abhängen. W i r d er, wie zu befürchten, paritätisch besetzt, so w i r d er mehr oder weniger arbeitsunfähig sein. Eher erwägenswert erscheint, den bisherigen w i r t schaftspolitischen Ausschuß (Ausschuß für Wirtschaft und Mittelstandsfragen) auszubauen, zahlenmäßig zu vergrößern und m i t besonderen Vollmachten zu versehen. Seine Sitzungen müßten dann aber öffentlich sein. Divergierende Gruppeninteressen innerhalb der Parteien, die eine einheitliche wirtschaftspolitische Willensbildung stören, werden sich niemals ganz vermeiden lassen. Gemindert werden sie, wenn die Interessen, die ein Abgeordneter dank seiner Eigenschaft als Bevollmächtigter eines Konzerns oder als Repräsentant eines Bauernverbandes vertreten könnte, publik gemacht werden. I n einem Weißbuch des Parlaments könnten z. B. alle relevanten Beziehungen der Abgeordneten, gleich welcher A r t auch immer, aufgeführt werden. Gegen den Einfluß 11 Subventionen i n der Marktwirtschaft, Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, i n : B u l l e t i n des Presseu n d Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 32 v o m 31. 3. 1967, S. 264. 12 Vgl. §§ 3, 15 ff.

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wirtschaftlicher Macht kann, wie Stammer schreibt, die demokratische Ordnung nur durch Maßnahmen geschützt werden, „die ein Höchstmaß an Durchsichtigkeit und Öffentlichkeit des Interessendrucks gewährleisten" 1 3 . Die Koordinierungsprobleme, die i n einer Marktwirtschaft zu lösen sind, u m eine einheitliche und i n sich widerspruchsfreie Planung zu ermöglichen, sind damit nur oberflächlich skizziert. Z u ihrer Durchdringung und Lösung sind die Wirtschaftswissenschaftler unter den Politologen i n erster Linie berufen.

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Otto Stammer , Politische Soziologie, a.a.O., S. 290.

Regionalplanung und Regionalforschung auf neuen Wegen Von Hermann Brügelmann

A . Vorspiel I. Drei Vorbemerkungen

Die Vorbemerkungen wollen nicht nach Wohlwollen haschen, sondern den Haupttext durch einige Klarstellungen entlasten. 1. Ziel dieses Beitrages ist nicht, den Fachleuten der Raumordnung und Landesplanung, der Regional- und Stadtplanung und der Regionalforschung neue Einsichten zu vermitteln. Erkennbar gemacht soll lediglich werden, daß i n dem breiten Rahmen eines i n unserem Lande noch jungen Wissenschaftszweiges, der dem Politologen Gert v. Eynern wesentliche Impulse und Erkenntnisse verdankt — daß i m Rahmen der Politologie auch der Regionalforschung ein Platz zusteht. Daß dem so ist, läßt sich an einer Skizze des Werdeganges und des heutigen Standes von Regionalplanung und Regionalforschung aufzeigen. Vielleicht fördert solches Vorgehen gar das Kuppelprodukt zutage, daß beim einen oder anderen Adepten der Politologie ein wenig von jenem Problembewußtsein geweckt wird, das auch auf diesem Sachgebiet die gegenseitige Bedingtheit von Politik, Verwaltung und Wissenschaft erhellt. Deutlich werden sollte auch der interdisziplinäre Charakter der Fragestellungen, der bisher wenig erkannt ist und noch weniger praktiziert wird. I m Bereich von Politik und Verwaltung soll, wenn auch nur i n Ansätzen, erkennbar gemacht werden, daß Maßnahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, oft auch solche der K u l t u r - oder Sozialpolitik, aus welchem Grunde auch immer sie getroffen sein mögen, i n ihrer Wirkung selten „raumneutral" bleiben; sie üben einen meist unerkannten Einfluß auf regionale oder lokale Verhältnisse aus. So verändern sie die gesellschaftswirtschaftlichen Lebensbedingungen insgesamt. Zur Ökonomie des Beitrages gehört die sparsame und daher notgedrungen einseitige Verwendung tabellarischen Materials: es hat paradigmatischen Charakter. 2. Es mag verwundern, daß Verf. auf eine Definition des Begriffes „Region" verzichtet. Indessen ist der Begriff nicht nur höchst strittig,

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s o n d e r n er deckt tatsächlich v e r s c h i e d e n a r t i g e I n h a l t e . So v e r s t e h t d i e E W G aus i h r e r g r o ß r ä u m i g e n Sicht eine R e g i o n anders als d e r seinem L a n d v e r h a f t e t e P l a n e r i n S c h l e s w i g - H o l s t e i n , i n Hessen usw., oder als d e r zuständige R e f e r e n t des B u n d e s w i r t s c h a f t s m i n i s t e r i u m s , d e r i n „ B u n d e s a u s b a u g e b i e t e n " d e n k t , oder als der S t a d t p l a n e r , d e r v o n d e r „ S t a d t r e g i o n " ausgeht. D a G e g e n s t a n d dieses B e i t r a g e s n i c h t d i e R e g i o n als solche, s o n d e r n i h r e P l a n u n g u n d E r f o r s c h u n g ist, u n d da diese b e i d e n K a t e g o r i e n sich a u f R e g i o n e n j e d e r A r t u n d Größe erstrecken können, w i r d f ü r unseren Zweck übernommen, was die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) i n einem G u t a c h t e n v o n D r . Mäding e i n e r spezifizierten A b g r e n z u n g v o r a u s schickt 1 : „Die Bezeichnung ,Region' w i r d sowohl als wissenschaftlicher Begriff (1) als auch als administrativer Begriff (2) gebraucht. I n beiden Fällen w i r d dam i t ein Ausschnitt der Erdoberfläche bezeichnet, der aufgrund bestimmter Merkmale abgegrenzt worden ist. Die Abgrenzung k a n n mehr oder weniger scharf, die Ausdehnung mehr oder weniger groß sein. I n jedem Falle sind Regionen Raumeinheiten höherer Ordnung u n d haben keinen lokalen, sondern einen überörtlichen Charakter." Unter den beiden i m Z i t a t enthaltenen Ziffern findet, w e r sich i m einzelnen orientieren w i l l , i m zitierten Gutachten auf wenigen Druckseiten eine glückliche Mischung aus theoretischer u n d deskriptiver Ausfüllung der beiden Oberbegriffe. E r findet ferner w o h l lückenlose Kataloge der zwischengemeindlichen Verflechtungen (a.a.O., S. 23 f.) u n d Verwaltungsbeziehungen (a.a.O., S. 29 ff.) sowie ein „Verzeichnis überörtlicher kommunaler Aufgaben i n Verdichtungsräumen" (a.a.O., S. 41 ff.). 3. D i e v o l l f a c h l i c h e u n d h a l b f a c h l i c h e L i t e r a t u r ü b e r die i m T h e m a dieses B e i t r a g e s e n t h a l t e n e n S t i c h w o r t e (Region, R e g i o n a l p l a n u n g , R e gionalforschung) i s t i n d e n l e t z t e n J a h r e n d e r a r t angeschwollen, daß schon e i n u n z u l ä n g l i c h e r A u s z u g v i e l e D r u c k s e i t e n f ü l l e n w ü r d e . V e r f . b e g n ü g t sich deshalb n e b e n e i n i g e n A n m e r k u n g e n z u m T e x t m i t der N e n n u n g der f o l g e n d e n W e r k e , d i e sich i n der A u f z ä h l u n g q u a l i f i z i e r t e r L i t e r a t u r t e i l s ü b e r l a p p e n , t e i l s ergänzen: a) Das i n Vorbem. 2 zitierte Gutachten der KGSt. (S. 121 u n d 129 ff.). — Das Gutachten enthält auch (eingebundene) Anlagen, die über Einzelprobleme präzise A u s k u n f t geben. b) Kommentar zum Raumordnungsgesetz des Bundes (ROG) v o m 8. 4. 1965, dargestellt u n d erläutert von H. Brügelmann, G. Asmuß, E. W. Cholewa, H. J. v. d. Heide, Loseblatt-Werk des W. K o h l h a m m e r Verlages, Stuttgart 1965 ff. — Dieses Werk m i t dem U n t e r t i t e l „Raumordnung — Landesplanung — Regionalplanung" enthält neben dem ROG u n d seiner Kommentierung alle Landesplanungsgesetze m i t einer vergleichenden Einführung sowie die Sat1 Zwischengemeindliche Zusammenarbeit — Gutachten der Kommunalen Gemeinschaftsstelle f ü r Verwaltungsvereinfachung (1963), 5 K ö l n - M a r i e n burg, Lindenallee 17 (S. 91 ff.).

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zungen einer A u s w a h l von Regionalplanungsgemeinschaften nebst Erläuterungen. c) Brenken-Schefer, Handbuch der Raumordnung u n d Landes-, Regional-, Orts-, Fachplanung, Deutscher Gemeindeverlag/W. Kohlhammer Verlag, K ö l n 1966. d) Handwörterbuch der Raumforschung (Hrsg. Akademie f ü r Raumforschung u n d Landesplanung) Gebr. Jähnicke Verlag, Braunschweig 1966. Wer sich über Einzelfragen u n d nach dem neuesten Stand m i t Einschluß der Fachzeitschriften informieren w i l l , der bediene sich der vorbildlichen Dokumentation des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumplanung, 5 Köln-Deutz, Wrangelstraße 12.

I I . Rückblick

1. Vorgeschichte Der Versuchung eines Blickes i n die Vergangenheit 2 ist kaum ganz zu widerstehen. Der „Raum" spielt i n der Vorstellung der Menschen ja nicht erst seit gestern seine teils magische, teils rationale Rolle. Seltsamerweise ist die Planung und Erforschung des irdischen Raumes i n der Größenordnung der Region nur wenig älter als die ersten Versuche, mit Hilfe der Aeronautik den Weltraum abzutasten. Da hierfür i n der öffentlichen Meinung der Begriff Raumforschung gang und gäbe ist, sprechen w i r für unseren Bereich von Regionalforschung. Diese verstehen w i r also auch i m räumlich ausgedehnten Sinne, nämlich für die Bereiche der Landesplanung, aber auch für das ganze Bundesgebiet, dessen Aufbau und Gliederung ohnehin kaum auf einen General-, sondern auf räumliche Teilnenner zu bringen ist. Streifen w i r mit einigen Sätzen die Vorvergangenheit: Schon Aristoteles (384—322 v. Chr.) hat i n den geographischen Verhältnissen und i n ihrer Kenntnis ein bestimmendes Moment der Staatskunst gesehen; dem griechischen Geographen Strabon (63—20 v. Chr.) w i r d eine Abhandlung zugeschrieben, die den Staatsmännern als Richtschnur dienen sollte. Nach Cäsar (100—44 v.Chr.) und Tacitus (55—116 n.Chr.) scheint die politisch bestimmte Erkundung und Beschreibung von Landstrichen und Völkern abgerissen zu sein. Über das Mittelalter hinweg und durch die ganze Neuzeit hindurch war bis auf so wenige Ausnahmen, daß sie die Regel bestätigen, unsere Erde Gegenstand immer exakter werdender SpezialWissenschaften. Die Politik lag dabei i m toten Winkel; als sie wieder ins Blickfeld trat, geschah es zunächst fast nur i m staatlichen Maßstab. Der Mensch als Maß aller Dinge ist z. B. i m Merkantilismus 2 Hierzu verdankt Verf. seinem Sohn Assessor Klaus Brügelmann einen i n diesen Beitrag eingearbeiteten E n t w u r f , m i t dem auch er seinen Respekt vor Gert v. Eynern zu bekunden wünscht.

25 Festgabe für Gert von Eynern

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m i t seiner primär außenhandelspolitischen und finanzwirtschaftlichen Sicht nicht zu finden, es sei denn, w i r erwähnten den bedeutenden Kameralisten J. H. G. v. Justi (1705—1771), der i n seiner Abhandlung „Von der großen Stadt" das richtige Verhältnis der Stadt zu ihrem Umkreis zu bestimmen gesucht hat. Die sog. Klassische Nationalökonomie erhob und degradierte den Menschen zum homo oeconomicus. Selbst der Freiherr v. Thünen (1783—1850), der als Gutsherr auch sozial Exemplarisches leistete, abstrahierte i n seiner Lehre, m i t der er die Rentabilität der Landwirtschaft m i t dem Bezug auf den Absatzort untersuchte, vom Menschen. Auch bei Friedrich List (1789—1846), dem w i r neben der Einführung des Begriffes „Produktivität" die Keimzelle dessen verdanken, was w i r heute unter „Europa" verstehen, hat der Mensch i m Raum kein eigenes Gewicht. Tun w i r einen Sprung zu A l fred Weber (1868—1958): Sogar i h m war i n den Jahren ökonomischtheoretischer Arbeit, als er die damals für Industriezweige günstigsten Standorte bestimmte, der Mensch i m Raum nur als Arbeitskraft und Konsument wichtig. Verzichten w i r auf weitere Beispiele für die Tatsache, daß keine Wissenschaft, die Geographie ebensowenig wie die Nationalökonomie und ihre jüngste Schwester, die Soziologie, bis i n die letzte Zeit hinein mehr als mittelbare, meist zufällige Beiträge für das Verhältnis des Menschen zum irdischen Raum geliefert hat. Das braucht kein Vorwurf zu sein; denn erst u m die Jahrhundertwende begann die Problematik dieses Verhältnisses ins Tageslicht zu treten, während die Geburtsstunde der Sozialwissenschaften als methodisch moderne Disziplinen noch später lag. Früher bereitete die räumliche Verteilung der Bevölkerung, ihrer Wohn- und Arbeitsstätten keine oder nur geringe Sorgen. Damals lebte der Mensch von der Erde; heute lebt er vom Menschen (Fourastie). A n ders ausgedrückt: Bis ins 19. Jahrhundert hinein lebten die Menschen ganz überwiegend von der Landwirtschaft; sie waren relativ gleichmäßig über das Land ausgebreitet, über dem ein weitmaschiges Netz städtischer Zentren lag. Dieses Netz war nur hier und dort etwas stärker verdichtet, wo an naturbegünstigten Standorten einzelne Gewerbezweige m i t Nah- oder Fernabsatz sich angesiedelt hatten. Der Aufschwung ohnegleichen, den die Industrialisierung brachte, zeitigte bekanntlich an vielen Stellen auch ein Chaos ohnegleichen. Hier genügen die Stichworte: Agglomeration und Landflucht, medizinischer Fortschritt und Bevölkerungsexplosion, Wohnungsnot und Bodenspekulation, Mietskasernen i n Hinterhöfen und rücksichtslos hingesetzte Fabriken. Da „das ausgehende 19. Jahrhundert sich den Glauben an den endlosen Fortschritt geschaffen und zu lange m i t diesem Betäubungsmittel beruhigt hatte" (Salin), wurde man erst spät dessen gewahr, was da ge-

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schehen war und weiter geschah; und als man das zu sehen anfing, fehlte die ordnende Hand. Rühmend sei erwähnt, daß es i n Preußen und i n Württemberg schon i m ersten Viertel des 19. Jahrhunderts „Kreis- (bzw. Oberamts-)beschreibungen" gab, die den Landesbehörden landeskundlich-statistisches Material über die einzelnen Verwaltungsgebiete lieferten. Aber diese Praxis schlief wieder ein und wurde erst nach 1945 zu neuem Leben erweckt 3 . Der spätliberale Staat beschränkte sich auf die Gefahrenabwehr i m damaligen Verstände; er hatte vor allem die intern-politische Gefahr für seine eigene Institution i m Auge. Schrankensetzende Eingriffe lagen i h m fern; und erst recht dachte kaum jemand daran, den Wirtschaftsund Gesellschaftsprozeß durch vorausschauende Planung und anregende Initiative zu beeinflussen. Angemerkt zu werden verdient, daß der wenig bekannte Ferdinand v. Steinbeis (1807—1893) i m alten Königreich Württemberg m i t seiner staatlichen „Zentralstelle für Gewerbe und Handel" schon von 1848 an eine wohlüberlegte Landesentwicklungsarbeit betrieb. Durch Beratung, Ausstellungen, auch Finanzierungshilfen w i r k t e er langfristig auf eine dezentralisierte Standortwahl und Siedlungsweise hin, die diesem Land bis heute zugute gekommen ist. Die Leistung von Steinbeis ist erstaunlich, weil jener Zeit außer der Einsicht und dem Willen auch das Instrumentarium fehlte, m i t dem man eine Ordnungspolitik hätte betreiben können. W i r haben bereits erwähnt, daß die Volkswirtschaftslehre, von der solche Hilfestellung am ehesten zu erwarten gewesen wäre, soweit sie sich überhaupt drängenden Zeitfragen zuwandte, für räumliche Aspekte noch nahezu blind war. Auch der Verein für Socialpolitik (seit 1872), zu dessen Programmpunkten immerhin das Wohnungswesen zählte, hat diese Hilfe nicht geleistet. Erst etwa von 1920 an sollten von verschiedenen Seiten raumtheoretische Erkenntnisse i n das System der Wirtschaftstheorie eindringen und zur Ausbildung einer Raumwirtschaftslehre führen, bei der freilich zunächst die weltwirtschaftlichen Aspekte überwogen (Predöhl, 1925; Harms, 1927; Salin, 1928; Weigmann, 1931; Christaller, 1933; Lösch, 1940). Die wirtschaftspolitische Auswertung solcher Erkenntnisse indessen ist heute erst i m Werden. Die Übelstände und die Notstände, die um die Jahrhundertwende sichtbar wurden, brannten weniger den von Staats wegen Verantwortlichen auf den Nägeln als den Architekten und Städtebauern, vor deren Augen die Großstädte überquollen, m i t Elendsvierteln i m Innern und planlos wuchernden Siedlungen nach außen. Den zahllosen Zuwanderern Wohnungen zu schaffen oder dem neu aufkommenden Verkehr 3 Die wissenschaftliche u n d redaktionelle Bearbeitung des von den L ä n dern gesammelten Materials liegt heute bei der Bundesanstalt f ü r Landeskunde u n d Raumforschung.

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Raum zu schaffen und Kanalisation, Wasser- und Energieversorgung zu leisten — das wollte als öffentliche Aufgabe erst begriffen und erarbeitet sein. Vielfach tat sich gleichzeitig die Frage auf, wie man die durch die Kriegstechnik überholten Befestigungswerke früherer Jahrhunderte niederlegen und sinnvoll i n die Stadtgestaltung einbeziehen sollte (Entfestigungen der siebziger Jahre und danach). Das alles erforderte umfassende Planung. Vorbilder gab es kaum. Die Gemeinden griffen zur Selbsthilfe und schufen sich mit ihren technischen Ämtern binnen kurzer Frist die organisatorischen Voraussetzungen; ihre erste und lange Zeit hindurch einzige rechtliche Handhabe war das preußische Fluchtliniengesetz von 1875, das sich andere Länder zum Muster nahmen. Dagegen scheiterten z. B. zehnjährige Bemühungen des Frankfurter Oberbürgermeisters Franz Adickes (1846—1915) um ein Gesetz zur Erleichterung von Stadterweiterungen; die berühmte Lex Adickes (1902) war auf die Umlegung von Grundstücken i n der Stadt Frankfurt/Main beschränkt. Als die ersten hastigen Stadterweiterungen sich als fehlerhaft und ungenügend erwiesen, trat die neue Garde der Städtebautheoretiker auf den Plan: Gräfin Dohna (unter dem Pseudonym Arminius, 1874), Reinhard Baumeister (1876), Camillo Sitte (1889), Johannes Stübben (1907) und andere. Forderte der eine vor jeglicher Planung die gründliche statistische Bestandsaufnahme von Bevölkerungsstruktur und -bewegung, Wohnungsbestand und Verkehr, so legten andere das Hauptgewicht darauf, daß aus hygienischen Gründen die städtischen Funktionen entmischt würden, wieder andere, daß die Gesamtplanung auch das Umland einbeziehe. Diesem vielstimmigen Chor, dem freilich der Dirigent fehlte, gesellten sich die Wohnungsreformer und Bodenreformer zu; schließlich entfaltete sich die i n Deutschland zu eng gesehene Gartenstadt-Bewegung, die i m Kern mehr wollte als Durchgrünung und Auflockerung. 2. Zeitgeschichtlicher

Hintergrund

Vor diesen Hintergrund stellte Robert Schmidt, damals technischer Beigeordneter der Stadt Essen, 1912 seinen epochemachenden Entwurf eines „General-Siedelungsplanes". Er hat die erste Konzeption einer regionalen Gesamtplanung über bestehende, jedoch faktisch überholte Verwaltungsgrenzen hinweg am aktuellen Beispiel (Rhein-Ruhr) überzeugend begründet und die Koordination städtebaulicher, volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Gesichtspunkte für ein größeres Gebiet vorgezeichnet. Der Entwurf stellt den entscheidenden Ansatz zur späteren Landesplanung dar, auch wenn seine Ausführung durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert oder doch verzögert wurde.

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Schon vorher war der erste regionale Zusammenschluß i n der Praxis 1911 mit dem Zweckverband Groß-Berlin versucht worden. I n i h m war durch preußisches Sondergesetz die Hauptstadt m i t den angrenzenden Gemeinden unter einer A r t Dach vereinigt, freilich m i t begrenzten W i r kungsmöglichkeiten: Überörtlich bedeutsame Fluchtlinien konnten festgesetzt, örtliche Pläne der Verbandsmitglieder geprüft und beanstandet werden. Indessen — entwarf der Verband auch eine Flächenaufteilung auf Jahrzehnte hinaus, so blieb es i m ganzen doch bei einer mehr unverbindlichen Programmplanung, die letztlich nicht durchzusetzen war. Die Gemeinden wachten über ihre Eigenrechte; das Dach erwies sich als zu knapp bemessen. Der Verband war nach einigen Jahren reif zur Auflösung. Statt seiner wurde 1920 die Einheitsgemeinde Groß-Berlin gebildet, eines der ersten großen Muster für Anfänge einer Regionalpolitik, deren einziges durchgreifendes Instrument damals freilich die Eingemeindung war. Dies zeigt, wofür zahlreiche weitere, auch andersartige Belege gebracht werden könnten: Die Landesplanung ging aus der Stadtplanung hervor. Das bedeutete nicht nur, daß die Landesplanung sich zunächst noch des herkömmlichen Instrumentariums bediente, rechtlich wie organisatorisch und verfahrensmäßig; es bedeutete auch, daß sie nicht sogleich davon loskam, ihre Aufgabe als Bündel von primär technischen Detailgestaltungen (Stadtbild, Landschaft, Architektur, Hygiene) aufzufassen, die man für gesamtwirtschaftlich neutral hielt. Schließlich mag die besagte Herkunft auch eine bestimmte Denkstruktur mancher Raumordner erklären: jene Neigung zu allzu geradlining-mechanistischem Vorgehen, als müßte nach sauberem Grund- und Aufriß alles machbar sein. Freilich findet sich diese Neigung auch bei anderen Disziplinen. Als der Erste Weltkrieg den Staat dazu zwang, seiner wirtschaftspolitischen Abstinenz gründlich abzusagen, geschah das naturgemäß unter dem Druck anderer Zielvorstellungen als der gerade erst i n Ansätzen begriffenen Landesplanung; sie hatte vorläufig zurückzustehen. Wichtig war der Wandel auch für sie; denn von nun an bekannte sich der Staat zum Prinzip — der Begriff tauchte erst später auf — der Daseinsvorsorge. Er erließ i n den Jahren 1919/20 Gesetze, mit denen schon dies und jenes i m räum wirtschaftlichen Zusammenhang durchzusetzen war. Als die junge Weimarer Republik, manchen gegenläufigen Tendenzen zum Trotz, nicht i m Fahrwasser der Planwirtschaft weiterfuhr, wurde der Weg frei zur Bildung zahlreicher autonomer Regionalverbände, die zwischen 1920 und 1930 entstanden. A l l e n voran steht der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (1920), bis heute funktionierendes und oft zitiertes Muster (vgl. Abschn. B I 3), i n dem Robert Schmidt einige seiner frühen Ideen verwirklichen konnte; sodann die Verbände Engerer

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Mitteldeutscher Industriebezirk um Merseburg (1925), Düsseldorf, Leipzig (1925), Dresden m i t Chemnitz und Gera (1926), Oberschlesien (1927), Brandenburg-Mitte (1929), Rhein-Main-Gebiet (1930). Hervorstechendes Charakteristikum dieser Zusammenschlüsse: sie wuchsen von unten her, kamen freiwillig zustande, auf Initiative der Beteiligten, die erkannten, daß sie i n dem immer enger werdenden Raum aufeinander angewiesen waren. Beteiligt waren i n der Regel neben Gemeinden und Kreisen die ortsansässige Wirtschaft mit Arbeitgeber» und Arbeitnehmerseite sowie viele für Spezialplanungen zuständige Fachbehörden. Meist mußte man sich i n solchem Kreise wohl oder übel zusammenraufen, und das war vielleicht nicht einmal das schlechteste; sachliche Überzeugungskraft hatte die fehlenden Rechtshandhaben zu ersetzen; wo sie das nicht vermochte, blieb es wie heute bei schönen Programmen und Plänen, die auf dem Papier standen. Dabei handelte es sich immer noch um reine Flächenaufteilungspläne, u m die sinnvolle Verteilung und Abgrenzung der verschiedenen Lebensfunktionen i m Raum (Wohnstätten, Arbeitsstätten, Verkehr, Industrie, Handel, Grünflächen). Das war schon viel, aber es war nicht genug. Die Jahre praktischer Erfahrungen schärften erst richtig den Blick für die ganze Komplexität der Vorgänge, ließen langsam ein Interdependenz-Denken wachsen. Komplexer Natur, obschon auf andere Weise, war auch der Wandel, der mit dem Jahr 1933 (genauer: 1935) für diese Entwicklung eintrat; und zwar deshalb, weil Rückfall und Fortschritt, Verengung und Ausweitung sich eigenartig kreuzten. So wurde das starke Selbstverwaltungselement i n der Landesplanung alsbald erstickt, die Potenz der freien Planungsverbände für neue Zwecke i n Dienst gestellt. Die Zwecke, denen das NS-Regime seine Raumordnungspolitik unterordnete, ergeben sich eindeutig aus Schlagworten wie: „Festigung des deutschen Lebensraums nach innen und Sicherung der Wehrfähigkeit nach außen durch Verbreiterung des Nahrungsspielraumes und der Rohstoffversorgung; Festigung von Volk und Nation durch einen Bevölkerungsausgleich zwischen untervölkerten und übervölkerten Gebieten; Begrenzung der großstädtischen Ballungen." Unter solchen Maximen nahm 1935 die Reichsstelle für Raumordnung ihre Tätigkeit auf, bezeichnenderweise auf Grund eines Gesetzes „über die Regelung des Landbedarfs der öffentlichen Hand". Die Reichsstelle hatte scheinbar weitreichende Befugnisse, bis h i n zur M i t w i r k u n g am Einsatz des Reichsarbeitsdienstes und bei der industriellen Standortwahl i m Rahmen des Vier jahresplanes. Tatsächlich wurde die Reichsstelle, da es i n den entscheidenden Punkten eben bei bloßer M i t w i r k u n g blieb, ihrem Auftrag nicht gerecht, „die zusammenfassende, übergeordnete Planung des deutschen Raumes für das gesamte Reichsgebiet zu leisten".

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A u f der mittleren Ebene hingegen konnte vielfach sachliche Arbeit getan werden. Zum erstenmal war das damalige Reich lückenlos i n Planungsräume aufgeteilt. Die einzelnen Landesplanungsgemeinschaften waren zwar auf dem Papier an die Weisungen der Reichsstelle gebunden, i n Wirklichkeit aber oft weit genug von ihr entfernt, andererseits nah genug an den i m jeweiligen Gebiet sich stellenden Aufgaben und deren maßgeblichen Sachwaltern zugeordnet, so daß sie ungestört planen konnten; was sich davon nicht gleich verwirklichen ließ, konnte nach dem Krieg als Grundlage für die Weiterarbeit hervorgezogen werden. Genauer gesagt: solches hätte geschehen können, wären nicht Begriffe und Vorstellungen wie Raumordnung oder Planung infolge der zwölf Jahre generell verfemt gewesen, von der verwandten Geopolitik und ihrem organischen Staatsbegriff zu schweigen. Oder sollte man hier besser doch nicht ganz schweigen? Der Amerikaner Edmund A. Walsh hat i n einem 1946 vor dem damaligen Forum Academicum gehaltenen V o r t r a g 3 3 seine Auseinandersetzung m i t K a r l Haushof er s Geopolitik bei K a r l Ritter (1779—1859) begonnen, bei dem er die „Anfänge eines Mißbrauchs der reinen geographischen Wissenschaft für die politischen Zwecke eines i n der Expansion begriffenen Staates" sieht. Der Sprung von Ritter zu Ratzel („Über die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten") und K a r l Haushofer führt Walsh zu folgender K r i t i k an der politischen Wissenschaft i n Deutschland, für die es damals noch nicht den Namen Politologie gab: „Diese Schule der politischen Wissenschaft wurde durch seine (sc. K a r l Haushofers) Auffassung des Staates als eines natürlichen Organismus, der ständig wachsen muß u n d niemals unverändert bleiben darf, jedenfalls i n ihrer extremen F o r m durch den logischen Zwang des von i h r eingenommenen Standpunktes dazu getrieben, Eroberungen als eine Naturnotwendigkeit zu rechtfertigen."

Unseren Exkurs legitimiert zunächst die erwähnte Verfemung der Raumordnung durch die beklemmenden damaligen Assoziationen zu „ V o l k ohne Raum" und „ B l u t und Boden". Bedenken w i r jedoch auch, daß viele der Raumordner und Landesplaner, die den Krieg überlebten, jenen Männern als Schüler zu Füßen gesessen hatten. Da die Lehrer starke Persönlichkeiten waren, hinterließen ihre Lehren Spuren bei den Schülern. Von ihnen brauchte der eine wenige, der andere viele Jahre, um die veränderte politische Wirklichkeit anzunehmen und von Grund auf umzulernen. Wer hellhörig i n die Sprache unserer Fachliteratur hineinlauscht, den stört gelegentlich die Rolle, die bei manchen Autoren heute noch das „Organische" spielt. Das gilt also nicht bloß für jene Periode, i n der zum ersten M a l die Wissenschaft versucht hat, der 3a E d m u n d A . Walsh, Wahre anstatt falsche Geopolitik i n Deutschland, V e r lag G. Schudt-Bulmke, F r a n k f u r t / M a i n , 1946,

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Hermann B r g e l m a n n

raumordnungspolitischen Praxis innerhalb des Staatsgebietes Ansätze eines theoretischen Rüstzeugs bereitzustellen: Neben der Reichsstelle für Raumordnung stand, ebenfalls seit 1935, die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung als Zentrale der neuen Hochschularbeitsgemeinschaften, i n denen sich die Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen m i t dem Ziel koordinierter Erforschung der neuen Materie zusammenfanden. Wie weit w i r es freilich noch heute bis zur V e r w i r k lichung interdisziplinärer Zusammenarbeit haben, legt Abschn. C I I offen. B. Regionalplanung: ein Problemknäuel für Gemeinden, Länder und B u n d I . Gesetz und Rechte

1. Sture Anwendung

starrer Grenzen

Das B i l d potentieller und faktischer Regionalplanung i n der BRD ist nicht bloß auf den ersten Blick verwirrend: Was w i r d zu welchem Zweck, mit welchem Ziel und auf welche Weise geplant? — Und wenn ein Plan vorliegt: Wer soll, kann und darf i h n verwirklichen? Über welche Machtmittel, welche Instrumente, welche finanzwirtschaftlichen Möglichkeiten verfügt er? — Die A n t w o r t auf diese Fragen kann in einem föderativ aufgebauten Staatswesen nicht einschichtig lauten. Kompliziert w i r d sie noch durch das Verhältnis der kommunalen Selbstverwaltung zum Staat und nicht zuletzt durch die überkommene Gliederung der öffentlichen Verwaltung. Die Verwaltung ist gelähmt nicht nur durch Formen und Größenverhältnisse der Gemeinden, Kreise, Bezirke und Länder, die i m öffentlichen Bewußtsein sanktioniert sind („so war es immer — warum soll es plötzlich anders werden?"); sie ist gelähmt auch durch die vereinfacht und unzulänglich „Ressortegoismus" genannte Beziehung der Fachverwaltungen zu ihren gemeinsamen öffentlichen Aufgaben. M i t diesen Fragen und Hinweisen stehen w i r frontal zu einem Grundproblem unseres öffentlichen Lebens, das sich m i t exemplarischer Schärfe für die Regionalplanung stellt: vor dem Problem der Grenze. Bevor w i r hierauf eingehen, muß wenigstens eine kursorische Antwort auf die erste der gestellten Fragen gegeben werden. Sie darf kursorisch sein, weil einige Merkposten genügen, u m i n Erinnerung zu rufen, warum Zukunftsplanung generell, und warum i m besonderen raumordnungspolitische Planung notwendig ist. Während schon vor einem Jahrhundert die industrielle Revolution und ihr folgend die Verkehrsbeziehungen kommunale und staatliche

R e g i n a l p l a n u n g u n d Regionalforschung auf neuen Wegen

393

Grenzen gesprengt haben, während w i r i n diesen Jahrzehnten immerhin beginnen, i n der Außenpolitik „europäisch" und gar „atlantisch" zu denken, während w i r praktikable Formen für unser überstaatliches Wollen suchen und finden, leben w i r innerstaatlich i n vieler Hinsicht so weiter, als wäre ein Staat, als wäre eine Gemeinde ein isolierter und mehr oder minder autarker Bereich wie i m 18. Jahrhundert. Wer diese Behauptung überspitzt nennt, dem sei anheimgegeben, eine mildere Formulierung für die folgenden herausgegriffenen Beispiele aus den letzten Jahren zu finden: Gemeinden siedeln auf Grenzflächen luftverschmutzende u n d l ä r m v e r ursachende Industriebetriebe an, deren Emissionen angrenzende Wohnsiedlungen von Nachbargemeinden beeinträchtigen. E i n Bundesland fördert, u m das wirtschaftliche u n d soziale „Gefälle" innerhalb seiner Grenzen zu verringern, sog. i n der Entwicklung zurückgebliebene Gebiete nachhaltig; als Folge verschärft sich das gleiche Gefälle gegenüber ebensolchen Grenzgebieten des finanzschwächeren Nachbarlandes.

Zum zweiten Beispiel sei angemerkt, daß regionale Probleme oft deshalb ungelöst bleiben, weil sozioökonomische Einheiten auch von Landesgrenzen durchschnitten sein können. Das i n den letzten Jahren gelegentlich angewandte Instrument des Staatsvertrages kann hier immerh i n einige prinzipielle Schwierigkeiten ausräumen. Diese sind naturgemäß noch größer, wo eine Region nicht nur über Landes-, sondern über Bundesgrenzen sich erstreckt, wie etwa i m Raum Basel-Freiburg i. Br.-Mühlhausen („Regio"). Der Fortschritt der sechziger gegenüber den fünfziger Jahren liegt darin, daß groteske Vorgänge (oder Stillstände) heute auffallen und Schlagzeilen i n der Tagespresse provozieren, ferner daß es eine Bundesraumordnungskonferenz gibt, i n der „grundsätzliche Fragen der Raumordnung und Landesplanung und Zweifelsfragen... von der Bundesregierung und den Landesregierungen gemeinsam beraten werden" sollen (§ 8 ROG), und schließlich daß innerhalb der Länder den Landesplanungsbehörden mehr und mehr koordinierende Aufgaben zugewiesen werden. Die kommunale Selbstverwaltung darf sich darauf berufen, daß sie lange vor den zaghaften Ansätzen staatlicher Initiative eigene und produktive Folgerungen daraus gezogen hat, daß Wirtschaft und Verkehr ihre Grenzen sprengten. M i t diesen ersten Schritten wurde schon ein Menschenalter vor den i n Abschn. I I 2 genannten Zusammenschlüssen begonnen; sie lassen sich unter dem bekannten Stichwort interkommunaler Zusammenarbeit subsumieren: Die Versorgung einer Mehrzahl von Gemeinden m i t Wasser, Gas und Strom, der öffentliche Personennahverkehr, das Abwasserwesen und noch manche anderen Zweige kommunaler „Daseinsvorsorge" wurden zunächst i n privatrechtlichen, später auch i n öffentlich-rechtlichen Formen (Zweckverbände)

394

Hermann B r g e l m a n n

konstituiert. Wer hierin Keimzellen dessen sieht, was w i r heute Regionalplanung nennen, der sollte nicht übersehen, daß damit lediglich eine auf bestimmte Fachsparten beschränkte, also eine eher punktuelle Zusammenarbeit entstand. Demgegenüber muß regionale Planung und Exekutive die Gesamtheit der Interdependenzen i n den Griff bekommen: von der Flächennutzung und dem Straßenbau bis zur Erstellung von Krankenhäusern und Altersheimen, Sportplätzen, kulturellen Einrichtungen usf. Warum w i r hiervon noch weit entfernt sind, warum die Grenzen stärker sind als die Kooperation, das hat zwei Hauptursachen. Deren eine liegt i n den Rechtsverhältnissen, ihre andere i n politisch genannten, i n Wahrheit psychologisch motivierten Gegebenheiten. 2. Hoffnung

auf Gebietsreform

Wer beim Versuch, Regionalplanung zu praktizieren, an den Grenzen der Gebietskörperschaften scheitert, der denkt unwillkürlich immer wieder an die seit langem anstehende Neugliederung der öffentlichen Verwaltung i m Sinne einer Gebietsreform. Das ist freilich nach Ansicht mancher Planungspraktiker nicht ungefährlich, weil der Blick auf die Gebietsreform gerade dann einen Bremseffekt ausüben kann, wenn es darum geht, Planungen zu verwirklichen, die die Grenzen öffentlicher Gebietskörperschaften überschreiten. Der Rat w i r d leicht Zulauf finden: abzuwarten, die Lösung schwieriger Probleme zu vertagen, bis der gordische Knoten, der scheinbar unentwirrbar zwischen einer Mehrzahl von Gebietskörperschaften liegt, sich i n einer einzigen politischen und Verwaltungseinheit mühelos von selbst l ö s e . . . Die hieraus resultierende Sorge der Planer erscheint gegenwärtig überrollt durch die junge Idee der Verwaltungsregion. Sie kann verstanden werden als eine Verwaltungseinheit, die als höherer Kommunalverband oberhalb der Stadt- und Landkreisebene überörtliche Verwaltungsaufgaben wahrnimmt; aber auch als völlige Zusammengliederung eines großen zentralen Ortes (kreisfreie Stadt) m i t dem i h m strukturell verflochtenen Einzugsbereich zu einer neuen Form der „Kreis"-Organisation. — Gegen jede Lösung, Planungs- und Verwaltungsregion zur Deckung zu bringen, spricht freilich neben dem Mißtrauen der Planer, ihre Ziele möchten dabei auf der Strecke bleiben, ein nicht zu unterschätzendes objektives Argument: Eine Verwaltungseinheit bedarf, w i l l sie nicht ins Flackern geraten, der Kontinuität; sie sollte, einmal geschaffen, ein Jahrhundert lang oder doch nicht viel kürzere Zeit bestehen. Eine Planungsregion läßt sich zweckmäßig nur nach strukturellen Faktoren abgrenzen; diese aber sind i n ständigem, oft raschem Wandel begriffen. I n einer Mittelstadt braucht nur ein bedeutendes Unternehmen der

R e g i n a l p l a n u n g u n d Regionalforschung auf neuen Wegen

395

Wachstumsindustrien ein großes Zweigwerk anzusiedeln; allein dadurch schon verändern sich Richtung und Umfang der Zuwanderung ebenso wie der Pendlerströme, vom Strukturwandel der betreffenden Stadt und ihrer Region durch neu entstehende Zuliefer- und Dienstleistungsbetriebe ganz abgesehen. A u f die Vorteile und Nachteile der möglichen Neugliederungen, aus deren Fülle hier nur einige herausgegriffen sind, gehen w i r nicht ein, weil es sich u m ein eigenes Thema von beachtlicher Breite, übrigens auch von politischer Brisanz handelt, m i t dessen Bearbeitung mehrere Landesregierungen unlängst besondere Kommissionen betraut haben. Wohl aber muß i n diesem Beitrag die Problemlage dargestellt werden, die die Regionalplanung wie die gesamte Raumordnung ständig aufs stärkste berührt. A m eklatantesten t r i t t das i n den Größen- und Strukturverhältnissen unserer Gemeinden i n Erscheinung: I n der BRD gibt es 24 500 Gemeinden. Nach der Volkszählung von 1961 — die bis 1967 eingetretenen Veränderungen sind quantitativ geringfügig und für unsere Betrachtung belanglos — hatten davon 23 195 = 95 °/o weniger als 5000 Einwohner, 11 285, also fast die Hälfte aller Gemeinden, weniger als 500 Einwohner. I n den Gemeinden unter 500 Einwohner leben 34 °/o der bundesrepublikanischen Bürger; das sind etwa ebenso viele wie i n den 53 Großstädten m i t 100 000 und mehr Einwohnern. Welche Rückständigkeit i n der Streuung der kommunalen Verwaltungseinheiten w i r uns hierzulande vorzuwerfen haben, macht der tabellarische Vergleich m i t den Niederlanden und plastischer noch seine graphische Darstellung deutlich 4 . Die Grenzzahl von 5000 Einwohnern w i r k t willkürlich gewählt; sie hält jedoch etwa die Mitte zwischen den Vorstellungen zaghafter und kühner Reformwilliger, und sie liegt an der untersten Grenze, wenn w i r die Kategorien Wirtschaftskraft, Finanzkraft, Verwaltungskraft als unerläßliche Faktoren für die Bewältigung rein örtlicher öffentlicher Aufgaben anerkennen. Sie liegt sogar unter dieser Grenze, wenn w i r Eberhard Laux 5 folgen, der technische Hilfsmittel wie Adressier- und Buchungsmaschinen erst i n Gemeinden von 15 000 bzw. 10 000 Einwohnern für rationell auslastbar hält. Frido Wagener, der diese und weitere technische Notwendigkeiten einer modernen Verwaltungseinheit als Kriterien heranzieht 6 , kommt zu dem Schluß, „daß die unterste Grenze einer für interne Leistungen selbstgenügsamen Kommunalverwaltung 4 Die Zahlentafeln u n d die graphische Darstellung hat 1964 auf Anregung des Verf. das Statistische Referat des Deutschen Städtetages erarbeitet. Sie sind m i t anderem nützlichen Vergleichsmaterial abgedruckt i n „Ordnung i m Raum", Heft 14 der Neuen Schriften des DST, Stuttgart u n d K ö l n 1965. 5 Eberhard Laux: Praktische Organisationskunde, K ö l n u n d B e r l i n 1964. 6 Frido Wagener: Gemeindeverwaltung u n d Kreisverwaltung, i n : A r c h i v f ü r Kommunalwissenschaften, 1964, Zweiter Halbjahresband.

Zahlentafel

1

B e v ö l k e r u n g u n d G e m e i n d e n nach G e m e i n d e g r ö ß e n k l a s s e n i n d e n N i e d e r l a n d e n u n d der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d (einschl. W e s t - B e r l i n ) 1961 Gemeindegrößenklasse

Z a h l der

Bevölkerung

Gemeinden absolut vH 1

0

1000

2

vH

3

4

Durchschn. Einw.zahl j. Gem. 5

1. N i e d e r l a n d e

1 2 5 10 20 50 100

unter 500 500 b i s u n t e r 1 000 000 b i s u n t e r 2 000 000 b i s u n t e r 5 000 000 b i s u n t e r 10 000 000 b i s u n t e r 20 000 000 b i s u n t e r 50 000 000 b i s u n t e r 100 000 000 u n d m e h r

Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw.

Insgesamt

11 67 140 313 221 130 63 21 14 980

1,12 6,84 14,28 31,94 22,55 13,27 6,43 2,14 1,43 100

5 51 204 1043 1550 1792 1832 1438 3 800 11 715 1 )

0,04 0,44 1,74 8,90 13,23 15,30 15,64 12,27 32,44 100

450 760 1460 3 330 7 010 13 780 29 080 68 480 271 430 11950

2. B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d unter 500 500 b i s u n t e r 1 000 1 000 b i s u n t e r 2 000 2 000 b i s u n t e r 5 000 5 000 b i s u n t e r 10 000 10 000 b i s u n t e r 20 000 20 000 b i s u n t e r 50 000 50 000 b i s u n t e r 100 000 100 000 u n d m e h r

Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw.

Insgesamt

11285 6 017 3 692 2 201 725 299 181 50 53 24 503

46,05 24,56 15,07 8,98 2,96 1,22 0,74 0,20 0,22 100

3 104 4 258 5121 6 739 5 033 4 020 5 531 3 568 18 801 56 175

5,53 7,58 9,12 12,00 8,96 7,15 9,85 6,35 33,46 100

280 710 1390 3 060 6 940 13 440 30 560 71360 354 710 2 290

3. B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d (hypothetisch, E r l ä u t e r u n g : A n m . a m F u ß e ) unter 500 500 b i s u n t e r 1 000 1 000 b i s u n t e r 2 000 2 000 b i s u n t e r 5 000 5 000 b i s u n t e r 10 000 10 000 b i s u n t e r 20 000 20 000 b i s u n t e r 50 000 50 000 b i s u n t e r 100 000 100 000 u n d m e h r

Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw. Einw.

53 322 671 1501 1060 624 302 101 67

4 7 8 8 6 18

23 247 977 999 432 595 786 893 223

Insgesamt 4 701 56 175 *) Ohne 5700 Einwohner ohne festen Wohnsitz. Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1963, S. 29* und Statistisches Bundesamt, Fachserie A 1/IV 1 — j 63. Bemerkungen: Die Tabelle enthält in den Spalten 1 und 3 die absolute Zahl der Gemeinden und der Bevölkerung, in den Spalten 2 und 4 ihre prozentuale Aufgliederung nach Gemeindegrößenklassen. I n Spalte 5 ist berechnet, wieviel Einwohner durchschnittlich in einer Gemeinde jeder Gemeindegrößenklasse wohnen. Abschnitt 1 zeigt die Verteilung der Gemeinden und der Bevölkerung in den Niederlanden, Abschnitt 2 die Verteilung in der Bundesrepublik. I n Abschnitt 3 wurde hypothetisch die Siedlungsstruktur der Niederlande auf die Bundesrepublik übertragen. I n den Niederlanden wohnen (Sp. 5) durchschnittlich 11 950 Einwohner in einer Gemeinde. Träfe dies Verhältnis auf die Bundesrepublik zu, so würden die 56 Mill. Einwohner der Bundesrepublik in 4701 Gemeinden wohnen (statt in 24 503). Die Aufteilung dieser 4701 Gemeinden auf Gemeindegrößenklassen wurde gemäß Sp. 2 in Abschnitt 1. also nach dem prozentualen Anteil der einzelnen Gemeindegrößenklassen an der Gesamtzahl der Gemeinden in den Niederlanden, vorgenommen. Entsprechend wurde die Bevölkerung der Bundesrepublik gemäß Sp. 4 in Abschnitt 1 auf die Gemeindegrößenklassen verteilt.

R e g i a l p l a n u n g u n d Regionalforschung auf neuen Wegen

397

Gemeinden und Bevölkerung in den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland (einschl. Berlin/ West) nach Gemeindegrößenklassen 1961

%

40-

Anteil der Gemeinden an der Gesamtzahl der Gemeinden in P r o z e n t

3020-

10-

Grtfl ke l tM

1000

1000 O IOO

J]

3000-



% 40— 30—

ö

Niederlande

I

Bundesrepublik Deutschland

20—

10GrtVwv

l L500-

«nt«

Anteil der Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in P r o z e n t

ihn.

10002000

3000SOOO

$000-

10000 30000

30000SO 000

SO000-

heute bei etwa 20 Bediensteten und 7500 Einwohnern liegt". Aus der umfassenden Fülle von Gesichtspunkten, die Wagener für diese Gemeindegrößenklasse plädieren lassen, sei nur ein besonders gewichtiger noch angeführt: „Wasserversorgungsanlagen sind normalerweise unter einer Versorgungsgrenze von 5000 bis 10 000 Einwohnern nicht w i r t schaftlich und hygienisch einwandfrei zu betreiben. Ausreichend mechanisch und biologisch arbeitende Kläranlagen bedürfen ebenfalls eines Mindesteinzugsbereichs von 5000 bis 10 000 Einwohnern." Bei den größeren Verwaltungseinheiten — dem Landkreis, dem Regierungsbezirk — liegen die Verhältnisse ähnlich, wenn sie auch nicht

398

Hermann Briigelmann

so faustdick überzeugend auf den Tisch zu bringen sind. Und warum sollten nicht auch die Länder neu gegliedert werden, da A r t . 29 GG schon 1949 den ausdrücklich und klar formulierten Auftrag zur Neugliederung erteilt hat? I n Art. 29 Abs. 1 ist für die Länder i n genauer Analogie gesagt, was soeben über die Gemeinden ausgeführt wurde: „Die Neugliederung soll Länder schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können." Daß die hiermit gesetzte Norm überall erfüllt sei, w i r d wohl nur dort behauptet und mit fragwürdigen Beweisen gestützt, wo man daran interessiert ist, den gegenwärtigen Stand aufrechtzuerhalten. Solche Interessen haben das sog. Luther-Gutachten, das sorgfältig erarbeitete und wohl begründete Vorschläge für die Neugliederung der Länder enthielt, zu einem Schlag ins Wasser werden lassen; m i t Ausnahme der Schaffung des heutigen Landes Baden-Württemberg ist nichts geschehen. Verzichten w i r i n diesem Punkt — wenn auch w i d e r w i l l i g — auf Zukunftsmusik, so bleibt die Verringerung der 24 500 Gemeinden auf etwa 5000 nächstes Ziel, dessen Verwirklichung beinahe automatisch auch die 425 Landkreise auf die Hälfte oder weniger reduzieren müßte. Führen w i r uns hierzu vor Augen, wie ein Landkreis historisch abgegrenzt zu sein pflegt: Der königliche oder herzogliche Landrat sollte das i h m anvertraute Gebiet i n einem Tag abreiten können. Die A n hänglichkeit an das Gewordene und Gewesene erklärt es, daß die westdeutschen Landkreise eine durchschnittliche Einwohnerzahl von 30 000 bis 60 000 haben und daß es heute noch zahlreiche Landkreise mit 15 000 Einwohnern oder einigen darüber gibt. Ein solcher Landkreis trägt kein Krankenhaus, das heute — selbst bei Beschränkung auf Innere Medizin und Chirurgie — mindestens 150 Betten haben sollte; er trägt nicht einmal eine einzügige Höhere Schule oder ein angemessen besetztes Bauaufsichtsamt. Selbst der Durchschnitt liegt bei Größenordnungen, wo sich die erwähnten technischen Hilfsmittel nur eben gerade oder noch nicht einmal voll lohnen. Erhalten nun Gemeinden und Landkreise eine Gestalt, die es den letzteren ermöglicht, ihre Verwaltungskraft wieder, wie es ursprünglich gedacht und praktiziert war, vor allem überörtlichen Aufgaben zuzuwenden, so w i r d die „Mittelinstanz" i n der heute meistüblichen Form des Regierungsbezirks fragwürdig. Damit drängt sich die Gebietsreform i n größerem Rahmen zwingend auf, und es steht außer Frage, daß sie die praktische Regionalplanung aufs stärkste berühren muß. 3. Das Mosaik rechtlicher

Handhaben

Der Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft fordert politische Konsequenzen, die heute nicht mehr allein „fachpolitischer" Natur

R e g i n a l p a n u n g u n d Regionalforschung auf neuen Wegen

399

— wirtschafts- und sozialpolitisch usw. — sein können: sie wollen regional- und damit raumpolitisch gesehen und gezogen werden. Gelegentlich allzuweit gesteckte Ziele, aber auch Vorgänge i n anderen Ländern, etwa die zentralistische Raumplanung i n Frankreich, haben den Verdacht aufkommen lassen, Männer der Raumordnungspolitik strebten i n der BRD ein „Überressort" an, dem sich alle anderen Ressorts unterzuordnen hätten. Einem solchen zeitweilig vielleicht nicht unbegründeten Verdacht hat das Raumordnungsgesetz des Bundes, dessen K e r n i n allgemeinen „Grundsätzen" besteht, und haben die i n allen Bundesländern erlassenen Landesplanungsgesetze, die fast durchweg reine Verfahrensgesetze sind, den Boden entzogen 7 . So wenig nun die Bedeutung der unmittelbar auf die Ordnung i m Raum ausgerichteten Gesetzgebung zu unterschätzen ist, so haben doch schon die Hinweise auf die Disharmonien i n der gebietlichen Gliederung der BRD erkennen lassen, daß der Rechtsboden der Raumplanung nicht einschichtig ist. I n sich mehrschichtig sind auch ihre unmittelbaren Rechtsgrundlagen, die sich keineswegs i n den soeben genannten Bundes- und Landesgesetzen erschöpfen. U m die Darstellung soweit vertretbar zu vereinfachen, gehen w i r auf die keineswegs unwichtigen sog. Raumordnungsklauseln gar nicht ein, die i n eine Reihe von fachlichen Bundes- und Landesgesetzen eingefügt sind 8 . Einbeziehen müssen w i r aber das Bundesbaugesetz; denn es enthält sehr viel mehr als eine Raumordnungsklausel. Dieses Gesetz ist i n unseren Zusammenhang richtig eingeordnet, wenn w i r die Raumplanung i n der BRD „von unten nach oben" aufgestuft gliedern i n — — — —

die die die die

Bauleitplanung der Gemeinden, Regionalplanung als unterste Stufe überörtlicher Planung, Landesplanung und Bundesraumordnung.

Rechtsgrundlage der Bauleitplanung ist das Bundesbaugesetz (BBauG), dessen § 2 Abs. 1 lautet: „Die Bauleitpläne sind von den Gemeinden i n eigener Verantwortung aufzustellen, sobald u n d soweit es erforderlich ist."

Das BBauG unterscheidet (§ 1 Abs. 2) den „Flächennutzungsplan" als vorbereitenden und den „Bebauungsplan" als verbindlichen Bauleitplan. Der Begriff „verbindlich" meint hier die Rechtsverbindlichkeit für jedermann, also auch für den einzelnen Bürger, der bauen w i l l ; demgegenüber hat der Flächennutzungsplan nur innerhalb des öffentlichen Bereichs eine gewisse bindende Wirkung (§ 7): 7 Genaue Auskunft hierüber gibt das Buch von Niemeier-Müller: Raumplanung als Verwaltungsaufgabe, Hannover 1964. 8 Aus dem Bundesbereich seien wenigstens genannt: § 6 Abs. 2 u n d § 30 Abs. 2 Luftverkehrsgesetz; § 1 Abs. 2 Schutzbereichsgesetz; § 1 Abs. 2 L a n d beschaffungsgesetz; § 36 Wasserhaushaltsgesetz; § 37 Flurbereinigungsgesetz.

400

Hermann B r g e l m a n n

„Öffentliche Planungsträger, die nach § 2 Abs. 5 beteiligt sind, haben ihre Planungen dem Flächennutzungsplan insoweit anzupassen, als sie diesem Plan nicht widersprochen haben."

Der angezogene § 2 Abs. 5 schreibt vor: „ B e i der Aufstellung von Bauleitplänen sollen die Behörden u n d die Stellen beteiligt werden, die Träger öffentlicher Belange sind."

Die Planungshoheit der Gemeinden ist weiter eingeschränkt formal durch den Vorbehalt der Genehmigung durch die „höhere Verwaltungsbehörde" (§§ 6 und 11), vor allem aber sachlich durch eine Reihe von Vorschriften, die z. T. i m BBauG selbst, z. T. i n den Landesplanungsgesetzen, z. T. i m Raumordnungsgesetz des Bundes zu finden sind. So hat die Achtung vor dem Rechtsprinzip der Eigenverantwortlichkeit aller Gemeinden den Bundesgesetzgeber erfreulicherweise nicht gehindert, schon i m BBauG zu fordern, — daß die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung u n d Landesplanung anzupassen sind (§ 1 Abs. 3); — daß benachbarte Gemeinden ihre Bauleitpläne aufeinander abstimmen (§ 2 Abs. 4) u n d unter gewissen Voraussetzungen gemeinsame Flächennutzungspläne aufstellen (§ 3).

Auch überzeugte Anhänger der kommunalen Selbstverwaltung haben eingeräumt, daß diese Vorschriften nicht ausreichen, um kommunaler Kirchturmspolitik vorzubeugen. Sie haben weitergehenden Begrenzungen nicht nur zugestimmt, sondern sie gefordert und an ihrer Entstehung aktiv und positiv mitgearbeitet. Solche Begrenzungen finden sich i n den Landesplanungsgesetzen, die w i r hier vernachlässigen, weil sie — nicht nur i n diesem Punkt — von überspitzt föderalistischer Uneinheitlichkeit und weil sie z. T. i n der Novellierung begriffen sind, so daß, was heute daraus referiert werden könnte, morgen schon überholt sein mag. A u f einige Grundzüge der Landesplanung gehen w i r am Ende dieses Abschnittes ein. — W i r überspringen zunächst auch die Stufe der Regionalplanung, weil ihre rechtliche Regelung bisher äußerst diffus ist. Bundeseinheitlich immerhin umrissen ist ihr rechtlicher Standort i m Raumordnungsgesetz, also erst seit 1965. Dort ist die oben zitierte, recht allgemeine Anpassungsvorschrift des BBauG wie folgt konkretisiert, übrigens i m wesentlichen auf Betreiben der kommunalen Spitzenverbände: § 1 Abs. 4 konstituiert das sog. Gegenstromprinzip: „Die Ordnung der E i n zelräume soll sich i n die Ordnung des Gesamtraumes einfügen. Die Ordnung des Gesamtraumes soll die Gegebenheiten u n d Erfordernisse seiner Einzelräume berücksichtigen." § 4 Abs. 5 schreibt neben allen anderen Planungsträgern ausdrücklich den Gemeinden vor, daß sie „ihre Planungen u n d Maßnahmen aufeinander u n d untereinander abzustimmen haben".

R e g i n a l p l a n u n g und Regionalforschung auf neuen Wegen

401

§ 5 Abs. 4 setzt, w e n n auch m i t Rücksicht auf den am Gesetz beteiligten Bundesrat mehrfach konditional eingeschränkt, den Rahmen f ü r die rechtliche Regelung der Regionalplanung: „Die Länder schaffen Rechtsgrundlagen für eine Regionalplanung, w e n n diese f ü r Teilräume des Landes geboten erscheint. Soweit die Regionalplanung nicht durch Zusammenschlüsse von Gemeinden u n d Gemeindeverbänden zu regionalen Planungsgemeinschaften erfolgt, sind die Gemeinden u n d Gemeindeverbände oder deren Zusammenschlüsse i n einem förmlichen Verfahren zu beteiligen; das Nähere w i r d durch Landesrecht bestimmt. Ist eine Regionalplanung über die Grenzen eines Landes erforderlich, so treffen die beteiligten Länder die notwendigen Maßnahmen i m gegenseitigen Einvernehmen."

Die besondere rechtliche Problematik der Regionalplanung, die sich mittelbar schon angesichts der bisher zitierten bundesgesetzlichen Vorschriften aufdrängt, läßt sich nur aus der zwiefachen Sicht von der Bundesraumordnung und der Landesplanung einigermaßen artikulieren. Die geläufige Unterscheidung mancher Planungspraktiker, daß Raumordnung i m Bereich des Bundes, Landesplanung i m Bereich eines Landes vollzogen werden, während Regionalplanung eigene Sache der kommunalen Gebietskörperschaften lediglich unter Aufsicht des jeweiligen Landes sei — diese Unterscheidung ist nach dem heutigen Stand nicht nur rechtlich, sondern auch praktisch fragwürdig. Wenn nämlich i n einem Gebiet die Verhältnisse nach Regionalplanung rufen, weil sich — etwa durch die Verdichtung von Wirtschaft, Bevölkerung und Verkehr — Probleme von weittragender Bedeutung nurmehr überörtlich lösen lassen, und wenn dann i n einem solchen Gebiet die notwendige Einsicht und Bereitschaft zum kollektiven Handeln von ortsbürgerlicher Zaghaftigkeit oder lokalem Egoismus oder anderen oft emotional bedingten Motiven überwogen werden: dann hilft nur noch der staatliche Eingriff weiter. Die Hebel dazu bietet allgemein die Konstruktion des Verhältnisses zwischen Staat und Gemeinde mit ihrer komplexen Mischung von weisungsgebundener Auftragsverwaltung und Selbstverwaltung, von rechtlicher und fachlicher Staatsaufsicht. I m besonderen und, wie schon angedeutet, von Land zu Land abweichend, ist diese Zugriffsmöglichkeit durch die Landesplanungsgesetze ergänzt. Sie enthalten i n verschiedenen Formen Vorschriften dafür, daß und wie „auf regionaler Ebene" geplant werden darf und soll; aber sie lassen auch klar erkennen, daß die Regionalplanung rechtlich als Glied der Landesplanung eingeordnet ist 9 . So definiert auch der Ministerialkommentar zum Raumordnungsgesetz 10 Regionalplanung schlicht als „Landesplanung für solche Teilräume eines Landes, die als Raumeinheiten anzu9 Das 1967 i n der Novellierung begriffene Bayerische Landesplanungsgesetz v o m 21.12.1957 kennt nicht einmal den Begriff der Regionalplanung; es nennt lediglich die staatlichen Bezirksplanungsstellen, die bei den Regierungspräsidenten domiziliert sind. 10 Zinkahn-Bielenberg: Raumordnungsgesetz des Bundes, B e r l i n 1965 (S. 12).

26 Festgabe für Gert von Eynern

402

Hermann Briigelmann

sehen sind". Daß dies die allzusehr vereinfachende Usurpation eines rechtlichen Vacuums ist, beweisen die bereits bestehenden sondergesetzlichen Verbände (Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk seit 1920 — SVR und Großraum Hannover-Verband seit 1962 — GHV), die der Staat — kommunaler Initiative folgend — geschaffen hat und die als Modelle Schule machen dürften; denn sie sind ein Beweis dafür, daß die Landesgesetzgeber auf dem Wege sind, das rechtliche Vacuum zu erkennen und auf vernünftige A r t auszufüllen. Wenn w i r die bestehenden sondergesetzlichen Verbände „Modelle" nannten, so heißt das nicht, daß sie als vollkommen anzuerkennen wären, wohl aber, daß es der Regionalplanung starken Auftrieb gäbe, wenn die Übertragung von Exekutivbefugnissen auf die Verbände durch den Staat einerseits, durch die Gemeinden andererseits Schule machte. Noch schwerer als der Staat entschließen sich oft die Gemeinden, Kompetenzen an übergeordnete Kommunalverbände abzutreten. I m m e r h i n w a r u n d ist der SVR an der Festsetzung früher der Fluchtlinien-, heute der Bebauungspläne i n den i h m angeschlossenen Gemeinden beteiligt, u n d er k a n n f ü r Durchgangs- u n d Ausfallstraßen, f ü r die Abgrenzung u n d Gestaltung von Grüngebieten, f ü r Verkehrsbänder u n d Flughäfen Bebauungspläne selbst festsetzen. Die Befugnisse des G H V gehen noch manches Stück weiter, w e n n auch i m Blick auf die künftige Gestaltung des Raumes nicht w e i t genug. So hat nach dem Gesetz zur Ordnung des Großraums Hannover (GrRG) v o m 14. 12. 1962 der Verband „als Grundlage f ü r die E r f ü l l u n g seiner Aufgaben einen V e r bandsplan aufzustellen" u n d „ i n eigener Verantwortung Grundsätze f ü r die Nutzung des Bodens festzulegen". Demnach ist die Regionalplanung nicht Inhalt, sondern Grundlage der Tätigkeit des Verbandes, u n d sie gehört zu seinem sog. eigenen Wirkungskreis; dabei ist er selbstverständlich an die übergeordnete Planung des Landes u n d über diese an die materiellen G r u n d sätze des Bundesraumordnungsgesetzes gebunden. Ferner erfüllt er neben Aufgaben des eigenen solche des übertragenen Wirkungskreises. Wesentlich aber ist, daß der Verbandsplan verbindliches Recht f ü r alle 210 Gemeinden schafft, die dem G H V nebst 4 Landkreisen angeschlossen sind u n d die zwar n u r 4,6 °/o der Fläche, aber 14,5 °/o der Wohnbevölkerung u n d 20 °/o der Beschäftigten des ganzen Landes Niedersachsen umfassen.

Sehr viel schwächer als die beiden skizzierten Modelle sind die nicht sondergesetzlichen regionalen Planungsverbände und -gemeinschaften konstruiert. So tief wie die K l u f t zwischen den Formen, so bunt ist das Mosaik der durch freien Zusammenschluß von Gemeinden entstandenen Planungsinstitutionen. Gemeinsam ist diesen der entscheidende Mangel, daß ihre Exekutivbefugnisse gleich N u l l sind: Sie dürfen planen, aber nicht handeln. Als Beispiel sei die i n diesem schwachen Rahmen bemerkenswert durchorganisierte und i n den selbstgesteckten Grenzen immerh i n — wenn auch vor allem mittelbar — handlungsfähige Planungsgemeinschaft Breisgau genannt, die 1958 von der Stadt Freiburg und

Regioinalplanung und Regionalforschung auf neuen Wegen

403

den Landkreisen Freiburg u n d Emmendingen auf vertraglicher G r u n d lage i n s L e b e n g e r u f e n w u r d e 1 1 . F ü r diese Planungsgemeinschaft ist charakteristisch, daß sich von den 135 angeschlossenen kreisangehörigen Gemeinden bis Ende 1966 bereits 67 zu zwölf Zweckverbänden zusammengeschlossen hatten, f ü r die die Planungsgemeinschaft als überaus aktiver Dachverband tätig ist. Satzungsmäßige Aufgaben dieser kleinen Zweckverbände ist es, für die jeweiligen Mitgliedsgemeinden gemeinsam Flächennutzungspläne zu erarbeiten, darüber hinaus i m Einvernehmen m i t ihnen (Kann-Vorschrift) bzw. auf ihren A n t r a g (MußVorschrift) die Bebauungspläne aufzustellen u n d schließlich, w e n n bodenordnende Maßnahmen nach dem Bundesbaugesetz — Umlegung, Grenzregelung, Beantragung von Enteignungen — notwendig werden, diese derart durchzuführen, daß die m i t den Aufgaben u n d Maßnahmen verbundenen Rechte u n d Pflichten der Gemeinden auf den Verband übergehen. Die K o n struktion als Dachverband, der den einzelnen Zweckverbänden u n d Gemeinden w i r k s a m Hilfe leistet, ermöglicht es der Planungsgemeinschaft i n gewissem Maße, ihren Regionalplan zu verwirklichen u n d an die E n t w i c k l u n g anzupassen. Das B i l d v o n d e r R a u m o r d n u n g h e u t e i n d e r B R D w ä r e u n v o l l s t ä n dig, g ä b e n w i r n i c h t w e n i g s t e n s e i n i g e H i n w e i s e a u f d i e zwischen d e r B a u l e i t p l a n u n g d e r G e m e i n d e n u n d d e r R a u m o r d n u n g s p o l i t i k des B u n des d o m i z i l i e r t e L a n d e s p l a n u n g , die f o r m a l r e c h t l i c h auch f ü r d i e R e g i o n a l p l a n u n g z u s t ä n d i g ist. D e m Bundesverfassungsgericht f o l g e n d f ü h r e n Brenken-Schefer (a.a.O.) d r e i B e g r i f f s m e r k m a l e als f ü r d i e L a n d e s p l a n u n g typisch an: „Die Landesplanung ist überörtlich, w e i l sie nicht Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft . . . b e t r i f f t ; sie ist übergeordnet i m Sinne von überfachlich, da sie auf die Gesamtstruktur ausgerichtet ist u n d nicht vorwiegend die Belange eines oder einiger Fachressorts wahrzunehmen hat; sie ist zusammenfassend, da sie eine Gesamtkonzeption erarbeiten soll, i n der sich die Fachplanungen u n d die Ortsplanungen entfalten können." A n dieser m a t e r i e l l g e h a l t v o l l k l i n g e n d e n B e g r i f f s b e s t i m m u n g ist b e m e r k e n s w e r t , daß sie m i t A u s n a h m e d e r L e e r b e g r i f f e „ G e s a m t s t r u k t u r " u n d „Gesamtkonzeption" lediglich negative Abgrenzungen enthält. A l l e r d i n g s lassen d i e v o n L a n d z u L a n d e r h e b l i c h e n A b w e i c h u n g e n i n Z i e l e n , A u f g a b e n u n d V e r f a h r e n eine k o n s i s t e n t e r e D e f i n i t i o n , d i e a l l g e m e i n g ü l t i g w ä r e , g a r n i c h t zu. D i e anstehende N o v e l l i e r u n g e i n i g e r Landesplanungsgesetze w i r d h o f f e n t l i c h , d e n V o r s c h r i f t e n i n §§ 4 u n d 5 R O G folgend, e i n M i n d e s t m a ß a n E i n h e i t l i c h k e i t i n d e r A u f s t e l l u n g sog. P r o g r a m m e u n d Pläne, i m Z w a n g z u r A b s t i m m u n g r a u m b e d e u t samer E i n z e l p l a n u n g e n u n d n a m e n t l i c h i n d e r R e g e l u n g d e r R e g i o n a l 11 Aufgaben u n d Funktionen, Rechte u n d Pflichten des G H V sind ebenso w i e diejenigen der anschließend skizzierten Planungsgemeinschaft Breisgau i m einzelnen dargestellt i n Brügelmann-Asmuß-Cholewa-v. d. Heide: R a u m ordnungsgesetz (Raumordnung-Landesplanung-Regionalplanung), Stuttgart 1965 ff. (Teil F).

2*

Hermann B r g e l m a n n

404

Planung bringen. Wie locker nur der Bund hierfür den Rahmen hat stecken können, läßt sich an dem oben zitierten § 5 Abs. 4 ROG ablesen. Würde von kommunaler Seite der heute bestehende Spielraum mutig und tatkräftig genützt, so gerieten die Länder i n einen heilsamen Zugzwang. Die Erfahrung lehrt freilich, daß hier allzu hochgespannte Erwartungen damit rechnen müssen, enttäuscht zu werden, es sei denn, die um sich greifende Diskussion über die Gebietsreform gäbe auch einer Institutionalisierung der Regionalplanung Impulse i m Sinne einer vernünftig abgewogenen Zusammenarbeit von Staat und Selbstverwaltung. Lediglich der Vollständigkeit halber sei referiert, daß der Landtag von Rheinland-Pfalz i m Frühjahr 1967 ein „Gesetz über die Einteilung des Landes i n Regionen" verabschiedet hat, das das Land einteilt i n die 9 Regionen Westerwald, Mittelrhein, Westeifel, Mosel-Saar, Nahe, Rheinhessen, Vorderpfalz, Westpfalz, Südpfalz. Damit hat zum ersten Mal ein Land der BRD Regionen gesetzlich bestimmt. Praktische Erfahrungen aus dieser Maßnahme werden frühestens nach einigen Jahren vorliegen.

I I . Realitäten und Vorurteile

1. Streiflichter

auf strukturelle

Veränderungen

War i n den Epochen ökonomischen Stillstandes oder doch geringer, kaum merklicher Veränderungen und unbeweglicher hierarchischer Ordnungen die Obsorge „von oben" für den Bürger fast ausschließlich darauf gerichtet, das zu wahren, was man Sicherheit nannte, also dafür zu sorgen, daß alles möglichst so blieb wie es einmal war, so hat sich eben dies von Grund auf geändert. Zwar ist für den Staat noch immer wichtig, was i n dem Zeitpunkt, was i n der Periode wirksam ist, da er w i r k t . Aber was gestern war, ist heute nicht mehr so — dies verlangt schon Anpassung — und es w i r d erst recht morgen nicht mehr so sein — das verlangt vorausschauendes Handeln, es verlangt Prognose und Planung.

R e g i n a l p l a n u n g und Regionalforschung auf neuen Wegen

405

Gewandelt haben sich und i n ständigem Wandel begriffen sind mit der technisierten Wirtschaft und dem technisierten Alltag die zum Bewußtsein ihrer selbst gelangte Gesellschaft und die Inhalte wie die Formen sozialer Beziehungen. Dem Wandel der Wirtschaftsgesellschaft folgt, stets i n Phasenverschiebung, aber doch unablässig, „der Staat", hier i n Anführungszeichen gesetzt, um mit dem einen Begriff jegliche A r t öffentlichen Einflusses zu decken; denn öffentliche Machtausübung w i r k t ja nicht bloß unmittelbar vom Bund und von den Ländern, auch nicht nur von den Gemeinden und Gemeindeverbänden, sondern i n unendlich vielfältigen Formen und vielfach mittelbar, aber deshalb nicht weniger zwingend. Man bedenke etwa den nicht geringen Anteil, den private Unternehmen an der Energieversorgung haben: sie sind i n fast jedem Schritt, den sie tun, an das Energiewirtschaftsgesetz und an das Kartellgesetz gebunden, damit also „öffentlich gebundene" Unternehmen, da sie der Staatsaufsicht unterliegen. (Hier sei angemerkt, daß w i r den Begriff des öffentlich gebundenen Unternehmens Gert v. Eynern verdanken 12 ). Längst ist aus dem Obrigkeits- und Polizeistaat der Staat der Daseinsvorsorge geworden, und aus diesem wiederum entwickelt sich zur Zeit und i n die Zukunft hinein der (Dienst-)Leistungsstaat. Wie ungleichmäßig, m i t mancherlei Phasenverschiebung, und daher wie unvollkommen diese Entwicklung sich auch und gerade i n der Raumordnungspolitik vollzieht, dafür mögen als Anhaltspunkte einige Erinnerungen an die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg herhalten, als der deutsche Raum enger geworden war als je zuvor; sie illustrieren die raumbedingten Aufgaben, vor denen w i r heute noch stehen. Von der Entwicklung der Wirtschaft ist i n diesem Band an anderer Stelle die Rede, so daß hier Hinweise auf solche Fakten genügen, die den Menschen als Subjekt des Raumes und als Objekt der Raumordnungspolitik unmittelbar berühren: die Strukturwandlung durch die Abnahme der primären Arbeitsplätze i n der Landwirtschaft und i m Bergbau, ihre Ablösung durch sekundäre Arbeitsplätze zunächst i n allen, dann i n den Wachstums-Industrien, und deren Ablösung wiederum einerseits durch die rasch um sich greifende Substituierung herkömmlicher Energieformen und durch die ebenso rasch an Bedeutung gewinnenden Instrumente der Automation, andererseits durch den Bedarf an tertiären Arbeitsleistungen aller A r t und i m weitesten Sinne des Wortes, also bis zum Lehrer und Arzt. Was hier i n einem Satz zusammengefaßt ist, darf man m i t Einschluß der durch Kriegsfolgen und technisch-wirtschaftlichen Fortschritt veränderten Standortbedingungen nach Edgar Salin als eine neue Etappe 12 Gert v. Eynern: Das öffentlich gebundene Unternehmen, i n : Archiv f ü r öffentliche u n d freigemeinwirtschaftliche Unternehmen, Band 4 (1958, Heft l)t

406

Hermann B r g e l m a n n

der industriellen Revolution bezeichnen. M i t ihr zusammen fielen — zunächst nur punktuell wirtschafts- oder bevölkerungspolitisch gesehen — die drei nachkriegsbedingten großen Wanderungswellen, nämlich 1. die ungesteuerte Umsiedlung der ersten Nachkriegs jähre, die sich hauptsächlich i n die Grenzländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern ergoß; 2. die von B u n d u n d Ländern m i t finanzwirtschaftlichen Anreizen f ü r die Aufnahmegebiete gesteuerte Umsiedlung der ersten fünfziger Jahre, die die zugewanderten Bevölkerungsmassen einigermaßen gleichmäßig auf alle L ä n der zu verteilen suchte; 3. die m i t der zweiten Welle schon parallel laufende, zugleich sie fortsetzende, s t r u k t u r e l l gesehen jedoch eigenständige dritte Welle, die spontan dem Bedarf an Arbeitskräften folgte u n d den Ausgleich verbesserte, ohne bis heute zu einer w i r k l i c h e n Konsolidierung zu führen. Als eine vierte Welle ist das durch die Rezession unterbrochene, k a u m auf die Dauer abgebrochene Hereinströmen ausländischer Gastarbeiter zunächst n u r aus Europa, dann mehr u n d mehr auch aus anderen Erdteilen zu buchen, das nicht n u r den Arbeits- u n d Wohnungsmarkt, sondern durch das Nachziehen von Familien das gesamte öffentliche Leben berührt.

Die Bevölkerungspyramide der BRD, und was sich aus ihr ergibt, kennt jeder Nationalökonom und Soziologe; sie darf daher hier vernachlässigt werden. Die vier großen Wanderungsbewegungen sind rasch i n Vergessenheit geraten, obwohl sie für die Gebietskörperschaften bis herab zur einzelnen Stadt und Gemeinde tiefgreifende Folgen gezeitigt und die regionalen Welten, i n denen die einzelnen Menschen beheimatet waren, neu beheimatet wurden und sich ständig neu beheimateten, und ihre Lebensbedingungen objektiv wie i m subjektiven Aspekt verändert haben. Dieses Geschehen als interdependentes Gegenstück zum technisch-wirtschaftlichen Strukturwandel und zum wachsenden Wohlstand hat die Verhaltensweisen der Menschen nicht unberührt gelassen. Stichworte wie Zwang und Bereitschaft zur räumlichen wie zur beruflich-betrieblichen Mobilität sind von ihrer früher peripheren zu heute zentraler Bedeutung gelangt; sie deuten an, was sich hier i n hohem Maße „raumrelevant" vollzieht und was staats- und kommunalpolitisch, was gerade auch regionalpolitisch noch keineswegs bewältigt ist. Vergessen w i r nicht, daß der Wohlstand Bedürfnisse weckt und ihre Befriedigung ermöglicht, die — mögen ihre Grenzen zwischen Notwendigkeit und Prestige wo auch immer verlaufen — ihrerseits raumbedeutsam sind: Dem Kühlschrank und der Waschmaschine (mehr Wohnraum!) folgte das Auto (mehr Raum für den fließenden und ruhenden Verkehr!), und i h m folgt zur Zeit der Wunsch nach der besseren, größeren Wohnung bis h i n zum „Wohnen i m Grünen" und schließlich zur Zweitwohnung auf Zeit oder auf Dauer (neues Ausufern der Städte und „Zersiedlung" der Landschaft!). Wachsender Raumbedarf ist auch ein wesentlicher Faktor i n der W i r t schaft i m weitesten Sinne dieses Begriffs geworden. A u f der Linie des

R e g i n a l p l a n u n g und Regionalforschung auf neuen Wegen

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über die Wanderungswellen Gesagten liegt die Klarstellung, daß selbst dort, wo mit staatlicher Förderung gegengesteuert wurde, die Industrieansiedlung dem Angebot an Arbeitskräften nur überaus zögerlich gefolgt ist. Der durch ö l - , Gas- und Stromleitungen erleichterte Trend nach Südwest- und Süddeutschland hat bis i n die jüngsten Jahre hinein die Anziehungskraft der traditionellen Industriegebiete kaum geschwächt. Nicht „Industrie aufs Land" — eine noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg nachdrücklich verfochtene Parole — kennzeichnet die Entwicklung, sondern eine gleichmäßigere Verteilung der Investitions- und Konsumgüterindustrien über das gesamte Bundesgebiet. Der Industrie aber folgen, m i t unverkennbarer Neigung, sich i n Zentralen Orten anzusiedeln, die Träger der Dienstleistungen. I n welchem Maße das Wachstum der Wirtschaft i n der Gesamtentwicklung unserer Gesellschaft dominiert, läßt sich wohl nirgends deutlicher ablesen als an der Bevölkerungsstatistik. Eine grobe Vorstellung von dem, was sich allein i n den drei ersten Umsiedlungswellen vollzogen hat, vermitteln die Absolut- und Relativzahlen der Zahlentafeln 2 und 3, die aus der bundesamtlichen Statistik abgezogen sind 1 3 ; sie klafften noch um einige Grade schärfer auseinander, wären Vergleichszahlen aus der Zeit unmittelbar nach A p r i l 1945 einzusetzen: Zahlentafel 2 Phasenverschiebung i m Wachstum der Wohnbevölkerung Zahl Fläche Wohnbevölkerung der Gein i n 1000 Einwohner meinden 1000 k m 2 31.12.60 13.9.50 17.5.39

in 1. Stadtregionen 1 4 2. Gemeinden außerhalb der Stadtreg. 3. Bundesgebiet (ohne Berlin)

je km2 1960

2 382

29,4

26 573

21 634

20 269

904

22 113

218,6

27 183

27 007

19 979

124

24 495

248,0

53 756

48 641

40 248

208

Zahlentafel 3 Veränderung der Wohnbevölkerung in °/e 1 9 6 0 gegen 50 gegen 39 1. Stadtregionen 2. Gemeinden außerhalb der Stadtregionen 3. Bundesgebiet (ohne Berlin)

+ 31,1 +36,1 +33,6

+ 22,8 + 0,7 + 10,7

1950 gegen 39 + 6,1 + 40,0 + 20,4

13 Quelle: Statistische Kennziffern der Stadtregionen i n der BRD, J u n i 1961, Bundesamt für Statistik. 14 Z u m Begriff der „Stadtregion" vgl. Olaf Boustedt: Stadtregionen i n der BRD, Bremen 1960; ferner v o m selben Verf. u. a.: Die E n t w i c k l u n g deutscher

408

Hermann B r g e l m a n n

Die Zahlentafeln 2 und 3 verdienen Aufmerksamkeit nicht bloß wegen ihres materiellen Gehaltes, sondern wegen der Mißdeutung, zu dem sich deutsche Raumordner durch Beschränkung auf den Vergleich 1960 zu 1950 — also ohne Beiziehung des Vergleichs jähr es 1939 — jahrelang haben verleiten lassen 143 . Indem sie wie hypnotisiert auf die BevölkerungsVerschiebung nur i m jüngeren Jahrzehnt starrten, entstand für sie das Schreckgespenst rapider Ballung, während sich tatsächlich in diesem Jahrzehnt nur das wieder, und nicht einmal voll, ausbalancierte, was von 1939 bis 1950, und namentlich seit 1945 aus den Fugen geraten war; wie sehr aus den Fugen, zeigt das Beispiel der Stadt Köln, wo i m Frühjahr 1945 nur noch rd. 50 000 Einwohner lebten. Tatsächlich hat, schon bevor die Theorie und Praxis der sog. Zentralen Orte staatspolitisch wirksam wurde, ein relativer Entballungsprozeß eingesetzt. Zwar nimmt die Einwohnerschaft vieler Kleinstgemeinden mit ausschließlicher oder überwiegender Agrarbevölkerung ab, aber wesentlich stärker als die Einwohnerschaft der meisten Großstädte m i t ihren Einzugsgebieten wächst diejenige der meisten Mittel- und Kleinstädte (Zahlentafel 4). Das ist ein Trend, für den — wenn irgendwo — der viel mißbrauchte Begriff „gesunder" Entwicklung am Platze ist. Diese Verlagerung ist Ergebnis eines komplexen Prozesses. I n der Landwirtschaft der BRD ist von 1949 bis 1965 die Zahl der Betriebe mit weniger als 10 ha von rd. 1,6 Mill. auf 1 Mill. zurückgegangen. Das hat — zusammen m i t Flurbereinigung und Mechanisierung — die Zahl der i n der Landwirtschaft Beschäftigten stark verringert. Dem stehen i n der übrigen Wirtschaft als Hauptfaktoren gegenüber ein Schwanken zwischen lokaler Konzentration und Dekonzentration vieler Industriebetriebe und das Anwachsen des Pendlerwesens. (Wir vermeiden den Begriff der Pendelwanderung, weil „Wanderung" Mobilität impliziert, während „Pendeln" i. a. ein Zeichen für das Festhalten entweder am Arbeitsplatz oder am Wohnsitz ist, also ein Indiz für Immobilität.) Zusammengenommen spiegeln die Daten der drei Zahlentafeln 2 bis 4 i n vereinfachter Form eine Gesamtproblematik wider, vor der die Regionalplanung i m engeren wie i m weiteren Sinne stand und steht und der sie — das können w i r nur hoffen — eines Tages gewachsen sein wird, und zwar sowohl, was die erforderlichen Erkenntnisse, wie was die Befugnis zur Exekutive betrifft. Heute bestreitet niemand mehr, Stadtregionen 1939—1960 i n : Archiv f ü r Kommunalwissenschaften, 1962, Zweiter Halbjahresband (S. 179 ff.). Neuere Zahlen als diejenigen aus der Volkszählung von 1961 sind hier nicht verwandt, w e i l das, worauf es ankommt, i m Vergleich 1960/1950/1939 am schärfsten i n Erscheinung t r i t t . i4a Erfreulicherweise hat der Bundesinnenminister solche Fehldeutungen i n dem studierenswerten „Raumordnungsbericht 1966" (BT-Drucksache V/1155) von A m t s wegen korrigiert.

4

24 501

50 799,0

18,1

24 503

284 56 174,9

27 899,7

Gden

24105

30 330,0

30,6

31,3

24 411

306

59 675,8

29 345,8

249 9 759,9 80,1 19,4 10 673,1 27,6

30,0

20,1

Einw.

38,8

38,1

39,4

geg. 39

15 Das Material zur Zahlentafel 4 verdankt Verf. Dr. Buhrow, Deutscher Städtetag. — Quelle: Bundesamt für Statistik, Fachiserie A, Jg. 1961, Heft 3 [S. 44] und Reihe 1 III sowie amtl. Auskunft.

Obwohl Zahlentafel 4 im Sinne statistischer Akribie nicht exakt ist (mit den Einwohnerzahlen der einzelnen Gemeinden ändert sich ständig bei einem Teil von ihnen auch die Zuteilung zu den Größenklassen), gibt sie besonders plastisch wieder, worauf es uns ankommt: Von 1939 bis 1966 hat sich die Zahl der Kleinstädte (5—20 000 Einw.) und Mittelstädte (20—100 000 Einw.) nahezu verdoppelt — und zwar zu Lasten der kleinen Gemeinden — und im gleichen Maßstab ist die Bevölkerung angewachsen. — Die Aufgliederung in 2 Gruppen ist so vorgenommen, damit erkennbar wird: 1950 lag die Bevölkerungszunahme vor allem bei den kleinen und mittleren Gemeinden; bis 1961 hatte sich das i. w. wieder ausgependelt, und 1966 ist das Bild ähnlich; stärker haben sich die Gemeinden von 20 bis 100 000 Einw. entwickelt; doch ist auch hier seit 1961 Beruhigung eingetreten: 1939 1961 1966 Anteil der Gemeinden bis 20 000 Einw. an der Gesamtbevölkerung (°/o) 50,6 50,3 50,8 Anteil der Gemeinden mit 20—100 000 Einw. an der Gesamtbevölkerung (%) 12,6 16,2 16,4

42 998,3

22 261,0

24 709

233

Insgesamt

21247,9

4,8

28 275,2

178

24 219

geg. 39

17,2 22 918 19 703,8 1 187 10 626,2 98,6

über 20 000

35,8

23 195 19 222,4 9 052,8 69,2

231 9 099,4 67,7 7 844,6 5,0 46 8 912,8 12 10 955,7 30,9 11

28 538,0

25,8 1024

20—100 000 135 5 418,4 185 7 068,2 30,4 100—500 000 35 7 464,1 40 7 868,0 5,4 41 500 000 und mehr 8 8 365,4 8 7 324,8 ./.12,4

24 268

24 531

bis 20 000

21750,4

23 921 16 397,4 23 370 20 626,9 610 5 353,0 898 7 911,1 47,9

1939 1950 1961 1966 1000 1000 ± °/o 1000 ± °/o 1000 ± °/o Gden Einw. Gden Einw. geg. 39 Gden Einw.

bis 5 000 5— 20 000

Gemeindegroßenklassen

Zahlentafel

Wohnbevölkerung im Bundesgebiet (einschl. West-Berlin)15 — jeweiliger Gebietsstand und jeweilige Größenklasse der Gemeinden — R e g i n a l p l a n u n g und Regionalforschung auf neuen Wegen 409

410

Hermann B r g e l m a n n

daß die großen und mittleren Städte Schwerpunkte der Umsätze, der Arbeitsplätze und des Verkehrs bleiben werden; denn auch Standortverlagerungen von Industriebetrieben, die ihre Ursache heute oft i m Mangel an Raum für die modernen eingeschossigen Fabrikhallen haben, werden durch die stetig wachsende Bedeutung der Dienstleistungen über kompensiert, die, je weiter sie sich differenzieren, um so mehr auf die große, vielfach die sehr große Stadt als Standort angewiesen sind. Daraus ergibt sich noch nicht, daß der statistisch-wissenschaftliche Begriff der „Stadtregion" generell m i t der Abgrenzung der jeweiligen Planungsregion deckungsgleich wäre. Wohl aber ist die mit öffentlichen und privaten Einrichtungen aller A r t reich bestückte große Stadt der klassische „Zentrale Ort" einer Region. Die Rolle, die den Zentralen Orten i n der fachlichen und politischen Diskussion zufällt, ist neu akzentuiert worden durch eine Denkschrift, m i t der die Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände 1966 eine für Theorie und Praxis gleichermaßen brauchbare Gliederung dieser Kategorie vorgeschlagen hat; die Gliederung schließt sich den grundlegenden wissenschaftlichen Vorarbeiten von Christaller und Isbary an: — Mittelpunktgemeinden (Kernsiedlungen), — kleinere zentrale Städte (Unterzentren), — mittlere zentrale Städte (Mittelzentren), — Großstädte.

Z u dieser Gliederung hat Werner Bockelmann gesagt 16 : „Bis auf die an erster Stelle genannte Gruppe, f ü r die m i t Einschluß des sog. Einzugsgebietes eine durchschnittliche Einwohnerzahl von zusammen 8000 Einwohnern angenommen w i r d , ist durchweg von Städten die Rede. Das ist k e i n Zufall, denn i m Grunde ist zentraler Ort nichts anderes als die wissenschaftlich abstrahierende Bestimmung des uralten Begriffes »Stadt 4 ."

Richtig verstanden ist die Stadt immer noch der M a r k t für den Nahund Fernbereich, nur daß zu dem Handel, der an Bedeutung gewiß nicht verloren hat, das heute nicht minder bedeutsame Angebot an Schulund Krankenhausplätzen, an kulturellen Gütern und Dienstleistungen aller A r t getreten ist. Bei alledem schafft das wachsende Bedürnis nach Bildung, Ausbildung, Fortbildung die entsprechende Nachfrage. Die Hauptproblematik bei der Fixierung und Entwicklung der sog. Zentralen Orte liegt auf der Seite des Angebots: Von der Infrastruktur i m weitesten Sinne des Wortes hängt z. B. die Bereitschaft des Ingenieurs und des Kaufmanns, des Rechtsanwaltes und des Arztes, des gehobenen 18

Werner Bockelmann: Die Stadt i m R a u m u n d i n der Zeit, i n : Heft 1/1967 der Zeitschrift „ R a u m u n d Siedlung", Stuttgart-Köln.

R e g i n a l p l a n u n g und Regionalforschung auf neuen Wegen

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Angestellten und des Facharbeiters ab, einen Job i n der Kleinstadt anzunehmen. Diese Bereitschaft setzt i n der Regel mehr als eine Realschule, oft mehr als eine nur einzügige Oberschule voraus — ein Beispiel für viele; ein Beispiel auch für den sog. Fernbedarf, der nach gängiger Meinung außerhalb der 20 km-Grenze liegt. I n manchen „Bedarfsbereichen" hat sich diese Grenze zweifellos längst viel weiter nach außen geschoben. Hochschulen etwa pflegen m i t dem hohen Ausländeranteil ihrer Studenten zu paradieren; schauen w i r genau hin, so zeigt sich, daß die ganz überwiegende Mehrzahl aus der Stadt selbst und einem weitgestreckten Einzugsbereich stammt, wobei Eisenbahn- (oder PKW-)Anfahrten von mehr als einstündiger Dauer heute nicht mehr abzuschrecken pflegen. Eben dies gehört auch zu den typischen, vom Individuellen immer mehr ins Kollektive sich verkehrenden Erscheinungen des Pendlerwesens, dessen Gewicht innerhalb der Stadt nicht geringer ist als i m 'Außenverkehr. Hillebrecht kennzeichnet als Phasen des Strukturwandels „die Auflösung der Identität von Arbeitsplatz und Wohnplatz" und „die volle Wirksamkeit aller Verkehrsmittel für den Berufsweg". W i r haben das Pendeln nicht als Unglück der Beteiligten zu werten, sondern als zeittypisches Faktum anzunehmen: Der Wunsch, den Arbeitsplatz m i t rascher Varietät der Aufstiegsmöglichkeiten i n der großen Stadt und dem Wohnsitz „ i m Grünen" zu koppeln, hat sich m i t erstaunlicher Schnelligkeit ausgebreitet. Die Andeutungen mögen genügen, um darzutun, daß die „Stadtregion" mehr als ein statistischer, daß sie ein zwingender ökologischer und soziologischer Begriff ist, der es unseren Stadtplanern auferlegt — ob sie selbst, ob die vom Sog miterfaßten Gemeinden und Landkreise, ob die Landesplaner es wollen und gutheißen oder nicht — Regionalplanung zu betreiben und sich dafür auf Regionalforschung zu stützen. M i t der zentripetalen Tendenz überschneidet sich die zentrifugale 17 . Die beiden zuletzt genannten Begriffe deuten die Rolle, die der Verkehr, namentlich der Nahverkehr, i n der Regionalplanung spielen muß, wenigstens an. I h n und andere nicht zu erörtern, ist ein Mangel dieses Beitrages, der allein dadurch gerechtfertigt erscheint, daß hier nicht Vollständigkeit, sondern Exemplifizierung angestrebt wird, für die die Entwicklung der Bevölkerung das sinnfälligste Objekt ist. 17 Aus der breit aufgelaufenen L i t e r a t u r über die Probleme der Stadt u n d ihrer Region seien hier n u r angeführt: Hans Paul B a h r d t : Die moderne Großstadt — Soziologische Überlegungen zum Städtebau, rde Nr. 127. — Rudolf Hillebrecht u n d Klaus M ü l l e r - I b o l d : Städte verändern i h r Gesicht, Stuttgart 1962.

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2. Maßnahmen, Ansätze, Fehlleistungen Bundestag und Bundesregierung haben erst spät ihre Meinung über Bedeutung, Sinn und Standort der Raumordnung m i t Einschluß der Stadt- und Regionalplanung soweit geklärt, daß Länder und Gemeinden einigermaßen wissen, woran sie von Bundes wegen sind. Lange Zeit fand die Raumordnung bei der Bundesregierung keine rechte Heimat. Zunächst Stiefkind der Innenminister, ging sie auf den Wohnungsbauminister über, als dieses Ressort 1961 zum zweiten Male Paul Lücke übertragen wurde, und dieser nahm es wieder m i t sich, als er 1965 i n das Innenministerium einzog. Der Einfluß des für die Raumordnung zuständigen Bundesministers hängt selbst nach Klarstellung seiner Zuständigkeiten durch das Raumordnungsgesetz mindestens ebensosehr von seiner Persönlichkeit — d. h. aber: von seinem Interesse und seiner Durchsetzungskraft — ab wie von seinen Rechten. Die Abstimmung und Koordination raumbedeutsamer Maßnahmen, ja schon die Bereitschaft dazu, ist zwischen den Bundesministerien kaum leichter zu erzielen als i m Verhältnis der Länder zum Bund und untereinander. Hierdurch entstehende Fehlleistungen sind freilich schwer nachzuweisen, weil sie fast stets erst nach Jahren, nicht selten nach Jahrzehnten i n Erscheinung treten und selbst dann schwer auf diese oder jene Maßnahme bzw. Unterlassung zurückzuführen sind. Ein Beispiel war der Versuch, die Umsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu steuern, der durch die dritte Wanderungswelle spontan korrigiert wurde: Die Menschen gingen dorthin, wo sie Arbeit fanden. Ähnliche Ressortprobleme wie beim Bund gab es bei den meisten Ländern. Schon die Tatsache, daß die Landesplanung (als Raumordnung eines Landes) hier beim Ministerpräsidenten, dort beim Innenoder Wirtschafts- oder Wiederaufbauminister domiziliert ist, und zwar m i t auch i n den Kompetenzen und Potenzen stark divergierender Macht, beleuchtet ein Mosaik, das unsere föderative Staatlichkeit exzessiv widerspiegelt. — Nicht zu verkennen ist, daß die meist scharf gewahrten Ressortgrenzen an manchen Stellen ins Fließen geraten sind; dies darf auch und gerade von kommunalen Gebietskörperschaften gesagt werden, i n denen aufgeschlossene und energische Verwaltungschefs ein zur Verengung neigendes Ressortdenken aufbrechen. Zielgerichtete und konkrete Raumordnungspolitik hat i m Bund lange Jahre hindurch allein das Wirtschaftsministerium — mit eher formaler Beteiligung anderer Bundesministerien i m Interministeriellen Ausschuß für Notstandsgebiete (IMNOS) — getrieben; unwillkürlich fragt man sich: m i t Wissen und Willen seines langjährigen Chefs? Schon von 1951 bis 1963 lief ein „Regionales Förderungsprogramm" des Bundes i n drei Teilprogrammen ab, nämlich als

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— Hilfe für das Zonenrandgebiet, — Förderung von Sanierungsgebieten, — Industrialisierungsprogramm für zentrale Orte. Durch Beschluß des IMNOS vom 9. 7.1963 — wurde die Fortführung der H i l f e f ü r das Zonenrandgebiet bestätigt, — w u r d e n die „Sanierungsgebiete" durch neu ermittelte „Bundesausbaugebiete" ersetzt, — wurde i m Industrialisierungsprogramm der Begriff der zentralen Orte, u m Verwechslungen m i t dem gleichlautenden Begriff der Theorie u n d der Landesplanung zu vermeiden, durch „Bundesausbauorte" ersetzt, — wurde die Förderung industrieller Problemgebiete m i t einseitiger oder schwacher Wirtschaftsstruktur vorgesehen.

A u f die für das Zonenrandgebiet getroffenen Maßnahmen gehen w i r wegen deren primär allgemeinpolitischer Begründung nicht ein, zumal die Förderung sich nicht wesentlich von derjenigen der Bundesausbaugebiete unterscheidet. — Geographisch gehören zum Zonenrandgebiet Stadt- und Landkreise, die mit mindestens 50 "°/o der Fläche oder Bevölkerung nicht mehr als 40 k m von der Grenze zur SBZ oder CSSR entfernt sind. Ziel der Förderung der Bundesausbaugebiete ist die Verringerung des sog. wirtschaftlichen Leistungsgefälles; Hauptkriterium ist die w i r t schaftliche Leistungskraft, entscheidend für deren Ermittlung das B r u t toinlandsprodukt bezogen auf die Wirtschaftsbevölkerung, korrigiert durch Industriedichte, Gewerbesteuerkraft, Wanderungsverlust u. ä. A b gestützt w i r d die jeweilige Entscheidung durch gutachtliche Stellungnahmen der Landesplanungsbehörden. Den Ländern obliegt auch die Verteilung der finanziellen Hilfen i m einzelnen. Diese bestehen i n — Darlehen (20 Jahre Laufzeit, Zinssatz 2 %/Jahr) u n d Zuschüsse vor allem f ü r die Rationalisierung landwirtschaftlicher Betriebe u n d f ü r die V e r besserung der I n f r a s t r u k t u r ; — Darlehen (bis zu 20 Jahren Laufzeit, Zinssatz 2 bis 4 °/o) f ü r Investitionen (auch klein-)gewerblicher Unternehmer u n d Fremdenverkehrsbetriebe.

Entsprechend werden die Bundesausbauorte gefördert, deren Zahl von Jahr zu Jahr steigt, ohne bisher dreistellig geworden zu sein. Förderung und Auswahl vollzieht sich ähnlich wie bei den Ausbaugebieten; ein wesentlicher Gesichtspunkt ist die Schaffung industrieller A r beitsplätze, um die sog. Bevölkerungserosion i n Agrargebieten hintanzuhalten. Zu diesem Zweck w i r d sogar das — bei Raumordnern alter Schule gerne diskriminierte — Pendlerwesen bejaht. Die analogen eigenständigen Bemühungen der Bundesländer aufzuzählen, würde sehr weit ins einzelne führen, da sie nicht nur nach der jeweiligen Struktur und Finanzkraft, sondern auch nach den vorherr-

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sehenden raumordnungspolitischen Vorstellungen bzw. Leitbildern erheblich voneinander abweichen. Erwähnt zu werden verdient jedoch, daß die Landesplaner begonnen haben, Gebietsentwicklungspläne als Teilstücke von Landesentwicklungsplänen aufzustellen. Überzeugungskraft und praktische Brauchbarkeit solcher Konzeptionen pflegen um so größer zu sein, je mehr sie sich auf gründliche Vorarbeit kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften stützen und je intensiver die Zusammenarbeit der Landesplaner mit der Regionalforschung ist. Gemeinsam ist der regionalen Strukturpolitik des Bundes und der meisten Länder, daß sie m i t ihrem Schwergewicht auf diejenigen Gebiete und Orte ausgerichtet ist, „ i n denen die Lebensbedingungen i n ihrer Gesamtheit i m Verhältnis zum Bundesdurchschnitt wesentlich zurückgeblieben sind oder ein solches Zurückbleiben zu befürchten ist" (aus dem Grundsatz Nr. 3 von § 2 Abs. 1 ROG). Nicht i m Bund — hier m i t Ausnahme einiger Vorschriften des ROG, die vorläufig auf dem Papier stehen — und nur i n einzelnen Ländern gibt es eine klar erkennbare Politik, die auf die strukturelle Leistungskraft aller Regionen, also auch der sog. Ballungsgebiete gerichtet ist. Immer noch w i r d gerne übersehen oder gar mit Hinweis auf die überaus problematischen social costs geleugnet, daß es der Überschuß des Sozialproduktes i n eben diesen Gebieten ist, der die Alimentierung der sog. schwach strukturierten Gebiete überhaupt ermöglicht. Und wäre nicht der Steinkohlenbergbau i n die Krise geraten, die staatliche Hilfsmaßnahmen i m Ruhrgebiet usw. erzwingt, dann wäre die „Entballung" vielleicht noch lange Leitbild der meistverantwortlichen Raumordnungspolitiker geblieben. Inzwischen hat man einsehen müssen, daß der Mensch auch i n dichtbesiedelten Gebieten und i n Großstädten ein Heimatgefühl entwickelt hat, das über jede Entballungs-Tendenz siegt. Die Spätzündung dieser Einsicht trägt die Hauptschuld daran, daß man zu spät daran gegangen ist, monoindustrielle Gebietsstrukturen durch die Ansiedlung von Wachstumsindustrien und ähnliche Maßnahmen aufzulockern. M i n destens ebenso gravierend ist es, daß erst i n jüngster Zeit m i t der planmäßigen Umschulung z. B. von Bergarbeitern begonnen wurde. Solche Unterlassungen haben i n der jüngsten Vergangenheit die Lebenskraft mancher Städte und Regionen erschüttert, soweit nicht kommunale I n i tiative neue Wege eingeschlagen hat, nicht selten i n harter Auseinandersetzung m i t traditionellem Denken und Passivität. 3. Unbewältigte

kommunal-regionale

Verflechtung

I n einer sorgsam abgewogenen Stellungnahme, deren behutsame D i k tion spüren läßt, daß man sich bewußt war, heiße Eisen anzupacken, hat das Präsidium des Deutschen Städtetages die sog. Selbstbindung der Gemeinden und Gemeindeverbände den wichtigsten Faktor für

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wirksame Regionalplanung genannt. Diese Selbstbindung, die die Voraussetzung dafür ist, daß Regionalpläne von Planungsgemeinschaften nicht, wie es üblich ist, auf dem Papier stehen bleiben, sondern daß sie realisiert werden, kann nur entstehen, wenn alle Beteiligten i n den beratenden und beschließenden Organen einer solchen Organisation auf Grund einer Satzung, die alle Rechte und Pflichten präzise festlegt, akt i v und verantwortlich mitwirken. Entziehen sich allerdings Einzelgänger dem solidarischen Handeln, dann reicht die Selbstbindung nicht aus. Dies eben ist der Status quo m i t Ausnahme der wenigen Fälle, wo einem Verband durch Landesgesetz die Befugnis zum Handeln verliehen ist (vgl. Abschn. B 13: SVR und GHV), so daß eine sorgfältig erarbeitete Planung den eigenen Mitgliedern wie Dritten gegenüber auch durchgesetzt werden kann. Deshalb hat das Städtetags-Präsidium bei aller Bedeutung, die es der Selbstbindung beimißt, die generelle Forderung an die Länder gerichtet, rechtlich sicherzustellen, „daß die Pläne der regionalen Planungsgemeinschaften sowohl gegen ihre M i t glieder als auch gegen die sonstigen öffentlichen Planungsträger Bindungswirkung erhalten". Die Selbstbindung als „wichtigsten Faktor" bezeichnen und i m nächsten Atemzug vom Staat gesetzliche Bindung fordern — ist das kein Widerspruch i n sich selbst? Ja, es widerspricht der gedanklichen Logik; aber diese geht von einer Idealvorstellung aus, die niemals und nirgendwo voll zu realisieren ist, wie Dutzende von bitteren Erfahrungen i n mehreren Jahrzehnten bewiesen haben. Blicken w i r auf die letzten 60, 70 Jahre zwischengemeindlicher Zusammenarbeit zurück, so neigen w i r dazu, die Erfolge etwa i n der Energie- und Wasserwirtschaft, aber auch i m Schul- und Krankenhauswesen zu bewundern. Indessen, das waren und sind, wie an anderer Stelle schon angedeutet, Erfolge i n Einzelpunkten; überdies verraten die Ergebnisse nichts von dem harten Ringen, das schon dem Verzicht auf Einzelkompetenzen fast immer vorausgegangen war. Bei der Regionalplanung i m heute richtig verstandenen Sinne geht es u m mehr als u m diese oder jene Einzelaufgabe. Es geht um die Aufstellung (und i n gewissen zeitlichen Abständen u m die Weiterentwicklung) eines umfassenden Regionalplanes, der alle nicht auf die jeweiligen Gemarkungsgrenzen beschränkten kommunalen A u f gaben mindestens i n den Grundzügen, i n mancher Hinsicht bis i n die Einzelheiten hinein regelt. Hier also steht nicht mehr die Übertragung dieser oder jener Kompetenzen an einen Zweckverband oder an eine gemeinsam gegründete Gesellschaft des bürgerlichen Rechts zur Diskussion, sondern der Verzicht auf ein eigenes Verwaltungshandeln i n ziemlicher Breite, ob es sich nun u m die Flächennutzung, u m VerkehrsTrassen, u m Investitionen für eigene Betriebe, Einrichtungen und A n stalten für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zwecke handelt.

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Wer hier eine Verwandtschaft zur Konzentration i n der Wirtschaft sieht, der urteilt nicht falsch; jedoch sind Vorgänge i m Bereich der Polit i k und der öffentlichen Verwaltung komplex durchwachsen, und das kompliziert die Konzentration hier mehr als anderswo. I n der W i r t schaft heißt die Alternative primär: Rentabilität — oder nicht, i m Extremfall: Konkurs — oder nicht. I m politischen Bereich gibt es praktisch keine solche Alternative. Was hier drangegeben werden soll, das ist außer einem richtig oder falsch verstandenen öffentlichen Interesse: Einfluß und Macht, das ist auch: Ansehen und Prestige. Zitieren w i r aus dem Bundesbaugesetz (§ 2 Abs. 1): „Die Bauleitpläne sind von den Gemeinden i n eigener Verantwortung aufzustellen"; und rufen w i r uns ins Gedächtnis, daß es i n der BRD 24 000 Gemeinden gibt, die auf ein solches Selbstverwaltungsrecht (und auf viele andere) zugunsten einer übergeordneten Organisation verzichten sollen. Kann es da wundernehmen, daß noch so enge Verflechtungen des kommunalen Lebens allein nicht ausreichen, um eine Problematik zu bewältigen, deren Lösung zu einem ganz erheblichen Teil i m Verzicht auf die „eigene Verantwortung" besteht? Ein Rezept, das mit der Regionalplanung und ihrer Exekutive aufgeworfene Dilemma zu beseitigen, gibt es nicht. Das beweist der Appell, den man mehr und mehr von kommunaler Seite an den Staat gerichtet hört, er möge, da die kommunale Selbstbindung i m eigenen Haus nicht oder nicht hinreichend zu erzielen ist, von oben her für Bindungswirkung der Regionalpläne sorgen. Wer i n der kommunalen Selbstverwaltung einen wesentlichen Träger rechtsstaatlicher Demokratie sieht, der kann nur hoffen, daß die vom Staat erbetenen Eingriffe i n jedem Einzelfall aus kommunaler Initiative erwachsen und von ihr entscheidend mitgeprägt werden, so wie es i m Ruhrgebiet (SVR) und i m Großraum Hannover (GHV) geschehen ist. 4. „Leitbild" oder Denkmodell (Exkurs) Die i n unseren Tagen weitverbreitete, wenn nicht sogar herrschende Meinung, wer Stadtentwicklung oder Regionalpolitik betreibe, müsse ein gesellschaftspolitisches „Leitbild" haben oder, wenn er keines habe, sich eines schaffen — dieser Meinung wohnt eine Problematik eigener A r t inne: Verrät nicht der Begriff „Leitbild" einen ähnlichen Grundzug des Denkens wie das „Organische", von dem i n Abschn. A I I 2 a.E. k r i tisch die Rede war? Man mag sagen, i m Sinne der Humanität bedürfe es, u m den Menschen vor dem Ersticken i n einer künstlichen und immer „unnatürlicher" werdenden Umwelt zu retten, einer bildkräftigen Leitvorstellung. Hiergegen ist zu fragen, ob der politischen Welt von heute und morgen das B i l d ebenso wie die Idee, die beide — jedes i n seiner

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A r t — dem Zeitalter Goethes und Schillers angemessen waren, noch gerecht zu werden vermögen. Daß die „Idee" verklungen, weil verbraucht ist, beweist die an ihre Stelle getretene „Ideologie"; diesen Begriff brauchen w i r nur auszusprechen, u m die Transposition der Idee aus dem Spirituellen ins Materielle herauszuhören. Das Leitbild ist sehr viel jünger als die Idee und deshalb scheinbar noch unverbraucht. Aber wurzelt das Leitbild nicht i n dem, was der Psychologe eidetisch nennt, und sollte es daher nicht Reservat des Kindes und des Künstlers bleiben? Sicherlich kommen ohne Phantasie und Intuition auch die Sachwalter i n Politik und Verwaltung nicht aus, es sei denn, sie verzichteten auf das Element des Schöpferischen. Indessen, wieweit wohnt denn i m politischen Bereich dem Leitbild tatsächlich das Element des Schöpferischen inne? Ist es nicht fast immer die aus wenig klaren seelischen Regungen hochgezüchtete Form eines Klischees? Bei dem Agrarwissenschaftler H. Priebe finden w i r den Satz 18 : „ I n den zwanziger Jahren faszinierte Oswald Spenglers B i l d vom Bauerntum, das über alle großen geschichtlichen Veränderungen hinweg i n naturhaft gleichbleibenden Verhältnissen dahinlebt, die gebildete Welt." Hierzu sei die Anmerkung gestattet, daß diese Faszination keineswegs erloschen ist: I n Bund und Ländern soll es immer noch Ministerialbeamte i n ausschlaggebenden Stellungen und selbst Minister geben, die ihr raumordnungspolitisches Leitbild Oswald Spengler verdanken. W i r brauchten die Leitbild-Virulenz unserer Tage nicht tragisch zu nehmen, schliche sich das jeweilige Leitbild nicht immer wieder — manchmal gewollt, häufiger unkontrolliert — mit erstaunlichen Folgen in politische Maßnahmen und ebenso i n die Denkmodelle der Planung ein, die nun allerdings als theoretische Instrumente der Vorbereitung von Entscheidungen anatomisch sauber sein sollten. I m politischen Bereich liefert von Zeit zu Zeit der Gesetzgeber erschreckende Beispiele, von denen ein plastisches angeführt sei: Daß die Verfechter einer sog. Mittelstandspolitik einem Leitbild folgen, braucht wohl nicht belegt zu werden; auch nicht, daß sie als Gegner jeglicher Konzentration meist m i t den sog. Entballern identisch und i m Grunde ihres Herzens dem eben zitierten Leitbild von Oswald Spengler verhaftet sind. Die Mittelstandspolitiker haben nun durch die von ihnen erstrebte und 1961 erreichte Heraufsetzung der Freibeträge bei der Gewerbeertragssteuer den vom Bundestag wohl kaum erwarteten Effekt erzielt, daß i n den kleinen Gemeinden ein verhältnismäßig erheblich höherer Ausfall an Steuereinnahmen eintrat als i n den mittleren und großen Städten: Nach W. Albers 19 lag i n Schleswig-Holstein der Steuerausfall 1962 i m 18 H. Priebe: Die dezentralisierte Schwerpunktbildung aus der Sicht der Landwirtschaft, i n : Produktivitätsorientierte Regionalpolitik, B e r l i n 1965 (S. 32).

27 Festgabe für Gert von Eynern

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V e r g l e i c h z u 1961 i n d e n G e m e i n d e n b i s z u 10 000 E i n w o h n e r n

zwi-

schen 12 u n d 22 °/o, i n d e n g r ö ß e r e n G e m e i n d e n dagegen n u r zwischen 7 u n d 9 °/o. Das b e l e g t zunächst desselben A u t o r s T h e s e 1 9 , daß es k e i n e „ r a u m n e u t r a l e " F i n a n z p o l i t i k gebe; es w i r f t aber auch e i n Schlaglicht auf die L e i t b i l d p o l i t i k . Z u r V e r w e n d u n g des L e i t b i l d - B e g r i f f s a u f d e r G r e n z l i n i e zwischen T h e o r i e u n d P r a x i s h a t V e r f . 1964 i n d e r B u n d - u n d - L ä n d e r - K o n f e r e n z f ü r R a u m o r d n u n g e i n i g e B e m e r k u n g e n v o r g e b r a c h t , d i e k l ä r e n d gew i r k t haben. B i s l a n g u n v e r ö f f e n t l i c h t , seien sie a n dieser S t e l l e g e k ü r z t w i e d e r g e g e b e n , z u m a l sie z w a n g l o s z u Abschn. C ü b e r l e i t e n : „Der Stand einer Wissenschaft, die erst wenige Jahrzehnte, i n Deutschland eigentlich erst ein Jahrzehnt alt ist, zwingt die Praktiker, die sich dieser W i s senschaft bedienen, fast M a n n f ü r M a n n dazu, i h r H a n d w e r k selbst als Wissenschaft zu betreiben, zumal sie auf den Hochschulen, ob sie n u n Techniker oder Geographen, Volkswirte oder Juristen sind, fast nichts dergleichen haben lernen können. Dieser Status hat gewisse Vorteile: V o m Regionalplaner bis zum Staatssekretär w i r d wissenschaftlich-methodisch u n d nicht selten schöpferisch gearbeitet; u n d zwischen allen Planern ist ein lebendiges Streitgespräch ständig i m Gange. Der Status hat freilich auch Nachteile: I n vielen wichtigen Fragen fehlt eine ,herrschende Meinung'; das Begriffs-Tohuwabohu lichtet sich erst allmählich, u n d Interessenten bemächtigen sich j a m i t V o r liebe strittiger Begriffe. Dies alles muß kein Unglück sein, w e n n ein Kreis eingeweihter Auguren u m die bestehende L a b i l i t ä t weiß, sich offenhält statt sich einzuschwören u n d das gemeinsame Ziel verfolgt, übermorgen oder i n zehn Jahren zu Lösungen zu gelangen, die dann gemeinsam zu allgemeiner Anerkennung gebracht werden. Dies setzt allerdings das Wissen voraus, was unter einem Denkmodell zu verstehen ist; es setzt auch die Bereitschaft u n d den guten W i l l e n voraus, Denkmodelle zwar kritisch zu betrachten u n d sie je nach den Umständen theoretisch zu zerpflücken, aber sie nicht politisch zu diskreditieren u n d zu diffamieren. D a m i t ist ausgesprochen, was w i r alle w o h l noch etwas besser lernen müssen, n ä m l i d i ein angemessenes inneres Verhältnis zu dem, was m a n ein Denkmodell nennt. Hierzu sollen w i r uns darüber i m klaren sein, daß es drei A r t e n gibt, auf die m a n gedanklich der W i r k l i c h k e i t auf den Leib rücken k a n n : a) Die pragmatische Betrachtungsweise, bei der m a n eine Realität als solche h i n n i m m t u n d sie zu bewältigen sucht. Das ist die Lage des Praktikers, der aus der Erfahrung schöpft, von den Gegebenheiten ausgeht u n d das Beste daraus zu machen sucht. E i n Beispiel ist die Suche nach administrativen Lösungen, w i e sie die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) i n vorbildlicher Weise m i t ihrem einschlägigen Gutachten 20 betreibt . Handelt nämlich der Pragmatiker, w i e es hier geschieht, theoretisch abgestützt, so w i r d er viele Fehler u n d Irrwege vermeiden können. b) Damit ist schon die zweite A r t angesprochen, m i t der man der W i r k l i c h keit zu Leibe rücken kann, nämlich das Denkmodell, das der Arbeitsweise des 19 W. Albers: Der Einfluß der Finanzpolitik auf die räumliche Ordnung der Wirtschaft, i n : Produktivitätsorientierte Regionalpolitik, B e r l i n 1965 (S. 52 u n d S. 56). 20 a.a.O., s. oben A n m . 1.

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Theoretikers entspringt. Er abstrahiert von der W i r k l i c h k e i t ; aus einem anderen erkenntnistheoretischen B l i c k w i n k e l könnte m a n auch sagen: er deduziert. I n jedem Falle ist bei i h m zuerst die Hypothese da, die er erst i n einem späten Stadium seiner Überlegungen durch die Assimilation oder A p p r o x i m a tion an die W i r k l i c h k e i t ersetzt. c) M a n k a n n der W i r k l i c h k e i t aber auch m i t einer weltanschaulichen V o r stellung gegenübertreten, aus der politische Wunschbilder zu erwachsen pflegen. A u f die Raumordnung angewandt, nennt man das heute gern ein »gesellschaftspolitisches Leitbild 4 . Sich hierauf zu werfen, braucht an sich noch k e i n Fehler zu sein. Mehr oder weniger t u n w i r das alle; täten w i r es nicht, so stagnierte die Politik. Es ist also nicht n u r erlaubt, sondern geboten, politische Zielsetzungen zu haben u n d zu verfolgen, ob man sie n u n Leitbilder nennt oder nicht. Was aber nach meinem Dafürhalten unerlaubt u n d verboten ist, das ist eine gewisse intellektuelle Unredlichkeit, nämlich die unbedachte oder gar unbedenkliche Vermengung der drei skizzierten Betrachtungsweisen, der theoretischen, der pragmatischen u n d der politisch-emotionalen! Wer sich solcher Vermengung schuldig macht, der handelt schlimmer als ein Weinpanscher oder ein Roßtäuscher; denn diese wackeren Gewerbetreibenden wissen w e nigstens, was sie tun, u n d außerdem können sie — ertappt — z i v i l - u n d strafrechtlich belangt werden. Gegen dieses Schicksal ist die intellektuelle Unredlichkeit leider gefeit. Der intellektuellen Unredlichkeit haben w i r w o h l auch die Übung zuzurechnen, daß ein Denkmodell verworfen oder gar politisch diffamiert w i r d , w e i l es nicht auf jede W i r k l i c h k e i t paßt, w i e z. B. die Stadtregion. Redlich, zugleich sachgemäß u n d fruchtbar wäre i n solchem Falle diese Prozedur: 1. A k t — ein Denkmodell w i r d erfunden oder gefunden; 2. A k t — das Denkmodell w i r d als teils anwendbar, als teils weniger brauchbar erkannt u n d k r i t i s i e r t ; 3. A k t — das Denkmodell w i r d korrigiert." D i e F r a g e d r ä n g t sich auf, ob e i n solches V o r g e h e n d u r c h L e i t b i l d B e f a n g e n h e i t n i c h t eher g e h e m m t w i r d .

C. R e g i o n a l f o r s c h u n g a u f Pfaden, W e g e n , S t r a ß e n I . Die Fragen an die Wissenschaft 1. Wertfrei

— wertbezogen



normativ

R a u m f o r s c h u n g i m S i n n e d e r R e g i o n a l f o r s c h u n g s t a n d b e i uns l a n g e Z e i t a u f schwachen B e i n e n . Das h a t i h r e V e r t r e t e r n i c h t g e h i n d e r t , f r ü h z e i t i g A u s f l ü g e i n d i e große P o l i t i k z u u n t e r n e h m e n . N o c h h e u t e stößt, w e r einschlägige G u t a c h t e n , Fachbücher u. d g l . liest, n i c h t selten a u f p r i m i t i v e S e l b s t b e f r i e d i g u n g m i t e i n i g e n K e n n z i f f e r n , die schon q u a n t i t a t i v w e n i g aussagen u n d die, q u a l i t a t i v g e w e r t e t , d i e R e a l i t ä t v e r z e r r e n k ö n n e n . B e l i e b t e Bezugsgrößen f ü r r a u m o r d n e r i s c h e K e n n ziffern sind die Zahlen der E i n w o h n e r u n d der Industriebeschäftigten 27*

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je qkm, das Bruttosozialprodukt, die Steuerkraft eines Gebietes je Einwohner u. ä. N u n braucht so gewonnener Kennziffer nicht jeglicher Erkenntniswert abgesprochen zu werden; man mag sich damit an die Struktur eines Gebietes herantasten. Gefährlich dagegen ist die werturteilende Generalisierung solcher Kennziffern; sie hat Dr. A r n u l f Klett, damals Präsident des Deutschen Städtetages, 1964 vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung mit wenigen Sätzen treffend i n Zweifel gezogen 21 : „Welchen Wert hat z. B. die Aussage, daß 43 % der Bevölkerung der B u n desrepublik auf 14 % ihrer Gesamtfläche leben u n d daß 60 % der Steuer- u n d Wirtschaftskraft i n diesen Gebieten liegen? Welchen Wert hat ferner die Gegenüberstellung, daß 1 6 % der Bevölkerung auf 4 0 % der Gesamtfläche leben? — . . . Natürlich sind die genannten Zahlen nicht uninteressant, wenn m a n sie z. B. m i t den entsprechenden Verhältnissen i n anderen Ländern, etwa i n Frankreich oder England, i n Belgien oder den Niederlanden v e r gleicht. Dann nämlich führen diese Zahlen zu Fragen; etwa zu der Frage, wodurch die verschiedenartigen Verhältniszahlen bedingt sind. Zahlen, die uns zwingen, Fragen zu stellen, haben eben dadurch ihren Nutzen. D a m i t gelangen w i r nämlich aus der quantitativen Sphäre i n die qualitative! Dieselben Zahlen werden zur Gefahr, w e n n w i r sie f ü r A n t w o r t e n halten; u n d diese Gefahr ist u m so größer, je weniger selbständiger E r k e n n t niswert einer Z a h l innewohnt."

Was hier ein Oberbürgermeister den Fachleuten vorhält, klingt selbstverständlich; es ist jedoch noch keineswegs Gemeingut von Praxis und Theorie der Regionalplanung und Regionalforschung. Immer noch gilt ein dünn besiedeltes Gebiet, das ein geringes Sozialprodukt aufbringt und entsprechend wenig Steuern abwirft, als „ i n der Entwicklung zurückgebliebener Raum", und immer noch werden die für Städte typischen hohen social costs als abwertendes K r i t e r i u m für Bevölkerungsdichte u. ä. herangezogen, obwohl es bisher keine volkswirtschaftliche Bilanz gibt, die das m i t diesen Kosten erwirtschaftete hohe Sozialprodukt und die Leistungen an benefits für das Umland einbezöge. Diese Andeutungen wären unvollständig ohne den Hinweis, daß der Verzicht des Bundesgesetzgebers, Kennziffern der skizzierten A r t i n das ROG aufzunehmen und daraus Richtlinien für die Raumordnungs- und Landesplanungsbehörden abzuleiten, besonders glücklichen Umständen zu verdanken ist; denn i n der Regierungsvorlage war derartiges enthalten. Solche noch nicht ausgetretenen Kinderschuhe sind nur eines der Handicaps für die gesamte Planung i m Raum, deren letztes Ziel doch die richtige Entscheidung ist; aber wie kann das Ziel auf Irrwegen er21 Der Vortrag von Dr. A r n u l f Klett ist abgedruckt i n : Die Raumordnung drängt — 6 Vorträge — hsg. von der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen der Deutschen Akademie f ü r Städtebau u n d Landesplanung, K ö l n u n d Opladen 1964 (S. 39 ff.).

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reicht werden? Diese Frage w i r d den Planern selbst mehr und mehr bewußt; sie geraten i n zunehmende Zweifel, „wie weit die anerkannten Ziele und Methoden der Planung noch gültig und den heutigen Bedürfnissen angemessen seien" 22 . Ein anderes Handicap auf diesem Wege liegt i n der Konstruktion des wissenschaftlichen Apparates, auf den die Planung als Instrument der Vorbereitung von Entscheidungen angewiesen ist. Die Antinomie zwischen den starren und erstarrten Grenzen i m staatlichen Aufbau und Handeln einerseits, den fließend gewordenen und immer mehr ins Fließen geratenden Grenzen unseres gesellschaftswirtschaftlichen Lebens andererseits findet ihr getreues Gegenstück i m Bereich der Wissenschaf t. Davon ist die auf den Erdraum bezogene Forschung und Lehre nicht ausgenommen. Warum dies zu beklagen, warum gerade hier rasche A b hilfe notwendig ist, mag aus bisher Gesagtem mittelbar schon hervorgegangen sein; es sei hier noch einmal zusammengefaßt. Der Raum kann dem Menschen primär nicht durch M i t t e l und Maßnahmen der Bevölkerungspolitik dienstbar gemacht werden; oder in schärferer Formulierung: Der Raum läßt sich primär nicht durch Bevölkerungspolitik erschließen. Wohl aber steht der Mensch als Individuum wie kollektiv i n seinen Denk- und Verhaltensweisen, folglich i n dem, was er tut oder unterläßt, vielfältig i n Beziehung zu den Lebensräumen und ihren Wandlungen. Diese von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer weniger traditionell gebundene, immer mehr dem Wechsel aufgeschlossene Beziehung verwirklicht sich unter einem staatlichen Grundgesetz, das aus der Unantastbarkeit der Würde des Menschen u. a. die freie Wahl des Wohnsitzes (Art. 11), des Berufes, des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte (Art. 12) sowie das Eigentums- und Erbrecht (Art. 14) ableitet. Die rechtsstaatlichen Schranken zwingen Politik und Verwaltung, überall dort, wo sie zu planen und zu steuern beabsichtigen, über die Fragen: Was ist? und Was soll sein? hinaus die viel schwierigeren Fragen zu stellen: Was w i r d und was kann oder darf sein? Hierzu herrscht immer noch die Meinung vor, die Wissenschaft habe sich auf Bestandsaufnahme und Beschreibung, auf Analyse und — allenfalls noch — Prognose zu beschränken, und ihre Dominante heiße Wertfreiheit. Tatsächlich ist schon regionale Grundlagenforschung, erst recht angewandte Forschung auf diesem Sachgebiet nicht zu lösen von auch politisch bestimmten Prämissen und von Zielvorstellungen, die mindestens wertbezogen sind. Sehr langsam hat sich bei unseren kommunalen, noch langsamer bei den staatlichen Stellen die Einsicht durchgesetzt, daß man zur Beant22 Gerd Albers i m Vortrag „Gewandelte Perspektiven der Planung" i n : Mitteilungen der Deutschen Akademie f ü r Städtebau u n d Landesplanung, 9. Jg. Okt 1965 (S. 38).

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wortung aller gestellten Fragen, also auch der normativen, die Wissenschaft braucht, m. a. W. daß Entscheidungen i n der Raumordnung wie i n anderen Bereichen staatlichen Handelns Erkenntnisse und bei den verantwortlichen Persönlichkeiten Schulung i n der Anwendung von Erkenntnissen voraussetzen. Wahrscheinlich wäre diese Einsicht heute noch viel weniger verbreitet, hätten nicht die beteiligten Wissenschaften sie gefördert und propagiert. Bei der Wissenschaft selbst hapert es freilich meist an der zusätzlichen Einsicht, daß Regionalforschung nicht nur einzelwissenschaftlich betrieben werden kann. 2. Regional Sciences — hierzulande

neu

Hier ist das Stichwort Regional Sciences fällig, das mit Regionalwissenschaft oder Regionalforschung nur unzulänglich übersetzt ist. Der i n England, den USA und anderen Ländern längst gängige Begriff umfaßt methodisch die deskriptive Bestandsaufnahme und ihre Analyse ebenso wie die Theorie und die Prognose. Als Stufen wissenschaftlicher Erforschung des irdischen Raumes sind, ohne Gewähr für Vollständigkeit, zu nennen — die m i t der Planung i m Raum traditionell, d. h. vom Städtebau und von der Stadtplanung her verbundenen Fachdisziplinen: Geographie, Topographie, Landeskunde; Architektur, Städtebau, Stadtplanung; Tiefbau und Verkehr; Wasser- und A b Wasserwirtschaft, Strom- und Gasversorgung; Statistik als Hilfswissenschaft; — die seit der Wendung zur Grundlagenforschung für Entwicklungsplanung, d. h. erst seit den späten fünfziger Jahren mehr und mehr herangezogenen Disziplinen bzw. Problemsparten: Nationalökonomie, vor allem für Bestandsaufnahmen und Prognosen; Soziologie, vor allem zur Ermittlung heutiger und künftiger Verhaltensweisen der Bevölkerung als neuer Kriterien der Planung; Formalwissenschaften, soweit darauf gerichtet, die Realität vereinfachende Modelle zu entwerfen und — als wesentlicher Faktor — die Automation i n der öffentlichen Verwaltung für die Regionalforschung und -planung mathematisierbar zu machen; Lehre vom Recht und der Organisation der öffentlichen Verwaltung, bezogen vor allem auf die anstehende Gebietsreform einerseits, den inneren Aufbau der Verwaltung andererseits, die beide die Planung stark berühren.

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— Zu nennen sind i n dieser Gruppe ferner die auf die Thematik unmittelbar ausgerichteten Lehrstühle (deren es 1967 i n der BRD erst einige gibt) für Raumordnung und Landesplanung. Die Aufzählung allein läßt erkennen, daß es ein Buch erfordern und den Gesichtskreis eines einzelnen Verfassers überschreiten würde, sollte über den Stand und die Entwicklung der einzelnen Disziplinen i n ihrer Beziehung zur Regionalforschung referiert werden. Abgesehen hiervon läßt sich heute von keiner der genannten Disziplinen m i t Ausnahme der an letzter Stelle genannten aussagen, daß eine solche Beziehung generell bestehe. Fassen w i r die Universitäten und Technischen Hochschulen ins Auge, so sind es einzelne Lehrstühle oder Lehraufträge, die auf die Thematik zentriert sind. Unter Fachleuten dürfte die Aussage kaum auf Widerspruch stoßen, die sich zahlenmäßig nicht belegen läßt, daß nämlich i n der zweiten Gruppe der aufgezählten Disziplinen die nicht hochschulgebundenen Institutionen und Einzelpersönlichkeiten, die der Regionalforschung zugewandt sind, m i t jenen an Gewicht und an Potenz zu Vorstößen i n Neuland ernsthaft konkurrieren. Was das Neuland betrifft, so läßt namentlich an den Hochschulen die Tradition scharfer Abgrenzung der Disziplinen die hier und dort vorhandene und gepflegte Bereitschaft zu interdisziplinärer Zusammenarbeit nur langsam effektiv werden. Diese Rückständigkeit w i r k t zurück auf die unmittelbaren Forschungsergebnisse, wenn z. B. dem Städtebau-Theoretiker die Wirtschaftswissenschaft schlichtweg fremd ist, oder wenn der Nationalökonom wenig von der Soziologie versteht; ferner auf die planerische Praxis, die ihrerseits schon Mühe hat, die ministeriellen und kommunalen Fachsparten zu überspringen; schließlich auf die Ausbildung derjenigen Menschen, die Planer werden sollen, und noch mehr auf die Fortbildung der aktiven Planer, von denen die meisten sachlich wie methodisch i n den zwanziger, dreißiger, vierziger Jahren ihre Prägung als Akademiker erhielten und ihre ersten theoretischen und praktischen Schritte taten. I n den zurückliegenden Jahren und vielfach heute noch suchen junge Leute und nicht selten auch ältere Theoretiker, die von der Regionalforschung aus die planerische Praxis umfassend i n den Griff bekommen wollen, den Weg ins Ausland. A n dieser Stelle dürfen die Bemühungen und Verdienste der von Prof. v. Böventer geleiteten Deutschen Sektion der internationalen Regional Sciences Association nicht unerwähnt bleiben. Die folgenden Abschnitte eröffnen die Hoffnung — vorläufig ist es freilich nicht mehr als eine Hoffnung — daß i n der BRD langsam nachgezogen wird.

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Hermann B r g e l m a n n I I . Versuche, zu antworten

2. Erste Schritte gestern und heute Dem Verf. w i r d es nachzusehen sein, wenn er aus dem heute schon recht breiten Bassin von öffentlichen oder privaten Instituten, die sich der Regionalforschung widmen, exemplarisch solche herausgreift, die i h n als Beigeordneten des Deutschen Städtetages 23 bei der Bemühung unterstützt haben, den Gebietskörperschaften die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Unterbaus und wissenschaftlicher Entscheidungsvorbereitung nahezubringen. Die Namen dieser Institute haben Klang und Rang i n der Fachwelt durch Forschungsergebnisse erhalten, die stadtund regionalplanerischen Überlegungen neue Anstöße und der konkreten Planung nicht selten eine andere Richtung gegeben haben. — Vorweg seien jedoch einige Einzelpersönlichkeiten genannt, die schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatten, der Regionalplanung Impulse und Stützen zu geben. Die hier i n alphabetischer Folge genannten Namen, denen nicht mehr als einzelne orientierende Stichworte beigefügt werden können, sollen lediglich Nichtkennern der Materie eine Vorstellung von der Bandbreite vermitteln, auf der heute auch und gerade außerhalb von Lehrstühlen und Hochschulinstituten Regionalforschung betrieben w i r d ; die Aufzählung ist also unvollständig. Die sachlichen Stichworte und die nur wenig ausführlichere Darstellung der A r beit i n den Instituten sollen die Ziele der bundesdeutschen Regional Sciences markieren und wenigstens i n Umrissen die Wege erkennen lassen, die uns der Lösung des Problems i n der Regionalforschung — und i n ihren Fußstapfen der Regionalplanung — näher bringen können. Hans Paul Bahrdt hat die Diskussion auf dem Grenzgebiet von Soziologie u n d Städtebau vorwärtsgetrieben, indem er — unmittelbar f ü r die Stadt, mittelbar f ü r die Region — Begriffe von Überschaubarkeit u n d Nachbarschaft, die bis vor kurzem dominante Leitbilder der Raumordnung waren, i n Frage gestellt u n d das unserer Industriegesellschaft adäquate Begriffs-Paar „Öffentlichkeit — P r i v a t h e i t " eingeführt hat. Bahrdt plädiert f ü r den M u t zur städtebaulichen Utopie u n d für „jene Stadtluft, die auch heute noch frei macht". Olaf Boustedt hat aus seiner schon erwähnten Bestimmung des Begriffs der Stadtregion u. a. die komplex begründete Warnung abgeleitet, Maßstäbe der Vergangenheit f ü r die Gestaltung der Z u k u n f t zu verwenden, u n d er hat 23 A u f die hier einschlägigen „Neuen Schriften" des Deutschen Städtetages sei hingewiesen: Heft 6: Erneuerung unserer Städte (1960) Heft 8: Die Stadt u n d ihre Region (1962) Heft 9: Die Stadt muß leben — wenn i h r leben w o l l t (1962) Heft 14: Ordnung i m Raum (1965) Heft 16: Leben i n der Stadt? — leben i n der Stadt! (1965).

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auf die bisher noch fehlende Bilanz der ökonomischen, kommunalwirtschaftlichen u n d fiskalischen Wechselbeziehungen zwischen der Stadt u n d i h r e m Einzugsbereich aufmerksam gemacht. Rudolf Hillebrecht u n d Klaus Müller-Ibold i m gleichen Atemzug zu nennen, rechtfertigt sich einmal dadurch, daß der Jüngere die Schule des Ä l t e r e n i n Theorie u n d Praxis durchlaufen hat. Sodann repräsentieren die beiden Namen zwei heute wirkende Generationen von Stadtbaumeistern und Regionalplanern, die das Bewußtsein von der Problematik ihrer A r b e i t f r ü h i n fruchtbare Unruhe versetzt hat. Die Erkenntnis, daß die „Städte i h r Gesicht v e r ändern", hat eine nicht geringe u n d erfreulicherweise wachsende Z a h l solcher P r a k t i k e r veranlaßt, der Uberfülle an Tagesarbeit i n ihren Dezernaten u n d Ä m t e r n noch Zeit f ü r eine vielseitige wissenschaftliche Vertiefung abzuringen, m i t der sie weit über die fachliche L i t e r a t u r hinaus das politische Gewissen wachgerufen haben. Gerhard Isbary hat Christallers Lehre v o m Zentralen Ort theoretisch u n d praktisch ausgebaut, den Funktionen der Stadt u n d der Region neue Aspekte gegeben u n d den überkommenen Begriff des „ländlichen Raumes" fruchtbar i n Zweifel gezogen. E r ist einer der Wortführer einer lückenlosen Aufgliederung des ganzen Bundesgebietes i n nicht zu kleine Regionen, f ü r deren A b grenzung die gegenseitige Ergänzung ihrer Teile den Ausschlag geben soll, u n d er setzt Ziele f ü r die Neuordnung der Verwaltung. Gerhard Isenberg hat der Diskussion über K r ä f t e u n d Gegenkräfte i m Ballungsprozeß Anstöße gegeben, den ökonomischen Begriff der „Tragfähigk e i t " einer Stadt oder eines Gebietes eingeführt u n d i h n u. a. m i t H i l f e von K r i t e r i e n wie N a h - u n d Fernbedarf immer wieder untersucht; er hat ferner zur K r i t i k am Steuersystem der BRD Beiträge geleistet u n d z. B. das Ä q u i v a lenzprinzip i n seiner Bedeutung f ü r die Wechselbeziehungen zwischen V e r kehr u n d Städtebau gründlich dargestellt. Der f r ü h verstorbene Norbert J. Lenort hat als einer der ersten die Ergebnisse internationaler Forschung f ü r die deutsche Fachliteratur nutzbar gemacht u n d Entwürfe zur Bestimmung der Zentralität von Siedlungen, zur Abgrenzung von Stadtlandschaften u n d zur Gemeindetypisierung erarbeitet. Elisabeth Pfeil, schon f r ü h soziologischer Stadtforschung zugewandt, hat die verbreitete Vorstellung von der Verlorenheit u n d Wurzellosigkeit des Großstädters i n Zweifel gezogen u n d die K r i t i k an der Nachbarschaftsidee positiv differenziert, indem sie die Funktionalität der Nachbarschaft erkennbar gemacht u n d zum Ergebnis elliptischer S t r u k t u r des großstädtischen Lebens gelangt ist, das zweipolig, wenn nicht gar mehrpolig sei. Der PROGNOS A G i n Basel, deren Regionalforschung zunächst v o m derzeitigen Gießener Ordinarius H a r a l d Gerfin geleitet wurde, den Dr. Dieter Schröder abgelöst hat, ist es zu verdanken, daß i n die Bevölkerungsprognosen, die bis etwa 1960 fast ausschließlich auf Geburten, Todesfälle, Verehelichungen u n d die Wanderungsstatistik gestützt waren, als neuer Faktor die v o r aussichtliche Entwicklung der Arbeitsplätze einbezogen wurde. M i t zahlreichen m i k r o - u n d makroökonomischen Untersuchungen von Städten, von Regionen u n d Ländern, aber auch des ganzen Bundesgebietes, dieses wieder i m übernationalen Zusammenhang, hat Prognos die Interdependenzen zwischen Wirtschafts- u n d Bevölkerungswachstum, I n f r a s t r u k t u r u n d Regionalentwicklung herausgearbeitet u n d zunächst deskriptiv, sodann theoretisch m i t hoher Trennschärfe dargestellt. Die Entwicklung eines neuen Typs standorttheoretischer u n d regionalwissenschaftlicher Forschung hat beispielsweise die interessante These gezeitigt, daß f ü r den Standortfaktor nicht die Stand-

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ortgunst selbst, sondern deren Veränderung ausschlaggebend ist. So werden die Theoretiker w i e die P r a k t i k e r der Planung zu ständiger Auseinandersetzung m i t den neu gewonnenen Erkenntnissen gezwungen; dadurch ist nicht zuletzt die Diskussion der Forschungsmethoden neu belebt worden, die beispielsweise f ü r die E r m i t t l u n g von Prioritätsskalen i n der öffentlichen Finanzwirtschaft von Bedeutung sind. Die von Dr. Wolfgang Hartenstein geleitete Abteilung Regionalforschung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (infas) i n Bad Godesberg ist beim Studium der f ü r die Stadt- u n d Regionalentwicklung wesentlichen V e r haltensweisen u n d Bedürfnisse von Bevölkerungsgruppen neuen soziologischen Ansatzpunkten für die städtebauliche Praxis u n d die Regionalplanung nachgegangen. Der diesem I n s t i t u t entstammende Begriff „Freizeitwert", der sich rasch eingebürgert hat, ist n u r ein Beispiel f ü r die konkrete A n w e n d barkeit einer theoretisch abgestützten Praxis empirischer Forschung. Z a h l reiche eigene Erhebungen des Instituts i n verschiedenen Teilen der B R D bilden die Grundlage zur Lösung der Aufgaben, die — gerichtet v o r allem auf die Erforschung der Lebensbedingungen heute u n d morgen — dem I n s t i t u t von Planungsstellen aller Ebenen gestellt worden sind u n d werden. E i n wichtiges Glied des hierfür geschaffenen Instrumentariums, das der Städtebau u n d der Regionalplaner, damit aber die gesamte öffentliche V e r w a l t u n g zur Lösung ihrer aktuellen Probleme nutzbar machen kann, ist die Flächenstichprobe als unentbehrliche Ergänzung der amtlichen Statistik. Den i n der Regionalforschung der B R D seltenen Fall, daß sich Hochschullehrer verschiedener Disziplinen zu Formen interdisziplinärer Kooperation zusammenfinden, repräsentiert das Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Münster. Dort werden i n einer rechtswissenschaftlichen (Prof. H. Westermann), einer soziologischen (Prof. H. Schelsky) u n d einer v o l k s w i r t schaftlichen (Prof. Hans K . Schneider) Abteilung höchst notwendige b i b l i o graphische Grundlagen- u n d Auswertungsarbeiten geleistet u n d i n einer stark verzweigten monographischen Forschung gängige Thesen auf ihre Haltbarkeit untersucht. Das interdisziplinäre Forschungsseminar trägt zur K l ä r u n g der i n den beteiligten Wissenschaftszweigen unterschiedlich verwendeten Begriffe bei. Die Forschungsarbeit w i r d f ü r die Studierenden i n Seminaren u n d Ü b u n gen über Fragen der Regionalplanung, der regionalen Wirtschaftspolitik, der Wirtschafts- u n d Bevölkerungsgeographie u n d der soziologischen Bezüge ausgewertet. D i e g e n a n n t e n u n d manche a n d e r e n I n s t i t u t e , v o n d e n e n das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) i n M ü n c h e n m i t seiner R e g i o n a l f o r s c h u n g s a b t e i l u n g g e n a n n t sei, h a b e n erste A n s ä t z e z u d e r V e r w i r k l i c h u n g d e r R e g i o n a l Sciences geschaffen, d i e i n a n d e r e n L ä n d e r n des Kontinents, i n Großbritannien, i n denVereinigten Staaten längst fruchtb a r g e w o r d e n sind. D i e E f f e k t i v i t ä t solcher B e m ü h u n g e n steht a l l e r d i n g s i n e i n e m m a ß s t a b l i c h e n V e r h ä l t n i s z u d e r E i n s i c h t , daß F o r s c h u n g e i n e r s o l i d e n m a t e r i e l l e n G r u n d l a g e b e d a r f . Eines h o f f e n t l i c h n i c h t z u f e r n e n Tages w i r d aus dieser E i n s i c h t z u f o l g e r n sein, daß auch i n d e r Regionalwissenschaft d i e f ü r Forschungszwecke z u r V e r f ü g u n g stehend e n M i t t e l a u f e i n Vielfaches anwachsen u n d l a n g f r i s t i g zugesichert w e r d e n müssen, f e r n e r daß i h r e V e r w e n d u n g v o n j e n e n k a m e r a l i s t i -

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sehen Einengungen zu befreien sein wird, die heute jedem Forscher, jedem Institutsleiter Kopfzerbrechen verursachen. 2. Interdisziplinäre

Forschung und Fortbildung

Vor einigen Jahren gingen Chefs von Stadtverwaltungen daran, i n ihre Verwaltungen Dienststellen für Stadtforschung, Stadtentwicklung u. ä. einzubauen, u m ihre Intentionen und die Beschlüsse der politischen Vertretungskörperschaften auf die Ergebnisse von Grundlagenforschung bzw. angewandter Forschung zu stützen. Solche Dienststellen einzurichten, erwies sich alsbald als recht schwierig, weil das Angebot an qualifizierten Persönlichkeiten, m i t denen die neugeschaffenen Planstellen zu besetzen waren, viele Wünsche offen ließ. Was i m folgenden Abschn. D zur Ausbildung von Stadt- und Regionalplanern gesagt wird, gilt mutatis mutandis auch für die Ausbildung von Stadt- und Regionalforschern: Die gesuchten Mitarbeiter dürfen nicht nur gute Fachwisschenschaftler (Nationalökonomen, Soziologen, Architekten, Verkehrsingenieure usw.) oder Statistiker oder Spezialisten der Datenverarbeitung sein, sondern sie müssen, u m die von ihnen erwarteten Dienste leisten zu können, Mindestanforderungen i n jeder dieser Disziplinen genügen. Das setzt Schulung i n interdisziplinärem Denken und Willen zum Verständnis von Fach zu Fach voraus. A n den Hochschulen sperrt man sich generell gegen interdisziplinäre Zusammenarbeit. Daher ist es hoch anzuerkennen, daß sie an einigen wenigen Lehrstühlen für Städtebau systematisch gepflegt wird. Hervorgehoben seien zwei solchen Lehrstühlen zugeordnete Institute, deren Wirksamkeit von ihren ersten Schritten an i m Mittelpunkt des Interesses der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung gestanden hat: Prof. Gerd Alb er s (TH München) verdanken w i r neben konkreten wissenschaftlichen Erkenntnissen die sachlich wie pädagogisch gleichermaßen unschätzbare Formulierung, daß der Planer bei und über allen konkreten Maßnahmen die Zukunft „offen zu halten" habe, m. a. W. sie nicht verbauen dürfe 2 4 . Prof. Peter Koller (TU Berlin), dessen Vaterschaft für die VW-Stadt Wolfsburg bis zu deren ersten Reißbrett-Anfängen zurückreicht, hat i n den Jahrzehnten seines dortigen Wirkens reiche Erfahrungen für seine Lehrtätigkeit sammeln können. Beizupflichten ist der Einsicht solcher Hochschullehrer, daß der Ausbildung und Fortbildung die isolierte Leistung von Städtebau-Instituten nicht mehr voll Genüge t u n kann; müssen doch außer den Städtebauern 24 M i t Nachdruck sei an dieser Stelle hingewiesen auf den grundlegenden Aufsatz v o n Gerd Albers „Hochschulausbildung u n d kommunale Planung" i n : Archiv für Kommunalwissenschaften 1963, Zweiter Halbjahresband (S. 23 ff.).

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die angehenden und nicht minder die bereits praktisch tätigen Planer aller Disziplinen (mit Einschluß der verwaltungsjuristischen) u. a. an die neuen technischen Methoden des Umgangs mit Daten herangeführt werden. Eben das gilt auch für die Mitarbeiter i n Forschungsstellen der öffentlichen Hand, i n deren Aufbau der Staat den kommunalen Gebietskörperschaften bald folgen wird. Da es Ausbildungs- und Fortbildungsstätten der notwendigen umfassenden A r t i m Bereich der Hochschulen nicht gibt, und da ebenso die interdisziplinäre Regionalforschung gegenüber den Anforderungen von heute und morgen i m Rückstand ist, war 1964/65 die Zeit für eine I n i tiative besonderer A r t reif: Damals riefen Verwaltungschefs, Planer und Wissenschaftler das Dokumentations- und Ausbildungszentrum für Theorie und Methode der Regionalforschung e.V. i n Bad Godesberg (DATUM) gemeinsam ins Leben 2 5 . Die D A T U M gestellten umfassenden Aufgaben und Ziele, die i n der finanziellen Trägerschaft des gemeinnützigen Vereins durch Bund, Länder und kommunale Gebietskörperschaften ihre Bestätigung gefunden haben, lassen sich i n Stichworten nur skizzieren: — Datendokumentation u n d Systemforschung zum A u f b a u eines gemeinsamen Informationssystems sowie einer zentralen Datenbank u n d zur Beratung beim Aufbau dezentraler Datenbanken; — eigene regionalwissenschaftliche, d. h. auf die Bedürfnisse der R a u m planung ausgerichtete Forschung; — Ausbildung u n d Fortbildung von Fachkräften u n d Sachbearbeitern i n der Anwendung integrierter Datenverarbeitung f ü r Zwecke der Planung sowie i n interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Hier ist also unter einem Dach vereinigt, was sonst — und nicht allein hierzulande — i n der Regel getrennt betrieben wird. Diese Vereinigung ist es, die über wesentliche Einzelergebnisse hinaus neuartige und bald vielleicht entscheidende Hilfen für die lokale, regionale und überregionale Forschung und Planung zu bringen verspricht. Erst die Kombination der skizzierten, scheinbar heterogenen, jedoch auf den gegenseitigen Bezug angewiesenen Zweige ermöglicht auch die Durchführung von Seminaren m i t Planspiel-Charakter, die vor allem der Fortbildung qualifizierter Mitarbeiter i n den öffentlichen Verwaltungen dienen. D. Nachspiel: Zur Planerausbildung War i m vorigen Abschnitt zuletzt von Fortbildung die Rede, so wurde damit die Frage nach der fundierten Ausbildung von Raumplanern 25 Der Verf. ist Sekretär des Kuratoriums von D A T U M ; er glaubt sich zu der Darstellung berechtigt u n d verpflichtet, w e i l er i n D A T U M ein Demonstrativ-Beispiel f ü r das Thema des Abschnittes („Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung") sieht.

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doch nur gestreift. Das zu erörtern, ist nicht Sache dieses Beitrages. Aber er liefe leer aus, würde nicht zum Schluß ein Akzent auf die Planerausbildung gesetzt: Was hilft Regionalforschung ohne Planer, die sich ihrer zu bedienen wissen? Hierzu hat Norman Pearson m i t Recht gesagt 26a , Planung sei „nicht einfach Anhängsel an die sogenannten Grunddisziplinen, nicht Ausweitung von Architektur, Geographie, Ingenieurwesen, Soziologie oder Vermessungskunde, sondern ein selbständiger Berufszweig m i t eigenen Rechten, Methoden und Zielsetzungen". Die Vorbereitung darauf erfordere, da sie Koordinationsvermögen, Phantasie und Sympathie gegenüber Menschen voraussetze, mehr als den „Normalstudenten": „ W i r suchen den Studenten, der eine Neigung zur Philosophie hat, dem es aber gleichzeitig auf Zusammenarbeit ankommt und auf Zusammenhänge." Wem das zu weit geht, der w i r d doch Wilhelm Wortmann zustimmen, der zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates von 1960 kritisch sagt 2 8 b , dort seien Städtebau, Landesplanung und Raumordnung nur bei einer von 20 Fachrichtungen (Architekten) und auch dort „nur am Rande" genannt. Es muß überraschen, daß es sieben Jahre später mit der Raumplanung zusammenhängende Lehrstühle und Studiengänge i n der BRD fast nur an Technischen Hochschulen gibt und auch dort nicht i n genügender Breite und Tiefe; und die Planerausbildung ist heute faktisch auf die Nach-Ausbildung von Bau- und Vermessungsreferendaren i n zweieinhalb- bis dreimonatigen Kursen für Städtebaulehre beschränkt. Hier drängt sich die Assoziation zu den veralteten Laufbahnvorschriften des Staates auf: „Der Staat aber ist von alters her an Baubeamten interessiert, die solide staatliche Gebäude schaffen und das Baupolizeirecht administrieren können 2 4 ." — Für den skizzierten Stand der Planerausbildung hat Prof. Friedrich Tamms als Präsident der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung die harte Formulierung gefunden 2 6 0 , „daß damit das Pferd am Schwanz aufgezäumt" sei. Tamms fordert ebenso wie Pearson eine umfassende Gesamtausbildung an Technischen Hochschulen und Universitäten. Regionalplanung und Regionalforschung auf neuen Wegen — das dürfen w i r wohl bejahen. Die Ausbildung zu beiden indessen befindet sich heute noch i n einem Notstand. Er bedarf, wenn nun bestehende Hochschulen ausgebaut und neue gegründet werden, ebenso unserer Aufmerksamkeit, wie der noch kaum erkannte Bezug der neuen Diszip l i n zur Politologie. 26 ökonomische Aspekte der Planung/Planung u n d Politik/Planerausbildung — Mitteilungen der Deutschen Akademie f ü r Städtebau u n d Landesplanung, Dez. 1966. — V o n den bedeutenden Beiträgen zu den drei Themen kommen hier n u r solche zur Planerausbildung zum Zuge: a) S. 94 ff. b) S. 87 ff. c) S. 120.

Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich 1871—1914 Von Wolfram Fischer U m das Verhältnis von Staatsverwaltung und Interessenverbänden i m Deutschen Kaiserreich erfassen zu können, w i r d man zunächst definieren müssen, was mit den Begriffen „Staatsverwaltung" und „ I n teressenverbänden" gemeint ist. Unter „Staatsverwaltung" soll hier an sich der ganze Verwaltungsapparat des Deutschen Reiches, seiner Bundesstaaten einschließlich der Provinzial- oder Bezirksregierungen und Kommunen verstanden werden, aus praktischen Gründen werden sich diese Ausführungen jedoch wesentlich auf die oberste Reichs Verwaltung und auf die oberste preußische Staatsverwaltung beschränken müssen. Unter „Interessenverbände" sind Vereinigungen zu verstehen, die dem Zwecke dienen, innerhalb des Staates und i n der Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Kräfte untereinander bestimmte als übereinstimmend gedachte, i m Rahmen des Staats- und Gesellschaftsganzen jedoch partielle „Interessen" zu vertreten. Diese Interessen müssen nicht wirtschaftlicher A r t sein, sie können ebenso religiöse Überzeugungen, kulturelle oder regionale Traditionen, nationale Minderheiten oder gesellschaftliche Statuswünsche zur Geltung bringen wollen. Wiederum aus praktischen Gründen werde ich mich jedoch wesentlich auf einige wenige, hauptsächlich wirtschaftlich motivierte Verbände beschränken. Gerade wegen dieses Zwangs zur Beschränkung möchte ich jedoch betonen, daß bei voller Berücksichtigung aller Dimensionen des Themas die Aussage sehr viel nuancenreicher ausfallen würde als i n dieser notwendigerweise verkürzten Darstellung.

I. Zur Entstehung und Organisation der Interessenverbände i n Deutschland Das Entstehen von Interessenverbänden w i r d meist m i t der Auflösung der ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung, dem Auseinanderfallen von Staat und Gesellschaft i m 19. Jahrhundert i n Verbindung gebracht. Wenn man unter Interessenverbänden freie, privatrechtlich organisierte Vereinigungen von Individuen, Firmen oder Gruppen versteht, ist das auch richtig. Das bedeutet jedoch nicht, daß Interessen

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Wolfram Fischer

nicht auch i n der vorindustriellen Welt wahrgenommen worden wären oder daß sie dort nicht organisiert gewesen wären. Selbstverständlich gab es Interessenorganisationen auch vor dem 19. Jahrhundert und zwar meist i n sehr enger Verflechtung m i t der politischen Herrschaftsordnung. Als die modernen Vereinigungen sich zu bilden begannen, waren diese älteren Organisationen noch keineswegs verschwunden. I n den deutschen Staaten, die den napoleonischen Reformen widerstanden oder sie widerriefen, z. B. den Hansestädten, lebten sie i n der Form von Kommerzdeputationen noch weiter, als sich i m übrigen Deutschland längst die „bürgerliche Gesellschaft" m i t ihren freien Assoziationen ausgebildet hatte. Bei der Gründung des Deutschen Reiches war diese Ausbildung einer „pluralistischen Gesellschaft" schon weit fortgeschritten, und es gab zahlreiche Vereinigungen, die man ihrer Organisation und ihren Zielen nach m i t vollem Recht als moderne Interessenverbände bezeichnen kann, auf wirtschaftlichem Gebiet z.B. Zusammenschlüsse einzelner Branchen wie die der Baumwoll- oder Zuckerfabrikanten oder der Industrien ganzer Staaten wie der Sachsens oder Badens. Die meisten waren i m Zusammenhang m i t der Ausbildung des Zollvereins entstanden 1 . I h r unmittelbarster Zweck bestand darin, bei den Zollvereinsregierungen bestimmte Branchenwünsche, meist Zölle oder Steuern betreffend, durchzusetzen; darüber hinaus hatten sie sich jedoch zum Ziel gesetzt, andere gemeinsame Probleme zu besprechen und das Wohl ihrer Branche oder Region zu fördern. Was immer diese allgemeineren Zwecke waren, deutlich ist bei jeder dieser Gründung, daß die Verbände als Partner, den es anzusprechen und zu überzeugen galt, i n erster Linie den „Staat" sahen. Man kann daher allgemein formulieren, daß die Interessenverbände vor allem da entstanden sind, wo einzelne Gruppen —meist infolge von Veränderungen wirtschaftspolitischer Daten — sich zusammenschlossen, u m Forderungen an „die Allgemeinheit" zu stellen. Und diese Allgemeinheit ist repräsentiert i n der Staatsverwaltung. Umgekehrt sind Interessenorganisationen jedoch auch dadurch ins Leben gerufen worden, daß die Staatsverwaltung Anforderungen an be1

Vgl. G. Schulz: Über Entstehung u n d Formen von Interessengruppen i n Deutschland seit Beginn der Industrialisierung. I n : Pol. Vierteljahresschrift 2 (1961), S. 124—154. Die Genesis der agrarischen Verbände schildert Schulz zutreffend, bei den industriellen sind i h m die frühesten nicht bekannt. Z u r K o r r e k t u r vgl. H. E. Krueger, Historische u n d kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel u n d Gewerbe i n Deutschland. I n : Schmollers Jahrbuch 32 (1908), S. 1581—1614, bes. S. 1594 f., u n d W. Fischer , Der Staat u n d die Anfänge der Industrialisierung i n Baden, Bd. I, B e r l i n 1962, S. 177—179. I n Lexica u n d Handbüchern w i r d die Entstehung von Interessenverbänden meist v i e l zu spät, etwa u m die Jahrhundertwende, angesetzt. S. z. B. den Abschnitt „Geschichtliches" i m A r t i k e l „ W i r t schaftsverbände" i m Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 8, Spalte 851 f.

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stimmte Gruppen der Gesellschaft oder Wirtschaft stellte und sie m i t unter sogar zur Ausführung bestimmter Aufgaben zwangsorganisierte. Besonders Kaufleute oder Reeder sind so zur Wahrnehmung von Gemeinschaftsaufgaben wie Hafenverwaltung, Lagerkontrolle etc. verpflichtet worden, wo ältere genossenschaftliche Organisationen nicht vorhanden waren oder nicht ausreichten. Diese staatlichen Zwangsorganisationen bildeten eine der beiden Hauptwurzeln für die modernen „Kammern", besonders die Industrie- und Handelskammern 2 . Bei der Gründung des Deutschen Reiches war die gewerbliche W i r t schaft der meisten Gegenden i n Handelskammern, Korporationen der Kaufmannschaften oder Kommerzdeputationen organisiert, großenteils zwangsweise. Diese Kammern besaßen die doppelte Aufgabe, sowohl den Anforderungen des Staates an einzelne Gruppen nach Beratung, Berichterstattung, M i t - oder Hilfsverwaltung zu erfüllen, wie die Wünsche der i n ihnen organisierten gewerblichen Unternehmerschaft eines Bezirks an den Staat zu formulieren und zu vertreten. I m Deutschen Handelstag besaßen die Kammern überdies ein (aus freiem Entschluß 1861 gegründetes) Zentralorgan, das sie als den berufenen Sprecher der gesamten deutschen Kaufmann- und Fabrikantenschaft gegenüber der Reichs- und den Staatsregierungen ansahen 3 . I m Bereich der gewerblichen Wirtschaft fand das Deutsche Reich also eine ausgebildete Interessen- und Selbstverwaltungsorganisation vor, m i t der zudem die Staatsregierungen bereits seit Jahrzehnten zu arbeiten gelernt hatten. Ein reger Schriftverkehr zwischen Kammern und Staatsorganen war i n allen entwickelteren deutschen Staaten, nicht nur i n Preußen, seit langem selbstverständlich, und fast überall waren die Kammern zu jährlichen Berichten verpflichtet, die für Bismarck z. B. eine Hauptinformationsquelle i n Wirtschaftsfragen darstellten. Auch die Landwirtschaft besaß eine „amtliche" bzw. amtlich anerkannte Vertretung ihrer Interessen. I n Preußen bestand z. B. seit 1842 das Landesökonomiekollegium, das ähnlich wie die Handelskammern den Doppelauftrag besaß, sowohl der Staatsverwaltung als „technische Deputation", als Organ zur Ausführung bestimmter die Landwirtschaft betreffenden Aufgaben, wie als Sammelpunkt für die landwirtschaftlichen Vereine zu dienen und so die Interessen der Landwirtschaft zu fördern und bei der Staatsregierung „anzumelden". 1868 hatte sich dann 2 Vgl. K . v. Eyll: Die Geschichte einer Handelskammer, dargestellt am Beispiel der Handelskammer Essen, 1840—1900, K ö l n 1964. W.Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung u n d Staat. Die Handelskammern i n der deutschen Wirtschafts- u n d Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts. B e r l i n 1964. 3 W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung u n d Staat, bes. S. 63 ff. u n d 96 ff. Vgl. auch die umfangreiche Selbstdarstellung des Deutschen H a n delstages: Der deutsche Handelstag 1861—1911. 2. Bde. B e r l i n 1911.

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i m Kongreß Norddeutscher Landwirte zum ersten Mal eine freie Verbindung von Landwirten gebildet, die nicht wie die älteren landwirtschaftlichen Vereine vorwiegend der technischen und betriebswirtschaftlichen Fortbildung seiner Mitglieder diente, sondern zur „Wahrnehmung der Interessen der Landwirtschaft i m ganzen Umfange des norddeutschen Bundes" geschaffen wurde 4 . Aus seinen und verwandten Bemühungen entstand dann 1872 der „Deutsche Landwirtschaftsrat" als Gesamtvertretung der deutschen Landwirtschaft, zusammengesetzt aus Delegierten der landwirtschaftlichen Zentralvertretungen der deutschen Einzelstaaten. Seine Aufgabe bestand nach dem Willen seiner Gründer darin, „die landwirtschaftlichen Interessen i m Gesamtumfange des Deutschen Reiches wahrzunehmen und überall, wo dieselben durch die Reichsgesetzgebung oder durch Anordnungen und Maßregeln der Reichsverwaltung gefördert werden können oder geschädigt zu werden Gefahr laufen, nicht nur etwa von i h m geforderte Gutachten abzugeben, sondern auch unaufgefordert und beizeiten an den Reichskanzler motivierte Vorstellungen zu richten oder sich m i t Anträgen an den Reichstag zu wenden" 5 . Als Unterbau zu dieser zentralen Vertretung entstand seit 1894, zunächst i n Preußen, später auch i n anderen Bundesstaaten, eine bezirklich gegliederte und öffentlich-rechtlich organisierte Kammerorganisation der Landwirtschaft. Die dritte Gruppe selbständiger Gewerbetreibender, das Handwerk, erhielt 1897 eine eigene amtliche Interessenvertretung i n Form von Handwerkskammern zugesprochen. Zuvor war es nur i n Bayern, Sachsen und den Hansestädten i n den Gewerbekammern mitvertreten, i n den meisten deutschen Staaten nach Auflösung der Zünfte jedoch auf freiwillige Innungen oder Vereine angewiesen. Die Handwerkskammern beruhten als einzige Kammern auf einem Reichsgesetz. Ungelöst ist die Frage geblieben, ob auch die Arbeitnehmer gesetzliche Interessenvertretungen bekommen sollten. Trotz zahlreicher Vorstöße i m Reichstag und einer ausgedehnten wissenschaftlichen und politischen Kontroversliteratur kam kein Gesetz zustande, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Befürworter der Kammern i n zwei Gruppen zerfielen, i n die, die eine selbständige Arbeiterkammer, und diejenigen, die paritätisch auch m i t Arbeitgebern zu besetzende Arbeitskammern wollten 6 . 4 Das Zitat ist aus den Statuten des Kongresses entnommen; Sperrung von m i r , Vgl. J. Croner: Die Geschichte der agrarischen Bewegung i n Deutschland. B e r l i n 1909, S. 25. 5 Ebd. S. 28. 6 Vgl. K . E. Born: Staat u n d Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. E i n Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890—1914. Wiesbaden 1954, S. 216 ff. H. J. Teuteberg, Geschichte der i n d u striellen Mitbestimmung i n Deutschland. Tübingen 1961, S. 465 ff.

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Trotz dieses letzten „Mangels i m System" hat das Deutsche Reich mindestens seit 1900 gesetzlich begründete öffentlich-rechtliche Organisationen der wirtschaftlichen Interessen i n einem Umfange besessen, wie wohl kaum ein anderes Land der Erde. Fügt man noch hinzu, daß mindestens zeitweise m i t dem preußischen Volkswirtschaftsrat und dem nie zustande gekommenen Reichswirtschaftsrat eine übergeordnete gesetzliche Vertretungsinstanz für die gesamte deutsche Volkswirtschaft ins Auge gefaßt wurde, so könnte der Eindruck entstehen, daß die Vertretung wirtschaftlicher Interessen i m Deutschen Reich verfassungsrechtlich eindeutig geregelt und sozial wohl ausgewogen gewesen sei. Trotzdem w i r d niemand, der die großen Interessenkämpfe des K a i serreichs überblickt — die Kämpfe für oder gegen Schutzzölle, um die Ausgestaltung der Handelsverträge, um die Kolonial- und Flottenpolitik, den Kanalbau, das Steuersystem, die Organisation und Beaufsichtigung der Börse, die Sozialpolitik — den Eindruck eines wohlbalancierten Ausgleichs divergierender Interessen bekommen; noch w i r d er den Eindruck gewinnen, daß die eben behandelten „amtlichen" Interessenvertretungen die entscheidenden Rollen i n den Interessenkämpfen spielten. Diese nahmen vielmehr die sog. „freien Verbände" ein wie der 1893 gegründete Bund der Landwirte oder der schon früher i n der gleichen Richtung arbeitende Verein der Wirtschafts - und Steuerreformer, oder der Centraiverband deutscher Industrieller (gegr. 1876) bzw. seine M i t - oder Gegenspieler i n den Industrie verbänden; außerdem solche m i t den wirtschaftlichen Interessenverbänden vielfach verflochtenen politischen Agitationsorganisationen wie der Deutsche Kolonialverein (gegr. 1882) oder der Deutsche Flottenverein (gegr. 1898). Man könnte daher versucht sein, wie das auch oft getan w i r d 7 , die öffentlich-rechtlichen Gremien aus dem Begriff des Interessenverbandes überhaupt herauszunehmen. Dies wäre jedoch falsch. Auch sie waren m i t der Wahrnehmung von Interessen beauftragt, haben sich als Interessenvertreter verstanden und i n unzähligen Fällen als solche gehandelt. Sie sind auch i m Alltagsgeschäft der Staatsverwaltung ständig gehört worden und haben sich i n zahlreiche wirtschaftliche und soziale, technische und auch politische Gesetzgebungsakte und Verwaltungsmaßnahmen eingeschaltet. Auch sind sie ebenso K r i t i k e r wie Kooperatoren der Regierungen gewesen. Wenn ihre Stimme gedämpfter klingt als die der freien Verbände, so hat das vornehmlich drei Gründe: Einmal waren sie als amtlich anerkannte Organe nicht so sehr darauf angewiesen, öffentlich Geschrei zu erheben, sondern konnten dem stillen 7 So z.B. A. Albrecht: Verbände. I n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 8, Spalte 2, oder Th. Nipperdey: Interessenverbände u n d Parteien i n Deutschland v o r dem ersten Weltkrieg. I n : Pol. Vjsschr. 2 (1961), S. 263.

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Geschäft des Informierens und Überzeugens i n Denkschriften, Gutachten und Gesprächen nachgehen, da die Regierungen, obwohl nur i n den Hansestädten gesetzlich verpflichtet, die Kammern zu hören, dies doch i n nahezu allen die Interessen der Wirtschaft berührenden Fragen taten. Zweitens verbot ihnen ihre öffentlich-rechtliche Stellung und das Aufsichtsrecht des Staats eine allzu hemmungslose Agitation. Vor allem aber waren die Kammern als Gesamtvertreter eines Bezirks gezwungen, schon intern einen Interessenausgleich vorzunehmen, ehe sie ihre Stellungnahme abgaben. Neben den Kammern bildeten sich i m Verlaufe der großen w i r t schafts- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen i m Deutschen Reich mehr und mehr die freien Vereinigungen, an die w i r besonders denken, wenn w i r von Interessenverbänden sprechen. Rechtlich gehören sie i n den Bereich des privaten, speziell des Vereinsrechts, soziologisch und politologisch können sie als „demokratische" Organisationen angesprochen werden. Zu ihren Merkmalen gehört der freie E i n t r i t t der Interessenten. Der Bund der Landwirte und der deutschnationale Handlungsgehilfenverband schlossen zudem jedoch die Finanzierung durch Mitgliederbeiträge und Spenden und die Organisation von unten nach oben durch die Wahl von Bezirks- oder Branchenvertretern, Vorstand, Ausschuß etc. aus. Manche Verbände waren straff i n Bezirksgruppen gegliedert und hatten vor allem Einzelmitglieder, deren Zahl allerdings nur bei den — hier nicht behandelten — Freien Gewerkschaften die M i l l i o n überschritt. Der Bund der Landwirte, eine andere „Massenorganisation", erreichte 1911 erst 328 000 Mitglieder 8 ' 9 . Andere bestanden nur aus wenigen, aber mächtigen M i t gliedern, z. B. Firmen oder anderen Verbänden, so z. B. der Centraiverband Deutscher Industrieller, i n dem sich Einzelmitglieder, Firmen, Verbände, aber auch Handelskammern zusammenfanden 10 . A u f die ganze Vielfalt der internen Organisation kann hier nicht eingegangen werden. Festgehalten sei, daß die freien Verbände sich ihre Organisation selbst gaben und von staatlicher Vormundschaft frei waren. Betont werden muß auch, daß die innerverbandliche Organisation durchaus nicht „demokratisch" sein mußte, sondern daß sich Herrschaftsstrukturen eigener A r t , z. B. das Übergewicht der Verbandsfunktionäre, 8 9 > Z u r Organisation u n d Mitgliedschaft des B d L vgl. H. Horn: Der K a m p f u m den Bau des Mittellandkanals. Eine politologische Untersuchung über die Rolle eines wirtschaftlichen Interessenverbandes i m Preußen Wilhelms I I . Köln/Opladen 1964, S. 8—18. 10 H. Kaelble: Industrielle Interessenpolitik i n der Wilhelminischen Gesellschaft. Centraiverband Deutscher Industrieller 1895—1914. B e r l i n 1967, S. 3—50, u n d H. J. Puhle: Agrarische Interessenpolitik u n d preußischer Konservatismus i m wilhelminischen Reich (1893—1914). E i n Beitrag zur Analyse des Nationalismus i n Deutschland am Beispiel des Bundes der L a n d w i r t e u n d der Deutsch-Konservativen Partei. Hannover 1967, S. 37—50.

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herausbilden konnten, und schließlich muß erwähnt werden, daß zahlreiche Überlappungen zwischen den Verbänden vorkamen — nicht nur Handelkammern Mitglieder des Centraiverbandes, sondern dieser auch Mitglied des Handelstages war und daß die führenden Verbandspersönlichkeiten sich i n zahlreichen Verbänden betätigten 11 . Die bekanntesten und offensichtlich mächtigsten dieser Verbände — sowohl als Gegenspieler wie als Verbündete — waren der Bund der Landwirte und der Centraiverband Deutscher Industrieller. Die Wirkungsweise und das Einflußgebiet von Interessenverbänden i m deutschen Kaiserreich soll daher jetzt am Beispiel besonders dieser beiden Verbände näher analysiert werden. I I . Die Wirkungsweise der Verbände und ihr Einflußgebiet Generell wirken Verbände als organisierte Zusammenschlüsse Gleichinteressierter entweder durch die Macht der Zahl, die hinter ihnen steht — so der Bund der Landwirte oder die Gewerkschaften — oder durch das „Gewicht", das sie i n Wirtschaft, Gesellschaft oder Staat repräsentieren — so beispielsweise der Centraiverband Deutscher Industrieller. Verbände sind Assoziationen, u m diese Zahlen oder Gewichte zur Geltung zu bringen, und zwar regelmäßig auf drei Ebenen: 1. I n der öffentlichen Meinung, 2. i m Parlament als dem gesetzgebenden Körper, 3. i n der Regierung als der Exekutive und Gesetzesvorbereiterin. Es muß gleich hier betont werden, daß die Verbände auch i m Kaiserreich schon auf allen drei Ebenen tätig waren, und zwar, wenn mein Eindruck richtig ist, auf allen drei gleichzeitig und m i t gleicher Intensität. Selbstverständlich wurden die Gewichte aus taktischen Gründen von Fall zu Fall verschieden verteilt, langfristigere Pläne zunächst durch Agitation zur Gewinnung der öffentlichen Meinung vorbereitet, bei Gesetzesvorlagen vor allem das Parlament bearbeitet, i n zahlreichen kleineren Fragen vor allem die Regierung beeinflußt. Bei einer Durchsicht der Literatur, vor allem der vor dem 1. Weltkrieg entstandenen, erhält man sogar den Eindruck, als ob die „Öffentlichkeitsarbeit" die ausgedehnteste gewesen, die „Parlamentsarbeit" an zwei11 A m bekanntesten ist die Rolle H. A. Buecks, der mehrere Jahre lang zugleich Geschäftsführer des Langnamvereins, der Nordwestlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- u n d Stahlindustrieller u n d des Centraiverbandes Deutscher Industrieller war, oder die Rolle v. Kardorffs durch seine Doppelmitgliedschaft i n industriellen u n d agrarischen Verbänden. Aber auch auf lokaler u n d bezirklicher Ebene gibt es diese Ämterhäufung. So hat, u m n u r ein Beispiel zu nennen, der Geschäftsführer der Südwestfälischen Handelskammer zu Hagen, M a x Gerstein, über 50 Verbände u n d Kartelle von K l e i n eisenindustriellen ins Leben gerufen u n d jahrelang selbst geleitet. (Vgl. L. Beutin: Geschichte der südwestfälischen Industrie- u n d Handelskammer zu Hagen u n d ihrer Wirtschaftslandschaft. Hagen 1956, S. 118 ff.).

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ter Stelle gestanden und die Einwirkung auf die Regierung nur drittrangig gewesen sei. Hier täuscht jedoch die Perspektive. Den Zeitgenossen war die Tätigkeit der Verbände i n der Öffentlichkeit bekannt; über sie berichten Versammlungsprotokolle, Broschüren und Pressemitteilungen. Was die Verbände außerdem taten, wann und wie sie vor allem an die Verwaltungsbeamten herantraten, blieb großenteils unbekannt und kann nur durch Archivarbeit einigermaßen rekonstruiert werden. Das ist bisher noch nie i m Zusammenhang geschehen, und w i r können daher über das genaue Ausmaß des Verbandseinflusses auf die Verwaltung nur Vermutungen anstellen. Einen Hinweis mag die Tatsache geben, daß i n der Bundesrepublik nach Feststellungen von Hennis zwischen 1949 und 1958 fast 83 °/o aller Eingaben des B D I (Bundesverband der deutschen Industrie) an die Exekutive und nur 7 °/o an die Legislative gingen — der Rest an Institutionen wie Bundesbank und Bundesbahn l l a . Es ist schwer vorstellbar, daß i m Kaiserreich das Interesse der Verbände an der Regierung geringer und das am Parlament größer gewesen sein sollte als heute. Dies ist jedoch genau der Eindruck, den fast alle Arbeiten über die Verbände, auch die jüngsten — etwa Horn, Kaelble und Puhle — vermitteln, während die Politologen, die die Gegenwart untersuchen, gerade betonen, wie relativ unwichtig die Parlamente und wie überragend die Verwaltungsmaschinerie für die Verbände sind — auch bei Einflußnahmen auf die Gesetzgebung. Aber wie die Schwergewichtsverteilung i m Einzelfall auch gewesen sein mag, wichtig ist, festzuhalten, daß die Verbände auch i m Kaiserreich keineswegs nur die Regierung und Staatsverwaltung als einflußreich und beeinflussungswürdig ansahen, sondern auch den Reichstag, die Landtage und „das Volk", zumindest das zeitunglesende. Gewiß kann man auch diese Einflußnahme als indirekt auf die Regierung und das Parlament gerichtet ansehen, denn worauf es bei der Agitation i n der Öffentlichkeit ankam, war natürlich, daß die Beamten, Minister und Abgeordneten sich von der „öffentlichen Meinung" unter Druck gesetzt fühlten, i m Interesse der deutschen Landwirtschaft, der deutschen Industrie oder der „nationalen Arbeit" i n einer bestimmten Weise zu handeln, etwa Zölle zu erhöhen, Handelsvertragsklauseln zu revidieren, die Börse zu überwachen, die Sozialpolitik zu bremsen oder zu beschleunigen, einen Mittellanftkanal zu bauen oder nicht zu bauen. Interessant ist daran jedoch, daß unter der Staatsform der konstitutionellen Monarchie, die K r i t i k e r m i t Recht eine semi-absolutistischbureaukratische genannt haben, diese Verbände sich nicht damit begnügten, die regierende Bürokratie zu beeinflussen, sondern daß sie den Appell an das Volk und seine Repräsentanten brauchten. Durch ihre n

» W. Hennis: 2 (1961), S. 25.

Verfassungsordnung u n d Verbandseinfluß. I n : Pol. Vjsschr.

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Handlungsweise erkannten sie die Existenz einer „pluralistischen Gesellschaft" i m Deutschen Reich vor 1914 an, wenngleich ihre eigene Ideologie sich sehr oft gegen die Charakterzüge einer solchen Gesellschaft wandte. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und mit guten Gründen behaupten, daß die Interessenverbände i m Prinzip wie i n vielen Einzelheiten so handelten, wie Interessenverbände i n einer politischen Demokratie handeln, als gesellschaftliche Kräfte, die als Vertreter des souveränen Volks Anspruch auf Gehör und Mitbestimmung bei der Formulierung der Politik erheben und sich i m Spiel divergierender Kräfte um die Formulierung dieser Politik eine möglichst günstige Ausgangsposition und Einflußchance erringen wollen. U m es noch deutlicher zu sagen: Regierung und Monarch sind von den Interessenverbänden und gerade von den „konservativen", „nationalen", den das Gesamtwohl herausstellenden, nicht als respekterheischende „Obrigkeit" behandelt worden, auch nicht als über den Parteien stehende neutrale I n stanz der ausgleichenden Gerechtigkeit, sondern teils als widerwillige Exekutive, die auf die Stimme der nationalen Lebensinteressen nicht hören w i l l , teils als feindliche Festung, die berannt, erobert und von gegnerischem Element gesäubert werden muß. Die schärfsten und erfolgreichsten Verbände sprachen nicht als loyale Untertanen, sondern als selbstbewußte Bürger, als zur Mitherrschaft Berechtigte und notfalls als Frondeure. Gerade der konservativste, „königstreueste" aller Verbände, der vom ostelbischen Landadel beherrschte Bund der Landwirte, gebärdete sich nicht nur am lautesten, wo die Interessen seiner Mitglieder verletzt zu werden schienen, sondern prinzipiell und von Anfang an radikaldemokratisch. Oft zitiert worden ist der erfolgreiche Aufruf zur Gründung der Landwirte, den der Bunzlauer General-Pächter Ruprecht-Ransern i m Dezember 1892 veröffentlichte: „ I c h schlage nichts mehr u n d nichts weniger vor, als daß w i r unter die Sozialdemokraten gehen u n d ernstlich gegen die Regierung Front machen . . . u n d sie unsere Macht fühlen lassen . . . W i r müssen aufhören zu klagen . . . , w i r müssen schreien . . . W i r müssen schreien, daß es das ganze L a n d hört, w i r müssen schreien, daß es bis i n die Parlamentssäle u n d Ministerien dringt —, w i r müssen schreien, daß es bis an die Stufen des Thrones vernommen w i r d . . . Aber w i r müssen, damit unser Geschrei nicht auch wieder unbeachtet verhallt, gleichzeitig handeln . . . W i r müssen . . . Politik, u n d zwar Interessenp o l i t i k treiben; . . . denn n u r dadurch, daß w i r rücksichtslose u n d ungeschminkte Interessenpolitik treiben, k a n n vielleicht die Existenz der heutigen L a n d w i r t e . . . gerettet werden 1 2 ." 12 Ursprünglicher Erscheinungsort: „Landwirtschaftliche Tierzucht" v o m 21.12.1892. Auszugsweise zitiert bei J. Croner: Die Geschichte der agrarischen Bewegung . . . S. 131 f., O. v. Kiesewetter , 25 Jahre wirtschaftspolitischen Kampfes, B e r l i n 1918, S. 22; H. Horn: Der K a m p f u m den Bau des M i t t e l l a n d kanals, S. 10, H. J. Puhle: Agrarische Interessenpolitik u n d preußischer K o n servatismus, S. 33.

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Wenn auch manche seiner Mitglieder mit der grobschlächtigen Sprache des Verbandes nicht einverstanden waren, so taten sie doch nichts Entscheidendes, um sie zu mäßigen, um den Verband i n die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie einzupassen. I m Gegenteil, lauter Beifall ertönte auf den Generalversammlungen, wenn ein Redner besonders heftig gegen die konservative preußische Regierung vom Leder zog und, wie 1896 v. Diest-Daber i m Zirkus Busch i n Berlin, verkündete: „Was der Herr von Hammerstein (Min. f. Ldw.) von uns sagte, kann uns sehr schnuppe sein 13 ." I n allen entscheidenden Streitfragen, z. B. bei der Kanalvorlage i m preußischen Landtag oder bei dem Abschluß und der Erneuerung von Handelsverträgen oder der Vorbereitung eines Börsengesetzes oder bei der Unterstützung des Antrages Kanitz i m Reichstag, handelte der Bund der Landwirte wie ein massiver, demokratischer Interessenverband. Er pochte auf die „Majorität" der agrarischen Interessen i m Deutschen Reich und versuchte damit eine demokratische Legitimation seiner Handlungsweise. Regierung und Gegner bezichtigten ihn sogar des „AgrarSozialismus", besonders seit Graf Kanitz der Landwirtschaft mit dem Plan helfen wollte, der Reichsverwaltung den Ein- und Verkauf des gesamten ausländischen Getreides aufzubürden. Allerdings handelte es sich beim Bund der Landwirte um eine quasi-demokratische und quasi-sozialistische Haltung, denn die Agrarier handelten nicht als Gleiche unter Gleichen, sondern zur Verteidigung ihrer naturgegebenen Vorzugsstellung i m Staate, die von der Regierung mehr und mehr mißachtet wurde. 1896 rief ein Berichterstatter des Bundes auf: „das Aschenbrödel der deutschen Gesetzgebung zur Stelle des Fürstenkindes (zu) erheben, welche die deutsche Landwirtschaft, als erstgeborener Stand, als das Muttergewerbe u n d das Rückgrat des Staates, beanspruchen darf 1 4 ."

Wie undemokratisch die politischen und gesellschaftlichen Ansichten der Interessenvertreter auch sein mochten, die großen Verbände handelten schon weitgehend nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie. So beschränkten sie sich z. B. nicht darauf, bereits gewählte Parlamentarier zu beeinflussen, sondern sahen weit größere Erfolgschancen darin, ihnen „nahestehende", auf das Programm des Verbandes verpflichtete Kandidaten aufzustellen und i m Wahlkampf durchzusetzen. Den größten Erfolg dabei hatten, wenn man von der weitgehenden Identität der freien Gewerkschaften mit der Sozialdemokratischen Partei absieht, wieder die agrarischen Interessenverbände. So gelang es dem Bund der Landwirte bei der Wahl zum Reichstag 1898 118 auf das Programm des Bundes verpflichtete Kandidaten durchzubringen, und 13 14

J. Croner : Die Geschichte der agrarischen Bewegung, S. 185. Ebd.

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1904 beanspruchte er von 420 Abgeordneten i m preußischen Abgeordnetenhaus 222 für sich 15 , während der Centraiverband der deutschen I n dustriellen schon froh sein konnte, wenn 1912 von 120 von i h m unterstützten Kandidaten 41 i n den Reichstag kamen 1 5 a . Der Bund der Landw i r t e hat auch Abgeordnete fallen gelassen, ihre Wiederwahl verhindert, ja sie zum Rücktritt während laufender Legislaturperioden aufgefordert, wenn sie sein Programm nicht oder nicht energisch genug unterstützten. Einige dieser Abgeordneten, die zugleich Staatsbeamte waren, i n Preußen vor allem Landräte, konnten dabei i n einen Druck von zwei Seiten geraten, wenn Regierung und Bund, wie bei der Kanalvorlage gegensätzlicher Ansicht waren. Interessanterweise hat i n diesem Loyalitätskonflikt zwischen Regierung und Interessengruppe die Mehrzahl der Betroffenen die Loyalität zur Gruppe über die zur Regierung und das von dieser vertretene Gemeinwohl gestellt und lieber die Disziplinarstrafe der Regierung und die Ungnade des Monarchen i n Kauf genommen als einen Ausschluß aus der Gruppe 1 6 . Wohlgemerkt handelte es sich dabei nicht um eine tiefgehende politische Grundsatzentscheidung, also etwa um die Veränderung des preußischen Dreiklassenwahlrechts oder die Abschaffung der Monarchie, bei der gegensätzliche Staats- und Gesellschaf tsphilosophien zur Debatte standen, sondern u m einen schlichten Konflikt wirtschaftlicher Interessen. Die Methode, Einfluß auf Sachentscheidungen über die Auswahl von Personen zu gewinnen, wandten die Verbände auch auf die Regierung an; sie nahmen die „Obrigkeit" keineswegs als gegeben hin. Politisch am bedeutungsvollsten war sicher die Agitation der Agrarier gegen den Reichskanzler Graf Caprivi, der sich als ein „Mann ohne A r und H a l m " erwiesen hatte, als er die Bismarcksche Schutzzollpolitik vorsichtig zu revidieren begann und wieder zu langfristigen Handelsverträgen m i t der Meistbegünstigungsklausel und mäßigen Zöllen zurückkehrte. Aber auch das Schicksal seiner Nachfolger Hohenlohe und Bülow sowie zahlreicher preußischer Minister und hoher Beamter, beginnend m i t Rudolf Delbrück und seinen Mitarbeitern, ist von dem Wohl- bzw. Übelwollen von Interessenverbänden mindestens mitbestimmt worden 1 7 . A u f interessenbestimmten und interessengefährdetem Boden standen vor allem 15

H. Horn: Der Kampf um den Bau des Mittellandkanals, S. 20. H. J. Puhle:

Agrarische Interessenpolitik u n d preußischer Konservatismus, S. 165—184. i5a Der Bericht der Wahlfondskommission des C V D I von 1912 ist abgedruckt bei H. Kaelble: Industrielle Interessenpolitik i n der Wilhelminischen Gesellschaft, S. 214—222. 16

17

H. Horn: a.a.O., S. 69 ff.

H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Die deutsche Handelsp o l i t i k 1848—1881. K ö l n 1966, S. 412, 570ff.; H.Walther: Theodor Adolf von Möller 1840—1925. Lebensbild eines westfälischen Industriellen. Neustadt a. d. Aisch 1958, S. 113 ff. H. J. Puhle: Agrarische Interessenpolitik u n d preußischer Konservatismus, S. 208 f., 237, 263 ff.

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die Ministerien, die Angelegenheiten einzelner Gruppen bearbeiteten, z. B. das preußische Landwirtschaftsministerium, ebenso die Vertreter der Sozialpolitik, aber selbst die Minister und Beamten auf dem K u l tussektor, wo Kirchen, kirchliche Verbände und weltanschauliche „pressure groups" Einfluß hatten und selbst die so obrigkeitsgebundenen Lehrer, i n Lehrervereinen organisiert, ihre Stimmen zur Geltung zu bringen suchten 17a . Noch liegen nicht genügend Unterlagen vor, u m nachzuweisen, i n welcher Weise die Verbände aller A r t positiv wie negativ Einfluß auf die Personalbesetzung i n der Verwaltung hatten. Die bisher bekannten Fälle von Einflußnahme genügen jedoch, u m die apodiktische Feststellung Th. Eschenburgs über die monokratische Verwaltungsstruktur der Bismarckschen Monarchie i n Zweifel zu ziehen: „Weder politische noch wirtschaftliche Gruppen hatten Einfluß auf die Personalpolitik, nicht einmal die agrarischen Organisationen. V o n einer irgendw i e gearteten Rechenschaftspflicht der Beamten gegenüber den Gruppen, von einer Beeinflussung jener durch diese konnte nicht die Rede sein 1 8 ."

Ganz deutlich ist z. B., daß die preußischen Landräte sehr stark von dem Vertrauen der Gutsbesitzer ihres Kreises abhängig waren und sehr oft nicht wagten, sich i n ausgesprochenen Gegensatz zu ihnen zu setzen 19 . Bei der Rekrutierung des Nachwuchses für die preußische Verwaltung, besonders für die politische „Innenverwaltung" vom Landratsamt über das Regierungspräsidium bis zum Innenministerium, genossen Söhne von „königstreuen", konservativ oder wenigstens nationalliberal gesinnten Familien eine deutliche Vorgabe, die durch das Juristenmonopol für die Verwaltungslaufbahn nur wenig eingeschränkt, oft eher verstärkt wurde. Der Regierungspräsident, der i m allgemeinen über die Einstellung befand, konnte mit leichter Hand eine der „Obrigkeit" genehme Auslese treffen 1 9 a . Zwar scheint es richtig zu sein, daß Interessenverbände auf diese Auswahl keinen direkten Einfluß hatten, 17a C. L. A. Pretzel: Geschichte des deutschen Lehrervereins. Leipzig 1921, bes. S. 364. 18 Th. Eschenburg : Herrschaft der Verbände? Stuttgart 1955, S. 12. 19 Illustrationen zur Stellung des Landrates i n Preußen geben die Lebenserinnerungen von H. M. Freiherr von Braun: Weg durch vier Zeitepochen; v o m ostpreußischen Gutsleben der Väter bis zur Weltraumforschung des Sohnes. 3. A u f l . L i m b u r g a. d. L a h n 1965; A.Wermuth: E i n Beamtenleben. Erinnerungen, B e r l i n 1922. Cuno Graf Westarp: Konservative P o l i t i k i m letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, 1908—1914. 1. Bd. B e r l i n 1935, S. 4. T i l o Freiherr von Wilmowsky: Rückblickend möchte ich sagen. A n der Schwelle des 150jährigen Kruppjubiläums, 2. Aufl. Oldenburg 1961. 19a Vgl. z. B. die „naive" Schilderung Wermuths über den Beginn seiner Beamtenkarriere 1882: „Der Staatssekretär des I n n e r n von Boetticher, als früherer Landdrost von Hannover m i t der Vergangenheit meiner Familie bekannt, w a r mich i n das Reichsamt des I n n e r n zu berufen geneigt." A . Wer -

muth: Ein Beamtenleben, S. 34.

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aber der erforderliche „background" sorgte doch dafür, daß bestimmte Interessen, z. B. die der Arbeiterschaft, keinesfalls vertreten und daß auch die der Fortschrittspartei verbundenen, politisch wie wirtschaftlich liberal eingestellten, die Handels- und Kleinunternehmerinteressen vertretenen Kreise unterrepräsentiert blieben 2 0 . Nonkonformisten und nonkonformistische Interessen waren ausgeschlossen. Solche Interessen konnten am ehesten i n den städtischen Verwaltungen, über Stadträte und Bürgermeister, zu politischem Einfluß gelangen; hier war die Identität von politischer und wirtschaftlich-gesellschaftlicher Führungsschicht, wie sie z. B. dem Rheinland des Vormärz vertraut war, am längsten fortsetzbar. Und der Einfluß von Verbänden und Kammern auf die Verwaltungstätigkeit der Kommunen, Kreisverwaltungen und selbst Regierungspräsidien gehörte zweifellos zu den Alltagserscheinungen 21 . A u f lokaler Ebene war auch am ehesten Einfluß erreichbar auf einem Wege, der vielen als der sicherste, respektabelste und unauffälligste erschien, durch persönlichen Kontakt. Je höher die Ebene der Verwaltung, desto geringer war die Zahl derer, die solchen persönlichen Kontakt familiärer oder gesellschaftlicher A r t besaßen oder erringen konnten. Und ganz wenige wie Bleichröder, Krupp oder Ballin, später auch Stinnes, besaßen eine persönliche Verbindung nach „ganz oben", zum Reichskanzler oder zum Kaiser. Auch hier hatte der alte preußische Landadel wieder den natürlichen Vorteil, hoffähig zu sein und das Personal für die „Kamerilla" des wilhelminischen Zeitalters zu stellen. Für die Industrie waren daher hoffähige Industrielle wie Graf Henckel von Donnersmarck, der Freiherr von Stumm-Halberg oder Wilhelm von Kardorff von besonderem Wert, w e i l sie solche Verbindungen besaßen, besonders wenn sie außerdem als Reichstagsabgeordnete noch über ein legitimes politisches Mandat verfügten. 20 Z u der Einseitigkeit der Auslese u n d „Gesinnungsschnüffelei" i n preußischen Staatsdienst s. E. Kehr: Das soziale System der Reaktion i n Preußen unter dem M i n i s t e r i u m Puttkammer. I n : E. Kehr: Der P r i m a t der I n n e n politik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte i m 19. u n d 20. Jahrhundert. Hrsg. v. U. Wehler. B e r l i n 1965, S. 64—86. Z u r sozialen Zusammensetzung der obersten Reichsbehörden vgl. R. Morsey: Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck. Münster 1957, S. 242 ff.; f ü r die Personalp o l i t i k unter Caprivi u n d Hohenlohe ist eine Diss. v o n John Röhl (Cambridge, England) zu erwarten, f ü r die Zeit unter B ü l o w u n d Bethmann eine Diss. von Paul Duggan (Harvard), deren vorläufige Ergebnisse hier referiert sind. Vgl. auch H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 582 ff. 21 Die meisten Geschichten von Industrie- u n d Handelskammern, auch meine eigene des Kammerbezirks Essen-Mühlheim (Herz des Reviers, Essen 1965), vernachlässigen diesen Aspekt der Kammertätigkeit. Eine Schwierigkeit besteht darin, den „Verbandseinfluß" v o n dem einzelner prominenter Bürger zu unterscheiden, da diese oft die Verbände repräsentieren.

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Das M i t t e l des persönlichen Kontakts und der stillen Einflußnahme durch ihn sollte trotz der wachsenden Organisation der Interessen und ihrer Geltendmachung durch Massenkundgebungen auch für die spätere Zeit nicht unterschätzt werden. Es erleichterte denVerbänden die Übersetzung der auf die öffentliche Meinung gerichteten Agitation i n konkrete Aktionen der Gesetzgebung und Verwaltung und half die ob der groben Tonart mancher Verbände aufgebrachten Majestäten und Obrigkeiten zu beschwichtigen. Überdies gestattete er den Einsatz von Männern, die die führende M i t w i r k u n g i n Verbänden verschmähten und ungern öffentlich auftraten, wie etwa Adolph von Hansemanns, des Vorsitzenden der Berliner Discontobank und nach Bleichröder wohl einflußreichsten deutschen Bankiers der Bismarckzeit 22 , oder des ehemaligen Diplomaten Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der die persönlichen Kontakte zum Kaiser pflegte, während die Chefs seines Direktoriums, Jencke, Roetger und Hugenberg, sich führend i n Verbänden betätigten und die Verbindung zur hohen Beamtenschaft hielten, die sie aus ihrer Zeit i m Staatsdienst besaßen — Jencke als Direktor der sächsischen Eisenbahnverwaltung, Roetger als preußischer Landrat und Hugenberg als Mitglied der preußischen Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen und als Beamter des preußischen Finanzministeriums. Die vom Standpunkt industriellen Managements zunächst befremdlich scheinende Tatsache, daß die Vorsitzenden des Krupp-Direktoriums alle aus dem Staatsdienst statt aus der Industrie stammten, mag sich z. T. aus der Dienlichkeit solcher Kontakte für eine Rüstungsfirma erklären 2 3 . Auch andere Firmen, z. B. Siemens und die DiscontoGesellschaft, haben hohe Staatsbeamte i n leitende Positionen übernommen, sicher nicht allein wegen ihrer persönlichen Qualitäten und Erfahrungen, sondern auch, u m einen Schatz an Verbindungen einzukaufen. Überhaupt ist der Übergang von Staatsbeamten i n die Wirtschaft (und umgekehrt) auch vor 1914 nicht ganz so selten gewesen, wie w i r anzunehmen geneigt sind. Sogar ein wiederholter Übergang nach beiden Seiten war möglich 24 . Besonders unkonventionell bei der Einstellung 22

H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 202 f. Z u dem ganzen K o m p l e x vgl. W. Boelcke (Hrsg.): K r u p p u n d die Hohenzollern. Aus der Korrespondenz der Familie K r u p p 1850—1916. B e r l i n 1956. 24 Zahlreiche Lebensläufe dieser A r t bei H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, bes. Exkurs I , S. 313 ff. Beispiele wiederholten Übergangs sind außer P o l i t i k e r n w i e Miquel u n d später Helfferich Beamte w i e der Geh. F i nanzrat Scheck, der v o m preußischen Finanzministerium 1869 i n die DiscontoGesellschaft überwechselte, 1873 jedoch als Chef des Reichseisenbahnamtes wieder i n den Staatsdienst zurückkehrte. E i n hübsches Beispiel, w i e ein solcher Übergang v o m Staatsdiener i n die Wirtschaft u n d zurück i n den Staatsdienst sich i n den übersichtlicheren Verhältnissen eines deutschen Mittelstaates abspielte, sind die Lebenserinnerungen des württembergischen Staatsrates, Landwehrmaior u n d Bankdirektors Leopold Hegelmaier, Beamter u n d Soldat 1884—1936. Stuttgart 1937, bes. S. 118 ff. 23

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von Beamten aus der Wirtschaft handelte das Reichskolonialamt, dessen Präsident Dernburg zuvor Bankdirektor gewesen war. Man muß sich jedoch davor hüten, Männer der Wirtschaft, die Kontakte zur Bureaukratie besaßen und pflegten, nur als „Botschafter" von Interessenverbänden zu sehen oder „Fahnenflüchtige" — wie W i l helm II. i n die Wirtschaft übergehende Beamte zu titulieren geneigt war — nur als Verbindungsträger. Zunächst waren sie vor allem Vertreter ihres eigenen Interesses und das ihres Unternehmens. Krupp repräsentierte niemals die deutsche Schwerindustrie, noch konnte Ballin für die deutschen Schiffahrtsinteressen stehen oder Hansemann für das deutsche Bankgewerbe. Gerade Individualisten wie sie repräsentierten vor allem sich selbst, ihren Erfolg, auch ihre Eitelkeit oder ihr Geltungsbedürfnis. Persönlicher Kontakt zu führenden Unternehmern wurde umgekehrt von den Spitzen der Staatsverwaltung ebenso gesucht wie von den Unternehmern. Von der Anweisung an die preußischen Landräte des Vormärz, die Umsatzzahlen der Zuckerindustrie zum Zwecke der Erhebung einer Zuckersteuer eher durch gesellschaftlichen Umgang m i t den Zuckerindustriellen zu erfahren als durch eine förmliche Erhebung 2 5 , bis zur Benutzung von Geschäftsleuten wie Bleichröder, Ballin und Stinnes als Sonderbotschafter 26 zieht sich eine ununterbrochene Kette von Vorfällen, i n denen die Staatsverwaltung persönliche Kontakte zur Geschäftswelt für die Lösung ihrer Probleme zu nutzen suchte. Gerade wenn Pläne der Regierung auf Widerstand bei Interessengruppen stießen, war das ein ausgezeichneter Weg, die Stimmung einer Gruppe, abweichende Meinungen und schwache Stellen zu erforschen und informelle Botschaften an die Verbände zu bringen. Bismarck hat sich dieser Methode wie anderer diplomatischer Methoden meisterhaft bedient, um seine Zwecke durchzusetzen. So hat er, um nur ein Beispiel zu nennen, die Formierung von Interessengruppen u m die Forderung des „Schutzes der nationalen Arbeit" systematisch „aufgebaut", indem er Kardorff und Stinnes zur Fortsetzung ihrer Schutzzollkampagne ermutigte und die Rekrutierung von Verbündeten anregte 27 . Nicht immer kann jedoch von dem Vorhandensein persönlicher Kontakte, nicht einmal von der Übereinstimmung der Interessen per se auf eine erfolgreiche Einflußnahme auf die Staatsverwaltung durch die Kontaktmänner und deren Inter essen verbände geschlossen werden. So hat sich die Mehrzahl der preußischen Agrarminister, obwohl aus alt25 W. Fischer: Der Staat u n d die Anfänge der Industrialisierung i n Baden 1800—1850, Bd. I, B e r l i n 1962. S. 292. 26 Vgl. H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 204 f. (für Bleichröder), C. Lamar: A l b e r t Ballin. Business and Politics i n I m p e r i a l Germany 1888—1918. Princeton 1967; G. v. Klass: Hugo Stinnes. Tübingen 1958. 27 H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 388.

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preußischem Adel stammend, dem Druck der Agrarier widersetzt und eine Politik durchgeführt, die vom Bund der Landwirte, mitunter auch vom Landwirtschaftsrat, als „agrarfeindlich" eingestuft wurde, und der Bielefelder Fabrikant Theodor Adolf Moeller hat als preußischer M i n i ster für Handel und Gewerbe (1901—1905) gegen den ausgesprochenen Widerstand der Industrie Projekte wie die Verstaatlichung der „Hibernia" und die Novelle zum Berggesetz von 1865 vorangetrieben und i n einer Rede i m preußischen Abgeordnetenhaus seine „alten Freunde aus der Industrie" daran erinnert, „daß neben der Förderung der eigenen Interessen das allgemeine Interesse nicht dauernd verletzt werden darf", weil sich auf die Dauer das deutsche Volk und seine „berufenen Vertreter" das nicht gefallen lassen würden 2 8 . Möglicherweise war Moeller sogar härter i n der Vertretung allgemeiner Interessen als ein aus der Beamtenlaufbahn hervorgegangener Minister, weil er als M i t begründer und langjähriges Mitglied des Langnamvereins und des Centraiverbandes deutscher Industrieller die Interna der Interessenpolitik genau kannte. So würde ich jedenfalls seine Äußerung deuten, daß, wer gegen die Konzentrationsbewegung einschreiten wolle, „nicht ängstlich sein" dürfe, und sich auch durch „heftige Angriffe" derer, „die sich i n ihren kapitalistischen Interessen geschädigt glauben", nicht abschrecken lassen dürfe 2 9 . Die Zugehörigkeit eines Ministers oder Staatssekretärs zu einer bestimmten Gruppe garantierte also keineswegs eo ipso eine gruppenfreundliche Politik, wie sie etwa der „Vorwärts" voraussetzte, wenn er zu Moellers Ernennung schrieb: „Jetzt bezieht der Centraiverband Wohnung i m Handelsministerium selbst 30 ." Andererseits w i r d man sich jedoch vor der idealistischen Annahme hüten müssen, daß preußischdeutsche Minister und Beamte durchweg dagegen gefeit waren, Gruppeninteressen über das Gemeinwohl zu stellen. So ist m. W. nie untersucht worden, ob und wie sich die aus ihrer sozialen Herkunft herrührende Interessenlage der Beamtenschicht auf ihre Amtsführung ausgew i r k t hat — außer daß sie m i t wenigen Ausnahmen stramme Monarchisten und prinzipielle Gegner der Sozialdemokratie waren. Ich möchte z. B. vermuten, daß ein Mann wie der später (1907) zum Freiherrn erhobene K a r l Gamp, der als Reichstagsmitglied zu den ausgesprochenen Vertretern agrarischer Interessen gehörte, als Vortragender Rat i m preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe (1883—95) kein ausgesprochener Förderer gewerblicher Interessen gewesen ist. Sehr viel näher als die Funktion eines „Bremsers" liegt für einen Ressortbeamten jedoch die der Identifizierung des Gruppen- m i t dem 28 29 30

H. Walther: Theodor A d o l f von Möller, S. 90 ff., Zitat S. 98. Ebd. S. 106 f. Zitiert ebd. S. 66.

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Ressort- und also m i t dem „nationalen" Interesse. Wo eine solche Identifizierung vorgenommen wurde und das Gruppeninteresse über das Gemeinwohl siegte, ist nicht leicht zu erkennen. Zwar gibt es eindeutige Fälle wie das mehrmalige Scheitern der Kanalvorlage i m preußischen Landtag nicht nur wegen des i m Landtag selbst organisierten Widerstandes der agrarischen und einiger regionaler Interessen, sondern auch wegen der lauen Verteidigung der Vorlage durch einige Minister 3 1 , aber schon bei der Durchsetzung des Schutzzolles ist ein U r t e i l nicht ganz so leicht auszusprechen, obwohl ich meine, daß das überwiegende Interesse des deutschen Volkes gegen Schutzzölle und für langfristige Handelsverträge sprach, selbst wenn man von den langfristigen politischen und sozialpsychologischen Folgen der „Wendung zum Schutzzoll" einmal absieht 3 2 . E i n gutes Beispiel für ein ambivalentes Ergebnis von „PressureGroup"-Einfluß ist das Börsengesetz von 1896, m i t dem die agrarischen Verbände einen Stoß gegen das „mobile Kapital", manche auch einen Schlag gegen die „jüdischen Wucherer" zu führen gedachten, i n dem zugleich aber auch allgemeine Interessen an einer strengeren Regulierung des Börsen-, besonders des Börsentermingeschäftes gewahrt wurden. Was der Bund der Landwirte als entscheidende Schwäche des Gesetzes ansah — daß es nur die Termingeschäfte i n Getreide verbot und dem Staatlichen Börsenkommissar nur geringe Vollmachten gab —, sahen die Handelskammern und Korporationen der Kaufmannschaft als „Verhütung des Schlimmsten" an. Indem hier Interessenverband gegen I n teressenverband stand, suchte die Staatsverwaltung unter M i t w i r k u n g beider Gruppen einen Kompromiß auszuarbeiten, der zweckmäßig und gemeinnützig sein sollte 3 3 . Daß sie dabei nicht ganz unparteiisch war, geht daraus hervor, daß zum stellvertretenden Vorsitzenden der K o m mission ein Beamter berufen wurde — der oben erwähnte Vortragende Rat Gamp —, der als Mitglied des Reichstags sich einen Namen als agrarischer Interessenvertreter gemacht hatte 3 4 . Eine Schwierigkeit i n der Bestimmung des Gemeinwohls liegt darin, daß die Interessenverbände selbst durchweg m i t dem Gemeinwohl ar31

Vgl. H. Horn: Der K a m p f u m den Bau des Mittellandkanals, S. 51. Daß diese i n der Tat verheerend gewesen sind, geht sowohl aus H. Rosenberg: Große Depression u n d Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u n d P o l i t i k i n Mitteleuropa. B e r l i n 1967, wie aus H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, m i t großer Deutlichkeit hervor. 33 Die Stenogr. Berichte der Enquete sind i n 4 Bde. 1892/93 veröffentlicht worden. Der „Bericht der Börsen-Enquete-Kommission" an die Reichsregierung erschien 1893 i m Druck. Z u r K r i t i k vgl. F. J. Pfleger, u. L. Gschwindt: Börsenreform i n Deutschland. Eine Darstellung der Ergebnisse der deutschen Börsenenquete. 2 Bde. Stuttgart 1896/97, bes. Bd. I, S. 11 ff.; G. Cohn (Mitglied der Kommission, Prof. der Staatswiss. i n Göttingen). Beiträge zur deutschen Börsenreform. Leipzig 1895, bes. S. 33 ff.; O. Stillich: Die Börse u n d ihre Geschäfte. B e r l i n 2. A u f l . 1909, S. 270 ff. 32

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F. J. Pfleger, L. Gschwindt: Börsenreform in Deutschland, I, 16.

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gumentieren, wenn sie ihre Gruppeninteressen durchzusetzen suchen 35 . Das ist ganz deutlich i n Schlagworten wie „Schutz der nationalen A r beit" und eingängigen Formeln wie „Seine Eisenindustrie preisgeben, hieße, auf seine politische Zukunft verzichten" 38 . Teilweise handelt es sich dabei u m raffinierte Taktik. Besonders die Verbände der Landwirtschaft und der Schwerindustrie haben so ganz bewußt die Interessen ihrer Mitglieder als die der Nation „aufgebaut". Sie repräsentieren die Lebens- und Ernährungsgrundlage des deutschen Volkes, sie garantieren die Selbstbehauptung und Verteidigung des Reiches, und was ihnen nottat, tat daher dem deutschen Volke not. Trotz solcher taktischen Erwägungen ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Identifizierung des Gruppen- m i t dem Gesamtinteresse, zumindest bei den einfachen M i t gliedern der Verbände, durchaus subjektiv ehrlich gemeint war. Der Horizont eines Bauern ist nun einmal vorwiegend durch die Landwirtschaft bestimmt, und er sieht die Nation zugrunde gehen, wenn seine Schulden überhand nehmen, so wie der Baumwollfabrikant den Volkswohlstand dahinschwinden sieht, wenn die Textiipreise fallen. Die Mehrzahl der Mitglieder von Interessenverbänden hat die ausgegebenen Schlagworte ganz sicher geglaubt, denn sie entsprachen seinem Empfinden. Und m i t der Zeit entstanden ganze „Topoi" von interessenbestimmten Begriffen, die jeder benutzte, ohne sich dabei noch etwas zu denken: „Schutz der nationalen Arbeit", „Sicherung der Ernährungsgrundlage des deutschen Volkes", „Garantie der Wehrkraft des Reiches", „Gefährdung des Nationalvermögens" wurden gebraucht, u m die Solidarität der produzierenden Stände zu beschwören. Andere „Topoi" entwickelten sich i m Kampf der Interessen untereinander. Die Arbeiterbewegung konnte dabei auf das Marx-Engel'sche Waffenarsenal zurückgreifen; die landwirtschaftlichen Verbände entwickelten mehr und mehr Schlagworte, die ihre besondere Not und Benachteiligung plastisch ausdrücken sollten. So beschloß der Ausschuß des Bundes der Landwirte 1894 folgende Formeln i n seine Propaganda aufzunehmen: „Bange Sorge, blasse Not"; „Wären w i r Preußen geblieben, nicht Deutsche geworden, so stünde es heute besser u m uns" und „Ave Caesar, morituri te salutant" 3 7 . Schlagworte dieser A r t konnten für alle möglichen Zwecke verwandt werden: für Schutzzölle, für ein Flottengesetz, für die Kolonialpolitik und schließlich auch für Annexionen, aber ebenso bei mehr innen-, w i r t schafts- und sozialpolitischen Auseinandersetzungen, m i t dem einzigen Unterschied, daß hier oft die gleichen oder ähnliche Floskeln von den Kontrahenten benutzt wurden, u m gegensätzliche Ziele zu erreichen. So bemühten, u m wieder das besonders instruktive Beispiel des Mittel85 36 37

A . Albrecht: Verbände. I n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 8, Spalte 2 ff. H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 392. H. Horn: Der K a m p f u m den Bau des Mittellandkanals, S. 21.

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landkanals anzuführen, sowohl die Gegner wie die Befürworter des Kanals das „nationale Interesse": Verbesserung der Verkehrswege, Verbilligung des Transports und damit erhöhte Konkurrenzfähigkeit der Ruhrindustrie gegenüber dem Ausland hier, Erhaltung der deutschen Landwirtschaft als der Grundlage der Ernährung des deutschen Volkes gegenüber billigen Importen dort. So kämpften, um ein sozialpolitisches Beispiel herauszugreifen, die Ruhrunternehmer i n den großen Streiks 1872, 1889 und 1905 außer für die „Erhaltung der Vertragsfreiheit", die „Heiligkeit der Verträge", den „Schutz des Eigentums", auch für die „Koalitionsfreiheit", nämlich das Recht zur Aussperrung, während die Arbeiter die gleiche Koalitionsfreiheit als Freiheit der Wahl ihrer Interessenvertreter auslegten, die ihnen die Unternehmer mit dem Argument verweigerten, daß Arbeitsverträge nur mit individuellen Arbeitern bestünden 38 . Auch bei dem Streit u m die Einführung der Sozialversicherung klangen die i n den Argumenten beider Seiten aufgeführten „Topoi" ganz ähnlich. Freunde wie Gegner eines staatlichen Zwangsversicherungssystem sorgten sich z. B. um die „Substanzerhaltung", um die finanzielle der zum Zahlen verurteilten Arbeitgeber hier, u m die gesundheitliche der Arbeitnehmer dort. Die Identifizierung des Gruppeninteresses mit dem Gesamtinteresse i n aller Interessenpolitik stellt die historische Interpretation vor keine leichte Aufgabe. Sie verbietet, den schlichten Bericht „nach den Quellen" als zuverlässige historische Aussage auszugeben. Sie legt den Ideologieverdacht nahe und zwingt zur kritischen Unterscheidung, wobei oft das Instrumentarium systematischer Sozialwissenschaften angewandt werden muß, etwa das des Politologen zur Aufdeckung vorgegebener Handlungsmechanismen oder das des Ökonomen zur Prüfung des gesamtwirtschaftlichen Effekts einer Forderung oder Maßnahme. Eine solche Prüfung ist u m so nötiger, als keineswegs davon ausgegangen werden kann, daß bei einem Konflikt zwischen Staatsverwaltung und Interessenverband das Gesamtinteresse stets von der Verwaltung wahrgenommen, von der Gruppe jedoch geschädigt wird. Ein Beispiel möge diese Behauptung belegen: Als die preußische und Reichsregierung 1904/05 i n Konflikt mit der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie geriet, w i r d man ihr i n zwei Punkten ohne weiteres die Vertretung des allgemeinen Interesses zugestehen können, i n der Vermittlung i m Bergbaustreik und den daraus resultierenden Reformen und i n dem Versuch, das Monopol des Kohlensyndikats aufzubrechen. Ambivalent w i r d die Wertung schon, wenn man sich fragt, ob der Versuch, die „Hibernia" aufzukaufen, dasjenige M i t t e l war, daß dem allgemeinen Interesse am 38 H. J. Koch: Die Bergarbeiterbewegung i m Ruhrgebiet zur Zeit W i l helms I I . (1889—1914), Düsseldorf 1954. H. G. Kirchhoff: Die staatliche Sozialpolitik i m Ruhrbergbau 1871—1914. Köln/Opladen 1958.

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besten diente. Wahrscheinlich wäre ein Antimonopolgesetz richtiger gewesen. Eindeutig gegen die Interessen der Volkswirtschaft verstieß die Regierung jedoch, wenn sie die Kohlenproduzenten dazu zwang, unrentable Zechen weiterzuführen, statt sie zu schließen. W i r können heute i n dieser von dem Interesse an der Kohlenversorgung i m Kriegsfall diktierten Entscheidung den Anfang der gegenwärtigen Schwierigkeiten des Bergbaus sehen, der von 1905 bis 1950 von wechselnden Regierungen gezwungen wurde, aus angeblich „volkswirtschaftlichen" Gründen Kapazitäten aufzubauen und zu erhalten, die privatwirtschaftlich nicht gerechtfertigt waren. Die Grenzziehung zwischen dem Gruppen- und dem allgemeinen Interesse ist also nicht leicht. Das erleichtert den Interessenverbänden, ihren Wirkungsbereich über das hinaus auszudehnen, was der Außenstehende als die unmittelbaren Interessen einer Gruppe ansehen würde. Von der Zollpolitik führt der Weg schnell i n die Außenhandels- und Außenpolitik, von der Abwehr höherer Versicherungsbeiträge oder einer Verkürzung der Arbeitszeit schnell i n das Gebiet der allgemeinen Gesellschaftspolitik. Dabei ist auch i m Kaiserreich bereits die Frage des „politischen Mandats" von Interessenvertretungen aufgetaucht. Die Verbände selbst haben sich dazu verschieden verhalten. Die rigorosen Interessenverbände wie der Bund der Landwirte oder der Verein der W i r t schafts- und Steuerreformer, etwas zögernder der Verband deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller oder der Central verband Deutscher Industrieller haben dieses Mandat als selbstverständlich gegeben angenommen. Auch den Gewerkschaften war es nicht fremd, wenngleich die A r beitsteilung m i t der sozialdemokratischen Partei die eigentlich politische Arbeit der Partei überließ. Zurückhaltender verhielten sich die Arbeitgeberverbände, die sich als Zweckverbände ansahen und die politische A k t i o n den allgemeinen Interessenverbänden überließen. Zurückhaltend blieben auch die meisten der „offiziellen" Vertretungen, die Kammern. Allerdings haben auch Kammern zu allgemeinpolitischen Fragen, an denen ihre Mitglieder interessiert waren, z. B. zur Flottenpolitik, zur Kolonialpolitik und i n den Jahren vor dem 1. Weltkrieg auch mehr und mehr zur Außenpolitik Stellung genommen 39 . Gegenüber früheren Jahrzehnten läßt sich hier durchaus eine Erweiterung des Interessen- und Einflußbereichs konstatieren, der offenbar auf die zunehmende „Demokratisierung" des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses i m Kaiserreich, von dem oben die Rede war, zurückzuführen ist. U m 1908 oder 1913 beschränkten sich die Jahresberichte von Handelskammern nicht auf die auftragsgemäße Information einer Behörde über das, was i n 39 Vgl. W. Fischer: Herz des Reviers. 125 Jahre Wirtschaftsgeschichte i m Bezirk der Industrie- u n d Handelskammer Essen-Mühlheim. Essen 1965, S. 244 ff.

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ihrem Bezirk vor sich geht, und über die Wünsche, die die Gewerbetreibenden an die Obrigkeit haben, sondern sie schweifen mit großer Selbstverständlichkeit über das ganze Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik einschließlich ihrer außenpolitischen Komponenten, behandelten die Militärpolitik ebenso wie innenpolitische Gegenstände, Schulfragen und zuweilen auch Sachen des Justizressorts. Aus dieser Erweiterung der Interessen der offiziellen Interessenvertretungen, mehr aber noch aus der enormen Vermehrung der Interessenverbände zwischen 1870 und 1914, dem immer dichter werdenden Netz großer und kleiner Assoziationen, ergibt sich die Vergrößerung des Einflußbereichs der Verbände i n den reichlich vier Jahrzehnten zwischen 1871 und 1914. Man kann m i t einiger Sicherheit die Aussage wagen, daß es u m 1900 kaum einen Bereich öffentlichen Interesses gegeben hat, i n dem die „amtlichen" Vertreter dieses Interesses, Regierung, Verwaltung und Parlament, nicht auf organisierte Verbände der Bürger trafen, die ihren Einfluß zur Geltung zu bringen suchten, und i n den wenigsten Fällen, war es nur ein Verband, sondern eine Vielzahl oft gegensätzliche Meinungen Vertretende, mit denen sich die Staatsverwaltung auseinanderzusetzen hatte. Fragt man nach den Erfolgen solcher Einflußnahmen, so ist eine generelle Antwort kaum zu geben. Es gibt ebensoviele Beispiele erfolgloser wie erfolgreicher Interessenvertretung und auch weiter Beispiele von Kompromißlösungen. I m großen und ganzen möchte ich hier Nipperdey beipflichten, wenn er feststellt: „Die großen Entscheidungen fielen unabhängig von den Verbänden, aber Spezialgesetze wie das Margarinegesetz, Branntwein- und Tabakmonopolgesetze oder auch die preußische Bergrechtsnovelle sind wesentlich vom Einfluß der Verbände geprägt worden 3 9 *." Und noch größer ist der Einfluß, wenn man auch die reine Verordnungs- und Verwaltungstätigkeit der Regierungen einbezieht, bei der das Parlament und damit die Öffentlichkeit nicht mitwirkte. Fragen w i r nun zum Schluß, i n welcher Weise diese vielfältige Tätigkeit von Interessenverbänden die Gesellschafts- und Staatsverfassung des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1914 verändert hat. I I I . Die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen der Entwicklung von Interessenverbänden Die Konsequenzen für die Gesellschaftsverfassung und den Prozeß der gesellschaftlichen Willensbildung ergeben sich aus dem i m vorigen Abschnitt Gesagten von selbst: Das deutsche Volk war auch zwischen 1870 und 1914 nicht ein einheitliches „Staatsvolk", dessen Interessen 39a Th. Nipperdey: Interessenverbände u n d Parteien i n Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. I n : Polit. Vierteljahrsschrift 2 (1961), S. 272.

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unmittelbar von einer über den Parteien und Gruppen schwebenden Obrigkeit wahrgenommen wurden. Es trat dieser Obrigkeit vielmehr i n organisierten Gruppenvertretungen gegenüber und versuchte durch sie Einfluß auf politische wie administrative Entscheidungen zu erlangen. Das veränderte nicht nur den Charakter der Parteien, der politischen Gruppenvertretungen, von denen einige aus Grundsatzparteien mehr und mehr zu Interessenparteien wurden 4 0 , sondern auch den Charakter der Verwaltungsarbeit. Der „beschränkte Untertanenverstand", i m Vormärz noch weitgehend i n seine Schranken verwiesen, regierte mit. U m 1900 war es dem Beamten nicht mehr wie noch um 1850 möglich, den Bürger auf sein spezifisches Betätigungsfeld zu verweisen und die Staatsgeschäfte für sich zu reservieren 41 , zumal wenn er nicht als Einzelner, sondern als „Organisierter" auftrat. Die Verwaltungsbeamten hatten sich daran gewöhnt, die Organisationen als Sachverständige zu betrachten und zu Rate zu ziehen, und räumten ihnen so einen erheblichen Einfluß auf die Entscheidungen von Verwaltung und Politik ein. Das wurde spätestens i n der zweiten Hälfte der 1870er Jahre deutlich, als die preußische Regierung nicht nur die Handelskammern, sondern auch den Langnamverein aufforderte, Vorschläge zur Verstaatlichung der Eisenbahnen zu machen und sich die Zustimmung zu dieser Verstaatlichung m i t der Einrichtung von Bezirkseisenbahnräten „erkaufte", i n denen die am Transport interessierten Unternehmer der Bezirke regelmäßig mit Beamten der Staatseisenbahnen zusammentrafen und sie i n Fragen wie Tarifgestaltung, Fahrplan, Linienführung berieten 42 . Wirtschaftliche Interessen erhielten hier einen institutionalisierten Einfluß auf die Verwaltung, wenn auch „ n u r " auf einen technischen Zweig. (Einen ähnlichen Beirat von Interessenvertretern schuf später die Reichskolonialverwaltung i m Kolonialrat.) Deutlich w i r d dieser Einfluß der Interessen verbände um die gleiche Zeit auch i n der Durchsetzung der Eisenenquete gegen den Widerstand der liberalen Experten i m preußischen Handelsministerium und i m Reichskanzleramt 4 3 . Zweifellos hat Bismarcks Taktik, die vereinigten Produzenteninteressen zu Mitträgern seiner Politik zu machen, den entscheidenden Durchbruch erleichtert. Und ohne Zweifel stand i m Hintergrund dieser Politik die große Krise seit 1873 und schuf die sozialpsychologischen Voraussetzungen für jenen durchgreifenden Wandel i n der politischgesellschaftlichen Frontstellung i n Deutschland, die zur Reichs- und 40 E. Leder er: Das ökonomische Element u n d die politische Idee i m modernen Parteiwesen. I n : Zeitschrift f ü r P o l i t i k V (1912), S. 541 ff. 41 Vgl. W .Conze (Hrsg.): Staat u n d Gesellschaft i m deutschen Vormärz 1815— 1848. Stuttgart 1962. R. Kosellek : Preußen zwischen Reform u n d Revolution. Stuttgart 1967. 42 H. Walther (Hrsg.): Aus dem Leben von Theodor Adolf von Möller. Neustadt a. d. Aisch 1958, S. 76 f. 43 H. Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht, S. 458 ff., 510 ff.

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Bismarcktreue weiter Teile des bisher oppositionellen Bürgertums führte 4 4 . Diese Hilfestellung durch eine bestimmte historische Situation und eine bestimmte historische Persönlichkeit sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der beschriebene Funktions- und Strukturwandel langfristiger Natur ist und sowohl schon längst vor der Reichsgründung angelegt war als auch nach Beginn der Hochkonjunktur i n der Mitte der neunziger Jahre weiterging. Reichsgründung, Wirtschaftskrise und Bismarck verhalfen dem säkularen Trend der Ausbildung eines Machtanspruchs der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Interessengruppen i n Deutschland zu einer dramatischen Zuspitzung. Aber auch ohne diese hätte er sich zweifellos durchgesetzt. Daß Interessengruppen Einfluß gewinnen, ist eine allgemeine Erscheinung bei der Ausbildung industrialisierter Gesellschaften. I n welcher Weise sie diesen Einfluß gewannen, war hingegen von der spezifisch deutschen Gesellschafts- und Staatsverfassung vorgeprägt und m i t bestimmt. Daß die Auseinandersetzungen der Interessenverbände untereinander nicht nur zu vorübergehenden Bündnissen der Produzenten gegen die Nichtproduzenten führte, wie i n anderen Ländern auch, sondern daß dieses Bündnis sich als eines der staatstragenden Schichten gegen die umstürzlerischen verstand, ist eine spezifisch deutsche Erscheinung. Von den Großagrariern i m Verein der Wirtschafts- und Steuerreformer, über die Industriellen i m Centraiverband wie i m Bund deutscher Industrieller, bis zu den kleinen Angestellten i m deutschnationalen Handlungsgehilfenverband waren sich die Verbände dabei einig, daß sie sich gegen die Revolution der bestehenden Gesellschaftsverfassung zur Wehr setzen müßten. Diese gemeinsame Gegnerschaft wie auch die gemeinsame Gegnerschaft gegen die ausländische Konkurrenz führte die wichtigsten „staatstragenden" Gruppen zu einer A l lianz i n einigen Fragen, die die Zeitgenossen als die „großen Lebensfragen der Nation" betrachteten: Zollpolitik, Kolonialpolitik, Flottenpolitik, kurz all das, was dann zusammen den deutschen Imperialismus vor 1914 ergeben hat. Aber i n den meisten anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen standen sich diese Gruppen i n wechselnden Fronten gegenüber. Schon i n der Schutzzollpolitik verweigerten der Handelsstand und große Teile der verarbeitenden Industrie dem Bündnis Schwerindustrie—Textilindustrie und Landwirtschaft die Gefolgschaft. I n Fragen der Verkehrspolitik hoben sich Regional- und Brancheninteressen gegenseitig auf. I n der Währungspolitik stand die Landwirtschaft zunehmend i n Opposition zu Regierung, Handel und Industrie, indem sie die bimetallische Währung, das Abgehen vom reinen Goldstan44 Über diesen Zusammenhang von Wirtschaftskrise, gesellschaftlichem u n d politischen Wandel s. H. Rosenberg: Große Depression u n d Bismarckzeit, B e r l i n 1967.

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dard forderte. I n zahlreichen Fragen der Wirtschaftsverfassung, etwa der Kreditverfassung, der Börsenverfassung, des Binnen- und Außenhandels, verbündeten sich Schwerindustrie und Landwirtschaft als Vertreter des „fixen" gegen das „mobile" Kapital 4 5 . I n anderen Fragen wie der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt oder der Lohnpolitik standen sich die Interessen der Landwirtschaft und der Schwerindustrie am schroffsten gegenüber, weil die großen Industriezentren die Arbeitskräfte des Landes aufsogen. I n gesellschaftspolitischer Hinsicht hingegen verlief eine prinzipielle Frontstellung zwischen Groß- und Kleinunternehmen, wirtschaftlicher Selbständigkeit und Abhängigkeit, Mittelstand und „Großkapitalismus" i n Industrie und Landwirtschaft. Dieser Kampf organisierte Interessen, obwohl allgegenwärtig, ist i n das deutsche Staatsbewußtsein der Vorkriegszeit kaum eingedrungen. Nur so kann man erklären, daß diese Interessenvielfalt später der politischen Verfassung der Weimarer Demokratie zur Last gelegt werden konnte, obwohl sie längst vor Weimar vorhanden war. Die Anerkennung der Interessenvielfalt und ihrer demokratischen Organisation i n der politischen Verfassung konnte i n zweierlei Richtung gehen: die ständesstaatliche Fixierung oder das liberal-demokratische Gewährenlassen. Die Anerkennung gewisser Organisationen durch den Staat i n der gesetzlichen Form der Körperschaften öffentlichen Rechts m i t Zwangsmitgliedschaft als Handels-, Landwirtschafts- oder Handwerkskammern konnte als Schritt i n der ersten Richtung, als Anfang auf einem Weg der gesetzlichen Durchorganisierung der gesellschaftlichen Hauptgruppen auf regionaler wie auf zentraler Ebene zu einer A r t „Ständestaat" betrachtet werden. Theorien für den weiteren Ausbau eines deutschen Ständestaats hat es während des Kaiserreichs genug gegeben 46 . Praktische Versuche i n dieser Richtung sind jedoch gescheitert. Die Idee, nach französischem Vorbild einen „volkswirtschaftlichen Senat" einzurichten, die der Elberfelder Handelskammerpräsident Meckel 1878 propagierte, hat sich nicht durchsetzen können; der preußische Volkswirtschaftsrat hat keine sehr lebhafte Tätigkeit entfaltet und ist bald fallengelassen worden. Eine gesetzliche Vorlage für einen deutschen Volkswirtschaftsrat scheiterte teils am Widerstand des Parlaments, das seine ohnehin geringen Rechte nicht noch weiter beschnitten sehen wollte, teils daran, daß auch Bismarck das Interesse an dem Rat wieder verlor und sich lieber auf die Gutachten der einzelnen Verbände stützte, die er besser gegeneinander ausspielen oder miteinander koalieren konnte, wobei es i n seiner Hand lag, deren Gewicht für dieStaats45 Vgl. W. Herrmann: Bündnisse u n d Zerwürfnisse zwischen Landwirtschaft u n d Industrie seit der M i t t e des 19. Jahrhunderts. D o r t m u n d 1965. 46 Vgl. R. H. Bowen: German Theories of the Corporative State w i t h special reference to the period 1870—1919. New Y o r k 1947.

Staatsverwaltung und Interessenverbände i m Deutschen Reich

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führung zu bestimmen, während die Stellungnahme eines Rates, der per definitionem die ausgewogene Stellung der deutschen Wirtschaft zu vertreten hatte nicht so leicht zu übergehen gewesen wäre. Kanzler und Reichstag haben so eine dritte, oder vielmehr „vierte" interessenbestimmte zentrale Instanz i m Deutschen Reich neben Kanzler, Reichstag und Bundesrat nicht aufkommen lassen. Das Deutsche Reich hat aber auch nicht den anderen möglichen Weg einer Integration der Interessenverbände i n die politische Verfassung beschritten, nämlich deren Umwandlung i n eine echte parlamentarische Demokratie, i n der die Verbände als demokratische Organisationen neben anderen i m „freien Konkurrenzkampf" um die Stellung und Beeinflussung politischer Macht ringen. Wenn das Reich die Bismarcksche Verfassung eines Semi-Parlamentarismus beibehielt, wenn Preußen sein Dreiklassenwahlrecht und damit ein konservativ vorgeprägtes Parlament nicht aufgab, so besagt das i n unserem Zusammenhang, daß die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte h i n zu „demokratischen Organisationen", die auf freier Assoziation von Bürgern beruhen, schneller voranging als die Umwandlung der politischen Verfassung, daß zweifellos ein Widerspruch bestand zwischen der freien Organisation gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kräfte und der Beschränkung des Volkes i n der Ausübung der politischen Rechte. Es war ein Widerspruch, wenn die freien Gewerkschaften zu einer Millionenorganisation heranwuchsen und schließlich von den Unternehmern de facto mehr und mehr als Sprecher der Arbeiterschaft anerkannt wurden, gleichzeitig aber der sozialdemokratischen Partei als der stärksten Fraktion i m Reichstag jede M i t regierung geschweige denn Regierungsverantwortung versagt blieb. Es war ein Widerspruch, wenn große Interessenverbände und Agitationsvereine wie der Flottenverein, der Alldeutsche Verband oder der Hansabund zwar ungestört einen deutschen Imperialismus propagieren konnten, politische Verantwortung dafür aber nicht zu tragen brauchten, weil noch immer der Kaiser den Kanzler bestellte und entließ, ohne auf politische Mehrheitsverhältnisse notwendig angewiesen zu sein, und dam i t die Repräsentanten deutschen bürgerlichen Weltmachtstrebens der vollen Konsequenz ihrer Reden ausweichen konnten. Damit ist nicht gesagt, daß eine parlamentarische Regierung mit der ganzen ungemilderten Wucht gewisser Interessenvertretungen i m Rücken notwendigerweise eine bessere Politik gemacht hätte — abgesehen davon, daß der Zwang zur Rücksicht auf die Stimmen der Sozialdemokratie sie dazu gezwungen haben könnte —. Ich wollte i n diesem Zusammenhang nur darauf aufmerksam machen, und das ist die Grundthese dieses Aufsatzes, daß die Organisation, Funktion und Wirkungsweise von Interessenverbänden i m Deutschen Reiche vor 1914 bereits der Verfassung einer ausgebildeten parlamentarischen Demokratie entsprach, ohne daß diese

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Staats- und Regierungsform selbst schon vorhanden war 4 7 . Daraus ergibt sich als zwingender Schluß, daß beide nicht notwendig aufeinander angewiesen sind, sondern daß für die Bildung und Funktion solcher Interessenverbände die Entwicklung der gesellschaftlichen und w i r t schaftlichen Verfassung zu einer liberalen Industriegesellschaft und Wirtschaft offenbar wichtiger ist als die Ausbildung der politischen Verfassung zur parlamentarischen Demokratie.

47 Vgl. W. M. Freiherr von Bissing: Autoritärer Staat u n d pluralistische Gesellschaft i n den ersten Jahrzehnten des Bismarck'schen Reiches. I n : Schmollers Jahrbuch 83 (1963), S. 17—45.

Das nicht erwerbswirtschaftlich orientierte Marktunternehmen Ein Überblick über die Unternehmungen der deutschen Arbeiterbewegung Von Walter Hesselbach Die Industrialisierung der Entwicklungsländer konfrontiert uns heute m i t Kombinationen geistiger, sozialer und politischer Kräfte, die anders sind als es die geistigen und gesellschaftlichen Kombinationen waren, i n denen sich die Industrialisierung Europas abgespielt hat. Schon ein Vergleich der einzelnen inzwischen weitgehend abgeschlossenen Industrialisierungen zeigt große Unterschiede i n den Vorzeichen, unter denen sie geschahen. Die Industrialisierungsvorgänge i n Europa und i n den USA waren sich noch verhältnismäßig ähnlich. Die Industrialisierung Japans verlief demgegenüber schon unter erheblich anderen Vorzeichen, von der Industrialisierung der Sowjetunion und der osteuropäischen Staaten ganz zu schweigen. Die große Zahl der heute erst i m Anfang der Industrialisierung befindlichen Entwicklungsländer läßt erwarten, daß w i r i n den nächsten Jahrzehnten noch weitere Variationen erleben werden. Der erste Industrialisierungsprozeß, der europäische, ist sicherlich nur i n einer einmalig historischen Situation möglich gewesen. Er war die Folge einer ganz besonderen Kombination geistiger und gesellschaftlicher Faktoren. Das lassen u. a. die religionssoziologischen Arbeiten Max Weber's vermuten 1 . Viele der Faktoren, die damals als Auslöser und Katalysatoren gewirkt haben, sind auch heute noch wichtig. Die Konfrontation m i t i n vielem ganz andersartigen Industrialisierungsmodellen weist uns nun darauf hin, daß das, was bei uns einmal historisch notwendig gewesen war, nicht auch zugleich einen logisch unabdingbaren Zusammenhang darstellt. Die modernen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geben uns zudem die Instrumente i n die Hand, um alle denkbaren Kombinationen zu prüfen und die bei uns gegebenen zu kontrollieren, ob sie noch nötig und wünschenswert sind. Die Vielfalt der Industrialisierungsprozesse, die sich vor uns auftut, und die Erkenntnisse der modernen Sozialwissenschaften machen uns gegenüber 1 M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3. Bde., T ü b i n gen 1920—1923.

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neuen Möglichkeiten offen, die geeignet sein können, den Industrialisierungsprozeß weiterhin i n Gang zu halten, zu beschleunigen und zu humanisieren. Unsere Verpflichtung, den Entwicklungsländern zu helfen, bewirkt ferner, daß w i r über neue Möglichkeiten und Institutionen nachdenken müssen, die i n diese Länder und deren historisch bedingte Kombinationen passen und die sie verwenden und gebrauchen können. Die vorliegende Studie stellt einen solchen Versuch i m Bereich der Unternehmenstypen dar. Die neuere europäische Wirtschaftsgeschichte hat bei uns recht einseitige Vorstellungen hinterlassen. Bei uns sind damals die veralteten Wirtschaftsformen von einem ganz bestimmten Typ von Unternehmungen überwunden worden, vom Typ der freien und privaten Unternehmung, die ganz überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert war. Dies hat zur Folge gehabt, daß noch heute bei uns die Gedankenassoziation politisch nachwirkt, marktwirtschaftliche Unternehmen müßten notwendigerweise erwerbswirtschaftlich orientiert sein, obwohl hierfür kein logisch zwingender Grund besteht 2 . I m folgenden soll deshalb hier der Typ des modernen gemeinwirtschaftlichen Unternehmens dargestellt werden. Dabei w i r d die historische Darstellungsweise benutzt und die Reihe der nicht erwerbswirtschaftlich orientierten Marktunternehmen aufgezeigt, die von den antikapitalistischen Kräften i m 19. Jahrhundert und i n den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Alternative zu den erwerbswirtschaftlichen Marktunternehmungen entwickelt und gegründet worden sind. Wenn w i r uns dabei auf die Unternehmungen der deutschen Arbeiterbewegung beschränken, dann, weil, hier für die Typenabfolge ein gewisser innerer Zusammenhang besteht und w e i l hier die Reihe der nicht erwerbswirtschaftlichen Unternehmungen zu einem positiven Abschluß gekommen ist. Hier wurde erstmalig ein v o l l funktionsfähiger und mit den privaten erwerbswirtschaftlichen Unternehmen v o l l konkurrenzfähiger Typ entwickelt, das freigemeinwirtschaftliche Unternehmen 3 . Dieser Typ des freigemeinwirtschaftlichen Unternehmens ist auch deswegen von größerem Allgemeininteresse, w e i l er sich auch unter ganz anderen Verhältnissen, i n ganz anderen gesellschaftlichen und geistigen Verhältnissen anwenden ließe. Er könnte unserer Ansicht nach sogar i n Entwicklungsländern verwendet werden. M i t dieser Darstellung soll zugleich der politischen und historischen Wissenschaft eine Anregung gegeben werden. Diese kleine Studie soll daran erinnern, daß die soziale Bewegung i m 19. Jahrhundert m i t der 2 G. Weisser: Die Lehre v o m gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Archiv f ü r öffentliche u n d freigemeinwirtschaftliche Unternehmen, Bd. 1, 1954, S. 20. 3 W. Hesselbach: Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, Frankfurt, 1966.

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Gründung solcher gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen, mit antikapitalistischen Unternehmungen, begonnen hat, daß erst auf sie die Kulturorganisationen der deutschen Arbeiterbewegung gefolgt sind und darauf erst die Gewerkschaften. Die Arbeiterparteien dagegen waren die letzte der vier „Säulen", aus der bestehend sich die alte Arbeiterbewegung verstand. Über diese Unternehmungen der deutschen Arbeiterbewegung ist trotz ihrer Anciennität bisher praktisch nichts Zusammenhängendes geschrieben worden. Die historische und die politische Wissenschaft haben sie praktisch vergessen. Das Interesse der Historiker, die über die Arbeiterbewegung geschrieben haben, auch der Historiker, die aus der Arbeiterbewegung stammen, konzentrierte sich bisher praktisch ausschließlich auf die Geschichte der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften. Dabei w i r d dann allzu leicht übersehen, daß die Stabilität und auch die Dynamik der deutschen Arbeiterbewegung zu einem erheblichen Teil darauf beruht hat, daß ihr Organisations- und Unternehmungsgefüge breit gefächert war, so daß der einzelne Arbeiter buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre v o l l erfaßt werden konnte. Dies breit gefächerte Organisationsgefüge umschloß das ganze „Universum der A r beiterinteressen" und gab dem out cast, der der Arbeiter früher war, die nötige Geborgenheit und das nötige Selbstbewußtsein. Es ermöglichte es, vom rein Organisatorischen her, die für den Befreiungskampf erforderliche Solidarität zu entwickeln und schuf damit die Voraussetzung dafür, daß sich die Zukunftshoffnungen bilden, ausbreiten und halten konnten, die der Arbeiterschaft die Kraft gaben, sich Schritt für Schritt m i t Hilfe zahlreicher, mühsam erstrittener Reformen aus dem unverschuldeten Elend trotz schwerer Rückschläge zum einigermaßen gleichberechtigten Staatsbürger emporzuarbeiten. Die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften hätten dies jede für sich allein kaum vermocht. Dieses Organisationsgefüge und nicht zuletzt sein ältester Teil, die Unternehmungen der Arbeiterbewegung, sollten deshalb mehr Beachtung finden. Die Geschichte der Unternehmungen der deutschen Arbeiterbewegung und damit die Geschichte der wichtigsten nicht erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmungen i n Deutschland läßt sich i n vier Etappen einteilen, denen vier Unternehmenstypen entsprechen: 1. die Produktivgenossenschaften, 2. die Konsumgenossenschaften, 3. die Eigenbetriebe der Konsumgenossenschaften und der Gewerkschaften, 4. die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen.

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Die Produktivgenossenschaften Die soziale Bewegung, besonders die Arbeiterbewegung, begann mit den Experimenten der Frühsozialisten, die man als erste moderne nicht erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmungen ansehen kann. Die neuen Freiheiten der Großen französischen Revolution hatten den Massen kein Brot gebracht. I h r folgte die Industrialisierung, die neuen kapitalistischen Unternehmungen, die zwar die alten Strukturen aufbrachen, aber neue Unfreiheiten i m Gefolge hatten. Und die neuen Unfreiheiten, die die neue kapitalistische Produktionsweise für die Arbeiter m i t sich brachten, schienen anfangs schlimmer zu sein als die alten feudalen und ständischen Unfreiheiten. Weil man das neue Elend anfangs auf die neuen kapitalistischen Unternehmungen zurückführte, stellte man ihnen nichtkapitalistische entgegen, i n denen es dann kein Elend mehr geben würde. Diese ersten Experimente muten uns heute vielfach phantastisch an. W i r müssen den Vorkämpfern der sozialen Bewegung und der gerade erst entstehenden Arbeiterschaft aber zugute halten, daß sie i n der damaligen Situation nur phantastisch denken konnten. Wie Robert Michels schrieb 4 , war die damalige Arbeiterschaft für utopische Weltanschauungen, die ex ovo einen neuen Staat, eine neue Wirtschaft, neue Menschen und eine neue Moral gestalten wollten, deswegen aufnahmefähig, weil sie damals selbst noch über keine Vorbilder verfügte und die alten Berufsund Standestraditionen nicht mehr zählten. Zudem setzte sie sich ihrer Herkunft nach bunt aus Handwerkern, Kleinbauern, Landarbeitern und allerlei Hausgesinde zusammen. „Die Neuheit des zu Errichtenden entsprach logisch der Neuheit der Lage, i n welcher sich die Neuen befanden." Daher das Suchen nach dem neuen Menschen und die Auswanderungsbewegung nach der neuen Welt, wo i n sozialistischen Kolonien Neues geschaffen werden sollte. Auch der Zug zum Absoluten und zur Utopie und der Glaube an die Durchführbarkeit i n sich selbst widersprüchlicher Systeme entsprang der Jugend der Arbeiterbewegung. Ferner ihr naiver Glaube, die Unternehmer ließen sich m i t Appellen an die Gerechtigkeit und Vernunft zum Mitmachen bewegen. Fourier soll sich täglich zwischen 12 und 1 Uhr i n seiner Wohnung aufgehalten haben, um den Millionär zu erwarten, der i h m das Geld zur Errichtung des ersten Phalanstère bringen würde! Nach 1848 war dann deutlich, was Herwegh wie folgt ausdrückte: „ N u r der Blitz, der sie trifft, kann unsere Herren erleuchten 5 ." Dennoch w i r d uns dieser naive Glaube i m folgenden noch öfter begegnen. Lassalle erhoffte Unterstützung von 4 R. Michels : Die Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen, i n : Grundriß der Sozialökonomik, I X . A b t e i l u n g Tübingen 1926, S. 313. 5 E. Bloch: Freiheit u n d Ordnung, A b r i ß der Sozialutopien, New York, 1946, S. 135.

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Bismarck, und auch bei der Gründung der Alten Volksfürsorge im Jahre 1912 hat man vorher an den Gerechtigkeitssinn und an die Vernunft der privaten Versicherungsgesellschaften — wie zu erwarten, vergeblich — appelliert. Utopien sind mehr als antizipierendes Bewußtsein. Sie sind Intentionen auf eine bessere Welt, und die Intention des Menschen auf eine bessere Welt ist eine Invariante i n der menschlichen Geschichte6. W i r freunden uns seit Bloch's „Prinzip Hoffnung" 7 m i t dem Begriff der Utopie ohnehin wieder an. I n unseren Tagen hat sich die Utopie des Zionismus i n Gestalt des Staates Israel verwirklicht. W i r stehen kurz vor dem Flug des ersten Menschen zum Mond und sind heute dazu verurteilt, den Weltfrieden, den größten Menschheitstraum, zu verwirklichen, wenn das Leben auf dieser Erde nicht eines Tages erlöschen soll. Wenn auch die Modelle der Frühsozialisten unrealistisch waren, so waren sie doch Taten, während die andere gleichzeitige antikapitalistische Strömung i m konservativen Lager, die Romantiker, nur die gesellschaftliche Szene neu beleuchtete und die Vergangenheit verklärte. Vielleicht w i r d man eines Tages auch wieder mehr als heute zu würdigen wissen, daß die Frühsozialisten dem Zeitgeist „enrichez vous" die alte Formel „omnia sint communia" entgegensetzten. Die volkswirtschaftlichen Kosten der privaten Produktion und die Bedeutung der Infrastrukturen sind bereits ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Das ganze 19. Jahrhundert konnte sich nichtkapitalistische Unternehmen nur als Genossenschaften vorstellen. Sowohl die Sozialisten, als auch die Konservativen nahmen die Unternehmensform Genossenschaft damals für sich i n Anspruch und hoben sie auf ihr Panier. Die Linken, weil sie i n ihr die Prinzipien der Großen französischen Revolution verwirklicht sahen: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Rechten, weil sie m i t ihrer Hilfe die verlorene Gute Alte Zeit wiedererwecken wollten: Die Zünfte und Stände. Robert Owen, der die Genossenschaft wiederentdeckt hatte, wollte m i t ihrer Hilfe das Arbeiterelend beheben. Schultze-Delitzsch und Raiffeisen organisierten Genossenschaften i m Interesse der Handwerker und Bauern. I n Eugen von Philippovich's „Entwicklung der wirtschaftspolitischen Ideen i m 19. Jahrhundert" w i r d die Genossenschaftsbewegung bereits i n dem Kapitel über die konservativen Ideen abgehandelt 8 . I n den Augen aller antikapitalistischen Kräfte des 19. Jahrhunderts, links und rechts, hatte die Unternehmensform Genossenschaft den Charakter eines gesellschaftspolitischen Heilbringers. Sie sollte alle früheren, gegenwärtigen und i n der Zukunft 8

E. Bloch: a.a.O., S. 138. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt, 1959. 8 E. v. Philippovich: Die Entwicklung der wirtschaftspolitischen Ideen i m 19. Jahrhundert, Tübingen 1910, S. 21 ff. 7

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drohenden Übel überwinden und i n sich für unvereinbar geltende Prinzipien vereinigen, Freiheit und Ordnung, die Arbeitnehmer- und A r beitgeberinteressen. Diese Unternehmensform war damals hochgradig politisch. Die Diskussion u m die Unternehmensform Genossenschaft zur Behebung der Notstände ging damals um zwei Problemkreise. Soll man Produktivgenossenschaften oder soll man Konsumgenossenschaften gründen oder soll dies auf dem Wege der Selbsthilfe oder auf dem Wege der Staatshilfe geschehen. Sehr deutlich w i r d diese Diskussion i n Lassalles „Offenem Antwortschreiben", das am 23. Mai 1863 der konstituierenden Versammlung des Allgemeinen Arbeitervereins überreicht wurde 9 . Der Unternehmenstyp Produktivgenossenschaft ist wahrscheinlich der älteste Genossenschaftstyp. Max Weber weist darauf hin 1 0 , daß bereits i m frühen Mittelalter Bergwerke i n Form von Produktivgenossenschaften betrieben worden sind. Dabei versteht man unter Produktivgenossenschaften solche Genossenschaften, i n denen die Genossen i n einem gemeinsamen Betrieb Erzeugnisse herstellen, die auf Rechnung der Genossenschaft verkauft werden. I n dieser Unternehmung sind die Arbeiter zugleich alle gemeinsam auch Unternehmer. Diese Kollektivunternehmerschaft unterscheidet die Produktivgenossenschaft von den übrigen Genossenschaften. Man unterscheidet echte und unechte Produktivgenossenschaften. Echt sind nur die Produktivgenossenschaften, i n denen jeder Genosse zugleich Arbeiter und jeder Arbeiter zugleich Genosse ist. Alle Genossenschaften sind ferner grundsätzlich offen, d. h. jeder, der w i l l , muß Genosse werden können. Unechte Produktivgenossenschaften sind dagegen die Produktivgenossenschaften, bei denen nicht jeder, der w i l l , Genosse werden kann, ferner die Produktivgenossenschaften, die noch Teilhaber aufweisen und vor allem die, die zusätzlich zu den arbeitenden Genossen noch Arbeiter einstellen, die nicht Genossen sind. Immer dann, wenn eine dieser Abweichungen gegeben ist, ist das Institut der Produktivgenossenschaft verwässert. Dann beginnt die Produktivgenossenschaft die Form einer Gesellschaft anzunehmen, weil die Genossen dann die Rolle von Gesellschaftern übernehmen. 9 F. Lassalle : Offenes Antwortschreiben an das Central- Comité zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeitercongresses zu Leipzig. Verlag von Meyer & Zeller, Zürich, 1863. Wiederabgedruckt i n Ferdinand Lassalle: Eine A u s w a h l für unsere Zeit, herausgegeben u n d eingeleitet von H e l m u t Hirsch, Büchergilde Gutenberg, 1963, S. 239. 10 M . Weber : Wirtschaft u n d Gesellschaft i m Grundriß der Sozialökonomik, 1. Halbband, Tübingen, 1947, S. 73.

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Echte Produktivgenossenschaften i m strengen Sinne des Wortes gab es immer nur i n statu nascendi 11 . W i r können dabei vom Ostblock absehen, von den russischen Kolchosen, den chinesischen Volkskommunen, von den besonderen Unternehmensformen Jugoslawiens und auch von den mexikanischen Ejidos. Diese Unternehmen sind bloße Organe eines planwirtschaftlichen Gesamtsystems, Staatsunternehmen m i t Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer und einer produktivgenossenschaftlichen Legitimierung. Autonome echte Produktivgenossenschaften, die i n Konkurrenz m i t kapitalistischen Unternehmen stehen, gibt es heute praktisch nur bei religiösen Sekten, die sich von der Umwelt abkapseln und oft auf reine Selbstversorgung abstellen oder bei Gruppen, die i n einer Abwehrhaltung gegen eine feindliche Umwelt leben. Zum ersten Typ zählen die landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften der Hutteriten i n Nordamerika 1 2 , zum anderen die israelischen Kibbuzim. I n beiden Fällen beginnt die Auflösung bzw. Transformierung dieser Produktivgenossenschaften, wie viele Erfahrungen gezeigt haben, m i t der Säkularisierung bzw. dem Nachlassen des Feindschaftsverhältnisses zur Umwelt. Die anderen Produktivgenossenschaften, die hier und dort noch diese Bezeichnung tragen, besonders i n Frankreich, wo es rund 600 Produktivgenossenschaften geben soll 1 3 , sind fast alle bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Die Geschichte der Produktivgenossenschaften war, wie Robert Oppenheimer sagte, eine einzige Kette von Mißerfolgen 14 , und zwar nicht, wie ich meine, und wie man immer noch liest, aus Gründen des Kapitalmangels 15 . Bekanntlich sah Lassalle hierin den Grund ihres Scheiterns und forderte deshalb von Bismarck Staatshilfe für die Produktivgenossenschaften. Auch Schultze-Delitzsch glaubte an den Kapitalmangel als Hinderungsgrund zur Durchsetzung von Produktivgenossenschaften und sah i n seinen Kreditgenossenschaften ein Instrument, m i t dessen Hilfe sich die Arbeiter und Handwerker das notwendige Kapital für die Gründung von Produktivgenossenschaften ansparen könnten. Das Argument des Kapitalmangels kann m. E. nicht vor den Augen der Geschichte bestehen, denn das Problem der Kapitalbeschaffung besteht für jede andere Unternehmung ebenso wie für die Produktivge11 H.Fuchs: Der Begriff der Produktivgenossenschaft u n d ihre Ideologie. Diss. Köln, 1927. 12 W. Abel: Agrarpolitik, Göttingen, 1951, S. 88. 13 W. Engelhardt: A r t i k e l Produktivgenossenschaften i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart, 1964, 8. Bde., S. 611. 14 R. Oppenheimer: Die Siedlungsgenossenschaft, Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus, Leipzig 1896, S. 45. 15 H. Grüger: Die A r t i k e l Produktivgenossenschaften i m Handwörterbuch der Staats Wissenschaften, 4. Aufl. Jena 1925, 6. Bde., u n d H. Schulze-Delitzsch, nach F. Thorwart, H. Schulze-Delitzsch's Schriften u n d Reden, Bd. I, Berlin, 1909—1913.

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nossenschaften. Viele erfolgreiche Gründer kapitalistischer Unternehmen sind mittellose Handwerker oder Arbeiter gewesen und haben sich zur gleichen Zeit zu großen Unternehmen entwickelt. Erfolgreiche Produktivgenossenschaften hätten auch Kredite bekommen. Dem Argument des Kapitalmangels kommt nur insofern eine gewisse Bedeutung zu, als nicht anzunehmen ist, daß sich große, zahlreiche Arbeitergruppen bereitfinden werden, ein Unternehmen „großzuhungern". Die unteren Einkommensgruppen weisen praktisch i n jeder Gesellschaft eine hohe Verbrauchsneigung auf, weil die Lebenshaltung, die als Norm gilt, und an der sich alle orientieren, immer von einer der höheren Einkommensgruppen festgelegt wird, so daß die unteren Einkommensgruppen keine große Sparpotenz aufweisen werden 1 6 . Z u einer „innerweltlichen Askese" 1 7 werden sich immer nur wenige Personen bereitfinden, nicht jedoch ganze Gesellschaftsklassen. Eine gewisse Selbstfinanzierungsrate ließe sich bei den Produktivgenossenschaften natürlich satzungsmäßig festlegen. Da i n einer Genossenschaft aber wiederum über alles und jedes jederzeit m i t Mehrheit abgestimmt werden kann, ist die Gefahr, daß die Selbstfinanzierung doch eines Tages einem höheren Konsum oder entsprechenden Sozialleistungen zum Opfer fällt, i n einer Produktivgenossenschaft größer als i n einem privaten Unternehmen. Bei einem privaten Unternehmen nimmt auch eine hohe private Lebenshaltung oft nur einen kleinen Bruchteil der erzielten Gewinne i n Anspruch. Geht man aber dem Scheitern von privaten Kleinunternehmungen, auch von privaten M i t telunternehmungen, einmal nach, dann findet man immer wieder, daß einer der Gründe dieses Scheiterns, oft nicht der unwichtigste, die zu hohen Privatentnahmen des Unternehmers gewesen sind. Dabei werden die hohen Privatentnahmen oft wider besseres Wissen und Wollen vorgenommen, w e i l auch die Klein- und Mittelunternehmer unter dem gesellschaftlichen Zwang einer standesgemäßen Lebenshaltung stehen. Wenn dieser Faktor schon i n diesen Kreisen zu Unternehmungszusammenbrüchen führen kann, u m wieviel mehr dann bei einfachen Arbeitern, die zu den Ärmsten i n der Bevölkerung zählen. Ihnen w i r d ja doch von den anderen Gesellschaftsschichten täglich demonstriert, wie angenehm es sich i m Wohlstand lebt. Das Problem liegt deshalb nicht i m Kapitalmangel, sondern i m Bereich der privaten Lebenshaltung, weshalb sich auf Staatsdotationen, wie sie Lassalle gewünscht hat, kaum je wirksam rechtfertigen ließen. Zudem läßt sich das Prinzip der Staatshilfe nicht allgemein anwenden. Allgemein gangbar ist nur das Prinzip 16 A. v. Loesch: Die Grenzen einer breiteren Vermögensbildung, Frankfurt, 1965, S. 97 ff. 17 M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Die protestantische E t h i k u n d der Geist des Kapitalismus", Tübingen 1920—1923.

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der Selbsthilfe, das dann ja auch von den Konsumgenossenschaften, von Schultze-Delitzsch und Raiffeisen m i t Erfolg angewandt wurde. Der Hauptgrund für das Scheitern der Produktivgenossenschaften war ein anderer. Er wurde von Robert Oppenheimer aufgezeigt und m i t „Gesetz der Transformation" bezeichnet 18 . Oppenheimer's „Gesetz der Transformation" besagt, daß die Produktivgenossenschaften, wenn sie nicht untergehen wollen, sich notwendig i n Gesellschaften umwandeln müssen. Die nichtgeschlossene Mitgliederzahl und der Umstand, daß jeder Genosse Arbeiter und jeder Arbeiter Genosse ist, macht sie für eine freie Marktwirtschaft lebensuntauglich. Wegen dieser beiden Prinzipien stimmen i n ihnen das Gesamt- und das Einzelinteresse nicht überein. Bei steigender Nachfrage entspricht es dem Interesse der Produktivgenossenschaft, neue Genossen einzustellen, nicht aber dem I n teresse der Alt-Genossen, die dann den Unternehmergewinn unter mehr Köpfe verteilen müssen, ohne sicher zu sein, daß der Aufschwung anhält. Bei sinkender Nachfrage hat die Produktivgenossenschaft ein I n teresse daran, die Produktion einzuschränken. Der einzelne Genosse ist i n einer solchen Situation jedoch daran interessiert, die Produktion auszudehnen, da er ein kontinuierlich hohes Einkommen braucht. Die I n teressen der Genossenschaft und die der Mitglieder konkurrieren ferner bei der Kapitalbildung. Dies alles demokratisch regeln zu können, überfordert die Einsichtsfähigkeit der Genossen. Oppenheimer weist darauf hin, daß zwischen den Verkäufer- und den Käufer-Genossenschaften ein grundlegender Unterschied besteht. I n der Verkäufer-Genossenschaft, zu denen die Produktivgenossenschaft zählt, finden w i r den eben genannten immanenten Gegensatz zwischen dem Einzel- und dem Gesamtinteresse. Deshalb kann sie nicht ohne Zwang existieren. Anders ist die Lage bei den Käufergenossenschaften. Zu den Käufergenossenschaften zählen die Konsumgenossenschaften. Hier stimmen beide Interessen überein. Infolgedessen können sich Käufergenossenschaften marktgerecht verhalten. Steigt z. B. der Preis der Produkte, die die Käufer erwerben, dann werden beide, die Käufer und die Käufergenossenschaft, ihre Nachfrage einschränken. Auch bei Preissenkungen werden beide i n voller Übereinstimmung reagieren. Auch ist i n der Käufergenossenschaft das Prinzip der offenen Tür kein Problem. Ist die Käufergenossenschaft erfolgreich, dann treten neue Genossen bei und je größer sie ist, u m so erfolgreicher kann sie für ihre Genossen arbeiten. A n der Produktivgenossenschaft ist eigentlich nur erstaunlich, daß soviel über die so unpraktische Unternehmensform nachgedacht und soviel und ausdauernd m i t Produktivgenossenschaften experimentiert 18

J. Schumpeter:

Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1912.

30 Festgabe für Gert von Eynern

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wurde. Der Grund hierfür kann m. E. letzten Endes nur darin liegen, daß man damals von einer falschen nationalökonomischen Theorie ausging. I n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte man noch das B i l d einer stationären Wirtschaft vor Augen. I n einer stationären W i r t schaft wären die Arbeitswertlehre und Lassalle's „Ehernes Lohngesetz" aktuell. Hier würde es keinen Unternehmergewinn und keinen Zins geben. Beide sind Wachstumsergebnisse, sind Geschöpfe der wirtschaftlichen Entwicklung 1 9 . I n einer stationären Wirtschaft würden alle Erträge den beiden originären Produktionsfaktoren, der Arbeit und dem Boden zufließen. Das Kapital hätte hier keinen Wert, weil es nicht mehr nachgefragt würde, und Unternehmergewinne würde es nicht geben, weil nur noch verwaltet würde. I n einer stationären Wirtschaft wäre tatsächlich jeder Unternehmergewinn und jeder Kapitalzins vorenthaltener Lohn, also Ausbeutung. I n einer solchen Wirtschaft wäre die Produktivgenossenschaft tatsächlich die ideale Unternehmensform und auch funktionsfähig. Da es diesen Zustand aber nicht gibt, kann es keine echten Produktivgenossenschaften geben, die ohne inneren oder äußeren Zwang funktionieren würden und privaten Unternehmen gegenüber konkurrenzfähig wären. Auch die übrigen Faktoren, die oft als Gründe des Scheiterns von Produktivgenossenschaften genannt werden, das Fehlen von Unternehmerpersönlichkeiten 20 und die mangelnde Disziplin 2 1 der Belegschaften, lassen sich auf die falsche theoretische Ausgangsbasis zurückführen. Wer ihr anhängt, neigt dazu, nicht die richtigen Persönlichkeiten auf die Position des Unternehmensleiters zu berufen und stattet dessen A m t auch nicht m i t genügend Vollmachten aus. Daß die deutsche Arbeiterbewegung über genügend Persönlichkeiten verfügt, die befähigt sind, Unternehmerpositionen auszufüllen, hat die spätere Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften und der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen gezeigt. Eine Unternehmung i n einer unpraktischen Rechtsform kann aber auch der fähigste Unternehmer nicht zur Blüte bringen, zumal, wenn er über keine Vollmachten verfügt. Die Disziplin und der Arbeitseifer, deren Fehlen ebenfalls als Gründe für das Scheitern der Produktivgenossenschaften genannt wird, sind wesentlich vom Erfolg einer Unternehmung abhängig. 19

R. Oppenheimer: a.a.O., S. 126. F. v. Wieser: Großbetrieb u n d Produktivgenossenschaften, i n : Gesammelte Abhandlungen, Herausgegeben von A . v. Hayek, Tübingen, 1929, S. 288/ 289. So auch E. Paesch: Die wirtschaftliche Bedeutung des kleingenossenschaftlichen Genossenschaftswesens. Herausg. 1912, S. 113, Anders H. SchulzeDelitzsch: Arbeitende Klassen, S. 63, ziitert nach v. Wieser, a.a.O., S. 275. 21 Webb-Potter: Die britische Genossenschaftsbewegung, herausg. von L. Brentano, Leipzig 1893, S. 114, desgl. v. Wieser: a.a.O., S. 278 ff. U n d auch hier w a r H. Schulze-Delitzsch anderer Meinung, a.a.O., bei T h o r w a r t I., Seite 338. 20

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Die Konsumgenossenschaften Die Konsumgenossenschaften stellen demgegenüber eine praktische Hechtsform dar. I n ihnen gab es keinen Gegensatz zwischen dem persönlichen Nutzen des einzelnen und dem Nutzen der Genossenschaft. Den Konsumgenossenschaften nutzt auch das Prinzip der offenen Tür. Hier w i r d der Gewinn ferner nicht nach Köpfen verteilt, sondern m i t Hilfe der Rückvergütung nach der Höhe des Umsatzes. Das reizt die Genossen, bei der Konsumgenossenschaft viel umzusetzen, alles erfolgsfördernde Faktoren, die die Konsumgenossenschaften i m Gegensatz zu den Produktivgenossenschaften aufweisen. W. M. Kirsch hat das Prinzip der Rückvergütung als den dritten Weg für eine Zuordnung von Gewinnen bezeichnet 22 . A u f dem kapitalistischen Weg fließen die Gewinne den Kapitaleignern zu, auf dem sozialistischen, i n Produktivgenossenschaften, den Arbeitern. Das Prinzip der Rückvergütung gibt dagegen die Differentialrenten an die Verbraucher weiter bzw. zurück. Das scheint i n vielem der gerechteste Weg der Zuteilung von Differentialrenten zu sein. Daß die Konsumgenossenschaften dennoch anfangs von der damaligen Sozialdemokratischen Partei weitgehend abgelehnt und oft sogar bekämpft wurden, geht auf Theorien zurück, denen die SPD lange Zeit anhing und derentwegen sie die Produktivgenossenschaften förderte. Infolgedessen sahen die SPD und die Gewerkschaften lange Zeit i n den Konsumgenossenschaften nur ein Palliativ-Mittel. Ich verweise hier auf den Streit Ferdinand Lassalles m i t Schultze-Delitzsch über die Konsumgenossenschaften 23 . Erst als es klar wurde, daß es m i t Produktivgenossenschaften nicht geht, und als sich die organisierte Arbeiterschaft nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes i m Zeichen des Revisionismus von der Vorstellung löste, sie könne ihre Ziele nur auf dem politischen Wege durchsetzen, fiel die Ablehnung der Konsumgenossenschaften durch die politisch bewußte Arbeiterschaft. Die politisch bewußte Arbeiterschaft war nun bereit, sich unter den gegebenen Verhältnissen auch m i t den kleinen Hilfen zu befassen, die die Lage der Arbeiter verbessern konnten. Seitdem faßten die Konsumgenossenschaften i n der Arbeiterschaft Fuß oder besser gesagt, begannen die Arbeiter die Konsumgenossenschaften zu unterwandern und i n den Arbeiterwohngebieten Konsumgenossenschaften zu gründen. A n sich lag der Arbeiterschaft der Konsumgenossenschaftsgedanke nahe. Die Gründer der modernen Konsumgenossenschaftsbewegung, die Rochdaler Weber, waren nach unserer Vorstellung 22 W. M . Kirsch: Die Bedeutung des Genossenschaftswesens i n unserer Zeit, Vortrag i m I n s t i t u t f ü r Sozialpolitik u n d Arbeitsrecht e.V. i n München am 26.10.1960, Schriftenreihe dieses Instituts. 3. Folge, Heft 11, S. 6. 23 I n Lassalles „Offenem Antwortschreiben", siehe A n m e r k u n g 9.

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Arbeiter. Auch der erste Konsumverein i n Deutschland ist von Chemnitzer Arbeitern, übrigens auch Webern und Spinnern, gegründet worden. Es hatte Ende der 1850er Jahre bereits eine Gründungswelle von Konsumgenossenschaften gegeben, die von den eben entstandenen A r beiterbildungsvereinen ausgelöst worden war. Die Tatsache, daß die Arbeiterschaft jahrzehntelang gegen den W i l len ihrer Theoretiker Konsumgenossenschaften gründete, ist ein interessantes Phänomen. K a u m eine große Bewegung ist so sehr von ihren großen Theoretikern geprägt worden, wie die deutsche Arbeiterbewegung während des 19. Jahrhunderts. Die Eroberung der Konsumgenossenschaften unabhängig von den großen theoretischen Debatten und jahrzehntelang i n Widerspruch hierzu kann fast als ein kleiner Aufstand der Mitglieder gegen die eigenen Ideologen bezeichnet werden. Man lauschte weiter hingerissen ihren großen wissenschaftlichen Debatten und ging dabei zugleich auf der örtlichen Ebene entgegen der herrschenden Lehre m i t praktischen Mitteln die praktischen Tagesfragen an. Damit taten die kleinen Ortsverbände der Arbeiterbewegung aus den Tagesbedürfnissen heraus das, was not tat, was wirklich getan werden konnte und was zugleich auch theoretisch richtig war. Sie hatten gemerkt, daß ihre Olympier auf dem falschen Wege waren, wußten nur nicht warum und taten das Richtige, ohne genau zu wissen, was sie taten. M. W. hat dies damals nur Eduard Bernstein richtig gesehen. I n dieser Zeit des Revisionismus entstand i m wesentlichen die anfangs bereits genannte „Vier-Säulen"-Theorie. Den Gewerkschaften stellte man die Aufgabe, den Nominallohn zu erhöhen, wogegen es die Aufgabe der Konsumgenossenschaft sei, den Reallohn zu steigern. Zugleich wurde nun der Konsumgenossenschaftsgedanke aber wieder überfordert, z. T. mitbestimmt durch die Verfemungen, denen die Konsumgenossenschaften ausgesetzt waren. Bald bildete sich die Konzeption, man könne nun die ganze Wirtschaft, ausgehend von den Konsumgenossenschaften, i n genossenschaftlicher Weise nichtkapitalistisch durchorganisieren. Man glaubte, durch Angliederung von Produktionsbetrieben i n einer umfassenden genossenschaftlichen Eigenproduktion eine profitlose Wirtschaft aufbauen zu können, ein Ziel, das übrigens schon den Rochdaler Webern vorgeschwebt hatte. Diese Konzeption ist wohl am deutlichsten i n Fritz Naphtali's „Wirtschaftsdemokratie" dargestellt und propagiert worden 2 4 . Dabei entstand die Idee einer w i r t schaftlichen Klassenautarkie, nach der die Arbeiter das, was sie selbst verzehrten, auch i n eigenen Unternehmungen produzieren sollten. Man stellte der kapitalistischen Erwerbswirtschaft die Idee einer solchen sich selbst versorgenden profitlosen Gemeinwirtschaft gegenüber. I n 24

F. Naphtali:

Wirtschaftsdemokratie. Neuerscheinung F r a n k f u r t 1966.

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dieser profitlosen Gemeinwirtschaft sollte die Profillosigkeit durch die diversen Rückvergütungen ermöglicht werden. Aus dieser Zeit stammen noch einige der zahlreichen Produktionsstätten der Konsumgenossenschaften, sowie das kleine Bankinstitut, das die Konsumgenossenschaften bis 1933 i n ihrer Spitze führten und für das die Läden der Konsumgenossenschaften Spareinlagen entgegennahmen. Auch hier herrschte die Idee der Selbstversorgung. Die heutigen Schwierigkeiten der Konsumgenossenschaften bestehen i n einer Reihe von Marktveränderungen 2 5 , vor allem i m Übergang des Einzelhandels von der klein- zur großbetrieblichen Produktion. Der kleine selbständige Einzelhändler verschwindet zusehends und macht großen Ketten und Ringen Platz, die man ohne Übertreibung als Großunternehmen i m Werden bezeichnen kann 2 6 . Parallel zu diesem Übergang vom Klein- zum Großunternehmen wandelt sich der Einzelhandel i m Zeichen der Selbstbedienung von einem arbeitsintensiv zu einem kapitalintensiv betriebenen Wirtschaftsbereich. Zugleich löst er sich vom alten Handelsprinzip „kleiner Umsatz — großer Nutzen" und geht zum modernen Handelsprinzip „großer Umsatz — kleiner Nutzen" über. Die Konsumgenossenschaften haben sich den modernen Verhältnissen schon weitgehend angepaßt, indem sie sich völlig auf das Nichtmitgliedergeschäft umgestellt haben. Zur Zeit passen sie auch ihre Organisation den neuen Bedingungen an. A u f einem außerordentlichen Konsumgenossenschaftstag i m Mai 1967 haben sie die Vorschläge einer Reformkommission i m Grundsatz gebilligt. Wenn der Umbau, den die Reformkommission vorschlägt, vollendet sein wird, w i r d es einen „Bund der Konsumgenossenschaften" i n der Form einer GmbH geben, der dann eine A r t Konzernspitze bildet, die über weitgehende Korrektur- und Eingriffsbefugnisse gegenüber den rund 200 heute noch autonomen örtlichen Konsumgenossenschaften verfügen wird. Dann werden auch die Konsumgenossenschaften das sein, was sie heute erst scheinen, nämlich ein großes, einheitliches und schlagkräftiges Einzelhandelsgroßunternehmen. Ich könnte m i r denken, daß man einige Jahre später auch die Rechtsform w i r d korrigieren müssen. Die Genossenschaftsform entspricht nicht der kapitalintensiven Betriebsweise. Eine Genossenschaft ist ein M i t gliederunternehmen und paßt i n arbeitsintensiv betriebene Vertriebsformen, nicht zu kapitalintensiven Dienstleistungsunternehmen. Dies und die Veränderung der Marktverhältnisse w i r d den eingeleiteten Transformierungsprozeß i n eine Kapitalgesellschaft beschleunigen. 25 Vergl. hierzu W. Hesselbach: Die gemein wirtschaftlichen Unternehmen, Frankfurt, 1966, S. 30 ff. 26 E. Balzer: Starker Wandlungsprozeß i m Lebensmitteleinzelhandel. I n : Wirtschaftskonjunktur. Bericht des Instituts f ü r Wirtschaftsforschung, M ü n chen, 17. Jg. Dezember 1965, S. 33 ff.

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Das Ziel, ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen zu sein, w i r d dabei nicht aufgegeben. Die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung hängt nicht an der Rechtsform. Sie läßt sich i n der Satzung jeder Gesellschaftsform verankern und ihre Innehaltung durch ein besonderes Aufsichtsgrem i u m sicherstellen. Ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen i n einer ungeeigneten Rechtsform kann dagegen seine Funktion nicht erfüllen. Dies sind vorerst alles noch Überlegungen. Festzuhalten bleibt, daß die Konsumgenossenschaften die erste funktionierende nichtkapitalistische Unternehmensform der deutschen Arbeiterbewegung gewesen sind und mindestens zwei Generationen hindurch i m Sinne ihrer Aufgabenstellung vorzüglich funktioniert haben. Die Eigenunternehmen der Konsumgenossenschaften und der Gewerkschaften Nicht bzw. unzureichend funktioniert hat der Selbstversorgungsgedanke der Arbeiterschaft i n eigenen Fabriken, die Idee der Eigenproduktion, der man eine Generation lang angehangen hat. Daß diese Idee nicht recht funktionieren konnte, läßt sich sehr leicht betriebswirtschaftlich erklären. E i n großes Handelsunternehmen z.B. w i r d sich immer besser stehen, seinen Bedarf von Fall zu Fall zu decken, statt sich aus eigenen Betrieben zu versorgen. Die Möglichkeiten, die große Einkaufskraft den Zulieferern gegenüber i n die Waagschale zu werfen, ist erfolgversprechender als der Aufbau eigener Zulieferbetriebe. Die Zulieferer muß nur der fest i n eigenen Händen haben, der ganz spezielle Qualitäten und Sonderanfertigungen benötigt oder die Diskriminierung seitens der Produzenten befürchten muß. I m Einzelhandel ist die Angliederung von Zulieferunternehmen i n den meisten Fällen unpraktisch. Man bindet unnötig Kapital, ohne sicherzugehen, daß die eigenen Unternehmen dann auch tatsächlich den wechselnden Verbraucherwünschen entsprechende Produkte preisgünstig genug anbieten können. Heute kommt noch ein weiteres Argument hinzu. I m modernen Selbstbedienungsladen fehlt das empfehlende Verkauf sgespräch; die Hausfrau greift automatisch nach den bekannten Marken, die die wirkungsvollste Reklame machen. Kleinere Produktionen und Hausmarken müssen deswegen umsatzmäßig schlecht abschneiden. Nur seine Eigenprodukte kann man heute i n einem modernen Selbstbedienungsladen nicht anbieten. Die Hausfrau wünscht ein volles Sortiment zu sehen. Aus Gründen der reinen Optik müssen die übrigen Marken m i t angeboten werden, auch dann, wenn 90 Prozent des ganzen Umsatzes nur auf zwei von zehn Marken entfallen. Eine Ausnahme bilden hier nur solche Eigenproduktionen, die heute immer noch nicht als Marken hergestellt werden und ausreichende Gewinnspannen enthalten.

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Hier lohnt es sich noch, eigene Fabrikationsbetriebe zu unterhalten. Das betrifft u. a. die eigenen Bäckereien, Fleischereibetriebe und Weinkellereien der Konsumgenossenschaften. Parallel zu den Konsumgenossenschaften begannen auch die Gewerkschaften u m die Jahrhundertwende eigene Betriebe zur Bedarfsdeckung der Mitglieder zu gründen 2 7 . Es handelt sich zumeist u m Versicherungen, Hotels, Bau- und Wohnungsgesellschaften. Fast alle Gewerkschaften und alle Beamtenbünde gründeten nach dem 1. Weltkrieg derartige Unternehmungen. Die Absicht dieser Gründungen war es, vorwiegend oder ausschließlich für die Mitglieder tätig zu sein und ihnen besondere Vorteile einzuräumen. A n dieser Aufgabenstellung sind diese Unternehmungen dann auch zumeist gescheitert. Vielfältig waren die Versuche m i t gewerkschaftseigenen Bankinstituten. Der Gedanke, die liquiden M i t t e l der Gewerkschaften i n eigenen Banken anzulegen, ist so alt wie die deutschen Gewerkschaften. Der erste Vorschlag, eigene Banken zur Verwaltung der eigenen M i t t e l zu gründen, wurde bereits auf dem ersten Gewerkschaftskongreß i m Jahre 1872 vorgebracht 28 . Er wurde aber erst 50 Jahre später verwirklicht 2 9 . Dabei waren die Beamtenverbände besonders eifrig. Sie versuchten i n dieser Zeit ein eigenes Beamtenbankwesen i n Genossenschaftsform zu errichten, das neben den Volksbanken und den Raiffeisenkassen eine dritte Kreditgenossenschaftssäule bilden sollte. Man zählte 1929 76 derartige Beamtenbanken, vorwiegend i n Genossenschaftsform 30 . Die Gewerkschaften folgten damals einer allgemeinen weit verbreiteten Hausbankenmode. Während der Großen Inflation gründete alle Welt Hausbanken, hauptsächlich, w e i l man über seine eigene Bank eine zweite Unterschrift für seine Wechsel bekam, so daß man sie nun bei der Reichsbank diskontieren konnte 3 1 . Die Gründung eigener Hausbanken ermöglichte es damals, sich am Geldschöpfungsmechanismus, an der Inflation, m i t zu beteiligen. Außerdem frönte man i n weiten Kreisen der Wirtschaft damals dem Gedanken, man sollte das knappe Kapital, das sich i n der eigenen Branche, dem eigenen Stand oder der eigenen Klasse bildete, auch wieder an die eigenen Leute ausleihen. Infolge der 27 Vergl. hier W. Astor: A r t i k e l Eigenunternehmungen der Gewerkschaften i n Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens, B e r l i n 1931, Bd. I., S. 409—413. 28 Handbuch der deutschen Gewerkschaftskongresse. Bearbeitet von Paul

Barthel, Dresden 1916, S. 135.

29 A . v. Loesch: Z u r Geschichte der Arbeitnehmerbanken i n Deutschland bis 1933. I n : Zeitfragen der Kreditwirtschaft, herausg. von der Bank f ü r Gemeinwirtschaft, F r a n k f u r t 1964, S. 179 ff. 30 W. Astor: A r t i k e l Gewerkschaftsbanken i n : Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens, B e r l i n 1931, Bd. I., S. 656. 31 O. Stileich: Die Banken, ihre A r t e n u n d ihre Beziehungen zur Gesellschaftsordnung, B e r l i n 1924, S. 147.

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Mangeljähre während des 1. Weltkrieges hatten sich überall wirre Selbstversorgungsideen breitgemacht und wurden nun auch auf die Geld- und Kreditwirtschaft angewandt. A m konsequentesten ging hier die damals viel beachtete und heute fast völlig vergessene Geld- und Kredittheorie Othmar Spann's und seiner Schüler 82 vor. Die Universalisten wollten die ganze Wirtschaft mit einem System von Hausbanken überziehen, die branchenmäßig gegliedert waren und an deren Spitze Zentralbanken der jeweiligen Branche stehen sollten. Der intersektorale Geldausgleich sollte dann nur über diese Zentralinstitute erfolgen. Was w i r heute i n der Landwirtschaft vorfinden, i m Agrarkredit, sollte nach dieser ständestaatlichen Geldlehre auf die gesamte Wirtschaft übertragen werden. Diese Vorstellungen vom Nutzen einer Hausbank widersprechen der Grundidee der Bank. Man übersah damals, daß das Wesen einer Bank darauf beruht, daß sie fremdes Geld an Fremde ausleiht, daß sie von möglichst vielen Fremden m i t möglichst unterschiedlichen Zahlungsgewohnheiten und Liquiditätsbedürfnissen Geld hereinnimmt und dieses an möglichst viele Kreditnehmer mit möglichst verschiedenen Zahlungsterminen wieder ausleiht. Einer Hausbank fehlt diese Streuung. Sie kann infolgedessen nie viel mehr sein als eine Kassenabteilung, die sich den Mantel einer Bank umhängt. Ein solches Institut w i r d ständig vor der Gefahr der Illiquidität stehen und muß daher eine höhere L i quiditätsvorsorge treiben als andere Banken, was notwendigerweise die Rendite schmälert, so daß ein solches Kreditinstitut den Gewerkschaften und den Gewerkschaftsangehörigen nicht noch obendrein besonders günstige Bedingungen für ihre Einlagen und ihre Kredite bieten kann. Auch i n anderen Sparten zeigte sich, daß i n der Regel Eigenunternehmen, ausschließlich für Mitglieder bestimmt, gegenüber privaten Unternehmungen auf die Dauer nicht konkurrenzfähig sein können.

Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen Aus der Kette der Versuche i n der Reihe der Unternehmungsgründungen der Arbeiterbewegung funktionierte auf die Dauer befriedigend nur der Typ des freigemeinwirtschaftlichen Unternehmens. Das erste freigemeinwirtschaftliche Unternehmen der deutschen Arbeiterbewegung war die gewerkschaftliche Lebensversicherungsgesellschaft Alte Volksfürsorge 33 . Vor dem 1. Weltkrieg herrschten katastrophale Zu32 A. Weber: Über die berufsständische Idee i n Deutschland, Jahrbuch für Nationalökonomie u n d Statistik, Bd. 143, Jena 1935, S. 129. 38 W. Thiele u n d W. Göhring: E i n halbes Jahrhundert Volksfürsorge. W e r den u n d W i r k e n eines Versicherungsunternehmens, Darmstadt 1962, Vgl. ferner W. Hesselbach: a.a.O., S. 45 ff.

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stände auf dem Gebiet der Kleinlebensversicherungen. Die Idee, ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen i m Versicherungswesen zu gründen, stammt vom Präsidenten des Kaiserlichen Aufsichtsamtes für das Versicherungswesen. Der Präsident forderte die privaten Versicherungsgesellschaften auf, ein nicht gewinnorientiertes Versicherungsunternehmen für Kleinlebensversicherungen zu gründen, das m i t diesen Mißständen aufräumen sollte, indem es Kleinlebensversicherungen zu anständigen Konditionen anbot. Die privaten Versicherungsunternehmungen lehnten es ab, durch ein eigenes Unternehmen die eigenen Renditen zu schmälern. A n ihrer Stelle sprangen die Gewerkschaften und die Konsumgenossenschaften ein und gründeten auf Anregung und Empfehlung von Adolf von Elm gemeinsam die Alte Volksfürsorge. Dieser Adolf von Elm 3 4 , eine fast klassische Unternehmerpersönlichkeit i m Rahmen der deutschen Arbeiterbewegung, ist ursprünglich Zigarrenarbeiter gewesen. Nachdem er i n der Zeit des Sozialistengesetzes emigriert war, experimentierte er eine zeitlang m i t Produktivgenossenschaften. Die heutige Zigarrenfabrik der deutschen Konsumgenossenschaften geht noch auf die Elm'sche Zigarrenarbeiterproduktivgenossenschaft zurück. Er sah dann bald ein, daß diese Unternehmensform nicht funktionieren konnte und überführte diese Produktivgenossenschaft i n die Konsumgenossenschaften. Er gründete ferner die Hamburger Konsumgenossenschaft, die „Produktion", wobei noch, wie der Name „Produktion" besagt, die Vorstellung mitgespielt hatte, die Institutionen Konsumgenossenschaft und Produktivgenossenschaft irgendwie miteinander zu verbinden. Aus all diesen Versuchen, die niemals zu Konkursen geführt haben — Elm war viel zu einsichtig, u m es je so weit kommen zu lassen — entwickelte er dann den Typ des freigemeinwirtschaftlichen Unternehmens, wie er heute i n voller Blüte steht. Der Typ des gemeinwirtschaftlichen Unternehmens ist verhältnismäßig leicht zu umreißen 35 . Große Verbände, die mehr als bloße Pressure Groups sind, insbesondere der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften oder Konsumgenossenschaften, stellen Kapital zur Verfügung und verzichten auf hohe Gewinne für dieses Kapital. Die Rechtsform dieser gemeinwirtschaftlichen Unternehmung ist regelmäßig die einer Kapitalgesellschaft, zumeist Aktiengesellschaft oder auch GmbH. Das Aufsichtsgrem i u m w i r d von den Aktionären gestellt, es besteht also aus Vorsitzenden von Gewerkschaften und/oder aus Vorständen von Konsumgenossenschaften. Die Vorstände des Unternehmens selbst und das übrige Personal setzt sich dagegen ausschließlich aus Fachleuten der jeweiligen 34 W. Postelt: A r t i k e l Adolf von E l m i n : Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens, a.a.O., S. 425. 85 H. Ritsehl: A r t i k e l Gemein Wirtschaft i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart, Tübingen, Göttingen, 1965, 4. Bd., S. 331.

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Branche zusammen. Nach diesem Schema sind heute praktisch alle gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen der deutschen Arbeiterbewegung organisiert. Wenn insgesamt i m Laufe der letzten 15 Jahre ein recht ansehnlicher Komplex von gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen der verschiedensten Branchen entstand, dann i n erster Linie, weil diese Unternehmen sich i m freien Markt bei vollem Wettbewerb gut entwickelt haben, und nicht, weil sie sich i m Eigentum der Konsumgenossenschaften und Gewerkschaften befinden. Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen sind nicht Unternehmungen ausschließlich für Gewerkschaftsmitglieder oder Konsumgenossenschaftsmitglieder, wie häufig behauptet wird. Sie stellen ihre Güter und Dienstleistungen vielmehr jedermann zur Verfügung. Sonderleistungen für Gewerkschaftsmitglieder gibt es i n der Regel nicht. Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen stellen auf die Verbraucher insgesamt ab und versuchen preisregulierend auf ihrem jeweiligen M a r k t zu sein. Sie verfolgen unternehmerische Ziele i m allgemeinen Interesse. Dadurch bringen sie gegenüber allen vorangegangenen Unternehmenstypen der Arbeiterbewegung etwas grundsätzlich Neues. Sie sind keine Unternehmungen mehr einer bestimmten Schicht für eine bestimmte Schicht, sondern Unternehmungen, deren Ziele gesamtwirtschaftlicher Natur sind. Unternehmensziel: Gemeinwohl Nach diesem Überblick über die Geschichte der nicht- bzw. antikapitalistischen Unternehmensformen der deutschen Arbeiterbewegung nun der K e r n der Aussage. Die Aussage beruht auf folgenden zwei Feststellungen. 1. Die Rechts- und Organisationsformen der hier aufgeführten vier „antikapitalistischen" Unternehmensformen haben sich i m Ablauf des Entstehens dieser Typen mehr und mehr den Rechts- und Organisationsformen der erwerbswirtschaftlichen, der „kapitalistischen" Unternehmen angeglichen. 2. Demgegenüber hat sich die Verhaltensweise dieser nichtkapitalistischen Unternehmensform von Typ zu Typ immer mehr von den erwerbswirtschaftlichen Verhaltensweisen zu gemeinwirtschaftlichen Verhaltensweisen gewandelt. Die ersten Unternehmen der Arbeiterbewegung waren Produktivgenossenschaften, Verkäufergenossenschaften. Ihnen folgte dann die andere Genossenschaftsart, die Käufergenossenschaft. Die ersten Kapitalgesellschaften der Arbeiterbewegung entstanden als Eigenbetriebe für einen bestimmten Mitgliederkreis. Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen sind heute i n der Regel Kapitalgesellschaften.

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Die Produktivgenossenschaften waren nach dem Prinzip der direkten Demokratie organisiert. Es gab keine Gewaltenteilung und kein fest angestelltes Management von Fachleuten. Das wurde bei den Konsumgenossenschaften schon anders. Es entstanden ein fest angestelltes Management und eigene Aufsichts- und Revisionsorgane. Die Eigenbetriebe übernahmen m i t der anderen Rechtsform auch neue Organisationsformen. Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen haben dann die Gewaltenteilung voll durchgeführt. Die Aufsichtsorgane stellen die Eigentümer, die Gewerkschaften und die Konsumgenossenschaften; das Management besteht aus Fachleuten. Von diesen Fachleuten w i r d nun konsequenterweise nur noch Loyalität gegenüber dem Unternehmensziel verlangt, eine politische oder soziale Identifizierung m i t den Gründerorganisationen ist nicht mehr Bedingung. Das Personal wechselt zwischen den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen und den privaten Unternehmen i m gleichen Umfang, wie es auch zwischen den erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmen der gleichen Branche fluktuiert. Somit haben sich die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen i n fast allen formalen Punkten weitgehend den erwerbswirtschaftlichen angeglichen. Nicht so i m Unternehmensziel, i n der Verhaltensweise. Hier haben sich die gemeinwirtschaftlichen und die ausschließlich erwerbswirtschaftlichen Unternehmen auseinanderentwickelt. Die Produktivgenossenschaften i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich noch nach außen wie rein erwerbswirtschaftliche Unternehmen verhalten. Den Befürwortern und den Gründern von Produktivgenossenschaften hatte zwar als Fernziel vor Augen geschwebt, daß die Produktivgenossenschaften einmal, wenn die ganze Wirtschaft i n Produktivgenossenschaften überführt sein würde, ihre Waren untereinander zum Arbeitswert austauschen. Sie erhofften sich so auch einen Handel ohne Ausbeutung. Insgesamt hat sich gezeigt daß die Produktivgenossenschaft nur die Differentialrente i m Unternehmen selbst anders verteilte, indem sie sie statt dem Kapitaleigner den Arbeitern zukommen ließ. Dadurch verschwindet die Differentialrente aber nicht, sie w i r d auch nicht wesentlich gerechter verteilt. A n die Stelle privilegierter Kapitaleigner treten nur privilegierte Arbeitergruppen. I n den Konsumgenossenschaften vollzog sich demgegenüber schon ein Verhaltenswandel. Sie gaben die Differentialrente i n der Form der Rückvergütung entsprechend der Höhe des Umsatzes an die Mitglieder der Konsumgenossenschaften weiter. Da jeder Mitglied einer Konsumgenossenschaft werden kann, gaben sie sie praktisch an die Verbraucher weiter. Ganz anders ist es bei den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Sie setzen ihre Gewinne m i t unternehmerischen M i t t e l n für Ziele ein, die i m übergeordneten Gesamtinteresse liegen. Da es sich bei den Konsum-

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genossenschaften und bei den Gewerkschaften u m Massenorganisationen handelt, sind deren Interessen wegen der Massenhaftigkeit ihrer Mitglieder m i t dem Gesamtinteresse weitgehend identisch. Prinzipiell jedoch ist diese hier bestehende Interessenidentität nicht mehr zwingend. Diese Entwicklung i m Verhalten zeigt zwei große Entwicklungssprünge. Es sind dies einmal der Übergang von der Gewinnbeteiligung der Arbeiter bei den Produktivgenossenschaften, zur Gewinnbeteiligung der Kunden bei den Konsumgenossenschaften. Und zweitens der Übergang von der Rückvergütung bei den Konsumgenossenschaften zum Prinzip des operativen Einsatzes der Differentialrenten m i t unternehmerischen M i t t e l n i m Allgemeininteresse bei den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Parallel zu dieser Änderung i n der Verwendung der Differentialrente ändert sich das Ziel, das erstrebt w i r d und der Gegner, gegen den operiert wird. Dabei werden die alten Freund-Feind-Verhältnisse abgebaut und neue Koalitionen gebildet. Die Produktivgenossenschaft sah sich noch i n tödlicher Feindschaft zum privaten kapitalistischen Unternehmer i n der Industrie, den sie von der Bildfläche verdrängen wollte. Die Gegner der Konsumgenossenschaften waren die mittelständischen Einzelhandelsunternehmen. Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen haben keinen konkreten Gegner mehr, keine Klasse oder keinen Stand, den sie ausschalten möchten. Sie haben nicht mehr das Ziel, am Ende eines Marktkampfes als Sieger allein das Schlachtfeld zu behaupten. Sie bekämpfen nun nur noch konkrete öffentliche Mißstände, wirken nur noch allgemein preisregulierend, u m das volkswirtschaftliche Ordnungsmittel des Wettbewerbs wirksam zu erhalten. Hierfür sind sie bereit, von Fall zu Fall wechselnde Koalitionen m i t privaten Unternehmensgruppen einzugehen. Sie versuchen Neuerungen einzuführen, die i m Allgemeininteresse liegen und positive Beispiele setzen. Sie betrachten sich nicht mehr als Gegner, sondern als Verteidiger und Verbesserer der marktwirtschaftlichen Ordnung. Das alles bedeutet zugleich eine wesentliche Steigerung i n der unternehmerischen Aktivität. Die Produktivgenossenschaft war dem Markt gegenüber noch passiv. Sie verteilte nur die Gewinne, die ihr der Markt zuspülte, an die Arbeiter. Die Gewinnverteilung war kein unternehmerisches Instrument. Anders bei den Konsumgenossenschaften. Durch Variation der Höhe der Rückvergütung konnte sie die Unternehmung selbst fördern und auf die umliegenden Märkte Einfluß nehmen. Die Konsumgenossenschaften und die Eigenbetriebe setzten die Form der gemeinwirtschaftlichen Gewinnverteilung bereits zu unternehmerischen Zwecken ein. Bei den gemeinwirtschaftlichen Unternehmen ist die unternehmerische Verwendung der Gewinne i m allgemeinen Interesse

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zum dominanten Unternehmensziel geworden. Sie sind unternehmerisch tätig, um ihre Gewinne mit unternehmerischen Mitteln aktiv, operativ i m Allgemeininteresse einzusetzen. Sie sind daher kein bloßer Umverteilungsmechanismus, dessen Aufgabe darin bestünde, das Sozialprodukt anders zu verteilen. Sie sind ein aktives Element, dessen Aufgabe darin besteht, die Wirtschaft funktionsfähig zu erhalten, indem es als Korrektiv, als Regulativ und als Beispiel w i r k t . Die operative Verhaltensweise i m Gemeininteresse unterscheidet die freigemeinwirtschaftlichen Unternehmen auch von den Unternehmenstypen, die ihnen an sich verwandt sind, von den öffentlichen Unternehmen und von den Stiftungen. Die freigemeinwirtschaftlichen Unternehmen verfolgen keine lokalen oder nationalen Ziele, wie die Unternehmen der Gemeinden, der Länder oder des Bundes. Sie sind auch keine bloßen Zweckvermögen, wie Bundesbahn oder Bundespost. Operatives Vorgehen am Markt m i t unternehmerischen Mitteln ist qualitativ etwas völlig anderes als am Markt erwerbswirtschaftlich erwirtschaftete Gewinne an Nicht-Eigentümer, an die eigenen Arbeiter, die Kunden, für wohltätige oder sonstige Zwecke wieder auszugeben. Das Vorgehen der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen ist daher keine Sozialpolitik von und für eine Klasse oder eine Bevölkerungsgruppe, sondern ist Wirtschaftspolitik freier gesellschaftlicher Gruppen i m vorstaatlichen Raum. Die deutsche Arbeiterschaft verlangt heute von ihren Unternehmen keinen bloßen Schutz mehr gegen Ausbeutung oder Übervorteilung. Sie hat ihnen statt dessen nun ein operatives Vorgehen zur Erhaltung und Erreichung der optimalen Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung als Aufgabe gestellt. Daß es dabei als nützliche Nebenerscheinung begrüßt wird, daß die tragenden Organisationen einen größeren Markteinblick gewinnen, hieraus Impulse und Anregungen erhalten und zugleich steigendes Ansehen i n der Öffentlichkeit finden, ist selbstverständlich. Diese neue am Gemeinwohl orientierte Zielsetzung macht eine dauernde Diskussion der konkreten Ziele nötig. Bei den Produktivgenossenschaften, den öffentlichen Unternehmen und bei den Stiftungsunternehmungen sind die Ziele von vornherein vorgegeben. Hier gibt es nur kaufmännische Fragen zu lösen. Aufsichtsrat und Vorstand eines gemeinwirtschaftlichen Unternehmens müssen dagegen ständig Prioritäten festlegen und neue unternehmerische Ziele suchen, die i m Allgemeininteresse liegen. Sie führen neben der Konkurrenz u m die Gewinne noch die Konkurrenz von Verhaltensweisen ein. Sie wissen, daß sich das höchste Glück aller nicht aus der Konkurrenz aller um das höchste Glück von selbst ergibt und daß die Konkurrenz um die höchsten Gewinne nicht von selbst zur richtigen Verhaltensweise aller führt. Sie

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versuchen, durch ihr Vorbild und m i t den Mitteln des modernen Wettbewerbs die anderen Unternehmungen zu einem volkswirtschaftlich wünschenswerten Verhalten zu veranlassen. Ein Unternehmenstyp für die „Dritte W e l t " Das Anliegen, Unternehmungen zu gründen, die nicht überwiegend der Gewinnmaximierung dienen, ist nicht auf die Arbeiterbewegung beschränkt gewesen. Der erste, der den Begriff Gemeinwirtschaft verwandte, war B. W. v. Hermann™. Er wandte sich i n seinen „Staatswirtschaftlichen Untersuchungen" gegen den „Profit"-Begriff der Klassiker und verstand unter Gemeinwirtschaft die gemeinsame Wirtschaft einer Familie oder eines Klosters mit voller Lebens- und Gütergemeinschaft. Die von Hermann m i t Gemeinwirtschaft bezeichneten Lebensgemeinschaften beruhen auf dem Gemeinsinn, den er i m Gegensatz zum Erwerbssinn der privaten Unternehmungen sah. „Als Kennzeichen der Gemeinwirtschaft tauchen hier also bereits auf: ein geschlossener Per-, sonenkreis als Träger des wirtschaftenden Gebildes, eine bestimmte Wirtschaftsgesinnung, die als Gemeinsinn bezeichnet wird, eine spezifische A r t der Verteilung des Ertrages und eine besondere Form des Eigentums 3 7 ." v. Hermann beschränkt den Begriff Gemeinwirtschaft aber noch auf kleine Lebensgemeinschaften. Wilhelm Roscher 38 erweiterte dann den Begriff Gemeinwirtschaft auf die Kooperations- oder Assoziationswirtschaft, auf die Genossenschaften und die Kommunal- und Staatswirtschaft, indem er den Gemeinsinn zum konstituierenden Merkmal gemacht. A. E. F. Schäffle erweiterte dann den Gemeinsinn noch u m die Liebe als tragendes geistiges Prinzip, wodurch er auch die „Organisation der freien Hingebung oder des Widmungswesens" m i t zur Gemeinwirtschaft zählen konnte. Schäffle kommt dabei zu einer Unterscheidung der Wirtschaftssubjekte i n private und moralische Personen. Gemeinwirtschaft ist bei i h m die personifizierte sittliche Gemeinschaft oder Anstalt. Hierbei unterscheidet er zwischen freiwilligen gemeinwirtschaftlichen Verbindungen und gemeinwirtschaftlichen Zwangsverbindungen. Zu den freiwilligen gemeinwirtschaftlichen Verbindungen zählt er die gemeinnützigen Vereine, die Stiftungen und Genossenschaften. Unter den Begriff gemeinwirtschaftliche Zwangsverbindungen fallen bei Schäffle der Staat, die Gemeinden und andere öffentliche (Zwangs-)Korperationen. Dadurch, daß Schäffle auch Zwangsverbindungen unter den Begriff Gemeinwirtschaft subsumiert, kommt ein neues Element i n die Debatte. Der Begriff Gemeinwirtschaft w i r d nun auch auf Wirtschaftssysteme 36 37 38

E. Salin: Geschichte der Volkswirtschaftslehre, B e r l i n 1922, S. 81. H. Ritsehl: a.a.O., S. 331. H. Ritsehl: a.a.O., S. 331—332.

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angewandt, die dem privatwirtschaftlichen, spekulativen oder kapitalistischen Wirtschaftssystem entgegengesetzt sind. Von nun ab w i r d bis i n die 20er Jahre dieses Jahrhunderts hinein der Begriff Gemeinwirtschaft regelmäßig auch für Wirtschaftssysteme oder Wirtschaftsordnungen gebraucht, die dem liberalen marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem entgegengesetzt sind. Besonders die Planwirtschaft, genauer gesagt, die zentrale Verwaltungswirtschaft, belegte man damals mit dem Namen Gemeinwirtschaft. Hier sei an die beiden Publikationen des Liberalen L u d w i g v. Mises und des Sozialisten Zschaetzsch erinnert 3 9 , die unter diesem Titel nachwiesen, daß die Planwirtschaft funktionieren kann (Zschaetzsch) bzw. nicht funktionieren kann (v. Mises). Auch H. Ritsehl verwandte den Begriff Gemeinwirtschaft. Er benannte hiermit das System staatlicher Unternehmungen, die Staatswirtschaft, die er i m Gegensatz zur kapitalistischen Marktwirtschaft sah. Ritsehl zeigte auf, daß die moderne Wirtschaft nur i n Form einer dualistischen Wirtschaftsordnung möglich ist. Der Dualismus besteht darin, daß sich die Gemeinwirtschaft und die Marktwirtschaft zu einem Gesamtbild der Wirtschaft zusammenfügen 40 . Ritsehl subsumiert noch i m A r t i k e l „Gemein Wirtschaft" i m Handwörterbuch der Sozial Wissenschaften unter dem Begriff Gemeinwirtschaft sowohl Einzelunternehmen, als auch ganze Wirtschaftssysteme und zählt dort zur Gemeinwirtschaft sowohl eine Anzahl Produktivgenossenschaften, als auch eine Anzahl Zentralverwaltungswirtschaften: die Klosterwirtschaft, die Haushaben der Täufer i n Mähren, die Brüdergemeinde der Herrenhuter, die israelischen Kibbuzim, die mexikanischen Ejidos, aber auch den ägyptischen Fronstaat, den Inkastaat, den Jesuitenstaat i n Paraguay und die moderne totale Planwirtschaft. Die wissenschaftliche Debatte über den Gegensatz von freier M a r k t wirtschaft und zentraler Verwaltungswirtschaft darf heute i m wesentlichen als abgeschlossen angesehen werden. Beide Systeme können m i t hoher Rationalität funktionieren. Hauptsächlich aber fielen die Gründe weg, um deretwegen mehrere Generationen von Politikern und Wissenschaftlern nach einem umfassenden gemeinwirtschaftlichen System schon vor der Installierung der ersten modernen Planwirtschaft i n der Sowjetunion gesucht haben, nämlich das Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit vor den Unberechenbarkeiten und Zufälligkeiten der „anarchischen Produktionsweise", i n die man ein Jahrhundert lang die kapitalistische Wirtschaft, die freie Marktwirtschaft, verfangen sah. Praktisch bis zu J. M. Keynes fehlte die Gesamtansicht der M a r k t w i r t schaft und damit die Grundlage für die Entwicklung und den rationa39 L. v. Mises: Die Gemeinwirtschaft, Jena 1922, B. Zschaetzsch „Die Gemeinwirtschaft als gesellschaftliches Verfassungssystem" Greiz 1925. 40 H. Ritsehl: Gemeinwirtschaft u n d kapitalistische Marktwirtschaft. Z u r Erkenntnis der dualistischen Wirtschaftsordnung, Tübingen 1931, S. 141.

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len Einsatz von gesamtwirtschaftlich wirkenden Interventionsinstrumenten. Heute wissen wir, daß der Wettbewerb nicht Anarchie ist, sondern ein wichtiges Ordnungsmittel 4 1 . Es ist heute ferner unbestritten, daß neben der notwendigen Ordnungspolitik auch Prozeßpolitik i m Sinne von Geld-, Kredit- und Konjunkturpolitik betrieben werden muß, um die Wirtschaft i m Gleichgewicht zu halten 4 2 . I n weiten Kreisen w i r d ferner nicht mehr bestritten, daß es möglich und wünschenswert ist, die Wirtschaft m i t Hilfe kombinierter ordnungs-, prozeß-, finanzund sozialpolitischer Maßnahmen auf eine hohe Wachstumsrate einzujustieren 4 3 . Die Marktwirtschaft kann deshalb heute, wenn die Regierung über die notwendigen Instrumente verfügt, ohne Aufgabe ihrer konstituierenden Elemente effektiv gemacht werden. Besonders bei hohen Wachstumsraten ist es möglich und nötig, der Marktwirtschaft ein breit gefächertes System der sozialen Sicherheit einzufügen. Dann w i r d aus der „anarchischen Produktionsweise" des laissez-faire-Kapitalismus, gegen den sich die Forderungen nach einer Gemeinwirtschaft gerichtet hatten, ein auf den Wohlfahrtsstaat h i n ausgerichtetes marktwirtschaftliches Ordnungssystem, das man mit der gleichen Berechtigung Gemeinwirtschaft nennen könnte, m i t der man lange Zeit eine positiv funktionierende Zentralverwaltungswirtschaft Gemeinwirtschaft genannt hatte. Ein solches System benötigt eine gut ausgebaute Infrastruktur als stützenden Rahmen und vorantreibenden Motor, die der Natur der Sache nach vorwiegend aus einem wohlgeordneten System öffentlicher Unternehmungen, aus Staats- und Kommunalwirtschaft bestehen wird. Ein wohlgesteuertes und auf hohes Wachstum h i n orientiertes marktwirtschaftliches System m i t wohlfahrtsstaatlichen Zügen w i r d deshalb immer eine „dualistische Wirtschaftsordnung" i m Sinne Ritschl's 44 sein. Damit erübrigt sich eine pointierende Gegenüberstellung von Marktwirtschaft und Gemeinwirtschaft. Sie reißt nur Gegensätze auf, wo keine mehr sind. W i r plädieren deshalb dafür, den Begriff Gemeinwirtschaft hinfort nur noch für die nicht erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmungen i m Sinne Gerhard Weißer's 45 zu verwenden. I n meiner Publikation über das gemeinwirtschaftliche Unternehmen 4 6 habe ich die ordnungspolitische Funktion aufgezeichnet, die die gemein41 K . P . Hensel: A r t i k e l M a r k t o r d n u n g i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 7. Bd., S. 161 ff. 42 K . P. Hensel: A r t i k e l Planwirtschaft i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 8. Bd., S. 330. 43 K.Schiller: A r t i k e l Wirtschaftspolitik i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12. Bd., S. 210 ff. 44 H. Ritsehl: Gemeinwirtschaftliche u n d kapitalistische Marktwirtschaft, a.a.O., S. 123 ff. 45 G. Weisser: Die Lehre v o m gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Archiv für öffentliche u n d freigemein wirtschaftliche Unternehmen Bd. 1 (1954), S. 20 ff. 46 W .Hesselbach: Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, F r a n k f u r t 1966.

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wirtschaftlichen Unternehmen i n einer Marktwirtschaft haben. Ich habe ferner dort bereits darauf hingewiesen, welche Aufgaben sie i m dynamischen Wettbewerbsprozeß als Gehilfen einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik übernehmen können 47 . Hier bleibt noch nachzutragen, daß sich die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen auch für den A u f bau i n Entwicklungsländern besonders eignen. Auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung i n Dakar i m März 1967 habe ich i n einem Referat über die Funktion und den Aufbau eines Bankensystems i n Entwicklungsländern 4 8 die Funktion und Aufgaben sowie das mögliche Funktionieren von gemeinwirtschaftlichen Banken i n Entwicklungsländern skizziert. M i t Hilfe gemeinwirtschaftlicher Unternehmungen lassen sich i n Entwicklungsländern vorindustrielle Strukturen zu unternehmerischem Handeln aktivieren. Sie werden daher i n den Ländern wichtige A u f gaben erfüllen können, i n denen die Voraussetzungen, hauptsächlich soziologischer A r t , für das Entstehen einer privaten Unternehmerschicht fehlen und private Unternehmungen nicht, oder noch nicht erwünscht sind. Sie könnten dort auch privaten Unternehmungen den Weg bereiten. A u f diese Weise könnte i n dieser Entwicklungsperiode einem einseitigen Anwachsen des staatswirtschaftlichen Sektors entgegengewirkt werden. M i t Hilfe gemeinwirtschaftlicher Unternehmen könnten i n der Bevölkerung Aktivitäten geweckt werden, die sonst brach liegen blieben. Die wichtige Aufgabe, die hier dem Genossenschaftswesen zukommt, ist bereits weitgehend erkannt worden. Ich verweise ferner auf die entscheidende Rolle, die die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen der Histadrut bei der Industrialisierung Israels gespielt haben und noch spielen. Die Industrieländer des Westens haben dem privaten erwerbswirtschaftlichen Unternehmer die Priorität eingeräumt. Die Industrieländer des Ostblocks bevorzugten dabei sozialistische Unternehmensformen, zumeist Produktivgenossenschaften. I n der „Dritten Welt", i n den Entwicklungsländern, könnte i n vielen Bereichen das gemeinwirtschaftliche Unternehmen die geeignete Unternehmensform i n der Anlaufperiode sein. Wie die heutigen Entwicklungsländer einmal aussehen werden, wenn sie sich industrialisiert haben, weiß noch niemand. Es kann aber gesagt werden, daß der dominierende Unternehmenstyp dort weder das private erwerbswirtschaftliche Unternehmen, noch die staatlich gelenkte Produktivgenossenschaft m i t Notwendigkeit sein muß. Die Welt ist heute für neue Formen offener denn je. Es gilt, diese Chance zu nutzen. 47

W. Hesselbach: a.a.O., S. 95 ff. W. Hesselbach: F u n k t i o n u n d Aufbau eines Bankensystems i n E n t w i c k lungsländern. Erscheint demnächst i n der Schriftenreihe der Friedrich-EbertStiftung. 48

31 Festgabe für Gert von Eynern

Entwicklungstendenzen des industriellen Lobbyismus in der Bundesrepublik Von Fritz-Ullrich Fack I . Neue Feudalmächte? Politische Soziologie und politische Wirtschaftslehre haben sich vor allem i n den fünfziger Jahren eingehend m i t dem Phänomen des Lobbyismus i n der Bundesrepublik befaßt und i n einer Reihe eindrucksvoller Untersuchungen das Wesen, die Verbreitung, die Arbeitsmethoden und natürlich vor allem den Einfluß organisierter Interessen auf politische Entscheidungen dargestellt 1 . Es mangelt darin nicht an pauschalen Verdammungsurteilen und an pessimistischen Prognosen, was die sachgerechte Funktionsweise des Gesetzgebungsverfahrens, die Staatsautorität und die Ämterbesetzung i n einer von den verbandlichen „Feudalmächten" 2 umdrohten politischen Ordnung angeht. Z u den Bannerträgern der K r i t i k gehört natürlich der wortgewaltige Theodor Eschenburg 3, dessen affektgeladene verbale Prägungen die Diskussion beherrschen: Machtgerechtigkeit oder Sachgerechtigkeit, Idealkorruption, Gefälligkeitsstaat, Instrumentalisierung des Staates durch Gruppen, Gruppenbund statt Bundesstaat oder auch „Unterstaat" als Gegenstück und Folgewirkung von Hitlers „Überstaat" 4 . Aber auch Joseph Kaiser 5, Hans Huber 6 und — etwas vorsichtiger — Werner Weber 7 dia1 Eine umfassende u n d auch das amerikanische Schrifttum berücksichtigende Literaturzusammenstellung findet der interessierte Leser i m Band 18

der Schriftenreihe des Instituts

für politische Wissenschaft (Berlin): „Ver-

bände u n d Gesetzgebung", von Otto Stammer u. a., K ö l n 1965. A u f sie sei v e r wiesen. I m übrigen bieten die weiteren Anmerkungen Hinweise. 2 A n t o n Böhm: Mächtiger als das Parlament, i n „ W o r t u n d Wahrheit" (Zeitschrift), 1955, S. 831 ff., insbes. S. 836. 3 Vergl. neben vielen Reden u n d Aufsätzen sein Buch „Herrschaft der Verbände"?, Stuttgart 1955. 4 Eschenburg i n „Staatsautorität u n d Gruppenegoismus" (Vortrag), i n Heft 9 der Schriftenreihe der I H K Düsseldorf, 1955; außerdem der Diskussionsbeitrag einer K ö l n e r Veranstaltung i n „Der Staat u n d die Verbände", herausgegeben von Beutler/Stein/Wagner, Heidelberg 1957, S. 30/31. 5 Joseph Kaiser: Die Repräsentation organisierter Interessen, B e r l i n 1956, S. 273. 6 Hans Huber: Staat u n d Verbände, Tübingen 1958, insbes. S. 26. 7 Werner Weber: Staats- u n d Selbstverwaltung i n der Gegenwart, Göttingen 1953; differenzierter noch sein Referat auf der Kölner BDI-Diskussion i n „Der Staat u n d die Verbände", a.a.O., S. 19 ff. 31*

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gnostizieren einen ständigen Machtzuwachs der Verbandsoligarchien, eine erkennbare Schwächung der Staatsautorität und einen entsprechenden Vertrauensschwund beim Staatsbürger. I n der Regel handelt es sich dabei u m großflächige Darstellungen mit einem notwendigerweise groben Raster. Sie stützen sich nicht auf Felduntersuchungen bei bestimmten Verbänden oder pressure groups, sondern auf allgemeine Beobachtungen oder auf einzelne, ins Auge fallende Vorkommnisse — Eschenburg beispielsweise hat stets eine Fülle von Details zur Hand —, die analysiert und verallgemeinert werden. Es mangelt leider sehr an detaillierten Felduntersuchungen, wie sie für das Verhältnis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zur Polit i k i n der verdienstvollen Studie des Amerikaners Braunthal und hinsichtlich der Entstehungsgeschichte der verschiedenen Personalvertretungsgesetze vom Institut für politische Wissenschaft vorgelegt v/orden sind 8 . Infolgedessen werden häufig alle Interessengruppen und Lobbyisten i n einen Topf geworfen, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Fach- oder Spitzenverbände, mitgliederstarke oder -schwache Organisationen, Industrie- oder Bauernverbände, Gewerkschaften oder etwa um die aggressive Kriegsopfer-Lobby handelt. Sie alle nehmen sich vielmehr i n diesem groben Raster als „politische Mächte", ja als neue „Gewalten" (A. Böhm9) i m Staate aus. Wer, wie der Verfasser, den Vorzug hat, alle diese finsteren Mächte über Jahre hinweg auf der politischen Bühne i n Bonn agieren zu sehen und auch die Matadoren dieses Spiels aus eigener Anschauung zu kennen, ist geneigt, die Dinge nicht nur differenzierter, sondern auch ruhiger zu betrachten. Das gilt jedenfalls für die industriellen pressure groups, die das Thema dieses A u f satzes bilden. I h r Einfluß auf Parlament, Regierung und Verwaltung w i r d i n der Regel wohl überschätzt. Das mag einerseits daher rühren, daß man hier — gewissermaßen traditionell — den Einfluß finanzieller Macht einkalkuliert, von dem angenommen wird, daß er doch ins Gewicht fallen und sich auszahlen muß. Wer legt sich schon Rechenschaft darüber ab, wie heterogen die Interessen vor allem i n den Spitzenverbänden der Industrie sind und wie wenig bei der Vertretung dieser Interessen m i t Geld allein auszurichten ist. Die Zahl der gleichgerichteten Interessen, wie man sie etwa i m Bereich der Steuer- oder Kartellgesetzgebung findet, ist ziemlich dünn gesät. Zum anderen fehlt es bei den meisten K r i t i k e r n ganz offensichtlich an der kontinuierlichen Beobachtung der industriellen pressure groups und an praktischer täglicher Erfahrung m i t ihrem Verhalten, ihren Vorstößen und ihren jeweiligen Erfolgen. Dann erst 8 Gerard Braunthal: The Federation of German I n d u s t r y i n Politics, New Y o r k 1965 / Z u r Studie des Berliner Instituts s. A n m . 1. 9 A. Böhm: a.a.O., S. 839.

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zeigt sich allmählich — jenseits jener vielzitierten Einzelbeispiele, die immer wieder herhalten müssen — wie weit wirklich der Einfluß dieser Gruppen reicht, und wie gefährlich es ist, bestimmte Geschehnisse zu verallgemeinern oder sie womöglich gar als signifikant für alle Interessengruppen anzusehen. I I . D i e Blütezeit des Lobbyismus

Daß es für die zahlreichen düsteren Schilderungen des Lobbyismus i n der Bundesrepublik historische Gründe gibt, und daß dabei abschrekkende ausländische Beispiele eine meinungsbeeinflussende Rolle gespielt haben, ist nicht zu übersehen. Was zum Beispiel Huber über die Verhältnisse i n seiner heimatlichen Schweiz berichtet, w i r k t auch auf abgehärtete Gemüter erkältend. Dort fallen angeblich „bisweilen gesetzgeberische Entscheidungen, bevor überhaupt die parlamentarischen Ausschüsse der beiden Häuser zur Beratung eines Gesetzentwurfs der Regierung zum ersten Mal antreten" 1 0 . Immerhin scheint es dort ab und an doch noch vorzukommen, daß bedeutende Beschlüsse vom Parlament selbst gefaßt werden, sozusagen i m gemeinten Sinn dieser Institution. „Aber es sind dann meist nur wenige Punkte, deren Regelung sich hinausgezogen hat", meint Huber. Aus England berichtet Finer 1 1 , daß die Geschäftslobbyisten „das Kernstück der Konservativen Partei" bilden. Es wäre nicht schwer nachzuweisen, so meint er, wie die konservative Oppositionspolitik i n den Jahren 1945 bis 1957 durch enge Kontakte der Parteigremien m i t den verschiedenen Interessenverbänden zustande kam, zum Beispiel i n der Verstaatlichungsfrage. Allerdings würde es Finer für verfehlt halten anzunehmen, daß die „Geschäftsleute" bei den Tories oder die Gewerkschaften bei Labour den Kurs diktieren. Amerika ist sozusagen die traditionelle Fundgrube für die bösesten Auswüchse des Lobbyismus. Unter Berufung auf K a r l Schrieftgießer 12 berichtet Gerard Braunthal 13 i n seiner Studie über die klassischen Tage der „Old Lobby": Damals, zur Zeit der Wilson-Regierung, besaß der arrivierte Lobbyist ein eigenes Büro i m Capitol. A u f der Gehaltsliste seiner Fabrikantenorganisation stand der Chef der Kongreßbediensteten, der i h n für 50 Dollar i m Monat auf dem laufenden darüber hielt, was i n den Beratungsräumen vor sich ging. Untersuchungsausschüsse des Kongresses förderten schier unglaubliche Geschichten an Intrigen, Einschüchterungs- und Bestechungsversuchen durch die Lobbyisten zu10 11 12 13

H. Huber: Staat u n d Verbände, a.a.O., S. 19/20. S. E. Finer: Die anonyme Macht, K ö l n 1960, S. 62. The Lobbyists, Boston 1951. G. Braunthal: a.a.O., S. 175.

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tage. Diese trüben Erfahrungen m i t dem ausländischen Lobbyismus schwingen sozusagen i m Unterbewußtsein auch des deutschen Betrachters heute noch mit. Es kommt hinzu, daß auch i n der Bundesrepublik die industriellen pressure groups i n den ersten Jahren des neuen parlamentarischen Systems bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nicht gerade zimperlich waren. Methoden und Arbeitsweise des Lobbyismus sind hinlänglich bekannt, so daß auf eine Schilderung verzichtet werden kann. Worauf es hier ankommt, sind die äußeren Umstände für das damalige Aufblühen des Lobbyismus i n der Bundesrepublik. Kaiser 14 ist der A n sicht, daß man Mitte der fünfziger Jahre erheblich mehr Interessenvertreter (als Abgeordnete) i m Bundestag finden konnte als gegen Ende der Weimarer Republik i m Reichstag. Eindrucksvoll war damals auch, wie i n Bonn die Verbandsbüros aus dem Boden schössen, deren Zahl man heute überschlägig auf mehr als 500 schätzt 15 ; dies trotz einer gewissen Rückzugsbewegung bei den Vertretern der Großfirmen. Aber man hat auch gelernt, die Frage nicht als rein numerisches Problem zu betrachten. Die Mehrzahl dieser Verbands- oder Firmenvertreter steht i n Bonn sozusagen auf Horchposten; sie sind funktionell eher m i t publicrelations-Leuten vergleichbar oder erfüllen überhaupt nur klassische Verbandsfunktionen, nur eben i n Bonn. Übrigens werden selbst die Horchpostenaufgaben i n vielen Fällen nicht einmal ausgefüllt, wie die immer wiederkehrenden Anfragen dieses Kreises an befreundete Journalisten über den Stand des Gesetzgebungsverfahrens beweisen. I n den Gründer jähren der Bundesrepublik ging es gesetzgeberisch um wichtige Entscheidungen. Damals wurden die wichtigsten Elemente der wirtschaftlichen Ordnung geformt; es ging nicht nur um Subsidien und Privilegien für einzelne Wirtschaftszweige, sondern auch und vor allem u m die Verteilung der steuerlichen Lasten, u m die finanziellen Folgen des Krieges und der Vertreibung, um die betriebliche Mitbestimmung, um Zollschutz oder Freihandel, um die europäischen Gemeinschaften und nicht zuletzt auch u m die Wettbewerbsgesetzgebung. Bedenkt man dies, so erscheinen die damaligen, oft erbitterten Kämpfe und die i n der Literatur aufgegriffenen Fälle eines mitunter brutal anmutenden industriellen Lobbyismus zwar nicht begrüßenswert, aber wenigstens verständlicher. Die Auswüchse des Lobbyismus i n jenen Jahren haben die Literatur, daran ist kein Zweifel, stark beeinflußt. Wer den historischen Ursachen jenes Interesseneinflusses nachgeht, w i r d nicht um die Feststellung herumkommen, daß die Regierung Adenauer, trotz der unbestreitbaren Integrität und Autorität des Regie14 15

J. Kaiser: a.a.O., S. 253. Capital (Zeitschrift), Heft 9/1966, S. 51.

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rungschefs, den Interessenvertretern gerade der Industrie glaubte mehr Entgegenkommen beweisen zu müssen als ihre Nachfolgerinnen. Man geht wohl nicht fehl, wenn man das Motiv dafür i n der damals vorherrschenden Form der Parteienfinanzierung sucht: Beide Koalitionsparteien — CDU und FDP — waren vor dem Beginn der staatlichen Parteienfinanzierung infolge ihrer Mitgliederschwäche stark auf Subsidien aus der Wirtschaft angewiesen. Erwiesenermaßen hat es zwischen Adenauer und seinem Wirtschaftsminister Erhard wegen dieses Interessenteneinflusses wiederholt scharfe, zum Teil sogar i n der Öffentlichkeit ausgetragene Kontroversen gegeben. Die Methoden der Industrielobby i n jenen ersten Jahren nach der Errichtung der Bundesrepublik waren ausgesprochen rüde. I n unguter Erinnerung ist jener „Spiegel"-Ausschuß von 1950, der sich m i t der Bestechungsaffäre des Abgeordneten Aumer von der Bayernpartei befassen mußte. Große ölgesellschaften hatten ihm, u m bei der Beratung des ersten Mineralölsteuergesetzes die sogenannte Hydrierpräferenz wieder durchzusetzen, namhafte Summen übergeben, wobei die Gesellschaften unter dem Eindruck standen, die Gelder würden für die Bayernpartei verwendet. Ähnliche, teilweise nie ganz aufgeklärte Bestechungsaffären, haben sich später noch i m Bereich der militärischen Beschaffung — d. h. i n der Verwaltung — abgespielt. Auch die „Leihwagen-Affären" mit den anschließenden Prozessen Anfang der sechziger Jahre warfen ein trübes Licht auf die Verfilzung von Teilen der M i n i sterialbürokratie m i t den Lobbyisten. Solche Durchstechereien haben nun freilich mit legitimer Interessenvertretung nichts gemein und gehören deshalb thematisch eigentlich nicht hierher; außerdem haben damals die Strafgerichte ein offensichtlich aus den Fugen geratenes Rechtsbewußtsein bald wieder hergestellt. Die Vorgänge sind hier vor allem aus „atmosphärischen" Gründen erwähnt worden. Indessen ist auch der echte, strafrechtlich nicht relevante Interesseneinfluß i n der Ära Adenauer überdeutlich und für jedermann sichtbar i n Erscheinung getreten. Hinsichtlich der beiden bevorzugten Berater Adenauers, der Bankiers Pferdmenges und Abs, sowie eines kleinen Kreises leitender Industrieller pflegte man i n Bonn abschätzig von einem „Küchenkabinett" des Bundeskanzlers zu sprechen. Häufiger Gast bei Adenauer war auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Fritz Berg. Nach eigener Aussage i n Gegenwart des Verfassers war er seinerzeit „fast jede Woche einmal" beim Bundeskanzler; es war dies eine i m Hinblick auf die inzwischen geänderten Verhältnisse etwas wehmütige Reminiszenz. A n dem apostrophierten wöchentlichen Turnus sind Zweifel erlaubt.

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Adenauer benutzte die Mitglieder seines „Küchenkabinetts" ganz unverhohlen als Gegengewicht zur angeblich „ideologisch fixierten" W i r t schaftspolitik seines Ministers Erhard. Die Ratgeber standen nicht an, diese Position zu nutzen und den Kanzler i m Bedarfsfalle kräftig gegen Erhard zu beeinflussen. Gegenstand der Opposition der Industrieherren waren vor allem die diversen konjunkturellen Bremsversuche Erhards i n den Jahren 1955/56 und 1960/61 sowie Schäffers Steuerpolitik. Vor allem um die von Erhard für notwendig gehaltenen konjunkturpolitischen Zollsenkungen hat es damals wiederholt erbitterte Schlachten zwischen dem Küchenkabinett und dem Wirtschaftsminister gegeben. I m Mai 1956 kam es schließlich auf der Jahresversammlung des B D I i n K ö l n zu einem dramatischen Zwischenfall, als der Kanzler öffentlich seinen Wirtschaftsminister desavouierte und i n der Frage einer von Berg heftig befehdeten, von Erhard aber unterstützten Erhöhung des Diskontsatzes durch die Bundesbank die Linie der Industrie bezog und ankündigte, er werde auf der nächsten Kabinettssitzung Erhard zur Rechenschaft ziehen. Die Öffentlichkeit reagierte heftig; Adenauer ließ es bei dieser Ankündigung bewenden. Der Diskontsatz wurde nicht herabgesetzt. Ein ähnliches Interessengerangel begann vier Jahre später um die Aufwertung. Berg nannte Erhards Absichten, die bekanntgeworden waren, eine „Katastrophe für die gesamte deutsche Wirtschaft" 1 6 . A u f dem Höhepunkt der Krise — Erhard war nach dem Iran gefahren — veranstaltete der B D I eine Pressekonferenz, an der interessanterweise auch Bankier Abs teilnahm. Durch bohrende Fragen etwas irritiert und ärgerlich geworden, offenbarte Berg den aufhorchenden Journalisten in seiner direkten A r t : Er werde zu Dr. Adenauer gehen und verspreche sich davon als Ergebnis, „daß beide Maßnahmen (die Aufwertung oder ein eventuelles umsatzsteuerliches Surrogat) endgültig vom Tableau kommen" 1 7 . Das Echo dieser Äußerung i n der Öffentlichkeit war vernichtend, stand doch jedermann unter dem Eindruck, die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik werde i m Konfliktsfalle vom B D I bestimmt. Einzig Adenauer ließ dieser Eindruck kalt; er weigerte sich, die — damals allerdings auch noch von Bundesbankpräsident Blessing abgelehnten — Aufwertungspläne jetzt schon zu akzeptieren und konnte erst i m März des folgenden Jahres m i t großer Mühe zu einer Zustimmung gebracht werden. Für Fritz Berg war die Oktober-Affäre also schließlich doch nur ein Pyrrhus-Sieg gewesen. Die ordentliche Machtverteilung wurde wieder hergestellt. Nach einem undementierten Zeitungsbericht 18 16

F. A. Z. v o m 30. 9./1. 10. 1960. Zitiert nach Aufzeichnungen des Verf., der an der Pressekonferenz teilnahm. 18 Kölner Stadtanzeiger v o m 16.6.61 (Artikelserie über die W a h l k a m p f finanzierung der Parteien von Dieter Schröder). 17

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verlieh Berg seinen Protesten dadurch Nachdruck, daß er unmittelbar nach der Entscheidung für die Aufwertung den monatlichen Scheck der Industrie für die Bundesgeschäftsstelle der CDU i n Höhe von 100000 D M sperrte. Er hob die Sanktion allerdings bald wieder auf. Nach der gleichen Quelle erhielt übrigens der Bundesvorstand der FDP damals monatliche Subsidien des B D I i n Höhe von 50 000 D M 1 9 . Trotz solcher finanziellen Zusammenhänge zeigt der Ausgang der Sache, auch nach Ansicht von Braunthal 2 0 , daß es ein I r r t u m wäre, eine Abhängigkeit des früheren Kanzlers vom BDI-Präsidenten zu unterstellen. Man respektierte sich gegenseitig, stand i n engem Kontakt, es gab auch, wie das Beispiel zeigt, gewisse finanzielle Zusammenhänge; aber von einer „Machtteilung" konnte bei der Autorität des Bundeskanzlers Adenauer zu jener Zeit keine Rede sein. Richtiger ist die Charakterisierung, daß Adenauer als ökonomischer Laie für die Empfehlungen seiner selbstgewählten Ratgeber empfänglich war, und daß diese Empfehlungen wohl auch oft seine eigenen A n sichten getroffen haben mögen. Wer das als Beschönigung empfindet, sei auf die Einleitung zu der i n jeder Beziehung außerordentlich lesenswerten Studie von Stammer u.a. 21 verwiesen, i n der eine — gemessen an der politischen Praxis — bemerkenswert realistische Theorie der Verbände und des Interessenteneinflusses entwickelt wird. Die dortige Charakterisierung des Verhältnisses von Verbänden und Parteien als offen, labil und i n der gegenseitigen Beeinflussung jedenfalls nicht determiniert t r i f f t genau den i n der Praxis zu findenden Sachverhalt. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Erkenntnisse einer ausgedehnten und mit Akribie geführten Felduntersuchung voranstehen. Diese Studie markiert überhaupt einen Punkt i n der politologischen Betrachtungsweise des Verhältnisses von Staat und Interessenverbänden. Der Sinn des vorliegenden Diskussionsbeitrages zu unserem Thema ist es, gewisse Entwicklungstendenzen i m industriellen Lobbyismus sichtbar zu machen. Auch auf die Gefahr hin, selbst der kasuistischen Betrachtungsweise geziehen zu werden, sei noch einmal auf einige m. E. typische Vorgänge der Adenauer-Ära zurückgegriffen. Sie werfen zugleich ein bezeichnendes Licht darauf, wie weit der Interesseneinfluß auch i m Parlament vorangetrieben werden kann, wenn dafür insgesamt nach dem Regierungsstil ein günstiges K l i m a herrscht. Die Vorgänge betreffen die Entstehung des Kartellgesetzes i n den Jahren 1954/57 und die späteren Bemühungen u m eine Novellierung i m Jahre 1962. Das Gesetz war von Anfang an auf das heftigste umstritten und deshalb 19

20 21

Ebenda, Ausgabe v o m 23. 6. 1961.

G. Braunthal: a.a.O., S. 202.

Stammer u. a.: Verbände u n d Gesetzgebung, a.a.O., S. 18.

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ein bevorzugtes Angriffsobjekt speziell der industriellen pressure groups. Es konnte i m M a i 1954 den Bundesrat i m ersten Durchgang schon nur m i t den Stimmen der sozialdemokratisch regierten Länder passieren 22 . Nach dieser Sturmwarnung sah die Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums, insbesondere der damalige Staatssekretär MüllerArmack, keine andere Möglichkeit mehr, als sich m i t den Vertretern des B D I über Kompromißformeln zu verständigen. Dieses Verfahren sei zu Recht kritisiert worden, schreibt H. H. Götz 23 . Tatsächlich wurde hier erstmals der Interesseneinfluß offen i n Richtung auf die Ministerialbürokratie kanalisiert — ein bedenklicher Bruch m i t honorigen ministeriellen Traditionen. Ein bereits bestehender A r beitskreis „Kartellgesetz" beim B D I wurde i m Sommer und Herbst 1954 u m einige höhere Ministerialbeamte aus dem Wirtschafts- und dem Justizministerium erweitert 2 4 . I m Oktober 1954 fand eine Schlußbesprechung statt, an der auf der einen Seite Bundeswirtschaftsminister Erhard m i t seinen Beamten und auf der anderen Seite der Präsident des Industrieverbandes, Berg, m i t seinen Verbandsexperten teilnahm. Aber selbst der dort gefundene Kompromiß über das Gesetz, der vom W i r t schaftspolitischen Ausschuß des Bundestages i n den Entwurf eingearbeitet werden sollte, bewährte sich nicht. I m Wirtschaftsausschuß schleppten sich die Beratungen zunächst endlos dahin. Es verdient angemerkt zu werden, daß sie erst wieder beschleunigt wurden, als der damalige Direktor des Deutschen Industrieinstituts (Köln), Fritz Hellwig (CDU), für den verstorbenen Abgeordneten Naegel den Ausschußvorsitz übernahm. Naegel war Anhänger der Erhard-Konzeption gewesen, hatte jedoch die Ausschußberatungen über den Entwurf wegen der beharrlichen Obstruktion des Industrieflügels der beiden Koalitionsparteien nicht voranzubringen vermocht. M i t Hellwigs Wahl zum Ausschußvorsitzenden, so meinten damals viele gutwillige Beobachter, werde man w o h l die letzten Hoffnungen auf eine Verabschiedung des Gesetzes begraben können. Das Gegenteil war der Fall. Der Wirtschaftspolitische Ausschuß durchlöcherte zwar das K a r tellverbot durch eine Reihe von Ausnahmebestimmungen, aber er hielt am Verbotsprinzip selbst grundsätzlich fest und beriet den Entwurf zügig. Der entscheidende Vorstoß kam vielmehr — für den Kenner nicht überraschend — aus dem Rechtsausschuß. Dort versuchten die der Industrie nahestehenden Abgeordneten i n letzter Minute durch eine Ände22 Vergl. hierzu auch die Diss. von Felix Sand: Die Geltendmachung w i r t schaftspolitischer Interessen i m demokratischen Staat, K ö l n 1964, S. 14 und Hans Herbert Götz, Weil alle besser leben wollen, Düsseldorf 1963, S. 126 ff. 23 24

H. H. Götz: a.a.O. (Anm. 22), S. 127.

Den an sich bekannten Tatbestand hat der Verf. i m Frühsommer 1967 durch Gespräche m i t Beteiligten nochmals verifiziert.

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rung der Verfahrensvorschriften das (Kartell-)Verbotsprinzip doch noch „umzudrehen" i n ein Mißbrauchsprinzip. Es kam zu einem geräuschvollen Eklat, als daraufhin die Regierungsvertreter unter Führung des damaligen Staatssekretärs i m Justizministerium, Strauss, aus dem Ausschuß auszogen (17. M a i 1957). Es ging jetzt ums Ganze. Man stand sechs Wochen vor dem Ende der Legislaturperiode. Nach einer Kette hektischer Beratungen i m Kabinett, mit den Koalitionsparteien und mit den Interessenverbänden, vor allem natürlich mit den Vertretern des BDI, bahnte sich schließlich — gewürzt von einer Rücktrittsdrohung Erhards — eine Kompromißformel an. Der Entwurf konnte rechtzeitig, wenn auch nicht unversehrt, verabschiedet werden. Die Interessenten waren vor dem starken politischen Druck Erhards und seiner Freunde zurückgewichen. Als 1962 gesetzgeberische Vorbereitungen für eine Novelle zum K a r tellgesetz getroffen wurden, boten sich ähnliche Schauspiele eines offen zutage liegenden Interessenteneinflusses. A u f Verlangen des Parlaments hatte das Bundeswirtschaftsministerium einen Erfahrungsbericht über die Praxis des 1957 verabschiedeten Kartellgesetzes angefertigt. Das Bundeskabinett billigte den Bericht am 25. J u l i 1962 einstimmig; er sollte unverzüglich dem Bundestag zugeleitet werden. Indessen geschah wochenlang nichts, der druckfertige Satz des Berichts stand vielmehr i n der Bundesdruckerei. Nach einer massiven Intervention führender Industrieller bei Bundeskanzler Adenauer hatte dieser die Auslieferung des Berichts angehalten. Es sickerte durch, daß das Wirtschaftsministerium die Abschaffung der Preisbindung der zweiten Hand vorgeschlagen hatte. Einen Monat später beriet das Bundeskabinett ein zweites Mal über den Berichtsentwurf und diesmal ging Erhard als Geschlagener vom Schlachtfeld. I n der Preisbindungsfrage hieß es i n einer Ankündigung des Regierungssprechers, sie solle — wenn überhaupt — nicht ohne angemessene Übergangszeit beseitigt und überdies durch zugelassene Preisempfehlungen ersetzt werden 2 5 . Noch i n einem anderen Kernpunkt wich die Regierung vor den I n teressenten zurück: Der Sprecher teilte mit, daß die Regierung an die Vorlage des Berichts keine Gesetzesinitiative knüpfen wolle. Der verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete Deist fragte damals i m Pressedienst seiner Partei, „wie lange der Bundeskanzler eigentlich noch Parlament und Regierung auf den Druck von Spitzenverbänden hin überspielen zu können glaube" 2 8 . Tatsächlich ist eine Initiative zur Novellierung des Kartellgesetzes erst von der Regierung Erhard i n den Jahren 1964/65 ergriffen worden. Adenauers Machtwort i n der Kartellfrage 25 26

Vgl. hierzu F. A. Z. v o m 16., 17. u n d 23. August 1962. F. A. Z. v o m 16. 8. 1962.

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war bis zu seinem Rücktritt als Bundeskanzler nicht umzustoßen. Übrigens gelang es auch Erhard später nicht, die Abschaffung der Preisbindung durchzusetzen. I I I . G i b t es einen Stilwandel?

Der Beobachter der Bonner Szene hat sich auch i n jenen „klassischen" Jahren bundesdeutscher Politik stets an das kluge Wort von Harry Eckstein 27 erinnert gefühlt, daß Politik wesentlich mehr ist als das Resultat des Zusammenspiels von Interessengruppen. Über diese Grundwahrheit täuscht man sich bei der Betrachtung von Einzelbeispielen eines erfolgreichen Interessenteneinflusses auf die Gesetzgebung leicht hinweg. Eckstein hat drei Bestimmungsfaktoren genannt, die das Verhalten von pressure groups i m politischen Kräftefeld entscheidend bestimmen: Der politische Stil, die Struktur des Entscheidungsprozesses („decisionmaking") sowohl auf der Seite des Staates als auch der Verbände und schließlich generell die politischen Verhaltensweisen i n einer Gesellschaft, die man als „political culture" bezeichnen könne 2 8 . Letztlich lassen sich auch diese drei Faktoren noch auf einen gemeinsamen Nenner bringen, den man als „demokratischen Standard" von Institutionen und politisch Handelnden bezeichnen könnte. Eine Gesellschaft mit hohem demokratischen Standard w i r d ganz zwangsläufig dazu neigen, den Interessenteneinfluß zu begrenzen oder jedenfalls zu kanalisieren. Daß hier eine Evolution stattfindet, gehört gewissermaßen zum demokratischen Entwicklungsprozeß und ist keineswegs nur auf die Bundesrepublik beschränkt, wie der Weg Amerikas von der „Old Lobby" der zwanziger Jahre zum „Regulation of Lobbying A c t " von 1946 beweist 29 . Nicht nur die Bundesrepublik ist i n dieser Beziehung eine „Entwicklungsdemokratie" 3 0 ; aber der Begriff ist zweifellos für die politische Wirklichkeit der letzten zwei Jahrzehnte i n der Bundesrepub l i k nicht unpassend. Verglichen m i t der Ära Adenauer hat inzwischen ganz zweifellos eine Evolution des demokratischen Standards stattgefunden. Der Einfluß der Interessengruppen auf die Gesetzgebung ist sicher nicht schlechthin und i n allen Bereichen zurückgegangen, aber doch partiell. I n den Vordergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit haben sich i n den letzten Jahren mehr und mehr jene Gruppen geschoben, deren Einfluß weniger ihrer finanziellen Potenz oder ihrem gesellschaftlichen Einfluß 27

H a r r y Eckstein: Pressure Group Politics — The Case of the B r i t i s h Medical Association, London 1960. 28 Ders., S. 38. 29 Näheres hierzu bei Felix Sand, a.a.O., S. 91 ff. 30 O. Stammer u. a.: Verbände u n d Gesetzgebung, a.a.O., S. 19.

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als vielmehr der Zahl ihrer Mitglieder und der Dichte ihrer Organisation zuzuschreiben ist. Die zum Teil massiven Interventionen und Pressionen dieser organisierten Sozialinteressen (zum Beispiel Bauern, Kriegsopfer oder Bergarbeiter) richten sich i n erster Linie auf die Verteilung bzw. Umverteilung des Sozialprodukts. Die wirtschaftliche Existenz dieser Gruppen hängt i n einem entscheidenden und womöglich noch zunehmendem Maße von einer gewissen staatlichen Konservierungspolitik ab; infolgedessen ist hier die Gesetzgebung ständig involviert und Objekt des politischen Drucks dieser Gruppen. I n ihrer Mehrzahl arbeiten diese Verbände nach wie vor m i t den schärfsten M i t t e l n politischen Drucks. Das bestimmt ihr unverändertes Image i n der Öffentlichkeit. Beim Regierungsstil hingegen ist schon seit geraumer Zeit ein Wandel zu verzeichnen. Das gilt vor allem für die wachsende Distanz zu den klassischen pressure groups, die das eigentliche „Lobbying" betreiben. Gemeint ist jene sanfte Form des Drucks, die sich nicht durch spektakuläre Aktionen gegenüber dem gesamten Parlament oder i n der Öffentlichkeit manifestiert, sondern ihren Weg durch das direkte, auf Überzeugung gerichtete Gespräch mit dem Abgeordneten oder dem Staatsfunktionär sucht. Diese von den industriellen Einflußgruppen bevorzugte „sanfte" Methode ist früher des öfteren, wie die oben zitierten Beispiele aus der Zeit des ersten Kanzlers zeigen, bis zu einem recht massiven Druck, und zwar bevorzugt auf die Regierung, gediehen. Staatsbürokratie und Parlament bewahren heute solchen Erscheinungen gegenüber eine zunehmend kritische Distanz. Den Repräsentanten einflußreicher wirtschaftlicher Interessen w i r d heute nicht mehr so viel Z u t r i t t zu den Zentren der politischen Macht und des „decision-making" gewährt. Das galt für Adenauers direkten Nachfolger Erhard und gilt auch für Bundeskanzler Kiesinger; beide haben sich gehütet, wieder so etwas wie ein „Küchenkabinett" zu installieren. Fraglos ist dieser Stilwandel an der Spitze nicht ohne Eindruck auch auf alle Etagen der Staatsbürokratie geblieben. Wenn sie sich den Verbänden zur Zeit Adenauers stärker „geöffnet" hat, so vorwiegend wegen des entsprechenden Druckes von oben. Das Normalverhältnis des höheren Ministerialbeamten zum Lobbyisten w i r d vom Bewußtsein der Staatsautorität und vom Gemeinwohldenken geprägt. M i t „preußischem Beamtenethos" hat das relativ wenig zu tun; vielmehr dürfte man ähnliche Verhaltensweisen bei den Staatsfunktionären der meisten zivilisierten Länder finden. 1. Der Wandel im Regierungsstil

Für den apostrophierten Wandel i m Regierungsstil, der m i t der Amtsübernahme durch Bundeskanzler Erhard einsetzte, gibt es keine exak-

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ten „Beweise"; diese Behauptung ist vorwiegend eine Sache praktischer Erfahrung und Beobachtung i n den zurückliegenden Jahren. I m Gegensatz zu den sozialen Großverbänden, die ihren Einfluß auch unter der neuen Regierung überwiegend behaupteten, ging der Einfluß industrieller pressure groups auf den Regierungsapparat sichtbar zurück. Wenn überhaupt, dann läßt sich der Beweis für den Außenstehenden nur e contrario führen: Es ist kein Zweifel, daß sich i n den letzten vier Jahren seit 1963 die Zahl der Affären ä la Kartellgesetz oder Aufwertung nachhaltig verringert hat, obwohl i n diesen Jahren zum Teil wichtige Gesetzgebungswerke wie die Aktienrechtsreform, die Umsatzsteuerreform oder auch die Novelle zum Kartellgesetz i n der Gesetzgebung anstanden. Als Beispiel darf noch einmal die Novelle zum Kartellgesetz herangezogen werden, und zwar einmal deshalb, w e i l der Verfasser das Werden dieser Novelle aus beruflichen Gründen m i t besonderer A u f merksamkeit verfolgt hat, und zum anderen deshalb, w e i l sich bei der Wettbewerbsgesetzgebung der Einfluß industrieller Interessentenverbände stets am deutlichsten manifestiert. Änderungen am Kartellrecht sind für die Industrie — und natürlich auch für die übrige Wirtschaft — stets ein Objekt besonderen Interesses. M i t den Vorbereitungen für die Kartellnovelle wurde kurz nach der Amtsübernahme der neuen Regierung durch den damaligen Bundeswirtschaftsminister Schmücker begonnen. Vor der Abfassung des vom Bundestag beantragten Berichts über die Erfahrungen m i t dem K a r tellgesetz hatte das Bundeswirtschaftsministerium 1962 bereits 54 W i r t schaftsverbänden und Organisationen Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben. Rechtsgrundlage für diese übliche Form der Anhörung der zuständigen Spitzen verbände ist der § 23 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Ministerien 3 1 . I m vorliegenden Falle hatte außerdem der Bundestag i n seinem Antrag vom 29. J u n i 196132 ausdrücklich verlangt, daß sich der vorzulegende Bericht auch m i t den Auffassungen der interessierten Kreise der Öffentlichkeit zum Kartellgesetz auseinandersetzen sollte. Unter der alten Regierung hatte sich der Wirtschaf tsausschuß des Bundestages m i t diesem Bericht Anfang 1963 nur ganz kursorisch auseinandergesetzt und seine Abneigung gegen Gesetzesänderungen zum Ausdruck gebracht. Nach dem Wechsel der Regierung wurde er Anfang 1964 ein zweites M a l auf die Tagesordnung sowohl des Wirtschafts- als auch des Mittelstandsausschusses des Bundestages gesetzt. Bundeswirtschaftminister Schmücker trug dabei die i m Bericht enthaltenen Änderungsvorschläge zum Gesetz m i t einigen Abweichungen vor: Er schlug vor, das Zulassungsverfahren für Spezialisierungskartelle zu vereinfachen und das Preisbindungsprivileg nicht sofort ab31 32

Vgl. F. Sand, a.a.O., S. 133. Drucksache 2886 der 3. Wahlperiode des Deutschen Bundestages.

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zuschaffen, sondern zunächst die bei der Preisbindung aufgetretenen Mißstände durch eine Verschärfung der Aufsicht zu beseitigen. Dabei berücksichtigte Schmücker, daß sich für die Abschaffung der Preisbindung — wie eine Probeabstimmung i m Wirtschaftsausschuß ein Jahr zuvor ergeben hatte — jedenfalls i n diesem Bundestag keine Mehrheit würde finden lassen. Darüber hinaus ließ sich jedoch die Regierung Erhard von ihrem Novellierungsprogramm nichts abhandeln. Bereits i m Frühsommer 1964 wurde der Entwurf dem Bundesrat zum ersten Durchgang zugeleitet. Abgesehen vom vereinfachten Zulassungsverfahren für einfache Rationalisierungskartelle hat die Novelle sowohl bei den Preisbindungen als auch bei den marktbeherrschenden Unternehmen und den Ausschließlichkeitsverträgen durchweg Verschärfungen des Kartellrechts gebracht. Selbst i m Verfahrensrecht wurde eine der beiden heiß umkämpften, vom Rechtsausschuß 1957 eingefügten Änderungen wieder rückgängig gemacht, die seinerzeit zum Auszug der Regierungsvertreter geführt hatten: Das Bundeskartellamt bekam nunmehr doch die 1957 verweigerte direkte Sanktionsbefugnis i m Bußgeldverfahren und muß sich seither nicht mehr an die Gerichte wegen Verhängung eines Bußgeldes wenden. Das Rechtsmittelverfahren wurde u m eine Instanz verkürzt. I m Wirtschaftsausschuß des Bundestages hat es bei den Beratungen nicht an Versuchen gefehlt, die Novelle wieder zu entschärfen; gleichwohl hat sich die Regierung m i t ihrem Gesetzgebungsvorschlag i m wesentlichen durchgesetzt. Für das beschämende Gerangel zwischen M i n i sterialbürokratie und Interessentenverbänden, wie es sich 1954/57 zugetragen hatte, fehlte diesmal jeglicher Nährboden. Angesichts der unverkennbaren Entschlossenheit der Regierung hatten die Interessengruppen ihre A k t i v i t ä t weniger auf den vorparlamentarischen Raum, als vielmehr auf die Parlamentsausschüsse konzentriert; aber auch hier war ihnen bemerkenswert wenig Erfolg beschieden. Man könnte die Behauptung wagen, daß der Wandel i m Regierungsstil auch auf die parlamentarischen Gremien abfärbte. Selbst der Stil der Verbandsbeeinflussung hatte sich geändert. Für die nahestehenden Abgeordneten i m Ausschuß hatte der B D I wieder eine Synopse des Regierungsentwurfs mit den Alternativvorschlägen des Verbandes für die Änderung einzelner Paragraphen ausgearbeitet; i m Gegensatz zu 1957 wurde sie diesmal jedoch auch den RegierungsVertretern zugänglich gemacht. Sie wußten deshalb, was an Änderungsanträgen von dieser Seite zu erwarten war und konnten jeweils sofort parieren 3 3 . Unter der Regierung Kiesinger ist der Einfluß wirtschaftlicher Interessenverbände weiter zurückgedrängt worden. Der Zuwachs an Staats33

Nach Auskunft eines Regierungsvertreters bei den Ausschußberatungen.

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autorität ist bemerkenswert. Das Programm zur Ordnung der Staatsfinanzen und zur Sanierung des Kohlenbergbaues haben die neue Regierung i m Frühjahr und Sommer 1967 m i t mächtigen Interessengruppen i n Konflikt gebracht. Speziell beim Umstrukturierungsprogramm für den Bergbau sind Dinge angefaßt worden, die bisher als „politisch unmöglich" galten. Es gibt allerdings auch Gegentendenzen. Sowohl Bundeswirtschaftsminister Schmücker als auch sein Nachfolger Professor Schiller haben sich i n verschiedenen Fällen um die „Selbstbeschränkung" bestimmter Wirtschaftsgruppen i n der Produktion bemüht (Angebot von Mineralöl, Expansion der Warenhäuser). A u f die Verbände der Mineralölwirtschaft sind i n diesem Zusammenhang sogar quasihoheitliche Befugnisse delegiert worden. Das ist eine nicht unbedenkliche Entwicklung, die der Staatsautorität i m Verhältnis zu den Interessengruppen zweifellos nicht zustatten kommt. „ I m allgemeinen haben die Verbände keine öffentliche Macht, sie bleiben i n der Sphäre des Bürgers", schreibt Scheuner 3*. Eine wesentliche Änderung ihrer Position müsse jedoch eintreten, „wo sie i n erheblichem Umfang öffentliche Aufträge und Vollmachten empfangen". Dies eben ist hier der Fall.

2. Wachsendes Selbstbewußtsein des Parlaments

Für einen Vertreter der „radikalen" Richtung der fünfziger Jahre wie A. Böhm35 stand fest, daß das Parlament i n den meisten Fällen wie bei einem Staatsvertrag lediglich zu ratifizieren habe, was „die Feudalmächte der großen Interessengruppen" i n vertragsähnlichen Vereinbarungen m i t der Regierung gesetzgeberisch initiiert hatten. Den Fraktionen würden die vollendeten Abreden lediglich nachträglich mitgeteilt. Böhm verweist auf die Lohn- und Preisabkommen i n Österreich und die Entstehungsgeschichte des Kartellgesetzes i n der Bundesrepublik. Wie w i r gesehen haben, stimmt dieses Pauschalurteil aber schon für das Kartellgesetz nicht, denn dort haben sich, trotz der 1954 getroffenen Vereinbarungen zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und dem BDI, i n den Parlamentsausschüssen später noch umfangreiche Kämpfe abgespielt. Der Bundestag hat sich zu keiner Zeit von den Interessenverbänden seine Beratungsrechte beschneiden lassen und war i m übrigen stets darauf bedacht, generell nicht zur Ratifizierungsmaschine herabzusinken. Es gibt noch eine Reihe anderer Faktoren, die dieser Gefahr entgegenwirken. I n fünf Legislaturperioden hat sich ein Stamm von Berufspolitikern bei allen Parteien herausgebildet, der immer weniger auf die 34

35

Ulrich Scheuner i n : Der Staat u n d die Verbände, a.a.O. (Anm. 4), S. 12.

A. Böhm: a.a.O., S. 836.

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politische Unterstützung durch bestimmte Interessenverbände angewiesen ist. I n dieser Beziehung hat eine A r t „Emanzipation" stattgefunden, die so weit geht, daß manche Abgeordnete sich heute formell von ihren Einfluß trägem trennen; Namen seien hier fairer weise nicht genannt. Braunthal 3 6 bestätigt hierzu, daß schon i n der Vergangenheit zahlreiche an sich dem Industrieflügel zuzurechnende Abgeordnete i n der Praxis eine recht unabhängige Position eingenommen haben. Auch der Wandel i n der Parteienfinanzierung hat das Vordringen von Interessenvertretern i n den Bundestag gebremst. I n Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Autoren schrieb Böhm 8 7 noch 1955, von der oft erwogenen Finanzierung der Parteien aus Steuergeldern sei für die Zurückdrängung des Interesseneinflusses nichts zu erwarten. I n der Praxis hat sich das Gegenteil als richtig erwiesen; allerdings sind auch Eschenburgs Bedenken hinsichtlich einer gerechten Verteilung der Staatsmittel an die Parteien i n dem Verfassungsgerichtsurteil über die Parteienfinanzierung drastisch bestätigt worden 3 8 . Unzweifelhaft t u n sich die Parteien und ihre parlamentarischen Gremien heute aber wesentlich leichter, als wenn sie m i t dem Hut i n der Hand wie früher ihre Gelder einsammeln müßten. Die institutionellen Voraussetzungen i n der Bundesrepublik waren für die Zurückdrängung des Interessenteneinflusses an sich immer schon recht günstig. Als wichtige Bremsen einer ungehemmten Umsetzung von Interessentenwünschen i n Gesetzgebungsakte haben sich der Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht erwiesen. M i t seinen zahlreichen richtungweisenden Urteilen beispielsweise zur Freiheit der Berufsausübung und zum Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nachhaltig fortwirkende Maßstäbe gesetzt. Auch der Bundesrat hat sich i n der Vergangenheit immer wieder einseitigen Gesetzesbeschlüssen widersetzt oder vermittelnde Lösungen angestrebt, wobei sich die sachorientierte Beratungsweise dieser aus Vertretern der Landesregierungen zusammengesetzten zweiten Kammer bewährt hat. A u f den Bundesrat haben die Interessenvertreter nach aller Erfahrung nur einen begrenzten Einfluß. 3. Versuche zur Selbstdisziplinierung

I n der letzten Zeit hat es nicht an Versuchen zu einer gewissen Selbstdisziplinierung des Parlaments gefehlt. Das bei weitem gefährlichste Vehikel des Interesseneinflusses sind die Ausschüsse. I m Verein 36 37 38

G. Braunthal: a.a.O., S. 174. A. Böhm: a.a.O., S. 835.

Th. Eschenburg: S. 38/39.

Staatsautorität u n d Gruppenegoismus, a.a.O. (Anm. 4),

32 Festgabe für Gert von Eynern

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m i t fast allen Autoren, die sich zu diesem Thema geäußert haben, k r i tisieren auch verantwortliche Parlamentarier, daß wichtige Bundestagsausschüsse — wie die für Landwirtschaft und Ernährung, Wirtschaft, Vertriebene oder für Kommunalpolitik — geradezu einen Spiegel der jeweiligen Interessengruppierungen darstellen 39 . Der schon erwähnte Vorsitzende des Wirtschaftspolitischen Ausschusses von 1954, Fritz Hellwig, hält es beispielsweise „ f ü r falsch, wenn sich die Parlamentsausschüsse, wie es gegenwärtig der Fall ist, fast ausschließlich aus den sogenannten Experten zusammensetzen" 40 . Er würde es für richtig halten, nach englischem Vorbild m i t möglichst wenig „Standing Committees" auszukommen, und stattdessen ad-hoc-Ausschüsse zu bilden, diese aber nicht als Spiegel verbandlicher Interessen, sondern als Spiegel des Parlaments zusammensetzen. Nur dadurch könne vermieden werden, daß einseitig zustande gekommene Ausschußbeschlüsse praktisch die Entscheidung des Parlaments vorwegnehmen, wie das i n vielen Fällen — nicht immer — geschieht. Für einen Industrievertreter ist dies wohl eine bemerkenswert aufgeschlossene Einstellung. Der Bundestag hat indessen i n seiner fünften Legislaturperiode nur einen verhältnismäßig schüchternen Versuch unternommen, die „Macht der Ausschüsse" (Bruno Dechamps41) zu vermindern. Die vom französischen Parlamentarismus ausgehende kontinentale Tradition der Experten-Ausschüsse erweist sich immer wieder als übermächtig. Man hat die Ausschüsse lediglich gestrafft, wodurch einige — allerdings m i t Interessenvertretern früher wohlbesetzte — Spezialausschüsse wie der Außenhandels-, Mittelstandsoder der Kommunalpolitische Ausschuß weggefallen sind. Bei einigem Wohlwollen kann man dies als A k t der Selbstdisziplinierung verbuchen. Als eine nützliche Einrichtung, gerade auch zur Abwehr von Interesseneinflüssen, haben sich die dem alten Reichstag noch nicht bekannten Ausschußassistenten des Bundestages erwiesen. Sie sind den Ausschußvorsitzenden als Helfer beigegeben, rekrutieren sich aus der höheren Beamtenschaft, bereiten m i t den Vorsitzenden zusammen die Sitzungen vor und führen das Protokoll. Außerdem halten sie — vielfach nicht zur Freude ihrer Vorsitzenden — Kontakt mit der Presse. A u f diese Weise w i r d mancher Interessentenvorstoß i m Ausschuß frühzeitig decouvriert und abgewehrt. Die Befürchtungen von Dechamps, daß diese Assistenten versucht sein könnten, auf eigene Faust Politik zu treiben, haben sich nicht bestätigt 42 . I n der Praxis hat sich das 39

Siehe hierzu: Rupert Breitling: Die Verbände i n der Bundesrepublik, Meisenheim 1955, S. 128 ff. (Verbandsfärbung von Bundestagsausschüssen), ferner F. Sand, a.a.O., S. 19 u n d G. Braunthal, a.a.O., S. 169 ff. 40 F. Hellwig i n : Der Staat u n d die Verbände, a.a.O., S. 34. 41 Bruno Dechamps: Macht u n d A r b e i t der Ausschüsse, Meisenheim 1954. 42 Ders., S. 160.

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System der Assistenten vielmehr recht gut eingespielt; sie sind weder zu „politischen Eunuchen" degeneriert, noch haben sie sich zu lauter kleinen „grauen Eminenzen" entwickelt 4 3 . Der Bundestag hätte nach dem Urteil nicht nur eines Insiders wie Schramm 44, sondern auch nach dem Urteil neutraler Beobachter eigentlich einen Ausbau dieses Assistentenapparates notwendig. Für einen solchen „Gesetzgebungshilfsdienst" haben sich i n der Vergangenheit zahlreiche Abgeordnete ausgesprochen. Soweit erkennbar, sind entsprechende Vorstöße jedoch stets an der Ablehnung des Bundestagspräsidenten Gerstenmaier gescheitert. Als eine Maßnahme der Selbstdisziplinierung des Parlaments war schließlich auch gedacht, was eine Reihe von Abgeordneten aller Fraktionen, die der „Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft" angehören, i n einem Antrag auf Änderung und Ergänzung der Geschäftsordnung des Bundestages formuliert haben: Danach sollten erstens Ausschußmitglieder, die an einem Beratungsgegenstand persönlich oder beruflich interessiert sind, vor Beginn der Sitzung eine entsprechende Erklärung zu Protokoll geben; es sei denn, daß sich ihre Verbindung zum Beratungsgegenstand aus dem amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages ergibt 4 5 . Zweitens sollten bei der Anhörung von Interessenverbänden die Sitzungen i n der Regel öffentlich sein und die geladenen Sachverständigen und Betroffenen gemeinsam gehört werden. Schließlich legt der Antrag den Interessenvertretern i n Bonn nahe, sich freiw i l l i g i n eine von der Verwaltung des Deutschen Bundestages zu führende öffentliche Liste einzutragen. Unter den Abgeordneten hat der Antrag seinerzeit sofort heftige Debatten ausgelöst. Obwohl es für A b geordnete eigentlich selbstverständlich sein sollte — und i n vielen Fällen auch ist —, daß sie i n den Bundestagshandbüchern führende Positionen i n Interessenverbänden angeben, bezeichnete beispielsweise die verstorbene CSU-Abgeordnete Maria Probst den i m Antrag enthaltenen Zwang zur Offenlegung als „bolschewistische Selbstbezichtigungsmethode" 4 6 . Der Initiativantrag liegt seit drei Jahren i m Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages; seine Initiatoren haben die Hoffnung nicht aufgegeben, daß die darin enthaltenen Anregungen wenigstens noch teilweise verwirklicht werden. Wie man sieht, macht der demokratische Entwicklungsprozeß auf diesem hochneuralgischen Gebiet nur sehr allmähliche Fortschritte. 43

Ebenda. F. K . Schramm: Die parlamentsinterne Gesetzgebungshilfe unter besonderer Berücksichtigung der entsprechenden Einrichtungen des Deutschen Bundestages, Kölner Dissertation, 1965. — Schramm ist der Leiter des Assistenzdienstes beim Bundestag. 45 A n t r a g der Abg. Dr. Schmidt (Wuppertal), Bading, Mertes u n d Genossen, Drucksache V/125 (5. Wahlperiode). 48 Capital (Zeitschrift), 1966, Heft 9, S. 56. 44

32*

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F r i t z - U l l r i c h Fack 4. Umdenken der Verbände

M i t dem Parlament umzugehen, w i l l auch für die Verbände gelernt sein. I n dieser Beziehung haben sie i n der Vergangenheit ihr Pensum absolviert. Die rauhen Methoden der Einflußnahme i n den Gründerjahren sind inzwischen wesentlich zivilisierteren Formen gewichen. Zumindest für die industriellen pressure groups erscheinen direkte Pressionen angesichts des gewachsenen Selbstbewußtseins des Parlaments heutzutage nicht mehr opportun. Man operiert darum lieber m i t nahestehenden Abgeordneten i n den Ausschüssen oder — das gilt für die Masse der kleineren Verbände — mit Eingaben an das Parlament, für die man neue Formen gefunden hat: kurz, stichhaltig und nicht allein aufs Partikularinteresse gerichtet, weil dies die Chancen verdirbt. Daß man die Regeln eines demokratischen fair play jetzt besser beherzigt, wurde oben i m Zusammenhang m i t den Ausschußberatungen über die Kartellnovelle bereits erwähnt. A u f der anderen Seite hat es sich eingebürgert, daß die Ministerien auch bei politisch umstrittenen Gesetzentwürfen vom § 23 ihrer Gemeinsamen Geschäftsordnung Gebrauch machen und die Spitzenverbände zum Gegenstand des Gesetzes anhören. Obwohl es sich beim § 23 nur um eine Kann-Bestimmung handelt und obwohl bei Gesetzentwürfen „von besonderer politischer Bedeutung" für die Anhörung eine vorhergehende Grundsatzentscheidung des Kabinetts vorgeschrieben ist, haben sich doch feste Konsultationsregeln herausgebildet. Das gleiche gilt für die Bundestagsausschüsse, die i n der letzten Zeit — so zum Beispiel bei der Mehrwertsteuer — sogar dazu übergegangen sind, die Verbände i n öffentlicher Sitzung zu hören. Die wirtschaftlichen Großverbände unterliegen (im Gegensatz zu den sozialen Interessengruppierungen) meistens einem starken Zwang zum inneren Interessenausgleich. I m Verein mit der Tatsache, daß die Periode der großen grundlegenden Gesetzgebungswerke abgeschlossen ist und die anstehenden Entscheidungen jetzt immer diffiziler und spezieller werden, w i r k t sich das ohne Zweifel dämpfend auf die Stoßkraft solcher Interessenverbände aus. Viele Ausschußauftritte von Verbandsvertretern sind Scheingefechte, viele Eingaben an das Parlament dienen funktionell mehr als A l i b i gegenüber den Mitgliedern denn als ernsthafter Versuch eines Lobbying. A n die Spitze der Hierarchien großer Verbände rücken i n zunehmendem Maße „Verbandsdiplomaten", die die rustikalen Methoden ihrer Vorgänger durch urbanere Umgangsformen ersetzen. Typisch dafür sind die i n den letzten Jahren vorgenommenen Umbesetzungen i n den Geschäftsführungen beispielsweise des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau, aber auch des Gewerkschaftsbundes. Man hat realisiert, daß es nicht allein genügt, Verbandspolitik zu machen, son-

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dern daß diese Politik auch gegenüber Parlament und Öffentlichkeit „verkauft" werden muß. „Public relations" ist heute auch für die Führungen der großen Spitzenverbände ein vertrauter Begriff. Dazu gehört aber, daß man sich auf angenehme Weise i n das Gedächtnis der Leute eingräbt. Die Methoden der Gründer jähre, wie sie auch von den industriellen pressure groups angewendet wurden, sind dafür wenig geeignet. Zwei Phänomene sind i n diesem Zusammenhang noch erwähnenswert, w e i l sie eine Umorientierung i m industriellen Lobbyismus signalisieren. Das erste ist die Rückbesinnung vieler Verbände auf ihre verbandsinternen Aufgaben — sicher auch eine Folge rückläufiger Beitragseinnahmen i m Zeichen der wirtschaftlichen Flaute. Die Interessenvertretung nach außen w i r d ergänzt durch interne Dienstleistungen, zum Beispiel durch das Angebot der Betreuung von Belegschaften durch Vertragsärzte, Schulungen i m Betrieb, Seminare und Erfahrungsaustausch für die Personalchefs. Selbst Rechenzentren für die Mitglieder sind von Verbänden schon eingerichtet worden. A n diesen Vorgängen dokumentiert sich nicht nur das abnehmende Interesse der Mitglieder an ihren Verbänden, sondern auch das real abnehmende Gewicht der Interessenvertretung als Verbandsaufgabe. Der zweite Punkt betrifft den Rückzug namhafter Lobbyisten aus Bonn. Schon vor Beginn der Wirtschaftsflaute haben große Unternehmen ihre früher mitunter aufwendigen Stäbe i n den Bonner Verbindungsbüros entweder reduziert oder teilweise ganz aufgelöst 47 ; das hat sich noch verstärkt. A n dieser Stelle wäre nachzuholen, daß der Einfluß von Großunternehmen auf Wirtschaftspolitik und Gesetzgebung i n Bonn, gemessen etwa an der Rolle der Industrieverbände, minimal ist. Insofern kann kaum die Rede davon sein, daß, wie Sand 4 8 meint, „eine erfolgreiche Tätigkeit der Lobbyisten, die nur die Interessen einer einzelnen Großfirma vertreten, sich auf das Gemeinwohl schädigender auswirken kann als die Arbeit von Verbandsfunktionären". Die Wünsche und Vorstellungen einzelner Großfirmen finden i m Bundestag und seinen Ausschüssen kaum eine nachhaltige Beachtung. Es gibt allerdings einige Fälle, i n denen sich der Vertreter eines Großunternehmens i m Umgang m i t Parlament und Bürokratie ein so großes persönliches Ansehen verschafft hat, daß er i n wichtigen Fragen seines Geschäftsbereichs gleichsam als Vertreter der Branche gehört w i r d und auftreten kann. Aber das sind Ausnahmen. Wie viele Bonner Verbandsbüros, so sind auch die Verbindungsbüros großer Unternehmen hauptsächlich damit beschäftigt, die Beziehungen 47 Vgl. G. Braunthal: a.a.O., S. 176; dem Verf. sind eine Reihe solcher B ü r o auflösungen namentlich bekannt. 48 F. Sand: a.a.O., S. 28.

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zum Parlament und zur Ministerialbürokratie zu pflegen (i. S. von public relations), Verbindungen für gelegentliche Gespräche ihrer Vorstandsmitglieder i n Bonn herzustellen, Unterlagen über interessierende Gesetze oder Ausführungsverordnungen zu sammeln und die Unternehmensleitungen über den Gang der Gesetzgebung auf dem laufenden zu halten. Das eigentliche Lobbying, das heißt die Einflußnahme auf die Gesetzgebung oder auf wichtige Verwaltungsentscheidungen, spielt demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Sie w i r d i n erster Linie als Aufgabe der industriellen Interessenverbände betrachtet. Aus diesem Grunde haben die Vertreter großer Unternehmen i n Bonn m i t der Presse kennzeichnenderweise auch kaum Fühlung, während dies für die eigentlichen pressure groups eine ganz wesentliche Seite ihrer Bonner Arbeit ist. Übrigens hat sich diese Kontaktnahme zwischen Presse und Verbänden i n den letzten Jahren intensiviert. Es gehört zu jenem Prozeß des Umdenkens, daß die Verbände i n wachsendem Maße versuchen, die Öffentlichkeit für ihre Forderungen zu gewinnen, statt sich m i t der schlichten Ausübung von Druck auf Parlament und Regierung zu begnügen. I V . Ergebnisse und Folgerungen M i t einem notwendigerweise summarischen Beitrag zu einem so weit gespannten Thema läuft man immer Gefahr, vom flüchtigen Leser mißverstanden zu werden. Fatal wäre es, wenn die vorstehenden Ausführungen den Eindruck vermittelt hätten, der Lobbyismus i n Bonn bilde heute kein Problem mehr oder sei gar am Aussterben. Davon kann keine Rede sein. Was hier gezeigt werden sollte, ist, daß es gewisse Entwicklungsstadien des Lobbyismus gibt, daß Formen und Methoden einem Wandel unterliegen, daß die Intensität des Interessenteneinflusses i n Abhängigkeit von einer Reihe äußerer Faktoren schwankt und daß es schließlich trotz mancherlei Rückschläge jedenfalls beim industriellen Lobbyismus einen Fortschritt i n Richtung auf einen höheren „demokratischen Standard" gibt. M i t diesem Zuwachs an „politischer K u l t u r " (Eckstein 49) — oder wie immer man diesen Prozeß der Entfaltung demokratischer Institutionentreue und politischer Moralität bezeichnen w i l l — muß zwangsläufig eine Zurückdrängung und Kanalisierung des Interessenteneinflusses einhergehen. Für den Einfluß industrieller pressure groups ist dieser Rückgang m. E. feststellbar; verglichen m i t früheren Perioden hat sich die Intensität mindestens graduell vermindert. Natürlich ist die Stärke eines solchen Einflusses nur schwer meßbar. I n diesem Beitrag ist stillschweigend davon ausgegangen worden, daß man sie am besten am Durchsetzungsvermögen für bestimmte, von den je49

Siehe A n m . 27 u n d 28.

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weils i n Betracht kommenden Verbänden als wichtig bezeichnete Forderungen mißt. A m Beispiel des Kartellgesetzes und der Kartellnovelle ließ sich ablesen, daß der industrielle Spitzenverband (BDI) 1957 eine wesentlich größere Chance hatte als 1964, seine Wünsche i m Gesetzgebungsverfahren durchzusetzen 50 . Ähnliches läßt sich — ohne daß dies hier noch näher ausgeführt werden kann — vom Aktiengesetz, von der Novelle zum Mitbestimmungsgesetz (1967), vom Mehrwertsteuergesetz und vom finanziellen Sanierungsprogramm des Bundes i m Jahre 1967 sagen. Bei allen diesen Gesetzen ist das Parlament i n einer Reihe von wichtigen Punkten über die Wünsche der industriellen Interessenvertreter hinweggegangen. Parlament und Regierung t u n sich demgegenüber wesentlich schwerer, wenn es um die Wünsche mitgliederstarker Sozialverbände geht. Die Ursachen für diese erfreuliche Entwicklung sind vielschichtig. Obenan zu stellen wäre der sichtbare Wandel i m Regierungsstil i n den letzten Jahren, verbunden m i t der wachsenden Autorität von Regierung und Parlament. Es ist eine simple Erkenntnis, daß der Einfluß von I n teressenten stets nur soweit reichen kann, wie i h m von der anderen Seite Z u t r i t t gewährt wird. W i r haben eine intakte Ministerialbürokratie, die gegenüber Interessentenforderungen i m großen und ganzen eine kritische Distanz wahrt. Die Notwendigkeit, sich bei jeder Maßnahme zunächst innerhalb des Ressorts und später zwischen den Ministerien abzustimmen, t u t ein übriges. Hier sitzt ein zumeist kaum beachteter, aber wesentlicher Filter für alle allzu sehr von Interessenstandpunkten angekränkelten Initiativen. I m übrigen hat sich ganz generell das System von checks and balances i n der Bundesrepublik bewährt. Hierher gehören nicht nur die institutionellen Vorkehrungen der Verfassung, wie zum Beispiel der Bundesrat oder das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die i n der Verfassungswirklichkeit entstandenen zusätzlichen Sicherungen und Bremsen. Die Macht der Parlamentsausschüsse — i m allgemeinen sicher nicht zu unterschätzen — w i r d beispielsweise durch die Einrichtung von Arbeitskreisen i n den Fraktionen eingeschränkt. I n diesen Arbeitskreisen sind die Experten nicht mehr ganz so einsam und unter sich wie i n den Ausschüssen. Zugleich aber fallen hier die für die Ausschußarbeit wichtigen Vorentscheidungen. Nicht selten auch werden Beratungsgegenstände, über die man sich i m Ausschuß nicht einig werden konnte, an die Fraktionen und damit wieder an diese Arbeitskreise zurückverwiesen. 50 Der B D I hat eine Novelle zum Kartellgesetz trotz gewisser eigener Änderungswünsche übrigens von Anfang an kategorisch abgelehnt, w e i l er Verschärfungen befürchtete (vgl. „ I n d u s t r i e k u r i e r " v o m 23. 12. 1961: „ B D I — Zeit f ü r Kartellnovelle noch nicht reif").

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Bremsend auf den Interessenteneinfluß w i r k t auch die Tendenz zum Zweiparteiensystem i n der Bundesrepublik. Die beiden großen Parteien müssen jede für sich eine Vielzahl von wirtschaftlichen und sozialen Interessen integrieren; sie sind auf einen internen politischen Ausgleich angewiesen. Zu den begünstigenden Faktoren des institutionellen Rahmens gehört außerdem noch das System der Marktwirtschaft m i t seiner machtverteilenden Funktion. Wo wirtschaftliche Machtpositionen vorhanden sind, greifen die Träger dieser Macht nur allzu gern i n das politische Ordnungsgefüge ein 5 1 . Das systemgerechte Funktionieren der demokratischen Ornung hängt insofern entscheidend davon ab, ob es gelingt, eine von Machtpositionen freie konkurrenzwirtschaftliche Ordnung zu errichten. M i t dem bewußten Körnchen Salz darf die Bundesrepublik das für sich i n Anspruch nehmen. Eine Reihe anderer, den Interessenteneinfluß tendenziell abschwächende Umstände sei nur noch am Rande erwähnt: Da ist zunächst das System der Parteienfinanzierung mit einem angemessenen Staatsanteil, das den Parteiapparaten heute wenigstens eine Grundsicherung gibt. Ferner spielt das „Umdenken der Verbände" eine wichtige Rolle. Dieser Prozeß war zum Teil unausweichlich, nämlich soweit er dadurch i n Gang gekommen ist, daß Parlament und Regierung die alten, gewaltsamen Methoden der Einflußnahme nicht mehr tolerierten. Zum anderen aber war es auch ein Prozeß der inneren Demokratisierung der Verbände, einer Erhöhung ihres eigenen demokratischen Standards. Dies w i r d sicher mancher für einen ausgesprochenen Euphemismus halten, aber der Verfasser glaubt, aus mancherlei Beobachtungen den Schluß ziehen zu können, daß es i n den Spitzenverbänden der W i r t schaft — nicht nur der Industrie — eine solche Entwicklung tatsächlich gibt. Es sind Ansätze für Denk- und Beurteilungsweisen sichtbar geworden, bei denen das Partikularinteresse aus einer richtigen Einsicht i n den wirtschaftlichen und sozialen Systemzusammenhang mitunter hinter dem Gesamtinteresse zurücktritt. Auch dies gehört zum Thema der „politischen K u l t u r " eines Landes. I m übrigen sollte man nicht übersehen, daß die wirtschaftlichen Spitzenverbände es sozusagen institutionell gewohnt sind, auf einen internen Interessenausgleich hinzuarbeiten. Für sie bedeutet es deshalb keine Umwälzung, für divergierende Partikularinteressen den gemeinsamen Nenner zu suchen 52 . Folgerungen aus den geschilderten Entwicklungstendenzen i m industriellen Lobbyismus zu ziehen, ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit. Es 51 Vgl. hierzu die Diss. des Verf. „Die deutschen Stahlkartelle i n der W e l t wirtschaftskrise", B e r l i n 1957, S. 171 ff. 52 Siehe dazu auch: R. Breitling, a.a.O., S. 137, F. Sand, a.a.O., S. 60; speziell für den B D I u n d seine inneren Auseinandersetzungen vgl. G. Braunthal, a.a.O., S. 343 f.

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kann deshalb nur die Richtung skizziert werden, i n der sie sich bewegen müßten. Den Interessenteneinfluß auf die Gesetzgebung völlig ausschalten zu wollen, wäre nach allgemeiner Überzeugung eine Utopie. Mehr noch: Es wäre auch gar nicht wünschenswert, denn die Verbände repräsentieren ein wertvolles Reservoir an Sachverstand und Detailkenntnis, das genutzt werden muß. Es kommt i m Grunde nur darauf an, diesen Einfluß zu kanalisieren, bestimmten Regeln zu unterwerfen und genügend transparent zu machen. I n diesem Sinne ist unbedingt die Initiative zu begrüßen, die von den zur Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft gehörenden Abgeordneten i m Bundestag unternommen worden ist 5 3 . Die entscheidenden Punkte sind hier die Decouvrierungspflicht für die Inside-Lobbyisten des Parlaments bei den Ausschußberatungen sowie der Vorschlag, Sachverständige und Interessenvertreter i n den Ausschüssen öffentlich und gemeinsam zu hören, und zwar als Regel und nicht (wie bisher) als Ausnahme. Die Öffentlichkeit solcher Anhörungen m i t ihrer Publizitätschance (oder -drohung) hat nach aller Erfahrung einen ungemein erzieherischen und disziplinierenden Effekt. Das Verfahren ist nicht anwendbar auf die nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Ministerien mögliche Anhörung von Betroffenen bei den Gesetzesvorbereitungen der Bürokratie. Nach der Struktur des ministeriellen Apparats und wegen des internen Systems von Abklärungen, Gegenvorschlägen und Revisionen auf den verschiedenen „Etagen" der Bürokratie ist dies wohl auch kaum erforderlich. Bis ein Gesetzentwurf kabinettsreif ist, hat er schon viele Stadien eines Klärungsund Reinigungsprozesses durchlaufen. Hier ist i m Grunde wenig zu verbessern. Letzten Endes, und das ist wohl das entscheidende Moment, w i r d es überall auf das Maß an Autorität ankommen, das die am Gesetzgebungsprozeß beteiligten Institutionen und Personen für sich zu erringen und zu wahren vermögen. Eine intakte Staatsautorität ist der beste Garant gegen Ausuferungen von Interessenteneinflüssen, gleich welcher Herkunft. Die Autorität i m Volke wiederum w i r d entscheidend vom Regierungsstil, von den Mehrheitsverhältnissen, der Führungskraft und vom demokratischen Standard der Institutionen bestimmt. Daran gilt es zu arbeiten. Wichtig sind darüber hinaus Publizität und Öffentlichkeitsmaxime für den gesamten Gang der Gesetzgebung. Sie dienen der Aufhellung von vermeintlich diffusen Zusammenhängen und schaffen dadurch die notwendige Vertrauensbasis i m Volke. Denn für alles, was auf dem Gebiete der Interessenvertretung geschieht, gilt bei aller Legitimität und Kanalisierung der Imperativ von Finer 54: Licht, mehr Licht! 53 54

Siehe oben S. 499 (Anm. 45). S. E. Finer, a.a.O., S. 152.

Die Rolle der Massenkommunikationsmittel beim Zustandekommen politischer Entscheidungen* Von Fritz Eberhard Sie werden verstehen, daß ich — nach vielfältiger Arbeit i n Massenkommunikationsmitteln, Parlamenten und Regierungsstellen — nicht nur auf Grund wissenschaftlicher Überlegungen und der umfangreichen Literatur über mein Thema spreche, sondern auch aus persönlicher Erfahrung. Ich werde mich weder scheuen, das Selbstverständliche zu sagen und sogar wiederholt zu sagen, noch das angeblich Unabänderliche i n Frage zu stellen. Dabei werde ich wohl weniger Lösungen anbieten als Probleme auf werfen. Vielleicht h i l f t jemand von Ihnen, sie zu lösen, unter Umständen auch dadurch, daß er wissenschaftlichen Instituten hilft, sie zu bearbeiten. Einleitung: Begriffserklärung Wenn w i r nun die Rolle der Massenkommunikationsmittel beim Zustandekommen politischer Entscheidungen bedenken, wollen w i r die hier gebrauchten Begriffe weit fassen. Das gilt für den Begriff der „Massenkommunikationsmittel", aber auch den der „Rolle". Man sollte eigentlich von Rollen i n der Mehrzahl sprechen. Es geht vor allem u m Information, Hilfe zur Meinungsbildung bei Einzelnen und damit zur Bildung von öffentlichen Meinungen, u m Kontrolle und K r i t i k . Ich halte die Rolle der Massenkommunikationsmittel für bedeutsam, aber gleich vorweg: Ich halte weder alle, noch eine einzelne Gruppe von Massenkommunikationsmitteln für eine vierte Gewalt, die zu den drei Gewalten Montesquieus neuerdings dazugetreten ist. Doch stimme ich Wildenmann und Kaltefleiter zu, wenn sie sagen: „Die Massenmedien sind nicht zu trennen von einer Betrachtung der Regierungssysteme; * Dies ist die überarbeitete u n d durch einen Anmerkungsapparat v e r v o l l ständigte Fassung einer Vorlesung, die ich am 28. 4. 1967 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft f ü r Publizistik u n d Zeitungswissenschaft i n K ö l n gehalten habe. Da politische Entscheidungen i n unserer Zeit zu einem erheblichen T e i l wirtschaftspolitische oder doch auch wirtschaftspolitische Entscheidungen sind, erlaube ich m i r , dem verehrten Kollegen f ü r „politische Wirtschaftslehre" diesen Beitrag ohne Änderung seines V o r lesungscharakters, w e i l er Verbindungen zwischen den von uns vertretenen Disziplinen zeigt, zu seinem Geburtstag vorzulegen.

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sie stehen nicht außerhalb, sondern sind ein Teil der lebenden Verfassung 1 ." Auch den Begriff der „politischen Entscheidung" wollen w i r weit fassen. W i r beziehen ein: Entscheidungen der Wähler bei Wahlen, aber auch bereits Entscheidungen für die Aufstellung von Kandidaten zur Wahl, politische Entscheidungen der Abgeordneten, der Regierungen, aber auch der Beamten und Funktionäre i m weitesten Sinn. Uns muß sowohl das Zustandekommen politischer Entscheidungen i n formellen Gruppen wie etwa i n kleinen gewählten Fraktionsvorständen, als auch i n losen Gebilden interessieren, etwa i n Zirkeln leitender Regierungsbeamter. U m nicht zu ausführlich zu werden, werde ich hauptsächlich Presse und Fernsehen und ihre Rolle bei dem Zustandekommen von Entscheidungen auf Bundesebene behandeln. A . Historische Entwicklung A u f die historische Entwicklung kann ich nicht i m einzelnen eingehen. Es gilt aber, die Tatsache festzustellen, daß auf beiden Seiten Entwicklungen stattgefunden haben und noch stattfinden. 1. Zustandekommen p o l i t i s i e r Entscheidungen

Politische Entscheidungen kamen i n der Weimarer Republik natürlich anders zustande als vorher i m Kaiserreich. Die Entwicklung ist mit der Verabschiedung des Grundgesetzes i n eine andere Phase eingetreten, aber der Strukturwandel der Demokratie ist auch damit nicht abgeschlossen. Das Zustandekommen der politischen Entscheidungen muß sich schon deshalb verändern, weil innerhalb der immer komplizierter werdenden und immer schwerer durchschaubaren Gesellschaft immer mehr Nebenwirkungen und Wechselwirkungen beachtet werden müssen, die Entscheidungen also schwieriger sind, denn je zuvor. Dabei w i r d versucht, Wählerentscheidungen immer mehr auf Grund von vereinfachten Programmen oder von Personifizierungen zustande zu bringen, während Regierungsentscheidungen immer mehr auf Grund von Expertenberichten getroffen werden. Bei den Bundesministerien i n Bonn gibt es 66 wissenschaftliche Beiräte, denen 1038 Experten angehören 2 . Die Schlagworte „Telekratie" und „Expertokratie" beschreiben zwar nicht unsere Wirklichkeit. Daß sie Entwicklungstendenzen aufzeigen, kann man aber kaum leugnen. 1 Rudolf Wildenmann u n d Werner Kaltefleiter: Funktionen der Massenmedien = Schriften des Forschungsinstituts für Politische Wissenschaft der Universität K ö l n , Heft 12. F r a n k f u r t a. M., Bonn. S. 57. 2 Die Zeit, 3. 3. 1967, S. 3.

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2. Massenkommunikationsmittel

Eine Entwicklung vollzog und vollzieht sich auch auf Seiten der Massenkommunikationsmittel. Nicht nur, daß einfach neue, elektronische Massenkommunikationsmittel dazugekommen sind. Gerade deshalb verändern sich die gedruckten Massenkommunikationsmittel. Z u den Wechselwirkungen gehört auch: Durch politische Entscheidungen können Änderungen i n Struktur und Funktion der Massenkommunikationsmittel hervorgerufen werden. Die Massenkommunikationsmittel selber wirken nicht nur als „Medium" verschiedener politischer Kräfte, sondern teilweise auch als „Faktor" 3 , als eigene politische Kraft, auf politische Entscheidungen ein, auch auf die, die die Massenkommunikationsmittel selber betreffen. Denken w i r nur an den heutigen Streit Presse/Fernsehen! Wenn sich zwei soziale Erscheinungen verändern, so ist zu vermuten, daß dabei Anpassungen verlorengehen, daß Argumentationen wie historische Relikte weitergeschleppt werden, die eine neue Anpassung verhindern. I m englischen Parlament zum Beispiel waren Presseberichterstatter zunächst überhaupt nicht zugelassen. Das Parlament war sozusagen ein geschlossener Club. Nach wechselvollen Kämpfen bewilligte der Sprecher des Unterhauses den Journalisten erst 1803 endgültig einen festen Platz auf der Galerie 4 . Seit einigen Jahrzehnten sitzen dort auch Berichterstatter vom Rundfunk und jetzt auch vom Fernsehen. Aber deren Aufnahmeapparaturen dürfen noch immer nicht ins Parlament. Immerhin steht heute auch i n England die Zulassung des Fernsehens auf der Tagesordnung. 1966 wurde die versuchsweise Zulassung m i t nur einer Stimme Mehrheit abgelehnt 5 . Besonders i n England wurde die Tradition gepflegt, daß die Regierung wichtige Entscheidungen oder Konferenzergebnisse zuerst i m Parlament bekanntgibt. Wenn nun aber Fernsehkameras bei der Rückkehr von Regierungsmitgliedern von auswärtigen Konferenzen auf dem Flugplatz stehen, kann ein Minister ja nicht gut erklären: „Sehr freundlich, daß Sie zu meiner Begrüßung erschienen sind; mehr kann ich erst i m Parlament sagen." Also geben englische Minister heute, zumal i m Parlament Kameras nicht zugelassen sind, recht viele Einzelheiten auf einem Flugplatz bekannt, bevor sie i m Parlament darüber sprechen. Diese Anpassung überspielte die Tradition. 3 4 5

BVerfGE, Bd. 12, S. 265 (Fernseh-Urteil). Otto Groth: Die Zeitung, Bd. I. Mannheim, Berlin, Leipzig 1928, S. 785. fernseh-informationen, 33/1966, S. 616.

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N u n ein Beispiel für ein historisches Relikt, das Anpassungen mindestens viele Jahre verhindert hat. Viele Abgeordnete wünschen keine Fernsehkameras i m Parlament mit der Begründung: Dann würden die Abgeordneten Reden zum Fenster hinaus halten, statt miteinander zu diskutieren. Bei dieser Argumentation w i r d völlig übersehen, daß fast alle Reden i m Plenum, i n England wie i n der Bundesrepublik, heute keine Reden mehr sind, u m Abgeordnete umzustimmen, sei es durch Argumente, sei es durch den Appell an Gefühle. Die Diskussion hat i n Fraktionen und Ausschüssen stattgefunden. I m Parlament werden sozusagen Reden an die künftigen Wähler gehalten, u m ihre Stimmen bei der nächsten Wahl zu gewinnen. — Ich glaube, hier zeigt sich als A u f gabe der Wissenschaft, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und auf notwendige Anpassungsvorgänge hinzuweisen. Lassen Sie mich als erstes Ergebnis unserer Überlegungen festhalten: Die Rolle der Massenkommunikationsmittel beim Zustandekommen politischer Entscheidungen muß sich verändern, wenn der Prozeß des Zustandekommens der Entscheidungen sich verändert. Vermutlich sind Anpassungsprozesse auf beiden Seiten notwendig. Unentbehrliche Prozesse zur Vorbereitung von Entscheidungen weichen i n andere Formen aus, wenn eine Form versagt. Wenn das Parlament selber keine Beratungskörperschaft mehr ist, verlagern sich die Beratungen auf Ausschüsse und Fraktionen. Da diese nicht öffentlich tagen, verlagert sich die öffentliche Diskussion i n andere Foren, etwa ins Fernsehen. Wenn öffentliche Angelegenheiten geheim behandelt werden, steigt das Bemühen vieler Massenkommunikationsmittel, z. B. der Illustrierten, u m sensationelle Enthüllungen. Wenn eine Opposition fehlt oder untätig ist, übernehmen Zeitschriften oder Magazin-Sendungen i m Fernsehen ihre Rolle. Wenn keine Hauptstadt m i t hauptstädtischer Presse vorhanden ist, können vier politische Wochenzeitungen, die übrigens alle nicht i n Bonn erscheinen, eine viel größere Rolle spielen, als sonst möglich wäre. Schließlich finden die i n der Hauptstadt nicht möglichen Begegnungen i n den Wohnungen der Wähler am Fernsehschirm statt, wobei die Diskussionsteilnehmer selber an verschiedenen Orten i n verschiedenen Studios sitzen mögen. Aus dieser kurzen Betrachtung über die historische Entwicklung wollen w i r festhalten: I n vielfältiger Weise können die Massenkommunikationsmittel Ersatzfunktionen leisten. „Illustrierten-Demokratie", „Fernseh-Demokratie", „Interview-Kriege i n Sonntagszeitungen", — diese oft abfällig gemeinten Formulierungen weisen auf tatsächliche Entwicklungen hin, die dem öffentlichen Urteil über die Parlamente auf die Dauer nicht gut bekommen werden.

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B. Politische Gegenwart Als festen Bezugspunkt für meine Überlegungen über die Rolle der Massenkommunikationsmittel nehme ich die Bundesrepublik heute. 1. Pluralistische Gesellschaft

Die Bundesrepublik ist das staatliche Gehäuse einer sich pluralistisch verstehenden Gesellschaft. Dabei gibt es anders als i n der Weimarer Republik einen breiten Consensus i n Bezug auf einige grundlegende Entscheidungen. W i r haben keinen Flaggenstreit. Monarchisten spielen keine Rolle. Über die Notwendigkeit der Erhaltung der Freiheit des Einzelnen gibt es verschiedene Meinungen, aber nicht i m Grundsätzlichen. Freilich, das Ruhe- und Ordnungs-Denken autoritärer Prägung ist bei uns noch weit verbreitet 6 . W i r sind, wie es Günter Gaus einmal ausgedrückt hat, „ein konfliktscheues Volk". Er hofft wohl mit Recht, daß seine Sendungen dazu beitragen, es „an die Tatsache zu gewöhnen, daß es verschiedene Meinungen gibt und daß man deshalb nicht gleich nach der Keule greifen muß" 7 . Eine pluralistische Gesellschaft kann sich evolutionär nur entwikkeln, wenn allgemein anerkannt w i r d : 1. eine gemeinsame Basis: die breite Anerkennung von Grundsätzen und von Verfahrensweisen, z. B. der Entscheidung durch Mehrheit; 2. das Bestehen von Konflikten i n vielen Bereichen und die Notwendigkeit des Zustandekommens von Kompromissen; 3. Partner i n Bezug auf die Grundsätze können als Gegner i m einzelnen zu fairen Kompromissen kommen. Ernst Fraenkel hat recht: „Solange i n der deutschen Umgangssprache bei der Verwendung des Substantivs ,Kompromiß' sich automatisch die Assoziation m i t dem A d j e k t i v ,faur einstellt, ist etwas faul i m Staate Bundesrepublik 8 ." Bereits an dieser Stelle unserer Überlegungen zeichnet sich als A u f gabe der Massenkommunikationsmittel ab: der Bevölkerung die Realität der differenzierten, nicht homogenen, daher mit Konflikten geladenen Gesellschaft bewußt zu machen, dem Kompromiß das Anrüchige zu nehmen. 6 Vgl. Ernst Fraenkel: Möglichkeiten u n d Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger i n einer modernen parlamentarischen Demokratie. I n : Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 6. 4. 1966, S. 5. 7 A k t u e l l reagieren. I n : Stuttgarter Zeitung, 30. 9. 1966, S. 39. — Vgl. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland. München 1965, S. 159 ff. 8 Ursprung u n d politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit. I n : Der Politologe, Januar 1967, S. 20 f.

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U m gleich ganz konkret zu werden: es wäre also falsch, aus dem Bundestag, wie manche möchten, Fernsehübertragungen nur von gemeinsamen oder aufeinander abgestimmten Erklärungen der Parteien zuzulassen und so das Image einer homogenen „Volksgemeinschaft" zu bilden, statt Konflikte aufzuzeigen und den Kampf u m einen fairen Kompromiß. 2. Ungleichheit

Auch zu einer kurzen Bestandsaufnahme gehört die Feststellung, zumal sie die Massenkommunikationsmittel mitbetrifft, soweit sie privatwirtschaftlich organisiert sind: Die wirtschaftliche Macht ist ungleich verteilt. Trotzdem w i r d die politische Gleichheit aller postuliert! Was hier an Problemen liegt, kann ich heute nicht erörtern und komme zum dritten Punkt meiner Bestandsaufnahme, um ein Bezugssystem für die Darstellung der Rolle der Massenkommunikationsmittel zu gewinnen. 3. Repräsentative Demokratie im Bereich des Grundgesetzes

I m Bereich des Grundgesetzes haben w i r eine repräsentative Demokratie. Die Regierung ist stabilisiert durch Bestimmungen wie die über das konstruktive Mißtrauensvotum, bei Einfügung sehr weniger plebiszitärer Elemente, abgesehen von den Wahlen der Repräsentanten. Die Absicht war: emotionale politische Entscheidungen zurückzudrängen zu Gunsten rationaler Entscheidungen durch, wie angenommen wird, überdurchschnittlich informierte Abgeordnete. Unser Bundestagspräsident wünscht — und darin stimme ich i h m zu —, daß die Abgeordneten nicht i n dem Bewußtsein handeln, einfach das zu vollziehen, was die Mehrheit der Stimm-Bürger jeweils von ihnen verlangt. Er meinte, man müsse „den parlamentarischen Mandatsträger i n seiner kritischen Distanz gegenüber der öffentlichen Meinung befestigen und bestätigen" 9 . I m Rahmen unserer Bestandsaufnahme muß noch festgestellt werden: Der Zustand w i r d von der Formel Montesquieus über die Gewaltenteilung i n legislative, exekutive und Recht sprechende Gewalt nicht mehr vollständig beschrieben. W i r hatten nicht nur i n der Vergangenheit, sondern erleben auch gerade i n der Gegenwart Neu- und Umverteilungen von Funktionen. So hat das Bundesverfassungsgericht — obwohl es Verfassungsrichter gibt, die das bestreiten — mehr politische Entscheidungsgewalt an sich genommen, als ursprünglich erwartet worden war. Regierungsfraktionen und die von ihnen gewählten Regierungen sind eng miteinander verschränkt. Gesetze werden weni9 Eugen Gerstenmaier: öffentliche Meinung u n d parlamentarische E n t scheidung. I n : Die moderne Demokratie u n d i h r Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz. Tübingen 1966, S. 125.

M a s s e n k m m u n i k a t i o n s m i t t e l bei politischen Entscheidungen

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ger i n den Parlamenten ausgearbeitet als von den Experten der Regierungsbürokratie. Überhaupt gibt es neben der eigentlichen Regierung eine Regierungsbürokratie einschließlich der Generale, die vielleicht nicht einmal von der Regierung, geschweige denn vom Parlament richtig kontrolliert wird. Der m i t dem Wehrbeauftragten des Bundestags vorgenommene Versuch scheint noch nicht voll geglückt zu sein. Daß der Wehrbeauftragte — wie immer das zustande kam — sich über „Quick" an die Abgeordneten (seine Auftraggeber) wendete, daß der Bundestag auf Grund eines Artikels i n der „Bild-Zeitung" zusammengerufen wurde, daß der „Spiegel" wesentliche Voraussetzungen für den Sturz eines Bundesministers schaffen konnte, — all das zeigt Funktionen der Massenkommunikationsmittel, die aber trotzdem keine vierte Gewalt i m Staat darstellen 10 . Die Parteien sind als Faktoren der politischen Willensbildung i m Grundgesetz ausdrücklich genannt. Verbände sind dort nicht genannt, sind aber heute an der politischen Willensbildung offensichtlich nicht minder beteiligt, so daß Kiesinger i n der Diskussion über seine Regierungserklärung ausdrücklich sagen konnte: „Die Interessenvertreter sind i n der Welt, und diese Interessen sind auch i n diesem Hause legit i m vertreten 1 1 ." A m Zustandekommen politischer Entscheidungen sind die verschiedensten Institutionen und Organe beteiligt. Durch ihre Vermittlung kann der einzelne Wähler auf die Entscheidungen i n mannigfaltiger Weise einwirken. Eine Repräsentativverfassung, wie w i r sie haben, w i r d nur Bestand haben und i n der Bevölkerung verankert sein, wenn die innerparteiliche Demokratie lebendig ist, allgemeiner: wenn den plebiszitären Kräften innerhalb der Verbände und Parteien ausreichend Spielraum gewährt w i r d 1 2 . Auch wenn die Massenkommunikationsmittel, auf deren Rolle ich nun zu sprechen kommen werde, selber keine politischen Entscheidungen fällen, so können sie doch offenbar einwirken auf politische Entscheidungen der Staatsbürger als Wähler, der Abgeordneten, der Regierung während der Legislaturperiode, auch auf die Entscheidungen der Gerichte — also sowohl auf die Bevölkerung als auf alle drei klassischen Gewalten. Aber auch auf die Funktionäre und entscheidenden Gremien der Parteien und Verbände. Indirekt können sie also sehr wohl auf politische Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze, ja Verfassungsänderungen einwirken. Kein Wunder daher, daß sie ihrerseits Pressionen 10 Vgl. Franz Ronneberger: Die politischen Funktionen der Massenkommunikationsmittel. I n : Publizistik, 4/1964, S. 291 ff. 11 Deutscher Bundestag, 83. Sitzung, 16.12.1966 (Sten. Ber.), S. 3852 A . 12 Vgl. Ernst Fraenkel: Deutschland u n d die westlichen Demokratien, 2. Auflage, Stuttgart 1964, S. 109.

33 Festgabe für Gert von Eynern

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aller A r t ausgesetzt sind, die auf Struktur und Funktion der Massenkommunikationsmittel sowie auf die i n ihnen arbeitenden Personen einwirken wollen. Dabei w i r d die Rolle der Massenkommunikationsmittel dadurch besonders kompliziert, daß alle genannten Stellen und Personen, vom Kuratorium Unteilbares Deutschland bis zur Grünen Front, mehr oder minder organisiert Öffentlichkeitsarbeit betreiben und sich nicht nur u m die Gunst des Publikums bemühen, sondern auch u m die Gunst der Massenkommunikationsmittel, weil sie u m Raum und Zeit i n ihnen konkurrieren. N u n komme ich i m Einzelnen auf die Rolle bzw. die Rollen der Massenkommunikationsmittel zu sprechen.

C. Massenkommunikationsmittel heute 1. Informationsfunktion

Information über die für uns wichtigen Ereignisse ist nur zu einem immer kleineren Anteil möglich durch eigene Augen und Ohren. Die rasch sich ändernde Umwelt macht ständig neue Informationen notwendig, zwischen Abgeordneten und Wählern, zwischen Parteien und M i t gliedern, zwischen Verbänden und Mitgliedern, zwischen Regierung und Bevölkerung usw. Was man i n der Schule gelernt hat, ist bald überholt. Also ist die Einbeziehung der Massenkommunikationsmittel i n den Bildungsprozeß unumgänglich. A u f Politik bezogen: Die Demokratie ist nicht gesichert, wenn die Staatsbürger, die Entscheidungen zu treffen haben, nicht umfassend und richtig informiert sind. Nur bei guter Information ist es möglich, eine zu große Simplifizierung der Alternativen zu vermeiden. Aber haben w i r diese gut informierten Staatsbürger? Joachim Fest erinnerte i n einem Vortrag i m Institut für Publizistik i n Berlin an eine Fernsehsendung aus Stuttgart, i n der „kurz vor den Bundestagswahlen einer repräsentativen Anzahl wahlberechtigter Bürger einige Fragen vorgelegt" wurden, Elementarfragen durchweg: Was eine Koalition sei, eine Fraktion, welche Parteien i m Bundestag vertreten seien, was ihnen der Name Fritz Erler sage. Ich zitiere Joachim Fest wörtlich: „Was zum Vorschein kam, war blanke Unkenntnis, eine stotternde Hilflosigkeit, die keine Ahnung, wenn auch zu allem eine Meinung hat 1 3 ." Halten Sie diese Feststellung, bitte, neben die des Bun13 Unveröffentlichtes Manuskript einer am 23. 5. 1966 gehaltenen Gastvorlesung i m „Publizistischen Colloquium" des Instituts f ü r Publizistik der Freien Universität Berlin, S. 12 f.

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desVerfassungsgerichts i m Schmid-Spiegel-Beschluß von 1961: „ N u r dann, wenn der Leser — i m Rahmen des Möglichen — zutreffend unterrichtet wird, kann sich die öffentliche Meinung richtig bilden 1 4 ." Dann sehen Sie, wie notwendig die Informationsfunktion der Massenkommunikationsmittel zur Vorbereitung politischer Entscheidungen ist. Drei Gefahren müssen dabei i m Auge behalten werden: 1. die Überfülle an Informationen, die ungeordnet auf das Publikum einströmen. Orientierungswissen (wie es Kogon nennt) und Hintergrundinformationen sind daher notwendig; 2. die Auswahl von Informationen aus kommerziellem Interesse: Auswahl dessen, was unterhält; eine Parlamentsberichtserstattung etwa, die nur Gags und Sensationen bringt; 3. die Informationspolitik. Aus den Informationsetats werden zahlreiche Zeitschriften, Broschüren usw. und Journalisten subventioniert. Dabei ist die Gefahr der Nicht-Information ebenso groß! Sie ist besonders groß innerhalb der Monopol-Situation i m lokalen Bereich, wo nur eine einzige Zeitung zur Berichterstattung i n Frage kommt. Dolf Sternberger hat Unrecht, wenn er die Frage „Werden w i r richtig informiert?" als eine Frage für Untertanen bezeichnet und nur die Frage stellen möchte: „Informieren w i r uns richtig 1 5 ?" M i r scheint, selbst bei gleichzeitiger Benutzung mehrerer Massenkommunikationsmittel war es sehr schwer, sich zu unterrichten über die Lage i n der Sowjetunion 1917, die Lage i n China seit 1944, die Lage i n Algier vor einigen Jahren, die Lage i n Vietnam heute. Wann und wie konnten w i r uns über so entscheidende Tatsachen informieren wie die Beendigung des weltweiten Kalten Krieges, daß die Sowjetunion nicht mehr der Feind Nr. 1 der USA und die Bundesrepublik nicht mehr ihr Bundesgenosse Nr. 1 ist? Daß die Informationsfreiheit i m Grundgesetz steht, reicht nicht aus. Bereits die Schulerziehung muß zum kritischen Gebrauch der Informationsmöglichkeiten helfen. Eine Verbesserung der Volksbildung steigert die Ansprüche an die Massenkommunikationsmittel. Dabei bleibt es Aufgabe der staatlichen Kommunikationspolitik, die Vielfältigkeit der Information zu sichern durch eine Vielfalt der Massenkommunikationsmittel, durch „publizistische Gewaltenteilung", wie ich es genannt habe, zum Beispiel zwischen privatwirtschaftlich finanzierten und öffentlich-rechtlichen Anstalten. Lediglich um auf die hier liegenden Probleme hinzuweisen, nenne ich drei Sonderfälle der Information. 14

BVerfGE, Bd. 12, S. 130. Information — Manipulation — Kommunikation, Vortrag bei der V e r anstaltung der Christian-Albrechts-Universität zur K i e l e r Woche 1966. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 9. 1966, S. 11 f. 15

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Sonderfall 1: Information der Abgeordneten über Tatsachen und Meinungen. M i r scheint, sie werden mit vielerlei Informationen eingedeckt, ja zugedeckt. Aber werden sie gut informiert? Sonderfall 2: Information des Auslandes, zum Beispiel über Rüstung, die eigene und die der Bundesgenossen. Heute kommt es ja darauf an, vom Krieg abzuschrecken, nicht: den Krieg zu gewinnen, — wobei Deutschland bestenfalls die Wahl hätte, durch konventionelle oder durch nukleare Waffen vernichtet zu werden. Die Chance der Abschreckung aber wächst i n dieser Situation nicht durch Geheimhaltung, sondern gerade durch offene Information. Die Amerikaner pflegen sie. Sonderfall 3: Information i n die DDR hinein. Geschieht da genug und das Richtige? Oder gar bei der Information über die DDR? Jeder dieser drei Sonderfälle lohnte einen eigenen Vortrag. I n unserem Zusammenhang wähle ich einen vierten Sonderfall für eine etwas eingehendere Behandlung aus: die Parlamentsberichterstattung. Sie w i r d allgemein für unbefriedigend gehalten. So sagte dann auch Dr. Anton Betz, Präsident des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, nach dessen Jahrestagung 1966: „Aber müßten w i r nicht stärker als bisher die Möglichkeit zu einer besseren Darstellung des parlamentarischen Geschehens i n Nachricht, Berichterstattung und Würdigung schaffen? Ich schließe mich i n diesem Punkte den kritischen Stimmen an 1 ' 8 ." Eine i m Berliner Institut für Publizistik kürzlich fertiggestellte Magisterarbeit förderte zum Beispiel das Ergebnis zu Tage, daß Zeitungen ausführlich über Reden führender Abgeordneter berichteten, deren Text vorher an die Presse verteilt worden war, aber nur kurz über die anschließende nicht vorbereitete lebendige Diskussion 17 . Da zeigt sich deutlich eine Verbesserungsmöglichkeit. I n der Weimarer Republik waren vielleicht weniger die Berliner Zeitungen, aber um so mehr die regionalen und lokalen Parteizeitungen ein höchst einseitiges Medium. Wer nur eine Zeitung las, konnte je nachdem den Eindruck gewinnen, daß i m Reichstag überhaupt nur Konservative, nur Zentrumsleute oder nur Sozialdemokraten reden. Dieses Auswahlverfahren gibt es heute nur noch selten so ausgeprägt. Aber die eben genannte Studie bringt den statistischen Nachweis für einseitige Auswahl auch heute 18 . Als Medium für das Parlament, abgesehen von der Zeitschrift „Parlament" als einen Sonderfall, betätigen sich die Massenkommunikationsmittel nur m i t einer sehr begrenzten Auswahl. Nur wenige größere Zeitungen arbeiten gelegentlich i n gewissem Ausmaß als bloßes Medium. 16

Z V + Z V , 30. 9. 1966, S. 1890. Rolf E. S. Rosch: Die Berichterstattung über Debatten des Deutschen Bundestages i n überregional u n d regional verbreiteten Zeitungen. U n v e r öffentlichtes Manuskript, B e r l i n 1967, S. 55. 18 Ebenda, S. 82. 17

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A l l e Massenkommunikationsmittel stehen vor der Tatsache: Parlamentssitzungen sind gegenüber 1848 oder auch noch gegenüber den 70iger Jahren wesentlich weniger interessant geworden. Die wirklichen Auseinandersetzungen haben sich, wie erwähnt, i n nicht öffentliche Gremien verlagert: i n Ausschüsse und Unterausschüsse, i n Fraktionen, ja i n kleine Fraktionsvorstände und auch i n die Parteivorstände. Das nach wie vor oft große Interesse der Öffentlichkeit am Zustandekommen der Entscheidungen der Parlamente kann daher durch die Massenkommunikationsmittel als bloße Medien gar nicht befriedigt werden. Wenn das Parlament seine Arbeitsweise nicht ändert, so muß das Interesse auf andere Weise befriedigt werden. Davon später. Hier bleibt uns das Problem der Parlamentsberichterstattung in Rundfunk und Fernsehen, wobei die ganze Bevölkerung, soweit sie Zeit hat, durch Originalübertragungen fast wie auf der Zuschauertribüne teilnehmen kann. Kameraleute und Regisseure müssen diszipliniert vorgehen. Ich nenne das viel besprochene Ausleuchten des Inhalts der offenen Handtasche einer weiblichen Abgeordneten auf Puderdose und Lippenstift als krassestes übrigens nur ein einziges M a l vorgekommenes Gegenbeispiel. Die Regisseure müssen vorsichtig paritätisch bei Reden Beifalls- oder Mißfallensäußerungen der Freunde und Gegner des Redners auswählen, wenn das Fernsehen nicht aus einem bloßen Medium unversehens zum Faktor der Meinungsbildung werden soll. Auch die Abgeordneten müssen sich an die größere Öffentlichkeit gewöhnen. Vielleicht kommt das sowohl der Sachlichkeit als auch der Schärfe der Debatten zugute. Die Zuschauer sind vor dem Bildschirm gegenüber der Arroganz von Abgeordneten — ich zitiere einen Leserbrief — höchst empfindlich, die „sich gar nicht die Mühe nehmen, die eigene Ansicht zu überprüfen" 1 9 . Wirklich unter den Augen der Wähler zu diskutieren, kann eigentlich einem Parlament nicht schlecht bekommen. Selbstverständlich können nur von ganz wenigen vollständige Parlamentsübertragungen an Werktagen gehört und gesehen werden. Das wäre mit der Berufsarbeit unvereinbar. Der Masse der Interessenten muß daher ein gekürzter Auszug übermittelt werden, zu geeigneter Abendstunde. Wäre es aber nicht schon sehr vorteilhaft, wenn etwa Chefredakteure oder politische Redakteure an den Sitzungstagen nach ihrer Wahl zeitweise m i t Hilfe des Bildschirms „dabei wären"? Für die Masse der politisch interessierten Öffentlichkeit kommen vor allem Ausschnittsübertragungen zu guten Abendstunden i n Frage. Oder versucht ein Parlament etwa, eine Sachdiskussion über entscheidende 19

Die Welt, 21. 12. 1966, S. 13.

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Fragen m i t verhältnismäßig kurzen Diskussionsbeiträgen i n den Abendstunden abzuhalten, so daß eine vollständige Übertragung von vielen gesehen werden könnte? Beide Möglichkeiten sollten genau durchdacht werden. Ich meine: von Parlamentariern und von Fernsehleuten. Die Abgeordneten müssen sich darüber klar sein: die Öffentlichkeit w i r d heutzutage vor allem durch die Massenkommunikationsmittel hergestellt. Das Parlament kann nur m i t Hilfe der Massenkommunikationsmittel wirklich öffentlich tagen, d. h. vor einer größeren Zuschauerzahl, als die Tribüne faßt. Ernst Fraenkel sagt sehr richtig, „daß die Diskussion i m Parlament nicht zuletzt dazu berufen ist, eine Diskussion i n der öffentlichen Meinung hervorzurufen, die ihrerseits geeignet ist, auf die Parlamentsdiskussion zurückzuwirken" 2 0 . Aber heute spielt eben offensichtlich das Parlament als Diskussionsforum keine entscheidende Rolle. Z u fragen ist, wie es diese Rolle zurückgewinnen kann. Das war der Fall bei den i m Fernsehen übertragenen Fragestunden zur Spiegel-Affäre, wo die Unruhe i m Parlament bei der Übertragung durch das Fernsehen spürbar wurde und sich auf die Bevölkerung übertrug. 2. Meinungsbildung

Die Meinungsbildung bei den Wählern interessiert uns hier als Vorbereitung der Wahlentscheidung. W i r wissen: Eine Vorprägung der Jugend erfolgt zum Beispiel durch Familie, Schule und (teilweise) K i r che, aber auch schon durch Massenkommunikationsmittel. Später stehen viele Faktoren neben den Massenkommunikationsmitteln: Public-Relations-Arbeit, Gerichtsurteile, Parlamentsreden, Versammlungen, Ausstellungen. Dabei wirken vielfach Massenkommunikationsmittel als Verstärker. Bei der Public-Relations-Arbeit der Regierung besteht natürlich die Gefahr, daß mit Hilfe eines Reptilienfonds eine Position nicht durch gute Argumente, sondern durch teure Propaganda gestützt wird. Unsere Presse ist privatwirtschaftlich organisiert. Die Parteinahme durch Nachrichtenauswahl und Stellungnahme ist vom Grundgesetz aus völlig frei! Allerdings zeigt das Sterben der Parteipresse, daß die Bevölkerung eine parteigebundene einseitige Nachrichten- und Meinungsgebung nicht wünscht. Das Vorurteil gegen Parteien überhaupt spielt hier mit. Vollständige Objektivität ist natürlich ein unerreichbares Ideal. Aus vielen Gründen ist die Presse, privatwirtschaftlich organisiert, gleichzeitig Medium und Faktor der Meinungsbildung. Gerade auf diesem Hintergrund kann der Parteinehmende, selbst wenn er parteilos ist, als Leitartikler eine größere Wirkung auf eine Partei ausüben als 20

a.a.O., S. 111.

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Tausende von Mitgliedern. Das, was den öffentlich-rechtlichen Anstalten für Rundfunk und Fernsehen aus guten Gründen versagt ist, steht der Zeitung zu: das Recht zur Einseitigkeit 2 1 . Nun zu den öffentlich-rechtlichen

Anstalten.

Während das gedruckte Wort als Grundlage rationaler Entscheidungen eine große Chance hat, ist es die Chance des gesprochenen Wortes, insbesondere bei auf dem Bildschirm sichtbaren Sprecher, zu interessieren; dabei wächst die Gefahr der Simplifikation. Beiträge zur Meinungsbildung finden sich insbesondere i n den politischen Magazin-Sendungen, wie „Panorama", ferner i m politischen Kabarett. Die aufeinander folgenden Leiter der Sendung „Panorama" haben ihre Erfahrungen gemacht. Kogon faßt seine Aufgabe i n einem Schlußwort 1964 zusammen m i t den Worten: Es gelte „ m i t Verantwortung einen Standpunkt zu vertreten, auch wo es unbequem ist" 2 2 . Joachim Fest, sein inzwischen auch als Panorama-Leiter abgetretener Nachfolger, sagte 1966 einiges über die „hysterische Weise der Gegenkritik". Er zitierte dabei eine auf i h n selber bezogene Äußerung: „Diesen Mann kann ich nur als Schwein bezeichnen, dem das deutsche Volk alles zurückzahlen sollte, was dieser i h m angetan hat 2 3 ." Der Satz stammt vom ehemaligen Minister Seebohm. Die gute grundsätzliche A n t w o r t Fests war: „Ihrem Wesen und historischen Ursprung nach ist die öffentliche Meinung mißtrauisch gegenüber der Macht. Es ist deren Aufgabe, diesem Mißtrauen, immer aufs Neue, den Beweggrund zu nehmen durch die Offenlegung ihrer Absichten, nicht durch die Verdächtigung des urteilenden Bürgers 2 4 ." I n Bezug auf Meinungsbildung stellen sich für alle Massenkommunikationsmittel die Aufgaben: den I r r t u m zu bekämpfen, daß Äußerungen i n Rundfunk und Fernsehen offizielle Meinungen der Regierung sind, — daß Opposition eine lästige Erscheinung ist, die die Regierung an der Arbeit hindert, — daß Kompromisse immer faul sind, — daß es i n der Politik 100 °/oige Ideallösungen gäbe —, daß K r i t i k gleichzusetzen ist mit Beschmutzen des eigenen Nestes, — daß Parteien- und I n teressenverbände böse sind. Eine Schwierigkeit liegt darin, daß es den Lesern von Leitartikeln, den Zuschauern von Panorama-Sendungen vielfach, wie ich bereits ausführte, am nötigen Sachwissen fehlt. Wer nicht informiert ist, kann die 21

Vgl. Walter Mallmann: Pressepflichten u n d öffentliche Aufgabe der Presse. Juristenzeitung, 7. 10. 1966, S. 631. 22 Nach dem M a n u s k r i p t des NDR, 21. 12. 1964. 23 Nach dem Manuskript des NDR, 19. 12. 1966. 24 Unveröffentlichtes Manuskript einer am 23. 5. 1965 gehaltenen Gastvorlesung i m „Publizistischen Colloquium" des Instituts f ü r Publizistik der Freien Universität Berlin, S. 17.

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Meinung eines anderen ja nicht kritisch durchdenken. Kommentatoren, die ihre Hörer zur eigenen Meinung provozieren wollen, vergessen das häufig. I m Grunde gilt es, durch kritische und sachlich berichtende Magazin-Sendungen erst die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie i m besten Sinne zur Meinungsbildung beitragen. Auch Schule, Volkshochschule, Universität müssen die Voraussetzungen schaffen helfen. Wissen, Verantwortungsbewußtsein, Kritikfähigkeit, geistige Widerstandsfähigkeit gilt es zu schaffen, die Kompliziertheit der Verhältnisse aufzuzeigen, vor Simplifizierung und Patentmedizinen zu warnen, Mißtrauen gegenüber jeder Schwarz-Weiß-Zeichnung zu wecken. Das ist die beste Sicherung der Demokratie gegenüber Extremisten, zugleich mit der Aufklärung darüber, daß und warum es selbstverständlich welche gibt. I m Rahmen der Meinungsbildungsfunktion liegt es, den Consensus über gewisse Ziele (Freiheit und Einheit), Verfahrensweisen (Abstimmungen), Verhaltensweisen (Toleranz) zu festigen und zu verbreiten, ohne aber etwa eine „Volksgemeinschaft" herstellen zu wollen wie 1933 bis 1945 oder einen Bundeskanzler zum „Volkskanzler" umzufunktionieren. Jenseits des Consensus, der sichergestellt sein muß, ist das eigentliche Feld für den Kampf um die öffentliche Meinung. I n diesem Kampf ist es die Aufgabe der Publizisten, Alternativen klar, aber, soweit möglich, ohne Simplifizierung herauszuarbeiten. Darüber hinaus: Dem einzelnen zu zeigen, wie er am Zustandekommen von Entscheidungen sich beteiligen kann, i n Parteien, Interessentenverbänden, wie auch einzelne unabhängige Publizisten (Sethe, Haffner, Schlamm) auf politische Entscheidungen Einfluß nehmen können. 3. Diskussionsforum

Sprechen w i r nun von den Massenkommunikationsmitteln als Diskussionsforum. Auch hier geht es um Meinungsbildung, durch Interviews — denken w i r an die Spiegel-Interviews, an die Sendungen „ Z u r Person" von Günter Gaus i m Zweiten Deutschen Fernsehen 25 — oder durch Diskussionen i m eigentlichen Sinne, vor allem i m Fernsehen. Die Massenkommunikationsmittel sind dabei aktiv, keineswegs nur Medium. Bereits die Wahl von Diskussionsleiter und Teilnehmern ist eine wichtige Vorentscheidung. Dabei können Gegenstände, Probleme behandelt werden, über die Parteien und befragte Politiker lieber nichts sagen würden, über die vielleicht alle Parteien gerne solidarisch schwei25

Vgl. Günter Gaus: Z u r Person, München 1964.

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gen möchten. Der Interviewer, der Gesprächsleiter stellt Fragen, stellvertretend für das Publikum, sozusagen als Geschäftsführer ohne A u f trag. Dabei ist auch ein öffentliches Gespräch mit den offenen oder heimlichen Gegnern der Demokratie möglich. Es wäre sogar ein guter Ersatz für das oft geforderte Verbot und — eine Einübung der Demokratie. Weil, wie gesagt, die interessantesten Diskussionen hinter verschlossenen Türen der Regierungen, Fraktionen und Ausschüsse stattfinden, holen Vertreter der Massenkommunikationsmittel Journalisten zusammen (so Höfer jeden Sonntag), ferner Abgeordnete und Journalisten oder Vertreter von verschiedenen Interessengruppen oder auch nur A b geordnete und Minister. Ich kenne den Ruf: Das ist ein Konkurrenzunternehmen gegenüber dem Bundestag. Das Parlament kann kein Monopol auf öffentliche Diskussionen beanspruchen. Es hat es nie gehabt. Neu ist: Die Diskussionen werden mit Hilfe des Fernsehens i n die Wohnungen getragen. W i r haben ja erlebt: Wenn die Parlamente der Diskussion ausweichen, kommen sofort als Korrektur Sonntags-Interviews von Ministern und Parteiführern. Das Interview kann viel rascher auf ein Ereignis folgen als etwa die Befragung der Regierung i m Parlament. Die Massenkommunikationsmittel, gleich ob öffentliche Anstalt oder privates Unternehmen, ergreifen jedenfalls die Möglichkeit, wirksam zu werden und sichern dadurch den ständigen Prozeß der öffentlichen Diskussion, der notwendig ist, — zur Vorbereitung von Entscheidungen der Regierung, zur Vorbereitung der Regierten auf Entscheidungen der Regierung, zur Vorbereitung schließlich der Wähler, i n der nächsten Wahl ihrerseits zu entscheiden. Empirische Untersuchungen zeigen deutlich, jede Partei riskiert bei dieser öffentlichen Diskussion, daß ihre Anhänger bei ihr Fehler finden, hat aber auch die Chance, daß Gegner an ihr gute Punkte entdecken 28 . Der Konkurrenzkampf geht dabei besonders um die Unentschlossenen, um die sogenannten Grenzwähler. Ich habe als Rundfunkintendant i n der ersten Nachkriegszeit erlebt, daß Politiker vielfach Diskussionen am Rundfunk abgelehnt haben und lieber abwechselnd Monologe halten wollten. Schließlich aber haben wohl die Parteien die Chance gesehen, die für jede i n der Diskussion liegt, zum Beispiel auch die Chance, Irrtümer rascher zu berichtigen. Eine sehr verschiedene Arbeitsteilung zwischen Parlament und Massenkommunikationsmitteln ist denkbar. I n den USA haben w i r harte Befragungen der Administration einschließlich des Präsidenten i n Pres26 v g l . Fritz Eberhard: 1962, S. 169.

Der Rundfunkhörer u n d sein Programm. B e r l i n

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sekonferenzen, die teilweise i m Fernsehen übertragen werden, aber auch i n öffentlichen Senatsausschuß-Sitzungen. I n England haben w i r immer noch viel Diskussion i m Parlament, ohne Zulassung des Fernsehens. Die Debatten über die Regierungserklärung dauerten i m Bundestag (im Durchschnitt von 4 Debatten) 14 Stunden; i m Durchschnitt redeten 18 Abgeordnete. Die entsprechenden Debatten i m englischen Unterhaus dauerten 38 Stunden, also fast dreimal so lange; es redeten durchschnittlich 100 Abgeordnete. Nehmen w i r die Zahl der großen A n fragen: sie sank i m Bundestag von Wahlperiode zu Wahlperiode: von 160 auf 97, auf 49, auf 35 27 . Die Zahlen zeigen: I n Deutschland findet die Diskussion zum immer kleineren Teil i n öffentlichen Parlamentssitzungen, aber fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, zum größeren Teil i n den Massenkommunikationsmitteln. Muß das so bleiben? Das hängt davon ab, ob das Parlament es versteht, für die Massenkommunikationsmittel interessanter zu werden. Gerstenmaier hat völlig recht: Die Parteien „und ihre parlamentarischen Gliederungen, die Fraktionen, sind die Umschlagplätze, die Transformatorenstationen, auf denen sich die öffentliche Meinung — wenn überhaupt — erst zur unmittelbaren politischen A k t i o n verdichtet und zur politischen Entscheidung f ü h r t " 2 8 . Die Entscheidungen fallen i m Parlament bzw. bei den nächsten Wahlen. Aber sobald die Diskussionen zur Vorbereitung der Entscheidungen vorwiegend hinter verschlossenen Türen stattfinden, sobald die öffentliche Diskussion des Parlaments verkümmert, finden die Massenkommunikationsmittel — und das ist wichtig für den Fortbestand der Demokratie — Ersatzlösungen für die Information der Öffentlichkeit. Es w i r d immer Journalisten geben, die durch die Schlüssellöcher der verschlossenen Türen sehen und hören. Wichtiger ist aber, daß sie insbesondere i m Fernsehen eine öffentliche Diskussion außerhalb des Parlamentes ermöglichen. Das gilt für Innen- und Außenpolitik, für die Außenpolitik vielleicht sogar noch mehr. Ein Abgeordneter, der nur an sämtlichen Plenarsitzungen des Bundestages und den großen Fraktionssitzungen teilnimmt, weiß zur Zeit bestimmt viel weniger über außenpolitische Probleme und Tatsachen als derjenige, der fleißig Rundfunkund Fernsehsendungen anhört und ansieht. Ich habe das Diskussionsforum als eine Methode der Meinungsbildung behandelt. Dabei ist klar, daß natürlich gleichzeitig eine Information erfolgt — und zwar, wenn die Diskussionsrunden einigermaßen mannigfaltig zusammengesetzt werden, wenn nicht nur die Partei- und Verbandsführer, sondern auch interessante Einzelgänger hinzugezogen wer27 Nach W i l h e l m Hennis : Monat, August 1966, S. 26 ff. 28 a.a.O., S. 128.

Der Deutsche Bundestag 1949—1965. I n : Der

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den, eine vielseitige Information. Durch vielfältige öffentliche Diskussion i n den Massenkommunikationsmitteln läßt es sich leichter vermeiden, daß auf Grund der üblichen Selektionen die Zuschauer nur sehen, was ihre Vorurteile bestätigt. Die Chance ist größer, daß sie zum Nachdenken geführt werden. Wie überhaupt werden Menschen dazu m i t Hilfe der Massenkommunikationsmittel gebracht — hier liegt eine noch nicht i n Angriff genommene, ja kaum erwähnte Forschungsaufgabe. Die vielleicht wichtigste Funktion der Diskussionssendungen i m Fernsehen ist, ähnlich wie von vielen Interviews i n der Presse, sichtbar zu machen, daß i n der Politik Alternativen möglich sind, zwischen denen es zu wählen gilt — daß i n der Gesellschaft Konflikte bestehen, die nach einem Kompromiß rufen —, und schließlich: daß ein Kompromiß fair sein kann und nicht faul sein muß. 4. Kontrollfunktion

Macht kann stets mißbraucht werden. Also ist Kontrolle jeder Macht dringend notwendig. Regierung, Parlamente, Parteien, Interessenverbände, Behörden, Rechnungshof, auch Massenkommunikationsmittel, alle bedürfen der Kontrolle. Das ist die wichtigste Funktion der Presse, seit sie frei ist, und des Fernsehens! Als Kontrolleure w i r k e n natürlich auch andere Institutionen: Gerichte, bis zum Verfassungsgericht, Rechnungshöfe, Parlamente — als Ganzes oder auch nur die Opposition —, Rundfunkräte, Verwaltungsräte, nicht zuletzt: die Wissenschaft. Ja, jeder einzelne Staatsbürger ist zur Kontrolle aufgerufen, als Wähler. Er braucht dazu als Hilfe vielfach bezahlte Funktionäre, Experten. Die Parlamente sind als Kontrollorgane entstanden (um die Steuerbelastung der Bevölkerung i n Grenzen zu halten). Heute brauchen sie als Hilfe Experten. Der Wehrbeauftragte des Bundestags ist eine solche institutionalisierte Hilfe. Auch politische Zeitungen sind wie die Parlamente als Kontrollorgane der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Obrigkeitsstaat entstanden oder haben sich dazu entwickelt. Insgesamt haben w i r es heute m i t einer A r t Selbstkontrolle der pluralistischen Gesellschaft und ihres repräsentativen Parlamentssystems zu tun 2 9 . Wenn ein Kontrollorgan versagt, können andere einspringen. Wenn die Opposition versagt, kann eine Zeitschrift wie der „Spiegel", kann eine Fernsehsendung wie „Panorama" eine Lücke i m Kontrollsystem ausfüllen. Wenn die Presse versagt, kann das Fernsehen einspringen und umgekehrt. Wenn bei großer Koalition die Versuchung 29 Vgl. Franz Ronneberger: Organisierte Interessen u n d öffentliche M e i nungsbildung. I n : Soziale Welt, 1/1964, S. 36 ff.

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steigt, „Mißstände zu verschleiern, zu vertuschen, Gegensätze zu verkleistern und unter den schwarz-roten Teppich zu kehren" — ich zitiere aus einem Gespräch der „ W e l t " m i t K u r t Georg Kiesinger 30, wenn alles so schön einig zu sein scheint, gerade dann brauchen w i r unbequeme Journalisten. Sie müssen planmäßig herangebildet werden. Natürlich wäre es für die Regierung bequemer, über Massenkommunikationsmittel als eine obrigkeitsstaatliche Maschinerie verfügen zu können. Das hat man immer wieder aus Äußerungen von Beamten und Ministern herausgehört, etwa wenn Höcherl, damals Bundesinnenminister, anläßlich der Telefonaffäre davon sprach, daß die Bundesrepublik ein Presse-Staat geworden sei 31 , während andere abfällig von einer „Illustrierten-Demokratie" sprachen. Nannen hat darauf stolz geantwortet: „ W i r Zeitungsleute sind nicht frei von Fehlern und Versuchungen ... Aber vielleicht haben w i r den Politikern die größere Unabhängigkeit voraus. W i r werden sie dazu benutzen, der Demokratie i n unserem Lande möglichst viel L u f t zu schaffen. Durch vorurteilslose, sorgfältige und kritische Information unserer Leser. Das wäre die ,Illustrierten-Demokratie 4 , auf die w i r stolz sein dürften 3 2 ." Den unbequemen Journalisten w i r d das Leben nicht leicht gemacht. Wie sich gezeigt hat, w i r d ihnen das „Recht auf I r r t u m " , das Ministern und Abgeordneten wie selbstverständlich zugestanden wird, oft nicht zugestanden 33 . Manchmal allerdings ist die Kontrollfunktion leicht, und es genügt bereits das Vorhandensein des Kontrollorgans. Wie manche Mächtigen i m 18. Jahrhundert sagten: „Es könnte i m Schlözer stehen", also könne man diese oder jede Maßnahme nicht treffen — ähnlich heißt es heute: „Es könnte i m Spiegel stehen." Als Rundfunkintendant erfuhr ich einmal einen besonders krassen Fall der Behandlung einer kinderreichen Flüchtlingsfamilie durch das Wohnungsamt einer mittleren Stadt. Die Sorge, „es könnte i m Rundfunk kommen", führte zu einer raschen Lösung dieses Wohnungsproblems. Entsprechend berichtete Joachim Fest „eine immer wiederkehrende Erfahrung: Panorama-Recherchen lösen Panik, Flucht durch die Hintertür und allerlei groteske Situationen aus" 3 4 . Zugegeben: Regierung i n der Demokratie ist unbequem. Man muß verstehen, daß Minister und Beamte immer wieder versuchen, es sich bequemer zu machen, zumal das autoritäre Regieren einer i n Deutschland noch nicht abgestorbenen Tradition entspricht. Bei der englischen Tradition des Non-Konformismus haben Journalisten es leichter. 30 31

1. 12. 1966, S. 5. Jürgen Baldauf:

Der Presse-Staat. I n : CrP-Informationsdienst, 9/1963, S. 93. 32 H e n r i Nannen: Illustrierten-Demokratie. I n : Stern, 21. 2. 1965, S. 7. 33 Jürgen Baldauf , a.a.O., S. 93. 34 Hoch i n der Publikumsgunst. I n : Stuttgarter Zeitung, 30. 9. 1966, S. 39.

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Natürlich möchte jeder Politiker lieber dargestellt und interpretiert als kritisiert werden. W i r müssen deshalb dafür sorgen — und hier gibt es ein Wächteramt der Publizistikwissenschaft —, daß unbequeme Journalisten nicht etwa als Relikte einer liberalen Zeit nur noch vereinzelt geduldet werden und keinen Nachwuchs haben. Sethe, Kogon, Paczenski, Augstein, Fest, usw., usw. — sie sind alle vielfach verketzert bzw. der Mode entsprechend als Kommunisten bezeichnet worden. Doch sind sie und die Beharrlichkeit ihrer K r i t i k für die Demokratie, wie ich meine, unentbehrlich. W i r brauchen: 1. Selbstverständlich keine Aushöhlung oder Abwertung des A r t i kels 5 des Grundgesetzes, sondern vielmehr eine Ausweitung und A u f wertung dieses Verfassungsgrundsatzes. 2. Die Unabhängigkeit der Presse (abgesehen von ausgesprochener Partei- und Verbandspresse) wie des Fernsehens muß gesichert werden, nicht nur gegenüber der Regierung, sondern auch gegenüber Parteien und Interessengruppen, Zeitungsverleger hier eingeschlossen. Notwendig ist daher ein Journalisten-Gesetz, wie es schon i n der Weimarer Zeit gefordert wurde. Erwogen werden sollte eine obligatorische deutliche Kennzeichnung von Abhängigkeiten i m Impressum. 3. Notwendig ist die gegenseitige Kontrolle der Massenkommunikationsmittel. Neuerdings gibt es nach langer Flaute erfreuliche Ansätze dazu 35 . Notwendig sind Maßnahmen gegen die Konzentration der Presse, vor allem gegen ihre gefährlichen Folgen. Ich zitiere das Bundesverfassungsgericht aus dem „Spiegel"-Urteil: Es „ließe s i c h . . . an eine Pflicht des Staates denken, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten" 3 6 . A u f alle Fälle aber muß die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß gar Presse und Fernsehen i n einer Hand vereinigt werden. Es gilt, die publizistische Gewaltenteilung zu erhalten. 4. nenne ich eine Aufgabe, die die Massenkommunikationsmittel, besonders Rundfunk und Fernsehen i m Nachkriegsdeutschland zum großen Teil geleistet haben: K r i t i k , abweichende Ansichten als etwas Selbstverständliches i n die Wohnstuben zu tragen. W i r dürfen die Gefahr nicht verkennen, daß lebhafte Diskussionen von Fernsehzuschauern wie sportliche Wettkämpfe als Unterhaltung konsumiert werden, daß politische Magazinsendungen i m Fernsehen wie ausgesprochene Unterhaltungssendungen einen großen Teil der 15 Millionen Zuschauer bloß unterhalten. Da ergibt sich die Aufgabe des Fernsehens, alles zu tun, 35 Vgl. z. B. Otto Köhler i n : Der Spiegel, 48/1966, 52/1966, 8/1967, 10/1967, 11/1967, 13/1967; R. L. Magnusson i n „Deutsches Panorama" 9/1966. 36 BVerfG, Beschluß v o m 5. 8. 1966 = N J W 1966, S. 1604 (Spiegel-Urteil).

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die innere Beteiligung zu steigern, d. h. echtes politisches Interesse zu wecken. Ich glaube, w i r sind auf dem Wege dazu. Die Regierungskrise und die wirtschaftliche Rezession, auch das übertreibende Geschwätz über Staatskrise und allgemeine Wirtschaftskrise haben neuerdings dazu geholfen, daß der Einzelne einsieht: „tua res agitur." Nachdem w i r ausführlich die Kontrollfunktion der Massenkommunikationsmittel behandelt haben, ausdrücklich: sie selber haben keine Sanktionsmöglichkeit. Das Parlament kann eine Regierung stürzen. Der Wähler kann andere Parteien als bisher wählen. Das sind direkte Sanktionen. Die Rolle der Massenkommunikationsmittel ist bescheidener. Sie können nur zur Vorbereitung solcher Sanktionen beitragen. Das Parlament, und nicht nur die Opposition, hat durch Untersuchungsausschüsse, ja, jeder einzelne Abgeordnete hat durch Anfragen eine günstigere juristische Ausgangsposition, u m die Regierung oder Regierungsmitglieder zu zwingen, die Karten auf den Tisch zu legen, als Journalisten. Diese haben dafür andere Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden. Gerade die jüngste Erfahrung hat gezeigt, daß Abgeordnete und Massenkommunikationsmittel gemeinsam i n der Lage sind, partikuläre Interessen i n ihre Schranken zu verweisen.. So, wenn alle Interessentengruppen zugeben, daß Haushaltseinsparungen nötig seien, und jede Interessentengruppe sagt: „Heiliger Sankt Florian, verschon' mein Haus, zünd* andere an." Vielleicht geht es i n manchen Situationen gar nicht ohne eine Einheitsfront von Parlament und Massenkommunikationsmitteln gegen Ressortminister und Spitzen der Bürokratie, wobei ich die Generale nicht ausnehmen möchte. Aus dieser notwendigen Kooperation der mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestatteten Parlamentarier und der sie entbehrenden Publizisten ergibt sich eine vorhin angedeutete, aber bisher nicht gelöste Aufgabe: nämlich eine sowohl umfassende als auch übersichtliche und rasch durchzuarbeitende Information der Abgeordneten über die Inhalte der Massenkommunikationsmittel. Ohne funktionsfähige Massenkommunikationsmittel, ohne Kenntnis von deren wichtigsten Inhalten fehlt es den Abgeordneten an den Augen und Ohren, u m ihre Pflicht t u n zu können. Umgekehrt, ohne funktionsfähige Parlamente fehlt es den Massenkommunikationsmitteln an der Möglichkeit, K r i t i k und Anregungen i n die Tat umgesetzt zu sehen. W i r haben da i n Deutschland zuzulernen. Wenn w i r zwei Flugzeug-„Affären" vergleichen: die Zusammenarbeit von Publizisten und Parlamentariern i n der Mirage-Affäre i n der Schweiz war weit besser als die entsprechende i n der Bundesrepublik über die ähnliche Starfighter-Affäre 37. 87 Vgl. Gerhard Brandt u n d L u d w i g von Friedeburg: Aufgaben der M i l i tärpublizistik i n der modernen Gesellschaft. F r a n k f u r t a. M . 1966.

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Schluß: Aufgaben der Publizistikwissenschaft Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, ständig i n Frage zu stellen erstens die Methoden der Regierung i m weitesten Sinne, d. h. wie politische Entscheidungen Zustandekommen, — also auch das Wahlrecht, die Geschäftsordnungen der Bundesregierung und des Bundestages, die Organisation der Bundesregierung. Ein beteiligter hoher Beamter urteilte dazu kürzlich: A m Ende der Regierung Erhard habe sich das Bundeskanzleramt i n einem ähnlichen organisatorischen Zustand befunden wie das heilige römische Reich deutscher Nation i m 17. Jahrhundert. Samuel von Pufendorf habe diesen Zustand bekanntlich m i t dem Ausdruck „monstro simile" bezeichnet 38 . Hier Rezepte zu geben oder auch nur zu sagen, wo die Probleme liegen, ist nicht meine Aufgabe. Das ist Sache von Soziologen und Politologen. Aufgabe der Wissenschaft ist aber zweitens, die Rolle der Massenkommunikationsmittel i m politischen Entscheidungsprozeß immer wieder i n Frage zu stellen. Das ist Sache der Publizistikwissenschaft, der Grundlagenforschung und der praxisnahen speziellen Forschung, vielfach i n Zusammenarbeit m i t Soziologie und Politologie. Ich nenne einige wissenschaftliche Aufgaben an Hand der bekannten Lasswell'sehen Formel: Wer sagt was zu wem m i t welcher Wirkung? Ich spreche zuerst vom Faktor „Wer"?, und da zunächst von den Institutionen. Das Nebeneinander öffentlich-rechtlicher Anstalten — für Rundfunk und Fernsehen — und privatwirtschaftlicher Betriebe — für die Presse — ist für die Erhaltung der pluralistischen Gesellschaft ausgezeichnet. Ihr dient auch die oft gelästerte föderalistische Struktur. Sollte also beides erhalten werden? Und wie? Zu überlegen ist zum Beispiel, ob durch verschiedenartige Konstruktion der öffentlich-rechtlichen Anstalten der Pluralismus noch besser gesichert werden kann. Mindestens so wichtig wie die Institutionen sind die Personen. Geschieht genug zur Ausbildung tüchtiger und unbequemer Journalisten? Zur Sicherung ihrer Arbeit? Meine persönliche A n t w o r t ist zweimal: Nein. Nun zum Faktor suchung fehlt.

„Was?" Eine umfassende wissenschaftliche Unter-

W i r haben wissenschaftliche Methoden der Inhaltsanalyse entwickelt und erprobt, die es möglich machen, i m einzelnen Falle festzustellen, wieweit einseitig oder unzureichend informiert wird, wieweit einseitige Meinungsbildung betrieben wird, etwa auf Grund von Monopolisierungen. Feststellungen sind möglich auch auf der Ebene der Städte und Gemeinden. Sie sind notwendig! 38

Klaus Seemann: Vorschläge für eine Verbesserung der Regierungstechnik. Die Welt, 25. 1. 1967, S. 20.

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Durch Umfrageforschung sollte ständig vergleichend beobachtet werden: Welche Meinungen werden i n Presse und anderen Massenkommunikationsmitteln verbreitet und welche werden i n Parlamenten und Regierungen vertreten? Und wie verhält sich i n denselben Punkten die allgemeine öffentliche Meinung? Nur dadurch kann Überraschungen vorgebeugt werden, wie w i r sie 1930 erlebt haben, als plötzlich 107 Abgeordnete der NSDAP i n den Reichstag einzogen 39 . Ich komme zum dritten Faktor : „Wem?" Der mündige und verantwortungsbewußte Staatsbürger, also der kritische Rezipient der Massenkommunikationsmittel — dessen Vorhandensein i n der Demokratie Voraussetzung für ihr gesundes Funktionieren ist — muß ständig gebildet und weitergebildet werden. Hier ist immer von neuem zu untersuchen, welche Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule, Volkshochschule, Universität, Regierung, Parteien und Massenkommunikationsmitteln möglich und zur Erhaltung der Demokratie geboten ist. Der große Plan dazu fehlt oder w i r d nicht durchgeführt. Es geht hier um einen ständigen Prozeß der Vermittlung von Wissen, das rationale Entscheidungen möglich macht, auch — ich wiederhole absichtlich — um das Wissen darüber, daß diese Welt voller Konflikte ist, u m die Herausbildung demokratischer Haltungen (zum Beispiel der Toleranz gegenüber der Meinung anderer, der Bereitschaft zu fairen Kompromissen). Es geht u m den Abbau von Vorurteilen (etwa daß die „Volksgemeinschaft" das Ideal ist) und Ressentiments (gegenüber Parteien, Interessenverbänden, Rassen). K r i t i k f ä h i g machen heißt auch, widerstandsfähig machen gegen demagogische Rattenfänger. Bereits i n der Schule und m i t Hilfe des Schulfunks kann darauf vorbereitet werden, daß die Hörer Tricks der Demagogen erkennen und entlarven. Es gilt, allergisch zu machen gegen übersteigerte Staatsautorität unter Ausnutzung der Erinnerung an die krankhafte Übersteigerung 1933—1945. Durch eine Analyse der i m Staatsbürgerkunde-Unterricht verwendeten Literatur konnte nachgewiesen werden, daß i n unseren Schulen weitgehend das Gegenteil geschieht. Ich zitiere: „So werden nicht demokratische Bürger, sondern mehr demokratische Untertanen' gebildet 4 0 ." Hier sollten Schule, Hochschule und Massenkommunikationsmittel gemeinsam mobilisiert werden, auch zur Aufschließung der Jugend für Leitbilder aus der eigenen Vergangenheit und der anderer Völker. I n 39

Vgl. Elisabeth Noelle: öffentliche Meinung u n d Soziale Kontrolle. T ü bingen 1966, S. 14 = Recht u n d Staat i n Geschichte u n d Gegenwart, Heft 329. — Gerhard Schmidtchen: Die befragte Nation. Freiburg 1959, S. 170. 40 Volker Nitzschke: Z u r Wirksamkeit politischer Bildung, T e i l I I , Schulbuch-Analyse, S. 274 = Max-Traeger-Stiftung, Forschungsberichte, Heft 4, F r a n k f u r t a. M. 1966. — Vgl. Volker Nitzschke: Die deutschen Sozialkundebücher. I n : Der Politologe, Januar 1967, S. 25 ff.

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mannigfaltigen Formen können und sollten die Kräfte des Guten i n der deutschen Vergangenheit für die Zukunft emotional fruchtbar gemacht werden. Denn mit der Ratio allein geht es nicht. Zum Faktor „Wem", d. h. zu den Rezipienten und der bei ihnen durch Massenkommunikationsmittel erzielbaren Wirkungen und ihrer Erforschung wäre noch viel zu sagen. Ich breche hier ab. M i r scheint, es liegt eine Durststrecke vor der deutschen Demokratie, die die angelsächsische Demokratie längst überwunden hat, i n minder komplizierten Verhältnissen. Diese Durststrecke werden w i r nur durchhalten, wenn die Demokratie ständig von Seiten der Massenkommunikationsmittel belebt und gestützt wird. Darum sage ich m i t allem Nachdruck: Ohne wissenschaftliche Erforschung der Möglichkeiten des Gebrauchs und Mißbrauchs der Massenkommunikationsmittel — des Gebrauchs und Mißbrauchs auf Seiten der Kommunikatoren wie der Rezipienten — beim Zustandekommen von politischen Entscheidungen werden w i r diese Durststrecke i n der besonderen deutschen Lage nicht durchhalten. Daher bitte ich Sie, alles, was ich gesagt habe, als ein Plädoyer zu nehmen für das Ernstnehmen der Forschung auf dem Gebiete der Massenkommunikation.

50 Jahre theoretischer Weltkommunismus Eine Einleitung zu seiner wirtschaftsgeschichtlichen Analiyse Von Wolfgang Abendroth Einheit und Gegensätzlichkeit, geistige Leistungen wie Dogmatisierungstendenzen des Weltkommunismus, der als selbständiges System politischer Theorien durch die Oktober-Revolution entsteht, beruhen auf einem der Situation des Sowjetstaates schon i n den ersten Jahrzehnten seiner Existenz immanenten Widerspruch: Der Sowjetstaat war das Ergebnis eines Versuchs, durch revolutionäre Aktionen unterdrückter Klassen und Völker die Welt i n Richtung auf eine friedliche internationale Gesellschaft des Kommunismus zu transformieren und blieb dessen Katalysator. Aber er mußte sich selbst stabilisieren, um der industriellen Entwicklung eines rückständigen Landes willen gegen seine Bevölkerung repressiv w i r k e n und äußeren Konflikten möglichst ausweichen. Die Formen, i n denen dieser Widerspruch sich äußert, haben sich je nach der historischen Situation ständig verändert und jene für eine lange Periode dem Scheine nach unveränderliche monolithischt o t a l i t ä r e " Phase erzeugt, die bei den Versuchen zu seiner sachlichen Analyse und wissenschaftlichen Beurteilung i n den westlichen Ländern häufig zu i m Grunde unhistorischer, nur äußere Phänomene registrierender Betrachtung und zu lediglich polemischer Wertung verführt hat. Aber weder Inhalt noch Form seiner Ideologie, noch die A r t und Weise, in der er die älteren Schichten marxistischen Denkens erheblich verändert und teilweise beiseitegeschoben hat, erst recht nicht die gegenwärtige polyzentrisdie Auflösung seines nur vorübergehend monolithischen Charakters lassen sich soziologisch analysieren und verstehen, wenn nicht die sozialhistorische Situation, die jeweils sein Wesen bestimmt, i n die Untersuchung einbezogen wird.

I . Kriegskommunismus und „Neue Ökonomische P o l i t i k " (NEP); Entstehung und Aufstieg der Kommunistischen Internationale Der Sieg der russischen Oktober-Revolution 1917 wurde dadurch möglich, daß es der bolschewistischen Partei gelungen war, die Mehrheit i n den Sowjets zu erobern, weil sie die Forderungen der Massen 34*

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nach der Beendigung des Krieges, der Liquidierung des Großgrundbesitzes und der Zerschlagung des früheren politischen Systems, das diese Forderungen offensichtlich nicht zu erfüllen bereit war, am klarsten artikulierte. Die Sowjets waren zunächst bloße plebiszitäre Revolutionsorgane agierender Massen gewesen und i n dieser Form bereits i n der Revolution von 1905 (vgl. Leo Trotzki [1879—1940], Die russische Revolution von 1905 [1910]) i n Erscheinung getreten. Parallele Formen spontaner Massenbewegung waren die Revolutionären Obleute während der Massenstreiks i m ersten Weltkrieg, die Räte i m Revolutionsprozeß 1915/19, die shop stewards i n den englischen Streikbewegungen der gleichen Periode, ähnliche Gruppierungen i n der italienischen A r beiterbewegung bis zum Sieg des Faschismus. Sie wurden nun durch den Sieg der Oktoberrevolution zu Staatsorganen. Lenin (1870—1924) hatte i n Weiterbildung der Analyse der Pariser Kommune durch K a r l Marx die politische Theorie eines nur auf unmittelbare demokratische Selbstverwaltung gegründeten proletarischen Staates, der Diktatur des Proletariats entwickelt, die insofern Diktatur sein sollte, als sie an die Rechtsnormen des früheren bürgerlichen Staates nicht gebunden war, aber insofern Demokratie sein wollte, als die an der Revolution beteiligten Massen ihre Räte nicht nur kontrollieren, sondern auch jederzeit umbesetzen konnten (Staat und Revolution, 1917, deutsch 1919). Die Partei spielt i n dieser Phase der Theorieentwicklung nur eine intellektuell leitende, nicht eine institutionell privilegierte Rolle. Die Niederlage der revolutionären Bewegungen i n den Mittel- und westeuropäischen Ländern ließ die Autorität der siegreichen russischen Revolution und ihrer bolschewistischen Führungspartei auch unter den Arbeitern und den Theoretikern der marxistischen Linken i n diesem Teil Europas rasch stark anwachsen. I n den mitteleuropäischen Ländern und i n Italien hatte zwar die Revolutionsperiode am Ausgang des ersten Weltkriegs die parlamentarische Demokratie auf der Grundlage demokratischen Wahlrechts zum Siege geführt; aber der soziale Inhalt der bisherigen kapitalistischen Gesellschaftsstruktur war infolge des Bündnisses zwischen der während des Krieges den Krieg unterstützenden Organisationswelt des reformistischen (und meist auch des vorher „zentristischen") Flügels der Arbeiterbewegung, dem überkommenen Staatsapparat und den bürgerlichen Klassen nach mehr oder minder gewaltsamen Auseinandersetzungen m i t den meist nur spontan und unorganisiert handelnden Arbeitermassen erhalten geblieben. Deshalb erschien diesen sich nach links orientierenden Kräften nun der Erfolg der Oktober-Revolution als Vorbild. So wurde die Theorie der Diktatur des Proletariats und der Räterepublik als ihrer politischen Form, die vor 1917 noch nicht bestanden hatte, von den westeuropäischen linken Marxisten übernommen, auch soweit sie sie vor den Rückschlägen, vor

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allem der deutschen Revolution, noch nicht akzeptiert hatten. Rosa Luxemburg (1870—1919) hatte i n ihrem Manuskript „Die russische Revolution" (März 1918, posthum publiziert 1922) noch die Ausschaltung des Parlamentarismus bedauert; aber dann, i m „Spartakus-Programm" (Dezember 1918) die Alleinherrschaft der Räte gefordert. Ähnlich die Niederländer Anton Pannekoek (1873—1965), „Bolschewismus und Demokratie" 1919), Hermann Gorter (1864—1927, „Der historische Materialismus", 2. Aufl. 1921) und Henriette Roland-Holst (1869—1952) und die Italiener Amadeo Bordiga (geb. 1889) und Antonio Gramsci (1891 bis 1937). Allerdings vollzog sich diese Rezeption zunächst i n der ursprünglichen, nicht auf eine Parteidiktatur, sondern auf plebiszitäre Demokratie bei lediglich mehr oder minder beratender Führungsrolle der revolutionären Partei gerichteten Fassung dieser Lehre. Dieser Stimmung entsprach die Dogmatisierung der These von der Diktatur des Proletariats dahin, daß ein legaler Weg der Transformierung der bürgerlichen i n eine sozialistische Demokratie nicht möglich sei, sondern daß der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft stets (auch i n den bürgerlichen Demokratien) des Mittels des gewaltsamen Umsturzes bedürfe; dadurch wurde die Auffassung von K a r l Marx und Friedrich Engels modifiziert, die der Ansicht gewesen waren, diese Frage sei nur auf Grund der konkreten politischen Situation i n den einzelnen Staaten entscheidbar. Der Gründungskongreß der Kommunistischen Internationale i m März 1919 formulierte dieses Dogma. Er drückte damit eine Auffassung aus, die damals weit über den zunächst noch recht kleinen Bereich der durch ihn organisierten Teile der europäischen Arbeiterbewegung hinausging, und ermöglichte dadurch das sehr rasche Wachstum der kommunistischen Parteien, die i m Spaltungsprozeß der Arbeiterorganisationen i n den westeuropäischen Ländern rasch an Einfluß gewannen. I n Rußland selbst verhinderte zunächst die Notwendigkeit der A b wehr der militärischen Interventionen der kapitalistischen Großmächte gegen die Revolution, an denen sich nacheinander sowohl die EntenteStaaten als auch das Deutsche Reich beteiligt hatten, und der Bürgerkrieg, daß ein umfassendes und durchdachtes Konzept der Wirtschaftspolitik des jungen sozialistischen Staates entstand. Über die von den Bolschewiki vor dem Aufstand und i n den ersten Wochen der Sowjetherrschaft geplante Verteilung des Großgrundbesitzes an die Bauern und Vergesellschaftung der Banken und der Großindustrie hinaus wurde jedoch faktisch durch das spontane Handeln der Massen die Sozialisierung der industriellen Erzeugung vollendet. Die Beseitigung des A n alphabetismus wurde bei Erweckung eines außerordentlich starken B i l dungsenthusiasmus der Massen mittels umfangreicher staatlicher Unterstützung und Organisierung von Volksbildung und Wissenschaftsbetrieb

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sofort i n Angriff genommen und damit eine Tendenz eingeleitet, die für alle sozialistischen Staaten charakteristisch geblieben ist, auch wenn sich i n ihrer geschichtlichen Entwicklung i n anderen Fragen noch so starke Entfremdungserscheinungen ergeben haben. Aber durch den Bürgerkrieg war die Majorität der industriellen Arbeiter (ohnedies nur eine kleine Minderheit i n der erwerbstätigen Bevölkerung des damals i m wesentlichen agrarisch bestimmten Landes) und auch ein großer Teil der revolutionären Intelligenz i n die Armee eingegliedert worden. Ein großer Teil des industriellen Produktionsapparates und der Verkehrswege war zerstört worden. So war der junge sowjetische Staat dazu gezwungen, das extrem-demokratische und föderalistische politische Herrschaftssystem wieder zu zentralisieren, wenn er überleben und sein ökonomisches System ordnen wollte. War seit der FebruarRevolution 1917 die bolschewistische Partei eine breite Massenpartei m i t größter Diskussionsfreiheit geworden, so mußte jetzt die Parteidisziplin wieder gestrafft werden. Übrigens war die Umformung der Bolschewiki aus einer straff geführten Kaderpartei der Berufsrevolutionäre i n eine Massenpartei, wie sie sich seit Beginn der FebruarRevolution durchgesetzt hatte, i n eine demokratisch organisierte Massenpartei durchaus i n Übereinstimmung m i t der ursprünglichen Parteitheorie Lenins (Was tun? (1902); Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück (1904)) erfolgt, nach der seine frühere Lehre von der streng disziplinierten Partei der Berufsrevolutionäre nur für die Lage der extremen Illegalität i m zaristischen Reich Geltung hatte. Und ebenso war es jetzt erforderlich, die Sowjets der wieder disziplinierten Partei unterzuordnen. Wie weit die Demokratisierung und Liberalisierung der Partei i n der Zwischenperiode gegangen war, w i r d dadurch verdeutlicht, daß i m Oktober 1917 die Gruppierung um G. J. Sinowjew (1883—1936) und L. B. Kamenew (1883—1936) sich erlauben konnte, nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch öffentlich gegen den Plan zur Eroberung der politischen Macht aufzutreten, ohne deshalb aus der Partei ausscheiden zu müssen. Auch i n der Auseinandersetzung um den Friedensvertrag von Brest-Litowsk m i t dem Deutschen Reich hatte i n den ersten Monaten des Jahres 1918 jede Richtung der Parteiführung ihre Auffassung ohne jede Rücksicht auf den Gedanken der „Körperschaftsdisziplin" unverh ü l l t öffentlich geäußert: N. J. Bucharin (1888—1938) hatte als damaliger Führer der „linken Kommunisten" jede Form auch nur vorübergehender Koexistenz m i t den imperialistischen Staaten und also den Abschluß des Friedensvertrages, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Ausdruck der extremen Raubwünsche des deutschen Imperialismus m i t Füßen trat, für unzulässig erklärt und den „revolutionären Krieg" gefordert; Trotzki hatte m i t der Parole „weder Krieg noch

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Frieden" eine Mittelposition bezogen. Der Sieg der realistischen Position Lenins, der zwecks Stabilisierung der Revolution zuletzt die Unterzeichnung durchsetzen konnte, hatte aber die Lage auch dadurch grundsätzlich verändert, daß die Koalition der Bolschewiki m i t den „linken Sozialrevolutionären", die (wenn auch anders motiviert) die gleiche A n sicht wie Bucharin vertraten, gesprengt wurde, so daß seitdem die Sowjetregierung zur Einparteienregierung geworden ist. Das Ende des Bürgerkrieges, i n dem bereits die militärischen Notwendigkeiten die Straffung der Macht i n der Armee erforderlich gemacht hatten, die einerseits durch die Heranziehung von früher zaristischen Offizieren, andererseits durch das Gegengewicht der von der Partei gestellten politischen Kommissare unter der Führung Trotzkis erreicht wurde, hinterließ nun aber Sowjets, die zum großen Teil von politisch unerfahrenen Arbeitern, die i n äußerster Not lebten, besetzt waren; sie vertraten deshalb häufig utopische Wünsche und erwarteten von der Sowjet-Regierung Leistungen, wie sie i n der damaligen ökonomisch chaotischen Situation nicht erbracht werden konnten. So gerieten die Tagesinteressen der Wähler und Mitglieder der Sowjets m i t den Aufgaben der Stabilisierung der sozialistischen Revolution i n einer Periode immer wieder i n Konflikt, i n der einerseits praktisch (erst seit 1922 theoretisch) die bolschewistische Partei zur einzigen Partei des Landes geworden war, und i n der sie andererseits nur noch durch ihre Disziplin und durch ihre rigorose Kontrolle über die Sowjets das Land vor chaotischer A u f lösung bewahren konnte. Denn die Opfer, die den Arbeitern für den Wiederaufbau auferlegt werden mußten, wogen um so schwerer, als sie das Lebenshaltungsniveau der Vorkriegszeit (wenn man von ihren unendlich erweiterten Bildungsmöglichkeiten und kulturellen Chancen absieht) noch lange nicht wieder erreichen konnten. Das objektive Erfordernis der Konzessionen, die zwecks Wiederherstellung eines relativ funktionierenden Wirtschaftslebens nach dem Ende des Bürgerkrieges auch an Teile der durch die Oktober-Revolution politisch geschlagenen Klassen i m Zeichen der Wendung zur „Neuen ökonomischen Politik" (NEP) gemacht werden mußten, um durch Gewährung von Profitmöglichkeiten die gewerblichen Kleinproduzenten wieder zur geordneten Tätigkeit anzuregen und die (dann durch die Praxis widerlegte) Hoffnung auf Investitionen des ausländischen Kapitals zu eröffnen, aber auch die Notwendigkeit, die Bauern von den Requisitionen der Periode des Bürgerkriegs zu entlasten und zu veranlassen, trotz der erheblichen Naturalsteuer-Leistung für den Markt Lebensmittel zu produzieren, war einem großen Teil der Arbeiter unverständlich und deshalb m i t der freien, von der Partei unkontrollierten Selbstverwaltung i n den Sowjets nicht mehr vereinbar. So drängte nun die Parteiführung zur Diktatur der Partei über die Sowjets. Dadurch entstanden die Konflikte,

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die zu Beginn des Jahres 1921 i m Kronstädter Aufstand ihren dramatischen Ausdruck gefunden haben und das Ende der früheren Form der Sowjetdemokratie brachten. Diese Veränderung der Stellung der bolschewistischen Partei zu den Sowjets und innerhalb der Sowjets hatte unvermeidlich erhebliche Folgen für die Struktur der Partei selbst. Die Gruppierung innerhalb der Partei, die an der Vorstellungsweise des „Kriegskommunismus" festhielt, den sofortigen, unvermittelten Sprung zu ersten Formen der kommunistischen Gesellschaft und damit das utopische Ziel der Massen, nicht aber der Parteiführung i m revolutionären Prozeß weiter vertrat, hatte sich als „Arbeiteropposition" unter der Führung von A. G. Schljapnikow (1885—1937) (Die russischen Gewerkschaften (1920)) und Alexandra Koleontai (1872—1952; The workers Opposition i n Russia (1923)) als Fraktion organisiert. Alexandra Koleontai war übrigens gleichzeitig die Theoretikerin der Auflösung der bürgerlichen Familienstruktur und der freien Liebe (Die Familie und der kommunistische Staat (1922); Wege der Liebe (1925)), während Lenin und die Parteiführung eine restriktivere sexuelle Moral auch künftig für erforderlich hielten. Wollte die Partei die volle Kontrolle über die Sowjets erlangen, so konnte sie bis i n ihre unteren Einheiten hinein organisierte Fraktionsbildung nicht mehr dulden. Die Beschlüsse des 10. Parteitages (1921), der derartige Fraktionen verbot, machten deutlich, daß die Einschränkung der Meinungsfreiheit i n der Gesellschaft auch empfindliche Beschränkungen der Meinungsfreiheit innerhalb der Partei und Modifikationen der Parteitheorie zur Folge haben mußte. Die ältere Schicht der Leninschen Konzeption der illegalen Kaderpartei mit Körperschaftsdisziplin gewann dadurch neues Leben und die Möglichkeit, zur neuen Konzeption der monopolistischen Herrschaftspartei mit striktestem Disziplingebot für alle Mitglieder umfunktioniert zu werden, i n der nur noch den bewährten alten Führungsgruppen das Recht auf antagonistische Auseinandersetzung gewährt blieb, weil nur auf diese Weise die Aufgabe, die Ergebnisse der Revolution zu bewahren und den industriellen Aufbau durchzuführen, erfüllt werden konte. Das Buch von G. Sinowjew (1883—1936) „Vorlesungen zur Geschichte der Kommunistischen Partei (Bolschewiki)" (1923) läßt diese Entwicklung deutlich erkennen. Dadurch mußte die Rezeption neuerer sozialwissenschaftlicher Ergebnisse des Auslandes (und i n der Gesamtbewegung des Weltkommunismus der außerhalb seiner Reihen erarbeiteten Probleme) und das Niveau künftiger Diskussionen unvermeidlich Schaden leiden. Da aber der größte Teil der älteren Führer der KPdSU (und auch ein großer Teil der ausländischen kommunistischen Führer dieser Zeit) Intellektuelle waren, die ihre geistige Ausbildung dem A n schluß an den westeuropäischen Marxismus der früheren Perioden und

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ständiger Auseinandersetzung m i t den jeweils zeitgenössischen westeuropäischen Sozialwissenschaften, der Ökonomie und der Philosophie i n den Jahren verdankten, i n denen sie vor der siegreichen Revolution i n der Emigration gelebt hatten, blieb jedoch noch für einige Jahre diese langsam beginnende geistige Verengung des „Marxismus-Leninismus" des Weltkommunismus nicht allzu bedeutend. Während dieser Prozesse i n der Sowjetunion formierten sich i n Westeuropa die kommunistischen Massenparteien. Sie wurden bereit, die Internationalisierung der sich transformierenden Parteitheorie Lenins zur Gedankenwelt einer auch i n ihrem strategischen Vorgehen einheitlichen Weltpartei und die dadurch begründeten organisatorischen A n forderungen der Kommunistischen Internationale zu akzeptieren, weil sie durch die Rückschläge der deutschen und der ungarischen Revolution, durch die Niederlage der italienischen Betriebsbesetzung und des schweizerischen Generalstreiks, durch die nur begrenzten Erfolge des englischen Transportarbeiterstreiks und der Rebellion der französischen Flotte i m Schwarzen Meer überzeugt worden waren, daß ohne Übernahme des Prinzips der Organisierung (und nicht nur der ideellen Führung) der Massenaktionen durch die revolutionären Parteien keine dauerhaften Erfolge zu erzielen seien und die politische Macht als die Voraussetzung der sozialistischen Umformung der Gesellschaft nicht erobert werden könne. Deshalb nahmen sie die Umformung der SowjetDemokratie i n das System der Parteidiktatur i n der UdSSR h i n und übernahmen es als Vorbild, ohne i m einzelnen die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Entwicklungsformen des sowjetischen Staates und seiner Monopolpartei ernstlich als Problem zu empfinden. Denn die anhaltende Feindschaft der bürgerlichen Staaten gegenüber der UdSSR, die noch immer für längere Jahre deren gleichberechtigte Eingliederung in die Völkerrechtsgemeinschaft verweigerte und die m i t dem innenpolitischen Kampf der bürgerlichen Klassen gegen die Arbeiterbewegung parallel lief, trug nun dazu bei, die geistige Identifizierung des wachsenden linken Flügels der internationalen Arbeiterbewegung mit der Sowjet-Macht weiter zu verstärken. Da deren Existenz nach dem Abklingen der unmittelbar revolutionären Situation, die dem Ende des ersten Weltkrieges gefolgt war, eine der wichtigsten Bedingungen des Aufstiegs dieser Parteien war, stand für sie die Unterstützung der Sowjetunion auch nach dem Ende des Bürgerkrieges und der Interventionskriege i m Mittelpunkt ihres praktischen Verhaltens (internationale Demonstrationswelle beim russisch-polnischen Krieg, Solidaritätsaktion bei der russischen Hungersnot 1921/22 und Gründung der Internationalen Arbeiter-Hilfe, Kampf für die diplomatische Anerkennung der UdSSR). Sie mußten nach neuen Wegen ihrer praktischen Politik suchen, die die mehr oder minder spontanen, unmittelbar revolutionären Ver-

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haltensformen der kurzen ersten Periode nach der Oktoberrevolution modifizierten, also das Konzept des bloßen Rätekommunismus abstreiften, und die Voraussetzungen ihrer Legalität (als der Bedingung der Existenz von Massenparteien i n einer Konsolidierungsperiode politischer Systeme) bei Beibehaltung des dogmatischen Ziels, der Diktatur des Proletariats, garantierten. Das Konzept zu einer derartigen Politik lieferte Lenin i n „Der Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus" (1920). Sie war polemisch gegen den „linken Kommunismus" der damaligen Periode, wie er i n Deutschland durch den auch als Pädagogen bedeutenden Otto Rühle (1874—1943) (Das proletarische K i n d (2. Aufl., 1922)), i n den anderen europäischen Ländern durch Pannekoek, Gorter, Henriette Roland-Holst, Bordiga und zunächst auch noch durch Georg Lukacs verteidigt wurde, gerichtet, der nun aus dem Weltkommunismus verdrängt wurde. Damit hatten die Führer der KPdSU und die zunächst von Sinowjew präsidierte Leitung der Kommunistischen Internationale ihre Autorität abermals vergrößert, weil sie den europäischen kommunistischen Parteien eine realistische Strategie anbieten konnten. Die Tendenz zu kritischem Verhalten gegenüber der russischen Revolution und ihrer aktuellen Entwicklung mußte dadurch noch weiter zurückgedrängt werden. Allerdings wäre es falsch zu unterstellen, daß i n dieser Entwicklungsphase des Weltkommunismus die KPdSU i m Exekutiv-Komitee der K I bereits eine i n vollem Maße manipulative Diktaturgewalt i n Anspruch genommen hätte; denn noch bildeten darin die nicht-russischen Parteien die Mehrheit und war auch i n der Führung der KPdSU keine „monolithische" Diskussionen i n der Führung ausschließende Struktur vorhanden. Der Aufschwung der revolutionären antiimperialistischen Bewegung i n den kolonialen Gebieten, der als Folge des ersten Weltkrieges erst nach der Beendung der revolutionären Situation i n den alten kapitalistischen Ländern größeren Umfang annahm und von Lenin vorausgesehen worden und i n die Konzeption der Kommunistischen Internationale einbezogen worden war, führte gleichzeitig zum Ausbau der Theorie des Bündnisses m i t nichtproletarischen Klassen i n der kolonialen Revolution zugunsten ihrer nationalen Revolution, die i n der Gründung der „Liga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung" (Brüsseler Kongreß 1926) kulminierte. Dadurch wurden die Führer der kolonialen Befreiungsbewegungen m i t denjenigen des Weltkommunismus, aber auch m i t linkssozialistischen Gruppierungen, zu gemeinsamer Diskussion zusammengebracht und nicht nur die Entwicklung der Theorie und Strategie der „Einheitsfront" des Weltkommunismus m i t der reformistischen Arbeiterbewegung, sondern auch der „nationalen Front" bzw. der „Volksfront" m i t anderen Klassen (über die Arbeiterklasse hinaus) vorbereitet.

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Die Sowjetunion konnte sich i m Zeichen der NEP rasch stabilisieren; der formelle staatsrechtliche Zusammenschluß der verschiedenen Sowjetrepubliken zur UdSSR erfolgte erst jetzt. Ihr Ziel, Investitionshilfen aus den industriell entwickelten kapitalistischen Staaten zu erlangen, ließ für sie das Bestreben nach völkerrechtlicher Anerkennung i n den Vordergrund rücken. Schon deshalb mußte die Ablehnung der These des „jakobinischen" Krieges gegen kapitalistische Staaten, also des Einsatzes der proletarischen Staatsmacht und ihrer Armee zur Unterstützung revolutionärer Bewegungen i n anderen Ländern (wie sie einst von den „ L i n k e n Kommunisten" vertreten worden war), jetzt noch größere Bedeutung gewinnen. Selbstverständlich hielt die bolschewistische Partei als führende Kraft der Kommunistischen Internationale an der Hoffnung auf die Weltrevolution, auf den Sieg der kommunistischen Parteien i n den industriell entwickelten kapitalistischen Staaten und der kolonialen Revolution fest. Aber zwischen den Aufgaben des sowjetischen Staates und denjenigen der Kommunistischen Internationale mußte jetzt auch i n der Theorie des Weltkommunismus klar differenziert werden. Auch i n der UdSSR selbst war gleichzeitig das Gewicht juristischer Probleme nicht nur aus Gründen der Stabilisierung der Staatsmacht, sondern auch deshalb erheblich gewachsen, weil infolge der NEP marktwirtschaftliche Formen wieder große Bedeutung erlangt haben. Der Marxismus hatte sich bis dahin — wenn man von der Erörterung der politischen Justiz und der Problematik der Klassengrundlagen der Rechtsordnung absieht (z. B. Ernst Fraenkel (geb. 1898), Soziologie der Klassenjustiz (1929)) — nur i m geringen Maße mit Fragen der Rechtswissenschaft beschäftigt. Der Austromarxist K a r l Renner (1870—1950) war mit seinem Buch „Die Institutionen des Privatrechts und ihre soziale Funktion" (1. Aufl. 1904, 2. Aufl. 1929) allein geblieben. Nun wurde durch eine breite und kontroverse Diskussion über die Funktion und Methodik der Rechtswissenschaft ein neuer Bereich für die Anwendung marxistischer Theoreme erschlossen. Korowin untersuchte i n „Das Völkerrecht der Übergangszeit" (1924, deutsch 1929) das Problem der j u r i stischen Konsequenzen der Koexistenz kapitalistischer und sozialistischer Staaten i n der Völkerrechtsordnung und kam zu dem Ergebnis, daß zwischen sozialistischen und kapitalistischen Völkerrechtssubjekten bindende vertragliche Beziehungen, aber auch die gemeinsame Anerkennung eines Minimums allgemeiner Rechtssätze möglich und erforderlich seien, wenn auch zwischen sozialistischen Völkerrechtssubjekten eine besondere engere Völkerrechtsgemeinschaft bestehen werde. Den stärker am juristischen Positivismus orientierten Autoren M. A. Reiss ner (Der Staat (1918)) und P. J. Stutschka (Einführung i n die Theorie des Zivilrechts (1927); Die revolutionäre Rolle des Rechts und des Staa-

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tes (1924)) trat E. Paschukanis (Allgemeine Rechtslehre und Marxismus (1925, deutsch 1929)) m i t der These gegenüber, die kapitalistische Produktionsweise habe neben dem Warenfetischismus und seinen Gesetzen einen Rechtsfetischismus mit einem eigenen (aber ebenso objektiven) System juristischer Gesetzlichkeiten erzeugt, der sich i n der Übergangsgesellschaft zum Sozialismus parallel m i t den objektiven ökonomischen Gesetzlichkeiten der Warenproduktion aufheben werde. Trotz seiner K r i t i k an Korowins Schule hielt aber auch er an der Auffasssung fest, daß für eine längere Periode sozialistische und kapitalistische Staaten i n einer auch ökonomisch interdependenten Welt, wenn auch i n einer antagonistischen Weise, koexistieren. So kam also auch die sozialistische Rechtstheorie i n allen ihren Varianten zu dem gleichen Ergebnis wie die praktische Außenpolitik der UdSSR, daß nämlich die sozialistischen Staaten (nach ihrer Vereinigung zur UdSSR genauer der damals einzig existente sozialistische Staat) an der Vermeidung gewaltsamer Zusammenstöße mit ihrer Außenwelt und also an der strikten Verteidigung des Prinzips des Verbots der gewaltsamen Intervention i n die inneren Auseinandersetzungen anderer Staaten interessiert seien, solange und so weit sie nicht durch fremden Angriff i n einen Krieg verwickelt sind. Allerdings wurde von Paschukanis die Existenz gemeinsamer Rechtsbegriffe zwischen den koexistierenden sozialen Systemen weitgehend bezweifelt. Die eindeutige Unterscheidung zwischen der auf friedlicher Koexistenz m i t den gleichzeitig bestehenden bürgerlichen Staaten gerichteten Realpolitik des Sowjetstaates auf der einen Seite, und der auf Förderung und Organisierung der Weltrevolution (als der Kombination sozialistischer Revolutionen i n den industrie-kapitalistisch organisierten Staaten und der nationalen Revolutionen i n Kolonialgebieten und halbkolonialen Ländern) gerichteten Politik der kommunistischen Parteien einschließlich der KPdSU auf der anderen Seite, wurde damit zum festen Dogma des Weltkommunismus, das die Pflicht der Unterstützung der UdSSR durch die kommunistischen Parteien i n den bürgerlichen Staaten einschloß. I m übrigen blieb jedoch der Rahmen der theoretischen Diskussion und also auch wissenschaftlicher Kontroversen und damit der potentielle theoretische Ertrag von Debatten innerhalb des sowjetischen und des Weltkommunismus noch relativ breit. N. Krupskaja (1869—1939), die Lebensgefährtin Lenins, (Gesammelte Schriften zur sozialistischen Pädagogik (1967)) und A. S. Makarenko (1888—1939) — (Der Weg ins Leben (russ. 1940, dtsch. 1949)) — versuchten, auf der Grundlage des Marxismus eine Erziehungslehre zu entwickeln. Bucharin und E. A. Preobrashenski (1886—1937) hatten gemeinsam i m „ A B C des Kommunismus" (1919) das einführende Lehrbuch i n seine Doktrinen geschrieben. Sowohl die sowjetischen führenden Theoretiker des Marxismus

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als auch diejenigen der anderen großen kommunistischen Parteien systematisierten und differenzierten i m übrigen die Denkansätze, die i m Marxismus der 2. Internationale vor dem ersten Weltkrieg entwickelt worden waren, ohne dessen tendenziell deterministisch-mechanistischen Deutung der Lehre von Marx und Engels voll zu überwinden, wie sie sowohl für Plechanow als auch für Kautsky charakteristisch gewesen war. Das w i r d sowohl durch Bucharins „Theorie des historischen Materialismus" (1922) als auch durch August Thalheimers „Einführung i n den dialektischen Materialismus" (1928) belegt. Auch die philosophischen Arbeiten A. M. Deborins (z. B. — gemeinsam mit Thalheimer — „Spinozas Stellung i n der Vorgeschichte des dialektischen Materialismus" (1928)) und W. M. Adoratskis (Vom Staat (1923)) zeigen trotz ihres erheblichen wissenschaftlichen Wertes ähnliche Schranken. Die Rezeption der Hegeischen Dialektik i n der Diskussion über die Methodologie des Marxismus führte nur bei Außenseitern außerhalb der Sowjetunion zu neuen Denkansätzen, die auf die Dogmatik des Weltkommunismus i m ganzen keinen erheblichen Einfluß ausgeübt haben, gleichgültig, ob sie wie A. Gramcsi und E. Lukacs auch i n der folgenden Periode nicht als „Verräter" ausgeschlossen oder ob sie wie K a r l Korsch aus dem organisierten Weltkommunismus verdrängt wurden. Die Beiträge des Weltkommunismus zur Erörterung ökonomischer Probleme behielten immer noch erhebliches Niveau. Eugen Varga (Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur (1921); Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft (1922); Grundfragen der Ökonomik und Politik des Imperialismus (1955)) prognostizierte z. B. durchaus zutreffend die Weltwirtschaftskrise von 1929. Bucharin („Die politische Ökonomie des Rentners" (1926)) analysierte mit den Mitteln marxistischer Ideologiekritik und Soziologie die Grenznutzen-Lehre, deren Anhänger damals die nationalökonomischen Lehrstühle Mitteleuropas zu erobern i m Begriff waren. So wurde also auch die w i r t schaftswissenschaftliche Auseinandersetzung des Weltkommunismus m i t den theoretischen Arbeiten der bürgerlichen Wissenschaft noch immer sachlich und differenziert geführt. Trotz der politischen Verhärtung der Auseinandersetzung zwischen Weltkommunismus und Sozialistischer Internationale sollten i n dieser Periode die kommunistischen Sozialwissenschaftler den Kontakt mit marxistischen Theoretikern, die nicht Kommunisten waren, auch nach dem Willen der Partei- und Staatsführung der UdSSR nicht verlieren. Der Leiter des Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institutes, Rjasanow, hatte die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) zunächst i n enger Zusammenarbeit mit dem austromarxistischen Historiker der Arbeiterbewegung, K a r l Grünberg , der seit 1924 Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung war, vorbereitet. Durch die Textermittlung und Publi-

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kation der Frühschriften von K a r l Marx haben sie der sozialwissenschaftlichen Forschung und dem Marxismus neue Impuls geben können. Inzwischen hatten jedoch die Krankheit und der Tod Lenins (21. Januar 1924), dessen Autorität i n der gesamten kommunistischen Bewegung wegen der Kombination seiner Rollen als Volkstribun, als strategischer und taktischer Führer und als theoretischer Denker unbestritten gewesen war, so daß bis dahin die Leitung des Weltkommunismus nicht oder doch nur begrenzt auf institutionelle Manipulation angewiesen war, ein Vakuum hinterlassen, das durch Konkurrenzkämpfe u m die Führung der Sowjetunion und der Internationale ausgefüllt wurde. I n der gleichen Zeit war die Hoffnung verschwunden, daß i n den nächsten Jahren durch den Sieg der sozialistischen Revolution die Sowjetunion i n einem industriell entwickelten Lande aus ihrer Isolierund befreit würde. Die Notwendigkeit rascher Industrialisierung nur aus eigener K r a f t blieb also für eine ganze Epoche bestehen: Die ursprüngliche Akkumulation mußte für diese Zeit die zentrale Aufgabe der UdSSR bleiben, ihre Bevölkerung noch lange auf erhebliche Steigerung ihres Konsums verzichten. Denn die Niederlage der deutschen Arbeiter i m Oktober 1923 und die — relative — Stabilisierung des Weltkapitalismus nach dem Dawes-Plan hatten die revolutionäre Situation i n Europa deutlich für einen langen Zeitabschnitt beendet. Die Politik der NEP i n der UdSSR, die auf der Hoffnung beruht hatte, sie werde nur vorübergehend notwendig sein, war daher an ihre Schranken gelangt. Einerseits war das industrielle Produktionsniveau Rußlands, wie es i n der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bestanden hatte, zwar fast wieder erreicht, andererseits hatte jedoch der Aufstieg der „Kulaken", der reichen Bauern, und die beginnende wirtschaftliche Unterwerfung der armen Bauern unter diese Klasse die i n dieser Situation unvermeidlichen Widersprüche der Agrarwirtschaft entfaltet, die immer noch die große Majorität der sowjetischen Bevölkerung beschäftigte. Da gleichzeitig die Gegensätze zwischen den großen industriellen kapitalistischen Nationen — auch während der Hochkonjunktur von 1926/27 — wieder wuchsen, die chinesische Revolution, i n der die Führung der Kuomintang zunächst mit der UdSSR und der jungen kommunistischen Partei Chinas verbunden war, zunächst Erfolg hatte, wurde trotz mancher Rückschläge die internationale Stellung der UdSSR gefestigt, so daß die Sicherung ihrer inneren Struktur durch neue Formen der Wirtschaftspolitik und der Planung möglich, aber ebenso notwendig wurde. Die legale Tätigkeit der kommunistischen Parteien i n den westeuropäischen Staaten schien ebenso für einige Zeit gesichert, solange keine neue Krise dahin trieb, die Staatsform der parlamentarischen Demokratie nach italienischem Vorbild zu sprengen.

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Wann würden sich jedoch unter dem Druck einer neuen ökonomischen Krise abermals die Gegensätze zur Kriegsgefahr steigern? Würde sich nicht i n einer neuen ökonomischen Krise den bürgerlichen Staaten der Ausweg des kollektiven Krieges gegen den Staat des Sozialismus als die leichteste Lösung anbieten? Würde nicht das Beispiel des italienischen Faschismus — der 1922 gesiegt hatte, um seit 1926 zum System des faschistischen Einparteien-Staates überzuleiten — i n einer neuen Wirtschaftskrise auch andere kapitalistische Staaten dazu treiben, durch faschistische (anstelle der früheren parlamentarisch-rechtsstaatlichen) Organisation der Staatsgewalt das einzige verläßliche Gegengewicht gegen die Gefahr neuer Interventionskriege gegen die UdSSR, die legalen kommunistischen Massenparteien, auszuschalten? Ein Vorspiel für diese Gefahren lieferte bereits der Gang der chinesischen Revolution: Das Bündnis m i t der Bourgeoisie und der Kuomintang, dessen Theorie der indische Kommunist M. N. Roy (Die chinesische Revolution, 1927) geliefert, dessen Praxis Borodin gesteuert hatte, zerbrach 1927 an den Klassengegensätzen dieses Landes. Die dortigen Kommunisten begannen ihren eigenen Weg. Sowjetunion und Kommunistische Internationale versuchten i n widerspruchsvollem H i n und Her an einer außenpolitischen Gefährdung der UdSSR vorbeizusteuern. A n die i n der kapitalistischen Welt verbreitete Illusion der Ewigkeit der Konjunktur konnten die Kommunisten nicht glauben; noch war die Ökonomie der kapitalistischen Welt wegen der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit der UdSSR allein durch deren Gesetze, allein durch die immanenten Entwicklungstendenzen des monopolistischen (bzw. oligopolistischen) Spätkapitalismus, noch nicht durch dessen ökonomischsoziale Konkurrenz m i t einem wirtschaftlich fortgeschrittenen und politisch zur Weltmacht aufgestiegenen sozialistischen Staat u m die Gunst der eigenen Arbeiterbevölkerung und der „Entwicklungsländer" bestimmt. Die soziologische Analyse des Faschismus war seit 1923 durch einige Aufsätze August Thalheimers i n der „Internationale", der theoretischen Zeitschrift der KPD, dann i n „Gegen den Strom", der Zeitschrift der deutschen „rechten" Kommunisten) i n Analogie zu den Untersuchungen von K a r l Marx über den Aufstieg des dritten Bonaparte in Frankreich eingeleitet worden und wurde von i h m i n gleicher Weise durch Untersuchungen über den Aufstieg und die Chancen der NSDAP in Deutschland fortgesetzt. Leo Trotzki, der vorher aus der UdSSR verdrängt wurde, weil er i m Zeichen seiner Lehre von der „permanenten Revolution" den Aufbau des Sozialismus i n nur einem Lande für unmöglich hielt, hatte i n seinen Arbeiten zur spanischen (1931) und zur deutschen Frage (1932) dieses Problem des Faschismus m i t ähnlichen differenzierten Methoden behandelt. Die Furcht vor dieser Entwicklung, die sich i n der 1928/29 tatsächlich beginnenden Weltwirtschaftskrise

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i n Mitteleuropa durchgesetzt hat, hat dann aber die offiziellen Theoretiker des Weltkommunismus (im Gegensatz zu diesen „Häretikern", die bald aus der Kommunistischen Internationale verdrängt wurden) zur undifferenzierten Identifikation aller reaktionären, auf Zurückdrängung der Demokratie und Preisgabe friedlicher außenpolitischer Verhaltensformen der kapitalistischen Staaten gerichteten Bestrebungen unter dem Etikett des Faschismus i m Zeichen der These geführt, daß Faschismus die „unmittelbare politische Herrschaft des reaktionärsten und gewalttätigsten Flügels des Monopolkapitals" sei. Dadurch wurde zunächst (seit dem wirklichen Beginn der Weltwirtschaftskrise) die vereinfachende Übertragung des Terminus Faschismus auf alle autoritären oder außenpolitisch aggressiven Herrschaftssysteme, dann auf alle sich ihnen anpassenden und sie objektiv unterstützenden politischen Gruppierungen auch i m reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung möglich, auch wenn sie subjektiv ganz andere Ziele hatten. So erschien den offiziellen Theoretikern des Weltkommunismus die Sozialdemokratie von 1929 bis etwa 1934/35 als „sozialfaschistisch". I n der Praxis wurde damit das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war, erreicht: Jede Bündnispolitik des Weltkommunismus m i t anderen Kräften, die den Faschismus bekämpfen wollten, wurde unmöglich, der Sieg der NSDAP i n Deutschland unvermeidlich. I n der Sowjetunion selbst konnten i n dieser Lage, i n der baldige militärische Konflikte m i t kapitalistischen Großmächten befürchtet werden mußten, größere Industrialisierungshilfen aus dem Ausland nicht mehr erwartet werden. Die Klassendifferenzierung i n der A g r a r w i r t schaft (als zunächst unvermeidbare Konsequenz der individuellen A n eignung des Großgrundbesitzes durch die Bauern i n der Oktober-Revolution) wurde zum bedrohlichen Problem. Die Wendung zu einer langfristig geplanten Industrialisierungspolitik auf der Basis sozialistischer Eigentumsverhältnisse war damit zur entscheidenden Frage geworden. Die Auseinandersetzung u m die Fünf-Jahres-Pläne und die Umgestaltung der Agrarwirtschaft kombinierte sich nun m i t den Fraktionskämpfen u m Führung und Struktur der Partei, die die Diktatur ausübte. Das Buch Bucharins „Ökonomik der Transformationsperiode" (1922) hatte das Konzept derjenigen „rechten" Kommunisten theoretisch bestimmt, die i n unmittelbarer Anknüpfung an die i n der NEP zu Tage getretenen wirtschaftlichen Gesetzlichkeiten ohne voluntaristischen Einsatz unmittelbarer politischer Gewalt die Probleme lösen wollten. Für die „ L i n k e " innerhalb der KPdSU, die diese Gesetzlichkeiten bei sorgfältig abgestimmter Betonung der Erweiterung der Produktivgüter- und Konsumgüter-Produktion und der Belieferung nur der Teile der A g r a r w i r t schaft, die bereit waren, zur Kollektivierung überzugehen, überwinden wollte, und die vor allen (wegen des Festhaltens an der These, daß der

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endgültige Sieg des Sozialismus i n nur einem, zudem noch industriell zurückgebliebenem Lande nicht denkbar sei, die internationale Revolution also permanent bleiben müsse, die vor allem Leo Trotzki vertrat) die Lebenshaltung der Industriearbeiter auch um der politischen W i r kung auf die Arbeiter der kapitalistischen Länder während der bevorstehenden bzw. beginnenden Weltwirtschaftskrise w i l l e n rasch heben wollte, wurden die wirtschaftspolitischen Vorstellungen am deutlichsten von Preobrashenski (The New Economics (1965)) entwickelt. Das Zentrum des Partei-Apparates begann sich dagegen immer eindeutiger u m Joseph Stalin zu sammeln, der i n den „Problemen des Leninismus" (1. Aufl., 1924, noch ohne die These vom „Sozialismus i n einem Lande", 2. Aufl. 1925, die diese These schon enthält) den „Marxismus" zum „Marxismus-Leninismus" m i t dem Anspruch dogmatischer Unfehlbarkeit seines Systems stilisierte. Dies Zentrum verwandelte damit i n zunehmendem Maße seine Theorie i n eine Lehre von der Manipulation der Gesellschaft durch eine Folge von taktischen und pragmatischen Dezisionen, denen sich die Theorie jeweils anzupassen hatte.

I I . D e r Stalinismus

Das anfängliche Bündnis Stalins mit der nicht-trotzkistischen „ L i n ken" um Sinowjew und Kamenew war bald durch eine Allianz Stalins und der bürokratischen Mittelgruppe m i t der „Rechten" u m Bucharin und den Gewerkschaftsführer Tomski ersetzt worden; zur Durchführung der zweiten Agrarrevolution, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und des forcierten industriellen Aufbaus mußte auch diese Partnerschaft dann zugunsten der Alleinherrschaft Stalins abgestreift werden. Damit war das Ende der Periode gekommen, i n der i m Weltkommunismus politische und theoretische Debatten noch öffentlich ausgetragen und geführt werden konnten. Die Herrschaft Stalins wurde möglich, weil der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg und Sieg des Faschismus i n Mitteleuropa mit der Wendung zu geplanter rascher Industrialisierung unter einseitiger Betonung der Schwerindustrie und der Erzeugung von Produktionsgütern unter extremer Vernachlässigung der Konsumgüter und bei Zwangskollektivierung der Agrarwirtschaft i n der UdSSR zeitlich zusammenfielen. Diese Wendung mußte großen Teilen des Parteiapparates der KPdSU deshalb als notwendig erscheinen, weil der drohende (und dann tatsächlich erfolgte) Sieg der NSDAP i n Deutschland und gleichzeitig der Erfolg zunächst des klerikalen Austrofaschismus, der die Grundlagen des Austromarxismus liquidierte, i n Österreich, die Gefahr eines baldigen (von Hitler stets unverhüllt angekündigten) Angriffskrieges gegen Rußland extrem steigern mußte, so daß der rasche Aufbau der Grundlagen einer eigenen 35 Festgabe für Gert von Eynern

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Rüstungsindustrie zur dringlichsten Tagesaufgabe, aber gleichzeitig die Vernichtung der ökonomischen Basis einer sozialen Klasse, die u m ihrer wirtschaftlichen Interessen w i l l e n der potentielle Bündnispartner einer antikommunistischen ausländischen Intervention war, nämlich der Kulaken (und teilweise auch der Mittelbauern, die hoffen konnten, zu Kulaken aufzusteigen), zur Bedingung der Verteidigungsfähigkeit zu werden schien. Übrigens hat das Buch des führenden Austromarxisten Otto Bauer (1882—1938), „Zwischen zwei Weltkriegen" (1936), die letzte große theoretische Leistung dieser Schule marxistischen Denkens, diese Lage überzeugend analysiert. Diese Veränderung i n der UdSSR konnte nur durch extreme Verwendung politischer Gewalt erzwungen werden, weil sie den unmittelbaren Tagesinteressen aller sozialen Gruppen des sowjetischen Gebiets zunächst widersprach, so sehr auch manche sozialen Leistungen des Systems, vor allem die Demokratisierung und Verbreiterung des Volksbildungswesens und des Wissenschaftsbetriebes, aufrechterhalten und weitergetrieben wurden. Die Lebenshaltung der Industriearbeiter wurde nicht erweitert (und vorübergehend gemindert), weil die Konsumgüterindustrien zunächst nicht oder doch nur sehr unzulänglich entfaltet wurden und weil infolge der zweiten Agrarrevolution, der Zwangskollektivierung i n äußerst gewaltsamer Form, die i n der ersten Entwicklungsphase den Güterausstoß der Landwirtschaft erheblich mindern mußte, die Lebensmittelversorgung gefährdet wurde. Zudem strömten i n die gewerbliche Erzeugung große Bevölkerungsteile ein, die durch die Zwangskollektivierung ihre frühere Lebensgrundlage verloren hatten, während andere Gruppen durch Zwangsarbeitslager aufgefangen wurden. Die zweite Agrarrevolution brachte aber nicht nur die Kulaken, sondern unvermeidlich die selbständigen Mittelbauern und sogar die Majorität der Dorfarmut i n Opposition. So war der Parteiapparat und der durch sie manipulierte Staatsapparat für seine Maßnahmen nur auf sich selbst angewiesen. Er hatte manipulatorische Technik schon vorher i n den innerparteilichen Auseinandersetzungen lernen müssen und sie i n der Kontrolle der Partei über die noch immer auf das Rätesystem formell gestützten Staatsorgane ständig betätigt. Aber er mußte seine Manipulation jetzt potenzieren, u m der Gesellschaft Herr zu bleiben (bzw. zu werden) und sie nun zum Terror nicht mehr allein gegen die Minorität der i n der Revolution geschlagenen Klassen, sondern vorübergehend gegen die Majorität der Bevölkerung steigern. Deshalb konnte er innerparteiliche Diskussionen nicht mehr dulden, unter keinen Umständen der Öffentlichkeit zugängliche Diskussionen, i n der theoretische Probleme umstritten waren. Denn die innergesellschaftlichen Gegensätze haben i n jeder Auseinandersetzung i n der Partei Ausdruck finden können. Der innere Widerspruch der Situation, i n der ein

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auf eine sozialistische Gesellschaft tendierender Staat, der also notwendig soziale Demokratie bezwecken muß, die Majorität des Volkes, nicht nur die gestürzten Oberklassen, terrorisiert und ihre Willensbildung völlig ausschaltet, wäre i n jeder öffentlichen Diskussion i n der KPdSU unvermeidlich offenbar geworden. So ist i n der kurzen Periode von 1926/27, als i n der KPdSU noch politische Widersprüche i n ihrer Führung trotz des seit dem 10. Parteitage bestehenden Verbots der (organisatorischen) Fraktionsbildung i n publizierter Diskussion m i t größerer Offenheit ausgetragen werden konnten, als i n irgend einer politischen Partei der großen westlichen Demokratien der Gegenwart, bis 1933/34 die innerparteiliche Demokratie i n der KPdSU völlig vernichtet wurden. Alle Gruppen, die theoretisch selbständig denken wollten, mußten als Häretiker gegenüber dem allein richtigen, durch Stalin verkündeten Dogma aus dem Parteileben verschwinden und aus der Partei ausgeschlossen werden. Die Leninsche Doktrin des „Demokratischen Zentralismus" verwandelte sich i n die Stalinsche Lehre vom „monolithischen Charakter der Partei". U m die Autorität der Führung zu erhalten, die i n dieser Zeit der extrem gewaltsamen Manipulierung der Gesellschaft durch die Partei zur conditio sine qua non der Existenz des Parteiapparates und aller seiner Teile geworden war, wurde aber die Identität beider Thesen behauptet. Der manipulatorisch-taktische Charakter aller Ansätze theoretischen Denkens i n dieser Phase der Geschichte der KPdSU trat deshalb immer deutlicher zutage. Diese Lehre vom angeblich „monolithischen" Charakter des Kommunismus wurde gleichzeitig zur dogmatischen Doktrin der gesamten Kommunistischen Internationale. Deren große westeuropäischen Parteien waren für ihr Bewußtsein während der Weltwirtschaftskrise und der Periode des Aufstiegs des Faschismus auf das Gegenbild des Aufstiegs der Sowjetunion wegen der offensichtlich die Lebenshaltung der A r beiter i n allen kapitalistischen Ländern bedrohenden Lage des Kapitalismus angewiesen, u m dem faschistischem Glauben an irrationalen Dezisionismus, der die Mittelschichten i n ihrem Bereich zu erobern und die Arbeitslosen zu beeinflussen begann, einen Damm entgegenstellen zu können. So erlagen sie der Versuchung, die alte Lehre von der UdSSR als dem Land der siegreichen Revolution und der Möglichkeiten einer sozialistischen Zukunft, das verteidigt und gegen Gegenrevolution und Intervention geschützt werden müsse, zu einem irrationalen Mythos zu überhöhen, der die (schlechte) Gegenwart der Sowjetunion m i t diesen Chancen ihrer Zukunft gleichsetzte. Deshalb leugneten sie — i n Übereinstimmung m i t der Führung der KPdSU — die Widersprüche der sowjetischen Gegenwart und die Leiden ihrer Bevölkerung. Je wirkungsloser (trotz seit Beginn der Krise wachsender Wählerzahl) ihre politische Praxis i m eigenen Lande jeweils war, desto stärker 35*

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institutionalisierte sich dieser Glaube. Deshalb erschien es den westeuropäischen Parteien der Internationale geboten, auch jede Verketzerung von „Abweichlern" und Häretikern i n der KPdSU auf ihre eigene innerparteiliche Situation zu übertragen, nachdem sie einmal begonnen hatten, unkritische Glorifizierung jeder jeweils aktuellen Realität i n der UdSSR zu ihrer Sache zu machen. Damit mußte sich eine weitere Veränderung des Denkstils zunächst i n der UdSSR, dann auch i m gesamten Weltkommunismus, der sich bald als bloße Verlängerung der (jeweiligen) Thesen der KPdSU i n ein anderes Land empfand, verbinden. K a r l Marx und Friedrich Engels hatten einst i n ihren ideologiekritischen Arbeiten die Auffassung vertreten, daß i n einer klassengespaltenen Gesellschaft auch alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen (einschließlich der sogenannten Geisteswissenschaften, der Jurisprudenz und der Ökonomie) durch die Vorstellungsweisen der jeweils miteinander kämpfenden Klassen mitbestimmt sind und i n deren Auseinandersetzungen, auch wenn ihre Vertreter das konkret nicht wissen und wollen, Partei ergreifen. Die maximale Annäherung an die objektive Wahrheit war der Wissenschaft nach ihrer Meinung i m Zeitalter des industriellen Kapitalismus nur dann möglich, wenn sie bewußt die Sache der Arbeiterklasse (als der zukunftsträchtigen unterdrückten Klasse) zu der ihren machte. Lenin hatte diese These als Lehre von der „Parteilichkeit der Wissenschaft" formuliert, die bald i n die Dogmatik des Weltkommunismus einbezogen wurde. Georg Lukacs (geb. 1885) hatte von dieser Überlegung aus die Auffassung entwickelt, daß die Partei (aber keineswegs i m organisatorischen Sinne verstanden, sondern als geistige Repräsentanz dieser kämpfenden Arbeiterklasse insgesamt) niemals irren könne, weil ihre Wissenschaft der Objektivität am nächsten komme (Geschichte und Klassenbewußtsein (1923)). Nun — i n dieser extrem manipulatorischen Phase der KPdSU — wurde diese These dahin dogmatisiert, daß die konkrete Organisation der „marxistisch-leninistischen Partei des Stalinschen Zentralkomitees" immer Recht habe, und daß also die Wissenschaft i m Sinne der jeweiligen Entscheidungen dieses Stalinschen Z e n t r a l k o m i tees parteilich zu sein habe. Damit wurden Wissenschaft und marxistisches Denken den wunderlichsten zufälligen Entscheidungen unterworfen und solche Grotesken wie das Monopol der Auffassungen Lysenkos i n der sowjetischen Biologie möglich. Andererseits wurden nach den Vorstellungen dieser Dogmatiker des Weltkommunismus alle Wissenschaftler und alle Theoretiker, die jeweils andere Auffassungen vertraten als die Partei, nicht mehr nur des Irrtums, sondern der bewußten Parteilichkeit gegen die Partei der Wahrheit, die des Weltkommunismus, geziehen, zumal, wenn sie — als (angeblich nur) „frühere" Kommunisten — aus der Geschichte ihrer eigenen Denkprozesse u m die

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Lehre von der Parteilichkeit der Wissenschaft wissen mußten. So entstand zunächst die Notwendigkeit der „Selbstkritiken", i n denen immer wieder die Anpassung an die jeweils erforderliche, rasch wechselnde taktisch-manipulatorische „Parteilinie" nachträglich erzwungen wurde. M i t der Steigerung des Manipulationsgrades durch die Spitzen der KPdSU aber mußte für deren Denken jeder politische oder wissenschaftliche „Abweichler" als „bewußter Agent", zunächst allgemein des Klassengegners, dann — nach dem Sieg des Faschismus i n Deutschland, der die akute Gefahr des Krieges (und damit der unmittelbaren Bedrohung des industriellen Auf baus i n der UdSSR) immer näher rückte — des Faschismus erscheinen. Dies um so mehr, als die manipulierende Parteiführung verständlicherweise dazu neigte, bei ihren Gegnern ähnlichen manipulierenden Umgang m i t Politik, Wissenschaft und Wahrheit zu vermuten, wie sie i h n selbst täglich übte. Es ist ebenso schwierig wie müßig zu überprüfen, und es ist soziologisch und historisch unwichtig zu wissen, ob Stalin und seine damaligen Gehilfen die unsinnigen Beschuldigungen, m i t denen sie i n den „Säuberungsprozessen" zwischen 1936 und 1938 die physische Vernichtung fast aller Führer und Theoretiker des Weltkommunismus, die dessen frühere Entwicklungsphasen bestimmt haben, begründeten, selbst geglaubt haben oder nicht. Aber die Vergiftung des intellektuellen Klimas innerhalb der Organisationswelt der KPdSU und des Weltkommunismus, die dadurch entstanden war, schloß für lange Jahre aus, daß größere theoretische Leistungen entstehen konnten. Auch die Darstellung der Geschichte der eigenen Partei mußte dieser Wandlung angepaßt werden, wie sich i n den verschiedenen Auflagen der unter Stalins Redaktion entstandenen „Geschichte der KPdSU" (seit 1928), dem für alle Parteien der Internationale verbindlichen Lehrbuch der Geschichte, der Strategie und Taktik des Weltkommunismus, am eindeutigsten zeigte. Es gehörte nun zum „theoretischen" Konzept, historische Tatsachen den jeweiligen taktischen Bedürfnissen entsprechend beliebig zu manipulieren und zu verfälschen, eine Gruppe früherer kommunistischer Führer nach der andern, eine frühere Theorie nach der andern durch Verschweigen aus dem Gedächtnis auszulöschen oder durch bloße Erfindung neuer angeblicher Traditionen zu ersetzen. Der stalinistische „Marxismus-Leninismus" mußte sich i n dieser Lage darauf besinnen, die Anknüpfung an das Denken von Marx, Engels und Lenin des methodischen Gehalts fast völlig zu berauben und i n eklektisch-zufällige Verwendung von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten umwandeln, die an bestimmte Perioden der Scholastik und talmudischer Exegesen erinnert. I n der Sowjetunion wurde gleichwohl (teils —hinsichtlich der Straffheit der Machtausübung — auf Grund, teils — hinsichtlich der Beschränkung des theoretischen Horizonts — trotz dieser Methoden) der

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„Sprung nach vorn" vollzogen, die Umwandlung i n ein hochindustrialisiertes Land und nach dem Rückgang i n der ersten Periode der Kollektivierung eine erhebliche Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft erreicht. Zur Herstellung der vollen wehrwirtschaftlichen Unabhängigkeit und zur Sicherung des weiteren Aufschwungs der industriellen Produktion bedurfte i n dieser Lage die UdSSR einer Außenpolitik, die die Gegensätze zwischen den faschistisch und den bürgerlich-demokratisch organisierten kapitalistischen Staaten systematisch ausnützte. Sie mußte, besonders als auch i n westeuropäischen Ländern faschistische Bewegungen aufstiegen, die nach den deutschen Erfahrungen nur i n dieser Weise abgewehrt werden konnten, deshalb nunmehr die Parteien der Kommunistischen Internationale dahin drängen, die Theorie des „Sozialfaschismus" wieder preisgeben, die jede Differenzierung zwischen den aller Wahrscheinlichkeit nach auf den baldigen Krieg gegen die UdSSR drängenden faschistischen Regimen und den anderen Herrschaftsformen des bürgerlichen Staates ebenso unmöglich gemacht hatte, wie gemeinsame Aktionen der Parteien der Kommunistischen und der Sozialistischen Internationale. So wurde die einst von Lenin i n seiner Radikalismus-Broschüre entwickelte und dann von allen Theoretikern der zweiten Entwicklungsstufe des Weltkommunismus übernommene Theorie der Einheitsfront-Strategie mit der reformistischen Arbeiterbewegung wieder aufgegriffen, mit der älteren Leninschen Theorie des Bündnisses m i t anderen progressiven Klassen verschmolzen und zur „ V o l k s f r o n t Theorie verbunden, die i m auch i m sozialtheoretisch interessanten Referat des Bulgaren G. Dimitroff (1882—1949) auf dem V I I . Weltkongreß der K O M I N T E R N (1935) für alle Kommunistischen Parteien verbindlich gemacht wurde. Sie schloß die faktische (noch nicht die theoretische) Preisgabe der Form der Theorie der Diktatur des Proletariats ein, die am A n fang der theoretischen Entwicklung des Weltkommunismus gestanden hatte; sie wollte i m Ergebnis die kommunistischen Parteien der bürgerlichen Staaten nicht nur zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen den Faschismus, sondern vorläufig auch zum Verzicht auf jeden radikalen Versuch der Verwendung der Möglichkeiten der parlamentarischen Demokratie zur sofortigen Umgestaltung der kapitalistischen i n eine sozialistische Gesellschaft verpflichten. Das erschien i n dieser Periode des Hochstalinismus, der gleichzeitig i n Rußland selbst den Terror und die fast vollständige Unterdrückung der Denkfreiheit innerhalb der Reihen der KPdSU zum Inhalt hatte, deshalb als notwendig, weil die UdSSR eine Periode des Bündnisses m i t den kapitalistischen Staaten Westeuropas für die Voraussetzung dafür hielt, daß sie dank dessen Druckes auf die faschistischen Staaten während einer längeren Zeit die friedliche, nicht durch einen Angriffskrieg des Dritten Reiches gestörte

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Entwicklung der eigenen Industrialisierung fortsetzen könne. Deshalb schien ihr die Stärkung, nicht aber die Schwächung der westlichen demokratisch organisierten kapitalistischen Staaten durch innere soziale Kämpfe, so lange nur der Faschismus abgewendet werden könne, als dringlichste nächste Aufgabe, bis sie ihren „Sprung nach vorn" vollzogen und konsolidiert haben würde. Der innere Widerspruch der Situation spiegelte sich darin, daß i n der sogenannten Stalinschen Verfassung der UdSSR (1936) die Sowjets der äußeren Form nach i n parlamentarische Organe umgewandelt wurden, während andererseits das Parteimonopol der KPdSU institutionalisiert wurde, jedoch i n großem Umfang scheinbar rechtsstaatliche Verfassungsgarantien geboten w u r den. Übrigens hatten an der Vorbereitung dieser Verfassung noch eine Anzahl der Theoretiker derjenigen Gruppierungen i n der KPdSU teilgenommen, die Gegner der Politik Stalins waren und die Normen der durch sie formulierten Verfassung nicht nur als bloßen Schein zur Verhüllung manipulierten Terrors ansehen wollten, sondern durchaus ernst nahmen. I n der Realität mußte aber nunmehr der Gegensatz zwischen der sozialen Wirklichkeit und der Verfassung, die i n großen Teilen die Sprache demokratischen Verfassungsdenkens verwendete, die fast dezisionistische Funktionalisierung eines Denkens, das sich ständig i m offenbaren Widerspruch zwischen Wortgebrauch und Inhalt vollzog, noch erheblich steigern. Für den juristischen Ausdruck dieser Situation sind die Schriften von A. Wyschinski (1883—1954) (z. B. Sowjetische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie (1953)) charakteristisch. Da aber die anderen Parteien der Kommunistischen Internationale i n diesen Jahren der extremen Steigerung der außenpolitischen Gegensätze, der noch nicht überwundenen ökonomischen Krise des Weltkapitalismus und der Bedrohung durch den Faschismus, nicht nur auf die reale Macht der UdSSR, sondern auch auf ihre Idealisierung weiter angewiesen blieben, wurden diese Denkformen auch auf sie übertragen. So mußte auch deren theoretische Leistungsfähigkeit fast völlig erlahmen. Diese Grundsituation wurde durch die an sich wahrscheinlich unvermeidlichen und, wäre ihre offene kritische Erörterung i m Lager des Weltkommunismus möglich gewesen, auch theoretisch rechtfertigbaren) abrupten außenpolitischen Wendungen der UdSSR nach dem Münchener Abkommen, das die vorher dogmatisierte frühere Bündnispolitik als illusionär enth ü l l t hatte, noch verschärft. Der ökonomische Aufschwung der UdSSR vor ihrer Einbeziehung i n den zweiten Weltkrieg durch den i m Grunde voraussehbaren und trotz des Paktes mit dem Dritten Reich (wenn auch zu einem viel späteren Zeitpunkt) erwarteten Angriff des Dritten Reiches hätte an sich die Lockerung des i n seinen theoretischen Erscheinungsformen fast schizophrenen Systems des nun seinem eigenen A n spruch noch monolithischen Weltkommunismus ermöglicht, weil sich

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inzwischen infolge der langsamen Steigerung des Lebensstandards der Massen und der raschen und erheblichen Verbreiterung der Intelligenzschicht der Bevölkerung zeigen ließ, daß die großen Opfer des Beginns der Planperiode sinnvoll gewesen waren. Aber die dogmatische Identifikation aktueller und pragmatisch erforderlicher taktischer Maßnahmen i m Verhältnis zwischen bürgerlichen Staaten und sozialistischem Staat mit (angeblicher) „Theorie", die i n der früheren Periode erfolgt war und deren Selbstwiderlegung verhüllt werden mußte, wenn die Autorität der Führung bewahrt bleiben sollte, schloß die Möglichkeit der Wiederbelebung kritischen theoretischen Denkens zunächst noch aus. Die Rückwendung zur früheren außenpolitischen Koalitionspolitik m i t den demokratisch organisierten kapitalistischen Großmächten durch den Beginn des Krieges m i t dem Deutschen Reich ließ einerseits die Volksfrontpolitik und deren Theorie i n modifizierter Form wieder aufleben. Aber sie übersteigerte andererseits noch einmal durch das (zur Verteidigung der UdSSR erforderliche) innenpolitische Bündnis mit der orthodoxen Kirche, die Ideologie des „großen vaterländischen Krieges" und die als Konzession an die kapitalistischen Großmächte, mit denen die Sowjet-Union nun gemeinsam gegen Hitler und seine Partner kämpfte, gedachte Auflösung der Kommunistischen Internationale (1943) die Tendenz zur Unterordnung jeder grundsätzlichen (und also theoretischen) Fragestellung unter taktische Erfordernisse des jeweiligen Tages, also die Entfremdung des Marxismus zu einem auf pragmatischen Zweckrationalismus ohne historische und dialektische Perspektive beengten Denksystem, das sich selbst als „Marxismus-LeninismusStalinismus" bezeichnete. Die Eroberung des europäischen Kontinents durch das Dritte Reich bewirkte demgegenüber, daß die (nun ausnahmslos illegalen) Parteien der (aufgelösten) Internationale i n Westund Südeuropa zu Führern der „résistance" wurden, mit den lebendigeren Gruppen des (zunächst kleinen, aber rasch wachsenden) Teils der bürgerlichen Intelligenz zusammenwirkten, der sich nicht (wie zunächst i n fast allen Ländern die kapitalistischen Klassen) mehr oder minder m i t den Regimen der Kollaboration gleichgeschaltet hatte, und also die Theorie der Volksfront zur Theorie der „nationalen Front" gegen die „Neuordnung Europas" durch das Dritte Reich umformten. Diese Situation des selbständigen und selbstbewußten antifaschistischen Kampfes und seiner Theorie der „nationalen Front" ergab nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zunächst — bis zum Beginn der von den USA begonnenen Gegenoffensive gegen alle sozialistischen Bestrebungen auf dem europäischen Kontinent und bis zur Auslösung des kalten Krieges — vielfache Ansätze zur polyzentrischen Auflösung des monolithischen (und deshalb, da Diskussion und K r i t i k die Voraussetzung und Lebensbedingung lebendiger Theorie sind, antitheoreti-

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sehen) Systems der stalinistischen Phase der Ideologie des Weltkommunismus. So konnte auf seinem Boden erneut — wie vor der Herrschaft des Stalinismus — selbständiges theoretisches Denken und theoretische Diskussion entstehen. Das zeigt sich i n Frankreich durch die Arbeiten Lefebvres, Garaudys und Bettelheims, i n Jugoslawien durch die Publikationen Moshe Pijades und auch i n der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands i n der politischen Theorie des besonderen „deutschen Weges zum Sozialismus" bei Ackermann, durch die Berufung von Leo Kofier, Hans Mayer und Ernst Bloch an Universitäten der Sowjetischen Besatzungszone wie i n der Publikation der Arbeiten des deutsch schreibenden Ungarn Georg Lukacs. Allerdings blieb dieser Entwicklungsphase des theoretischen Weltkommunismus unvermeidlich ein Widerspruch immanent: Die UdSSR war i n der Endphase des Krieges und der ersten Nachkriegszeit durch die Folgen des bewußt als Mord- und Raubzug geplanten Feldzuges des Dritten Reiches ökonomisch erheblich stärker zurückgeworfen worden als irgendein anderes industrialisiertes Land, weil dessen Armee und Waffen-SS einen großen Teil der w i r t schaftlich am stärksten entwickelten Teile ihres Staatsgebietes besetzt, ausgeraubt und vor dem Rückzug seiner Armeen völlig zerstört, einen erheblichen Prozentsatz der arbeitsfähigen Bürger des Sowjet-Landes getötet hatte. So war es zunächst das zentrale Ziel der UdSSR, wie einst i n der NEP-Periode Investitionshilfen von den industriell entwickelten kapitalistischen Ländern zu erhalten, die vor allem die Vereinigten Staaten hätten gewähren können; denn die USA hatten dank des K r i e ges die Wirtschaftskrise endgültig überwunden. I h r Produktionsapparat war deshalb durch den Krieg nicht nur nicht geschädigt, sondern entwickelt worden. Die UdSSR hoffte i n dieser Lage verständlicherweise ihrer Bevölkerung die Leiden einer zweiten Periode der Frühakkumulation durch eine Politik der Zurückhaltung, die derartige Investitionshilfen der USA denkbar erscheinen lassen würde, zu ersparen. Deshalb war sie erneut zunächst darauf bedacht, außerhalb des Bereiches ihrer unmittelbaren westlichen Nachbarn (also des Okkupationsraums ihrer Armee), den sie ihrem Großmachtseinfluß- und militärischen Sicherheitskreis zurechnen zu können glaubte, revolutionär-sozialistische Entwicklungen zu vermeiden, um die kapitalistischen Mächte, die seit 1941 ihre Bündnispartner waren, nicht unnötig zu provozieren. Angesichts ihrer extrem hohen Schäden und Bevölkerungsverluste hoffte sie selbstverständlich auch zusätzlich von Deutschland maximale Reparationen zu erhalten. Sie machte ihren Einfluß auf die westeuropäischen kommunistischen Parteien erneut erfolgreich i n dieser Richtung geltend. I n Frankreich, Italien und Deutschland entstand infolge dieser Situation vorübergehend die merkwürdige Lage, daß die Forderungen der wiedererstandenen reformistischen Arbeiterparteien erheblich radikaler

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waren als die der Kommunisten. Die Entwicklung der chinesischen kommunistischen Revolution unter dem auch als selbständiger philosophischer Repräsentant des Weltkommunismus bedeutsamen Mao Tse Tung war der UdSSR zunächst aus diesen Gründen so unbequem, daß sie erst 1949 bereit war, ihre Regierung anzuerkennen. Diese W i dersprüchlichkeit der Lage verhinderte, daß sich diese erneute Belebung kommunistischen theoretischen Denkens nach 1941 vor dem Beginn des kalten Krieges wirklich stabilisieren konnte. Immerhin zeigte sich diese Lockerung des starren Dogmatismus vorübergehend sogar i n der UdSSR; Stalin selbst betonte deren Notwendigkeit i n seiner polemischen Schrift gegen den sowjetischen Sprachphilosophen M. J. Marr und seine Schule, „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft" (1950). Der Beginn des kalten Krieges widerlegte die damaligen außenpolitischen Hoffnungen der UdSSR i n ähnlicher Weise, wie die Politik der bürgerlich-demokratisch organisierten großen Industriestaaten während des spanischen Bürgerkrieges (1936—1939) und das Münchener Abkommen 1938 ihre Illusionen über die Möglichkeit langfristiger Vertagung der Klassengegensätze und des Grundwiderspruches zwischen kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaftssystemen vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges zerstört hatten. Die Sowjetunion, nun zu ihrer ökonomischen Rekonstruktion auch für ihr eigenes Bewußtsein allein auf ihre Kraft, die Hilfsleistungen der i m Machtbereich der sowjetischen Armee entstandenen osteuropäischen sozialistischen Staaten und die Reparationslieferungen der Sowjetischen Besatzungszone i n Deutschland angewiesen, zog auch innenpolitisch unvermeidlich die Zügel wieder straff und kehrte zum monolithischen Prinzip zurück. I m Machtbereich ihrer Armee wurden die kommunistischen (bzw. Vereinigten A r b e i t e r p a r t e i e n erneut voll diesem Prinzip angepaßt, teilweise mit Mitteln, die dem Terrorismus der Periode der großen Prozesse gegen die Opposition i n der UdSSR entsprachen. Die auf Druck der USA, weil sie gegen den kalten Krieg und die restaurative Politik der Vereinigten Staaten Stellung nahmen, aus der Kommunikation mit anderen politischen Gruppen ausgeschlossenen großen Kommunistischen Parteien Westeuropas kehrten i n gleicher Weise zur stalinistischen Position der Zeit vor 1941 zurück und duldeten deshalb kaum noch selbständige geistige Entwicklung i n den eigenen Reihen. Die Theorie der „nationalen Front" wurde i n den politisch wegen der Anwesenheit sowjetischer Truppen oder doch wegen ihrer Befreiung durch die Rote Armee von der UdSSR abhängigen Ländern Osteuropas abermals i n ein bloßes M i t t e l der Manipulation verwandelt. Zwar scherte nun das einzige europäische Land, i n dem vor Ende des Krieges eine Resistance-Bewegung unter kommunistischer Führung ohne wesentliche Hilfe der Roten

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Armee gesiegt hatte, Jugoslawien, aus dem sowjetischen Machtbereich aus und begann, seine weitere Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Entfaltung eines eigenen Weges zum Sozialismus durch Betonung der Arbeiterselbstverwaltung zu vollziehen. Den griechischen Kommunisten, für die eine parallele Entwicklung denkbar gewesen wäre, wurde dieser Weg dadurch gesperrt, daß die britische Armee sie nach der Befreiung des Landes durch E A M und ELAS gewaltsam niedergeworfen hatte, um die Monarchie und die Machtstellung privilegierter Kasten wiederherzustellen. Aber seit Bildung (des allerdings nach einigen Jahren wieder aufgelösten) Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) hatte sich das System des „monolithischen" (und daher der Sache nach dezisionistisch-manipulativen) Weltkommunismus zunächst i n der KPdSU, dann i n den infolge des Krieges sozialistisch gewordenen Ländern und i n den westeuropäischen Kommunistischen Parteien wiederhergestellt. Damit war die Möglichkeit selbständiger geistiger Arbeit an der Weiterentwicklung der Theorie wieder entfallen. Ein großer Teil derjenigen Autoren, die sich darum bemüht hatten, wurde aus den Kommunistischen Parteien verdrängt. Dies System mußte jedoch erneut fragwürdig werden, nachdem die industriellen Verluste der Sowjetmacht durch den Krieg und seine Folgen wieder ausgeglichen waren, die produktionsfördernden Konsequenzen der i n großem Umfang vorgenommenen Produktionsverlagerungen i n den asiatischen Teil der UdSSR während des Krieges sich entfalten konnten und die Wachstumsgeschwindigkeit des Sozialproduktes i n der nun zur hochindustriellen Weltmacht aufgestiegenen UdSSR diejenige der USA, nun der einzigen Weltmacht des Lagers der kapitalistisch organisierten Staaten, deutlich überholte. Nach Meinung der sowjetischen Wirtschaftswissenschaft hatte sich dabei gezeigt, daß trotz großer Planungsfehler das sozialistische System m i t geringeren Reibungsverlusten arbeitet als die monopolkapitalistische „planification", die immer noch durch das Motiv der Profitmaximierung gesteuert und gehemmt wird. Die Steigerung des Anteils der Bildungsschichten an der Gesamtbevölkerung der Sowjet-Union und des Bildungsniveaus sowohl der industriell wie der agrarisch tätigen Bevölkerungsgruppen mußte jedoch nunmehr m i t dem Prinzip allseitiger Manipulation durch die Führung der „monolithischen Partei", der diskussionslosen Hinnahme ihres pragmatischen Dezisionismus ohne Erörterung seiner strategischen Grundlagen, der Theorie ihrer gesellschaftlichen Entscheidungen, i n wachsendem Maße unvereinbar werden, zumal sich gleichzeitig die Divergenz der konkreten Aufgabenstellungen der verschiedenen Teile des Weltkommunismus außerhalb der Sowjetunion geltend zu machen begann.

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Wolfgang Abendroth I I I . Der Polyzentrismus und die Rückkehr zu öffentlich diskutiertem theoretischem Denken i n Weltkommunismus

Die Entwicklung dieses heute noch nicht abgeschlossenen Prozesses der Auflösung und Korrektur des Stalinismus ist bald nach dem Tode Stalins (1953), des Repräsentanten der monolithischen Entwicklungsstufe, offenkundig geworden. Sie wurde seit den Referaten der Historikerin Furzewa und Chruschtschows auf dem X X . Parteitag der KPdSU (1956) und dem durch Massenaktionen des Volkes i n Polen und Ungarn i n Gang gebrachten Regimewechsel i n einem Teil der europäischen sozialistischen Länder auch denjenigen wissenschaftlichen Beobachtern i n den westlichen, kapitalistisch strukturierten Staaten erkennbar, die bis dahin geglaubt hatten, den „monolithischen" Weltkommunismus unter dem Vorzeichen der „Theorie" des „Totalitarismus" m i t den offenkundig den kapitalistischen Gesellschaftssystemen immanenten Tendenzen zum Faschismus identifizieren zu können (wie z. B. Hanna Ahrendt, K. J. Friedrich und S. M. Lipset). Seit die Divergenz zwischen zwei sozialistischen Großmächten, der UdSSR und China, immer stärker hervortritt und das (vorübergehende) gemeinsame Monopol der oligopolkapitalistischen USA und der Sowjetunion auf die Weltmachtrolle durch die trotz gelegentlicher Rückschläge überraschend rasche Industrialisierung Chinas erschüttert zu werden beginnt, haben sich diese Probleme noch weiter kompliziert. I m zur Zeit der Eroberung der politischen Macht durch die Kommunisten industriell fast unentwickelten und i n der agrarischen Produktion vorkapitalistischen China hat sich die sozialistische ursprüngliche Akkumulation und die Kollektivierung der agrarischen Produktion insofern unter anderen (und objektiv günstigeren) Bedingungen als i n der UdSSR vollzogen, als die Majorität seiner Bauernbevölkerung vor dem Sieg der Kommunisten unter noch wesentlich primitiveren Lebensbedingungen als die Bauern des zaristischen Rußland existierte und das industrielle Proletariat noch relativ schwach und schlecht bezahlt war. I h r Lebenshaltungsniveau wurde deshalb durch die revolutionäre Veränderung auch nicht vorübergehend reduziert. Die kommunistische Revolution stellte die administrative Einheit Chinas, die vor der Revolution von 1911 schon lange erschüttert und durch die Revolution endgültig zerbrochen war, zum ersten M a l wieder her. Der Sieg der Kommunistischen Partei Chinas beendete die Periode seiner Unterwerfung unter die imperialistischen Großmächte und zuletzt unter die japanische Okkupation. Anstelle der Widersprüche, die den Stalinismus i n der UdSSR entstehen ließen, traten deshalb andere Probleme, die sich i n der politischen Philosophie Mao Tse Tungs (geb. 1893; Über den Widerspruch (1937), Dialektischer Materialismus (1940), Zur Frage der rieh-

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tigen Lösung von Widersprüchen i m Volk (1957)) ausdrücken. Mao war i n den langwierigen Kämpfen der Roten Armee gegen das Regime Tschiang K a i Sheks und der Kuomintanjg seit 1927 zum Führer der chinesischen Kommunisten aufgestiegen. Die Manipulation der Darstellung der Geschichte der eigenen Bewegung nach taktischen Tagesbedürfnissen t r i t t seitdem i n der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern immer stärker zurück. I n der ostdeutschen kommunistischen Literatur läßt z. B. ein Vergleich zwischen Walter Ulbrichts „Kurzem Lehrgang der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" (1958) m i t der achtbändigen, von einem Autorenkollektiv des Berliner Marx-Engels-Lenin-Instituts beim Z K der SED verfaßten „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" (1965 ff.) sofort diese Wendung zur objektiven geschichtlichen Darstellung und Analyse (wenn auch nur der Tendenz nach, noch nicht konsequent) erkennen. „Parteilichkeit" i n der Wissenschaft und Streben nach möglicher objektiver Ermittlung der Wahrheit gelten also nicht mehr als Gegensatz. Auch i n den Wirtschaftswissenschaften der Sowjetunion, i n der vor allem J. Liebermann und Trapeznikow der Diskussion ökonomischer Probleme gegenüber den früheren Auffassungen z.B. von L. A. Leontjew (Lehrbuch der politischen Ökonomie (1954)) neue Antriebe gegeben haben, der Tschechoslowakei, Ungarns und der DDR, i n der die Diskussion zwischen Fritz Behrens (geb. 1909, Zur Theorie der Messung des Nutzeffekts der gesellschaftlichen Arbeit, 1963) und einer Gruppe jüngerer Ökonomen u m Otto Reinhold und Horst Hemberger (Imperialismusbank, Der staatsmonopolistische Kapitalismus (1965)) nach dem Übergang zum Neuen ökonomischen System weitergeht, w i r d der taktische Funktionalismus der vorherigen Periode durch mehr oder minder offen ausgetragene wissenschaftliche Auseinandersetzungen ersetzt. Hinsichtlich der sozialistischen Länder geht es dabei um die Abstimmung zwischen Produktionsgüter- und Konsumgütererzeugung bei möglichst kostensparender Erweiterung der Konsumgüterproduktion zwecks Anpassung an die Notwendigkeit einer entwickelten Industriegesellschaft, die die Zwänge der ursprünglichen Akkumulation nicht mehr kennt, und um die Verbesserung der Distributionsmethoden. Weil aber weder der Grad der Produktivität noch die Umformung des Menschen bisher erreicht ist, die für den Übergang zum Kommunismus erforderlich wären, ist das Zentralproblem die rationale Verwertung der Motivation durch individuelle Leistungsanreizung. Die Verwendung der Form nach marktwirtschaftlicher M i t t e l innerhalb der sozialistischen Planung bei Dezentralisierung der Plan-Durchführung zu den Einzelunternehmen h i n verbindet sich dabei notwendig m i t der Frage nach

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der Demokratisierung der Gesellschaft. Die frühere Fiktion, der Sozialismus habe bereits die Produktivität der industriekapitalistischen Länder überholt, so daß man unmittelbar vor dem Übergang i n eine kommunistische Gesellschaft stehe, die eine allseitige Bedürfnisbefriedigung ohne Anknüpfung an das Leistungsprinzip gestatte, ist i n allen sozialistischen Ländern entfallen. Dadurch ist das neue Problem entstanden, wieweit ein i n sich geschlossenes System der sozialen Gesetzlichkeiten des Systems der sozialistischen Industriegesellschaft als der Vorstufe der kommunistischen Gesellschaft entwickelt werden könne. Von hier aus w i r d die Rezeption kybernetischer Vorstellungen verständlich, die diese Gesellschaft als ein Rückregelungssystem begreifen, die sowohl i n der sowjetischen Wissenschaft, z. B. bei J. A. Poletajew (Kybernetik (i960)) als auch von Theoretikern der DDR wie G. Klaus (Kybernetik und Gesellschaft (1964)) vertreten werden. Daß dabei die Gefahr einer neuen mechanistischen Auflösung der dialektischen Methode entsteht, liegt auf der Hand. Die Erfahrungen der Wirtschaftsreform Jugoslawiens, dessen dezentralisiertes Planungssystem seit der Wiederherstellung freundschaftlicher politischer Beziehungen zwischen diesem Lande und der UdSSR, zwischen der KPdSU und dem „Bund der Kommunisten" Titos, auch i n den anderen kommunistisch geführten Staaten (mit Ausnahme Chinas und Albaniens) nicht mehr als Rückkehr zum Kapitalismus gilt, werden nunmehr auch i n den kommunistischen Parteien Westeuropas und i n den dem sowjetischen System angegliederten sozialistischen Staaten zwar kritisiert, aber wieder ernstlich erörtert. Die Veränderung i n der politisch-sozialen Struktur der Sowjetgesellschaft, die sich i n dieser Erweiterung der theoretischen Diskussion spiegelt, hatte unvermeidlich auch die Wiederbelebung der marxistischen Überprüfung rechtswissenschaftlicher Fragen zur Folge, wie sie i n der Entwicklung einer Theorie der sozialistischen Gesetzlichkeit i n der UdSSR und auch i n der DDR zum Ausdruck kommt, deren kontroverser Charakter z. B. durch den Tagungsbericht über eine Konferenz der Staatsrechtslehrer der DDR über „Demokratie und Grundrechte" (1967) eindrucksvoll belegt wird. Die soziologische und geisteswissenschaftliche Diskussion gerät ebenso wieder i n Fluß: Der französische kommunistische Philosoph Roger Garaudy hat die Hegel-Rezeption wieder aufgenommen (Dieu est mort (1962)). Er führt seine Auseinandersetzung mit der katholischen Soziallehre i m Rahmen der Tagungen der PaulusGesellschaft erstaunlich versöhnlich (Christentum und Marxismus heute, 1967). Der polnische Philosoph Adam Schaff hat die undifferenzierten früheren Formen der Polemik gegen den Existentialismus verlassen und i n seinem Buch „Marxismus und das menschliche Individuum" (1965) begonnen, die Thesen des nichtkommunistischen, i n Mexico lebenden Marxisten Erich Fromm bewußt zu übernehmen.

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Auch die sowjetische Philosophie beginnt ihre frühere dogmatische Starre wieder zu lockern (G. J. Oisermann y Die Entstehung der marxistischen Philosophie (1964); N. J. Lapin, Der junge Marx (1965)). Zum Problemkreis der politischen Theorie hat unter führender Beteiligung der KPdSU eine Erklärung von 12 kommunistischen Parteien (1957) und von 81 kommunistischen Parteien (1960) das Ende der Vorstellung gebracht, daß der Übergang zur Herrschaft des Proletariats und damit der Weg zur sozialistischen Gesellschaft sich i n allen Ländern i n prinzipiell gleicher Weise gestalten müsse wie einst i n Rußland, also stets die Form des gewaltsamen Umsturzes annehmen müsse. Diese Thesen gehen davon aus, daß der Aufstieg eines Systems sozialistischer Staaten unter Führung der UdSSR als einer Weltmacht die Bedingungen dafür geschaffen habe, daß, wenn nur die friedliche Koexistenz des sozialistischen und kapitalistischen Lagers erhalten bleibe, i m Schutze ihrer sozialökonomisch ausgetragenen Leistungskonkurrenz der Übergang zum Sozialismus i n den parlamentarisch-demokratisch organisierten kapitalistischen Staaten sich legal i m Wege von Strukturreformen vollziehen könne, die auf Grund demokratischer Mehrheitsbildung durchgesetzt werden. Die Vorbedingung dazu sei allerdings, daß diese kapitalistischen Staaten durch die reale Macht der Parteien und Verbände der Arbeiterklasse daran gehindert werden könnten, sich i n autoritäre oder faschistische Diktaturen umzuwandeln. Das sogenannte „Politische Testament" (1964) des i n der Sowjetunion gestorbenen Führers der Kommunistischen Partei Italiens, Palmiro Togliatti (1893—1964), hat diese ideologische Wendung dahin formuliert, daß der Weltkommunismus polyzentrisch werden und also den Führungsanspruch der UdSSR (und der KPdSU) zwar nicht beseitigen, aber begrenzen müsse. Diese Auflösung der Ideologie des „monolithischen" Weltkommunismus und die Rückkehr zur Wiederaufnahme öffentlicher theoretischer Diskussion verläuft selbtsverständlich — wie jede geschichtliche Entwicklung — weder gradlinig noch ohne Rückschläge und Widersprüche. Sie war zunächst nicht Ursache, sondern Folge einer politisch-sozialen Veränderung einerseits i n den Beziehungen der großen Wirtschaftssysteme und der Staaten zueinander, andererseits i n der ökonomisch-sozialen Entwicklung derjenigen Staaten, die das kapitalistische Wirtschaftssystem abgestreift haben. Als eine die Realität erfassende kritische Theorie der Entwicklung von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft könnte eine i n dieser Weise erneuerte Doktrin allerdings die Hilfe dazu bieten, diese Realität selbst zu verändern, den Ausbau von Produktivität, Rechtssicherheit und kulturellem Fortschritt i n den sozialistischen Staaten mit dem Aufbau des Selbstbewußtseins und der Macht der unterdrückten Klassen i n den anderen Staaten zu koordinieren. Der ideologische Prozeß bleibt stets vom realsoziologischen Prozeß abhängig,

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wie er andererseits auf i h n zurückwirkt. Er ist unvermeidlich immer wieder erheblichen Rückschlägen ausgesetzt, i n starkem Maße vor allem dann, wenn Verschärfungen der außenpolitischen Situation das Bewußtsein der Bedrohung durch äußere Feinde i n einem der sozialistischen Länder erhöhen und dessen politischen Führern und Ideologen den Rückgriff auf die frühere militante Selbstisolierung i m Zeichen der alten ideologischen Verhärtungen nahelegen. Das erklärt, weshalb i n einem Zeitpunkt, zu dem z. B. der Diskussionsrahmen i n Polen bereits recht breit war, i n der DDR, die sich wegen der Nicht-Anerkennung durch die Bundesrepublik und den Westblock besonders unsicher fühlen muß, noch marxistische Gelehrte vom Range Ernst Blochs oder Hans Mayers genötigt zu sein glaubten, das Land zu verlassen, w e i l dort diese Umformung des stalinistischen Dogmatismus zu frei ausdiskutierbarer kommunistischer Theorie am langsamsten verlaufen und längere Zeit noch recht beschränkt geblieben ist. Aber auch i n anderen sozialistischen Ländern, selbst i n der UdSSR als der Hegemonialmacht des Systems, haben sich immer wieder Rückfälle ergeben und werden sich noch längere Zeit Rückfälle ergeben. Vorläufig ist i n vielen Fragen die Revision des Stalinismus noch immer i n großem Maße qualitativ auf dem Boden stalinistischer Denkformen und i m Rahmen ihrer Schranken verblieben, wie Georg Lukacs (Gespräche mit Lukacs (1967)) m i t Recht festgestellt hat. Der E i n t r i t t des von Fidel Castro geleiteten revolutionären Cuba, dessen politische Theorie von Che Guevara entwickelt wurde und das nur durch das Eingreifen der UdSSR vor der gewaltsamen Intervention der USA geschützt werden konnte, i n das sozialistische Lager, und vor allem die Sonderentwicklung des chinesischen Kommunismus unter Mao Tse Tung und des von Ho Tschi Ming geleiteten vietnamesischen Kommunismus haben den Dezentralisierungsprozeß i m Weltkommunismus jedoch weiter beschleunigt. Diese Veränderungen machen neue theoretische Auseinandesetzungen unvermeidlich und bieten dem Polyzentrismus auch machtsoziologisch gesehen eine Basis. So w i r d zur entscheidenden Frage, ob und wieweit es dem Weltkommunismus gelingt, nach der Auflösung des für seine theoretische Fortentwicklung unergiebigen monolithischen Systems Stalins m i t dessen eklektisch wendbarem Dogmatismus zu einer neuen Form kritisch-theoretisch diskutanter Einheit der Problemstellungen zu gelangen, die sich außenpolitisch aus dem neuen Gleichgewicht zwischen dem Weltkapitalismus und der Weltwirtschaft der sozialistischen Staaten und ihrem Kampf u m die sogenannten Entwicklungsländer nach dem zweiten Weltkrieg, innenpolitisch aus der Veränderung der inneren Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaften auf der einen Seite, der werdenden sozialistischen Gesellschaften auf der anderen Seite ergeben. Das würde

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voraussetzen, daß der Weltkommunismus wieder lernt, auch die selbständigen wissenschaftlichen Leistungen i n sein Denken einzubeziehen, die nach dem Siege des Stalinismus auf der Grundlage marxistischer Methoden außerhalb seiner Organisationssysteme erarbeitet worden sind.

Die Notenbank im Spannungsfeld von Wirtschafts- und Finanzpolitik Von Otto Pfleiderer I.

Anläßlich der Jahresfeier der Deutschen Hochschule für Politik i n Berlin hat Gert von Eynern am 15. Januar 1957 — wenige Monate vor Erlaß des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank — i n einem Vortrag 1 die von der öffentlichen Meinung einhellig geforderte Unabhängigkeit der Notenbank einer kritischen Analyse unterzogen. Er ging dabei von der unbezweifelbaren Tatsache aus, daß es i m Zeitalter der manipulierten Währung kein automatisches Verhalten der Notenbank mehr geben kann 2 , daß also unser heutiges Währungssystem notwendigerweise Ermessensentscheidungen der Notenbank erfordert, die stets von w i r t schaftspolitischer Relevanz sind. Zugleich machte er klar, daß es sich beim Postulat der Unabhängigkeit der Notenbank nicht nur um ihre Unabhängigkeit von der Regierung, sondern auch um ihre Unabhängigkeit von anderen Staatsorganen, z. B. vom Parlament, und nicht zuletzt auch um ihre Unabhängigkeit von Interessengruppen aller A r t handelt. Was ihn skeptisch machte gegen den Gedanken der Unabhängigkeit der Notenbank, war vor allem das Argument, daß die Verantwortung für die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik „ihrem Wesen nach unteilbar" sei und daß, „wo diese Verantwortung dennoch institutionell zwischen Staat und Zentralbank aufgeteilt wurde, Konflikte enstehen mußten" 3 . Den naheliegenden Weg, die Lösung des Problems i n einer Koordinierung der beiden Instanzen Staat und Zentralbank zu suchen, verwarf er m i t dem apodiktischen Urteil: „Das Wort ,Ko-ordinierung'... ist ein 1 Veröffentlicht i n der Schriftenreihe der Deutschen Hochschule f ü r P o l i t i k i n B e r l i n unter dem T i t e l „Die Unabhängigkeit der Notenbank" (Berlin 1957). 2 Würde es noch eine A u t o m a t i k des notenbankpolitischen Verhaltens geben, w i e sie, mindestens der Idee nach, i m System der klassischen Goldw ä h r u n g weitgehend v e r w i r k l i c h t war, so w ü r d e i n der Tat die Frage der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Notenbank k a u m relevant sein. Daß freilich auch i m System der sogenannten automatischen „Spielregeln" der Goldwährung die Notenbankpolitik sich nicht rein automatisch vollzog, wurde von A r t h u r Bloomfield i n seiner Schrift „Monetary Policy under the I n t e r national Gold Standard: 1880—1914", veröffentlicht von der Federal Reserve Bank of New Y o r k (1959), nachgewiesen. 3 a.a.O., S. 9.

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Euphemismus. Sein Inhalt ist: Abhängigkeit — Abhängigkeit wessen von wem 4 ?" I m Falle der von i h m für unausweichlich gehaltenen Konflikte zwischen Notenbank und Regierung müsse einer von beiden letzte Instanz sein, und hierauf habe der Staat den höheren Anspruch. Die Fiktion, die Zentralbank stehe außerhalb des politischen Raumes und schulde deshalb niemandem Verantwortung, sei unhaltbar i m Zeitalter der freien, manipulierten Währungen. So gehe der Trend der Entwicklung, der auf früherer Stufe vom fürstlichen Münzregal zur teilfreien, öffentlich gebundenen Notenbank geführt habe, zurück zum staatlichen Geldregal: zur Abhängigkeit der Notenbank vom Staat 5 . Natürlich verkannte Eynern die Gefahren eines Mißbrauchs der Geldschöpfungsmacht durch den Staat nicht, und er schilderte anschaulich eine Reihe von Beispielen für solchen Mißbrauch 6 . Was i h n trotzdem veranlaßte, für die Abhängigkeit der Notenbank vom Staat zu plädieren, war die Überzeugung, daß eine „Polykratie" i m Sinne der Verteilung der öffentlichen Gewalt an einem zentralen Punkt der W i r t schaftspolitik auf eine Mehrzahl voneinander unabhängiger Instanzen gefährlich und auf längere Sicht unhaltbar sei 7 . Die Abhängigkeit der Notenbank von der Regierung, wie sie Eynern vorschwebte, besteht freilich nicht i n der Rückkehr zu einer unbeschränkten Unterwerfung der Notenbank unter die Weisungsbefugnis des Regierungschefs, wie sie (in einer wegen der Einschränkung des währungspolitischen Ermessensspielraums durch die Erfordernisse der Goldwährung ungefährlichen Weise) i m Bankgesetz von 18758 und (mit 4

a.a.O., S. 10. a.a.O., S. 10. 6 a.a.O., S. 10 ff. 7 a.a.O., S. 7. 8 Tatsächlich w i r d es n u r durch die B i n d u n g der Währungspolitik an die „Spielregeln" der Goldwährung verständlich, daß das Bankgesetz von 1875 ganz unbefangen statuieren konnte: „ D i e dem Reiche zustehende L e i t u n g der Bank w i r d v o m Reichskanzler u n d unter diesem von dem Reichsbank-Direkt o r i u m ausgeübt" (§26) u n d : „Das Reichsbank-Direktorium ist die v e r w a l tende u n d ausführende . . . Behörde. Es . . . faßt seine Beschlüsse nach S t i m menmehrheit, hat jedoch bei seiner V e r w a l t u n g überall den Vorschriften u n d Weisungen des Reichskanzlers Folge zu leisten" (§ 27). I n der damaligen Währungsordnung k a m offenbar niemand auf die Idee, i n dieser Unterstell u n g der Notenbank unter die Regierung eine potentielle Gefahr f ü r die Währung zu sehen. Nach einer früheren Untersuchung von Gert v o n Eynern („Die Reichsbank. Probleme des deutschen Zentralnoteninstituts i n geschichtlicher Darstellung", Jena 1928, S. 16) soll allerdings eines der Motive, w a r u m m a n die Reichsbank auf der Basis der „Heranziehung privaten Kapitals" errichtete, gewesen sein, daß „ m a n die Gefahr kannte, daß der Staat seine Bank als Finanzierungsquelle benutzen u n d durch die damit zusammenhängende Störung der Währungsstabilität die wichtigsten öffentlichen A u f gaben vernachlässigen würde." Es bleibt freilich unerfindlich, wie die Anteilseigner der Reichsbank m i t ihrem m i n i m a l e n Einfluß auf die P o l i t i k der Bank einen solchen Mißbrauch hätten verhindern können. Dafür sorgte die gesetzliche Beschränkung der zugelassenen Geschäfte i n Verbindung m i t den D e k kungs- u n d Einlösungsvorschriften (solange sie eben galten) v i e l wirksamer. 5

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währungspolitisch höchst bedenklichen Konsequenzen) wieder i m Reichsbankgesetz von 19399 verwirklicht war, sondern es kommt i h m lediglich darauf an, i m Ergebnis sicherzustellen, daß die Instrumente der Notenbankpolitik für die Realisierung der allgemeinen wirtschaftspolitischen Ziele der Regierung, die für diese ihre Ziele parlamentarisch verantwortlich ist, eingesetzt werden. „Bei der wünschenswerten Bindung der Zentralbank an den Staat" sind nach Eynerns Vorstellungen „ i n W i r k l i c h k e i t . . . nicht Interventionen i m Einzelfall zu erstreben, sondern eine Bindung der Bank an die große Linie der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Regierung. Die große Linie der Politik w i r d aber i n der Bundesrepublik nicht von einem Fachminister bestimmt, sondern vom Bundeskanzler" 10 . Demgemäß schlug er vor, man solle bei der Beratung über das damals i m Entwurf vorliegende Bundesbankgesetz „sorgfältig prüfen, ob nicht die i m Gesetzentwurf vorgesehene Bestimmung, nach der die Bank nicht an Weisungen der Regierung gebunden ist, durch folgende Regelung zu ersetzen wäre: ,Der Bundeskanzler kann der Deutschen Bundesbank von Zeit zu Zeit allgemeine Anweisungen erteilen, i n denen die Richtlinien der Kredit- und Währungspolitik bestimmt werden. Jeder Anweisung muß eine eingehende Beratung mit dem Präsidenten der Bank vorausgehen/ Wahrscheinlich w i r d es dann so kommen wie i n England, daß der Kanzler von seinem Anweisungsrecht kaum Gebrauch machen wird. Denn die bloße Existenz seines Rechts stärkt das Prestige der Regierung gerade so weit, wie es not tut"11. IL Das Bundesbankgesetz, das vor nunmehr zehn Jahren, am 1. August 1957, i n Kraft trat, ist einen anderen Weg gegangen. Durch seinen § 12, der das Verhältnis der Bank zur Bundesregierung grundsätzlich regelt, w i r d die Bundesbank einerseits verpflichtet, „unter Wahrung ihrer A u f gabe die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu unterstützen" 1 2 , andererseits w i r d i m selben Paragraphen ausdrücklich sta9 § 1 dieses Gesetzes proklamierte lapidar: „Die Deutsche Reichsbank ist dem Führer u n d Reichskanzler unmittelbar unterstellt." Dementsprechend hieß es i n §3 Abs. 1: „Die Deutsche Reichsbank w i r d nach den Weisungen u n d unter der Aufsicht des Führers u n d Reichskanzlers von dem Präsidenten der Deutschen Reichsbank u n d den übrigen Mitgliedern des Reichsbankdirektoriums geleitet u n d verwaltet." Die eigentliche währungspolitische Gefahr lag aber i n der Bestimmung i n §16 Abs. 1: „Die Deutsche Reichsbank darf dem Reich Betriebskredite gewähren, deren Höhe der Führer u n d Reichskanzler bestimmt" u n d i n der analogen Bestimmung i n § 13 Abs. 1 über die Hereinnahme von Reichsschatzwechseln. 10 a.a.O., S. 28. 11 a.a.O., S. 36. 12 Das galt übrigens schon f ü r die B a n k deutscher Länder seit dem I n k r a f t treten des Übergangsgesetzes zur Änderung des BdL-Gesetzes v o m 10. August 1951, BGBl. I S. 509.

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tuiert, daß die Bank „bei der Ausübung der Befugnisse, die ihr nach diesem Gesetz zustehen, von Weisungen der Bundesregierung unabhängig" ist. Die Zusammenarbeit der Bank mit der Bundesregierung w i r d dann i m § 13 i m einzelnen dahingehend geregelt, daß a) die Bundesbank die Bundesregierung i n Angelegenheiten von wesentlicher währungspolitischer Bedeutung zu beraten und ihr auf Verlangen Auskunft zu geben hat, b) die Mitglieder der Bundesregierung das Recht haben, an den Beratungen des Zentralbankrats teilzunehmen — zwar selbstverständlich ohne Stimmrecht, aber doch mit dem Recht, Anträge zu stellen —, und auf ihr Verlangen die Beschlußfassung bis zu zwei Wochen auszusetzen ist, c) die Bundesregierung den Präsidenten der Bundesbank zu ihren Beratungen über Angelegenheiten von währungspolitischer Bedeutung heranziehen soll. Da auch Eynern, wie erwähnt, „nicht Interventionen der Bundesregierung i m Einzelfall", also einen Einfluß der Regierung auf die „Tagesentscheidungen der Bank" erstrebte, sondern lediglich „eine Bindung der Bank an die große Linie der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Regierung", so zeigt sich, daß sein Wunschbild der Sache nach gar nicht so fundamental verschieden ist von dem, was das Bundesbankgesetz verwirklicht hat. „Nicht Interventionen i m Einzelfall": das läuft i m Ergebnis nicht auf wesentlich anderes hinaus als auf die i m Gesetz statuierte Unabhängigkeit der Bundesbank von Weisungen der Bundesregierung bei der Ausübung der der Bank gesetzlich zustehenden Befugnisse, d. h. i n der Eynernschen Terminologie: bei ihren Tagesentscheidungen. Und ebenso wenig macht es i m Blick auf das, worauf es grundsätzlich ankommt, nämlich die Einordnung der Notenbankpolitik i n die allgemeine wirtschaftspolitische Linie, einen fundamentalen Unterschied, ob der Bundeskanzler der Bank von Zeit zu Zeit allgemeine Anweisungen erteilen kann, i n denen die Richtlinien der Kredit- und Währungspolitik bestimmt werden, oder ob die Bundesbank kraft Gesetzes verpflichtet ist, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung (unter Wahrung ihrer Aufgabe) zu unterstützen. Auch die Proklamation von Richtlinien der Kredit- und Währungspolitik durch den Bundeskanzler könnte i m Ergebnis nicht auf etwas anderes hinauslaufen als auf die Einordnung der Bundesbankpolitik i n die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Und die spezifische Aufgabe der Notenbank, „die Währung zu sichern" (§ 3 BBankG), müßte notwendigerweise auch i n etwaigen allgemeinen Richtlinien des Bundeskanzlers, wie sie Eynern vorschweben, berücksichtigt werden, nicht nur, weil das Gesetz nun einmal der Bundesbank diese fundamentale Aufgabe aller Notenbankpoli-

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tik, die diesen Namen verdient, zuweist, sondern auch weil es — jedenfalls i n Deutschland bei der inflationsempfindlichen Mentalität großer Teile der Bevölkerung nach zwei Inflationen — politisch und psychologisch undenkbar wäre, daß der Bundeskanzler kraft seiner Richtliniengewalt etwa eine wirtschaftspolitische Generallinie proklamieren wollte, die nur bei einem grundsätzlichen Verzicht auf eine Politik der inneren (und möglicherweise dann auch der äußeren) Währungsstabilität realisierbar wäre. Die Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist eine bindende Rechtspflicht der Bundesbank, auch wenn die Verletzung dieser Pflicht nicht m i t Sanktionen bedroht ist. Daß allerdings die Bundesbank diese Pflicht „unter Wahrung ihrer Aufgabe" zu erfüllen hat, bedeutet gewiß weit mehr als nur eine gefällige Floskel und eine unverbindliche Verbeugung des Gesetzgebers vor dem Gedanken der Währungsstabilität. Recht verstanden läuft diese Klausel i m Ergebnis darauf hinaus, daß die Bundesregierung ihrerseits sich keine wirtschaftspolitischen Ziele setzen kann, die nur unter prinzipieller Opferung der Währungsstabilität zu erreichen wären. I n einem solchen Fall wäre die Notenbank nicht nur von der Pflicht dispensiert, die Wirtschaftspolitik der Regierung zu unterstützen, sondern sie wäre darüber hinaus von ihrer Primäraufgabe her sogar gehalten, ihre M i t w i r kung zu versagen. I n diesem möglichen Spannungsverhältnis liegt der eigentliche K e r n des verfassungsrechtlich so schwierig einzuordnenden und auch politisch-soziologisch für manchen Betrachter so anstößigen Gedankens der Unabhängigkeit der Notenbank. Der Bundesbank ist vom Gesetzgeber gewissermaßen ein Wächteramt übertragen, dessen innere Verwandtschaft mit dem Wächteramt der (ebenfalls unabhängigen) Justiz klar zu Tage liegt. So wie die Verfassungsgerichtsbarkeit u. a. den Gesetzgeber daran zu hindern hat, daß er Rechtsnormen erläßt, die m i t dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, und so wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit den Bürger gegen „der Ämter Übermut" zu schützen berufen ist, so liegt die eigentliche Legitimation der Unabhängigkeit der Notenbank darin, daß sie darüber zu wachen hat, daß die Wirtschaftspolitik (und man w i r d hinzufügen müssen: auch die Finanzpolitik) sich i n der Setzung ihrer Ziele und i n der Wahl ihrer M i t t e l i n den Grenzen halten, innerhalb deren die Notenbank kooperieren kann, ohne ihre Primäraufgabe, die Sicherung der Währung, zu verleugnen. Dabei w i r d nur ein Purist dem Gesetzgeber einen Vorwurf daraus machen, daß er es offenbar m i t voller Absicht vermieden hat, den Begriff „Sicherung der Währung" genau zu definieren. Hätte er stattdessen exakte Richtpunkte aufgestellt, so wäre die logische Konsequenz eine neue einlinige Automatik gewesen anstatt einer pragmatischen, an der vielschichtigen To-

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talität der jeweiligen wirtschaftlichen Konstellation orientierten Führung der Notenbankpolitik. III.

Lassen w i r die seit dem Inkrafttreten des Bundesbankgesetzes verstrichenen zehn Jahre Revue passieren, so zeigt sich, daß es während dieser Periode trotz der i m Gesetz statuierten Unabhängigkeit der Bundesbank von Weisungen der Bundesregierung nicht zu ernstlichen Konflikten zwischen Regierung und Notenbank über die grundsätzliche Linie der Währungspolitik gekommen ist. Zwei große programmatische Entscheidungen fallen i n diese Zehnjahresperiode: einmal die Aufwertung der Deutschen Mark i m März 1961, zum andern die Inangriffnahme des Konjunkturprogramms der Bundesregierung i m Winter 1966/67. Die Aufwertung bedeutete eine Option für das Prinzip der inneren Stabilität. Das Gleichgewicht der Zahlungsbilanz hätte an sich genauso wirksam nach den sogenannten Spielregeln der Goldwährung hergestellt werden können, indem man dem „Einkommenseffekt" und dem „Liquiditätseffekt" der Zahlungsbilanzüberschüsse freien Lauf i m Innern gelassen hätte, ohne an die Währungsparität zu rühren. Das Beschreiten dieses Weges wurde bekanntlich von weiten Teilen der W i r t schaft gewünscht und von einer Reihe prominenter Sprecher der W i r t schaft nachdrücklich empfohlen, auch wenn dabei i m allgemeinen mehr auf die angeblich zu erwartenden nachteiligen Folgen einer Aufwertung für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie hingewiesen wurde als auf die Unausweichlichkeit einer „inneren Abwertung" i n Gestalt von Preis- und Kostensteigerungen, wenn man unter Verzicht auf die äußere Aufwertung den Zahlungsbilanzüberschüssen freien Lauf ließ. Wenn die Bundesbank i n den Monaten vor der Aufwertung bewußt eine zahlungsbilanzkonforme Kreditpolitik betrieb, so gewiß nicht deshalb, weil sie etwa dem Gedanken der inneren Währungsstabilität abgeschworen und das Prinzip der Währungsstabilität nur noch außenwirtschaftlich interpretiert hätte, sondern einfach deshalb, weil sie aus den Erfahrungen der vorhergehenden Periode restriktiver Kreditpolitik (1959/60) gelernt hatte, daß i n der damaligen Situation eines „fundamentalen Zahlungsbilanz-Ungleichgewichts" eine Politik der inneren Stabilität schlechterdings nicht mehr m i t Aussicht auf Erfolg betrieben werden konnte, sondern sich als „self-defeating" erweisen mußte. So war i n dieser Extremsituation die Bundesregierung vor die Entscheidung gestellt, ob sie es unter diesen Umständen noch verantworten konnte, an der damals geltenden Währungsparität festzuhalten.

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Man verrät kein Geheimnis, wenn man feststellt, daß zunächst sowohl innerhalb der Bundesregierung wie auch innerhalb des Zentralbankrats die Meinungen über die Frage geteilt waren, ob die Deutsche Mark aufgewertet werden sollte oder nicht. Rechtlich oblag die Entscheidung der Bundesregierung, die gegebenenfalls ihre beim Eintritt der Bundesrepublik i n den Internationalen Währungsfonds abgegebene Paritätserklärung zu revidieren hatte. Das Verdienst, den Entschluß zur Aufwertung durchgesetzt zu haben, kommt dem damaligen Bundeswirtschaftsminister L u d w i g Erhard zu, der i m Bundesfinanzminister Franz Etzel einen Verbündeten fand. Der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank hat sich jedoch nicht damit begnügt, den rechtlich i n die Zuständigkeit der Bundesregierung fallenden Entschluß zu respektieren, sondern er hat der Aufwertung der Deutschen Mark am Ende einer lebhaften Debatte mit Mehrheit ausdrücklich zugestimmt und damit die währungspolitische Zweckmäßigkeit einer Paritätsänderung seinerseits bejaht. Bundesregierung und Bundesbank hatten sich somit auf einem Gebiet, auf dem es sehr wohl zu einem K o n f l i k t hätte kommen können, auf eine gemeinsame Linie geeinigt. Erst auf der Basis der neuen Parität bestand überhaupt wieder eine Chance, bei der Führung der Währungspolitik dem Gedanken der inneren Stabilität wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Die spätere Entwicklung der Dinge hat die Richtigkeit des Entschlusses zur Aufwertung bestätigt und höchstens die Frage offen gelassen, ob die Aufwertung nicht zu spät und m i t einem zu geringen Satz vorgenommen wurde — aber man ist ja bekanntlich immer klüger, wenn man vom Rathaus kommt als wenn man dorthin geht. Immerhin zeigt ein Blick auf die Ausweise der Bundesbank, daß i n der großen Linie mit der Aufwertung die Periode einer anhaltenden Überschwemmung der Notenbank mit Währungsreserven und damit auch die Periode einer zahlungsbilanzbedingten Einengung des kreditpolitischen Bewegungsspielraums ihr Ende gefunden hat. Auch für das Konjunkturprogramm des Winters 1966/67 (und das i h m folgende des Sommers 1967) lag die Initiative wiederum bei der Bundesregierung, i m besonderen beim Bundesminister für Wirtschaft, K a r l Schiller. Die Bundesbank hat eingedenk ihrer gesetzlichen Verpflichtung, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung unter Wahrung ihrer Aufgabe zu unterstützen, für die Verwirklichung dieses Programms, das ohne weittragende kreditpolitische Maßnahmen niemals hätte realisiert werden können, ihre Unterstützung zugesagt, freilich nicht bedingungslos und unlimitiert, sondern nur für bestimmte, allerdings hoch bemessene Beträge und unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß i m übrigen sowohl auf kürzere wie auf längere Sicht Maßnahmen zum Haushaltsausgleich getroffen werden. Die durch die

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Konjunkturdämpfung erreichte Abschwächung des Preisauftriebs ermöglichte es der Bundesbank, zu einer expansiven Kreditpolitik überzugehen. Unter dem Blickwinkel der Wahrung ihrer währungspolitischen Aufgabe hatte sie allerdings besonderen Anlaß, sich gegen eine breit gestreute Anwendung des Verfahrens der Zinssubventionen als eines finanzpolitisch allzu bequemen Mittels der Konjunkturpolitik zu wenden, da sie befürchten mußte, daß hiervon nicht nur i n der derzeitigen konjunkturellen Lage eine unerwünschte Erhöhung des langfristigen Marktzinssatzes für die nicht zinssubventionierten Sektoren, sondern auch eine allgemeine Schwächung des Wirkungsgrades der Zinspolitik der Notenbank ausgehen müßte. Zwischen diesen beiden markanten Ereignissen, der Aufwertung von 1961 und dem Konjunkturprogramm von 1966/67, liegt die i n mehr als einer Hinsicht problematische Phase der Konjunkturüberhitzung der Jahre 1964 bis 1966. Diese Phase war finanzpolitisch gekennzeichnet durch eine ausgesprochen prozyklische Finanzpolitik sowohl des Bundes wie auch der Länder. Die öffentlichen Ausgaben wurden durch eine lange Reihe wahltaktisch motivierter Beschlüsse des 4. Bundestags i m letzten Jahr seiner Legislaturperiode, die dann teilweise durch das Haushaltssicherungsgesetz vom 20. Dezember 1965 widerrufen oder doch aufgeschoben wurden, i n einer Phase übersteigerter Hochkonjunktur noch erhöht, und die öffentlichen Einnahmen wurden durch eine breite Bevölkerungsschichten begünstigende und teilweise sogar bewußt investitionsfördernde Steuersenkung vermindert. Gleichzeitig m i t diesen i n einer Phase der Hochkonjunktur völlig deplacierten prozyklischen Maßnahmen haben Bundesregierung und Länderregierungen freilich den Grundsätzen einer antizyklischen Finanzpolitik unentwegt noch Lippendienst gezollt, und es ist i m Rückblick beschämend, daß es außer dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 13 kaum ein Gremium gab, das sich i n der Öffentlichkeit vernehmbar gegen jene konjunkturpolitisch so unangebrachte Steuersenkung ausgesprochen hätte. Der Bundesbank blieb angesichts dieser Sachlage damals nichts übrig, als unter nachdrücklicher Besinnung auf ihre währungspolitische Grundaufgabe m i t ihrer Kreditpolitik gegenzuhalten. Von heute aus gesehen mag freilich die Frage berechtigt erscheinen, ob sie nicht den i n der späteren Diskussion so viel berufenen kreditpolitischen Bremsweg wesentlich hätte verkürzen können, wenn sie sich frühzeitig zu einer kräftigen Liquiditätsverknappung entschlossen hätte, statt die 13 Stellungnahme v o m 3./4. J u l i 1964 (Bulletin des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung, Finanzpolitische Mitteilungen des Bundesministeriums der Finanzen, Bonn, Nr. 123 v o m 5. August 1964).

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von den Banken angesammelten Liquiditätsreserven nur peu ä peu zu vermindern. Da auch die Bundesregierung sich i n ihren programmatischen Äußerungen stets zum Prinzip der Währungsstabilität und zur Vermeidung konjunktureller Exzesse bekannte, setzte sich die Bundesbank keineswegs i n Gegensatz zur allgemeinen Linie der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, wenn sie von dem ihr durch den Gesetzgeber anvertrauten währungspolitischen Instrumentarium selbständigen Gebrauch machte. Übrigens werden nicht erst seit dem Inkrafttreten des Bundesbankgesetzes die einzelnen kreditpolitischen Maßnahmen der Notenbank stets nach Konsultation m i t den fachlich zuständigen Bundesministern getroffen. Wenn die Bundesbank somit den ihr durch das Prinzip der Unabhängigkeit eingeräumten Handlungsspielraum entschlossen ausfüllte, indem sie auf eine Dämpfung der übersteigerten Hochkonjunktur hinwirkte, so handelte sie gewissermaßen stellvertretend für den Staat, der i n Gestalt der Regierungen i m Bund und i n den Ländern sich zwar programmatisch für eine Politik der inneren Stabilität aussprach, dem es jedoch offenbar an der Fähigkeit gebrach, dieses Programm seinerseits zu verwirklichen. Freilich sollte sich bald die Problematik einer isolierten Anwendung des notenbankpolitischen Instrumentariums zeigen. Die Konsequenz aus dieser Problematik wurde durch das schon von der Regierung Erhard vorbereitete und von der Regierung Kiesinger dann wesentlich modifizierte Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (vom 8. Juni 1967) gezogen. Durch dieses Gesetz w i r d nunmehr antizyklisches Verhalten i m Sinne einer Beachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sämtlichen Trägern der öffentlichen Finanzwirtschaft (Bund, Ländern und Gemeinden) als Rechtspflicht auferlegt, und zwar gleichermaßen i m expansiven Sinne, wenn Beschäftigung und Wachstum zu wünschen übrig lassen, wie i m restriktiven Sinne, wenn Überbeschäftigung herrscht und die Stabilität des Preisniveaus gefährdet erscheint. Die Träger der öffentlichen Finanzwirtschaft sind somit heute einer verbindlichen Zielsetzung unterworfen, so daß für die Zukunft zu hoffen ist, daß, während bisher ein antagonistisches Handeln von Notenbank und öffentlicher Finanzwirtschaft nicht ausgeschlossen war, künftig beide grundsätzlich i n gleicher Richtung wirken werden, vorausgesetzt, daß alle Beteiligten es mit der Erfüllung der ihnen durch das Gesetz aufgegebenen Pflichten ernst nehmen. IV. Aus alledem ergibt sich, daß nach den bisherigen Erfahrungen kein Bedürfnis besteht, das Verhältnis der Bundesbank zur Bundesregierung und die Abgrenzung der beiderseitigen Kompetenzen grundsätz-

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lieh neu zu ordnen. Weder hat das Prinzip der Unabhängigkeit der Bundesbank von Weisungen der Bundesregierung zu einer „Polykratie" geführt, d. h. zu einer die notwendige Einheit der Wirtschaftspolitik gefährdenden Verteilung der öffentlichen Gewalt auf eine Mehrzahl voneinander unabhängiger Instanzen, noch hat es an der erforderlichen Klarheit über die Linie der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung oder an ihrer Unterstützung durch die Bundesbank gefehlt. Wo sich gleichwohl i m Ergebnis ein Antagonismus zeigte zwischen der Notenbankpolitik und der staatlichen Finanzpolitik, da lag er nicht darin begründet, daß die Notenbank sich der wirtschaftspolitischen Zielsetzung der Bundesregierung versagt hätte, sondern vielmehr darin, daß die politischen Instanzen es i n der Phase einer sich übersteigernden Hochkonjunktur aus einer Reihe politisch-soziologischer Gründe nicht fertig brachten, der auf Währungsstabilität (im Sinne der Dämpfung von Inflationstendenzen) gerichteten programmatischen Linie der Bundesregierung i n der tatsächlichen Gestaltung der öffentlichen Finanzwirtschaft Rechnung zu tragen. Die empirischen politischen Befunde lassen es i n Deutschland i n besonderem Maße wünschenswert erscheinen, das Verhältnis zwischen Staat und Notenbank so zu regeln, daß die Instrumente der Notenbankpolitik nicht einfach von der Regierung i n den Dienst einer möglichst geräusch- und (angeblich) schmerzlosen Deckung des staatlichen Finanzbedarfs gestellt werden können. A u f der einen Seite wächst die Tendenz zur Ausweitung der öffentlichen Ausgaben unentwegt, sei es auf dem Gebiet der Sozialpolitik oder der Rüstung, sei es auf dem der Infrastruktur (etwa i m Verkehrswesen) oder des Bildungswesens, sei es auf dem der Erhaltungssubventionen für zurückbleibende Teile der Volkswirtschaft u. a. m. A u f der anderen Seite besteht i n Deutschland offenbar psychologisch eine besonders geringe Bereitschaft, für erhöhte öffentliche Ausgaben den Preis zu zahlen, der nun einmal i n einer geordneten Finanzwirtschaft — abgesehen von den Fällen eines konjunkturpolitisch indizierten „deficit spending" — für höhere Ausgaben gezahlt werden muß, nämlich höhere Steuern. Das Resultat ist, daß die ständige Ausweitung der Haushaltsvolumina weithin einhergeht mit einer Verschlechterung der Finanzierungsstruktur der öffentlichen Ausgaben, d. h. m i t inflatorischen Tendenzen, auch i n Jahren, i n denen i m Zuge einer wirtschaftlichen Hochkonjunktur die Steuereinnahmen außerordentlich hohe Zuwachsraten zeigen. Regierungen sind nun einmal — übrigens nicht nur i n Deutschland — i n Gefahr, potentielle Inflationsinteressenten zu sein; also kommt es darauf an, die Gegenkräfte zu stärken, die es ihnen schwer machen, diesem potentiellen Inflationsinteresse nachzugeben. Kurzfristig ist es natürlich für eine Regierung angenehm, wenn eine Nachfrageinflation, die ja regelmäßig m i t einer

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Steigerung der Unternehmergewinne verbunden ist, bei unveränderten Steuersätzen überproportional wachsende Steuereinnahmen erbringt und damit die Finanzierung zusätzlicher Ausgaben ermöglicht, und kurzfristig ist es auch angenehm, wenn die reale Last des Schuldendienstes i m Zuge einer inflatorischen Entwicklung sich von Jahr zu Jahr vermindert. Aber die wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die durch eine permanente Geldwertminderung hervorgerufen werden, wiegen auf längere Sicht gewiß schwerer als diese kurzfristigen Annehmlichkeiten. Demgemäß w i r d man bei kühler Abwägung der politisch-soziologischen Fakten zu dem Ergebnis kommen, daß antizyklische Finanzpolitik, auch wenn sie vom Stabilitätsgesetz m i t Recht i n grundsätzlich gleicher Weise i m restriktiven wie i m expansiven Sinn gefordert wird, i n der Wirklichkeit der politischen Einzelentscheidung auch künftig sehr viel leichter durchzusetzen sein wird, wenn die Signale auf Expansion gestellt werden, als wenn es sich u m die stets undankbare Aufgabe einer Konjunkturdämpfung handelt 1 4 . I n einer Phase, i n der expansives Verhalten erwünscht ist, sind die Finanzminister und Stadtkämmerer i n der glücklichen Lage, sich und der Öffentlichkeit sagen zu können, daß sie auch konjunkturpolitisch ein gutes Werk tun, wenn sie Schulden (sogar kurzfristiger Art) machen, u m mehr Geld für (auch von der Sache her erwünschte) Investitionen auszugeben. Ganz anders ist es, wenn es sich darum handelt, die Finanzpolitik i n den Dienst der K o n j u n k t u r dämpfung zu stellen. I m Prinzip sind sich i n einer solchen Lage natürlich alle einig, daß eine antiinflatorische Finanzpolitik betrieben werden müsse; aber sobald es darum geht, das Programm der Ausgabenkürzung und/oder der Einnahmenerhöhung zu konkretisieren, indem ganz bestimmte Ausgaben gestrichen werden und damit (mindestens nach Meinung der Interessenten) bestimmte öffentliche Aufgaben unerfüllt bleiben oder indem ganz bestimmte Bevölkerungskreise durch Steuererhöhungen getroffen werden, ist es m i t der Popularität solcher Maßnahmen rasch vorbei, und die Lobby der Interessenten macht sich unüberhörbar vernehmlich. Hier w i r d dann i n erster Linie wieder die Notenbank sich zum Handeln berufen fühlen. Gegenüber den unvermeidlicherweise stets an bestimmten Punkten ansetzenden konkreten Maßnahmen der Finanzpolitik haben die Maßnahmen der Notenbankpolitik immer noch den unbestreitbaren Vorzug, daß sie grundsätzlich global wirken, d. h. daß sie i m Prinzip nur bestimmte fundamentale Daten — insbesondere für 14 Über die grundsätzlichen Probleme u n d politisch-soziologischen Schwierigkeiten einer antizyklischen Finanzpolitik i m restriktiven Sinne vgl. Otto Pf leiderer: Was k a n n die Finanzpolitik zur Geldwertstabilität beitragen? i n : Jahrbücher f ü r Nationalökonomie u n d Statistik, Band 180 (1967), S. 285 ff.

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Zinshöhe und Bankenliquidität — setzen und daß es den Beteiligten, nämlich den Banken als Kreditgebern und der Wirtschaft und der öffentlichen Hand als Kreditnehmern, überlassen bleibt, sich an diesen Daten zu orientieren. Je unabhängiger die Notenbank nicht nur von Weisungen der Regierung, sondern auch von Einflüssen der Interessenten ist, desto mehr w i r d sie ihre Politik rein an den Sachnotwendigkeiten orientieren können, ohne sich durch die bewegten Klagen der Betroffenen beeinflussen zu lassen. Je mehr die Notenbank den M u t zur Unpopularität hat (Unpopularität erforderlichenfalls nicht zuletzt auch bei den Regierenden, bei der Wirtschaft und bei den Repräsentanten der Massenmedien), um so mehr w i r d sie freilich auf längere Sicht der Zustimmung der Urteilsfähigen sicher sein können. Niemand w i r d so weit gehen wollen zu behaupten, daß unter günstigen Voraussetzungen nicht auch eine von der Regierung abhängige Notenbank — unter Rückendeckung durch die Regierung — unpopuläre Maßnahmen treffen könne. Aber das setzt starke Führungsqualiäten der Regierung voraus und insbesondere die Einsicht, daß Gefälligkeitsdemokratie ein schlechtes politisches System ist. Mindestens für deutsche Verhältnisse lehren die Erfahrungen seit der Währungsreform von 1948, daß Unabhängigkeit der Notenbank noch am ehesten Gewähr dafür bietet, daß eine stabilitätsorientierte und geldwertbewußte Notenbankpolitik geführt w i r d und trotzdem die wirtschaftspolitischen Ziele der Vollbeschäftigung und eines angemessenen Wachstums nicht aus dem Auge verloren werden. Inflationsfreies Wachstum setzt voraus, daß es eine breite Schicht gibt, die Ersparnisse bildet. Je längerfristig diese Ersparnisse angelegt werden, um so wirksamer ist ihr Beitrag zum inflationsfreien Wachstum. Überdies verdienen i n einem Zeitalter der Verlagerung der Zukunftssorge auf den Staat alle diejenigen Kräfte Förderung, die sich noch um individuelle Zukunftsvorsorge i m Wege der Geldvermögensbildung bemühen. Diese Gruppe der eigentlichen Interessenten an Geldwertstabilität ist aber i n unsrer heutigen politisch-soziologischen Struktur außerordentlich arm an Einfluß, und sie ist den verhängnisvollen Wirkungen der schleichenden Inflation mindestens so lange schutzlos preisgegeben, als w i r glauben, es uns aus währungspolitischen Gründen nicht leisten zu können, das langfristig angelegte Geldvermögen durch Wertsicherungsklauseln gegen die unberechenbaren Folgen der schleichenden Geldentwertung abzuschirmen 15 . U m so mehr sind diejenigen, die den 15

Uber die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, die bei der Frage der Wertsicherungsklauseln zu bedenken sind, vgl. u. a. Rudolf Stucken: Was stimmt nicht m i t unserem Geld? (Hamburg 1967), insbes. S. 82 ff., sowie H e r bert Timm: Der Einfluß von Geldwertsicherungsklauseln auf Geldkapitalangebot u n d -nachfrage u n d auf die schleichende Inflation, i n : Jahrbücher

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wichtigsten Beitrag zur Ermöglichung inflationsfreien Wachstums leisten, nämlich diejenigen, die zur volkswirtschaftlichen Netto-Geldvermögensbildung i n allen ihren Formen beitragen, daran interessiert, daß der Schutzwall gegen die verführerischen Möglichkeiten, die i n einem inflatorischen Mißbrauch der Geldschöpfungsmacht liegen, so stark und unangreifbar gemacht w i r d wie möglich. Je mehr unter den wirtschaftspolitischen Zielen eine systematische Wachstumspolitik an Bedeutung gewinnt, um so wichtiger w i r d wegen der damit immanent verbundenen inflatorischen Versuchungen ein solcher Schutzwall. I h n wirksam zu machen und zu verstärken, ist der eigentliche Sinn des Prinzips der Unabhängigkeit der Notenbank.

für Nationalökonomie u n d Statistik, Band 180 (1967), S. 313 ff., ferner: K u r t Lubasch: Die volkswirtschaftlichen W i r k u n g e n von Geldwertsicherungsklauseln (Berlin 1964) u n d das Jahresgutachten 1965/66 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Stabilisierung ohne Stagnation (Stuttgart u n d Mainz 1965), § 207.

Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Lohnpolitik in Großbritannien Von Dieter Grosser 1. Die Zahlungsbilanzschwierigkeiten als Ursache der Bemühungen u m eine staatliche Lohnpolitik Der seit dem Ende des zweiten Weltkrieges i n den westlichen Industrieländern zu beobachtende Anstieg der Preise hat zu einer Fülle von ökonomischen und politischen Experimenten und zu einer noch größeren Vielfalt von Theorien geführt, die dazu beitragen sollten, die inflationären Tendenzen zu bekämpfen. Es ist aber weder gelungen, den Preisauftrieb nachhaltig einzudämmen, noch Einigung darüber zu erzielen, i n welchem Umfange Arbeitnehmer oder Unternehmer, der Staat, die Banken oder internationale Faktoren für die Geldentwertung verantwortlich sind. Übereinstimmung besteht lediglich darin, daß der Inflationstendenz m i t ökonomischen Mitteln, so vor allem m i t dem klassischen Instrumentarium der Notenbank, nicht wirksam begegnet werden kann, da das politische Postulat der Vollbeschäftigung dem Einsatz dieser M i t t e l Grenzen setzt und zugleich die Marktposition der Arbeitnehmer stärkt, den Widerstand der Unternehmer gegen Erhöhungen der Lohnkosten aber schwächt. Länder, die i n hohem Maße auf den Export angewiesen sind, wie die Niederlande, Großbritannien und die Bundesrepublik, können sich eine Rate der Geldentwertung, die höher ist als die i n konkurrierenden Exportländern, m i t Rücksicht auf ihre Zahlungsbilanz längere Zeit nicht leisten. Haben diese Länder erst einmal ein Zahlungsbilanzproblem, und sehen sie weder i n einer Abwertung noch i m Übergang zu flexiblen Wechselkursen eine langfristige Lösung ihrer Schwierigkeiten, so geraten sie i n ein Dilemma: sie könnten ihr Zahlungsbilanzproblem ohne eine empfindliche Einschränkung des Inlandsverbrauchs nur durch schnelleres Wachstum lösen; dem schnelleren Wachstum steht jedoch gerade ihre Zahlungsbilanzschwäche entgegen 1 . Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich eine Kombination von wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen an, die einmal darauf 1 Vgl. John Corina: S. 16.

The Development of Incomes Policy. London 1966,

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zielen, die Zuwachsraten der Einkommen denen der gesamtwirtschaftlichen Produktivität anzugleichen, um kostenniveau-neutrale Steigerungen von Löhnen und Gehältern zu erreichen und zugleich die wichtigsten Faktoren der Inlandsnachfrage i n Grenzen zu halten. Zum anderen müssen diese Maßnahmen aber geeignet sein, die gesamtwirtschaftliche Produktivität zu erhöhen. Diese Kombination ist jedoch aus ökonomischen wie aus politischen Gründen schwer zu verwirklichen. Ein ökonomisches Hindernis liegt z. B. darin, daß Beschränkungen des Einkommenszuwachses unter Umständen negativ auf die Steigerung der Produktivität wirken: ein geringeres Wachstum der Einkommen könnte zu sinkenden Gewinnerwartungen und damit zu verringerten Investitionen führen, vor allem, wenn die restriktive Lohnpolitik, wie i n Großbritannien 1966, durch scharfe Krediteinschränkungen ergänzt wird. Hinzu kommt, daß der Anreiz für produktivitätssteigernde Investitionen bei hohen Lohnkosten besonders hoch sein kann. Weitaus schwieriger zu überwinden sind aber die politischen Hindernisse. Bisher ist es i n keinem der demokratischen Industrieländer gelungen, das Streben der Gruppen nach steigenden Einkommen so zu zügeln, daß inflationäre Wirkungen ausblieben. Lediglich kurzfristige Erfolge konnten i n besonderen Notlagen erzielt werden, so vor allem durch die staatliche Lohnpolitik der Niederlande nach 19452. Die zahlreichen englischen Versuche, die Inlandsnachfrage m i t Rücksicht auf die Zahlungsbilanz einzudämmen, führten bis 1964 zu einer „stop-and-go" Politik, mit der i n akuten Zahlungsbilanzkrisen die gesamte wirtschaftliche A k t i v i t ä t gedrosselt, aber keine dauerhafte Lösung des Wachstums- und des Zahlungsbilanzproblems gefunden wurde. Die Wirtschaftspolitik der Regierung Wilson hatte bereits seit 1964 das Ziel, die „stop-and-go-Politik" durch eine Politik des geplanten Wachstums von Produktion und Einkommen zu ersetzen. Der Ausbau der bereits vorhandenen Planungsorgane, vor allem des National Economic Development Council, und die Aufstellung eines Perspektivplanes bis 1970, leiteten diese Politik ein. „Neddy" war i n der Lage, mittelfristige Schätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung zu erarbeiten, die als Grundlage für Lohnleitrichtlinien dienen konnten. Für die Lohnpolitik wichtiger waren die Einrichtung des National Board for Prices and Incomes 1965 und die Verabschiedung des Gesetzes über Preise und Einkommen i m August 1966. Die Mitglieder des National Board of Prices and Incomes (NBPI) sind zum Teil Ministerialbeamte, zum Teil Industrieanwälte, Rechnungsprüfer, Unternehmer und Gewerkschaftsführer. I n den beratenden Stäben dominieren Wissenschaftler, die sich speziell mit Fragen der Wirtschaftspolitik und der Indu2 M u r r a y Edelman and R. W. Fleming: The Politics of Wage — PriceDecisions. A Four-Country-Analysis. Urbana 1965.

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strial Relations beschäftigt haben. Auf Weisung des Wirtschaftsministers prüft der Board bestimmte Lohn- und Preiserhöhungen und veröffentlicht die Ergebnisse i n Berichten an das Parlament. Obwohl selbst gegenüber Gewerkschaften und Unternehmungen nicht weisungsberechtigt, hat der Board durch seine sachkundigen, unparteiischen Berichte über die Lohn- und Preisbildung i n einzelnen Industrien bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über Preise und Einkommen Einfluß ausüben können. Seine Untersuchungen sind ein wichtiges Mittel, die Publizität von Lohn- und Preisstrukturen zu erreichen und ein informiertes Urteil der Öffentlichkeit über die Berechtigung von Lohn- und Preisforderungen zu ermöglichen. I n der Zeit vom A p r i l 1965 bis zum J u l i 1966, als es noch keine Möglichkeit gab, Firmen und Gewerkschaften zur Einhaltung der Empfehlungen des Board zu veranlassen, gelang es immerhin, allein durch das Gewicht sachlicher Argumente und durch die Unterstützung der öffentlichen Meinung i n den meisten der untersuchten Fälle beabsichtigte Erhöhungen von Preisen oder Löhnen zu verhindern, zu reduzieren oder wenigstens hinauszuschieben 3 . Es zeigte sich, daß es i n diesem Zeitraum leichter war, Firmen zur Befolgung von Preisempfehlungen zu bewegen, als Lohnempfehlungen gegenüber den Gewerkschaften durchzusetzen. Das lag nicht zuletzt daran, daß es dem Board gelang, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf höchst fragwürdige Praktiken bei der Preispolitik der betreffenden Unternehmungen zu lenken, so vor allem auf die verbreitete Tendenz, Lohnerhöhungen automatisch i n voller Höhe auf die Preise abzuwälzen, ohne überhaupt die Möglichkeit zu prüfen, die Lohnkostensteigerung durch Rationalisierungen aufzufangen 4 . Das Gesetz über Preise und Einkommen bietet nun der Regierung die Möglichkeit, den N B P I als ein Instrument zu aktiven Eingriffen i n die Entwicklung von Preisen und Löhnen zu benutzen. I n seiner ursprünglichen Fassung sah der Entwurf dieses Gesetzes lediglich ein „Frühwarnsystem" vor: die Regierung sollte das Recht erhalten, Preis- und Lohnerhöhungen i n auszuwählenden Bereichen für antragspflichtig zu erklären und ihr Inkrafttreten u m maximal 4 Monate zu verzögern. I n dieser Zeit sollte der N B P I die beantragten Erhöhungen prüfen und i n Berichten an das Parlament erklären, ob sie mit den allgemeinen w i r t schaftspolitischen Richtlinien der Planungsinstanzen vereinbar seien. Eine Vollmacht der Regierung zur Unterbindung von Preis- und Lohnerhöhungen war somit nicht vorgesehen, sondern lediglich eine Möglich3 Dem N B P I w u r d e n von der Regierung 23 Fälle zur Untersuchung zugewiesen, davon 12 geplante L o h n - oder Gehaltserhöhungen, 11 Preiserhöhungen. 4 Dazu die Berichte des N B P I Nr. 1—19, vor allem den zusammenfassenden „General Report A p r i l 1965 — J u l y 1966" (Nr. 19), London, Her Majesty's Stationery Office, Cmnd. 3087.

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keit, sie zu verzögern. I m J u l i 1966, beim Eintreten der akuten Zahlungsbilanzkrise, waren die parlamentarischen Beratungen über den Entwurf noch nicht abgeschlossen. U m für den vom Premierminister angekündigten Preis- und Lohnstopp eine gesetzliche Grundlage zu finden, wurde dem Entwurf ein Teil I V hinzugefügt, der der Regierung die Vollmacht gab, zunächst für 6 Monate Preis- und Lohnerhöhungen ganz zu unterbinden. I n dem darauf folgenden halben Jahre sollten Preisund Lohnerhöhungen nur unter ganz bestimmten, vom N B P I ausgearbeiteten Voraussetzungen möglich sein 5 . Die gesamte Vorlage wurde i m Eilverfahren etwas außerhalb der üblichen Regeln durch beide Häuser des Parlaments gehetzt. Zusammen m i t einem ganzen Bündel weiterer Maßnahmen, so vor allem einer scharfen Kreditrestriktion, führte der Preis- und Lohnstopp zu einer beträchtlichen Dämpfung der Inlandsnachfrage und einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf über 500 000 i m Februar 1967; es gelang aber, die Zahlungsbilanzkrise mindestens vorübergehend zu überwinden. Gewerkschaften und Unternehmer verbände hatten angesichts der akuten Zahlungsbilanzkrise den scharfen Restriktionsmaßnahmen keinen Widerstand entgegengesetzt, duldeten aber die Einschränkung ihrer Autonomie nur m i t äußerstem Unbehagen. Unter keinen Umständen waren sie bereit, einer Verlängerung der Vollmachten nach Teil I V des Gesetzes über Preise und Einkommen über den August 1967 hinaus zuzustimmen. Andererseits entwickelte die restriktive Lohnpolitik eine Eigendynamik. Es ist aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich, i m Herbst 1967 zum status-quo-ante des unbeschränkten Aushandelns von Lohnforderungen zurückzukehren: eine Flut von Forderungen, die i n der Periode des Lohnstopps unterdrückt wurden, wäre zu erwarten, und eine neue Runde der Lohn-Preis- oder Preis-Lohn-Spirale m i t bedrohlichen Auswirkungen auf die kaum stabilisierte und durch den NahostKonflikt erneut gefährdete Zahlungsbilanz müßte unvermeidbar eintreten. Wilsons Wirtschaftspolitik hätte sich lediglich als neue, nur schärfere Variante der stop-and-go-Politik erwiesen. Die englische Regierung steht somit vor der Aufgabe, die zeitlich begrenzten umfassen5 Dazu: Prices and Incomes Standstill: Period of Severe Restraint. Cmnd. 3150, London Nov. 66. D a r i n heißt es: „Price increases may be justified where there has been a marked increase that cannot be absorbed i n the costs of imported materials or i n costs arising from changes i n supply for seasonal or other reasons, or which are due to action by the Government, such as i n creased taxation; or where an enterprise finds itself faced by increased costs which i t is unable to restrain, and which are too large to absorb fully, such as the cost of b o u g h t - i n components forming a large part of its total costs . . . " (S. 4). Lohnerhöhungen w u r d e n i n dieser Periode n u r gestattet, w e n n sie T e i l eines Produktivitätsabkommens waren, w e n n sie die bisher am schlechtesten bezahlten Arbeiter begünstigten oder w e n n sie bereits vor dem 20. J u l i 1966 i n k r a f t treten sollten, aber wegen des Lohnstopps aufgeschoben worden waren (Ibidem, S, 7 f.).

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den Vollmachten durch ein lohnpolitisches Instrumentarium zu ersetzen, das der Autonomie der Tarifparteien einen möglichst weiten Spielraum läßt und von ihnen daher akzeptiert werden kann, das aber geeignet ist, volkswirtschaftlich gefährlichen Lohnbewegungen gewissermaßen als „letzte Verteidigungslinie" entgegenzuwirken. Diese Aufgabe ist eher politischer als ökonomischer Natur. I h r Gelingen setzt nicht nur die Bereitschaft der Tarifparteien zur Kooperation, sondern auch die Reorganisation der Gewerkschaften voraus. 2. Das Verhältnis der Labour-Partei zu den Gewerkschaften Versuchen wir, die politischen Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Lohnpolitik abzuschätzen, so müssen w i r zunächst das Verhältnis der Labour-Regierung und der Labour-Partei zu den Gewerkschaften untersuchen. Nach der Parteiverfassung könnten die Gewerkschaften die Politik der Labour-Partei bestimmen. Sie kontrollieren 8 0 % der Stimmen auf dem jährlichen Parteikongreß; über 8 0 % der Parteieinnahmen bestehen aus Gewerkschaftsbeiträgen. Handelten die Gewerkschaften einheitlich und versuchten sie, ihren Einfluß auf das Führungsorgan der Partei, das National Executive Committee (NEC), zu verstärken 6 , wäre es äußerst schwierig, ihnen Widerstand zu leisten. Die einzelnen Gewerkschaften vertreten i n allgemeinen politischen Fragen, soweit sie überhaupt zu ihnen Stellung nehmen, höchst unterschiedliche Meinungen, und sie haben den nicht nur bei den Konservativen, sondern auch i n der Labour-Party deutlichen Tendenzen, die politische Führung der Vorderbank des Parlaments zu überlassen, nicht entgegengewirkt. Sie erkennen heute an, daß nach den Regeln des englischen parlamentarischen Systems die parlamentarische Führungsgruppe nicht durch außerparlamentarische Entscheidungen gebunden werden darf. Viele Gewerkschaftsfunktionäre sind aber der Auffassung, daß die m i t der Vorderbank der Fraktion weithin identische Parteiführung die Interessen der Gewerkschaften immer dann besonders vernachlässigt hat, wenn Labour an der Regierung war. Bereits nach den Erfahrungen m i t der ersten Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald 1924 erklärte der damalige Generalsekretär des TUC, Fred Bramley: „The Labour Party cannot have i t both ways. I f when i n office we are to be detached from the Labour movement we cannot be treated as an integral part of that movement when Labour is out of office 7 ." Auch zwischen 1945 und 1951 nahm die Labour-Regierung i n wichtigen Einzelfragen, so bei der Organisation der verstaatlichten Industrien und bei 8

12 der 28 Mitglieder des NEC sind Gewerkschaftsfunktionäre. Z i t i e r t bei V. L. Allen: Trade Unions and the Government, London 1960, S. 237. 7

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der Anwendung von Zwangsmitteln gegen Streikende, nur sehr begrenzt auf Gewerkschaftsinteressen Rücksicht 8 . Der Regierung Wilson w i r d von Gewerkschaftsführern vorgeworfen, vor allem nach dem Wahlsieg vom Frühjahr 1966 die Konsultationen mit den Gewerkschaften vernachlässigt zu haben. Offenbar glaubte die Regierung nun, da sie einer starken Mehrheit i m Parlament sicher war, nicht mehr die Stimme jedes einzelnen Labour-Abgeordneten zu brauchen. Wilsons Neigung, sich vor der Öffentlichkeit als „starker Mann "zu zeigen, der Sonderinteressen i n ihre Schranken weisen kann, trug zur Verschlechterung der Beziehungen bei. Typisch war ein weithin kommentierter Vorfall auf der Parteikonferenz i m Oktober 1966. Eine von Gewerkschaftlern eingebrachte Resolution zur Frage der Kurzarbeit war von der Regierung bekämpft, vom Parteitag aber angenommen worden. Auf die Frage von Journalisten, was er nun zu tun gedenke, antwortete der Premier: „Govern". So wurde Robert Mackenzie's These, daß die Parteikonferenz nur noch eine „dignified function" erfülle 9 , gerade durch die Debatten über die Wirtschaftspolitik i m Herbst 1966 bestätigt: Obwohl es um Fragen ging, die wichtigste Interessen der Gewerkschaften berührten, hatten die Auseinandersetzungen den Stil eines Scheingefechts. Jeder wußte, daß ein Parteitagsvotum gegen die Regierungspolitik der Parteiführung zwar höchst unangenehm sein, aber die politischen Entscheidungen kaum beeinflussen würde. Der Einfluß der Gewerkschaften über die außerparlamentarische Parteiorganisation auf die Labour-Regierung ist somit relativ gering. Nun sind aber 136 der 363 Labour-Abgeordneten, die 1966 gewählt wurden, „Trade-Union sponsored", d.h. ihre Kandidatur wurde von Gewerkschaften unterstützt, und ihre Wahlkreise erhalten laufend finanzielle Zuwendungen von Gewerkschaften. 40 Unterhausmitglieder sind Gewerkschaftsfunktionäre 10 . Mehr als ein D r i t t e l der Labour-Abgeordneten steht also i n einem mehr oder weniger engen Abhängigkeitsverhältnis zu Gewerkschaften. I m Kabinett war bis zum Sommer 1966 der Generalsekretär der Transport and General Workers' Union, Cousins, Minister für Technologie; der Arbeitsminister Gunter und George Brown, zunächst Wirtschafts-, dann, nach seinem Protest gegen die Restriktionsmaßnahmen vom Sommer 1966, Außenminister, stehen den Gewerkschaften nahe. Dennoch haben die Gewerkschaften wenig Möglichkeiten, auf direktem innerparlamentarischen Wege Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung auszuüben. Der englische Hinterbänkler ist i n seinen parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten stärker eingeengt als der deutsche Bundestagsabgeordnete ohne Regierungsamt. 8

Allen: a.a.O., S. 269 ff. Robert Mackenzie: B r i t i s h Political Parties, 2nd ed. London 1963. 10 The Times: House of Commons 1966. London 1966.

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I n den Sitzungen der Fraktion und der Fraktionsausschüsse w i r d höchst selten über die Politik der Regierung abgestimmt, sondern sie dienen i n erster Linie der wechselseitigen Information: die Regierung möchte über die Stimmung unter ihren „Freunden" unterrichtet sein, den „Freunden" werden die Grundzüge der Regierungspolitik unterbreitet. I n Übereinstimmung m i t der Regel, daß die Regierung ihre Maßnahmen zunächst dem Plenum des Parlaments vorlegen muß, werden Einzelheiten einer geplanten Gesetzesvorlage i n Fraktion und Fraktionsausschüssen erst beraten, wenn die Regierung die Vorlage bereits i m Plenum eingebracht und sich damit festgelegt hat. Unter der ersten Regierung Wilson wurden die bis dahin 14tägigen regelmäßigen Sitzungen der Gesamtfraktion sogar abgeschafft und durch ad-hoc-Sitzungen zu besonderen Themen ersetzt 11 . Gewiß sind die „Whips" nicht nur dazu da, die Hinterbänkler auf die Politik des Kabinetts zu vergattern, sondern sie teilen dem Kabinett auch mit, was den Hinterbänklern zugemutet werden kann und was nicht. Dieser durch das beinahe gänzliche Fehlen von Abstimmungen und durch das Überwiegen informeller Methoden gekennzeichnete Prozeß der Meinungs- und Willensbildung hat den Vorteil, daß nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität einer opponierenden Gruppe und die Intensität ihre Widerstandes berücksichtigt werden kann. Die relativ geringe Qualifikation vieler Gewerkschaftsvertreter unter den Hinterbänklern 1 2 bedeutet aber gerade angesichts dieses Verfahrens ein besonderes Handicap. Zudem gerät eine Regierung, die sich der Unterstützung der öffentlichen Meinung sicher glaubt, leicht i n die Versuchung, Opposition unter ihren eigenen Abgeordneten stillschweigend zu übergehen, wenn sie sich keinen Abstimmungen i n der Fraktion zu stellen braucht. So hat die zweite Regierung Wilson bis zum Frühjahr 1967 i m Vertrauen auf ihre starke Mehrheit i m Parlament und auf ihren Rückhalt i n der Öffentlichkeit die Kontakte mit den Hinterbänklern i n einem auch für englische Verhältnisse erstaunlichen Maße vernachlässigt. Minister erschienen kaum noch zu Fraktionsberatungen, Verfahrenswünsche von starken Minderheiten wurden ignoriert. Das Ergebnis war die Hinterbänkler-Rebellion vom März 1967, als über 60 Labour-Abgeordnete sich bei einer wichtigen A b stimmung der Stimme enthielten und scharfe K r i t i k an der autoritären Führung von Fraktion und Partei übten. Einer solchen Rebellion sind jedoch Grenzen gesetzt. Sie liegen weniger i n der Drohung mit dem Parteiausschlußverfahren, das i n der Labour-Party gar nicht so selten angewendet wird, bei Abgeordneten, die Rückhalt i n ihren Wahlkreisen

11 Robert Mackenzie: Between t w o Elections, i n : Encounter 26/1 (Januar 1966). 12 Dazu M a r t i n Harrison : Trade Unions and the Labour Party since 1945. London 1960, S. 269 f.

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haben, aber wenig wirksam ist und oft vor den nächsten Wahlen wieder zurückgenommen werden muß. Wohl aber ist zu beachten, daß beinahe ein Drittel der Abgeordneten einer englischen Regierungspartei Regierungsämter verschiedenster A r t , vom Whip bis zum parlamentarischen Staatssekretär, bekleidet und daß weitere Abgeordnete solche Ämter oder Ehrungen erwarten. Diese Abgeordneten sind der Fels, auf den auch eine Regierung, die Differenzen m i t ihren eigenen Anhängern hat, m i t Sicherheit bauen kann. Für alle Abgeordneten gilt schließlich eine beinahe unüberwindliche Schranke der K r i t i k an der eigenen Parteiführung: Sie möchten nicht soweit gehen, daß die Wahlchancen ihrer eigenen Partei sinken oder gar der Sturz der Regierung durch eine Niederlage i m Parlament herbeigeführt wird. Das englische System der Premierministerregierung gibt Minderheiten eben nur dann Chancen, die vom Premier aufgestellten Richtlinien der Politik zu verändern, wenn der Rückhalt des Premiers i n der Öffentlichkeit unsicher wird. Auch die Vertretung i m Kabinett nützt einer Minderheit nicht viel, weil der Premier den Rücktritt eines Ministers jederzeit herbeiführen kann. Die starke Stellung einer Labour-Regierung gegenüber Partei und Fraktion bedeutet aber nicht, daß die Regierung die m i t der Partei verflochtenen Gewerkschaften i n irgendeiner Weise lenken könnte. Wohl besteht nach wie vor eine beträchtliche Loyalität der meisten Gewerkschaftsfunktionäre gegenüber der Partei, und es ist sicher, daß der TUC einer konservativen Regierung die Vollmachten vom J u l i 1966 nicht zugestanden hätte. Diese Loyalität ist jedoch mehr traditional als rational begründet. Eine Labour-Regierung ist für die Gewerkschaften nur insofern ein Vorteil, als sie i n ihren allgemeinen Zielen m i t der Labour-Partei eher übereinstimmen als mit den Konservativen. Da auf Einzelfragen der Politik die Gewerkschaften auch unter einer LabourRegierung keinen größeren Einfluß haben als jeder andere starke Interessenverband auch, und da die parlamentarische Laufbahn für führende Gewerkschaftsfunktionäre wenig attraktiv ist, steht das Eigeninteresse der Gewerkschaften der Verschmelzung mit einer Partei, die zur Rücksicht auf die ökonomischen Interessen aller Bevölkerungsteile gezwungen ist, eher entgegen. So zeigen sich vor allem seit dem Sommer 1966 Tendenzen, die Bindungen zur Partei zu lockern. Diese Tendenzen haben die Unzufriedenheit m i t der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik nur zum äußeren Anlaß; langfristiger wirksam ist die Zunahme der Zahl von überwiegend konservativ wählenden nichtmanuellen Arbeitnehmern unter den Gewerkschaftsmitgliedern. Wollen die Gewerkschaften weiter wachsen, so können sie das nur, wenn sie i n den nichtmanuellen Bereich weiter eindringen und eine spezifische Interessenpolitik treiben. Es ist bezeichnend, daß die schärfste Opposition gegen den Preis- und Lohnstopp von einer typischen white-collar-Gewerk-

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Schaft 13 kam. Der gegenwärtige Präsident des TUC, Woodcock, gilt als ein Befürworter von unpolitischen, lediglich auf die Wahrung w i r t schaftlicher und sozialer Interessen gerichteter Gewerkschaften; er fürchtet eine Sezession, falls die enge Bindung an die Partei erhalten bleibt, die politische Heterogenität der Gewerkschaftsmitglieder aber weiter zunimmt. Die radikalen Sozialisten unter den Gewerkschaftsführern, für die Frank Cousins stehen mag, neigen ebenfalls zu einer Lockerung der Bindungen an die Partei, wenn auch aus anderen Motiven. Sie haben die Illusion aufgegeben, daß es gelingen könnte, die Partei auf die militante Vertretung von Arbeiterinteressen festzulegen, und empfinden die Bindung an die Partei als Fessel für die Gewerkschaftsbewegung. Noch sind die Befürworter der Trennung i n der M i n derheit; jeder Versuch einer Labour-Regierung, die organisatorischen und personellen Bindungen zwischen Partei und Gewerkschaften zu einem Druck auf die Gewerkschaften auszunutzen, verstärkt jedoch die Selbständigkeitsbestrebungen. Da ein Ausscheiden der großen Gewerkschaften aus der Partei äußerst nachteilige Folgen für die Parteifinanzen haben könnte, liegen hier deutliche Grenzen für die Lohn- und Wirtschaftspolitik einer Labour-Regierung. Die enge Verbindung zwischen Labour-Partei und Gewerkschaften ist somit als ein nur recht begrenzter Vorteil für eine Labour-Regierung anzusehen, die eine Kontrolle der Lohnentwicklung erstrebt. Der zeitlich befristete Lohnstopp vom J u l i 1966 strapazierte die Loyalität der Gewerkschaften gegenüber der Labour-Regierung auf das Äußerste; die Zustimmung der Gewerkschaften zu einer auf lange Sicht institutionalisierten staatlichen Lohnkontrolle dürfte i n England ebenso schwer zu erreichen sein wie i n Ländern m i t strengerer Trennung von Sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaften. 3. Grenzen einer autonomen Kontrolle der Lohnentwicklung durch die Tarifparteien U m dem immer stärkeren Drängen von Regierung und Öffentlichkeit nach einer effektiven Lohnpolitik zu begegnen und eine Einschränkung der Autonomie der Tarifparteien zu vermeiden, hat der TUC vorgeschlagen, die Kontrolle der gewerkschaftlichen Lohnpolitik i h m selbst als der Dachorganisation der Einzelgewerkschaften zu übertragen. So soll ein Ausschuß des TUC die Lohnforderungen der Einzelgewerkschaften prüfen. Dieser Plan w i r f t eine Reihe von Fragen auf, die fast unlösbar erscheinen. 13 Association of Supervisory Staffs, Executives and Technicians, Generalsekretär Clive Jenkins.

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Unüberwindliche Hindernisse für eine wirksame Beschränkung der Zuwachsraten der Effektivlöhne durch eine autonome Lohnpolitik von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden liegen vor allem i n der gegenwärtigen Organisation der Tarifparteien. Weder die Dachorganisation der Einzelgewerkschaften, der TUC, noch die Confederation of British Industries haben die Befugnis, den Mitgliederorganisationen verbindliche Anweisungen zu geben. Unternehmer und Gewerkschaften haben bisher lediglich eine freiwillige Befolgung der von ihren Dachorganisationen ausgearbeiteten Richtlinien erwogen. „The TUC has no power over affiliated unions, and if i t tried to exercise any power, they would teil i t where to go 1 4 ." Für die Unternehmerverbände gilt das gleiche. I n einer Zeit des Arbeitskräftemangels kann ihr Interesse durchaus darin liegen, hohen Lohnforderungen entgegenzukommen, und eine bloß moralische Bindung an Empfehlungen ihrer Dachorganisation dürfte dann wenig nützen. A u f der Arbeitnehmerseite kommt nun als besondere Schwierigkeit für jede gewerkschaftseigene zentrale Lohnpolitik die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung hinzu. Es gibt über 600 Einzelgewerkschaften, von denen 1965 172 mit 8,8 M i l l . Mitgliedern dem TUC angeschlossen waren 1 5 . Ein einheitliches Organisationsprinzip fehlt; es gibt craft unions, die nur gelernte Arbeiter eines oder mehrerer verwandter Berufe aufnehmen, Industriegewerkschaften und Allgemeine Gewerkschaften, ohne daß diese Unterscheidungen auf eindeutigen Kriterien beruhen. Die Folge ist, daß i n jedem größeren Betrieb mehrere Gewerkschaften um Mitglieder konkurrieren. Hauptform dieses Wettbewerbs ist natürlich das Streben nach hohen Tariflöhnen und übertariflichen Leistungen. Die Versuchung, eine vom TUC empfohlene Politik der Zurückhaltung bei Lohnforderungen zu mißachten, ist daher besonders groß. Die Erfahrungen der Jahre 1948—1950 schrecken. Damals unterstützte der TUC die restriktive Lohnpolitik der Labour-Regierung. Je günstiger die Marktchancen der Arbeitnehmer aber wurden, desto heftiger verlangten die Gewerkschaftsmitglieder eine militante Lohnpolitik, und sie traten schließlich i n Scharen aus Gewerkschaften aus, die sich diesen Forderungen entziehen wollten. I n einem günstigen A r beitsmarkt müssen die Gewerkschaften Lohnforderungen stellen, denn das ist ihre zentrale Aufgabe und die Grundlage ihrer Existenz. Erfüllen sie diese Aufgabe m i t Rücksicht auf übergeordnete Interessen nicht, 14 Der Präsident des TUC 1950, nach John Corina: The Labour Market, London 1966, S. 10. 15 Unter den nicht angeschlossenen Gewerkschaften sind die der Lehrer (National Union of Teachers) u n d die mehrerer Gruppen von Verwaltungsangestellten die wichtigsten; sonst sind es meist kleine, spezialisierte Berufsverbände. Vgl. Corina: The Labour Market, a.a.O., S. 8.

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so riskieren sie ihre eigene Existenz, und zwar w i r d der kritische Punkt um so eher erreicht, je zersplitterter die Gewerkschaftsbewegung ist. Selbst wenn es aber gelänge, diese Schwierigkeit zu überwinden und die Einzelgewerkschaften an Entscheidungen der Lohnkommission des TUC zu binden, so wäre damit noch nicht gewährleistet, daß sich auch die Arbeitnehmer i n den einzelnen Betrieben an diese Vereinbarungen hielten. Die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen i n England werden nicht nur durch die Zersplitterung der Gewerkschaften, sondern auch durch den erheblichen Einfluß informeller Arbeitnehmergruppen auf Betriebsebene gekennzeichnet. Diese meist von Betriebsobleuten, shop-stewards, geleiteten Gruppen bemühen sich um Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen i m Betrieb, vor allem u m übertarifliche Leistungen. Auch die berüchtigten „restriktiven Praktiken", zum Beispiel die Bedienung einer Maschine durch mehr Arbeiter, als es technisch notwendig wäre, beruhen nur zum Teil auf Gewerkschaftsforderungen; sie werden oft durch shop-stewards erzwungen, die ihren A n hängern die gewohnten Arbeitsplätze erhalten wollen. Vor allem haben die shop-stewards i n der Zeit der Vollbeschäftigung nach 1950 den „drift", d. h. die Differenz der Entwicklung von Tariflöhnen und Effektivlöhnen, erheblich ausweiten können 1 6 . Ein wichtiges M i t t e l zur Erhöhung der Effektivlöhne war das systematische Streben nach Überstunden. 1963 wurden z. B. i n der verarbeitenden Industrie i m Wochendurchschnitt fünf Überstunden je Arbeiter geleistet, was zum Teil durch absichtliches und organisiertes Langsamarbeiten während der tariflich vereinbarten Arbeitszeit erzwungen wurde 1 7 . Statistisch wurde Vollbeschäftigung erreicht, während gerade i n den konjunkturell begünstigten Industriezweigen die hohe Zahl von Überstunden nur ein Zeichen für eine äußerst mangelhafte Nutzung der Arbeitskraft, d. h. für Unterbeschäftigung, war. Solange der Einfluß der informellen Arbeitnehmergruppen und der shop-stewards i n den Betrieben zur Aufrechterhaltung von restriktiven Praktiken und zur Erhöhung des Lohndrifts benutzt wird, ist nicht nur eine auf Produktivitätssteigerung zielende Wirtschaftspolitik, das notwendige K o r relat einer erfolgreichen Lohnpolitik, äußerst erschwert, sondern auch die Zurückhaltung der Gewerkschaften bei Lohnforderungen ist von nur begrenztem Nutzen. Gerade bei Vollbeschäftigung könnte die Zurückhaltung der Gewerkschaften bei tariflichen Forderungen zu erhöhten übertariflichen Forderungen der shop-stewards führen. Die Unternehmer sind den Forderungen der shop-stewards bisher nur 16 I m Durchschntt der verarbeitenden Industrie lagen die Effektivlöhne 1948 19 °/o, 1959 26 °/o über den Tariflöhnen (ohne Überstunden); seitdem ist die Differenz weiter gestiegen. Vgl. A l l a n Flanders: I n d u s t r i a l Relations: What is Wrong w i t h the System? London 1965, S. 41. 17 Flanders, a.a.O., S. 41.

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zögernd entgegengetreten; sie fürchten Streiks und ziehen es vor, die Kosten, die der Verlust der Unternehmerkontrolle über die Lohn- und Arbeitsbedingungen i m Betrieb verursacht, auf die Verbraucher abzuwälzen. Die Gewerkschaftsführer aber sehen i n der Sorge, Autorität an die shop-stewards zu verlieren, ein mindestens ebenso großes Hindernis für eine zurückhaltende Lohnpolitik wie i n der Furcht vor der Abwerbung von Mitgliedern durch militante Konkurrenzgewerkschaften. Erscheint somit eine autonome Kontrolle der Lohnentwicklung durch die Tarifparteien unter den gegenwärtigen Umständen unmöglich, so muß der Gedanke einer autonomen Kontrolle der Preisentwicklung durch die Unternehmerorganisationen als ganz utopisch bezeichnet werden. Er ist auch, wegen seiner offensichtlichen Absurdität, selbst von Unternehmerseite nie ernsthaft erwogen worden. 4. Umriß einer Politik der Erziehung zur funktionsfähigen Autonomie der Tarifparteien Unter diesen Umständen erscheint es sinnlos, von den Tarifparteien eine autonome Lohn- und Preispolitik zu fordern, die auf ein vom Staat definiertes Gesamtinteresse Rücksicht nimmt. Die unpersönlichen Kräfte des gegenwärtigen Systems zwingen die Gewerkschaften zu einer Rückkehr zu einer militanten Lohnpolitik; lediglich kurzfristig, vor allem i n Perioden steigender Arbeitslosigkeit, ist ihnen Zurückhaltung möglich. Daraus folgt, daß es für die Labour-Regierung nur eine Alternative gibt: entweder die stop-and-go-Politik m i t globalen Steuerungsmitteln und öffentlichen Ermahnungen fortzusetzen, oder die Autonomie der Tarifparteien mindestens so lange einzuschränken, bis die strukturellen Voraussetzungen für eine funktionsfähige Autonomie geschaffen sind. Eine konsistente, die Erziehung der Tarifparteien zu einer funktionsfähigen Autonomie anstrebende Politik müßte die Lohnpolitik als den Kernbereich einer allgemeinen Politik zur Koordinierung von Einkommen, Preisen und Beschäftigung ansehen. Zurückhaltung der Unselbständigen bei Lohnforderungen kann nur erwartet werden, wenn auch die Einkommen der Selbständigen nur i m Rahmen der allgemeinen Leitlinien steigen, wenn die Preise einigermaßen stabil bleiben und keine Übernachfrage nach Arbeitskräften besteht. Die Instrumente für eine solche allgemeine Politik sind vorhanden. Würden die globalen Steuerungsmittel konsequent und koordiniert eingesetzt, so wäre es möglich, die Befugnisse des N B P I zur Überwachung der Preise nur i n Einzelfällen anzuwenden und, i n Zusammenarbeit m i t der Monopolkommission, i n erster Linie die Ausnutzung von Marktmacht zur Preiserhöhung zu bekämpfen. Ergänzend könnte an die Einführung einer Sondersteuer auf überhöhte ausgeschüttete Gewinne gedacht werden.

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Bei diesen Erwägungen ist man sich i n England natürlich darüber i m klaren, daß eine Beschränkung der ausgeschütteten Gewinne die Neigung zur Selbstfinanzierung und damit eine weitere Verschiebung der Vermögensbildung zugunsten der Unternehmer fördert; m i t Rücksicht auf die private Investitionstätigkeit w i r d dieser Effekt aber auch von den meisten Gewerkschaftsführern i n Kauf genommen. Ein unmittelbarer staatlicher Einfluß auf die tarifvertraglich festgelegten Löhne und Gehälter und die Preise ist nun, nach dem Auslaufen der i n Teil I V des Gesetzes über Preise und Einkommen festgelegten Vollmachten i m August 1967, nur i n einer Form politisch durchsetzbar, die die Autonomie der Tarifparteien i m Prinzip wieder herstellt. Dazu bietet sich vor allem die Aktivierung der i n Teil I I des Gesetzes festgelegten Möglichkeiten an, das Inkrafttreten von Lohn- und Preiserhöhungen zu verzögern. Die Novelle zu diesem Gesetz, die i m Juni 1967 dem Unterhaus vorgelegt wurde, sieht für eine Übergangsperiode von einem Jahr vor, daß die Regierung Anträge auf Lohn- und Preiserhöhungen an das N B P I überweisen und dadurch diese Erhöhungen um maximal 7 Monate verzögern kann. Vom Sommer 1968 an soll die maximal mögliche Verzögerung wieder 4 Monate betragen. Der Widerstand der Gewerkschaften gegen diese Wiederaufnahme des „ F r ü h warnsystems" war gering; Präsident Woodcock bezeichnete die Vorlage als „unschädlich" 1 8 . Das bedeutet jedoch nicht, daß die Möglichkeit, Lohn- und Preiserhöhungen um 7 bzw. 4 Monate zu verzögern und während dieser Zeit der öffentlichen K r i t i k auszusetzen, eine ganz unwirksame Methode wäre. I n einer wachsenden Wirtschaft kann eine Verzögerung von 4 Monaten zwischen dem Abschluß eines Tarifvertrages und seinem Inkrafttreten inflationäre Auswirkungen der Einkommenserhöhung dämpfen. Allerdings besteht die Gefahr, daß die Gewerkschaften diese Verzögerung antizipieren und ihre Forderungen entsprechend höher ansetzen. Es w i r d daher darauf ankommen, die Praxis der Tarifverhandlungen und die Gewerkschaftsstruktur so zu verändern, daß staatliche Befugnisse immer mehr durch die Selbstkontrolle der Tarifparteien ersetzt werden können. Wie vor allem von Allan Flanders gefordert w i r d 1 9 , müßte ein Tarif Vertragssystem auf drei Ebenen angestrebt werden: auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene hätten der TUC und die CBI die allgemeinen Leitziffern, wie sie unter Beteiligung beider Dachverbände von den staatlichen Planungsorganen aufgestellt werden, für die einzelnen Industrien nach Gesichtspunkten des wirtschaftlichen Wachstums und der sozialen Billigkeit zu differenzieren. A u f der Ebene der 18

Economist, 10. 6. 1967. A. Flanders: Industrial Relations: What is Wrong w i t h the System?, a.a.O., u n d A . Flanders : Memorandum of Evidence to the Royal Commission on Trade Unions and Employers' Associations, 1967 (nicht veröffentlicht). 10

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einzelnen Industrien müßten dann Einzelgewerkschaften und Unternehmerorganisationen Tarifverträge i m Rahmen der generellen Richtlinien abschließen. A u f der Ebene der einzelnen Betriebe könnten schließlich Vereinbarungen getroffen werden, die die zentralen Tarifverträge ergänzen, aber nicht durchbrechen. Voraussetzung eines solchen drei-Stufen-Systems wäre eine organisatorische Reform der Gewerkschaftsbewegung. Die Kompetenzen des TUC müßten verstärkt, der Zusammenschluß kleiner Gewerkschaften zu Industriegewerkschaften müßte gefördert werden. Die größten Schwierigkeiten wären vielleicht auf der dritten Ebene, der des einzelnen Betriebes, zu überwinden. Die Abweichung der Effektivlöhe von den zentral vereinbarten Tariflöhnen muß auf funktional gerechtfertigte Unterschiede zurückgeführt, die mangelhafte Nutzung von A r beitskraft durch restriktive Praktiken beseitigt werden. Das aber ist nur möglich, wenn die Unternehmensführung effektiver und zugleich die Macht der informellen Arbeitnehmergruppen eingeschränkt wird. Die vom N B P I geförderten Produktivitätsabkommen, bei denen die Arbeitnehmer auf restriktive Praktiken verzichten, die Unternehmer höhere Tariflöhne zugestehen, sind ein Schritt auf diesem Wege. Zur Zeit verstärkt sich i n England die Auffassung, daß eine dauerhafte Lösung des Problems der Macht informeller Arbeitnehmergruppen nur durch die Einführung von institutionalisierter betrieblicher Mitbestimmung möglich ist. Bei der Reform der Gewerkschaftsbewegung und des Systems der Tarif Verhandlungen kann der Staat jedoch nur Anregungen und Hilfen geben; die Durchführung der Reform obliegt den Gewerkschaften selbst. U m die Reformbereitschaft zu stärken, wandte die Regierung Wilson bisher eine doppelte Taktik an: sie versuchte, die Öffentlichkeit für die Idee einer rational geplanten Zukunft zu begeistern, und hatte damit bis i n den Winter 1966/67 hinein beachtlichen Erfolg. I n einer Fülle von Veröffentlichungen und Diskussionen förderten Publizisten und Wissenschaftler die Auseinandersetzung mit den Fragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Planung, der Produktivitätssteigerung und der Reform des Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaften konnten es sich nicht leisten, Reformen ganz abzulehnen, die von der öffentlichen Meinung nachdrücklich gefordert wurden. Zusätzlich drohte die Regierung ihnen mit der Einschränkung ihrer Tarifautonomie, wenn sie nicht selbst die Initiative zur Reform ergriffen. Die Bereitschaft zum Experiment und sogar zum Verzicht auf Sondervorteile, die noch i m Sommer 1966 den Übergang zum Lohnstopp erleichterte, läßt sich aber nur eine begrenzte Zeit aufrechterhalten; dann verlangt die Öffentlichkeit sichtbare Ergebnisse, Belohnungen für ihr Engagement. Die scharfe wirtschaftliche Rezession, auch die außenpolitischen Mißerfolge i m Winter 1966/67 förder-

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ten die Desillusionierung. Die empfindlichen Verluste der Labour-Party bei den Gemeinde wählen und bei Unterhausnachwahlen i m Frühjahr 1967, die z. T. auf Stimmenthaltungen von Labour-Anhängern zurückzuführen sind, zeigten die politische Grenze: Teile der Arbeiterschaft sind offenbar nicht mehr bereit, Vorleistungen für eine Politik zu erbringen, deren Erfolg ihnen fraglich erscheint. Damit aber könnte sich auch der Widerstand i n der Gewerkschaftsbewegung gegen Reformen verstärken. Die Idee, die staatliche Lohnpolitik als M i t t e l der Erziehung der Tarifparteien zur funktionsfähigen Autonomie zu verwenden, wäre damit gescheitert.

Die wirtschaftliche Komponente der amerikanischen Außenpolitik Von Carl Landauer Wirtschaftlicher Gewinn kann Zweck außenpolitischen Handelns sein, wenn zum Beispiel ein Land auf diplomatischem oder militärischem Weg versucht, sich Möglichkeiten der Kapitalanlagen zu erschließen oder zu erhalten. Der Einsatz wirtschaftlichen Reichtums kann ein M i t tel sein, außenpolitische Ziele zu erreichen, wenn zum Beispiel andere Völker unterstützt werden, um ihre Freundschaft zu gewinnen und dadurch die eigene Sicherheit zu verstärken, oder u m sie durch Behebung materieller Not von unerwünschten Entscheidungen abzuhalten. Außer diesen beiden Beziehungen zwischen Wirtschaftspolitik und Außenpolitik gibt es noch eine dritte, die sozusagen i n der Mitte steht: M i t außenpolitischen Mitteln können wirtschaftliche Vorteile erstrebt werden, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern u m die ökonomischen M i t t e l zu verstärken, die für außenpolitische Zwecke eingesetzt werden können; zum Beispiel kann ein Staat danach streben, durch Steigerung des Exports m i t Hilfe günstiger Verträge die Zahlungsbilanz zu entlasten, damit anderen Staaten Wirtschafts- oder Militärhilfe aus politischen Erwägungen geleistet werden kann 1 . I n der Politik der Vereinigten Staaten hat wirtschaftlicher Gewinn als Selbstzweck für das außenpolitische Handeln an Bedeutung verloren, während der Einsatz wirtschaftlichen Reichtums als Instrument der Außenpolitik viel wichtiger geworden ist; die Beschaffung wirtschaftlicher M i t t e l für außenpolitische Zwecke war i n der unmittelbaren Nachkriegszeit kein Problem, seitdem ist sie aber durch steigende Schwierigkeiten der amerika1 Was f ü r die Sicherheit einer Nation erforderlich ist, hängt zum erheblichen T e i l v o m Stand der Technik u n d damit von der Wirtschaft ab. Die Indianer brauchten f ü r ihre Sicherheit keinen Panama-Kanal, noch konnte ihre Sicherheit durch einen K r i e g i n Europa oder Asien bedroht werden. Wie überdies ein V o l k die objektiven Bedingungen seiner Sicherheit interpretiert, ist natürlich v o n seinem geistigen u n d seelischen Habitus abhängig, u n d m a n braucht kein M a r x i s t zu sein, u m zu glauben, daß unter anderen auch wirtschaftliche Faktoren diesen Habitus beeinflussen. Diese Zusammenhänge können hier n u r erwähnt, nicht erörtert werden. Daraus folgt aber nur, daß der T i t e l dieses Beitrags, w i e fast jeder Titel, an Genauigkeit etwas zu wünschen übrig läßt: Die Einteilung i n Wirtschaftsgewinn als Ziel, W i r t schaftsreichtum als M i t t e l u n d Wirtschaftsgewinn als Zwischenziel erschöpft nicht ganz die Bedeutung des Wirtschaftlichen f ü r die Außenpolitik.

38 Festgabe für Gert von Eynern

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nischen Zahlungsbilanz zu einem wichtigen Leitgedanken amerikanischer Außenpolitik geworden.

I.

U m die Jahrhundertwende herum war die Außenpolitik der Vereinigten Staaten i n der westlichen Hemisphäre — die damals ihr wichtigstes Operationsgebiet w a r 2 — sehr wesentlich durch das Bestreben bestimmt, amerikanischen Unternehmungen Profitmöglichkeiten zu erschließen und ihre Investitionen zu schützen. Diese Politik w i r d gewöhnlich als „Dollar-Diplomatie" bezeichnet, aber der Ausdruck besagt nicht genug, denn die Vereinigten Staaten haben i n dieser Periode nicht nur diplomatische, sondern auch militärische M i t t e l i n den Dienst dieser Interessen gestellt 3 . So landete amerikanische Marineinfanterie i m Jahr 1915 i n H a i t i und die Okkupation dauerte 19 Jahre; i n Nikaragua dauerte sie von 1912 bis 1933; i n Cuba erfolgten militärische Interventionen 1906 und 1912; i n Santo Domingo 1916 — Dauer der Okkupation bis 1924. Gewiß haben i n kaum einem dieser Fälle wirtschaftliche Interessen allein das amerikanische Handeln bestimmt. Zum mindesten seit 1904 wurde das Recht oder sogar die Pflicht der Vereinigten Staaten zur Intervention i n Ländern der westlichen Hemisphäre als Korrelat der Monroe-Doktrin aufgefaßt, die aus politischen Gründen aufrechterhalten wurde: Da die Vereinigten Staaten es nicht zulassen wollten, daß europäische Länder gegen Vergewaltigung ihrer wirtschaftlichen Interessen durch amerikanische Staaten mit militärischen Mitteln einschritten, müßten sie selbst — so lautete das Argument — i n solchen Fällen 2 Auch i n dem zweitwichtigsten Gebiet außenpolitischer A k t i v i t ä t , dem Fernen Osten, waren Interessen des Handels u n d der Kapitalanlage von ausschlaggebender Bedeutung. Diesen Interessen diente vor allem das von den Vereinigten Staaten verteidigte Prinzip der Offenen T ü r i n China. Auch bei der Flottendemonstration, die i m Jahre 1854 Japan zur Öffnung einiger Häfen zwang, waren Handelsinteressen entscheidend. 3 Das treffliche Buch von Herbert Feis: The Diplomacy of the Dollar, B a l t i more, John Hopkins Press, 1950, enthält zwar Gedanken von Bedeutung für diese Vorgänge, beschäftigt sich aber i n der Hauptsache m i t einem anderen, w e n n auch verwandten Thema: der Einflußnahme der amerikanischen Regierung auf die Gewährung privater Anleihen an ausländische Staaten. Dieses Problem, obgleich von großem historischen Interesse, ist heute überschattet von der Frage, w i e w e i t u n d nach welchen Grundsätzen die Regier u n g der Vereinigten Staaten anderen Ländern direkte finanzielle H i l f e gewähren soll. Z u r Information über wichtige Fälle militärischen Eingreifens der Vereinigten Staaten, siehe Dana G. Munro: The United States and the Caribbean Area, Boston, W o r l d Peace Foundation, 1934. F ü r eine offizielle Darstellung der amerikanischen P o l i t i k i n dem besonders wichtigen F a l l von Nikaragua, siehe Department of State: The United States and Nicaragua, Washington, Government P r i n t i n g Office, 1932.

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eine Polizeigewalt ausüben 4 . Die Gefahr eines europäischen Eingreifens war kein bloßer Vorwand: Das französische Eingreifen i n Mexiko (zuerst unter Mitbeteiligung von Großbritannien und Spanien) i m Jahre 1864, durch das der unglückliche Habsburger Prinz Maximilian auf den mexikanischen Kaiserthron gesetzt werden sollte, war formell begründet worden mit einer Suspension der Zahlungen an ausländische Gläubiger durch Präsident Juarez. Noch i m Jahre 1903 hatten deutsche, britische und italienische Kriegsschiffe mehrere Häfen Venezuelas einer Blockade unterworfen und einen davon bombardiert, weil Venezuela die Schuldenzahlung vernachlässigt hatte. I m Fall Nikaraguas haben zweifellos für die Vereinigten Staaten auch Sicherheitserwägungen mit Rücksicht auf die Verbindung zwischen A t l a n t i k und Pazifik mitgespielt, die eine ungefährdete Passage über die Landenge und möglicherweise den Bau eines Parallel-Kanals zum Panama-Kanal erfordern könnten; noch mehr waren natürlich Sicherheitserwägungen i m Jahre 1903 beim Konflikt m i t Columbia über den Bau des Panama-Kanals selbst i m Spiel; damals hinderten Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten die Republik Columbia daran, eine Revolution i n der IsthmusGegend niederzuwerfen und sicherten damit den Erfolg einer Revolution, die zur Schaffung des Staates Panama mit einer den nordamerikanischen Kanalwünschen gefügigen Regierung führte. Unter Woodrow Wilson verschwisterte sich m i t dem Wunsch, amerikanische Interessen zu schützen, ein starker Missionsglaube, der für die amerikanische Pol i t i k die Aufgabe i n Anspruch nahm, i n Lateinamerika soweit als möglich der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen; dieser Glaube hat freilich die isolationistische Welle der zwanziger Jahre nicht überlebt 5 . Aber mit der möglichen Ausnahme des Panama-Falles ist es doch recht unwahrscheinlich, daß irgendwelche der vielen militärischen Interventionen stattgefunden hätten, wenn nicht Gewinnchancen nordamerikanischer Unternehmungen und die Sicherheit nordamerikanischer Kapitalanlagen auf dem Spiel gestanden hätten 6 . 4 Siehe die Erklärung des Präsidenten Theodore Roosevelt v o m 6. Dezember 1904, daß eine chronische P o l i t i k des Unrechts („chronic wrongdoing"), wie zum Beispiel Nichtzahlung öffentlicher Auslandsschulden, seitens eines Staates i n der westlichen Hemisphäre, „die Vereinigten Staaten m i t Rücksicht auf i h r Bekenntnis zur Monroe Doctrin zwingen könne, eine i n t e r nationale Polizeigewalt auszuüben". Über dieses „Roosevelt Corollary" der Monroe Doctrin u n d seine Entstehung, siehe z. B. Samuel Flagg Bemis: The L a t i n American Policy of the United States, New York, Harcourt-Brace, 1943, S. 146 ff.; W i l l i a m Henry Harbaugh: The Life and Times of Theodore Roosevelt, New York, Farrar-Straus, 1961, S. 182 ff.; Robert A. Goldwin: Readings i n American Foreign Policy, New York, Oxford University Press, 1959, S. 195 ff. 5 Siehe Gottfried Pfeifer: Die Vereinigten Staaten u n d Mexiko. Essen, Essener Verlagsanstalt, 1943, S. 76 ff. 6 Daß der überwiegende Teil der amerikanischen öffentlichen Meinung die P o l i t i k der Dollar Diplomacy unterstützte, lag zum T e i l an dem hohen —

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M i t dieser P o l i t i k i s t es aus. Sie w u r d e begraben, als die V e r e i n i g t e n S t a a t e n i m J a h r e 1938 d i e B e s i t z e r g r e i f u n g n o r d a m e r i k a n i s c h e r ö l gewinnungsanlagen durch M e x i k o m i t einem bloßen Protest h i n n a h m e n u n d i m V e r h a n d l u n g s w e g e i n e n A u s g l e i c h suchten, d e r i m J a h r e 1941 auch e r r e i c h t w u r d e 7 . Daß d i e D o l l a r - D i p l o m a t i e i m u r s p r ü n g l i c h e n S i n n , n ä m l i c h d i e V e r w e n d u n g m i l i t ä r i s c h e r G e w a l t oder d e r D r o h u n g m i t solcher G e w a l t f ü r p r i v a t e W i r t s c h a f t s i n t e r e s s e n d e r V e r g a n g e n h e i t angehört, schließt n a t ü r l i c h n i c h t aus, daß die D i p l o m a t i e d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n i h r e n B ü r g e r n das G e l d v e r d i e n e n e r l e i c h t e r t , w o sich dies m i t n o r m a l e n M i t t e l n erreichen l ä ß t u n d n i c h t z u p o l i t i s c h u n e r w ü n s c h t e n F o l g e n f ü h r t . W i e jedes andere L a n d , versuchen auch d i e V e r e i n i g -

w e n n auch nie unangefochtenen — Prestige des großkapitalistischen U n t e r nehmertums i n dieser Periode, zum T e i l aber auch an dem A u f f l a m m e n eines nationalistischen Machtgefühls, w i e es so ungehemmt weder vorher noch nachher i n der Geschichte der Vereinigten Staaten bestanden hat. Den naivsten Ausdruck hat dieses Gefühl i n einer Note der Vereinigten Staaten an Großbritannien v o m 20. J u l i 1895 gefunden, i n der es hieß: „Heute sind die Vereinigten Staaten praktisch souverän auf diesem Kontinent u n d i h r W i l l e (fiat) ist Gesetz i n jenen Angelegenheiten, auf die sich ihre Intervent i o n erstreckt, . . . u n d zwar unter anderem deshalb, w e i l ihre unermeßlichen Hilfsquellen u n d ihre isolierte Lage sie zu Herren der Lage u n d u n v e r w u n d bar gegenüber allen anderen Mächten machen." (Siehe Samuel Flagg Bemis: The American Secretaries of State and their Diplomacy, New York, Knopf, 1963, vol. V I I I , S. 305 ff.) Diese Note w a r gezeichnet u n d wahrscheinlich auch verfaßt durch den Staatssekretär Richard Olney, u n d es w a r eine Ironie des Schicksals, daß die formelle Verantwortung dafür auf den Präsidenten Cleveland fiel, zu dessen S t i l diese A r t der Diplomatie gar nicht paßte. Der K o n f l i k t , bei dem es sich u m einen Grenzstreit zwischen Venezuela u n d B r i t i s h Guayana handelte, w u r d e friedlich beigelegt. 7 Über die Vorgeschichte u n d den Verlauf der Ölkrise von 1938, siehe George W a r d Stocking: The Mexican O i l Problem" (mit D o k u m e n t e n - A n hang), i n Carnegie Endowment for International Peace, International Conciliation, no. 345, December 1938; Charles A. Thomson: „The Mexican O i l Dispute", i n : Foreign Policy Association, Foreign Policy Reports, August 15th, 1938; Gottfried Pfeifer, op. cit. A m 30. März 1938 gab Cordell Hüll, F r a n k l i n Roosevelts Secretary of State, folgende E r k l ä r u n g ab: „ D i e Regier u n g der Vereinigten Staaten hat nichts unternommen, u n d u n t e r n i m m t nichts, u m das Recht der mexikanischen Regierung i n Frage zu stellen, auf G r u n d ihrer Souveränität irgendwelches Eigentum innerhalb ihres Hoheitsgebietes zu enteignen. Doch hat die Regierung der Vereinigten Staaten w i e derholt u n d i n freundlichster Weise die mexikanische Regierung darauf hingewiesen, daß die Grundsätze des Völkerrechts, der unter zivilisierten V ö l k e r n übliche wechselseitige Respekt f ü r ihre Institutionen (comity of nations), u n d der B i l l i g k e i t (equity) eine Entschädigung f ü r das enteignete Eigentum amerikanischer Bürger verlangen, u n d zwar eine Entschädigung, die einen angemessenen (fair), sicheren u n d realisierbaren (effective) Wert f ü r diejenigen darstellt, denen i h r Eigentum weggenommen wurde." (US Department of State, Press Release, 2. A p r i l 1938, zitiert von Thomson, op. cit., S. 128). Während der Blütezeit der Dollar-Diplomatie hätte sich sicherlich kein amerikanischer Staatsmann gefunden, der das Enteignungsrecht einer lateinamerikanischen Regierung so k l a r anerkannt hätte, w i e das Cordell H u l l hier getan hat.

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t e n S t a a t e n b e i V e r h a n d l u n g e n ü b e r H a n d e l s - , S c h i f f a h r t s - oder L u f t f a h r t s v e r t r ä g e oder ü b e r A b g r e n z u n g v o n Fischereirechten u n d b e i v i e l e r l e i ä h n l i c h e n G e l e g e n h e i t e n d i e Interessen a m e r i k a n i s c h e r F i r m e n z u w a h r e n ; g e l e g e n t l i c h m a g sich d i e n o r d a m e r i k a n i s c h e D i p l o m a t i e auch f ü r Z u l a s s u n g v o n K a p i t a l a n l a g e n a m e r i k a n i s c h e r G e l d g e b e r i n a n d e r e n L ä n d e r n einsetzen, obgleich i m a l l g e m e i n e n d i e R e g i e r u n g d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n aus Z a h l u n g s b i l a n z g r ü n d e n eher a u f eine V e r m i n d e r u n g als a u f eine V e r m e h r u n g des K a p i t a l e x p o r t s h i n s t r e b t 8 . A b e r das alles z ä h l t h e u t e n u r noch soweit, als es n i c h t m i t d e n p o l i t i s c h e n Interessen d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n i n K o n f l i k t gerät, d i e e i n m ö g l i c h s t gutes V e r h ä l t n i s z u L a t e i n a m e r i k a w i e z u a n d e r e n T e i l e n der W e l t verlangen. W a s w a r e n d i e Ursachen dieses Endes d e r „ d o l l a r d i p l o m a c y " ? Es w a r k e i n Z u f a l l , daß dieses E n d e i n d e r P e r i o d e des N e w D e a l k a m . D i e W e l t k r i s e h a t t e das C h a r i s m a des U n t e r n e h m e r t u m s i n d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n z e r s t ö r t ; d e r Gedanke, daß die a u s w ä r t i g e P o l i t i k n i c h t m e h r i n g l e i c h e m M a ß w i e b i s h e r d e n U n t e r n e h m e r i n t e r e s s e n d i e n e n sollte, w a r n u n l e i c h t e r durchzusetzen als es i n d e m v o r a n g e g a n g e n e n J a h r z e h n t d e r F a l l gewesen w ä r e ; auch w a r d e r B l i c k f ü r d i e m o r a l i s c h e n Ü b e l , d i e sich ergeben müssen, w e n n die M a c h t m i t t e l des Staates i n d e n 8 Das t r i f f t auch zu auf die Investitionen i n Kanada, obwohl hier einzelne amerikanische Äußerungen so aufgefaßt wurden, als ob die Regierung i n Washington durch diplomatischen Druck Kanada veranlassen wolle, keine Maßnahmen gegen die Gründung von Tochtergesellschaften amerikanischer F i r m e n zu ergreifen. So sprach die Zeitschrift Business Week (Ausgabe v o m 14. Januar 1967) i n diesem Zusammenhang von Schreiben („notes") des State Department, die „Vergeltungsmaßnahmen" andeuteten. Anscheinend bezog sich diese Bemerkung auf eine Stellungnahme von 1964, als die A g i t a t i o n des damaligen kanadischen Finanzministers Walter L. Gordon das State Department w o h l mehr aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen beunruhigte. Gegenwärtig ist das Bestreben der Regierung i n Washington klarer Weise auf Beschränkung der amerikanischen Investitionen i n Kanada gerichtet: Präsident Johnsons „ v o l u n t a r y guidelines", welche die Kapitalausf u h r verringern sollen, sind unter Widerrufung einer ursprünglich gewährten Ausnahme neuerdings auf Kanada ausgedehnt worden. Das hat freilich dort neue Proteste hervorgerufen, denn die guidelines w o l l e n nicht n u r amerikanische F i r m e n davon abhalten, mehr ausländische F i r m e n aufzukaufen oder neue Fabriken i m Ausland zu gründen, sondern w o l l e n sie aus dem gleichen Beweggrund heraus — Besserung der amerikanischen Zahlungsbilanz — veranlassen, möglichst viele i m Ausland gemachte Gewinne zu repatriieren. (Siehe z. B. das I n t e r v i e w der „Financial Post" i n Toronto m i t dem Finanzminister Mitchell Sharp , „Financial Post" v o m 12. 2. 1966.) I n die amerikanisch-kanadischen Meinungsverschiedenheiten spielt auch die Frage der erweiterten Publizitätspflicht hinein, welche die Security and Exchange Commission der Vereinigten Staaten allen kanadischen F i r m e n m i t amerikanischer Beteiligung als Bedingung f ü r die Gestattung des Börsenhandels auferlegen wollte. (Siehe z. B. „Financial Post" v o m 12. 2. 1966 u n d 11. 3. 1967.) Wie immer diese Maßnahme zu beurteilen sein mag, sie zeigt jedenfalls keine Absicht der offiziellen amerikanischen Stellen, die Kapitalausfuhr nach Kanada zu erleichtern, sondern eher das Gegenteil.

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Dienst von Privatinteressen gestellt werden, durch den Einfluß der Zeitstimmung geschärft. Aber auch sonst gaben die Verhältnisse der späten 30er Jahre Anlaß zu einer Nachprüfung des Verhältnisses zwischen Außenpolitik und Wirtschaftsinteressen. Die Gefahren der weltpolitischen Entwicklung waren sichtbar geworden; ein halbes Jahr vor der Mexiko-Krise hatte Präsident Roosevelt eine „Quarantine" gegen „aggressor nations" verlangt und i m Januar 1938 hatte er ein vermehrtes Heeres- und Flottenbudget gefordert. Durch Rüstung allein konnte die Sicherheit der Vereinigten Staaten nicht gewährleistet werden; Amerika brauchte Freunde, und bei Verwicklungen i n Europa und im Fernen Osten war es für die Vereinigten Staaten besonders wichtig, in freundlichen oder mindestens normalen Beziehungen zu den übrigen Ländern der westlichen Hemisphäre zu stehen. Daß dies sich nicht auf Grundlage der Monroe-Doktrin, wie sie von Theodor Roosevelt interpretiert worden war, erreichen ließ, war vollkommen klar. Überhaupt konnten die Vereinigten Staaten sich nur i n dem Maß Sympathien erwerben, als sie durch maßvollen Gebrauch ihrer eigenen Macht sich als legitime Vorkämpfer der freien Welt gegen die Anmaßung und A n griffslust der Diktaturen erwiesen. Die Gründe, die zum Ende der Dollar Diplomacy i n den 30er Jahren geführt haben, wirken heute i n verstärktem Maß. Gesichtspunkte der nationalen Sicherheit überschatten seit dem zweiten Weltkrieg die w i r t schaftlichen Gewinninteressen wie nie zuvor. Die gewaltige Macht der Vereinigten Staaten ist für den Rest der Welt nur dann erträglich, wenn sie mit Rücksicht und Selbstbeschränkung gebraucht wird. Darüber sind sich alle amerikanischen Regierungen der Nachkriegszeit klar gewesen. Das heißt natürlich nicht, daß die Erkenntnis immer Fehlentschlüsse verhindert hat. Man kann aus Sorge um die eigene Sicherheit oder die seiner Verbündeten i n Panik verfallen, und man tut wohl der amerikanischen Politik kein Unrecht, wenn man das Eingreifen i n Santo Domingo i m Frühjahr 1965 i n diese Kategorie einreiht 9 . Auch bei kühler 9

Es ist gelegentlich behauptet worden, daß das Eingreifen i n Santo Domingo zum Schutz amerikanischer Investitionen i n der dortigen Zuckerindustrie erfolgt sei u n d also eine Wiederbelebung der „Dollar Diplomacy" bedeute. Davon k a n n keine Rede sein: Die amerikanische Regierung, die sogar unter Eisenhower die Konfiskation der v i e l größeren amerikanischen Besitzungen i n Cuba nicht zum Anlaß eines militärischen Einschreitens nahm — auch die später i n dem „Schweinebucht-Debakel" endenden Angriffsabsichten der Exilkubaner wurden erst begünstigt, nachdem Castro sich politisch m i t dem Kommunismus solidarisiert hatte — hätte sich nicht wegen der bloßen Möglichkeit einer Gefährdung der Anlagen i n der D o m i n i k a n i schen Republik den schweren politischen Nachteilen ausgesetzt, die als Folge der Landung von Truppen eintraten. Freilich darf man annehmen, daß die betroffenen amerikanischen Gesellschaften darüber erfreut waren, daß die militärische A k t i o n eine Wiederkehr von Juan Bosch zur Macht verhinderte, der möglicherweise eine ihren Interessen abträgliche P o l i t i k verfolgt hätte. Das heißt aber nicht, daß die Regierung unter dem Einfluß dieser Gesell-

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Überlegung sind Fehlkalkulationen möglich — falsche Einschätzungen des Sicherheitsinteresses, seiner Dringlichkeit oder der Maßnahmen, die zu seiner Befriedigung nötig sind — und es w i r d wohl noch lange umstritten bleiben, ob i m Fall Vietnams ein solcher I r r t u m der amerikanischen Politik vorlag. Da i n jedem demokratischen Staat die gesamte Politik, also auch die Außenpolitik, durch die öffentliche Meinung entscheidend beeinflußt werden kann, und da i n der öffentlichen Meinung Wirtschaftsinteressen eine erhebliche Rolle spielen, so läßt sich natürlich nicht ausschließen, daß Interessenten auch i n den Vereinigten Staaten versuchen, die Außenpolitik für ihre Zwecke einzuspannen. Aber wie wenig solche Gruppen ausrichten können, sobald sie m i t politischen Interessen des Landes oder auch mit starken emotionellen Gegenkräften i n Konflikt geraten, dafür gibt es ein klassisches Beispiel: Die politisch mächtigste Wirtschaftsgruppe i n den Vereinigten Staaten ist die Ölindustrie. Durch ihren Einfluß auf Administration und Kongreß hat sie sich z. B. wertvolle Steuervorteile errungen. Aber während die ölinteressen eindeutig eine proarabische Politik und deshalb einen gegen Israel gerichteten Kurs verlangen würden, ist die Politik der Vereinigten Staaten immer ebenso eindeutig auf die Erhaltung des Staates Israel eingestellt gewesen. Wenn man vom Einsatz außenpolitischer M i t t e l für wirtschaftliche Zwecke spricht, so muß es sich dabei nicht begriffsnotwendig um privatwirtschaftliche Gewinninteressen handeln. Es ist denkbar, daß ein Staat Diplomatie oder sogar militärische Macht einsetzt, um sich etwa die Zufuhr notwendiger Rohstoffe zu sichern, nicht weil an der Verarbeitung dieser Rohstoffe Profit gemacht werden kann, sondern weil ohne sie der Wohlstand oder sogar die Existenz der eigenen Volksmassen i n Frage gestellt ist. Während die Industriestaaten, wie die Erfahrung der Dekolonisation gezeigt hat, einen großen Teil ihrer Investitionen und damit ihrer Kapitalerträge i n Kolonialländern verlieren können, ohne daß dies den Aufstieg des allgemeinen Lebensstandards wesentlich hemmt, könnte dieser Standard ohne die Rohstoffe aus tropischer Landwirtschaft und tropischem Bergbau nicht gehalten werden; es ist daher nicht von vornherein auszuschließen, daß ein Industriestaat sich m i t allen verfügbaren Mitteln, friedlichen und gewaltsamen, dagegen wehrt, daß ihm diese Zufuhr abgeschnitten wird. Tatsächlich aber hat die amerikanische Diplomatie, wenigstens i n Friedenszeiten, keine großen Anstrengungen machen müssen, um die Zufuhr der notwendigen Rohstoffe zu sichern, denn das Verkaufsinteresse der Produzentenländer schaften gehandelt hat. Das M o t i v der amerikanischen Intervention w a r klarer Weise die Sorge, daß Fidel Castro seine Operationsbasis verbreitern könne.

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war i n den meisten Fällen überwältigend groß. Eine Änderung i n dieser Lage ist unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar. I n dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, dauert der ölboykott der arabischen Länder gegen einige westliche Staaten noch fort. Sollte er aus politischer Leidenschaft, die das wirtschaftliche Selbstinteresse der Araber überschattet, noch lange fortgesetzt werden, so könnten sich die Vereinigten Staaten zu politischen Gegenaktionen genötigt sehen — nicht so sehr i m direkten Eigeninteresse, da das arabische ö l für die nordamerikanische Versorgung keine erhebliche Rolle spielt, wohl aber i m Interesse ihrer europäischen Verbündeten, die ohne arabisches ö l auf die Dauer kaum auskommen können. Auch wenn der ölboykott bald ein Ende findet, kann es immer wieder dazu kommen, daß politische Haßgefühle sich als stärker erweisen als irgendwelche wirtschaftlichen Erwägungen, doch sprechen starke Gründe dagegen, daß solche Haßaktionen den internationalen Warenaustausch lang genug stören werden, u m politische oder gar militärische Gegenaktionen zur Sicherung lebenswichtiger Einfuhr hervorzurufen. II.

Der Einsatz wirtschaftlicher M i t t e l zu außenpolitischen Zwecken ist von den Vereinigten Staaten i n großem Maßstab während des Ersten Weltkrieges begonnen worden. Sie gewährten damals den europäischen Alliierten bedeutende Hilfe m i t Geld und Materialien. Nach dem Krieg wurden umfassende Hilfsaktionen eingeleitet: A m 25. Februar 1919 bewilligte der Kongreß 100 Millionen Dollar für ein Hilfswerk i n Europa; am 22. Dezember 1921 wurde der Russian Famine Relief Act angenommen, der 20 Millionen Dollar zur Bekämpfung der Hungersnot i n Sowjetrußland zur Verfügung stellte, obwohl damals keine diplomatischen Beziehungen m i t dem Sowjetstaat bestanden und das Verhältnis zwischen den beiden Ländern alles eher als freundschaftlich w a r 1 0 . Gerade dieses Beispiel zeigt, wie sehr sich humanitäre und politische Erwägungen überkreuzen können; die amerikanische Öffentlichkeit hat die russische Hilfsaktion gebilligt, weil das reiche Amerika sich für verpflichtet hielt, i n einem Fall besonders krassen Elends auch der Bevölkerung eines halb-feindlichen Staates zu helfen. Bei den Politikern aber und wahrscheinlich noch mehr bei den diplomatischen Technikern des State Department hat sicherlich auch der Gedanke mitgespielt, daß eine Linderung des Elends weiterer Radikalisierung entgegenwirke und, indem es damit die Herstellung einigermaßen normaler Beziehungen zu Rußland vorbereitete, den politischen Interessen der Vereinigten Staa10

Siehe The Memoirs of Herbert Hoover, Bd. I I , S. 23 ff.

New York, Macmillan, 1952,

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ten diene. Ähnliche Erwägungen haben m i t dazu geführt, daß die Vereinigten Staaten, trotz versuchter Distanzierung von dem europäischen Streit über Reparationen, den Abschluß des Dawes-Abkommens begünstigten. I n viel größerem Umfang setzten die Vereinigten Staaten ihren Reichtum während und nach dem zweiten Weltkrieg für politische Ziele ein. Es waren aber nicht nur die größeren Summen, die diesen Bemühungen eine neue Bedeutung gaben, sondern auch der andere Charakter der Objekte, an denen die Vereinigten Staaten sich versuchten. Die Hilfe, die Amerika i n der Form des Lend-Lease den europäischen Alliierten gewährte, hielt sich freilich ungefähr i n den alten Bahnen. Das läßt sich aber schon nicht mehr vom Marshall-Plan behaupten, denn hier handelte es sich weder um Hilfe für eine Kriegswirtschaft noch um bloße Behebung akuter Not, sondern um Wiederaufbau des Wirtschaftslebens, unter Inkaufnahme des Risikos (oder der Gewißheit) einer künftigen Verschärfung europäischer Konkurrenz gegen die amerikanische Industrie. Noch mehr aber betraten die Vereinigten Staaten Neuland mit der ausgedehnten Wirtschaftshilfe für Entwicklungsländer. Dies ist nicht der Ort, u m die vielfältigen Probleme der Entwicklungshilfe zu erörtern; nur ein i m engeren Sinn politisches Problem muß herausgegriffen werden. Jede Wirtschaftshilfe an ein Entwicklungsland stärkt dessen Regierung gegenüber der Opposition und setzt ein erhebliches Maß von Kooperation zwischen der Regierung des gebenden und des empfangenden Landes voraus. Nun sind aber die meisten Regierungen der Entwicklungsländer keineswegs Musterbilder von Demokratie. M i t einigen Ausnahmen, von denen Indien die weitaus wichtigste ist, sind sie nicht vom Willen der Regierten abhängig, wie er i n freien Wahlen zum Ausdruck kommt, und sehr häufig versagen sie der Opposition den Schutz der Meinungsfreiheit; viele von ihnen sind i m westlichen Sinn korrupt, wobei es an der schädlichen Wirkung dieser Korruption auf den Erfolg der Wirtschaftshilfe nichts ändert, daß sie sich aus den Traditionen und Verhältnissen dieser Länder erklären läßt; auch die Gefahren autokratischer Regierung werden nicht dadurch verringert, daß i n vielen Entwicklungsländern die Voraussetzungen für eine demokratische Verfassung eines Nationalstaats — zum Unterschied von der allenfalls möglichen Demokratie i m Rahmen des Dorfes — nicht bestehen. Vielfach hemmt eine enge Verbundenheit der Regierung m i t der wirtschaftlichen Oberschicht den offiziellen Eifer für notwendige soziale Reformen. Aus diesen Gründen findet die Meinung Anklang, daß i n der ganzen unterentwickelten Welt, oder doch i n den meisten ihrer Teile, zunächst einmal Revolutionen stattfinden müßten, u m die Herrschaftsverhältnisse von Grund auf zu ändern. Natürlich w i r d diese Meinung am lautesten

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von den Kommunisten vertreten, besonders von denen chinesischer und kubanischer Observanz; aber sie findet doch auch Anklang i m Westen. Nun gibt es sicher Fälle, i n denen revolutionäre Gewalt einer gedeihlichen Entwicklung den Weg bahnen kann; i n Mexiko ist nach jahrzehntelangen Wirren die Revolution auch wirtschaftlich und sozial erfolgreich gewesen. Aber wenn i n der Mehrzahl, oder auch nur i n einer erheblichen Minderheit von Fällen glückliche Zustände durch Revolutionen geschaffen werden könnten, dann müßte es den meisten lateinamerikanischen Ländern recht gut gehen, denn an Revolutionen hat es dort am wenigsten gefehlt. Natürlich w i r d gesagt, daß dies eben nicht die richtigen Revolutionen gewesen seien; woran aber läßt sich die richtige von der falschen Revolution unterscheiden? Etwa daran, daß die richtige Revolution sich als Ziel soziale Gerechtigkeit setzt, oder diese zum mindesten proklamiert? Gerade die rücksichtslosesten lateinamerikanischen Tyrannen, von Porfirio Diaz i n M e x i k o 1 1 bis Batista in Cuba, haben ihre Erhebungen i m Namen des gemeinen Mannes gegen die Privilegierten begonnen, und bei manchen von ihnen war das zuerst vielleicht nicht einmal unehrlich. Die ungeheuer schwere Aufgabe, den Lebensstandard der nicht industriellen Länder so anzuheben, daß der Unterschied zu dem der Industrieländer mindestens verringert wird, läßt sich i m wesentlichen nicht durch Revolutionen lösen. Selbst wenn eine einzelne Revolution mehr Nutzen als Schaden schafft, so macht doch nichts die notwendige W i r t schaftsentwicklung mit größerer Sicherheit unmöglich als eine Kette von Revolutionen — und die Erfahrung weiter Teile der Erde deutet darauf hin, daß die einzelne Revolution eine Tendenz hat, zu einem Glied i n einer Kette zu werden. Der Glaube an die segensreiche K r a f t der Revolutionen stützt sich häufig auf die Idee, daß es i n vielen Entwicklungsländern vor allem auf Agrarreform ankomme. Stellt man sich diese Agrarreform einfach als Landaufteilung oder als Schuldenabschüttelung vor, dann läßt sie sich ja i n der Tat durch Revolution durchführen. Da fast alle Entwicklungsländer überwiegend agrarisch sind, so versteht es sich von selbst, daß die sozialen Ungerechtigkeiten zum größten Teil i m agrarischen Sektor konzentriert sind. Aber zwangsweiser Schulderlaß hilft dem Bauern nichts und kann sogar überwiegend schädlich sein, wenn nicht Vorkehrungen für eine Zufuhr billigen Kredits getroffen werden, was nicht durch eine Revolution und kaum i n revolutionären Zuständen möglich ist. Revolutionäre Landaufteilung aber ist nur dort ohne Schaden möglich, wo das Land ohnehin durch Kleinpächter bewirtschaftet w i r d ; aber gut geführte Plantagen aufzuteilen, ist m i t den Zielen einer 11 Siehe z. B. John A . Crow: Doubleday, S. 666 ff.

The Epic of L a t i n America, Garden City,

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Modernisierung der Wirtschaft unvereinbar. Die Bananen- und Kaffeeplantagen Zentralamerikas sind kaum die Form der Landnutzung, welche die gedeihlichsten Sozialverhältnisse schafft, und man darf hoffen, daß später etwas Besseres an ihre Stelle gesetzt werden kann. Aber wenn man sie jetzt zerschlagen würde, so käme zum mindesten die Zahlungsbilanz jener Länder i n vollkommene Unordnung, und damit wäre eine entscheidende Voraussetzung jedes Wirtschaftsaufstiegs zerstört. So stößt denn der Einsatz der Wirtschaftsmittel der Vereinigten Staaten für politische Zwecke i m Rahmen der Entwicklungshilfe auf die große Schwierigkeit, daß damit eine dem Zweck abträgliche Scheinsolidarität mit autokratischen und oft korrupten Regierungen geringen Reformwillens entsteht. Die Vereinigten Staaten müssen auf Reformen dringen, die für den Erfolg der Wirtschaftshilfe notwendig sind und äußerstenfalls die Hilfe zurückziehen. Auch sollten sie trotz aller Gefahren, die sich von einer revolutionären Entwicklung nicht trennen lassen, gegenüber Revolutionen i n Entwicklungsländern weniger nervös sein, als sie manchmal gewesen sind. Auch die unbestreitbare Tatsache, daß alle Revolutionen von den kommunistischen Mächten nach Möglichkeit gegen die Vereinigten Staaten ausgenutzt werden, macht allgemeine Revolutionsangst nicht zu einer weisen Politik. Aber wenn die Vereinigten Staaten nur m i t solchen Regierungen der Entwicklungsländer arbeiten wollten, die nicht autokratisch, nicht korrupt und ungehemmt reformfreudig sind, so würde das die Einstellung des größten Teils der Entwicklungshilfe bedeuten, m i t allen Folgen, die sich daraus ergeben müßten. Wenn aber die Vereinigten Staaten selbst die Organisation von Revolutionen i n die Hand nehmen wollten, so wären viele von denen, die sich heute über nordamerikanische Zusammenarbeit mit reaktionären Regierungen beklagen, die ersten, die — und m i t Recht — die Einmischung i n die inneren Verhältnisse des Entwicklungslandes verdammen würden. Überdies wäre jede von den Vereinigten Staaten veranlaßte Revolution i n den Augen vieler Zeitgenossen — nicht nur Kommunisten — dadurch allein schon als unecht und „reaktionär" erwiesen. Abgesehen von dem allen kann eine fremde Macht zwar allenfalls eine Revolution i n Gang bringen, aber unmöglich ihren Gang i n Dämmen halten, die zum Schutz einer wirksamen Entwicklungspolitik nötig sind. Die Schwierigkeiten, die allein aus den politischen Verhältnissen der Entwicklungsländer für den Erfolg der Wirtschaftshilfe entstehen, sind so groß, daß sie wohl davon abschrecken könnten, dieses Unternehmen weiterzuführen; eine Fülle von technischen Problemen, die hier nicht erörtert werden können, t r i t t noch hinzu. Niemand kann sagen, ob der Kongreß der Vereinigten Staaten durch Jahrzehnte hindurch die Sum-

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men bewilligen wird, die für die Wirtschaftshilfe unentbehrlich sind; aber das Gegenteil, ein Erlahmen der Hilfsbereitschaft, wäre ein historisches Unglück. Ohne Entwicklungshilfe w i r d die K l u f t zwischen dem Lebensstandard der Industrieländer und der Entwicklungsländer nicht nur nicht verschwinden, sie w i r d sich sogar verbreitern, schon weil ja die Industrieländer selbst ihre Wirtschaft weiter entwickeln werden, wofür vor allem die nur zum Teil ausgeschöpften Möglichkeiten der Elektronik reiche Gelegenheit bieten. Außerdem schreitet i n fast allen Entwicklungsländern der Bevölkerungszuwachs rasch fort infolge der Verbreitung medizinischer und hygienischer Techniken, ohne gleichzeitige Geburtenregelung; w i r d die Zahl der Menschen nicht durch Entwicklung der Produktivkräfte kompensiert, so w i r d Hungersnot mit den daraus entstehenden Krankheiten die Rolle des Regulators übernehmen. Die Entwicklungshilfe, oder wenigstens ihre kostspieligen Formen könnte nur dann irgendwie entbehrlich werden, wenn i m weltwirtschaftlichen Rahmen die Preise der tropischen Rohstoffe eine Tendenz hätten, gegenüber denen der Industriewaren zu steigen, weil dann die Entwicklungsländer durch den Mehrerlös für ihre Produkte i n den Stand gesetzt werden könnten, ihre Entwicklung selbst zu finanzieren. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber dafür, daß i n Übereinstimmung m i t der Entwicklung der 50er und 60er Jahre auch i n der Zukunft die „terms of trade" sich zu ungunsten der Rohstoffländer gestalten werden 1 2 . Es gilt, 12

I n einem Bericht über „Commodity Terms of Trade i n P r i m a r y Pro-

ducing Areas" (E. A. G. Robinson, ed.: Problems of Economic Development.

International Economic Association Conference i n Vienna 1962, p. 102) hat M . L . Dantwala die E n t w i c k l u n g der terms of trade f ü r das fünfte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts w i e folgt angegeben: Für: 1951 1957 1960 1953 = 100 Industrieländer (Developed Areas) 94 98 105 Entwicklungsländer 112 98 96 Afrika 116 99 97 114 M i t t l e r e r Osten 108 106 94 Latein-Amerika 106 85 97 Asien 118 110 Der f ü r die Entwicklungsländer relativ günstige Stand am Beginn der Periode erklärt sich durch die K o n j u n k t u r unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg u n d während des Koreakrieges, die eine ungewöhnliche Nachfrage nach Rohstoffen schuf; dieser V o r t e i l ging dann rasch verloren. Auch i n den 60er Jahren ist bisher die Entwicklung großenteils ungünstig gewesen. Der

United Nations World

Survey für 1965 (Teil II, S. 41) gibt folgende Zahlen: 1961

1960 = 100

A l l e Entwicklungsländer 98 Latein-Amerika 99 Afrika 96 Westliches Asien 99 Süd- u n d Ost-Asien 96 Wie m a n sieht, hat n u r Lateinamerika, das i n der

1965

98 106 93 98 93 vorausgegangenen

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einem Zustand vorzubeugen, i n dem der eine Teil der Erde sich eines Wohlstandes der Massen erfreut, der i n früheren Jahrhunderten selbst den Privilegierten als ein Schwelgen i m Luxus erschienen wäre, während der andere Teil i m Elend versinkt. Daß eine solche Situation keine große Aussicht auf Friede i n der Welt eröffnen würde, daß sie ein moralischer Skandal größten Ausmaßes wäre, ist oft genug gesagt worden, aber die ständige Erinnerung daran ist nötig als Gegengewicht gegen den beinahe überwältigenden Eindruck von Hemmungen und Problemen, der immer wieder die Versuchung stärkt, die Entwicklungshilfe als eine riesige Fehlinvestition aufzugeben. Der Einsatz der wirtschaftlichen Kraft der Vereinigten Staaten für außenpolitische Zwecke ist aber nicht nur i n Entwicklungsländern erfolgt, sondern auch i n Europa. Dabei ist nicht nur an die Hilfe der ersten Nachkriegszeit und besonders an den Marshall-Plan zu denken: Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die amerikanische Förderung der EWG. Die Vereinigten Staaten haben, vor allem durch den Trade Expansion Act von 1962, die Herabminderung ihrer Zölle m i t besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse der EWG-Länder i n einem Maß ermöglicht, die einen Bruch m i t scheinbar fest eingewurzelten amerikanischen Traditionen bedeutete. Das ist geschehen, obwohl die EWG eine Diskriminierung des amerikanischen Europaexports bedeutet: Amerikanische Industrie-Exporte nach einem der EWG-Staaten, z. B. Belgien, zahlen Zoll, während die Exporte eines anderen EWGLandes, etwa der Bundesrepublik, nicht mit Zoll belastet sind. A u f dem Agrargebiet ist die Benachteiligung des amerikanischen Exports vielleicht noch stärker, aber infolge der komplizierten EWG-Regelungen weniger klar sichtbar. N u n w i r d freilich die EWG aller Voraussicht nach eine Steigerung der europäischen Kaufkraft zur Folge haben, und wenn man optimistisch sein w i l l , so kann man annehmen, daß die Europäer deshalb auf die Dauer sogar mehr amerikanische Produkte verkaufen werden, als sie ohne EWG getan hätten 1 3 . Das ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich; aber der Nachteil der Diskriminierung ist sicher. Rein wirtschaftliche Überlegungen hätten die Vereinigten Staaten kaum veranlassen können, den sicheren Nachteil u m des möglichen Vorteils willen i n Kauf zu nehmen. Periode einen besonders großen Rückschlag erlitten hatte, einigermaßen aufgeholt, während alle anderen Entwicklungsländer weitere Einbußen erfuhren. 13 Es spricht auch vieles dafür, daß die Ermäßigung der amerikanischen Zölle, welche die Vereinigten Staaten der E W G auf G r u n d des Trade Expansion A c t zugestanden haben, f ü r die Vereinigten Staaten selbst von V o r t e i l sein werden, w e i l internationale Arbeitsteilung die P r o d u k t i v i t ä t erhöht, u n d besonders, w e i l diese Zollermäßigungen der I n f l a t i o n entgegenwirken. Aber ihre Zölle hätten die Vereinigten Staaten auch ohne E W G u n d daher ohne Diskriminierung herabsetzen können, u n d es steht dahin, ob sie dafür von den einzelnen europäischen Staaten nicht sogar größere Konzessionen hätten einhandeln können als von der europäischen „Einheitsfront" der EWG.

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Aber die Vereinigten Staaten haben ein vitales politisches Interesse an der Stärke und Einigkeit Europas. Daran hat auch das Bestreben de Gaulies nichts geändert, den europäischen Einheitsbestrebungen eine anti-amerikanische Spitze zu geben. Ein starkes Europa — und nur ein einiges Europa kann stark sein — bedeutet für die Vereinigten Staaten eine politische Entlastung, obwohl nach menschlicher Voraussicht eine zusätzliche Sicherung der westeuropäischen Länder durch ein militärisches Bündnis m i t Amerika immer erforderlich sein wird. Die Funktion dieses Bündnisses ist es, der Sowjetunion und dem Warschauer Block überhaupt die Versuchung zu nehmen, Westeuropa unter militärischen Druck zu stellen; um aber auch die politische Aushöhlung für alle irgendwie voraussehbaren Situationen unmöglich zu machen, ist ein hoher Grad politischer Konsolidierung Westeuropas erforderlich. Das Beispiel des Deutschen Zollvereins und seiner geschichtlichen Rolle ist gewiß nicht i n vollem Umfang für den größeren Fall Europa beweiskräftig, aber auch ohne dies leuchtet ein, daß ein starkes wirtschaftliches Band die beteiligten Länder auch politisch zusammenhalten wird. Das zu bewirken, war das Ziel der Vereinigten Staaten; wie hoch sie dieses Ziel einschätzen, zeigt auch besonders ihre Begünstigung des Beitritts Großbritanniens. Denn so gewiß ein solcher Beitritt die europäische Einheit durch Verbreiterung ihrer Basis stärken wird, so gewiß w i r d er die Diskriminierung für die Außenseiter, und also auch für die Vereinigten Staaten, verschärfen: Diese müssen nun auch auf dem britischen Markt unter einem Zoll-Handicap mit der kontinentaleuropäischen Industrie konkurrieren, und sie treffen auf dem kontinentaleuropäischen Markt eine zollbevorzugte britische Konkurrenz 1 4 . Amerika glaubte es sich aber leisten zu können, um des politischen Vorteils willen diesen w i r t schaftlichen Nachteil i n Kauf zu nehmen. Wenn man wirtschaftliche M i t t e l zur Erreichung politischer Ziele einsetzen w i l l , ist es natürlich notwendig, das Ziel klar zu sehen und sich darauf zu besinnen, was man mit wirtschaftlichen Mitteln erreichen kann oder anstreben soll, und was nicht. Die Vereinigten Staaten haben sich zunächst — besonders i n der Periode, da John Foster Dulles 14

Die Kosten der E W G für die Vereinigten Staaten erschöpfen sich w a h r scheinlich nicht i n der Diskriminierung der amerikanischen Ausfuhr. Die landwirtschaftlichen Marktordnungen der E W G u n d auch einige Industriezölle verletzten unvermeidlicherweise die Interessen von Ländern, an deren Gesundheit die Vereinigten Staaten gleichfalls sehr stark interessiert sind, z. B. lateinamerikanischer Staaten, Neuseelands, Jugoslawiens, vielleicht auch Indiens (wegen der Ausfuhr billiger Textilerzeugnisse). Da f ü r einige dieser Länder der britische M a r k t besonders wichtig ist, so w i r d ein B e i t r i t t des Vereinigten Königreichs gerade auch diese negativen Wirkungen steigern. Wenn die Wirtschaft einiger dieser Länder notleidend w i r d , so werden die Vereinigten Staaten m i t Hilfsaktionen eingreifen müssen.

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die Außenpolitik leitete — über die Grenzen dessen getäuscht, was der Einsatz von Wirtschaftsmitteln i n der Politik erzielen kann. Dulles, dessen geschichtliche Rolle wohl nicht schon jetzt erfolgreich analysiert werden kann, scheint i n dem Wunsch vieler Entwicklungsländer, eine Stellung zwischen den beiden großen Blöcken zu halten, eine moralische illegitime Indifferenz gegenüber den Expansionsversuchen des Kommunismus gesehen zu haben; unter seiner Leitung zeigte daher die amerikanische Politik eine Tendenz, Wirtschaftshilfe nur als Belohnung für entschiedenen Anti-Kommunismus zu leisten. Diese Politik war aus zwei Gründen verfehlt: Erstens war es für eine große Zahl von neuen Staaten politisch unmöglich, für den Westen gegen den Kommunismus Partei zu ergreifen, weil ein zu großer Teil ihrer Bevölkerung vom Haß gegen den westlichen „Kolonialismus" erfüllt war und, ohne besondere Sympathien für den Kommunismus als solchen zu haben, doch die „antiimperialistischen" Schlagworte der kommunistischen Parteien und Regierungen ernst nahm. Das galt sogar lange Zeit für Indien — und die Tendenz ist dort auch heute noch nicht ausgestorben. Zweitens wurde das Würdegefühl vieler Völker durch die Zumutung verletzt, ihre politische Stellungnahme für Wirtschaftshilfe zu verkaufen; selbst wo schließlich eine Einigung erzielt wurde, förderte das geschaffene Ressentiment alle antiamerikanischen Tendenzen. Natürlich w i r d auch heute Wirtschaftshilfe nicht ohne jede Rücksicht auf die politische Einstellung des Empfangslandes gegeben: Die Vereinigten Staaten tun z. B. nichts, um die industrielle Entwicklung Chinas zu fördern. Aber seit dem Ende der Dulles-Periode ist das wesentliche K r i t e r i u m für die Gewährung von wirtschaftlicher Hilfe nicht der Grad der antikommunistischen Einstellung, sondern die Wahrscheinlichkeit, daß die gewährte Hilfe dem Land das Maß von Konsolidierung und Fortschritt verschaffen kann, das es zu einem Element des Friedens und der Ordnung — wenn auch nur i n einem relativen Sinn — machen wird. Wo das gelingt, ist auch der Boden für kommunistische Expansionstendenzen verschlechtert, ohne daß es einer Prämierungspolitik nach Dullesschem Muster bedarf. Die Frage der Prämierung politischer Konformität mit den Vereinigten Staaten ist vor allem i m Zusammenhang m i t der Entwicklungshilfe diskutiert worden, aber sie stellt sich nicht nur i m Hinblick auf diese. Es wäre zum Beispiel denkbar gewesen, daß die Vereinigten Staaten ihre Konzessionen gegenüber der EWG von einem Zurückdrängen Gaullistischer Tendenzen abhängig gemacht hätten. Dies wäre gewiß ein schwerer Fehler gewesen, aber die Versuchung muß zuweilen ziemlich stark gewesen sein. Daß die amerikanische Politik dieser Versuchung vollständig widerstanden hat, gehört sicher auf ihre Aktivseite.

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Wirtschaftshilfe i n irgendeiner Form zu politischen Zwecken bedeutet, daß ein Staat seine Wirtschaftsmacht einsetzt, u m entweder freundliche Beziehungen zu anderen Staaten zu fördern oder andere Staaten gegen unerwünschte Einwirkungen zu größerem Widerstand zu befähigen. Ein Staat kann aber auch seine Wirtschaftsmacht einsetzen, u m andere Staaten, die man als Gegner betrachtet, i n ihrer Entwicklung zu hemmen oder einen Druck auf sie auszuüben. Dazu finden sich eine Reihe von Ansätzen i n der Politik der Vereinigten Staaten. Produkte des Maoistischen Chinas dürfen nach den Vereinigten Staaten nicht eingeführt werden (kommen aber wahrscheinlich über Hongkong illegal hinein). Mindestens theoretisch findet auch kein Exporthandel m i t dem chinesischen Festland statt. Die kubanische Zucker-Einfuhrquote wurde aufgehoben, als die Feindschaft von Castros Cuba gegen die Vereinigten Staaten offenkundig wurde 1 5 . Gegen die Sowjetunion und andere kommunistische Staaten wurde lange Zeit eine jetzt zum großen Teil ausgehöhlte Ausfuhrsperre für „Strategie materials" aufrechterhalten. Ob die Versagung der Meistbegünstigung i m Verkehr m i t den meisten kommunistischen Staaten eine wirtschaftliche Kampfmaßnahme darstellt, ist zweifelhaft, da die Bedeutung der Meistbegünstigung i n Ländern ohne ausgeprägte Marktwirtschaft unsicher ist — der kommunistische Staat kann unter den Kosten verkaufen, ohne daß dies immer als Dumping erkannt werden kann — und die Erwägung, daß dagegen besondere Schutzmaßnahmen notwendig oder erwünscht sind, braucht kein Zeichen einer politischen Feindschaft zu sein, die sich i n der W i r t schaftssphäre ausdrückt. Gemessen am Außenhandel der Vereinigten Staaten oder am W i r t schaftsvolumen der kommunistischen Welt haben die wirtschaftlichen Kampfmaßnahmen Amerikas keine sehr große Bedeutung. A m meisten fällt wahrscheinlich die Handelssperre gegen China ins Gewicht; wie groß aber der amerikanische Handel m i t China wäre, wenn die Sperre nicht existierte, ist schwer zu erraten. Sicher sind i m Verkehr m i t der Sowjetunion und den Ostblockstaaten die Kampf maßnahmen, oder was davon noch übrig ist, nicht das wichtigste Hindernis für den Handel mit den Vereinigten Staaten; vielmehr haben die kommunistischen Länder verhältnismäßig wenig Waren zu konkurrenzfähigen Preisen anzubieten, und es fehlt ihnen an harter Währung, u m viel von den Vereinigten Staaten zu kaufen. 15

Die Aufhebung erfolgte 1960; i m gleichen Jahr w u r d e n Exporte nach Cuba verboten. Über diese Frage, besonders auch über die relative U n w i r k -

samkeit der „Blockade"-Versuche, siehe Council on Foreign Relations : The

United States i n W o r l d Affairs, 1964, S. 216 ff., „ T h e Cuban Trade Issue", ferner Theodore Draper: Castro's Revolution, New York, Praeger, 1962, besonders S. 160 ff.

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m.

Viele Menschen — und nicht immer nur krasse Laien — können es sich nicht recht erklären, warum ein so reiches Land wie die Vereinigten Staaten m i t einem Bruttosozialprodukt von über 750 Milliarden Dollar 1 6 so hartnäckig versucht, z. B. i n den Verhandlungen über Stationierungskosten für amerikanische Truppen i n der Bundesrepublik ein paar hundert Millionen einzusparen, obwohl die politischen Nachteile offensichtlich sind. Der Grund heißt Zahlungsbilanz: Die Last einer bestimmten Ausgabe i m Ausland muß nicht m i t dem amerikanischen Bruttosozialprodukt oder Volkseinkommen verglichen werden, sondern m i t dem amerikanischen Exportüberschuß, und dabei müssen natürlich auch alle anderen Lasten berücksichtigt werden, die dieser Exportüberschuß zu tragen hat. Eine ganz ungefähre Vorstellung der hier i n Betracht kommenden Größen kann man sich nach folgender Tabelle bilden: Aus der amerikanischen Zahlungsbilanz 196517 M i l l i a r d e n Dollar

Aktivposten Waren-Ausfuhr Einkommen aus amerikanischen Investitionen i m Ausland Rückzahlungen aus früheren Regierungsanleihen „Verschiedene" Dienstleistungen (abz. Gegenposten)

26,3 6,1,1,3 34,6

Passivposten Waren-Einfuhr Einkommen von Ausländern aus Investitionen i n U S A

Überschuß aus laufenden Geschäftsvorgängen

und Schulden-Rückzahlung

(34,6-23,1) Dieser Überschuß hat folgende Lasten zu tragen: Wirtschaftshilfe u n d Kapitalausfuhr auf Regierungs-Rechnung Private Kapitalausfuhr (abz. Gegenposten) Passive Reisebilanz Militärausgaben der U S A i m Ausland M i l i t ä r h i l f e an andere Staaten ab Überschuß w i e oben Defizit 16

21,5 1,6 23,1 11,5 4,8 3,4 1,3 2,8 1,7 14,11,5 2,5

Siehe Survey of Current Business, May 1967, Current Business Sta-

tistics, S. 1. 17

Nach Statistical Abstract of the United States, 1966, S. 845 und 850. Klei-

nere Posten u n d solche, die i n ungefähr gleicher Größe auf beiden Seiten der Zahlungsbilanz erscheinen, sind ausgelassen. 39 Festgabe für Gert von Eynern

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Dieses B i l d i s t w a h r s c h e i n l i c h z u u n g ü n s t i g . Z w a r i s t die M i l i t ä r h i l f e a n andere S t a a t e n n u r geschätzt u n d k a n n m ö g l i c h e r w e i s e e i n e n h ö h e r e n B e t r a g erreichen; auch g i b t es noch e i n e n Passivposten „statistisch n i c h t erfaßte Z a h l u n g e n " v o n e t w a e i n e r h a l b e n M i l l i a r d e . A b e r a u f der a n d e r e n Seite besteht d i e M i l i t ä r h i l f e z u e i n e m e r h e b l i c h e n T e i l i n der L i e f e r u n g v o n militärischen G ü t e r n u n d Diensten, die i m I n l a n d prod u z i e r t oder v o n A m e r i k a n e r n geleistet w e r d e n u n d deshalb d i e Z a h l u n g s b i l a n z n u r w e n i g b e l a s t e n ( n ä m l i c h n u r s o w e i t , als d i e m i l i t ä r i schen G ü t e r e i n g e f ü h r t e Rohstoffe z u i h r e r P r o d u k t i o n e r f o r d e r n oder kommerziell exportfähig wären, u n d soweit die militärische Dienste l e i s t e n d e n A m e r i k a n e r i h r E i n k o m m e n i m A u s l a n d ausgeben 1 8 ). So e r k l ä r t sich, daß i n der o f f i z i e l l e n S t a t i s t i k das Defizit d e r Z a h l u n g s b i l a n z f ü r 1965 n u r m i t 1,3 M i l l i a r d e n erscheint, u n d daß auch tatsächlich d i e m o n e t ä r e n Reserven n u r u m diesen B e t r a g a b g e n o m m e n h a b e n 1 9 . M i t 18

Die zivile Wirtschaftshilfe w i r d zum T e i l i n Gütern (z. B. Getreide) geleistet. A u f eine andere A r t von „Sachlieferungen" i m zivilen Sektor hat mich dankenswerterweise Professor Hans Brems von der University of Illinois hingewiesen: Amerikanische F i r m e n liefern nicht selten an ihre europäischen Tochtergesellschaften Maschinen oder andere Ausrüstungsgegenstände — z. B. Computers — die ganz i n den Vereinigten Staaten hergestellt sind. Materiell bedeuten solche Vorgänge, daß ein A k t der Wirtschaftshilfe oder der Kapitalausfuhr ohne entsprechende Belastung der Zahlungsbilanz vor sich geht; eine K o r r e k t u r der Daten der Zahlungsbilanz aber w i r d dadurch nicht erforderlich, da der entsprechende Betrag unter Warenausfuhr u n d ein gleicher Gegenposten unter Wirtschaftshilfe oder Kapitalausfuhr erscheint. Dagegen erscheinen Gratisübertragungen von Material i m Rahmen der M i l i t ä r h i l f e nicht i n der Warenausfuhr, daher wäre hier eine entsprechende K o r r e k t u r des Zahlungsbilanzdefizits erforderlich, w e n n Genauigkeit erzielt werden soll. So wenig w i e die „Sachlieferungen" i n der zivilen Wirtschaftshilfe — u n d aus dem analogen G r u n d — erfordert die „ B i n d u n g " der geldlichen W i r t schaftshilfe eine K o r r e k t u r der i m Text gegebenen Ziffern der Zahlungsbilanz. Unter „ B i n d u n g " der Wirtschaftshilfe versteht m a n die Bedingung i m Vertrag m i t dem Empfangsland, daß die m i t den Hilfsgeldern zu kaufenden Waren aus den Vereinigten Staaten bezogen werden müssen. Z u r Zeit ist ein sehr großer T e i l der amerikanischen Wirtschaftshilfe gebunden. Ebenso aber w i e der Sachlieferungs-Charakter eines Teils der Wirtschaftshilfe ist die i h m verwandte Bindung von großer wirtschaftspolitischer Bedeutung. I m World Economic Survey der Vereinten Nationen f ü r 1965 (Teil I, S. 77) findet sich folgende Schätzung: „Darlehen u n d Subsidien i m Gesamtbetrag von $ 1134 M i l l i o n e n " — dieser Betrag stand i m Jahr 1964 aus der amerikanischen Entwicklungshilfe für Warenkäufe zur Verfügung — „hätten ohne Bindung zu einem Verlust an Währungsreserven von $ 725 M i l lionen geführt, gegen n u r $ 272 M i l l i o n e n m i t Bindung." (Der Rückfluß von 1134—725 = 409 M i l l i o n e n Dollar i m F a l l ungebundener Wirtschaftshilfe erklärt sich aus dem Umstand, daß f ü r viele von den Empfangsländern benötigten Produkte die Vereinigten Staaten ohnehin das günstigste Beschaffungsland sind.) Die Vereinigten Staaten können also, solange die Bindung i m Wesentlichen vollständig ist, m i t einer Zahlungsbilanzbelastung von x Dollar eine Wirtschaftshilfe von 4x Dollar bestreiten. Es ist aber zweifelhaft, ob sich die Bindung i m gegenwärtigen Umfang halten läßt. 19 I n den meisten vorangegangenen Jahren seit 1960 w a r das ausgewiesene Defizit etwa doppelt so hoch. Die Verbesserung w u r d e vor allem durch die

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e i n i g e m O p t i m i s m u s k a n n m a n a n n e h m e n , daß d e r ( w e n n auch w a h r scheinlich v e r l a n g s a m t e ) A n s t i e g d e r a m e r i k a n i s c h e n K a p i t a l e r t r ä g e aus d e m A u s l a n d d i e Z a h l u n g s b i l a n z schließlich ausgleichen w i r d , besonders w e n n d e r V i e t n a m - K r i e g i n absehbarer Z e i t a u f h ö r t , ohne daß ä h n l i c h e außenpolitische V e r w i c k l u n g e n a n seine S t e l l e t r e t e n 2 0 . Es i s t aber u n w a h r s c h e i n l i c h , daß d e r A u s g l e i c h schon b a l d e i n t r i t t ; unterdessen fließen ausländische Z a h l u n g s m i t t e l u n d G o l d aus d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n ab, u n d es besteht d i e ständige G e f a h r , daß b e i e i n e r P a n i k d a z u noch k u r z f r i s t i g e K a p i t a l a n l a g e n aus d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n a b g e r u f e n w e r d e n , so daß das D e f i z i t p l ö t z l i c h v i e l größer w i r d . M a n m u ß d a m i t rechnen — A n s ä t z e d a z u s i n d b e r e i t s sichtbar — daß i n m a n c h e n A n g e legenheiten die Zahlungsbilanz die amerikanische A u ß e n p o l i t i k d i k t i e r e n w i r d — m i t a n d e r e n W o r t e n , daß d i e Z a h l u n g s b i l a n z s c h w i e r i g k e i t e n d i e V e r e i n i g t e n S t a a t e n d a r a n h i n d e r n , D i n g e z u t u n , die außenp o l i t i s c h e r w ü n s c h t w ä r e n , oder sie z w i n g e n , andere S c h r i t t e z u u n t e r nehmen, die außenpolitisch unerwünscht sind21. Verringerung der privaten Kapitalausfuhr u m etwa 3 M i l l i a r d e n (unter Regierungsdruck, aber ohne gesetzlichen Zwang) erzielt. Das bedeutet natürlich auf der anderen Seite, daß die Zunahme amerikanischer Kapitalerträge i m Ausland — m i t ihrer entlastenden W i r k u n g auf die Zahlungsbilanz — nicht mehr i m bisherigen Maß fortschreiten w i r d . 20 Über die Belastung der amerikanischen Zahlungsbilanz durch den V i e t namkrieg sind wahrscheinlich interne Berechnungen angestellt worden, aber i n der Öffentlichkeit scheinen keine Zahlen verfügbar zu sein. Sicher stellt der weitaus größte T e i l der Kriegskosten, die möglicherweise 30 M i l l i a r d e n erreichen, keine Belastung der Zahlungsbilanz dar, da die Zahlungen entweder i m I n l a n d oder innerhalb Südvietnams verbleiben, dessen Wirtschaft w o h l i m Zahlungsbilanz-Sinn heute als ein T e i l der amerikanischen betrachtet werden darf. Eine Belastung stellen folgende Beträge dar: 1. Die Steigerung der Importe durch höheren zivilen Konsum i n den Vereinigten Staaten als Folge der K r i e g s k o n j u n k t u r ; 2. die Importe von Rohmaterial für Kriegszwecke; 3. die notwendigerweis ganz u n d gar unbekannten Beträge, die durch eine Reihe von „Löchern" aus Südvietnam heraussickern (Beispiele etwa: Südvietnamesen kaufen Produkte einer französischen Plantage, deren Besitzer das Geld nach Frankreich transferiert oder Schutzgeld an die V i e t K o n g zahlt; ein korrupter südvietnamesischer Beamter verdient an amerikanischen Lieferungen u n d kauft sich dafür einen Mercedes-Wagen oder französische Weine.) Die unter 1. erwähnte Belastung k a n n f ü r eine politische Betrachtung ausscheiden, denn w e n n die K r i e g s k o n j u n k t u r nachläßt, so muß die Regierung durch öffentliche Arbeiten u n d andere Zivilaufträge Ersatz schaffen u n d so den Konsum hochhalten; aber die beiden anderen Formen der Belastung sind i n jedem Sinn real. 21 I n der Diskussion über die deutschen Reparationen i n der Periode 1920 bis 1932 hat die Frage, ob Zahlungen an das Ausland wesentlich schwerer zu leisten sind als solche i m Inland, unter den Namen des Transferproblems eine große Rolle gespielt. Der Dawes-Plan hat zwischen dem Problem der Aufbringung der Reparationen durch Steuern i n deutscher Währung u n d der Übertragung dieser Summen i n ausländische Währung unterschieden, u n d f ü r diese zweite Aufgabe eine Suspension i n Fällen zu großer Schwierigkeit vorgesehen. Eine Reihe v o n Wirtschaftspolitikern hielten diesen Schutz f ü r überflüssig; m a n hörte das Argument, es könne nicht schwerer sein, eine bestimmte Summe von B e r l i n nach Paris zu übertragen als von 39*

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A n Vorschlägen, die amerikanische Zahlungsbilanz zu verbessern, hat es nicht gefehlt. Man t r i f f t sogar noch h i n und wieder Leute, die einfach die Anwendung der währungspolitischen Grundsätze empfehlen, wie sie unter dem alten Goldstandard vor der großen Weltkrise üblich waren: Man verknappe das Geld, dann werden die Preise notwendig zurückgehen müssen, und die Folge w i r d eine Steigerung des Ausfuhrüberschusses sein. Wenn dieses M i t t e l rücksichtslos angewandt w i r d (und wenn andere Länder keine Abwehrmaßnahmen ergreifen), wäre es — mindestens zunächst — tatsächlich wirksam. Aber die Geldverknappung w i r k t auf die Gesamtwirtschaft, nicht nur auf die Produktion und den Handel mit Exportwaren oder m i t solchen Inlandswaren, die mit ausländischen Produkten konkurrieren. U m auf diesen begrenzten Sektoren der Wirtschaft die notwendigen Erfolge zu erzielen, müßte man eine Depression i n der Gesamtwirtschaft herbeiführen, weil eben eine „gezielte" Geldrestriktion nicht möglich ist. Die Verluste der amerikanischen Wirtschaft würden also ein Vielfaches der Besserung i n der Handelsbilanz betragen. Außerdem aber würde ein solches Verfahren nicht nur unberechenbare Folgen i n der innenpolitischen Lage i n den Vereinigten Staaten bewirken, sondern die Depression könnte sich leicht von den Vereinigten Staaten auf die übrige Welt verbreiten. Diese Konsequenzen sind unannehmbar. Nicht wenige Befürworter hat die Abwertung des Dollars — entweder als ausdrückliche Erhöhung des Goldpreises oder als Einführung eines beweglichen Goldpreises — gefunden. Eine solche Herabsetzung des Dollarwertes i n Gold würde natürlich eine Herabsetzung seines Wertes i n allen anderen Währungen bedeuten, vorausgesetzt, daß die Regierungen der betroffenen Länder das Wertverhältnis ihrer Währungen zum Gold unverändert ließen. So würden amerikanische Waren für alle Ausländer billiger, ausländische Waren für Amerikaner teurer werden, was tendentiell eine Vermehrung des Ausfuhrüberschusses zur Folge hätte 2 2 . B e r l i n nach Frankfurt. I m Young-Plan hat dann Deutschland eine günstigere Regelung des Gesamtbetrages m i t einer teilweisen Aufhebung des Transferschutzes bezahlt. Obgleich die deutsche Zahlungsbilanz i n der Weltkrise eine hohe Elastizität bewies u n d unter dem Einfluß der Kreditrestriktionen von 1931 einen großen Ausfuhrüberschuß f ü r die Abtragung von Verpflichtungen an das Ausland zur Verfügung stellte (dabei handelte es sich v o r allem u m die Rückzahlung v o n Auslandskrediten, da durch das Hoover-Moratorium v o m J u n i 1931 die Reparationszahlungen suspendiert waren), w i r d doch keine rückschauende Analyse der deutschen Reparations-Erfahrungen i n ihrer Gesamtheit die Realität u n d große Bedeutung des Transferproblems leugnen können, u n d i n der Diskussion über die amerikanische Zahlungsbilanz ist beides unbestritten geblieben. 22 M a n sucht manchmal eine solche Devalvierung m i t dem Argument schmackhaft zu machen, daß der gegenwärtige Dollarkurs „künstlich" sei. D a m i t ist i n der Regel gemeint, daß der Wechselkurs, etwa v o n $ 1,— =

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Aber dieser Vorteil müßte teuer bezahlt werden. Die Erfahrung, daß der Dollar i n seinem internationalen Wert nicht stabil sei, würde eine große Zahl von ausländischen Einlegern veranlassen, ihre Dollarguthaben zurückzuziehen — wahrscheinlich würden auch viele Besitzer von Dollar-Wertpapieren diese verkaufen. Dadurch würde eine akute, lang nachwirkende Dollarkrise herbeigeführt. Dazu kommt, daß eine Devaluierung des Dollars die amerikanische Zahlungsbilanz nur dann erleichtern könnte, wenn andere Staaten nicht gleichfalls devaluieren würden. Selbst jene Länder, i n denen heute die „starre" amerikanische Währungspolitik viel kritisiert wird, würden vermutlich ganz anders denken, sobald durch eine Herabsetzung des Dollar-Goldwerts der Druck der amerikanischen Ausfuhr auf ihre Binnenmärkte vergrößert und gleichzeitig die Aufnahmefähigkeit des amerikanischen Marktes verringert würde; als die leichteste Abwehrmaßnahme würde die Herabsetzung des Goldgehalts der eigenen Währungseinheit sich anbieten. Damit wäre man bei dem Abwärtsrennen der Weltwährungen angelangt. das i n den frühen 30er Jahren vor allem zwischen Pfund und Dollar stattfand und das sicher niemandem genützt hat. Selbst abgesehen von alledem, wäre die Entthronung des Dollars als einer Weltwährung, die notwendig aus einer Devaluierung sich ergeben müßte, ein politischer Schlag für die Vereinigten Staaten, dessen Bedeutung nicht m i t dem Argument der verfehlten Prestige-Politik bagatellisiert werden dürfte. Ob der amerikanische Vorschlag, ein zusätzliches „Weltgeld" zu schaffen, je eine Möglichkeit bieten wird, den Dollar schmerzlos aus seiner Stellung als internationale Reserveeinheit herauszulösen und damit der amerikanischen Währungspolitik mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, läßt sich i m Augenblick nicht sicher beurteilen; daß dieses Mittel, selbst wenn es an sich tauglich wäre, i n der näheren Zukunft verfügbar sein wird, ist höchst unwahrscheinlich. Jede andere Möglichkeit, die sich der amerikanischen Wirtschaftspolitik ohne Mithilfe anderer Staaten bietet, ist gleichfalls m i t sehr erheblichen Nachteilen behaftet, wenn diese auch i n einigen Fällen weniger schwer sein dürften als jene der Dollar ab Wertung. Man könnte etwa eine gesetzliche Beschränkung der privaten Kapitalausfuhr einD M 4,—, nicht der K a u f k r a f t p a r i t ä t entspreche. Das t r i f f t i n dem Sinne zu, daß eine amerikanische Familie bei sich zu Hause nicht m i t einem $ 6 000,— Jahreseinkommen soviel kaufen k a n n w i e eine deutsche Familie i n Deutschland m i t einem Einkommen von D M 24 000,—. A b e r über das Ausmaß dieser Differenz bestehen i n Europa zum T e i l sehr übertriebene Vorstellungen, die w o h l aus den Erfahrungen europäischer Touristen m i t amerikanischen Hotelpreisen stammen. F ü r eine haushaltführende Familie des Mittelstandes dürfte die K a u f k r a f t p a r i t ä t bei etwa 1:3 liegen. Daß es eine große Z a h l von Waren gibt, die i n den Vereinigten Staaten billiger sind als i n Europa, auch w e n n m a n m i t 1:4 umrechnet, w i r d j a durch den Exportüberschuß schlüssig bewiesen.

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führen, aber das hieße, daß der Dollar nicht mehr unbeschränkt konvertierbar wäre, was bestehendes Mißtrauen sicher steigern würde; außerdem sind Kontrollen der Kapitalausfuhr schwer sachverständig zu handhaben. Man könnte die Auslandsreisen amerikanischer Touristen erschweren, etwa durch eine hohe Steuer auf Pässe; aber das würde solche Länder wie Italien und Griechenland hart treffen, vielleicht einer neuen amerikanischen Hilfeleistung bedürftig machen, und bei der Steuerbelastung nach dem Zielland zu differenzieren, wäre technisch und rechtlich schwierig und würde außerdem zu großer Verärgerung führen. Vielleicht ergibt eine unvoreingenommene Prüfung, daß manche militärischen Stützpunkte, die Amerika heute noch hält, ohne ernste Verringerung der Sicherheit liquidiert werden können; aber bei solchen Entscheidungen muß außer den militärisch-technischen Faktoren auch die Psychologie der Verbündeten berücksichtigt werden, von denen ja nicht immer eine kühl-objektive Einschätzung der Risiken erwartet werden kann und die deshalb unter Umständen auch durch eine objekt i v völlig zu rechtfertigende Aufgabe amerikanischer Militärpositionen i n bedenklichem Maß beunruhigt werden können. So w i r d es darauf ankommen, daß die amerikanische Zahlungsbilanz durch Leistungen der Verbündeten, vor allem i n der Entwicklungshilfe und vielleicht auch i n Hinblick auf die Militärausgaben, entlastet wird. Einiges ist ja i n dieser Hinsicht schon geschehen, aber es genügt nicht. Die europäischen Verbündeten Amerikas müssen sich darüber klar sein, daß Amerika nur dann seine Menschenzahl, seine technischen Kenntnisse und sein industrielles Schwergewicht für die Verteidigung Europas und anderer Kontinente einsetzen kann, wenn i h m das währungswirtschaftlich ermöglicht wird. Die Sanierung der amerikanischen Zahlungsbilanz ist mindestens ebenso sehr ein europäisches wie ein amerikanisches Interesse. I n Zeiten rückläufiger Wirtschaftskonjunktur und stagnierender Steuererträge — wie sie i n dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, für die Lage i n mehreren Ländern des Westens und vor allem i n der Bundesrepublik charakteristisch sind — ist es freilich schwer, aus dieser Erkenntnis praktische Konsequenzen zu ziehen. Aber die Überbrückung kurzer Zwangslage-Perioden ist nicht unmöglich, da die Vereinigten Staaten noch einen erheblichen Goldschatz besitzen und sich auch banktechnische Aushilfen anbieten; notwendig ist nur die grundsätzliche Bereitschaft der Europäer zu einem stärkeren Mittragen der Last. Die Frage nach der wirtschaftlichen Komponente der amerikanischen Außenpolitik ist nicht nur an sich wichtig, sie ist auch ein Schulbeispiel dafür, daß häufig weder ein rein wirtschaftliche noch eine rein politologische Betrachtung das Wesen gesellschaftlicher Vorgänge erfassen kann, sondern nur ein Zusammenwirken beider Disziplinen. Besonders

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beim Thema der Entwicklungshilfe, die i m Rahmen des Gesamtproblems so überaus wichtig ist, haben auch Soziologie und kulturbezogene Anthropologie mitzusprechen. Gewiß kann niemand von uns die Methoden aller Sozialwissenschaften beherrschen oder alle ihre Resultate zur Kenntnis nehmen. Es läßt sich auch nicht verhindern, daß jede der einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ihre eigenen analytischen Techniken und ihre eigene Terminologie sozusagen für den inneren Gebrauch entwickelt. Wonach w i r aber streben sollten, ist die Möglichkeit der Verständigung untereinander: Was i n jeder Disziplin auch für die anderen wichtig ist, sollte sich i n eine Sprache übersetzen lassen, die auch außerhalb der einzelnen SpezialWissenschaft verstanden wird. Die gesellschaftliche Realität ist eine; die politische Bedeutung der amerikanischen Zahlungsbilanzschwierigkeiten oder der EWG, die soziologische Problematik mancher Maßnahmen der Entwicklungshilfe besteht nicht weniger deshalb, weil sie m i t der Fiktion der Eigengesetzlichkeit einzelner Disziplinen sich nicht gut verträgt und den i n dieser Fiktion verfangenen Analytiker i n Schwierigkeiten bringt. Ganz besonders wichtig ist das Überkommen dieser Fiktion dort, wo der Sozialwissenschaftler zum Berater der politisch Handelnden wird. Denen ist nicht geholfen, wenn sie einen Rat bekommen, der zwar wirtschaftlich richtig, aber politisch falsch ist, oder sich gut verwirklichen ließe, wenn eine bestimmte Gesellschaft die Sitten Europas oder Amerikas i m zwanzigsten Jahrhundert hätte, während sie i n Wirklichkeit i n ganz anderen Traditionen lebt. Der Sozialwissenschaftler, der seine Reputation i m Behandeln praktisch-politischer Probleme nicht verlieren w i l l , muß mindestens von den angrenzenden Gebieten genug wissen um zu erkennen, wo die Kompetenz seiner eigenen Spezialität aufhört und er entweder sich i n die Ergebnisse einer Nachbardisziplin einarbeiten oder, wo das nicht möglich ist, einen ihrer Vertreter zu Hilfe rufen muß.

Kritische Gedanken über den Nutzen des Deutschen Entwicklungsdienstes Von Hans-Joachim Winkler Der Begriff der „Heiligen Kühe" — aus der indischen Entwicklungsproblematik i n unseren politischen Sprachschatz übernommen — bezeichnet landläufig etwas, das i n der öffentlichen Diskussion positiv tabuiert ist. I m Bereich der deutschen Entwicklungspolitik w i r d heute von den K r i t i k e r n fast alles i n Frage gestellt, nachdem sich bisher weder die Hoffnungen der Planwirtschaftler auf ein staatlich gesteuertes Wachstum noch die der Liberalen auf das segensreiche Wirken des Privatunternehmers erfüllt haben. Nur ein Bereich ist bisher von öffentlicher Grundsatzdiskussion ausgenommen: die Arbeit der jungen deutschen Entwicklungshelfer draußen an der „Entwicklungsfront". Für den am 24. 6.1963 gegründeten „Deutschen Entwicklungsdienst" (DED) arbeiteten i m A p r i l 1967 rund 1100 Freiwillige i n 22 Entwicklungsländern dreier Kontinente. Nach den Zielvorstellungen des DED sollen möglichst schon 1968 jeweils etwa 2000 Helfer draußen wirken. Hinzu kommen zur Zeit etwa 600 Helfer privater, vor allem kirchlicher Organisationen. Letztere sollen hier außer Betracht bleiben, da sie kein Instrument staatlicher Entwicklungspolitik sind. Ist der „Deutsche Entwicklungsdienst" (DED) endlich der Schlüssel für wirksamere Entwicklungshilfe? Ist er als Faktor des „Human I n vestment" imstande, die Interdependenz des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereichs, durch die alle Entwicklungsförderung so kompliziert wird, fruchtbar zu machen? Oder ist er eine „heilige K u h " , die angesichts der von den Freiwilligen gebrachten persönlichen Opfern von jedermann unbehelligt gelassen wird? I m folgenden sollen einige Überlegungen zu Sinn und Nutzen des DED für die jeweilige Entwicklungsgesellschaft und für uns angestellt werden. Sie sind manchmal kaum mehr als kritische Fragen, gelegentlich vielleicht auch überspitzt und auf jeden Fall unvollkommen, weil über dieses neue Phänomen noch kaum ausgewertete Erfahrungen und Untersuchungen vorliegen. Zwar gibt es häufig K r i t i k am Kompetenzwirrwarr der Ministerien und der am DED beteiligten rund 40 nichtstaatlichen Entwicklungshilfeorganisationen. Auch hat es i n den Projekten draußen einzelne kleinere Pannen gegeben. Aber grundsätzlich scheinen die 1945 verpönten Be-

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griffe von „Dienst" und „Einsatz", die die Bundeswehr bisher kaum aufwerten konnte, durch den DED wieder Glanz bekommen zu haben; denn vom Bundespräsidenten bis zum sonst stets kritischen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" 1 findet der Sinn dieses Dienstes überall A n erkennung, zumal meist darauf hingewiesen werden kann, daß der DED aus den Erfahrungen des zwei Jahre älteren amerikanischen Peace Corps gelernt habe 2 . Die Bundesrepublik schickt nicht wie die USA Jungakademiker hinaus, sondern junge Menschen m i t abgeschlossener Berufsausbildung und praktischer Erfahrung, überwiegend aus den Bereichen Handwerk, Technik und Soziales. I n der Anzeigenkampagne des DED i n den Tageszeitungen vom Juni 1967 heißt es dazu: „Er darf kein weltvergessener Idealist sein. Er soll ein harter Realist sein, den nur handfeste Sachen interessieren." Wie alle Entwicklungshilfe ist der DED ursprünglich auch eine politische Aktion. Das zeigen schon Zeit und Umstände seiner Gründung; denn er wurde i n Gegenwart des US-Präsidenten John F. Kennedy auf dessen Deutschlandbesuch am 24. 6.1963 i n Bonn offiziell konstituiert. Bundespräsident Heinrich Lübke sagte damals: „ W i r überwinden das koloniale Zeitalter nur, wenn w i r bereit sind, andere Welten zu respektieren, zu dienen und zu helfen. Der Deutsche Entwicklungsdienst soll ein Feldzug nüchterner Bescheidenheit, eine solide Brücke zu allen uns befreundeten Ländern werden." Präsident Kennedy mahnte die ersten Freiwilligen, „die Lebensanschauungen der freien Welt überzeugend zu demonstrieren und die Überlegenheit der Demokratie und der Freiheit durch persönlichen Einsatz zu beweisen" 3 . Die zwischenstaatlichen Beziehungen werden gemeinhin i n den politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich unterteilt. I m folgenden w i r d nach der Wirksamkeit des Entwicklungsdienstes i n den verschiedenen Bereichen gefragt, wobei der militärische als unrelevant außer Betracht bleibt. Zu Beginn des amerikanischen Peace Corps konnte noch Arnold J. Toynbee i n seiner Philadelphia-Vorlesung hoffen: „Einer kleinen Gruppe franziskanisch gesonnener Repräsentanten der Vereinigten Staaten i m Ausland könnte es gelingen, die Lage i m Kalten Krieg zugunsten der westlichen Welt zu verändern 4 ." Später hat man i n den USA das Peace Corps spöttisch „Kennedy's K i t t e n Korps" genannt. Heute kann man kaum noch unterstellen, daß einige hundert Entwicklungshelfer über Kontinente verstreut ein wirksames Instrument der Außenpolitik 1

„ D E D : I m m e r bescheiden", i n : Der Spiegel, Nr. 12 v. 13. 3. 1967, S. 54 ff. Vgl. A r t i k e l : Fehler des Peace Corps wurden vermieden, i n : Handelsblatt v. 11. 11. 1965. 3 Zit. n. F A Z v. 25. 6. 1963. 4 A r n o l d J. Toynbee: Die Z u k u n f t des Westens, München 1964, S. 163. 2

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sein könnten. Dennoch findet man noch derartige Überlegungen, wie ein Kommentar des „Afrika-Bulletin" zur Gründung eines kommunistischen Friedenskorps i n Moskau i m Februar 1967 zeigt: „Es besteht kein Zweifel daran, daß die Ostblockstaaten i n Afrika wieder politischen Einfluß gewinnen möchten, um den i n Afrika immer stärker werdenden ideologischen Einflüssen der westlichen Welt entgegenzuwirken 5 ." DED als Faktor der Außenpolitik? Die geringe Effizienz des Deutschen Entwicklungsdienstes als Instrument der Außenpolitik ergibt sich aus mehreren Überlegungen: Unsere Entwicklungshelfer sind, vielleicht mehr noch als die auf den „American Way of Life" eingeschworenen Peace-Corps-Leute, Repräsentanten einer pluralistischen Gesellschaft. Nach meinen Erfahrungen bei der Ausbildung von mehreren hundert unserer ersten Freiwilligen dominierte bei ihnen eine unpolitische, Konflikte ablehnende Grundeinstellung. Wenn man hinzunimmt, daß trotz einiger Kenntnis von Grundgesetz»A r t i k e l n kaum Vorstellungen über den Willensbildungsprozeß i n einer parlamentarischen Demokratie bestanden und daß die Mehrzahl der Freiwilligen zwar gern diskutierte, aber kaum fähig war, auch andere als die eigene Meinung zu vertreten bzw. sich i n fremde Situationen zu versetzen, so ergibt sich aus diesen Erfahrungen: Die meisten Helfer können gar keine Propagandisten der Demokratie sein, weil sie durch Elternhaus, Schule und Beruf selbst nicht i n der Demokratie als Lebensform eingeübt sind. Die Ausbildung beim DED ist, soweit ich sie bis zum September 1966 beobachten konnte, auch alles andere als ein Nachhilfekursus i n Demokratie, kann es wahrscheinlich auch gar nicht sein. Wenn überhaupt, könnten manche deutschen Entwicklungshelfer eher als unbewußte Vertreter obrigkeitsstaatlichen Denkens wirken, — was möglicherweise der Entwicklungsproblematik i n ihrem jeweiligen Gastland sogar angemessen ist. Ein zweiter hemmender Faktor für außenpolitische Wirksamkeit des DED liegt i n der Regel strikter politischer Neutralität, die für die Freiwilligen verbindlich — und auch von ihnen erwünscht ist. I n der „Vorläufigen Ordnung" für die Freiwilligen vom 1.12.1965 heißt es i m A b schnitt I, 2: „Mischen Sie sich nie i n politische Angelegenheiten oder politische Auseinandersetzungen des Gastlandes ein. Sie sind Gast, nicht Bürger dieses Landes." Darüber hinaus sieht der DED gerade i n seinem Status einer GmbH die Chance, unterhalb der staatlichen Außenpolitik zu arbeiten und, wie es der damalige Staatssekretär Viaion einmal i m Gespräch formulierte, sich auch dort i n den Boden zu krallen, wo unsere offizielle Diplomatie aus irgend welchen Gründen nicht wirken 5

A f r i k a - B u l l e t i n , Nr. 12, J u n i 1967, S. 5.

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kann. E i n Beispiel für diese unabhängige Taktik bot i m Frühjahr 1965 Tansania: Als Tansania die diplomatischen Beziehungen zur DDR i n tensivierte, zog die Bundesregierung am 26. 2.1965 die eben gewährte Militärhilfe ab. Die deutschen Entwicklungshelfer dagegen konnten nach anfänglichen Schwierigkeiten bleiben. Ein drittes Hemmnis für eine ausgesprochen politische Wirksamkeit des DED besteht i n der Tatsache, daß die Freiwilligen nicht als Experten, sondern als Helfer auf mittlerer und unterer Ebene tätig sind. Das bedeutet nur geringe Kontaktmöglichkeit zu jenen Kreisen i m Gastland, die die politische Willensbildung bestimmen. Darüber hinaus leidet der Kontakt unter Sprachschwierigkeiten. Die meisten Freiwilligen beherrschen i m Allgemeinen weder eine der Weltsprachen noch die jeweilige Landessprache. Dieser Mangel ist auch durch intensives Training i m Sprachlabor während der vierteljährlichen Ausbildungszeit nur unvollkommen zu beseitigen. Der DED-Beauftragte i n der Republik Elfenbeinküste, also i n einem der kultiviertesten Staaten des französisch beeinflußten Afrika, berichtete, daß wegen der schlechten Sprachkenntnisse der Helfer die Lebensmittelhändler schon Deutsch gelernt hätten 6 . Somit ergibt sich, daß die deutschen Entwicklungshelfer aufgrund ihrer politischen Einstellung, ihres Selbstverständnisses, ihres Status* und ihrer Kontaktmöglichkeiten kaum ein Instrument deutscher Außenpolitik sein können. Daran ändert auch nicht, daß der DED i m Bereich der staatlichen Außenpolitik einen gewissen Stellenwert besitzt. Für die einzelnen Projekte i n den Gastländern müssen staatliche Rahmenabkommen geschlossen werden. Hinzu kommt, daß manche Entwicklungsländer ein starkes Mißtrauen gegen Entwicklungsdienste zeigen, weil sie das altruistische Etikett des DED „Lernen und Helfen i n Übersee" als Verschleierung für nationale Macht- und Einflußpolitik nehmen. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß derartige personelle „Hilfsdienste" theoretisch auch Instrumente des westlichen oder östlichen „Imperialismus" sein können. U m derartiges Mißtrauen wach zu halten, genügen Skandale, wie jener u m den amerikanischen Geheimdienst i m Frühjahr 19677. Unter anderem waren auch Peace-Corps-Leute i n Verdacht geraten, für den CIA zu arbeiten. Grundsätzlich gehört es zu den Aufgaben eines staatlichen Nachrichtendienstes, alle Informationsmöglichkeiten über die Lage i n anderen Ländern auszunutzen. Man erwartet allerdings, daß er sich dabei nicht ertappen läßt. M i t einer „fünften 6

DED-Brief. Informationen des Deutschen Entwicklungsdienstes, Nr. 1/67, S. 3. 7 Vgl. Heinz Barth: Das Ende eines nachrichtendienstlichen Striptease, i n : Die Welt v. 27. 2. 1967.

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Kolonne" für die Ausbreitung politischer Vorstellungen und den A u f bau von Stützpunkten der westlichen Welt i n den Entwicklungsländern ist der DED jedenfalls falsch eingeschätzt. Weder w i l l noch kann er eine solche Aufgabe übernehmen. Daran hindert ihn schon sein pluralistischer Aufbau, nämlich die Mitsprache von ca. 40 privaten Entwicklungshilfsorganisationen. M i t t e l der Völkerverständigung? Wenn der DED also keine „Soldaten des Friedens" oder der Demokratie stellen kann, so zumindest „Botschafter des guten Willens", wie es Bundespräsident Lübke einer Gruppe ausreisender Freiwilliger 1966 mit auf den Weg gegeben hat: „ E i n Volk gewinnt Freunde i n der Welt, wenn seine Jugend selbstlos, aufgeschlossen und hilfsbereit ihren Beitrag dazu leistet, daß andere Völker ihren Weg i n eine bessere Zukunft finden 8." Diese Aufgabe gehört bei den zwischenstaatlichen Beziehungen zum kulturellen Bereich und kann langfristig auch politische Auswirkungen haben. Sie gehört zum Selbstverständnis des DED, wie es einer der Geschäftsführer, Dr. Molt , ausgedrückt hat: „Jeder Beitrag zu unserer Arbeit i s t . . . letzten Endes auch ein wesentlicher und wertvoller Beitrag zu dem B i l d der Deutschen i m Ausland 9 ." A u f der anderen Seite sind die zurückkehrenden Freiwilligen nach den Worten des DED-Verwaltungsratsvorsitzenden Dr. W. Casper „Keimzellen für eine übernationale Öffnung unseres sozialen und geistigen Lebens; sie können zu Kristallisationspunkten internationaler Solidarität und Verständigung werden" 1 0 . Der DED möchte also i n zweifacher Weise beim A b bau der Spannungen zwischen Nord und Süd, bzw. reichen und armen Ländern beitragen. Die Helfer sollen bei uns das Verständnis für die Entwicklungsländer vermehren, nachdem sie i n ihrem Gastland Verständnis für Deutschland einschließlich seiner Teilungsproblematik geweckt haben. Damit stehen die Helfer auch i m Spannungsfeld des OstWest-Konflikts, und zwar oftmals wider Willen. Nach meinen Erfahrungen sind nur wenige Freiwillige über die Ost-West-Problematik orientiert. Die meisten haben daran kein Interesse, werden sich darüber also kaum freiwillig unterhalten; andere leben noch i m irrationalen Antikommunismus der 50er Jahre, was besonders bei Freiwilligen aus West-Berlin zu spüren war. A l l e n war jedenfalls eine von Klischees freie, auch Tabus anrührende Diskussion der deutschen Frage fremd, zum Teil sogar erschreckend. Bis auf die wenigen interessierten und aufgeschlossenen Helfer sowie jene, die durch die Teilung i m persön8

Zit. n. DED-Brief, 7/1966, S. 3. Ebda. Nr. 1/1967, S. 6. 10 Ebda.

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liehen Bereich betroffen sind, kann man nach meinem Eindruck von den deutschen Entwicklungshelfern keine wirksame Prägung des Deutschlandbildes i n fernen Ländern erwarten. Hinzu kommt, daß die offizielle und offiziöse Wiedervereinigungsdiskussion i n der Bundesrepublik kritischen Argumenten nicht standhält. Wie sollen Entwicklungshelfer über die deutsche Frage phrasenlos diskutieren können, wenn sie noch niemals ins „Neue Deutschland" blicken konnten oder m i t Thesen anderer Wiedervereinigungsgegner konfrontiert worden sind? Außerdem ist das Thema an sich schon unendlich kompliziert. Das fängt bei den für Fremde so problematischen Adjektiven „federal" und „demoeratie" i n den Namen der beiden deutschen Teilstaaten an und hört bei der Schwierigkeit auf, Außenstehenden zu erklären, wie man eine 70 Millionen-Nation i n Europa gegen den Willen der Bürger geteilt halten kann. Unsere Entwicklungshelfer wären also überfordert, wenn man von ihnen eine Aufklärungsarbeit verlangen wollte, die unsere offizielle Diplomatie bisher nur recht unvollkommen leisten konnte. Immerhin sollte der selbstlose Einsatz der Freiwilligen an der Entwicklungsfront, ihr Beispiel tatkräftigen Zupackens, ihr Leben auf dem Niveau ihres Projektes ohne zivilisatorischen Komfort als Zeichen menschlicher Solidarität wirken und damit einen Beitrag leisten zum Abbau jenes untergründigen europäischen Schuldkomplexes aus der Zeit des Kolonialismus und Imperialismus und auf der anderen Seite zur Beseitigung der Minderwertigkeitskomplexe i n den Entwicklungsländern. Jedoch scheinen auch hier übertriebene Erwartungen Illusion. I n den Gastländern dominiert meistens noch die Struktur der Agrargesellschaft. I h r Wesen liegt u. a. darin, daß der Begriff der Solidarität nicht über die Großfamilie hinausreicht. Der Sinn des „Lernen und Helfen"-Wollens bleibt unübersichtlich. Der Einsatz der fremden Helfer w i r d freundlich hingenommen, ohne besondere Wirkungen i m gesellschaftlichen Bewußtsein zu hinterlassen. Dafür sorgt die Tatsache, daß es zum Wesen einer noch überwiegend statischen Gesellschaft gehört, keine Fragen zu stellen, sondern auch so etwas Erstaunliches wie den Entwicklungshelfer aus einem fernen Kontinent als von oben gegeben hinzunehmen. Gegenüber unseren sonstigen Repräsentanten i n den Entwicklungsländern — den Diplomaten, Entwicklungsexperten, Kaufleuten und gelegentlichen Touristen — haben die Entwicklungshelfer günstigere Voraussetzungen für den Verständigungsauftrag: Sie verfügen über relativ viel Zeit, sind nicht zum Erfolg um jeden Preis verurteilt und leben i m allgemeinen nicht i m Europäer-Ghetto. Unsere bisherigen geringen Erfahrungen und die größeren des Peace Corps zeigen allerdings, daß

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auch der Entwicklungshelfer draußen i n der Überlegenheitsrolle des Europäers gesehen wird. Für die immer wieder gepriesene Partnerschaft als angebliche Grundlage aller Entwicklungspolitik fehlt die Grundvoraussetzung: annähernd gleiche Stärke der Partner. Erwartungsgemäß zeigen denn auch die regelmäßig vom DED veröffentlichten Briefe der Helfer 1 1 viel von Folklore und deutscher Tüchtigkeit, aber nichts von Einsichten i n die anderen Denk- und Verhaltensweisen der Partner. Ohne ein Mindestmaß von psychologischer und soziologischer Denkweise, gekoppelt m i t einem großen Maß von Geduld und Takt, sind viele Helfer mit dieser Aufgabe sicherlich überfordert. U m das von Kolonialismus, Imperialismus und Ausnutzen der technisch-materiellen Überlegenheit geprägte B i l d unserer Industriegesellschaft i n den Entwicklungsländern korrigieren zu können, ergeben sich für unsere Entwicklungshelfer noch folgende Schwierigkeiten. Einmal ist ihre Zahl so klein, daß die Wirkung i n der Dritten Welt zu versikkern droht. Darüber hinaus muß man fragen, ob ein bei uns schlecht behandelter, frustrierter Student aus einem Entwicklungsland i n seiner Heimat nicht mehr an Verständigung und „Goodwill" zerstört, als 20 unserer Entwicklungshelfer wieder aufbauen können, weil der Student i n seiner Heimat i n einflußreicher Position mit größeren Kontakten und Meinungsbildungsmöglichkeiten lebt. Außerdem kann ein noch so gut organisierter Entwicklungsdienst als Instrument der „Open-MindPolicy" das nicht korrigieren, was w i r i n den Entwicklungsländern an Schaden durch zu geringe wirtschaftliche „Open-Door-Policy" anrichten. Schließlich werden heute die Meinungen i n einer Gesellschaft nicht mehr durch eine handvoll fremder Repräsentanten, sondern durch die modernen Massenmedien (Transistorradio!) gebildet. Wie schnell „traditionelle Freundschaftsbande" zerreißen können, hat die Bundesrepublik i m israelisch-arabischen Krieg 1967 erlebt. Ein anderes Beispiel: I n unserer Meinungsbildung über die USA ist der Effekt von MarshallPlan und Care-Paketen längst durch die Sorge vor amerikanischer „Überfremdung" verdrängt worden. I n der Politik regiert auch zwischen den Völkern nicht Dankbarkeit, sondern Interesse. Immerhin kann derartigen kritischen Einwänden gegen die Erwartung, daß die Arbeit unserer Entwicklungshelfer ein gewisses geistiges Kapital an Verständnis und Wohlwollen für uns erreicht, die These von Edgar Salin entgegengehalten werden: „Dankbarkeit i s t . . . nicht zu erwarten; die Schüler von morgen werden sich übermorgen gegen ihre einstigen Lehrmeister wenden. Aber auch die Saat des Hellenismus ist noch aufgegangen, als Hellas, als Griechenland längst heimgegangen 11 Vgl. neben dem monatlichen D E D - B r i e f die Sonderseite i n : Die Welt v. 21. 1. 1966.

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w a r 1 2 . " Die Einwände sind nur vorgebracht worden, w e i l bei uns i n der öffentlichen Diskussion die Tendenz besteht, die Entwicklungshilfe als einen Automaten zu betrachten, i n den man neben Kapital und technischem Wissen nur noch etwas persönliches Engagement hineinzustekken braucht, um dann i n den Entwicklungsländern neben einem W i r t schaftswunder schnell auch noch Ansehen zu erreichen. Ob unsere Entwicklungshelfer den gewünschten Effekt des Verständnisses für Deutschland und Europa i n ihrem Gastland erwirken, kann sich also erst langfristig herausstellen, ist aber zumindest fragwürdig. Hinzu kommt, daß w i r zwar manches über Auswahl und Ausbildung der Helfer wissen, daß es aber noch keine Untersuchungen über Bedindungen und Erfolge ihres Einsatzes i m Gastland gibt 1 3 . Berichte über den Entwicklungsdienst haben bisher ihre Quellen fast ausschließlich i n jenem Kreis von Personen, die m i t dieser Institution verbunden sind und mehr oder weniger von ihr leben. Hilfe zum Abbau von Vorurteilen? Nach dem Selbstverständnis des DED leisten die Helfer einen weiteren Beitrag zur internationalen Verständigung, indem sie nach ihrer Rückkehr bei uns Vorurteile über die Menschen i n den Entwicklungsländern korrigieren, die Solidarität für den „fernen Nächsten" verstärken und nicht zuletzt aufgrund ihrer 1 3 / 4 j ä h r i g e n Welterfahrung einen wirksamen Faktor gegen eines unserer Erbübel, die deutsche Provinzialität, darstellen. Verständnis kann nur wecken, wer etwas verstanden hat. U m die so völlig anderen Denk- und Verhaltensweisen der Menschen fremder Kulturen zu verstehen, sind unsere Helfer nicht vorbereitet. Das zeigen die vom DED veröffentlichten Briefe, meine Erfahrungen aus Gesprächen m i t einigen Heimkehrern und vor allem die Eindrücke, die Eberhard Stahn von der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer draußen i n den Projekten der Helfer hatte. Er stellte fest: „ E i n euro-zentrisches Überlegenheitsgefühl, das i n sublimierter Form der kolonialen Mentalität vergangener Zeiten und anderer Völker sehr ähnlich ist, bricht durch die dünne Decke des äußerlich betonten Partnerschaftsverhältnisses. Dabei kann die zumeist aus der fachlichen Qualifikation 12

Edgar Salin: Unterentwickelte Länder. Begriff u n d Wirklichkeit, i n : Lynkeus. Gestalten u n d Probleme aus Wirtschaft u n d Politik, Tübingen 1963, S. 342. 13 Rudolf Schloz (Geschäftsführer des Arbeitskreises „Lernen u n d Helfen i n Übersee): „Die große Unbekannte. Entwicklungshelfer i m Einsatz", i n : „Zusammenarbeit u n d Entwicklung. Beiträge der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer", Nr. 7/1966, S. 15 ff.

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herrührende Überheblichkeit durchaus wohlwollender A r t sein 14 ." Deshalb hält Stahn eine „länderkundliche Re-Orientierung" bei den Heimkehrenden für unerläßlich. Sie könnte an die Erfahrungen der Helfer anknüpfen, hätte es also leichter, als die länderkundliche Vorbereitung, und könnte so das notwendige „Verstehen" erreichen. Auch wenn diese Erfahrungen subjektiv und die Sorgen übertrieben sein sollten, so zeigen sie doch: Provinzialität — und Euro-Zentrismus ist auch eine Form von Provinzialität — verliert man nicht einfach durch einen Auslandsaufenthalt. Von Stammtischgesprächen heimgekehrter Entwicklungshelfer einen Beitrag zu besserer internationaler Verständigung zu erwarten, könnte sich genau so als Illusion erweisen wie die Hoffnung, Kriegervereine würden wesentlich bei der Befriedung der Welt helfen. I m übrigen gilt für die Wirkung auf unsere Gesellschaft ähnliches wie für das Wirken unserer Freiwilligen i m Gastland: ein F i l m m i t einseitig ausgewählten Darstellungen, wie 1966 „ A f r i k a addio", kann mehr Vorurteile i n unserer Gesellschaft hervorrufen oder bestätigen als hunderte von verständnisvollen Entwicklungshelfern wieder abbauen können. I m übrigen leisten das Fernsehen und andere Massenmedien heute schon einen erheblichen Beitrag zum Kampf gegen unsere Provinzialität; seine Wirkung erscheint i n manchem tiefer und breiter, als man es von einem Entwicklungshelfer erwarten kann. Einen weiteren wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft sieht der DED i m „persönlichen Engagement qualifizierter Freiwilliger, die sich von einer der wichtigsten Aufgaben der Zeit gefordert fühlen" 1 5 . Zwar zeigen sich bei den ersten Heimkehrern die vom Peace Corps bekannten Rückanpassungsschwierigkeiten, deren wirtschaftlicher Aspekt i m letzten Abschnitt behandelt wird. Aber die Frage lautet nach Meinung des DED nicht mehr: „Wie bringen w i r die Rückkehrer unter?, sondern: Wie nutzen w i r ihre Erfahrungen für unser ganzes Volk 1 6 ?" Aufgrund der vom DED wiedergegebenen Äußerungen und meinen eigenen Erfahrungen bei der Ausbildung der Helfer gibt es bei ihnen keine klaren Motive für ihren Dienst; aber ein Gefühl ist fast allen gemeinsam, nämlich „einmal herauszukommen aus der lästigen Enge kleinbürgerlicher Vorurteile", wie es der Sprecher der ausreisenden Freiwilligen 1966 dem Bundespräsidenten bei der Dreijahresfeier des DED erklärte 1 7 . Als 1967 die ersten 45 Rückkehrer beim DED ihre Pro14 Eberhard Stahn: Entwicklungsländer i m Zerrspiegel. Z u r auslandskundlichen Neuorientierung, i n : Zusammenarbeit u n d Entwicklung, Nr.3/1967, S. 6. 15 Die damaligen DED-Geschäftsführer i n Brief an „Die Welt", 14. 5. 1965. 18 DED-Geschäftsführer Johannes Reinhold: Die Rückgliederung von E n t wicklungshelfern, i n : Zusammenarbeit u n d Entwicklung, Nr. 6/1967, S. 30. 17 Zit. nach D E D - B r i e f Nr. 7/1966, S. 4.

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bleme diskutierten, herrschte wieder das Gefühl vor, „hier zuhause" sei eben „alles ein wenig zu eng — zu kleinkariert" 1 8 . Daß diese Meinung nicht nur für die Bundesrepublik zutrifft, zeigen fast gleichlautende Urteile der zurückgekehrten Paece-Corps-Leute 19 . Man kann i n diesen Urteilen eine unreflektierte Ablehnung der organisierten, reglementierten, bürokratisierten Industriegesellschaft sehen, wie sie auch für unsere rechtsradikalen Gruppen typisch ist 2 0 . Dazu würde passen, daß i n unserer weitgehend von Sekundärbeziehungen bestimmten Gesellschaft der DED für viele Helfer die bisher unbewußt vermißte Primärgruppe bildet. Untermauert w i r d diese Tendenz durch die Tatsache, daß man i n der Zentrale des DED manchmal von „Erziehungsgemeinschaft" spricht 21 . Man kann dann weiter folgern, daß der DED eine A r t Ventil für junge, an unserer Gesellschaft unzufriedene Menschen darstellt und somit hilft, das rechtsextreme Potential unserer Gesellschaft klein zu halten. I n anderen Gesellschaften haben vor allem Armee, Kolonialdienst oder Auswanderung derartige Ventilfunktionen erfüllt, und es ist nicht das geringste Dilemma der Weimarer Republik gewesen, daß die deutsche Gesellschaft nach 1918 über keine derartigen Ventile verfügte. Die erwähnte Äußerung beim Rückkehrertreffen des DED zeigt allerdings, daß die knapp zwei Jahre Auslandsaufenthalt zu kurz und die Zahl der Entwicklungshelfer zu klein sind, um besondere gesellschaftliche und damit auch politische Wirkungen zu haben. I n den USA, wo sich das Peace Corps anfangs überwiegend aus College-Kreisen rekrutierte, mag es für die Stärke der von Berkeley ausgegangenen „Neuen Linken" vielleicht relevanter gewesen sein, daß fast 15 000 junge Akademiker vom Peace Corps i m Ausland absorbiert waren 2 2 , — nicht gerechnet die hunderttausende junger Wehrpflichtiger auf den vielen Aktionsplätzen der USA rund um den Erdball. Diese Überlegungen sollen i n keiner Weise die Tatsache vergessen machen, daß sich viele Freiwillige draußen i n sehr schwierigen Situationen persönlich ganz großartig bewährt haben. Sie möchten aber hinter die These Fragezeichen setzen, daß als Protest gegen unsere „nüchterne, langweilige, oberflächliche Verbraucher-Gesellschaft" die einen reagieren, indem sie gammeln und die anderen, indem sie sich als Freiwillige zum DED melden 2 3 . Aufgrund dieser Überlegungen kann auch jene 18

Johannes Reinhold, a.a.O. Vgl. K a r l - M i c h a e l Kuntz: Sammelbecken f ü r Neurotiker, i n : Sonntagsblatt Nr. 17 v. 23. 4. 1967, S. 8. 20 Vgl. E r w i n K . Scheuch u. Hans D. Klingemann: Materialien zum Phänomen des Rechtsradikalismus i n der Bundesrepublik 1966. Beiträge zur p o l i tischen Soziologie, I n s t i t u t f. vergl. Sozialforschung, Universität zu K ö l n (als Manuskr. vervielf.) 1967, S. 87 ff. 21 D E D - B r i e f Nr. 1/1967, S. 5. 22 Gespräch m i t Prof. Carl Landauer (Berkeley) i n Hamburg, Herbst 1966. 23 Albert Müller: H i l f e ohne Besserwisserei, i n : Die Welt v. 21. 1. 1966. 19

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These nicht unbesehen übernommen werden, nach der Entwicklungsdienst i n seiner Mischung aus Reflektion und Engagement eine besonders geeignete Form politischer Bildung sei 24 . Eher könnte man nach den ersten — notgedrungen oberflächlichen — Eindrücken vom DED sagen, daß der Ärger über unsere Gesellschaft, wie er sich hier äußert, ein Produkt mangelnder politischer Bildung ist. Denn diese Gesellschaft bietet dem, der ihre Strukturen und ihr Funktionieren auch nur etwas zu durchschauen gelernt hat, vielfache Möglichkeiten spannender Reflektionen und interessanter Engagements. Nach dem bisherigen Eindruck erscheint m i r nicht sicher, daß die Helfer draußen gelernt haben, sich nun i n unserer Gesellschaft besser zurecht zu finden. Eher besteht die Gefahr, daß sie das Potential der Frustrierten, der grundsätzlichen Verneiner verstärken, — und zwar nun m i t der Autorität des „Welterfahrenen". Die Zentrale des DED bemüht sich, den ersten 90 i m Jahre 1966 Zurückgekehrten die Wiedereingliederung zu erleichtern. Die Hälfte von ihnen arbeitet — teilweise enttäuscht — wieder zu Hause i m erlernten Beruf. Ein Viertel hat oder erhofft neue Überseeverträge. Ein Viertel besucht Schulen oder andere Einrichtungen der Weiterbildung 2 5 . Für dieses letzte Viertel scheint m i r am ehesten die These vom zurückgekehrten Entwicklungshelfer als belebendem Faktor für unsere Gesellschaft zuzutreffen, wie es Dr. J. English, der Psychiater des Friedenskorps, behauptet hat: „Da bildet sich katalytische Energie. Wenn die Freiwilligen diese Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit absterben ließen, hätten w i r eine große Kraftquelle verloren 218 ." Bei diesen Rückkehrern, von denen ich einige getroffen habe, dominiert der Wunsch, zu den praktischen Erfahrungen nun auch noch das notwendige theoretische Rüstzeug zu erwerben, um jene wirklich fruchtbar zu machen. Wenn aus dieser Gruppe ein erheblicheres Frustrationspotential entstehen sollte, dann liegt das nicht zuletzt an der mangelnden Offenheit unseres Bildungssystems. Grundsätzlich bleiben jedoch Bedenken, wenn man die Wirkungsmöglichkeiten der Entwicklungshelfer für Verständigung i n ihrem Gastland und für Verständnis i n unserer Gesellschaft überdenkt und dabei i n Betracht zieht, daß jeder Helfer pro Kopf und Jahr einschließlich Ausbildung und Verwaltung fast 25 000 D M kostet. Dann müßte man 24 Dieter Danckwortt: Partnerschaft des Lernens u n d Helfens. E i n pädagogisches Zielbild, i n : Offene Welt, H. 91 (März 1966), S. 100 ff. D. setzt allerdings erheblich mehr Vorbereitung u n d Auswertung voraus, als sie die F r e i w i l l i g e n erhalten. 25 Zahlen nach Johannes Reinhold, a.a.O. 26 Zit. nach K a r l - M i c h a e l Kuntz, a.a.O.

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nämlich nach dem Schema einer Cost-Benefit-Analyse 27 fragen, ob m i t dem Geld derartige Aufgaben i n anderer Form nicht viel wirksamer und billiger durchgeführt werden könnten. Beispielsweise hat HansJürgen Wischnewski als der zuständige Bundesminister während der Asienreise des Bundespräsidenten 1967 den Mangel an Geld und qualifizierten Persönlichkeiten für die seit langem geforderte wirksamere Public-Relation-Begleitung unserer Entwicklungshilfe i m Ausland beklagt 2 8 . Der ganze Bereich der Entwicklungspolitik ist an unseren Universitäten noch absolut unterrepräsentiert. Wirksamer als das Ausstreuen von Entwicklungshelfern über viele Länder sind vielleicht gezielte Einzelaktionen wie die Vermittlung jenes deutschen Fußballtrainers nach Sierra Leone, den unser dortiger Botschafter inzwischen als „das größte As der Bundesrepublik i n A f r i k a " bezeichnete 29 . Aber das Durchrechnen derartiger Alternativen würde dem DED nicht gerecht werden, weil sein Wirken für Verständigung und Solidarität eigentlich nur ein Nebenprodukt seiner eigentlichen* Aufgabe darstellt.

Wirksame Hilfe für die Entwicklung? Die Freiwilligen sollen entsprechend dem Untertitel ihrer Organisation „lernen und helfen i n Übersee". Sie haben nach der Mahnung des Bundespräsidenten „solide berufliche Kenntnisse nachzuweisen, die sie beispielgebend an Menschen weitergeben, denen sie fehlen". Dabei werden die Helfer nach seinen Worten „dann keine Anerkennung finden, wenn Sie vergessen, daß es Sie nicht zu ,Überlegenen 4 macht, wenn Sie Menschen beim Aufbau ihres Landes helfen. Sie w i r k e n nicht als Lehrer, Sie wirken als Partner, als Freund, und Sie w i r k e n durch I h r Beispiel" 3 0 . Der DED ist also wichtiger Faktor des „Human Investment", das nach den unerwartet langsamen Erfolgen der Kapitalübertragungen und Beratertätigkeiten zu einem Schlüssel der Entwicklungspolitik geworden ist. I n diesem Bereich hat sich der DED i n seinem Selbstverständnis eine fast einmalig schwere Aufgabe vorgenommen. Er w i l l draußen, wie es Staatssekretär Prof. Friedrich K a r l Viaion bei der Gründung des DED 27 Vgl. die Literaturübersicht von Günter Eisholz: Cost-Benefit-Analysis. K r i t e r i e n der Wirtschaftlichkeit öffentlicher Investitionen, i n : Hamburger Jahrbuch f ü r Wirtschafts- u n d Gesellschaftspolitik, Tübingen 1967, S. 286 ff. 28 L t . PR-Report v. 8. 3. 1967. 29 Bericht i n : Die Welt v. 22. 4. 1967. 80 Bundespräsident Heinrich Lübke zur Einweihung der DED-Ausbildungsstätte Schloß Wächtersbach, zit. n. „ B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung", Nr. 195 v. 15. 12. 1965, S. 1575.

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i m Juni 1963 ausdrückte 31 , die erforderliche „Entwicklungsmentalität" erreichen. „Und da der Mensch i n und m i t seinen Institutionen lebt, ist diese Änderung des Verhaltens nicht ohne Änderung der gesellschaftlichen Struktur i n den Entwicklungsländern möglich. Aus dieser Situation entsteht nun für den Entwicklungsdienst die Aufgabe, Entwicklungsimpulse auf breiterer Ebene zur Verwirklichung zu bringen, sozusagen eine Brücke zu schlagen zwischen den Anstößen der Experten und der oft resistenten örtlichen Umwelt." Die Entwicklungsaufgabe des DED lautet nach Viaion, „die Impulse von oben i n der Breite durchzusetzen oder aus eigener Initiative die Selbsthilfe von unten zu mobilisieren, m i t h i n Funktionen i n Gang zu bringen, die i n unserer eigenen Geschichte von den Mittelschichten ausgeübt wurden". Danach wäre der DED i n dieser Brückenfunktion also ein Kader, u m nach den Weisungen der Experten die i n statischen Denkweisen und Strukturen befangenen Menschen i n den Entwicklungsländern evolutionär oder revolutionär zu dynamisieren. Diese Aufgabe erscheint aus folgenden Gründen Illusion: Einmal ist die Zahl der Helfer viel zu klein, um bei den Milliarden Menschen draußen schnelle und tiefgreifende Wirkungen zu erreichen. Das aber ist i n allen Ländern mit Bevölkerungsexplosion notwendig. Außerdem ist dies eine politische A u f gabe, die von keiner Regierung eines Entwicklungslandes an fremde Experten und importierte Mittelschichten abgetreten werden würde. Wenn man den schon behandelten Partnerschaftsbegriff als Ideologie außer Betracht läßt, bleibt als Aufgabe für die Entwicklungshelfer, eigene Kenntnisse weiter zu geben. Diese Aufgabe bietet Probleme genug, wenn sie fruchtbar sein, also i n örtlich begrenztem Rahmen eine kleine Saat pflanzen soll. Das fängt damit an, daß Freiwillige nicht i n ihrem Beruf arbeiten, weil gerade andere Sparten draußen gefragter sind. Es ist sehr anerkennenswert, wenn ein gelernter Bäcker i n Nepal unter großem A u f wand an Mühe und Zeit schließlich eine automatische Bonbonproduktionsanlage i n Gang bringt 3 2 . Vom entwicklungspolitischen Nutzen derartiger Produktion einmal abgesehen, kann es jedoch fraglich erscheinen, ob Improvisation i n fremden Berufsbereichen für die Freiwilligen der Sinn ihrer Aufgabe ist. Solche i n den Briefen immer wieder auftauchenden Beispiele können auf Anlaufschwierigkeiten zurückgeführt werden; denn der DED glaubte, aus Etatgründen möglichst schnell recht viele Helfer i n die Projekte bringen zu müssen und konnte dabei nicht immer den richtigen Mann an den richtigen Platz setzen. Ein anderes 31 Ansprache abgedruckt i n : Lernen u n d Helfen i n Übersee. Schriften des Auslands-Kurier, Bd. 4, Hofheim/Ts. 1966, S. 7 f. 82 Bericht: Süßer L o h n der Angst, i n : D E D - B r i e f Nr. 3/1967, S. 10 ff.

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Problem erscheint m i r dagegen noch schwerwiegender. Die Helfer sind aufgrund ihrer Vorbildung und ihrer geringen Sprachkenntnisse kaum imstande, ihr eigenes Wissen pädagogisch geschickt an den Mann zu bringen. Sie können also nur unter Schwierigkeiten das erfüllen, was gemeinhin Inhalt des Human Investment ist: Andere etwas zu t u n lehren, was sie bisher noch nicht getan hatten, und zwar meistens mit Instrumenten, die w i r liefern. Diese Form des Anlernens w i r d schon lange praktiziert. Das Ergebnis ist enttäuschend. Eine Krankenschwester aus einem bolivianischen Dorf lobt ihren Counterpart als intelligent und geschickt, klagt aber: „Dennoch glaube ich nicht, daß das Mädchen i n der Lage ist, die Ambulanz nach Beendigung meiner Dienstzeit selbständig weiterzuführen 3 3 ." Die Nepal-Gruppe des DED bemängelt i n ihrem Bericht 3 4 die „oft p r i m i t i v anmutende Arbeitsweise der Einheimischen" auf den beiden Plantagen und schließt daraus: „Das in Deutschland angewandte Verfahren der Arbeitsteilung kann hier einfach keine Anwendung finden, weil ein Fortschritt i n unserem W i r ken hier nur dann möglich ist, wenn man vom Beginn bis zum Ende irgend einer Durchführung alles selbst i n der Hand hat." Ein anderer Brief berichtet, wie unsere Krankenschwestern sofort nach der Ankunft ohne Rücksicht auf ihr Prestige bei den staunenden Iranern erst einmal das ganze Hospital m i t eigener Hand gründlich geschrubbt hätten. Es besteht also der Eindruck, daß unsere Helfer deutsche Sauberkeit, Tüchtigkeit und Fleiß beweisen, daß sie ihre Counterparts gelegentlich auch anzulernen versuchen. Jedoch habe ich i n Briefen und Berichten keinen Hinweis darauf gefunden, daß die Helfer sich überhaupt jener Aufgabe bewußt sind, ohne deren Erfüllung nach ihrem Abzug nur die übliche Entwicklungsruine zurückbleibt: nämlich die Menschen zu lehren, wie man denken muß, wenn man etwas Bestimmtes erreichen w i l l , und zwar m i t den örtlich vorhandenen, und nicht nur mit unseren komplizierten Hilfsmitteln. Zugegebenermaßen ist diese Aufgabe unendlich schwer. Jedoch kann sie weder von reisenden Experten, noch von unseren draußen arbeitenden Technikern und Kaufleuten erfüllt werden. Denn sie verlangt Zeit, Geduld und Einfühlung, — alles Dinge, die ein zum kurzfristigen Erfolg verurteilter Europäer i n einem Entwicklungsland nicht aufbringen kann, die ein Entwicklungshelfer aber noch am ehesten haben könnte. Insofern ist die manchmal belächelte, weil doch nur akademische Sprachausbildung als Haupttätigkeit des Peace Corps vielleicht doch nicht so falsch, weil die Sprache das Denken beeinflußt. Jedenfalls ist der DED m i t der Aufgabe, draußen rationales Denken als Voraussetzung zweckrationalen Handelns zu vermitteln, überfordert. Aufgrund der Herkunft seiner Freiwilligen muß er wohl weiter33 34

D E D - B r i e f Nr. 2/1967, S. 15. Ebda., Nr. 8/9, 1966, S. 11.

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h i n das Zupacken und Beispielgeben betonen und damit die Gefahr eingehen, daß das Ergebnis dieser A k t i v i t ä t nach dem Abzug der Freiwilligen schnell wieder i m Meer des Elends versickert. Probleme der Entwicklungswilligkeit Eine zweite Schwierigkeit für den Entwicklungserfolg liegt nicht beim DED, sondern bei manchen der Länder, i n denen die Helfer arbeiten. Eine Helferin schreibt: „Ich arbeite anstelle einer fehlenden Bolivianerin, denn die wenigen vorhandenen Kindergärtnerinnen ziehen natürlich die Stadt vor 3 5 ." Wieso „natürlich"? Hier scheint ein anderer kritischer Punkt unserer Entwicklungshilfe zu liegen. W i r gehen nämlich davon aus, daß alle Empfängerländer nicht nur entwicklungsfähig, sondern vor allem entwicklungswillig sind. Diese Voraussetzungen sind i n manchen Ländern aufgrund der bestehenden Gesellschaftsstruktur und der politischen Herrschaftsverhältnisse keineswegs gegeben. Deutsche Helfer arbeiten i n Ländern, deren herrschende Schichten alle Kraft zur Erhaltung ihrer Macht und Privilegien und damit des Status Quo benutzen. Dynamisierung der Bevölkerung kann hier nur stören. Entwicklungshelfer können dann nur „Armenpflege" treiben. Beispiele wie das aus Bolivien provozieren geradezu die Frage, wieso Steuergelder dafür verwandt werden, eine deutsche Kindergärtnerin i n das bolivianische Dorf zu schicken, die ihren Arbeitserfolg notwendigerweise nur „als Tropfen auf dem heißen Stein", als Linderung der Not sieht, während i n Deutschland Mangel an Kindergärtnerinnen besteht. I n Indien arbeiten fast 100 deutsche Entwicklungshelfer, obwohl Nehrus Kampf gegen die Furcht vor den „schmutzigen Händen" gescheitert ist. Rund eine M i l l i o n arbeitsloser Akademiker hofften auf einen Bürosessel, weigerten sich jedoch, als Lehrer oder Dorfentwickler i n eines der 560 000 indischen Dörfer zu gehen, wo sich vielleicht das Schicksal des Landes und seiner Entwicklung entscheiden w i r d 3 8 . Es geht hier keinesfalls darum, Einstellungen junger Inder zu verurteilen. Sie verhalten sich möglicherweise rational richtig, wenn sie ein bequemes Leben der opfervollen Arbeit auf dem Dorf vorziehen. Sie verhalten sich aber auf keinen Fall entwicklungskonform. I h r Verhalten ist der i n Ländern m i t liberalerer Verfassung zu beobachtenden Kapitalflucht und dem „Brain Drain", also dem Abzug der einheimischen Experten, zu vergleichen. Es ist nicht einzusehen, wie unsere Entwicklungshelfer einen wirksamen Beitrag zur Entwicklung i n jenen Ländern leisten sollen, die selbst 35

Ebda., Nr. 2/1967, S. 13. Gisela Meschkat: Akademisches Proletariat i n Indien, i n : Atomzeitalter, H. 12/1966, S. 380 ff. 36

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nicht willens oder fähig sind, die Entwicklung m i t den eigenen vorhandenen Kräften voranzutreiben. Derartige Überlegungen sollen keinesfalls die deutsche Entwicklungshilfe an sich i n Frage stellen. Es gibt genug Länder, wo günstigere Voraussetzungen vorliegen. Entscheidend ist jedoch — und unsere Helfer spüren das gelegentlich schmerzhaft —, daß die politische Verantwortung für die Entwicklung des jeweiligen Landes nicht beim DED, nicht bei den Geberstaaten der Entwicklungshilfe, nicht bei unseren Experten, sondern allein bei der Regierung des Entwicklungslandes liegt. Das fängt bei der Familienplanung an, wenn nicht der Zuwachs des Sozialproduktes von den zusätzlichen Essern verschlungen werden soll, und hört bei der Notwendigkeit auf, für die Dynamisierung der Gesellschaft, also für das Zerbrechen alter Strukturen, den Menschen eine Idee als Antrieb zum Handeln zu geben. A l l das sind politische Aufgaben. Unsere Entwicklungshelfer können dazu keinen direkten Beitrag leisten; denn dann wären sie die erwähnten Kader. Ihre persönliche Einstellung und auch ihr Auftrag sind ausgesprochen unpolitisch, so wie w i r selbst als die entsendende Gesellschaft die Entwicklungsaufgabe i m allgemeinen unpolitisch sehen. Vor allem anderen wünschen w i r i n den Entwicklungsländern Sicherheit und Stabilität, Revolution ohne Schmerzen. Geschickte Werbefachleute i n manchen Entwicklungsländern haben unsere Revolutionsfurcht erkannt. So spricht man i n Chile von „Revolution i n Freiheit", nennt die Herrschaft des Schahs i m Iran „weiße Revolution" oder den aufgeklärten Absolutismus i n Afghanistan „stille Revolution" 3 7 . So dürfen unsere Freiwilligen einen Beitrag zu „gesunder" Entwicklung von unten her leisten, indem sie z. B. i n verslumten Vorstädten Häuser bauen, wobei die Helferinnen gleichzeitig Hygiene- oder Ernährungsaufklärung treiben. Die Initiatoren hoffen, daß derartiges „Community Development" entwicklungsfördernder sein werde als manche unserer bisherigen „Fremdkörperprojekte". Wie aber soll eine Gemeinde ein Faktor für die „organische" Entwicklung von unten her sein, wenn man den Bewohnern nicht gleichzeitig zeigt, wie sie sich politisch organisieren müssen, um eine wirkliche Community zu bilden? Das aber sind für die Entwicklungshelfer notwendigerweise verbotene Zonen. I n den Briefen der Helfer finden sich dann auch Bemerkungen, daß ihre Arbeit (in diesem Falle die Wurmbekämpfung i n Rolandia/Brasilien) auf die Dauer nur erfolgreich sei, wenn eine „Campagne... i n Zusammenarbeit mit einer größeren Organisation" durchgeführt würde 3 8 . 37 Vgl. die jeweiligen Länderberichte i n : Außenpolitik, 16. Jg. (1965), H. 1 u n d 2. 38 D E D - B r i e f Nr. 8/9, 1966, S. 11.

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Übrigens ist schon an der Formulierung die Sorge ablesbar, ja nicht einheimische politische Instanzen zu kritisieren. Daß die Politisierung einer Gesellschaft als notwendiger Faktor für die wirtschaftliche Mobilisierung i n den überwiegend statisch eingestellten Agrarländern eine enorm schwere Aufgabe ist, erklärt die bisher relativ geringen Erfolge des Kommunismus i n der Dritten Welt. Ein deutscher Beitrag zu derartiger Mobilisierung ist — soweit ich sehe — bisher nur durch die Adenauer-Stiftung beim Aufbau des „christlichsozialen" Regimes von Eduardo Frey i n Chile erfolgt. Sie kann überhaupt nicht Aufgabe der Industriestaaten sein, wie es der Präsident der Republik Tschad, François Tombalbaye, für sein Land formuliert hat: „Das Hauptunglück — man muß den M u t haben, das auszusprechen — ist das Fehlen politischer K a d e r . . . W i r können zwar u m technische Hilfe bitten, die uns die Kader für die Verwaltung liefert. Aber ein Staat kann leider nicht um politische Kader bitten 8 9 ." Eine staatliche Institution wie der DED wäre jedenfalls nicht das geeignete Instrument für derartige Maßnahmen. Trotz gelegentlicher Erfolge dürfte wegen der politisch-wirtschaftlichen Interdependenz also auf die Dauer ein stärkerer ökonomischer Entwicklungseffekt des DED überall dort vergeblich erhofft werden, wo die Gesellschaft noch nicht durch eine eigene Führung für eigene Ziele mobilisiert worden ist. I m übrigen dient der „unpolitische" Einsatz des DED automatisch i m jeweiligen Gastland dazu, die bestehende Herrschaft zu stützen. Solange pflegt er auch nur geduldet zu werden. Es bedeutet keine Herabsetzung für die von den Freiwilligen aufgewandte Mühe, wenn man feststellt, daß die Wirkung des DED mancherorts derjenigen der Armenpflege i m 19. Jahrhundert ähnelt, während tatsächlich eine Revolution der Armen notwendig ist, wenn sich die Verhältnisse ändern sollen.

Schule für Auslandsexperten? A l l e diese Überlegungen sind noch kein Argument gegen die Notwendigkeit des DED. Er ist Teil unserer entwicklungspolitischen Maßnahmen, und die meisten dieser Maßnahmen dienen — entgegen der verbreiteten Ansicht vom großen Opfer — vor allem uns selbst i n Form von Exportförderung und ähnlichen Effekten, weshalb der Bundestagsabgeordnete Kahn-Ackermann den Ausdruck „Entwicklungshilfe" überhaupt nicht mehr verwendet haben möchte 40 . Der US-Unterstaatssekretär George W. Ball hat 1961 vor einem Kongreß-Ausschuß erklärt, daß 39

I n t e r v i e w i n : Die Welt v. 30. 12. 1965. Marginalien eines Bundestagsabgeordneten zur Entwicklungshilfe, Zusammenarbeit u n d Entwicklung, Nr. 4/1967, S. 9. 40

in:

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die USA wahrscheinlich bei keiner entwicklungspolitischen Maßnahme mehr für ihr Geld erhielten als beim Peace Corps 41 . Ähnlich wie manche unserer Stipendien für Medizinstudenten aus Entwicklungsländern dazu helfen, unserer Gesellschaft einen zusätzlichen Arzt zu schaffen, weil der Absolvent nach dem Examen lieber i n Deutschland bleibt, so lautet die These beim DED nach den Worten des Bundespräsidenten: „ W i r werden m i t denen, die reich an Wissen und Erfahrung zurückkommen, auch für unser Land und für unser Volk eine Bereicherung erfahren, deren Umfang w i r nicht hoch genug einschätzen können 4 2 ." Ist also der DED unter anderem auch eine staatlich finanzierte Einrichtung, um der Privatwirtschaft Auslandsexperten mit mittlerem Ausbildungsgrad heranzubilden? Wenn diese Idee bestand, dann hat sie sich offensichtlich ohne Befragung der Privatwirtschaft gebildet. Privatunternehmen sind nämlich skeptisch. „Euch muß man erst die Flausen austreiben!" oder „Was habt ihr schon da drüben gemacht? — Unter Palmen gegammelt!" Solche Äußerungen bekamen Rückkehrer bei ihrer Stellensuche zu hören 43 . Die Skepsis ist nicht völlig abwegig. Ein auf Rentabilität angewiesenes Privatunternehmen kann draußen keine langfristige Entwicklungsförderung treiben, wie es die Helfer gewohnt sind. Andere Freiwillige haben draußen verantwortliche, weit über ihren amtlichen Befähigungsnachweis hinausgehende Funktionen übernommen. Schwestern haben — zum Mißvergnügen des Bundesgesundheitsministeriums 4 4 — Patienten behandelt, Handwerker haben ganze Fabriken geleitet. I n solchen Fällen w i r d die Einordnung i n die Betriebshierarchie für den Rückkehrer und den Betrieb zweifellos schwierig, scheint aber lösbar. Die Erwartung des Bundespräsidenten, daß die rückkehrenden Freiwilligen stets Vorteile gegenüber den daheim gebliebenen Kollegen haben würden 4 5 , dürfte sich i n der Praxis kaum bestätigen, wie die Erfahrungen sonstiger Auslandsexperten i n der Wirtschaft zeigen 46 . Nicht nur aus der heutigen Konjunkturabschwächung erklärt sich also ein gewisses Desinteresse der Privatwirtschaft am DED. I m übrigen ist auch der DED, wie alle Maßnahmen der Entwicklungshilfe, konjunkturabhängig. Die Zahl der Bewerber hat aus 41

S. 18. 42

Zit. n. A r n o l d Zeitlin:

To the Peace Corps w i t h Love, New Y o r k 1965,

Zit. n. „ B u l l e t i n " , a.a.O., S. 1576. Zit. nach Johannes Reinhold, a.a.O., S. 31. 44 O. A . Jaeger (Leiter der Seminarabteilung der D. St. f. Entwicklungsländer): Erfolgschancen f ü r Freiwillige. Besuch bei deutschen Entwicklungshelfern i n A f r i k a , i n : Zusammenarbeit u n d Entwicklung, Nr. 11/1966, S. 17. 45 Zit. n. „ B u l l e t i n " , a.a.O. 48 Vgl. die Ubersicht von Hermann Bössenacker: Aus dem Ausland zurück — Was nun?, i n : Die Welt v. 10. 6. 1967. 43

Gedianken über den Nutzen des Deutschen Entwicklungsdienstes

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Sorge u m einen Arbeitsplatz bei der Rückkehr erheblich abgenommen 47 . Die Unterbringung der 300 Rückkehrer 1967 w i r d schwieriger werden. Zwar besteht bei uns nach wie vor ein Mangel an Entwicklungshilfeexperten. I n fast allen internationalen Gremien sind w i r i m Verhältnis zu unserer Beitragsleistung unterrepräsentiert. Aber nur ganz wenige Freiwillige dürften aufgrund von Vorbildung und Sprachkenntnissen als Nachwuchs für den Expertenberuf i n Frage kommen. Die Hoffnung, die wohl auch bei der Gründung des DED m i t Pate stand, daß für eine Intensivierung der Entwicklungshilfe künftig mehr Entwicklungsfachkräfte mittleren Ausbildungsgrades benötigt würden, scheint sich nicht zu erfüllen. Wenn man bedenkt, wieviel ausgebildete einheimische Kräfte i n manchen Entwicklungsländern mangels geeigneter Arbeitsplätze, Institutionen oder entsprechender Motivation für die Entwicklungsaufgabe noch brach liegen, ist nicht zu erwarten, daß der Bedarf an deutschen Fachkräften der mittleren Ebene stark ansteigen wird. Bei dieser Marktlage erscheint es manchmal so, als ob die Bundesregierung m i t dem DED etwas produziert, für das kaum Nachfrage besteht. Wenn man zusammenfassend die relativ geringen Möglichkeiten unserer Entwicklungshelfer bei ihrer Goodwill-Mission draußen und später zu Hause betrachtet, wenn man ihren durch die Interdependenz von Wirtschaft und Politik notwendigerweise beschränkten Entwicklungseffekt einbezieht und wenn es sich zeigen sollte, daß ihre staatlich finanzierte Zusatzausbildung i m Ausland für unsere Wirtschaft und die entwicklungspolitischen Institutionen nicht lebenswichtig ist, dann bleibt zu fragen, ob man m i t den alljährlich draußen arbeitenden 2000 deutschen Entwicklungshelfern das Optimum für die dazu erforderlichen M i t t e l erhält. Eine kurzsichtige und für unsere künftige Entwicklung sogar gefährliche Alternative wäre die Streichung der M i t t e l nach dem Motto: W i r haben genug Not i m eigenen Land. Von Sozialattachees bei unseren Botschaften über Lehrer i n unseren oft gelobten Gewerbeschulen i m Ausland bis zu Repräsentanten bei der FAO, — überall fehlt es an M i t teln und geeigneten Persönlichkeiten für wirkungsvollere Entwicklungsarbeit und Vertretung unserer Interessen. I n Frankreich hat man i m Hinblick auf unsere dortige UNESCO-Repräsentation einen Vergleich kolportiert: Danach ist Paris i n derartigen internationalen Gremien die arme Tante, die m i t ihrer Verwandtschaft zum Essen kommt und auch noch das große Wort führt. Bonn ist dagegen der gutmütige Onkel vom Land, der bezahlt, aber nichts zu melden hat. I n solcher Karikatur steckt immer ein Körnchen Wahrheit. Der DED aber kann wahrscheinlich aus diesem Dilemma nicht helfen. 47 Nach Angaben des Bundesministers Hans-Jürgen Wischnewski, zit. n. .Deutsche Entwicklungshilfe rückläufig", i n : Handelsblatt v. 23. 5. 1967.

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Es könnte der Eindruck entstehen, daß hier durch bohrende, manchmal vielleicht überspitzte Fragen die Idee des Entwicklungsdienstes als „heilige K u h " geschlachtet werden sollte. Gegen freiwillige Entwicklungsdienste, wie sie i n allen westeuropäischen Ländern bestehen und wie sie auch vor Gründung des DED bei uns bestanden haben und heute neben i h m bestehen, gibt es kaum Argumente. Wenn man aus politischen, wirtschaftlichen und humanitären Gründen die Entwicklung der Dritten Welt wünscht, müssen auch junge Menschen ohne Geld und Hochschulbildung die Chance haben, sich bei der Entwicklungshilfe durch persönliches Engagement unter erschwerten Bedingungen charakterlich und beruflich zu bewähren und damit das angeblich letzte Abenteuer unserer Zivilisation zu erleben. Die Frage ist jedoch, ob der von der Bundesregierung getragene und finanzierte DED i n seiner heutigen Form das richtige Instrument für die proklamierten Ziele ist oder ob man das gewünschte Verständnis für Deutschland i n den Entwicklungsländern und für die Entwicklungsproblematik i n Deutschland, dazu den gewünschten Entwicklungseffekt und die Ausbildung von welterfahrenem Nachwuchs für Wirtschaft und Gesellschaft nicht auch m i t anderen, jeweils optimaleren Mitteln erreichen kann. Der DED ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, m i t unendlich viel Opferbereitschaft, Schwung und Idealismus aufgebaut worden und w i r d heute i n gleicher Weise von unseren Freiwilligen draußen getragen. Wie überraschend reibungslos er funktioniert, ergibt sich daraus, daß es u m diese junge Institution i n exponierter Lage bis heute noch keine öffentliche Affäre und keinen Skandal gegeben hat. Das besagt allerdings noch nichts über seine Wirksamkeit. Er ist ein Experiment. Zum Wesen eines Experimentes — und i n der Entwicklungspolitik w i r d noch viel und lange experimentiert werden müssen — gehört es, ständig nach besseren, wirkungsvolleren Möglichkeiten zu suchen. Das geschieht i n allen Bereichen unserer Entwicklungspolitik. Nur der DED ist — soweit ich sehe — bisher von der Diskussion ausgenommen. Er arbeitet praktisch erst seit kaum vier Jahren. Dennoch schien es an der Zeit, durch kritische Fragen und Überlegungen Anstoß zu einer Überprüfung dieses Instrumentes unserer staatlichen Entwicklungspolitik zu geben. Das erscheint nicht nur i m Interesse einer w i r k samen Entwicklungspolitik und aus nationalen Gründen, sondern vor allem i n Anbetracht des opferreichen Wirkens unserer DED-Freiwilligen notwendig.

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