Inquisition durch Information: Medienöffentliche Strafrechtspflege im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren [1 ed.] 9783428516629, 9783428116621

Das Zusammenwirken von staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit und rücksichtsloser Kriminalberichterstattung führ

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German Pages 391 Year 2005

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Inquisition durch Information: Medienöffentliche Strafrechtspflege im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren [1 ed.]
 9783428516629, 9783428116621

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Beiträge zum Informationsrecht Band 13

Inquisition durch Information Medienöffentliche Strafrechtspflege im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren

Von Christian-Alexander Neuling

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTIAN-ALEXANDER NEULING

Inquisition durch Information

Beiträge zum Informationsrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Hansjürgen Garstka, Prof. Dr. Michael Kloepfer, Prof. Dr. Friedrich Schoch

Band 13

Inquisition durch Information Medienöffentliche Strafrechtspflege im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren

Von Christian-Alexander Neuling

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1619-3547 ISBN 3-428-11662-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Eltern

Geleitwort Der Fall Friedman hat im vergangenen Jahr wieder einmal deutlich gemacht, welche verheerenden Wirkungen es haben kann, wenn aus staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren frühzeitig Erkenntnisse „durchsickern“ und von den Medien entsprechend reißerisch aufgemacht werden. Dieses Schicksal trifft aber nicht nur Prominente. Auf der Suche nach anreizenden Themen in einem Medienmarkt unter hohem Konkurrenzdruck hat die Kriminalberichterstattung in den letzten Jahren einen wahren Boom erlebt. Ist ein Fall nur hinreichend medienwirksam, kann es letztlich jeden – mit oft verheerenden Wirkungen im sozialen und beruflichen Umfeld – treffen. Das Thema ist zwar schon seit vielen Jahren unter den Stichworten öffentliche Vorverurteilung und Schutz der Persönlichkeitsrechte in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion präsent, bislang wurde aber zu wenig das Verhältnis von Strafjustiz und Medien beachtet. Kriminalberichterstattung braucht Material und der „O-Ton“ eines Ermittlers oder gar Dokumente „aus den Ermittlungsakten“ sind gefragt. Dem Leitbild nach handelt es sich dagegen beim Ermittlungsverfahren um ein nichtöffentliches Verfahren und der Beschuldigte steht bis zum Abschluss der Ermittlungen unter dem Schutz der Unschuldsvermutung. Dieses Spannungsverhältnis bearbeitet Herr Neuling in seiner Studie gründlich und tiefgehend. Er untersucht, welche Distanz die Strafjustiz zum Medieninteresse halten kann und muss. Kritisch wird beleuchtet, wie Medien auf den Verlauf und das Ergebnis von Ermittlungsverfahren Einfluss nehmen können und wie Verfahrensbeteiligte im Bewusstsein der Medienmacht Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Auf dieser Grundlage wird schließlich ein Gesetzesvorschlag zur Stärkung des fairen Ermittlungsverfahrens in der modernen Mediengesellschaft erarbeitet. Schon der Titel des Buches ist provokativ und auch im weiteren Verlauf scheut Herr Neuling nicht engagierte gesellschafts- und rechtspolitische Stellungnahmen. Man wird eine kontroverse Diskussion über seine Thesen erwarten dürfen. Dies ist ein „Schicksal“, das man einer Dissertation nur wünschen kann. Berlin, im September 2004

Professor Dr. Felix Herzog

„Ein Urteil lässt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil.“ Marie von Ebner-Eschenbach

Vorwort Am Ende eines „sozialen Diskreditierungsprozesses in der Mediengesellschaft“ bleibt den Betroffenen „häufig nur die Hoffnung, daß mit dem Abflauen des Medieninteresses ihr Fall in der Flut täglicher neuer Schlagzeilen irgendwann untergeht und in Vergessenheit gerät. Eine Rehabilitierung fehlt jedoch“1. Dieser Prozess beginnt mit der öffentlichen Wahrnehmung einer vermeintlichen Straftat. Setzt sich hiernach die öffentliche Meinung durch, eine Person hätte wie ein „Krimineller“ gehandelt, bewirkt dies oftmals heftige soziale Reaktionen. Führt diese öffentliche Verdachtsschöpfung sodann zum Eingreifen der Strafjustiz, d. h. zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen durch die Strafverfolgungsbehörden, findet sich der Betroffene schnell in der inferioren Rolle des Beschuldigten wieder. Fortan fällt es ihm – gerade in aufsehenerregenden Ermittlungsverfahren – gegenüber der Institution „Strafjustiz“ und den kriminalberichterstattenden Medien schwer, seiner eigenen Auffassung zu den erhobenen Vorwürfen wirksam Gehör zu verschaffen. Allzu schnell entsteht ein allenthalben erregtes öffentliches Stimmungsklima, und selbst eigene Verteidigungsanstrengungen des Beschuldigten werden als Versuch „davonzukommen“ interpretiert. Ist es erst einmal so weit gekommen, wird schließlich sogar eine spätere Einstellung des Ermittlungsverfahrens als ausschließliches Resultat einer außergewöhnlich geschickten Verteidigungsstrategie aufgefasst – „semper aliquid haeret“. Die vorgelegte Untersuchung richtet sich gleichermaßen an Wissenschaft und Praxis. Sie bezweckt, auf die Gefahren aufmerksam zu machen, welche – im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Überzeugung – der fairen Prägung strafjustizieller Ermittlungen und somit auch dem betroffenen Beschuldigten selbst aufgrund des gesellschaftlichen Wandels zur modernen Mediengesellschaft drohen. Die Entstehung der Arbeit verdankt sich zuvorderst der Auseinandersetzung mit den Überlegungen meines verehrten Doktorvaters, Herrn Professor Dr. Felix Herzog, zum kriminalsoziologischen Phänomen der öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Zudem bilden seine grundlegenden Gedanken zur Umgrenzung strafrechtlicher Daseinsvorsorge im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Lehre und zu den Strukturen eines reformierten, modernen Strafverfahrens tragende Säulen meiner vorgelegten Untersuchung. Ferner möchte ich Herrn Professor Dr. Artur-Axel Wandtke für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens und Herrn Professor Dr. Michael Kloepfer für die Auf1

Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 208.

10

Vorwort

nahme meiner Arbeit in seine Schriftenreihe „Beiträge zum Informationsrecht“ herzlich danken. Vielmals danken möchte ich außerdem den Herren Rechtsanwälten Ronald Pofalla, MdB, und Dr. Klaus Riebschläger sowie Herrn Rechtsanwalt und Notar Wolfgang Ziegler, die mich während der Konzeption des inneren Gefüges meiner Arbeit wohlwollend unterstützt haben. Hierneben möchte ich Frau Dr. Meike Schröer für ihre Hilfe während der Abschlussphase der Arbeit danken. Schließlich gilt mein besonderer Dank meiner Freundin, Frau Maria Fragner, die mich – oftmals unter Zurückstellung eigener Interessen – immerfort unterstützt hat. Widmen möchte ich die vorliegende Arbeit meinen lieben Eltern, die mir zunächst das Studium und sodann den Abschluss der vorgelegten Arbeit ermöglicht haben. Berlin, im Dezember 2003

Christian-Alexander Neuling

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel Einführung – Rahmenbedingungen strafjustizieller Ermittlungen in der modernen Mediengesellschaft

25

A. Mediale Rücksichtslosigkeit als prägendes Merkmal alltäglicher Kriminalberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

B. Gesellschaftliche Ursachen: Wandel zur Mediengesellschaft und Instrumentalisierung der Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

I. Die moderne Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

II. Instrumentalisierung der Strafjustiz zur Bekämpfung „gesellschaftlicher Großstörungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

C. Konsequenzen: Sozialer Stellenwert des Ermittlungsverfahrens und neue Herausforderungen einer medienöffentlichen Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

D. Forschungsstand und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

E. Zwischenergebnis zum Ersten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Zweites Kapitel Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit als prägendes Element des reformierten Strafprozesses im liberalen Rechtsstaat

51

A. Etymologische Konkretisierung des Begriffes „Öffentlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

I. „Öffentlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II. „Öffentlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

B. Rechtliche Konkretisierung des Begriffes „Öffentlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

12

Inhaltsverzeichnis

C. Rechtshistorische Konkretisierung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . .

56

I. Das inquisitorische Strafverfahren des ausgehenden Mittelalters . . . . . . . . . . . . .

57

II. Historischer Paradigmenwechsel: Aufklärerische Kritik als geistiges Fundament der Einführung des reformierten, gerichtsöffentlichen Strafverfahrens

59

1. Charles Louis de Montesquieu: „De l’esprit des lois“ und Immanuel Kant: Aufgeklärte Anschauung von Vernunft und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

2. Politische Kernforderung des Bürgertums: Publizität hoheitlicher Machtausübung – Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit als Wahrheits- und Gerechtigkeitsgarantin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

III. „Wertungsumkehr“ von prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

IV. Pervertierung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit zu Propagandazwecken während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

V. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland: Zunehmende Besorgnis wegen der Konsequenzen des technischen Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

D. Zwischenergebnis zum Zweiten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

Drittes Kapitel Medienöffentliche Strafrechtspflege als Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt in der modernen Mediengesellschaft

74

A. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und Bedeutungswandel prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

I. Kernforderung der „bügerlichen Öffentlichkeit“: Umfassende Publizität hoheitlicher Machtausübung und Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

75

II. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und Wirkungsverlust des „bürgerlichen Menschentypus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

B. Kritische Bestimmung der Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit . . . . . . . . .

80

I. Schutz der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

II. Kontrollfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

III. Strafzweckdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Inhaltsverzeichnis

13

IV. Vermittlung von Rechtskenntnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

85

I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

II. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit und demokratieprinzipielles Transparenzgebot für staatliche Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

III. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit und rechtsstaatsprinzipielles Transparenzgebot zur Kontrolle judikativer Rechtspraxis im gesellschaftlichen Raum . . . .

91

IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

D. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit und moderne Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . .

95

I. Aktueller Strukturwandel zu medialer Gerichtsöffentlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . .

95

II. Mediale Gerichtsöffentlichkeit und grundgesetzliche Medienfreiheit . . . . . . . . .

97

1. Die „(Massen)Medien“ und der Prozess „medialer Kommunikation“ – Die Bedeutung des Machtfaktors „Vierte Gewalt“ in politischen Krisenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

2. Art. 5 Abs. 1 GG – Verfassungsrechtlicher „Anker“ der medialen Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Informationelle Daseinsvorsorge mittels Herstellung medial zugänglicher Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 E. Zwischenergebnis zum Dritten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Viertes Kapitel Medienöffentliche Strafrechtspflege und nichtöffentliches Ermittlungsverfahren

109

A. Die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Der Grundsatz: Schutz der strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen und der individualrechtlichen Schutzbelange des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Die Ausnahme: Die das Ermittlungsverfahren prägende Begrenzung medienöffentlicher Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

14

Inhaltsverzeichnis

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens in den Grenzen Fairness gewährleistender Strafverfahrensmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Einleitung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Strafanzeige, Strafantrag und amtliche Wahrnehmung des Verdachtes strafbaren Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Legalitätsmaxime und Anfangsverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 III. Durchführung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Dauer: Beschleunigungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Art und Weise: Strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungsprimat vorbehaltlich der Berücksichtigung der privaten und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Inquisitionsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Grundsatz der freien Gestaltung der Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 c) Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . 122 d) „Fair trial“-Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 e) Grundsatz staatsanwaltschaftlicher Fürsorgepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 IV. Abschluss des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. „Herrin“ des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. „Objektivste Behörde der Welt“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Überlegungen zur Verwurzelung der Objektivitätsmaxime in der Staatsanwaltschaft aus rechtshistorischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 II. Die „Behörden und Beamten des Polizeidienstes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 III. Der Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 D. Persönliche, soziale, berufliche und strafprozessuale Konsequenzen eines Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 E. Zwischenergebnis zum Vierten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Inhaltsverzeichnis

15

Fünftes Kapitel Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren – Rechtlicher Rahmen und Wirklichkeit des Rechts

148

A. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I. Interessenlage der Strafverfolgungsbehörden: Existenz einer Rechtsgrundlage für Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Der Auskunftsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Normative Legitimationswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungsprimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3. Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) . . . . . . . . . . . . . . . 155 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 II. Interessenlage des Beschuldigten: Beachtung persönlicher und sozialer Schutzbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Das „Recht auf Anonymität“ als „Recht auf Bild- und Namensanonymität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 c) Das „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. „Fair trial“-Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 B. Wirklichkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Vorbemerkungen: Integration der Medien durch staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Politische Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Die achtziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Flick- und Parteispendenaffäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen . . . . 175 b) Naphtali-Spendenaffäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

16

Inhaltsverzeichnis c) „Waterkantgate“-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 d) U-Boot-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Die neunziger Jahre bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) CDU-„Parteispenden-Skandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 aa) Komplex: Fuchs-Spürpanzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 bb) Komplex: Leuna / Elf-Aquitaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 cc) Ausweitung der „Schmiergeldaffäre“ zum CDU-„Parteispenden-Skandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 dd) Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen . . . . 182 b) SPD-„Müll- und Spenden-Skandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 aa) „Kölscher Klüngel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 bb) Ausweitung des „Kölschen Klüngels“ zum SPD-„Müll- und Spenden-Skandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 III. Durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägte Ermittlungsverfahren . . . 188 1. Die achtziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Deliktsbereich „Wirtschaftskriminalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Hobbymaler-„Korruptionsskandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 bb) Iduna-„Immobilienskandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 cc) Frankfurter Bestechungsaffäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 dd) „Transnuklear-Skandal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 ee) Fall co op . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Deliktsbereich „Gesundheit und Medizin“: „Weinpanscher“-Skandal 195 c) Deliktsbereich „Mordfälle“: Mordfall Monika Weimar . . . . . . . . . . . . . 196 2. Die neunziger Jahre bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Deliktsbereich „Wirtschaftskriminalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 aa) „Münchner Korruptionsaffäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 bb) „Waffen-Affäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 cc) FAG-„Korruptionsfall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 dd) VW-„Netzwerk-Affäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 ee) WestLB-Steuerhinterziehungs-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 ff) „Affäre Mannesmann“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Deliktsbereich „Gesundheit und Medizin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 aa) „Herzklappen-Affäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 bb) Kardiologen-Betrugsskandal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 c) Deliktsbereich „Mordfälle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) „Mörder von Mölln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Inhaltsverzeichnis

17

bb) „Mordbuben“ von Solingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 cc) „Lübecker Asylheim-Katastrophe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 d) Aufarbeitung und Bewältigung von „DDR-Staatsunrecht“: „Honecker-“ und „Politbüro-Prozeß“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 e) „Ermittlungsfall Terroranschlag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 aa) Vorgeschichte: Der 11. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 bb) Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen . . . . 215 C. Zwischenergebnis zum Fünften Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Sechstes Kapitel Rechtsschutz des Beschuldigten vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

221

A. Strafbarkeit von konkret-individualisierender und allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Tatbestandsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Verletzung von Privatgeheimnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Verletzung des Dienstgeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Strafbewährte Veröffentlichung von Bildnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 a) Ist der Beschuldigte eine „Person der Zeitgeschichte“? . . . . . . . . . . . . . 228 b) Pauschal-automatisierte Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . 229 c) Vorschlag zur Konkretisierung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 II. Rechtswidrigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . 236 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Öffentliches Informationsinteresse gerade an der Beschuldigtenidentität?

240

3. Individuelles Anonymitätsinteresse des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 a) Grundsatz der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . 242 aa) Öffentlicher Strafprozess als legislative Grundsatzentscheidung 242 bb) Gefahr der Aushöhlung des individuellen Anonymitätsschutzes

243

cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 2 Neuling

18

Inhaltsverzeichnis b) Das Recht auf „Nicht-Entsozialisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

B. Rechtsschutz des Beschuldigten vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 II. Ansätze zur Verbesserung des präventiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Strafrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Verschärfung der staatsanwaltschaftlichen Richtlinien für Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren und Verstärkung der medialen Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3. Gerichtsverfassungsrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4. Eigenes Votum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 III. Repressiver Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Persönlichkeitsrechtsschützende Maßnahmeoptionen des Beschuldigten

260

a) Gerichtliche Entscheidung über Rechtmäßigkeit, Aufhebung und Widerruf einer öffentlichen Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Vorbeugender Unterlassungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Gegendarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Verletzungskompensierende Maßnahmeoption des Beschuldigten: Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 C. Zwischenergebnis zum Sechsten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Siebtes Kapitel Überlegungen zum effektiveren Schutz des Beschuldigten und zur Stärkung des fairen Ermittlungsverfahrens in der modernen Mediengesellschaft

274

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“ als Ursache einer statusgeminderten Objektrolle des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 I. Niedrige Einleitungsschwelle für strafrechtliche Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . 275 II. Gefährdung der inhaltlich-objektiven und zeitlich-stringenten Ermittlungsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Inhaltsverzeichnis

19

III. „Gesetzmäßiger“ informatorischer Verfahrensausschluss des Beschuldigten durch Verweigerung der Vernehmung und Ablehnung der Akteneinsicht . . . . . 278 IV. Ablösung eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 1. Aktuelle Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Zum Vergleich: Die Rechtslage nach österreichischem Strafprozessrecht

282

3. Beurteilung dieses Problems in Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichem Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 V. Fehlender Rechtsschutz vor nachteiligen Verfahrensentscheidungen der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“ im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 I. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Der Beschuldigte: Stärkung seiner strafprozessualen Rechtsposition . . . . . 288 a) Rechtsschutz gegen staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 b) Frühe Vernehmung und erweitertes Akteneinsichtsrecht? . . . . . . . . . . . 292 2. Die Staatsanwaltschaft: Akzeptanz ihrer Parteistellung im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Irrweg der Ablösung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes

295

b) Konsequenzen der Akzeptanz der Parteistellung der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Organisationsstrukturen der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bb) Die interne Weisungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 cc) Die externe Weisungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 (1) Unabhängige Justiz trotz politischen Generalstaatsanwaltes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (2) Politische Weisungsgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 3. Der Ermittlungsrichter: Einführung einer richterlichen Medienzuständigkeit im Ermittlungsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 II. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens: Schaffung einer gesetzlichen Pflicht zu fairer Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2*

20

Inhaltsverzeichnis 2. Faire Öffentlichkeitsarbeit: Einführung eines „§ 160a StPO“ . . . . . . . . . . . . 315 III. Weitere Aspekte einer Gefährdung des fairen Ermittlungsverfahrens und einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Mediale „Ermittlungen“ und Medienkontakte des Strafverteidigers . . . . . . 317 2. Der journalistische Schutzmechanismus im Strafprozessrecht: Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 a) Sinn und Zweck: Gewährleistung der freien Existenz des liberalen Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 b) Journalistische Praxis: Missbrauch des Schutzmechanismus als „strafrechtsfreie Bresche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 c) Eigene Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 3. Staatsanwaltschaftliche „Vorermittlungen“ als medienwirksamer Ermittlungsauftakt: Der Fall Jürgen Möllemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

C. Zwischenergebnis zum Siebten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abb. Abs. Abschn. Abt. a. E. a. F. AfP AGB-Gesetz AK Anh. Anl. AnwBl Art. Aufl. Az. BayVerf Bbg Bd. BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ Bln bspw. BT-Drs. BVerfG BVerfGE BW bzgl. bzw. dass. ders. d. h.

andere(r) Auffassung Abbildung Absatz Abschnitt Abteilung am Ende alte Fassung Archiv für Presserecht Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Alternativkommentar Anhang Anlage Anwaltsblatt Artikel Auflage Aktenzeichen Bayrische Verfassung Brandenburg Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Berlin beispielsweise Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Baden-Württemberg bezüglich beziehungsweise dasselbe derselbe das heißt

22 dies. Diss. DJT DÖV DRiZ ed. ebd. EG EGGVG EGMR EMRK engl. etc. EuGRZ f. ff. FG Fn. FS FuR GA GG ggf. griech. GRUR GS GVG GVGVO Habil. Hrsg. Hs. IK IPBPR i. S. d. i. S. v. i. V. m. JA JGG J/P JR

Abkürzungsverzeichnis dieselbe(n) Dissertation Deutscher Juristentag Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung editor(s) ebenda Ehrengabe Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten englisch et cetera Europäische Grundrechte Zeitschrift folgende fortfolgende Festgabe Fußnote Festschrift Film und Recht Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls griechisch Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz Verordnung zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung Habilitationsschrift Herausgeber Halbsatz Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Sinne des / der im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jugendgerichtsgesetz Jarass / Pieroth Juristische Rundschau

Abkürzungsverzeichnis Jura JuS JW JZ Kap. KK KMR Kriminalistik KrimJournal krit. KritV lat. LBG Lfg. LG LK LPG L-R Mag. m. a. W. M-D M-G M/K MDR MüKo M-V m. w. N. Nds n.F. NJ NJW NJW-RR NRW NStZ NVwZ NW OLG PresseG resp. RGBl.

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Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenzeitschrift Juristenzeitung Kapitel Karlsruher Kommentar Kommentar zur Strafprozessordnung Kriminalistik – Unabhängige Zeitschrift für die Kriminalistische Wissenschaft und Praxis Kriminologisches Journal kritisch(er) Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft lateinisch Beamtengesetze der Bundesländer Ergänzungslieferung Landgericht Leipziger Kommentar Pressegesetze der Bundesländer Löwe-Rosenberg Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Magister Artium“ mit anderen Worten Maunz / Dürig Meyer-Gossner von Münch / Kunig Monatsschrift für Deutsches Recht Münchener Kommentar Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen Niedersachsen neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift, Rechtsprechungsreport Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen Oberlandesgericht Pressegesetz respektive Reichsgesetzblatt

24 RGSt RGZ Rh-Pf RiStBV Rndnr(n). RuF RuP S. S/S scil. S-H SK sog. Sp. StGB Stk. StPO Stra.F.O StV T/F Teilbd. ThürBG u. a. Übers. u. s. w. u. U. vgl. VwGO wistra WP z. B. Ziff(n). zit. ZPO ZRP ZStW z. T. ZUM z. Zt.

Abkürzungsverzeichnis Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rheinland-Pfalz Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren Randnummer(n) Rundfunk und Fernsehen Recht und Politik Seite / Satz Schönke / Schröder scilicet (lat.: nämlich) Schleswig-Holstein Systematischer Kommentar so genannte(r) Spalte Strafgesetzbuch Stück Strafprozessordnung Strafverteidiger Forum Strafverteidiger Tröndle / Fischer Teilband Beamtengesetz des Landes Thüringen und andere / unter anderem Übersetzer und so weiter unter Umständen vergleiche Verwaltungsgerichtsordnung Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wahlperiode des Deutschen Bundestages zum Beispiel Ziffer(n) zitiert Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht zur Zeit

Erstes Kapitel

Einführung – Rahmenbedingungen strafjustizieller Ermittlungen in der modernen Mediengesellschaft A. Mediale Rücksichtslosigkeit als prägendes Merkmal alltäglicher Kriminalberichterstattung Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit dem kriminalsoziologischen Phänomen der öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die Intensität dieses „sozialen Diskreditierungsprozesses in der Mediengesellschaft“ 1 hängt wesentlich mit der Intensität des „Medieninteresses“2 zusammen. Diese Verknüpfung liegt in der Funktion der Medien als zentrale Informationsübermittler in unserer modernen Mediengesellschaft begründet. Sie tragen die originäre gesellschaftliche Verantwortung für eine umfassende informationelle Daseinsvorsorge.3 Hierdurch soll sich der Einzelne eine individuelle Meinung bilden können und darüber hinaus die Entwicklung einer öffentlichen Meinung angestoßen werden. Diese beiden Bausteine gewährleisten durch ihr Zusammenwirken die Funktionsfähigkeit des demokratischen Prozesses der Ausübung plebiszitärer Staatsgewalt.4 Die Medien haben sich dabei hinsichtlich ihrer alltäglichen Berichterstattungspraxis bestimmten Verhaltensregeln unterworfen. Diese bestimmen für die Presse, dass ihrer Berichterstattung – im Sinne einer

Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 208. Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 208. Der Terminus „Medien“ wird im Laufe der folgenden Untersuchung als übergreifende Bezeichnung für die Presse als Print„medium“ (bspw. Zeitungen, Zeitschriften, Magazine) und für die audiovisuellen „Medien“ (scil. Fernsehen, Hörfunk, Internet) gebraucht (vgl. auch später: 3. Kap. D. II. 1.). Etwas anderes gilt, wenn ein „Medium“ explizit – etwa als „Printmedium“ – bezeichnet wird. Diese Zusammenfassung dient lediglich der Vereinfachung der Darstellung. Unbestritten bleibt demgegenüber, dass die verschiedenen Medien unterschiedlich zu betrachten und zu bewerten sind. So kann ggf. bei einer Fernsehberichterstattung ein intensiverer Eingriff vorliegen als bei einer Rundfunkberichterstattung (siehe auch BVerfGE 35, S. 202 [226 f.] – „Lebach“; weiterführend: BVerfG, NJW 2000, S. 1859 (1869) – „Lebach II“; Treffer, ZUM 1989, S. 433 [437]). 3 Hierzu später eingehender: 3. Kap. D. II. 2., 3. 4 Dazu sogleich: 1. Kap. B. I.; auch später: 3. Kap. C., D. 1 2

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1. Kap.: Einführung

selbst auferlegten Beschränkung – gewisse Grenzen des Erlaubten gesetzt sind.5 Die Kriminalberichterstattung regelt Ziff. 13 des Pressekodex6: „Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muß frei von Vorurteilen erfolgen. Die Presse vermeidet deshalb vor Beginn und während der Dauer eines solchen Verfahrens in Darstellung und Überschrift jede präjudizierende Stellungnahme. Ein Verdächtiger darf vor einem gerichtlichen Urteil nicht als Schuldiger hingestellt werden. Über Entscheidungen von Gerichten soll nicht ohne schwerwiegende Rechtfertigungsgründe vor deren Bekanntgabe berichtet werden.“

Auch die Medien wollen hierdurch ihren Beitrag zum Schutz der persönlichen und sozialen Integrität des Einzelnen leisten, welche insbesondere durch eine vorurteilsvolle Medienberichterstattung beeinträchtigt werden kann. Dazu formulierte das OLG Hamburg7 vor einigen Jahren zutreffend und anschaulich zugleich: „Das Ansehen eines Menschen in der Öffentlichkeit ist ein sehr verletzliches Gut, das die Presse nicht leichtfertig aufs Spiel setzen darf.“

Der Pressekodex beabsichtigt, eine öffentliche Vorverurteilung des Beschuldigten bereits im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mittels konkreter Beschränkungen der Kriminalberichterstattung zu verhindern. Gleichwohl haben wir soeben festgestellt, dass die Intensität einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten als „Krimineller“ vor allem mit dem Ausmaß des „Medieninteresses“ zusammenhängt. Wie kann es aber sein, dass die Presse bei ihrer Kriminalberichterstattung über Ermittlungsverfahren zwar Zurückhaltung üben soll, eine soziale Diskreditierung des Beschuldigten dennoch maßgeblich vom Ausmaß des Medieninteresses abhängt? Zur Auflösung dieses Widerspruches gilt es, die praktische Umsetzung der selbstbeschränkenden Berichterstattungsregeln durch die Presse zu untersuchen. Hierbei wird deutlich, in welcher gravierenden Art und Weise diese vorgesehenen Selbstbeschränkungen abgestreift und die Grenzen zulässiger Kriminalberichterstattung überschritten werden.8 Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Berichterstattung im „Fall Friedman“9, der auch als „Affäre ,Paolo Pinkel‘“10 bezeichnet wurde. 5 Vgl. bspw. Mestmäcker (Hrsg.), Selbstkontrolle und Persönlichkeitsschutz (1990), zum Aspekt medialer Selbstkontrolle angesichts des international wachsenden, informationellen Wettbewerbes. 6 Publizistische Grundsätze (Pressekodex) – Richtlinien für die publizistische Arbeit nach Empfehlungen des Deutschen Presserats, in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden beschlossen und Herrn Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann am 12. Dezember 1973 in Bonn überreicht. In der Fassung vom 20. Juni 2001 Herrn Bundespräsidenten Johannes Rau am 28. November 2001 überreicht. Zu den „heren Forderungen“ des Pressekodex: Braun, Medienberichterstattung, S. 58 f. 7 NJW-RR 1993, S. 734. 8 Der Grund hierfür liegt in der fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit des Pressekodex. Gemäß § 1 LPG (vgl. zum Wortlaut der verschiedenen landespressegesetzlichen Regelungen Bullinger in: Löffler, Presserecht, § 1 LPG) ist eine mit hoheitlicher Gewalt ausgestattete Standesgerichtsbarkeit auf dem Gebiet der Presseberichterstattung verboten. Mithin

A. Mediale Rücksichtslosigkeit

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Im Juni 2003 wurden die Wohn- und Kanzleiräume des Rechtsanwaltes, Fernsehmoderators und Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Michel Friedman durchsucht. Die Tageszeitung Die Welt berichtete anschließend über den Einsatz eines „Kommandos des Bundesgrenzschutzes, das die Operation in Frankfurt durchführte“11. Sie zitierte dabei den Berliner Justizsprecher Björn Retzlaff12 mit den Worten, man habe „drei szenetypische Päckchen“ sicherstellen können, von denen eines gewisse „Anhaftungen“ aufgewiesen hätte. Daraufhin titelte die Bild-Zeitung einen Tag später „Drogen-Krimi um Michel Friedman“13 und berichtete anschließend über einen „ungeheuren Drogen-Krimi“14, in den Friedman verstrickt sei. Sie fragte anschließend „Wo ist Michel Friedman da hineingeraten?“15. Wieder einen Tag später titelte die Bild-Zeitung16 „Kokain! Wie krank ist Michel Friedman?“ und fragte „Wie abhängig hat ihn das Teufelszeug gemacht?“. In diesem Zusammenhang wurde ein Polizeibeamter mit den Worten: „Er hatte Drogen-Depots offenbar überall, wo er sich für längere Zeit aufhielt“17, zitiert. Daneben wurde erneut über eine Medienauskunft Björn Retzlaffs berichtet: „Bei den Substanzen, die bei Herrn Friedman gefunden wurden, handelt es sich um Kokain. Das haben die Laboruntersuchungen klar ergeben.“18 Im Rahmen dieser Berichterstattung wurde Friedman jedes Mal auch abgebildet. So titelte das Nachrichtenmagazin stern19 vor dem Hintergrund einer schwarz-weißen Abbildung Friedmans „Der Fall Friedman – Ein Moralist am Pranger“. Das Magazin stern20 berichtete sodann, dass für die sachbefassten Ermittler bei der Durchsuchung insbesondere das „Muster der Aufbewahrung“ von Interesse gewesen sei, weil insofern auf einen çhronisch Süchtigen“ geschlossen werden könne. Zudem wurde über den „verheerenden“ Verdacht informiert, „Friedman habe sich von Menschenhändlern eingeschleuste Liebesmädchen aus Osteuropa aufs Hotelzimmer bestellt – im Mittelinks Milieu der Gutmenschen, in denen er sich bevorzugt bewegt, ist das eine basiert der Presserat auf den Prinzipien der Freiwilligkeit und Sanktionslosigkeit. Er kann zwar Beschwerden gegen Presseorgane entgegennehmen und Hinweise, Missbilligungen oder Rügen aussprechen. Gleichwohl verursachen diese Maßnahmen keinerlei rechtliche Konsequenzen und sind eher symbolischen Charakters (vgl. Schulz, Medienberichterstattung, S. 80 m. w. N.). 9 Titel des Nachrichtenmagazins stern, Nr. 26 / 2003; Die Welt, 3. Juli 2003, S. 4. 10 Der Spiegel (online), 21. Juni 2003. 11 12. Juni 2003, S. 2. 12 Die Welt, 12. Juni 2003, S. 2. 13 13. Juni 2003, Titelseite. 14 Vgl. die Bild-Zeitung, 13. Juni 2003, Titelseite. 15 Die Bild-Zeitung, 13. Juni 2003, S. 8. 16 14. Juni 2003, Titelseite. 17 Die Bild-Zeitung, 14. Juni 2003, S. 11. 18 Siehe Bild-Zeitung, 14. Juni 2003, S. 11. Ähnlich auch Die Welt vom 14. Juni 2003, S. 2. 19 Titel von Nr. 26 / 2003. 20 Nr. 26 / 2003, S. 28 (32).

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1. Kap.: Einführung

Todsünde“21. Auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete unter dem Titel „Friedman, Vorsicht! TV-Inquisitor Michel Friedman im Zwielicht: Ist der Medienstar ein gewöhnlicher Kokser?“22. Wir können festhalten, dass eine derartig vorurteilsvolle Kriminalberichterstattung über strafjustizielle Ermittlungen den geltenden Selbstbeschränkungen der Presse offensichtlich zuwiderläuft. Gleich zu Beginn der Ermittlungen gegen Michel Friedman, als die strafrechtlichen Anschuldigungen erst einmal überprüft werden mussten, hat die Presse ihre selbst auferlegten Grenzen überschritten. Anstatt im Zweifelsfall die selbstverordnete Zurückhaltung zu üben und „in Darstellung und Überschrift jede präjudizierende Stellungnahme“23 zu vermeiden, wurde eine intensive Sensationsberichterstattung praktiziert, die zwangsläufig zu einer öffentlichen Vorverurteilung Friedmans – noch vor dem Ende der strafrechtlichen Ermittlungen – führen musste. Äußerst leichtfertig wurde Friedmans Ansehen daher „aufs Spiel (ge)setzt“24 und dessen irreparable Beschädigung billigend in Kauf genommen. Daneben hat allerdings auch die ermittelnde Staatsanwaltschaft eine sehr problematische – weil äußerst offensive – Öffentlichkeitsarbeit betrieben.25 Diese hat die Intensität der vorurteilsvollen Presseberichterstattung sicherlich begünstigt und insoweit den Strafverteidiger Friedmans, Eckhard Hild, veranlasst, gegenüber der Berliner Staatsanwaltschaft den Vorwurf zu erheben, sie betreibe durch ihre Informationspolitik eine „öffentliche Hinrichtung“26 seines Mandanten. Wie lässt sich ansonsten erklären, dass sich die Staatsanwaltschaft schließlich sogar veranlasst sah, für die Ermittlungen gegen Michel Friedman im Sommer 2003 eine Informationssperre zu verhängen?27 In welcher Form eine derartig offensive Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft und eine skandalisierende Presseberichterstattung in ihrem Zusammenwirken geeignet sind, die öffentliche Stimmungslage besorgniserregend aufzuheizen, zeigen die folgenden Äußerungen28: Während Heribert Prantl, ein Journalist der Süddeutschen Zeitung, von „Verfolgungsgeilheit“ der Staatsanwaltschaft und „radauhaften Ermittlungen“ stern, Nr. 26 / 2003, S. 28 (32). Nr. 25 / 2003, S. 42. 23 Siehe oben: Ziff. 13, S. 2 des Pressekodex. 24 Vgl. oben: OLG Hamburg, NJW-RR 1993, S. 734. 25 Gross in: Hanack-FS, S. 39 (40), zur „gelegentlich zu extensiv“ wahrgenommenen Auskunftsmöglichkeit der Strafverfolgungsbehörden. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt bezeichnete Hassemer, NJW 1985, S. 1921 (1927 m. w. N.), das Ermittlungsverfahren unter dem Aspekt einer drohenden medialen Vorverurteilung des Beschuldigten als „in hohem Maße verletzlich“ und benannte die Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden als mögliche „Quelle für Vorverurteilungen“. 26 Die Welt, 20. Juni, S. 4; 3. Juli 2003, S. 4; Der Tagesspiegel, 20. Juni 2003. 27 Hierzu auch Die Welt, 20. Juni 2003, S. 4. Eingehender zum Begriff, der rechtlichen Einordnung und den Voraussetzungen einer „Nachrichtensperre“: Rose, Grenzen journalistischer Recherche, S. 110 ff. m. w. N. 28 Vgl. alle folgenden Zitate im stern, Nr. 28 / 2003, S. 34. 21 22

A. Mediale Rücksichtslosigkeit

29

gegen Friedman sprach, bezeichnete der ehemalige Kulturstaatsminister und heutige Zeit-Herausgeber Michael Naumann die Ermittlungen als Resultat des Verhaltens eines „durchgeknallten Staatsanwaltes“; der Berliner Filmproduzent Arthur Brauner verstieg sich sogar in die Behauptung, dass „braun gefärbte Juristen“ am Werk gewesen seien. Diesen Vorwürfen trat die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus entgegen, indem sie was folgt darlegte: „Wir haben die beiden widerstreitenden Grundrechte, das auf Information und das auf den Schutz der Persönlichkeit, hinreichend abgewogen. Ich stehe hinter der Informationspolitik der Staatsanwaltschaft.“29

Dieser Interessenkonflikt, mit dem sich die Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung für oder wider eine Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren zu befassen hat, wird uns zu einem späteren Zeitpunkt30 der vorliegenden Untersuchung noch detaillierter beschäftigen. Eines wollen wir dennoch festhalten: Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse sind immer auch von besonderem Medieninteresse. Dementsprechend intensiv kann daher die Medienberichterstattung sein. Dabei fällt die (medien)öffentliche Beurteilung der strafrechtlichen Anschuldigungen oftmals einseitig zu Lasten des Betroffenen aus und endet nicht selten mit einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten. Solche Entwicklungen werden durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft, welche die Medien u. U. mit äußerst detaillierten Informationen über den Ermittlungsstand „versorgt“, zusätzlich befördert. Dies gilt in besonderem Maße für den Fall, dass die Ermittlungsbehörden im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit sogar so weit gehen, eine eventuelle Verfahrenseinstellung „vorsorglich“ zu kommentieren. So stellte beispielsweise der Kölner Generalstaatsanwalt Georg Linden im Rahmen der Ermittlungen wegen des Verdachtes auf Datenveränderung im Zuge des Wechsels der Bundesregierung im Jahre 1998 was folgt fest: „Und wenn wir keine Straftat feststellen, bedeutet das nicht, dass der Vorgang politisch in Ordnung war.“31 Sodann gab er zu bedenken: „Es geht nicht um die Entkräftung eines Verdachts. Ergebnis eines Ermittlungsverfahrens kann auch sein, dass erhebliche Verdachtsmomente bleiben, der Anfangsverdacht aber nicht zum hinreichenden Tatverdacht erstarkt ist.“32 Eine ohnehin vorurteilsvolle Medienberichterstattung kann durch solche Medienauskünfte zusätzlich angefacht werden. Im Rahmen eines derartigen Stimmungsklimas öffentlicher Vorverurteilung droht schließlich u. U. sogar die Gefahr, dass ein straf-

Nr. 27 / 2003, S. 45. 5. Kap. Vor A. 31 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2003, Titelseite. 32 Der Spiegel, Nr. 27 / 2003, S. 34 (35); Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2003, Titelseite. Die Ermittlungen wurden schließlich eingestellt (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 2003, Titelseite, S. 4). 29 30

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1. Kap.: Einführung

rechtliches Ermittlungsverfahren zur einseitig-öffentlichen Untersuchung – zur „Inquisition“33 – ausartet. Die Kriminalberichterstattung der Presse über die strafjustiziellen Ermittlungen gegen Michel Friedman ist kein Einzelfall. So wurde beispielsweise im Februar 1995 unter dem Titel „Neuer Todesengel“ und dem Untertitel „Spritzte Schwester Marianne 24 Patienten tot?“ über ein Ermittlungsverfahren gegen eine Krankenschwester berichtet.34 Die Krankenschwester stand zum damaligen Zeitpunkt unter Mordverdacht und befand sich in Untersuchungshaft. Obwohl ihr Familienname abgekürzt wurde, war eine öffentliche Identifizierung aufgrund der bezeichneten persönlichen Merkmale möglich. Dieser Fall führte zu einem Beschwerdeverfahren vor dem Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats35 und endete mit dem Ausspruch einer „Rüge“36 (vgl. § 12 Abs. 3 Ziff. 3 BeschwO37). Der Beschwerdeausschuss führte aus, dass insbesondere die Aufmachung mit dem Titel „Neuer Todesengel“ den Eindruck erweckt hätte, der Verdacht gegen die Krankenschwester habe sich erhärtet, obgleich die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet waren. Schließlich sei die Bezeichnung „vielleicht größter Massen-Mord in Deutschland“38 als unangemessen sensationelle Darstellung zu qualifizieren. 33 Der Begriff der „Inquisition“ darf an dieser Stelle nicht missverstanden werden. Er wird vorliegend – in begrifflicher Hinsicht – zunächst ausschließlich in seiner Übersetzung als „Untersuchung“ verwendet. In strafverfahrensrechtlicher Hinsicht soll wiederum – sicherlich in Anlehnung an die Strukturen des inquisitorischen Strafverfahrens – die Gefahr der Entwicklung des Ermittlungsverfahrens zu einer einseitig-öffentlichen Untersuchung zu Lasten des betroffenen Beschuldigten verdeutlicht werden. Der Begriff der „modernen Inquisition“ wurde bereits verwendet, um den vorurteilsvollen Verlauf insbesondere öffentlichkeitsbedeutsamer Strafverfahren zu kritisieren. So kritisierte etwa der damalige bayerische SPD-Landesvorsitzende Rudolf Schöfberger den sog. „Memminger Abtreibungsprozeß“ als „moderne Inquisition“ (Der Spiegel, Nr. 38 / 1988, S. 24). Der Spiegel, Nr. 38 / 1988, S. 24 (28), sprach damals von einer „modernen Spielart der Inquisition“ (vgl. zu diesem Fall auch Braun, Medienberichterstattung, S. 175; Castendyk, Rechtliche Begründungen, S. 248). Zur rechtshistorischen Bedeutung der „Inquisition“ und zum „inquisitorischen“ Strafverfahren eingehend später: 2. Kap. C. I. 34 Dieser Fall wird eingehend von Soehring, Vorverurteilung, S. 172, 273 (Abb. 27), dargestellt. Weitere Beispiele bei Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 17 f.; Marxen, GA 1980, S. 365 (367); Schulz, Medienberichterstattung, S. 1 f., 10 ff. m. w. N. 35 Beschwerdeverfahren B 15a / 95 (vgl. diesbezügliche Erörterungen bei Soering, Vorverurteilung, S. 172 m. w. N.). Vgl. eingehender zum Deutschen Presserat als Institution der Presseselbstkontrolle: Bermes, Der Deutsche Presserat (1991); Dietrich, Der Deutsche Presserat (2002); rechtsvergleichend: Musialek, Press Council und Deutscher Presserat (1980). 36 Die „Rüge“ stellt grundsätzlich das „schärfste Schwert“ des Beschwerdeausschusses dar, denn das betroffene Printmedium ist zum Abdruck der ausgesprochenen Rüge verpflichtet (vgl. § 15 BeschwO i.V.m. Ziff. 16 Pressekodex). Aufgrund der geringen tatsächlichen Durchschlagskraft dieser und anderer Sanktionen hat sich das Bild vom Deutschen Presserat als „Tiger ohne Zähne“ herausgestellt (Wiedemann, RuF 1994, S. 82 [90]). 37 Beschwerdeordnung, beschlossen am 25. Februar 1985, in der aktuellen Fassung vom 22. Juni 2001.

A. Mediale Rücksichtslosigkeit

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Angesichts dieser vorurteilsvollen Berichterstattungspraxis erscheint es fast schon skrupellos, wenn Der Tagesspiegel39 im Falle der im Spätsommer 2003 wegen des Verdachtes der Vergewaltigung in Schweden verhafteten und kurze Zeit später wieder freigelassenen Eishockeyspieler des Vereins Berliner Eisbären eine „sensationsgeile Öffentlichkeit“ kritisiert, welche „das Bild von den marodierenden Eishockeyprofis, die nach durchzechter Nacht gemeinsam eine Frau vergewaltigten, mit jedem Tag ein bisschen bunter malte“. War es doch Der Tagesspiegel40 selbst, der Tage zuvor seine gesamte „Dritte Seite“ diesem Thema gewidmet und unter dem nebulösen Titel „Was passierte in der Nacht von Tyringe?“ sogar Abbildungen und vollständige Namen der betroffenen Eishockeyspieler veröffentlicht hat. Selbstkritik scheint hingegen auf besonders drastische Auswüchse medialer Vorverurteilung beschränkt zu bleiben. So gab z. B. Der Spiegel41 im „Mordfall Anna Lindh“ zu bedenken, ob nicht im Fall der Medienberichterstattung über das tödliche Attentat auf die schwedische Außenministerin die „Grenze überschritten“ wurde. Die schwedischen Medien hatten eine nahezu „internationale Vorverurteilung“ eines festgenommenen Tatverdächtigen verursacht, indem sie detailliert über dessen privates Vorleben, sexuelle Veranlagungen und sogar das Verhältnis zu seiner Mutter berichteten. Darüber hinaus hatten die schwedischen Medien seine Abbildung veröffentlicht, die eine Überwachungskamera desjenigen Kaufhauses gemacht hatte, in welchem er Anna Lindh attackiert haben soll.42 Dieser Tatverdächtige wurde schließlich wieder freigelassen. Allerdings ließ es sich auch Der Spiegel43 nicht nehmen, selbst – im Gewand der Kritik der Kriminalberichterstattungspraxis der schwedischen Medien – das Foto, den Namen, das Alter und die Herkunft eines zweiten, ebenfalls verhafteten Tatverdächtigen zu veröffentlichen. Neben der Presseberichterstattung über Kriminalfälle geben zudem journalistische Recherchepraktiken Anlass zu tiefer Besorgnis. Ein aktuelles Beispiel offenbarte Oberstaatsanwalt Robert Deller, der in dem Fall zweier getöteter Geschwister aus Eschweiler ermittelte. Ein elfjähriger Junge und dessen neunjährige Schwester waren im März 2003 beim Spielen auf einem ehemaligen Zechengelände verschwunden und wurden kurze Zeit später tot aufgefunden. Deller übte scharfe Kritik, weil einige Journalisten dem Bestatter Geld angeboten hätten, um Bilder der getöteten Geschwister in ihren Särgen machen zu dürfen.44 Sind derartige Recherche- und Berichterstattungsmethoden in Strafverfahren auf die Unkenntnis der geltenden Selbstbeschränkungen oder auf die schlichte IgnoAbb. 27 bei Soehring, Vorverurteilung, S. 273. 11. September 2003, S. 8. Sodann wird über die Freilassung und die Einstellung der Ermittlungen der schwedischen Justiz berichtet (S. 9; 12. September 2003, S. 12). 40 31. August 2003, S. 3. 41 Nr. 40 / 2003, S. 116. 42 Dazu Der Spiegel, Nr. 40 / 2003, S. 116 f. 43 Nr. 40 / 2003, S. 116 (117). 44 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. März 2003, S. 9. 38 39

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1. Kap.: Einführung

ranz der Rechte des Betroffenen bzw. der Bedürfnisse der Opfer einer Straftat und deren Angehörigen zurückzuführen? Jedenfalls können die persönlichen, sozialen und beruflichen Konsequenzen45 für den Betroffenen – selbst, wenn die ursprünglichen Vorwürfe später entkräftet werden – schon im Ermittlungsverfahren verheerenden Ausmaßes sein. In diesem Sinne bilanziert Uwe Schulz: „Was jedoch übrig blieb, war die durch die Medienberichterstattung erfolgte Zerschlagung des Vermögens des Beschuldigten, der Verlust seines Unternehmens und damit seiner beruflichen und sozialen Existenz sowie der Verlust seiner Heimat und seiner familiären Strukturen. Diese Folgen hatte der Angeklagte bereits hinnehmen müssen, bevor überhaupt eine Anklageschrift vorlag.“46

Vor diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass das Problem der Vorverurteilung durch mediale Kriminalberichterstattung, die Frage nach deren Funktionen, aber auch nach ihren Grenzen zu Gunsten eines effektiven Schutzes des Betroffenen seit vielen Jahren feste Bestandteile des rechtswissenschaftlichen Diskurses sind.47 Gleichwohl bietet sich uns folgendes besorgniserregende Bild: In den vergangenen Jahren hat die Intensität medialer Kriminalberichterstattung – unter sukzessiver Ausdehnung ihrer Grenzen – drastisch zugenommen. Während sich früher zumeist die „Boulevardpresse“ durch die schwere Missachtung der eigenen Selbstbeschränkungen in Form des rücksichtslosen Umgangs mit Beschuldigtenrechten hervortat48, finden sich derartige Beispiele rücksichtsloser Dazu später noch eingehender: 4. Kap. D. Medienberichterstattung, S. 2. 47 Vgl. Ahrens, Persönlichkeitsrecht und Medienberichterstattung (2002); Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre (1970); von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien (1979); Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz (1982); ders., Kriminalberichterstattung (1985); Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens (1980); Braun, Medienberichterstattung (1998); Brink, Die „Relative Person der Zeitgeschichte“ (2001); Dölling u. a. (Hrsg.), Kriminalberichterstattung (1998); Engau, Personen der Zeitgeschichte (1993); Eser / Meyer, Öffentliche Vorverurteilung (1986); Franke, Bildberichterstattung (1978); Gronau, Personen der Zeitgeschichte (2002); Hamm, Große Strafprozesse (1997); Herzog, Solidarität unter Verdacht (1995); Hünig, Probleme des Schutzes des Beschuldigten (1973); Ionescu, Kriminalberichterstattung (1996); Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz (1982); Kühl in: Müller-Dietz FS (2001), S. 401 ff.; Peters in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien (2000), S. 150 ff.; Reiß, Störung der Strafrechtspflege (1975); Rose, Grenzen der journalistischen Recherche (2001); Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap. § 9 III, 3. Kap. § 18 C.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit (1980); Schulz, Medienberichterstattung (2002); Schumacher, Medienberichterstattung (2001); Soehring, Vorverurteilung (1999); Stapper, Namensnennung in der Presse (1995); Stürner, Gutachten A, 58. DJT (1990); Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte (1982); Zitscher, Presse und Strafrichter (1968). 48 Dazu von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 15 ff. Instruktiv weiterhin Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ (dieser Roman ist zentraler Anknüpfungspunkt bei Krebs, Rechtsstaat und Pressefreiheit [1990]). Hierin greift Böll die rücksichtslosen Recherche- und Berichterstattungspraktiken der Boulevardzeitung Bild scharf an. Ähnlich scharfe Kritik wurde vereinzelt auch von der sog. „seriösen“ Presse geübt: So berichtete die 45 46

A. Mediale Rücksichtslosigkeit

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Kriminalberichterstattung mittlerweile auch in der „seriösen“ Presse49. Im Ergebnis profitiert gegenwärtig die gesamte Presselandschaft von dem absatzfördernden und insoweit lukrativen Geschäft mit sensationellen Nachrichten über aufsehenerregende Kriminalfälle.50 Die Gefahr, dass sich ein Ermittlungsverfahren in einem Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung schnell zur einseitig-öffentlichen „Inquisition“ entwickeln kann, gerät hierbei in den Hintergrund. Der massive wirtschaftliche Druck51 hat zudem auch im Bereich der audiovisuellen Medien konkrete Auswirkungen: Die „Herrschaft der Quote“ zwingt sie zu kürzeren Präsentationszeiträumen für konkrete Informationssachverhalte52; insoSüddeutsche Zeitung, 21. Juni 1996, S. 3, unter dem Titel „Der Ripper – falsch im Bild“ über einen Kriminalfall, in welchem insbesondere die Bild-Zeitung eine massiv vorurteilsvolle Kriminalberichterstattung betrieben hatte. Bild hatte das Foto eines des Mordes verdächtigten Arztes veröffentlicht und daneben getitelt: „Der Todes-Arzt – Wie viele Frauen hat er zerstückelt?“ und „Der unheimliche Arzt – Impotent! Nur beim Würgen empfand er Lust“ (Süddeutsche Zeitung, 21. Juni 1996, S. 3). Die Süddeutsche Zeitung, 21. Juni 1996, S. 3, schrieb damals: „Die Sensationspresse hat dem Mann den Prozeß bereits gemacht – und sie hat ihn verloren.“ Weitere Beispiele bei von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 211 f., dort in den Fußnoten; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 1 f., dort in den Fußnoten. 49 So auch Braun, Medienberichterstattung, S. 175 m. w. N. Vgl. etwa die Kriminalberichterstattung der Süddeutschen Zeitung, 22. Juli 1998, S. 10, die im Sommer 1998 unter dem Titel „Mörder von Christina auch im Fall Ulrike verdächtig“ über die Verhaftung eines des Mordes verdächtigten Mannes berichtete – und zwar unter Nennung seines Vornamens, abgekürzten Nachnamens und Wohnortes. Hiernach berichtete die Süddeutsche Zeitung, 23. Juli 1998, S. 10, ausführlich darüber, dass der Mann geständig sei und titelte: „Mörder von Christina und Ulrike wird weiter verhört“. Diese Art und Weise der Kriminalberichterstattung verstößt zweifelsohne gegen die Selbstbeschränkung der Ziff. 13 Satz 2, 3 des Pressekodex. Siehe auch die Kriminalberichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 24. September 2003, S. 14, über die Ermittlungen der Mannheimer Staatsanwaltschaft gegen drei Vorstände des Versicherungskonzerns Mannheimer im Spätsommer 2003, die wegen des Verdachtes der Untreue eingeleitet wurden: Der Konzern befinde sich seit Mitte 2003 in einer „existenzbedrohenden Schieflage“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2003, S. 20, kommentierte weiterhin: „ ,Endlich!‘ ist man versucht auszurufen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche der Mannheimer Holding, die Abermillionen von Versichertengeldern an der Börse verzockt und ihre Lebensversicherung beinahe in die Pleite getrieben hatten. (. . . ) Ganz nebenbei dürfte sich aber in der Branche eine klammheimliche Schadenfreude breit machen, daß sich die Staatsanwaltschaft ausgerechnet den vormaligen Mannheimer-Chef (. . . ) vorknöpft, der wegen seines Feudalherrengehabes in der Versicherungswirtschaft nicht überall wohl gelitten war.“ Daneben instruktiv Höbermann, Gerichtsbericht in der Lokalzeitung (1989), zur Verantwortung des Gerichtsberichterstatters und die an diesen gestellten Erwartungen. 50 Ähnlich Stadler, Die Kommerzialisierung des Persönlichkeitsrechts, S. 14. Siehe hierzu auch Kotz, NStZ 1982, S. 14 (16 m. w. N.), der darstellt, dass im Schrifttum eine weit verbreitete Kritik der „am Absatz orientierten Aufmachung von Kriminalberichten“ existiere. 51 Vgl. Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 30. 52 Soering, Vorverurteilung, S. 22, schildert folgendes Beispiel: Der private Berliner Radiosender 94.3 – r.s.2 meldete im September 1998 in einer über mehrere Stunden hinweg 3 Neuling

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1. Kap.: Einführung

fern gilt das Prinzip: „Time is money!“. Diese Rahmenbedingungen führen nicht nur zu einer ständigen Missachtung selbst auferlegter Schranken der Kriminalberichterstattung; vielmehr kann noch nicht einmal (zeitaufwendigen) Sorgfaltspflichten vor allem während der Recherche nachgekommen werden.53 Im Ergebnis können wir schließlich festhalten, welchen vornehmlichen Charakters Kriminalberichterstattung in unserer modernen Mediengesellschaft in vielen Fällen ist: Nahezu zügellos werden die Grenzen zulässiger Kriminalberichterstattung – ungeachtet selbst auferlegter Beschränkungen – überschritten. Hierfür sind in besonderem Maße wirtschaftliche Motive, welche etwa im harten Wettbewerb wurzeln, ursächlich.54 Demgemäß ist mediale Rücksichtslosigkeit mittlerweile prägendes Merkmal der alltäglichen Kriminalberichterstattung. 55

B. Gesellschaftliche Ursachen: Wandel zur Mediengesellschaft und Instrumentalisierung der Strafjustiz I. Die moderne Mediengesellschaft Die vorstehenden Erörterungen ermöglichen eine nähere Konkretisierung möglicher Ursachen für mediale Rücksichtslosigkeit insbesondere im Rahmen der Kriminalberichterstattung: Das Streben, das öffentliche Informationsinteresse mit sensationellen Veröffentlichungen zu befriedigen, kann vor allem auf wirtschaftliche Motive, wie etwa die harten Wettbewerbsbedingungen auf dem Nachrichtenmarkt, zurückgeführt werden.56 Für diese Rahmenbedingungen ist ein tief greifender

wiederholten Kurzmeldung: „Berlin: Prozeßbeginn gegen Kinderschänder. Der (. . . ) Mann soll in Berlin und Bayern vier Mädchen vergewaltigt haben.“ Vgl. auch Prinz in: EngelschallFS, S. 243 (251), der von dem Medieninteresse an „Schnelligkeit, Knappheit, Aktualität und den eigenen Absatzchancen“ und dem journalistischen Bedürfnis nach einer „ ,Story‘ und einer Überschrift“ spricht. Weiterhin auch Zuck, DRiZ 1997, S. 23 (28). 53 Vgl. demgegenüber Kühl in: Hubmann-FS, S. 241, zu den „Chancen gelungener Kriminalberichterstattung“ und den „seltenen Erfolgen gründlich recherchierender Journalisten bei der Aufdeckung von Straftaten“. 54 Siehe auch Ulsamer in: Jauch-FS, S. 221. 55 Ähnlich auch Peters in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität und Medien, S. 150 (169), der von der „Absicht des Journalisten, ,Roß und Reiter zu nennen‘“, dessen „Wunsch nach ,Authentizität‘“ und dessen „Ziel, möglichst ,invesitgativ‘ zu arbeiten“ spricht. Daneben benennt Viehmann in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Kriminalität in den Medien, S. 1 (5), eine wirklichkeitsfremde Wahrnehmung von „Medienkriminalität“ in Politik und Öffentlichkeit, ein gesteigertes Furchtempfinden in der Bevölkerung und absolut erhobene Forderungen nach einer „Verschärfung des Strafrechts, nach kurzem Prozeß und harten Strafen“ als Folgen einer derartigen Medienberichterstattung. 56 Vgl. schon oben: 1. Kap. A.

B. Gesellschaftliche Ursachen

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gesellschaftlicher Wandel verantwortlich, und die aktuelle Zuspitzung der Problematik einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren ist insoweit kein Zufall. Die Strukturen unserer Gesellschaft haben sich in den letzten Jahren – bedingt durch das hohe Tempo der informationstechnologischen Fortentwicklung – fundamental verändert.57 Unsere Gesellschaft hat sich, insbesondere vorangetrieben durch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Informationstechnologien58, zu einer hochtechnisierten modernen Mediengesellschaft gewandelt.59 Der drastische Charakter dieses Wandels spiegelt sich im Schrifttum durch Buch- und Aufsatztitel, wie etwa „Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur“, „Von der Letter zur Bit“ oder „Das Ende des Buchzeitalters“, wider.60 Dieser Wandel ist durch einen fundamentalen „Quantensprung“ geprägt, welcher in seinen praktischen Konsequenzen durchaus etwa mit der Erfindung der Eisenbahn oder von Hörfunk und Fernsehen gleichgesetzt werden kann: Informationen werden durch Telefon und Telefax, vor allem aber durch das weltweite Computernetz „internet“, dessen Informationsdienst „world wide web“ und dessen Kommunikationsmedium „e-mail“ überall auf dieser Welt zu jeder Tages- beziehungsweise Nachtzeit verfügbar. Informationssachverhalte können in großer Anzahl mittels elektronischer Datenverarbeitung ohne großen Aufwand – beispielsweise auf einer CD-Rom – gespeichert werden und sind komplexen Darstellungsformen (etwa Präsentationsprogrammen) zugänglich61, verlieren kehrseitig 57 Löffler / Ricker sprechen – schon mit Blick auf die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland – von einer „stürmischen technischen Entwicklung“ der Printmedien, welche nicht zuletzt aufgrund der „scharfen Konkurrenz“ mit den audiovisuellen Medien eintrat und einen Zwang zu ständiger Modernisierung in Verbindung mit kontinuierlich steigenden Investitionskosten verursachte (Handbuch, 1. Abschn., 4. Kap., Rndnr. 40). Wandtke in: Rehbinder-FS, S. 389 (390); ders., GRUR 2002, S. 1, stellt einen „Übergang (. . . ) ins technologische Zeitalter“ fest. 58 D. h. insbesondere die Computer-, Internet- und Mobilfunktechnologie. Wandtke in: Rehbinder-FS, S. 389 (390); ders., GRUR 2002, S. 1, spricht insoweit von „Informations-, Wissens- oder Dienstleistungsgesellschaft“. 59 Ähnlich Bendlin, „Medienberichterstattung“, S. 1 ff. Grundsätzlicher zu den fundamentalen, gesellschaftlichen Auswirkungen des technischen Fortschritts schon Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 171 ff., der in seinem grundlegenden Werk darlegt, wie Information und Wissen zunehmend die herkömmlichen ökonomischen Grundressourcen Arbeit und Kapital als zentrale gesellschaftliche Produktivitätskräfte überflügeln. Daneben auch Wandtke in: Rehbinder-FS, S. 389 (390); ders., GRUR 2002, S. 1, der im „Zeitalter der ,Postmoderne‘“ einen „Übergang vom wissenschaftlich-technischen ins technologische Zeitalter“ feststellt. 60 Diese Titel zitiert Marxen, JZ 2000, S. 294 (299 m. w. N.). Zu den damit verbundenen, neu auftauchenden Problemen im Strafrecht und im Strafprozess instruktiv: Hilgendorf, ZStW 113 (2001), S. 650 ff. m. w. N. 61 Instruktiv hierzu auch Wandtke, GRUR 1995, S. 385: „Die technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung, Speicherung, Übertragung, Verarbeitung und Wiedergabe von Informationen haben eine Dimension erreicht, die alles Bisherige in den Schatten stellen.“

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1. Kap.: Einführung

jedoch auch ungleich schneller als früher ihre Gültigkeit, sodass mittlerweile keine Nachricht mehr so alt ist wie die gestrige Meldung. Hierzu führt Artur-Axel Wandtke was folgt aus: „Der virtuelle Markt, der durch das Internet und die digitale Technologie geschaffen worden ist, erlaubt es, dass aus unserer Welt ein ,global village‘ zu entstehen im Begriff ist, mit einem Informationsfluss von Land zu Land, der vor den staatlichen Grenzen nicht halt macht. Die Extase der Kommunikation kennt in der virtuellen Welt keine Mauern. Über Computer und Multimedia-Handys hängen Millionen ununterbrochen am Netz. (. . . ) Wahrheit und Lüge werden schneller transportiert. Raum und Zeit sowie traditionelle Transportwege befinden sich in der Auflösung.“62

Daneben wächst die Nachfrage nach immer neuen Informationen ständig. Die nahezu grenzenlose Informationsfreiheit und -vielfalt korrespondiert also mit einem massiven, permanenten Informationsdruck. Der Eintritt in das moderne Informations- und Medienzeitalter wirkt sich folgenschwer auf die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse der auf dem Nachrichtenmarkt wettstreitenden Wettbewerber aus. Hierbei ist vornehmlich der durch die Internet-Revolution verursachte Umbruch auf dem Gebiet der elektronischen Medien relevant. Allein die Entwicklung der digitalisierten Printmedien hat zu grundlegenden Veränderungen der medialen Berichterstattung geführt. Nachrichtenanbieter können ihre Informationsinhalte multimedial recherchieren, bearbeiten und schließlich verbreiten; die Medien werden zu Massenmedien. Um die in diesen Entwicklungen liegenden, vielfältigen Chancen wahrnehmen zu können, haben sich die Medien – als Wirtschaftseinheiten aufgefasst – gravierenden Strukturveränderungen unterzogen. Die Medien wurden hierdurch zu einem eigenständigen und einflussreichen Wirtschaftsfaktor. „Die Medien sind ein boomender Wirtschaftszweig wie kaum ein anderer. In den vergangenen Jahren haben sie sich rasch entwickelt: Zu Beginn der zweiten Hälfte der achtziger Jahre empfingen die meisten Bundesbürger drei Fernsehprogramme, heute flimmern über zwei Dutzend Programme über die Mattscheibe. Damals gab es dreißig Hörfunkprogramme in Deutschland. Heute sind es über zweihundertfünfzig. Neue Zeitschriften kamen auf den Markt, insbesondere sogenannte ,Special-Interest‘-Blätter, die Zahl der Zeitschriftentitel hat ungefähr um die Hälfte zugenommen.“63

Gleichzeitig hat sich die Information zu einem überragend wichtigen Wirtschaftsgut, d. h. zu einem „asset“, entwickelt.64 Als primärem Arbeitsschritt kommt dementsprechend dem Prozess der Informationsgewinnung – der „Rohstoffgewinnung“ – elementare Bedeutung zu. Dadurch rücken wiederum die Informationsquellen ihrerseits – als „Rohstofflager“ – in den Mittelpunkt medialer Begehrlichkeiten. Diese Begehrlichkeiten richten sich natürlich auch auf die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungsakten, handelt es sich hierbei doch um InWandtke in: Rehbinder-FS, S. 389 (390 m. w. N.); ders., GRUR 2002, S. 1 m. w. N. Prinz / Peters, Medienrecht, Vorwort. 64 Ähnlich Hamm, Große Strafprozesse, S. 31, der von dem „Rohstoff Information“ spricht. 62 63

B. Gesellschaftliche Ursachen

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formationsquellen für die lukrative Kriminalberichterstattung über laufende Ermittlungsverfahren.65 Als Ergebnis des dargestellten Wandels zur modernen Mediengesellschaft halten wir fest: Den Medien, die das „asset Information“ vorwiegend verwerten, kommt die gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu informationeller Daseinsvorsorge in unserer ständig auf Informationen zurückgreifenden Mediengesellschaft zu. Ihnen wird quasi eine informationelle Generalverantwortung zugeschrieben, indem die Gesellschaft von den Medien erwartet, die „Herkulesaufgabe“ einer Herstellung und dauerhaften Aufrechterhaltung von Informationsprozessen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen zu erfüllen. Der Einzelne ist längst nicht mehr in der Lage, nur durch aktives Erleben einen eigenen, realistischen Einblick in die verschiedenen Teilbereiche unserer komplexen Gesellschaft (scil. Politik, Wirtschaft, Kunst oder Kultur) zu erlangen. Nunmehr sollen die Medien die Masse informativer Sachverhalte über die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche auf ein für den Einzelnen „menschlich aufnehmbares Maß“ herunterschrauben.

II. Instrumentalisierung der Strafjustiz zur Bekämpfung „gesellschaftlicher Großstörungen“ Die Umsetzung der eben festgestellten Verantwortung der Medien für die informationelle Daseinsvorsorge in unserer gewandelten, modernen Mediengesellschaft steht in enger Verbindung mit den informationellen Bedürfnissen der Menschen. Dies folgt schon aus dem auf dem Nachrichtenmarkt herrschenden harten Wettbewerb und dem hierdurch vermittelten wirtschaftlichen Druck. Was beschäftigt nun aber die Menschen? Aus einer übergreifenden, gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet geben insbesondere die im Folgenden erörterten gesellschaftlichen Entwicklungen Anlass zu großer Sorge. Unsere Gesellschaft befindet sich derzeit in einem Auflösungsprozess. So prägt z. Zt. eine auseinanderdividierende Verfechtung verschiedener Partikularinteressen die öffentliche Diskussion über soziale Probleme in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.66 Dies verursacht ein Schwinden sozialer Strukturen und Bindungen, zu deren Aufrechterhaltung und Stärkung eine solidarische Herangehensweise gerade erforderlich wäre. Ein derartiges soziales Klima, welches Hamm, Große Strafprozesse, S. 31. Schon Maletzke, Publizistik 25 (1980), S. 199 (200), führt aus, wie „in einer derartigen Gesellschaft (. . . ) ständig die Gefahr des Auseinanderfallens, der Desintegration“ besteht. Als „derartige Gesellschaft“ bezeichnet er unsere Gesellschaft, wie sie wiederum Arndt beschreibt: „Noch nie war eine Gesellschaft in sich so differenziert, durch Gruppen und Verbände in der Vielfalt der Interessen so organisiert (. . . ) wie die industrielle Großgesellschaft.“ (Zitat bei Maletzke, Publizistik 25 [1980], S. 199 [200 m. w. N.]). 65 66

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1. Kap.: Einführung

durch den Verfall solcher Normen, die dem gemeinsamen Zusammenleben eine Struktur geben, geprägt ist, führt unweigerlich zu einer gesellschaftlichen Destabilisierung. Es beeinträchtigt die gesellschaftliche Entwicklungsfähigkeit, indem es die allgemeine Entscheidungswilligkeit trübt. In dieser Krise trägt die Politik die primäre Verantwortung, redlich motivierte Reformansätze zu entwickeln und sorgfältig umzusetzen. Aufgrund ihrer repräsentativ-demokratischen Handlungs- und Entscheidungslegitimation stehen die Volksvertreter im Wort, Reformprozesse auszulösen, um Reformblockaden zu überwinden und gesellschaftliche Strukturdefizite zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang fällte zuletzt der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier67 ein besorgniserregendes Urteil: Es bestehe derzeit ein „kaum mehr erträglicher Reformstau“. Der neue Politikstil der Delegation von Lösungsverantwortlichkeiten auf Kommissionen – der „Flucht in das Kommissions- und Kooperationswesen“ – verursache „vor allem weiteren Zeitverlust“. Diese Art und Weise der Verlagerung politischer Verantwortung berge ein gewisses „Gefährdungspotential für die parlamentarische Demokratie“; das Staatsvolk verliere durch diese „Selbstentmachtung des Parlaments“ seine Vertretung.

Dieser Einschätzung ist uneingeschränkt zuzustimmen. Es fehlt politisch-visionärer Ehrgeiz, der zum gemeinsamen Entwurf optimistischerer Perspektiven für eine gesellschaftliche Zukunft anregen könnte.68 Allenthalben können wir dagegen beobachten, wie die Aufgabe zur Lösung gesellschaftlicher Strukturprobleme zunehmend auf die Strafjustiz übertragen und diese hierdurch der gegenwärtig überforderten Politik unterworfen wird.69 Offenbar verspricht man sich hiervon die Möglichkeit, durch strafjustizielle Sozialsteuerung einen trügerischen Schein politischer Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.70 Felix Herzog führt hierzu was folgt aus:

67 Die folgenden Zitate entstammen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 15. April 2003, S. 13. Weiterführend das Gespräch Papiers mit Dem Tagesspiegel, 14. September 2003, S. 8. Dazu auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. September 2003, Titelseite, S. 2, unter dem Titel „Papier kritisiert ,Entmachtung des Bundestages‘“. 68 Ähnlich Herzog, Funktionalisierung des Kriminaljustizsystems, S. 25 (26). 69 Dazu Herzog, Funktionalisierung des Kriminaljustizsystems, S. 25 (28). 70 Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (28). Vgl. weiterführend Herzog, StV 1995, S. 372 ff. m. w. N., zu den politischen Bemühungen, die Kriminalitätsbekämpfung im Wege einer „schlanken Justiz“ effektiver auf “,neue Dimensionen des Verbrechens‘“ vorzubereiten; ders. in: KritV 2000, S. 65 ff., sogar zur äußersten Frage, ob es angesichts der „Aufrüstung des Strafrechts“ sogar einen „gerechten Krieg“ geben kann. Schon früher gelangte Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit (1991), S. 158, im Rahmen der Untersuchung gefährdungsdeliktischer Strafbarkeit zu der Feststellung, dass sich „gesellschaftliche Unsicherheit ( . . . ) immer mehr ausweitet“. Hiermit gehe eine politische Praxis einher, der „es kaum noch gelingt, Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung zu entdecken und auf lange Frist angelegte politische Projekte in Gang zu bringen“. Das politische „Risiko- und Krisenmanagement“ werde in immer stärkerer Form durch das Strafrecht dominiert, welches „je nach Dramatisierungsgrad (. . . ) intensiver in Strafverfolgung umgesetzt, in seinen Strafandrohungen verschärft oder in den Tatbeständen ausgeweitet“ werde.

B. Gesellschaftliche Ursachen

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„Dem Strafrecht (geht) es heute nicht mehr um Individualrechtsgüterschutz, sondern um Globalsteuerung (. . . ); nicht mehr um input-orientierte Herstellung von Gerechtigkeit, sondern um output-orientierte Folgenorientierung; nicht mehr um Tatschuldvergeltung, sondern um gesellschaftsstabilisierende Präventionsleistungen; dogmatische Kategorien wie objektive Zurechnung, Rechtfertigung und Schuld werden von präventiven Zielen her funktionalisiert; gesellschaftliche Konfliktfelder und Risikobereiche werden von symbolischen Strafgesetzen und exemplarischen Strafverfahren strategisch besetzt.“71

In vielerlei Hinsicht wird versucht, politische, ökonomische und moralische „Brandherde“ mittels strafjustizieller Sozialsteuerung zu löschen. So erläutert Felix Herzog wie „Strafrecht ( . . . ) zunehmend besonders für komplexe soziale Problemlagen mit hohem Klärungsbedarf in die Verantwortung gesetzt (wird): – etwa für den Verfall der ethischen Mindeststandards in Wirtschaft und Verwaltung (Stichwort: Korruption), – für die Verschmutzung globalisierter Finanzmärkte durch kriminelle Gewinne (Stichwort: Geldwäsche), – für die menschenverachtende Verschiebung von Giftmüll in Entwicklungsländer (Stichwort: organisierte Umweltkriminalität), – für die Entartungserscheinungen einer zügellosen Kommerzialisierung von Sexualität (Stichwort: Kinderpornographie)“72.

Ähnlich äußerte sich auch Klaus Volk im Zusammenhang mit der sog. „Affäre Mannesmann“73. Diese hat die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone zum Gegenstand und wurde bereits als die „größte Fusion der Wirtschaftsgeschichte“ 74 der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Volk75 warnte davor, die Strafjustiz in eine „Wahrheitskommission“ umfunktionieren zu wollen. Schließlich solle sie keine „zeitgeschichtlichen Großereignisse“ aufarbeiten, sondern vielmehr die Frage individueller Schuld aufklären. Hiermit ist ein wichtiger Aspekt angesprochen. Die Strafjustiz muss an derartigen gesellschaftlichen Mammutaufgaben zwangsläufig scheitern. Das Strafverfahren dient der prozessualen Durchsetzung materiellen Strafrechts; allerdings „nicht um jeden Preis“76. Im Sinne einer liberalrechtsstaatlichen Überzeugung soll es sich vielmehr auch – selbstbeschränkend – durch die Achtung einer fairen Strafverfahrenskonzeption zu Gunsten des Beschul71 Funktionalisierung des Kriminaljustizsystems, S. 25 m. w. N., mit einer instruktiven Schilderung einzelner Beispiele (S. 26 ff. m. w. N.). 72 (Hrsg.) Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (28). 73 Hierzu später detaillierter: 5. Kap. B. III. 2. a) ff). 74 Der Spiegel, Nr. 11 / 2001, S. 122. 75 Handelsblatt, 25. Februar 2003, S. 2. 76 Den Grundsatz, dass die Strafprozessordnung nicht auf eine „Wahrheitserforschung um jeden Preis“ gerichtet ist, stellt BGHSt 44, S. 243 (249), fest. Vgl. auch die Besprechung der zugrunde liegenden Entscheidung von Jahn, JA 1999, S. 455 ff.

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1. Kap.: Einführung

digten auszeichnen.77 In diesem Rahmen kann die strafverfahrensmäßige Durchsetzung materiellen Strafrechts durch den strafprozessualen Nachweis tatbestandsmäßigen Handelns, von Rechtswidrigkeit und individueller Schuld erfolgen. Wenn es im Strafverfahren im Kern aber um die Frage individueller Schuld geht – wie soll es dann gleichzeitig dazu geeignet sein, als Instrument strafjustizieller Sozialsteuerung Antworten auf komplexe gesellschaftliche Strukturprobleme zu geben? Mit dieser (politischen) Marschroute konfrontiert, wird die Strafjustiz im Rahmen ihrer Verfahrensweise versuchen, gesamtgesellschaftliche Probleme auf individuelle Schuld zurückzuführen – dem „Leid einen Namen zu geben“. Ein derartiger Bewältigungsversuch muss jedoch zum Scheitern verurteilt sein, ist die Strafjustiz doch „auf die Verhandlung von Konflikten zwischen Menschen und nicht auf die Individualisierung von Verantwortung für gesellschaftliche und politische Großstörungen angelegt“78.

Um gesellschaftlich destabilisierenden Entwicklungen entgegenzuwirken und insoweit scheinbare politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wird die Strafjustiz mithin zum Instrument der Sozialsteuerung – der sozialen Stabilisierung – umfunktioniert, obgleich sie hierzu strafverfahrensrechtlich nicht geeignet ist. Hierdurch wird die Strafjustiz unter erheblichen Zugzwang gesetzt.

C. Konsequenzen: Sozialer Stellenwert des Ermittlungsverfahrens und neue Herausforderungen einer medienöffentlichen Strafjustiz Dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kommt in strafprozessualer Hinsicht eine außerordentlich wichtige Bedeutung zu. Im Hinblick auf seine die Hauptverhandlung – den eigentlichen „Strafprozess“ – prägende Wirkung ist das Ermittlungsverfahren mittlerweile als „Schwerpunkt des heutigen Strafverfahrens“79 anzusehen.80 Ähnlich Herzog, Funktionalisierung des Kriminaljustizsystems, S. 25 (28). Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (29). 79 Wagner, ZStW 109 (1997), S. 545 (557). 80 Hierzu eingehender Ahlf in: Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 113 (117), der von einer „urteilsprägenden Kraft des Ermittlungsverfahrens“ spricht (ähnlich Kehr, Neuregelung des Ermittlungsverfahrens, S. 16 m. w. N.); Nestler in: KritV 2000, S. 139 (149), der eine „Schwerpunktverlagerung des modernen Strafverfahrens“ feststellt. Weiterhin Schröer, Einheitsrechtsmittel, S. 198 f. m. w. N.; Wagner, ZStW 109 (1997), S. 545 (556 f. m. w. N.); Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (254), der beurteilt, dass „die Würfel über den Ausgang eines Strafprozesses schon längst nicht mehr im Haupt-, sondern im Ermittlungsverfahren fallen“. Dazu auch später noch eingehender (4. Kap. D.). Demgegenüber nennt bspw. Grasnick in: Meyer-Gossner FS, S. 207, die Hauptverhandlung 77 78

C. Konsequenzen

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Daneben hat sich auch der soziale Stellenwert des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens grundlegend verändert: Wie soeben erörtert, wird die Strafjustiz zunehmend als Instrument der Sozialsteuerung eingesetzt, um „gesellschaftliche Großstörungen“ zu beseitigen. Hiermit korrespondiert eine große Erwartungshaltung der Menschen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden, „den Schuldigen“ schnell zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Wegen ihrer gesamtgellschaftlichen Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge haben auch die Medien ein entsprechend größeres Interesse an Ereignissen aus dem Bereich staatlicher Strafverfolgung81 und Kriminalberichterstattung wird zu einem dominierenden Bestandteil der Medienberichterstattung. Dies gilt in besonderem Maße für aufsehenerregende Kriminalfälle 82, an welchen naturgemäß ein besonderes öffentliches Interesse besteht. Insofern existiert seitens der Medien ein erhebliches kommerzielles Interesse, denn die Nachfrage nach Kriminalberichterstattung ist aufgrund der Erwartungshaltung der Menschen besonders groß. Mithin eignet sich Kriminalberichterstattung hervorragend zur Steigerung des eigenen Marktanteils bzw. der eigenen Quote gegenüber der Konkurrenz. Auf dem Gebiet der Kriminalberichterstattung sind wiederum Informationen über das strafrechtliche Ermittlungsverfahren besonders begehrt. Es stellt den ersten Verfahrensabschnitt des Strafverfahrens dar, d. h. Informationen über strafjustizielle Ermittlungen sind grundsätzlich die aktuellsten und sensationellsten. Mithin ist nicht erst die öffentliche Hauptverhandlung – der eigentliche „Strafprozess“ –, sondern vielmehr bereits das strafrechtliche Ermittlungsverfahren von besonderem medialen Interesse. Dementsprechend analysiert Thomas Weigend zutreffend: „So wie sich der Schwerpunkt des Verfahrens in das Stadium verlagert, das früher leichthin ,Vorverfahren‘ genannt wurde, so verlagert sich auch das Interesse der Öffentlichkeit. Diese Feststellung bezieht sich sowohl auf die Sensationslust – man denke nur etwa an die Anteilnahme der Medien an Durchsuchungen der Wohnungen prominenter Zeitgenossen oder an deren Vernehmung oder gar Verhaftung – als auch auf die Informations- und Kontrollfunktion (der Medien).“83

Mit diesen Feststellungen geht die Erkenntnis einher, dass die Strafjustiz in Gestalt der Strafverfolgungsbehörden, d. h. Staatsanwaltschaft und Polizei, hinsichtlich ihrer Verantwortung für die Durchführung von Strafverfahren vor neuen Herausforderungen steht. Sie stellen als Ermittlungsbehörden die primären Auskunftsquellen der Medien dar84, wenn wir zunächst einmal von medialen „Ermittdas „ ,Herzstück‘ des Strafverfahrens“. Weiterhin instruktiv Schwaighofer in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 239 ff. m. w. N., zur Bedeutung des Vorverfahrens im österreichischen Strafverfahren, insbesondere im Lichte aktueller Reformvorhaben. 81 Dazu auch Behrschmidt in: Dölling u. a. (Hrsg.), Kriminalberichterstattung, S. 335 m. w. N. 82 Vgl. verschiedene Einzelfallbeispiele unten: 5. Kap. B. II., III. 83 In: Rolinski-FS, S. 253 (255).

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1. Kap.: Einführung

lungen“ und Aktivitäten des Beschuldigten respektive seines Strafverteidigers absehen85. Zuvorderst gilt dies für die Staatsanwaltschaft als „Herrin“86 des Ermittlungsverfahrens. Nicht bestritten werden soll, dass mittlerweile die Polizei in den Bereichen „leichter“ und „mittlerer“ Kriminalität die hauptsächliche Ermittlungsarbeit leistet.87 Gleichwohl erscheint es sinnvoll, sich vorliegend primär auf die Staatsanwaltschaft zu konzentrieren: Verbleibt ihr doch in wichtigen Bereichen (wie beispielsweise bei Kapitalverbrechen oder schwerwiegenden Wirtschaftsstraftaten) ein eigener Ermittlungsbereich und ist sie unverändert in allen Bereichen für die übergeordnete Verfahrensleitung (§§ 160 Abs. 1, 161 Abs. 1, 163 Abs. 2 S. 1 StPO) verantwortlich. Zudem trifft sie die Abschlussentscheidung im Ermittlungsverfahren (vgl. § 170 StPO).88 Mit der staatsanwaltschaftlichen Auskunftskompetenz, die sachnah ihrer Ermittlungskompetenz folgt, korrespondiert ein medialer Auskunftsanspruch (vgl. z. B. §§ 4 Abs. 1, 23 Abs. 1 BerlPresseG). Schließlich ist die Berichterstattung über Ereignisse auf dem Gebiet nichtöffentlicher, strafjustizieller Ermittlungen Teil der informationellen Daseinsvorsorge, welche die Medien für die breite Bevölkerung leisten.89 Mithin steht die Staatsanwaltschaft an der Nahtstelle von nichtöffentlicher Strafverfolgung und Medienberichterstattung und ihr obliegt die verantwortungsvolle Aufgabe, ihre Öffentlichkeitsarbeit sorgfältig vorzubereiten und – im Hinblick auf die Wahrung einer effektiven Strafverfolgung und der Rechte des Beschuldigten – kontrolliert durchzuführen. Dabei droht ständig die Gefahr der Verursachung einer kommerziell motivierten90 und Verdacht schöpfenden Kriminalberichterstattung durch die Medien, die ihrerseits wiederum zu einer öffentlichen 84 Sicherlich kommen als Auskunftsquellen auch die anderen Ermittlungsverfahrensbeteiligten in Betracht. In diese Richtung zielt Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 50 ff., der insbesondere den Beschuldigten selbst und seinen Strafverteidiger im Auge hat. Dennoch werden die Ermittlungsbehörden kraft ihrer Verfahrensstellung grundsätzlich immer am umfassendsten informiert sein. Zudem kann der Strafverteidiger sehr leicht aus dem Informationskreislauf ausgeschlossen werden, vgl. § 147 Abs. 2 StPO [dazu später noch ausführlicher: 7. Kap. A. III., B. I. 1. a)]. 85 Teilweise werden die Anwälte als „beste Quellen“ bezeichnet (Joachim Sobotta in: Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 14). Dagegen wiederum Gatzweiler in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien, S. 212 ff. Eingehender hierzu auch später: 5. Kap. B. I., 7. Kap. B. III. 1. 86 Hierzu unten ausführlicher: 4. Kap. C. I. 1. 87 Zur Polizei als Auskunftsquelle: Gross in: Hanack-FS, S. 39; Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 42 ff. Miklau in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 297 ff. m. w. N., ausführlich zum Verhältnis Staatsanwaltschaft – Polizei im österreichischen Strafverfahren. 88 Eingehender Kühne, Strafprozessrecht, Rndnrn. 131 ff. m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 34 m. w. N.; Wache in: KK, StPO, § 160, Rndnrn. 4 f. m. w. N.; krit. zu dieser Begrifflichkeit: Rieß in: LK, StPO, Vor § 158, Rndnr. 22 m. w. N. 89 Vgl. ausführlicher unten: 3. Kap. D. II. 2. 3., 4. Kap. A. II., 5. Kap. A. I. 1., 6. Kap. A. II. 3. 90 Hierzu bereits oben: 1. Kap. A., B. I.

C. Konsequenzen

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Etikettierung des Beschuldigten mit dem Stigma91 des „Kriminellen“ führen kann.92 Die Auswahl veröffentlichungsfähiger (vielleicht sogar: veröffentlichungspflichtiger) Informationen ist dementsprechend eine äußerst prekäre Angelegenheit. Dies gilt in besonderem Maße für den Fall, dass zusätzlich der öffentliche Druck zunimmt, weil die Staatsanwaltschaft bei ihrer Tätigkeit von den Medien ins Visier genommen worden ist. In diesem Fall kann die Abwägung zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse und dem individuellen Beschuldigteninteresse93, aber auch dem übergeordneten Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege, schnell zur Wanderung auf einem sehr schmalen Grat werden: Der Sorge vor „zu viel Öffentlichkeit“94 wird mit der Forderung, „mehr Öffentlichkeit“95 zu „wagen“96, begegnet. Während durch eine „größere Öffentlichkeit“97 sehr schnell die individuellen Beschuldigtenbelange verletzt werden können, gefährdet eine „zu kleine Öffentlichkeit“ rechtsstaatliche Grundsicherungen und die repräsentativ-demokratische Staatsorganisation98. Schließlich ist zu bedenken, dass der Beschuldigte gleichsam durch wie auch vor Öffentlichkeit geschützt werden muss. Im Ergebnis sind daher zwischen umfassender Auskunftsverweigerung und ausführlicher Auskunftserteilung verschiedenste Varianten staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit denkbar: Einerseits kann Öffentlichkeitsarbeit generell der Befriedigung des öffentlichen Informationsinteresses99 oder speziell der Verstärkung der öffentlichen Wahrnehmung der staatlichen Straf91 Während der Begriff des „Stigma“ in seiner ursprünglichen Bedeutung ein körperliches Zeichen mit „negativem Aussagewert“ bezeichnet und in speziell religionsgeschichtlicher Hinsicht ein Wundmal beschreibt, werden „Stigmata“ in der neueren Sozialwissenschaft als gesellschaftlich negativ bewertete Merkmale, Eigenschaften oder Verhaltensweisen einer Person oder Gruppe verstanden (vgl. Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 16 m. w. N.). 92 Hierzu später noch detaillierter im Rahmen der Besprechung konkreter Einzelfallbeispiele staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit: 5. Kap. B. II., III. 93 Diesen beiden Interessenpositionen, welche die strafverfolgungsbehördliche Abwägungsentscheidung beherrschen, wollen wir uns erst zu einem späteren Zeitpunkt zuwenden (vgl. später: 5. Kap. A.). 94 Hamm, NJW 1995, S. 760 (761), der auf dem Standpunkt steht, dass Diktatoren im letzten Jahrhundert mit „zu viel Öffentlichkeit“ in Schauprozessen mehr Unheil angerichtet hätten als Demokratien selbst durch eine vollständige Abschaffung des Öffentlichkeitsprinzips jemals hätten bewirken können. 95 Prinz in: Der Spiegel spezial, Nr. 8 / 1995, Der Pranger, S. 55. 96 Gerhardt, ZRP 1993, S. 377 (382 m. w. N.); vehement dagegen bspw. Lohrmann, DRiZ 1995, S. 247. 97 Weidemann, DRiZ 1970, S. 114 (115). 98 Ausführlicher zur Demokratie- und Rechtsstaatsmaxime unten: 3. Kap. C. II., III. 99 Die breite Öffentlichkeit hat grundsätzlich einen weitreichenden Informationsanspruch (hierzu z. B. BVerfG, AfP 2000, S. 76 [80 m. w. N.]). 100 Wagner, Strafprozeßführung über Medien S. 24 f., 61 f., führt aus, dass sogar versucht werde, die Bevölkerung mittels Öffentlichkeitsarbeit zu erziehen. So sei wesentliches Motiv

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1. Kap.: Einführung

rechtspflege100 bzw. ihrer Unterstützung bei der Strafverfolgung101 dienen. Andererseits kann sie jedoch auch die Ermittlungen erschweren oder sogar vereiteln und zur öffentlichen Vorverurteilung des – möglicherweise unschuldigen – Beschuldigten führen, wenn die Gefahr der Entwicklung des Ermittlungsverfahrens zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“102 unterschätzt wird.

D. Forschungsstand und Gang der Untersuchung Bisher stellt sich folgendes Bild dar: Die Grenzen zulässiger Kriminalberichterstattung werden in unserer modernen Mediengesellschaft – ungeachtet selbst auferlegter Beschränkungen – oftmals nahezu zügellos überschritten. Die alltägliche Kriminalberichterstattung ist durch das Merkmal medialer Rücksichtslosigkeit geprägt.103 Hierfür ist u. a. ein gesellschaftlicher Wandel zur modernen Informationsund Mediengesellschaft ursächlich, in welcher den Medien die elementare Verantwortung zu informationeller Daseinsvorsorge zugewiesen ist.104 Die Medien orientieren sich ihrerseits – insbesondere auch wegen des hohen ökonomischen Drucks – an den Informationsbedürfnissen der Menschen. Dabei ist ein herausragender sozialer Stellenwert des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens von besonderer Bedeutung, erwarten die Menschen von der Strafjustiz doch die Lösung „gesellschaftlicher Großstörungen“105. Sie erwarten, dass „der Schuldige“ schnell aufgespürt und zur Rechenschaft gezogen wird. Das Ermittlungsverfahren soll insoweit die öffentliche Arena zur Austragung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und moralischer Konflikte darstellen. Dieser Entwicklung liegt eine zweckorientierte Umfunktionierung der Strafjustiz zum Instrument der Sozialsteuerung – der gesellschaftlichen Stabilisierung – zugrunde, wodurch die Strafjustiz ihrerseits wiederum unter erheblichen Zugzwang gesetzt wird.106 Demgemäß existiert ein außergewöhnliches Medieninteresse an der staatlichen Strafrechtspflege. Dieses mediale Interesse am Ermittlungsverfahren beeinflusst insbesondere die Arbeit der Staatsanwaltschaft, welche sich als federführende Erstaatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit in den „NS-Prozessen“ die Erzielung „nationalpädagogischer Effekte“ gewesen. 101 Denkbar etwa im Falle einer Fahndung oder eines öffentlichen Aufrufs zur Mithilfe durch die Mitteilung sachdienlicher Hinweise (vgl. instruktiv Ranft, StV 2002, S. 38 ff. m. w. N., zur Fahndung nach Beschuldigten und Zeugen nach dem „Strafverfahrensänderungsgesetz“ [StVÄG] 1999). 102 Dazu schon oben: 1. Kap. A. 103 Vgl. oben: 1. Kap. A. 104 Vgl. oben: 1. Kap. B. I. 105 Vgl. oben: 1. Kap. B. II. 106 Vgl. oben: 1. Kap. B. II.

D. Forschungsstand und Gang der Untersuchung

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mittlungsbehörde an der Nahtstelle von nichtöffentlicher Strafrechtspflege und öffentlicher Kriminalberichterstattung befindet. Als primärer Auskunftsquelle der Medien obliegt ihr die Aufgabe, ihre Öffentlichkeitsarbeit sorgfältig vorzubereiten und – mit Blick auf eine effektive Strafverfolgung bzw. die Wahrung der fairen Prägung des Strafverfahrens und der Beschuldigtenrechte – kontrolliert durchzuführen.107 Dabei muss insbesondere in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse die Gefahr der Entwicklung der Ermittlungen zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“108 berücksichtigt werden. Demzufolge existiert ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Gefahr der Entstehung einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren respektive einer Beeinträchtigung der fairen Durchführung des Strafverfahrens und der Intensität einer medienöffentlichen Strafrechtspflege. Insoweit schließt sich der Kreis unserer bisherigen Ausführungen: Dem Grunde nach geht es zunächst um den Aspekt der medienöffentlichen Strafrechtspflege, d. h. der Öffentlichkeit im Strafverfahren. In diesem Kontext wurde das Problem der öffentlichen Vorverurteilung durch Medienberichterstattung bereits zutreffend erkannt. Während der vergangenen Jahre verursachte es sodann einen intensiven rechtswissenschaftlichen Diskurs, in dessen Rahmen die belastenden Konsequenzen von medialer Kriminalberichterstattung zu Lasten des Betroffenen stets genauso im Mittelpunkt der Diskussion standen wie auch deren normative Rahmenbedingungen.109 Sogar die eventuelle Betroffenheit des Einzelnen durch die journalistische Recherche, welche zeitlich noch vor der eigentlichen Medienberichterstattung über Strafverfahren stattfindet, wurde vor einiger Zeit untersucht.110 Daneben wird auch in der politischen Diskussion – insbesondere in Bezug auf aufsehenerregende Strafverfahren – immer wieder vor der Gefahr einer „Vorverurteilung“111 gewarnt. Vgl. oben: 1. Kap. C. Vgl. oben: 1. Kap. A., C. 109 Ahrens, Persönlichkeitsrecht und Medienberichterstattung (2002); Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre (1970); von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien (1979); Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz (1982); ders., Kriminalberichterstattung (1985); Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens (1980); Braun, Medienberichterstattung (1998); Brink, Die „Relative Person der Zeitgeschichte“ (2001); Dölling u. a. (Hrsg.), Kriminalberichterstattung (1998); Engau, Personen der Zeitgeschichte (1993); Eser / Meyer, Öffentliche Vorverurteilung (1986); Gronau, Personen der Zeitgeschichte (2002); Hünig, Probleme des Schutzes des Beschuldigten (1973); Ionescu, Kriminalberichterstattung (1996); Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz (1982); Kühl in: Müller-Dietz FS (2001), S. 401 ff.; Peters in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien (2000), S. 150 ff.; Reiß, Störung der Strafrechtspflege (1975); Schulz, Medienberichterstattung (2002); Schumacher, Medienberichterstattung (2001); Soehring, Vorverurteilung (1999); Stapper, Namensnennung (1995); Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte (1982); Zitscher, Presse und Strafrichter (1968). 110 Rose, Grenzen journalistischer Recherche (2001). 111 So jüngst Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 21. September 2003, Titelseite, im Zusammenhang mit der Zulassung der Anklage in der sog. „Affäre Mannesmann“. Einen Tag später wird Bundesfinanzminister Hans Eichel 107 108

46

1. Kap.: Einführung

Gleichwohl haben unsere bisherigen Ausführungen einen weiteren Aspekt des Problems der öffentlichen Vorverurteilung zu Tage gefördert: Eine öffentliche Vorverurteilung respektive ein unfairer Ablauf des Strafverfahrens drohen nicht mehr erst im Hauptverfahren, d. h. im eigentlichen „Strafprozess“. Vielmehr setzt die „Informationshatz“ der Medien in unserer modernen Mediengesellschaft mittlerweile schon deutlich früher, im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, ein. Dort fungieren die Strafverfolgungsbehörden als maßgebliche Auskunftsquelle. Dementsprechend erkannte Gerhard Ulsamer bereits vor einiger Zeit zutreffend, „daß die Medien über Ermittlungsverfahren nur in dem Umfang berichten können, in dem sie zuvor – rechtmäßig oder rechtswidrig – informiert worden sind. Informanten sind in aller Regel staatliche Stellen. An dieser Erkenntnis müssen die Überlegungen darüber anknüpfen, wie im demokratischen Rechtsstaat die Belange des von einem Ermittlungsverfahren Betroffenen gegen Medienberichterstattung, die zu einer (. . . ) Bloßstellung und meist irreparablen Schädigung des Beschuldigten und zu einer öffentlichen Vorverurteilung führen, geschützt werden können. Wird der Informationsfluss zwischen staatlichen Stellen und Medien in diesem Bereich entscheidend gedrosselt, so wird zugleich ungerechtfertigter Medienberichterstattung der Boden entzogen (. . . )“112.

Obgleich in Wissenschaft und Politik schon seit Jahren kontrovers über Ansätze einer Reform des Ermittlungsverfahrens diskutiert wird113, erfuhr dieser Aspekt mit dem Hinweis auf die Unschuldsvermutung, die bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens gelte, zitiert (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. September 2003, S. 11). Vgl. weitere Nachweise zur Medienberichterstattung in diesem Fall in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 20. September 2003, Titelseite, S. 11; 21. September 2003, S. 43, wo über einer jeweiligen Abbildung des Angeklagten Klaus Zwickel der Titel „Der Lügner“ und des Angeklagten Klaus Esser der Titel „Der Helfer“ erscheint; 22. September 2003, Titelseite, S. 2, 11; 23. September 2003, Titelseite, S. 13; 25. September 2003, S. 18; 28. September 2003, S. 37, wo zu der Frage „Haben Esser und Ackermann die Aktionäre geschädigt?“ die unterschiedlichen Auffassungen der Herren Professoren Ekkehard Wenger und Wolfgang Gerke abgedruckt wurden. Siehe weiterhin Der Tagesspiegel, 21. September 2003, S. 22. Eingehender zur sog. „Affäre Mannesmann“ außerdem auch später: 5. Kap. B. III. 2. a) ff). Im „Fall Friedman“ sprach Friedmans Strafverteidiger Eckhard Hild sogar von einer „öffentlichen Hinrichtung“ seines Mandanten (Die Welt, 20. Juni, S. 4; 3. Juli 2003, S. 4; Der Tagesspiegel, 20. Juni 2003. Weiterhin auch schon oben: 1. Kap. A.). 112 In: Jauch-FS, S. 221 (223 f. m. w. N.). Ähnlich Gatzweiler, Stra.F.o 1995, S. 64: Es sind „Pressemitteilungen von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaften bis hin zu Pressekonferenzen im Ermittlungsverfahren (. . . ), die in teilweise verheerender Weise Vorverurteilungscharakter gewinnen, die betroffenen Mitbürger oft irreparabel stigmatisieren (. . . ).“ 113 Siehe zuletzt Bannenberg / Baumann u. a., Reform des Ermittlungsverfahrens (2001); Beulke in: Riess-FS, S. 3 ff. m. w. N.; Dedy, Reform des Ermittlungsverfahrens (2002); Heghmanns, JA 2002, S. 985 ff. m. w. N.; Ignor / Matt, StV 2002, S. 102 (105 f. m. w. N.); Krehl, Neuregelung des Ermittlungsverfahrens (2002); Rieß in: Schlüchter-FS, S. 15 ff. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht (1998), 7. Kap., § 37, Rndnr. 29; Salditt, StV 2001, S. 311 ff. m. w. N.; Schöch in: Schlüchter-GS, S. 29 ff. m. w. N. Ferner schon Beulke, Der Verteidiger (1980), S. 244 ff. m. w. N.; Dahs, NJW 1985, S. 1113; Müller, NJW 1981, S. 1801 (1805 ff. m. w. N.); ders., AnwBl. 1986, S. 50 ff. m. w. N.; Richter II, StV 1985, S. 382 (387 ff. m. w. N.); Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007 (1991), S. 80 ff.; ders. in: Brauneck-EG, S. 501 ff. m. w. N. Vgl. zur politischen Diskussion etwa den Beschluss der

D. Forschungsstand und Gang der Untersuchung

47

einer frühzeitig drohenden Vorverurteilung des Beschuldigten durch staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren bisher nur eine untergeordnete Berücksichtigung.114 Daneben blieb die Diskussion über Umfang und Grenzen einer medienöffentlichen Strafrechtspflege bisher klassischerweise auf die strafgerichtliche Öffentlichkeit (vgl. § 169 S. 1 GVG) beschränkt115. Mithin fehlt im Kontext des Diskurses über die Problematik einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren bisher ein Beitrag, welcher vor dem Hintergrund einer eingehenden Befassung mit dem prinzipiellen Aspekt einer medienöffentlichen Strafrechtspflege eine detaillierte Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen116, aber auch der Rechtswirklichkeit117 staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit, leistet. An diese Erörterungen anknüpfend soll nunmehr der Gang der folgenden Untersuchung festgelegt werden: Zuerst werden wir im Zweiten Kapitel den Sinngehalt des Begriffs „Öffentlichkeit“ etymologisch und rechtlich konkretisieren, um eine erste Vorstellung von Bedeutungs- und Funktionskraft von „Öffentlichkeit“ zu erhalten. Diese Erörterungen hierzu werden uns zunächst zur Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit führen. Wir werden sodann deren Funktionen aus rechtshistorischer Perspektive genauer bestimmen. Das Ziel dieser Ausführungen ist, eine exaktere Vorstellung eines Konzeptes von „Öffentlichkeit“ – in Gestalt der Funktionsreichweite der Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit – zu erarbeiten. Hierzu werden im Dritten Kapitel die der rechtshistorischen Entwicklung zugrunde Bundesregierung „Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens“, abgedruckt in: StV 2001, S. 314 ff.; Däubler-Gmelin, StV 2001, S. 359 ff. Dazu wiederum z. B. Salditt, StV 2001, S. 311 ff. m. w. N. 114 Bisher eingehender nur Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten (1994); Hamm, Große Strafprozesse (1997), S. 9, 117 ff.; Herzog, Solidarität unter Verdacht (1995); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz (1985); Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen (1998); Ostendorf, GA 1980, S. 445 ff.; Wagner, Strafprozessführung über Medien (1987). 115 Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal (1999); Franke, Bildberichterstattung (1978); Hagedorn, Ausschluß der Öffentlichkeit (1999); Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive (1971); Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative (1999); Nestler in: KritV 2000, S. 139 ff.; ders. in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität in den Medien, S. 139 ff.; Rohde, Öffentlichkeit (1972); Scherer, Gerichtsöffentlichkeit (1980); Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit (1977); Stutz, Zurückdrängung des Öffentlichkeitsprinzips (1992); Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz (1966); Witzler, Die personale Öffentlichkeit (1993). Weiterhin zur schweizerischen Perspektive: Bommer in: Trechsel-FS, S. 671 ff. 116 Isoliert zu diesem Aspekt bisher nur Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten (1994); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz (1985); Kühl in: Hubmann-FS, S. 241 (252 f.); Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen (1998); Ostendorf, GA 1980, S. 445 ff. 117 Vgl. zu diesem Aspekt, der grundsätzlich nicht von der rechtlichen Frage der normativen Rahmenbedingungen getrennt werden kann, bisher nur: Herzog, Solidarität unter Verdacht (1995), zur Aufarbeitung der Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im „Fall co op“ [zu diesem detaillierter unten: 5. Kap. B. III. 1. a) ee)]. Weiterhin finden sich bei Hamm, Große Strafprozesse (1996), S. 9, 117 ff., instruktive, praktische Gedanken zum „konspirativen Zusammenwirken“ von Staatsanwälten und Journalisten. Hierzu insgesamt eingehender auch Wagner, Strafprozeßführung über Medien (1987).

48

1. Kap.: Einführung

liegenden gesellschaftlichen Entwicklungen untersucht. Insgesamt werden uns diese Erörterungen zur verfassungsrechtlichen Prägung der Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit führen. Wir wollen diese Ausführungen mit einigen Überlegungen zur Funktion medienöffentlicher Strafrechtspflege in unserer modernen Mediengesellschaft beschließen. Den bis dahin entwickelten Überlegungen werden wir hiernach im Vierten Kapitel die Nichtöffentlichkeit des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens entgegensetzen. In diesem Rahmen wird uns zuvorderst dessen rechtshistorische Entwicklung interessieren, bevor wir anschließend einige Ausführungen zur verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens machen werden. Abschließen werden wir dieses Kapitel mit einigen Überlegungen zu drohenden privaten, sozialen und beruflichen Konsequenzen der bloßen Existenz eines Ermittlungsverfahrens in unserer Mediengesellschaft, uns zudem aber auch mit dessen in strafprozessualer Hinsicht dominierenden Prägung beschäftigen. Im Fünften Kapitel werden wir zuerst den rechtlichen Rahmen strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren ermitteln. Diese Erwägungen werden wir anschließend durch die Darstellung eines „Straußes“ verschiedener Gruppen rechtswirklicher Einzelfallbeispiele ergänzen. Wir werden erarbeiten, dass die rechtswirkliche Praxis staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit einerseits in individueller Hinsicht oftmals die konkrete Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung als „Krimineller“ in sich birgt. Andererseits wird deutlich werden, dass in institutioneller Hinsicht die akute Gefahr der Beschädigung der fairen Prägung des Strafverfahrens droht. Deshalb wird es im Sechsten Kapitel um eine Bestandsaufnahme des diesbezüglichen Rechtsschutzes des Beschuldigten gehen. Da wir dort ein besorgniserregendes Rechtsschutzdefizit feststellen werden, wollen wir im abschließenden Siebten Kapitel konkrete Ansätze zur Verbesserung des Beschuldigtenschutzes und zur Sicherung der fairen Prägung des Strafverfahrens durch eigene Reformüberlegungen vorschlagen.

E. Zwischenergebnis zum Ersten Kapitel I. Sowohl im Bereich der journalistischen Recherche als auch auf dem Gebiet der anschließenden Medienberichterstattung werden die Grenzen zulässiger (Kriminal)Berichterstattung – ungeachtet selbst auferlegter Beschränkungen – in vielen Fällen nahezu zügellos überschritten. Demgemäß ist mediale Rücksichtslosigkeit in weiten Teilen mittlerweile prägendes Merkmal alltäglicher Kriminalberichterstattung. Tritt eine offensive Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft hinzu, wird eine ohnehin bereits vorurteilsvolle Kriminalberichterstattung der Medien, insbesondere in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse, oft-

E. Zwischenergebnis zum Ersten Kapitel

49

mals zusätzlich angefacht. Unter derartigen Umständen entsteht schnell ein Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung. Hierbei droht die Gefahr, dass das Ermittlungsverfahren zur einseitig-öffentlichen Untersuchung – zur „Inquisition“ – ausartet.118

II. 1. Ursächlich hierfür sind vor allem gesellschaftliche Faktoren: Einerseits stehen die Medien nach dem Eintritt unserer Gesellschaft in das moderne Informationsund Medienzeitalter aufgrund harter Wettbewerbsbedingungen auf dem Nachrichtenmarkt unter erheblichem ökonomischen Druck. 2. Andererseits richten sich die Medien aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zu informationeller Daseinsvorsorge an den Bedürfnissen der Menschen aus. Momentan sorgen sich die Menschen angesichts eines Prozesses gesellschaftlicher Destabilisierung. Der Politik gelingt es nicht, lähmende Reformblockaden zu überwinden und gesellschaftliche Strukturdefizite zu beheben. Um dennoch Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wird die Strafjustiz zweckorientiert zum Instrument der Sozialsteuerung – der gesellschaftlichen Stabilisierung – umfunktioniert; politische, ökonomische und moralische „Brandherde“ sollen so auf individuelle Verantwortung reduziert werden. An dieser Aufgabe muss die Strafjustiz, soll sie doch individuelle Konflikte zwischen Menschen lösen, zwangsläufig scheitern.119

III. 1. Dennoch wird die Strafjustiz hierdurch unter massiven Zugzwang gesetzt: Mit der hohen Erwartung der Menschen, „den Schuldigen“ schnell zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, korrespondiert ein gesteigerter sozialer Stellenwert des Ermittlungsverfahrens und ein höherer Anteil von Kriminalberichterstattung der Medien im Rahmen ihrer informationellen Daseinsvorsorge. Dabei ermöglichen Informationen über die frühen strafjustiziellen Ermittlungen die aktuellsten und sensationellsten Nachrichten. 2. Insoweit steht die Strafjustiz in Gestalt der Strafverfolgungsbehörden, d. h. Staatsanwaltschaft und Polizei, im Hinblick auf ihre Verantwortung für die Durchführung von Ermittlungsverfahren vor neuen Herausforderungen. Speziell die Staatsanwaltschaft stellt für die Medien die primäre Auskunftsquelle dar. Sie befindet sich an der Nahtstelle zwischen nichtöffentlicher Strafrechtspflege und media118 119

1. Kap. A. 1. Kap. B.

4 Neuling

50

1. Kap.: Einführung

ler Kriminalberichterstattung. Ihr obliegt die verantwortungsvolle Aufgabe, ihre Öffentlichkeitsarbeit sorgfältig vorzubereiten und – mit Blick auf eine effektive Strafverfolgung und die Wahrung der Rechte des Beschuldigten – kontrolliert durchzuführen. Hierbei ist insbesondere in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse die Gefahr einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“ zu berücksichtigen.120

120

1. Kap. C.

Zweites Kapitel

Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit als prägendes Element des reformierten Strafprozesses im liberalen Rechtsstaat Wir werden uns in diesem Kapitel zunächst der etymologischen (A.) und rechtlichen (B.) Konkretisierung des Sinngehaltes des Begriffes der „Öffentlichkeit“ zuwenden, um einen ersten Umriss der Bedeutungs- und Funktionskraft von „Öffentlichkeit“ zu erarbeiten. Diese Erörterungen werden uns zunächst zur Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit führen. Deren Funktionen wollen wir schließlich aus rechtshistorischer Perspektive bestimmen (C.). Hierdurch werden wir eine weitergehende Vorstellung von „Öffentlichkeit“, in Gestalt der Funktionsreichweite prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit, erhalten.

A. Etymologische Konkretisierung des Begriffes „Öffentlichkeit“ I. „Öffentlich“ Der Begriff „Öffentlichkeit“ wurde als Bezeichnung der Eigenschaft einer Sache, welche „,öffentlich‘ ist oder geschieht“1, erstmals 1777 erwähnt. Der Sinngehalt des Begriffes der „Öffentlichkeit“ steht mit dem Wort „öffentlich“ in Zusammenhang und lässt sich demgemäß auf dessen Hintergrund entwickeln.2 Wenden wir uns insofern zunächst dem Begriff „öffentlich“ zu. Im Sinne einer sphärischen Unterscheidung ist dieser, ebenso wie die Bezeichnung „privat“, griechischen Ursprungs. Schon in den griechischen Stadtstaaten unterschied man die Sphäre der „polis“3, welche den freien Bürgern gemeinsam war, von der Sphäre des „oikos“4, welche wiederum jedem einzelnen Bürger vorbehalten war.5 Weiterhin kann das Adjektiv 1 2 3 4 5

4*

Blesenkemper, Public age, S. 1. Dazu Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 4. Griech.: „Stadt“. Griech.: „Haus“. Hierzu eingehend Habermas, Strukturwandel, S. 15.

52

2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

„öffentlich“ auf den Begriff „offen“ zurückgeführt werden.6 „Offen“ stand, was die Menschen sehen und hören konnten7, was für sie sichtbar, zugänglich oder sonst wie wahrnehmbar war8. Das Adjektiv „öffentlich“ drückte zunächst also das „Offensein“ von Umständen und Geschehnissen insofern aus, als diese für die Menschen wahrnehmbar waren. Hierzu im Gegensatz standen die Begriffe der „Heimlichkeit“, „Geheimheit“ und „Verschwiegenheit“.9 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm der Begriff „öffentlich“ dann – über seine schlichte Fortbildung als Adjektiv „offen“ (alt- und mittelhochdeutsch: „offanlich“ und „offenlich“10) hinaus – weitere Begriffsinhalte an.11 Wurde „öffentlich“ zunächst noch gemeinsam mit dem Ausdruck „gemein“ verwendet, ersetzte er „gemein“ schließlich ganz.12 Der Begriff „gemein“ war seinerseits wiederum durch einen weitergehenden Bedeutungsgehalt charakterisiert13, welcher sich unter anderem in der Übersetzung des ebenfalls mehrdeutigen Terminus „publicus“14 erschöpft hat15. Der Begriff „öffentlich“ besaß nunmehr einen über die Beschreibung des „Offenen“ hinausgehenden Sinngehalt, der sich – als Gegensatz zur Bezeichnung privat – auf das Gemeinwesen und den Staat erstreckte.16 Schließlich fand die Bezeichnung „öffentlich“ auch Eingang in die gesetzgeberische Sprache – und zwar zunächst im Wortlaut des „Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten“ (ALR). Das ALR markierte damals einen Höhepunkt gesetzgeberischer Kodifikationsbemühungen. In Verbindung mit dem Begriff „Publikum“, welcher sich Mitte des Jahrhunderts eingebürgert und auch Eingang in das ALR gefunden hatte, bedeutet „öffentlich“ zunächst wieder die Wahrnehmbarkeit konkreter Umstände und Geschehnisse. Darüber hinaus nahm „öffentlich“ – in Kongruenz zu „staatlich“ –

6 Vgl. Martens, Öffentlich, S. 24 m. w. N.; Scholler, Person und Öffentlichkeit, S. 74 m. w. N. 7 Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch, „Öffentlichkeit“ (S. 895 f.). 8 Heyse, Handwörterbuch, 2. Bd., „offen“ (S. 308 [310]). Vgl. auch Martens, Öffentlich, S. 22 ff.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 5 m. w. N. 9 Martens, Öffentlich, S. 24. 10 Gebr. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 13. Bd., „öffentlich“ (Sp. 1180). 11 So auch Rohde, Öffentlichkeit, S. 5. 12 Dazu Martens, Öffentlich, S. 25 m. w. N. 13 Eingehender Gebr. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 5. Bd., „gemein“, Sp. 3169 ff., zur Bedeutungsvielfalt des Begriffes „gemein“. 14 Der Begriff „publicus“ leitet sich von „populus“ ab und ist in seiner Bedeutung vielfältig: Unter anderem bezeichnete „populus“ die „Bürgerschaft im Sinne der Gesamtheit der Vollfreien“ – „populus romanus“ bezeichnete das römische Gemeinwesen. Als Gegenbegriff zu „publicus“ bezeichnete der Ausdruck „privatus“ „die Zugehörigkeit zum Individuum und zur Summe der isoliert vorgestellten Einzelnen ( . . . ) in Bezug auf die Sphäre von Haus und Familie“ (Martens, Öffentlich, S. 26 ff. m. w. N.; Wyduckel, Ius Publicum, S. 27 f. m. w. N.). 15 Bereits seit dem 16. Jahrhundert wurde „publicus“ zwar mit „gemein“, vereinzelt jedoch auch schon mit „öffentlich“ übersetzt (Martens, Öffentlich, S. 32 m. w. N.). 16 Hierzu Hölscher, Öffentlichkeit, S. 57 m. w. N.; Martens, Öffentlich, S. 29, 32; Rohde, Öffentlichkeit, S. 5 m.w.N; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 33 f. m. w. N.

A. Etymologische Konkretisierung des Begriffes „Öffentlichkeit“

53

die Bedeutung für die Zuordnung eines konkreten Sachverhaltes von Rechts wegen zum Bereich staatlichen Einflusses an.17 Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts wurde „öffentlich“ dann unverändert gebraucht: einerseits zur Beschreibung des Gegensatzes zu geheim, d. h. zur Bezeichnung eines für jedermann wahrnehmbaren Umstandes oder Geschehens; andererseits zur Erfassung der umfassenden bürgerlichen Gesellschaft – der Gemeinschaft – respektive des Zustands „staatlichen“ Ursprungs, des „staatlichen“ Bezugs und der „staatlichen“ Befasstheit.18

II. „Öffentlichkeit“ Bis in das 18. Jahrhundert hinein existierte das Substantiv „Öffentlichkeit“ in keiner europäischen Sprache.19 Es entstand durch die Anfügung des Suffixes „-keit“ an das Adjektiv „öffentlich“ und wurde zuallererst gemeinsam mit dem eingedeutschten Begriff „Publicität“20 verwendet. „Publicität“ bedeutete damals „die Eigenschaft einer Sache, da sie öffentlich ist“21. Weiterhin wurde – bedeutete „öffentlich“ doch auch „staatlich“22 – der Begriff des „Öffentlichen“ gebräuchlich.23 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Begriff „Öffentlichkeit“ zu einem Schlagwort mit politischer und sozialer Bedeutungskomponente. „Öffentlichkeit“ bezeichnete nunmehr einen konkreten Wert, welcher – mit „Publicität“ gleichgesetzt24 – bestimmte geistige Wertinhalte (scil. Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit) verkörperte. Im Bedeutungsmittelpunkt stand „das Sichtbarmachen von Maximen und Taten im Bereich politischen Handelns“25. In der jüngeren Vergangenheit wurde „Öffentlichkeit“ zunehmend auch mit „Transparenz“ gleichgesetzt. „Transparenz“ gilt seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts als politische 17 Vgl. Rohde, Öffentlichkeit, S. 5 m. w. N. Sehr detailliert auch Martens, Öffentlich, S. 33 ff. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 33 f. m. w. N. 18 Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch, „Öffentlichkeit“ (S. 896). Eingehender Brockhaus, Enzyklopädie, 16. Bd., „Öffentlichkeit“ (S. 124). Weiterhin Martens, Öffentlich, S. 22 f. m. w. N.; Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 462 (463 m. w. N.); Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 33 m. w. N. 19 Vgl. Hölscher, Öffentlichkeit, S. 11 ff. m. w. N. Siehe auch gerade oben: 2. Kap. A. I. 20 Der Begriff „Publicität“ entstammt dem englischen „publicity“ bzw. dem französischen „publicité“. Campe, Wörterbuch, „Publicität“, S. 557, kritisierte eine derartige „Verdeutschung“. 21 Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 9. 22 Dazu schon gerade: 2. Kap. A. I. 23 Vgl. Blesenkemper, Public age, S. 27. 24 Campe, Wörterbuch, „Publicität“, S. 557; Martens, Öffentlichkeit, S. 44 m. w. N. 25 Blesenkemper, Public age, S. 30 f. m. w. N. Zum rechtshistorischen Hintergrund sogleich: 2. Kap. C.

54

2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

Forderung für die Durchschaubarkeit von Entscheidungsprozessen.26Hierdurch soll garantiert werden, dass sich der einzelne Staatsbürger eine individuelle Meinung über Sachverhalte und Geschehnisse in den verschiedenen gesellschaftlichen und staatlichen Teilbereichen bilden kann. Insoweit wird „Öffentlichkeit“ im Sinne von „Transparenz“ nunmehr als maßgeblicher Faktor zur Kontrolle innerhalb der repräsentativ-demokratischen Staatsorganisation27 aufgefasst.

III. Zusammenfassung „Öffentlichkeit“ bedeutet die grundsätzliche Möglichkeit des einzelnen Staatsbürgers zur umfassenden Kenntnisnahme von gesellschaftlichen und staatlichen Sachverhalten und Geschehnissen durch deren freie Zugänglichkeit.28 „Öffentlichkeit“ meint zudem deren allgemeine Kundbarmachung.29 „Öffentlichkeit“ beschreibt somit das Wechselverhältnis zwischen den Rechten des Einzelnen und seinem sozialen Umfeld bzw. den staatlichen Handlungsebenen.

B. Rechtliche Konkretisierung des Begriffes „Öffentlichkeit“ Wenden wir uns nun der Frage zu, inwiefern dieser etymologische Sinngehalt von „Öffentlichkeit“ Eingang in unsere heutige Rechtsordnung gefunden hat. Zunächst ist festzustellen, dass eine prinzipielle Normierung von „Öffentlichkeit“ in Gestalt einer verfassungsunmittelbaren Gewährung zu Gunsten des einzelnen Staatsbürgers in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland fehlt. Gleichwohl hat der Sinngehalt von „Öffentlichkeit“ an vielen Stellen seinen normativen Niederschlag gefunden.30 So besteht etwa für politische Parteien die Pflicht, über die Herkunft ihrer Mittel „öffentlich“ Rechenschaft abzulegen (vgl. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG) oder die Vorgabe für Bundestag, Bundesrat und parlamentarische Untersuchungsausschüsse, „öffentlich“ zu verhandeln (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 S. 3, 44 Abs. 1 S. 1 GG). Die deutsche Verfassung erlegt einigen Verfassungsorganen somit zwar die Verpflichtung auf, ihr Handeln gegenüber der breiten 26 Vgl. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 2 ff. m. w. N.; Schulz / Basler, Deutsches Fremdwörterbuch, 5. Bd., S. 403 f. 27 Siehe auch Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 10 f. m. w. N., der sich einer Konkretisierung der Begriffe „Öffentlichkeit“ und „öffentlich“ ähnlich genähert hat (S. 4 ff. m. w. N.). Hierzu später noch ausführlicher: 3. Kap. C. II. 28 Ähnlich Martens, Öffentlich, S. 42 ff. m. w. N.; Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 462 (466); Rohde, Öffentlichkeit, S. 5 f. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 34 ff. m. w. N. 29 Hierzu auch Alwart, JZ 1990, S. 883 (884 m. w. N.). 30 Ausführlicher Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 364 ff.

B. Rechtliche Konkretisierung des Begriffes „Öffentlichkeit“

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Öffentlichkeit transparent zu gestalten; ein verfassungsunmittelbar normiertes Öffentlichkeitsprinzip existiert dennoch nicht. Einen weiteren Ansatzpunkt liefert Art. 33 Abs. 2, 3 S. 1 GG, welcher die Garantie eines jeden Deutschen auf gleichen Zugang zu jedem „öffentlichen Amt“ und die regelmäßige Übertragung der Ausübungskompetenz hoheitlicher Befugnisse auf den „öffentlichen Dienst“ normiert. Unsere Verfassung gibt an dieser Stelle zu erkennen, dass sich der Sinngehalt von „öffentlich“ in gleichem Maße auch auf das Merkmal „staatlich“ erstrecken soll. Insgesamt hinterlässt die Untersuchung unserer Verfassung eine gewisse Unsicherheit. Einerseits hat der Sinngehalt von „Öffentlichkeit“ insofern eine verfassungsunmittelbare Ausprägung erfahren, als beispielsweise ein Publizitätsgebot für Handlungen einzelner Staatsorgane existiert. Dagegen existiert in unserer Verfassung andererseits wiederum kein Anknüpfungspunkt für die Annahme einer prinzipiellen Öffentlichkeitsmaxime aller drei Staatsgewalten.31 Hiernach wird nunmehr die Strafprozessordnung als strafprozessuales „Feld“ der vorliegenden Untersuchung bedeutsam. Die StPO normiert, dass von der Verfolgung einer Straftat abgesehen werden kann, wenn an der Verfolgung kein „öffentliches Interesse“ besteht (vgl. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO). Weiterhin kann das „öffentliche Interesse“ an der Verfolgung einer konkreten Straftat durch Auflagen und Weisungen entfallen (vgl. § 153a Abs. 1 S. 1 StPO). In diesen Fällen ist das „öffentliche Interesse“ Tatbestandsmerkmal.32 Erkennbar ist hierbei der Regelungsgedanke, dass die Verfolgung einer Straftat erst ab einer bestimmten Schwere im „öffentlichen Interesse“ liegen soll.33 Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet das Strafbefehlsverfahren (vgl. §§ 407 – 412 StPO). Im Gegensatz zu den Fällen der §§ 153 f. StPO liegt dort ein „öffentliches Interesse“ an der Verfolgung einer Straftat zwar vor; allerdings besteht dieses in Fällen „leichter“ und „mittlerer“ Kriminalität nicht zwingenderweise auch an der Durchführung einer „öffentlichen“ Hauptverhandlung.34 Im Strafverfahrensrecht gilt daher: Je schwerwiegender eine Straftat die Belange der Allgemeinheit tangiert, desto eher ergibt sich die Notwendigkeit der Einbeziehung der breiten „Öffentlichkeit“ in den Ahndungsprozess. Im Strafprozessrecht ist der normative Bedeutungsgehalt von „Öffentlichkeit“ mithin dispositiven Charakters.35 31 Eine landesverfassungsrechtliche Ausnahme bildet lediglich Art. 90 BayVerf (dazu Schroeder in: Eser / Kaiser [Hrsg.], Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 [142]). 32 Dieses wird in Beziehung zu Tat, Person des Täters und den Belangen der Allgemeinheit gesetzt. Sodann wird ermittelt, ob ein „öffentliches Interesse“ im konkreten Fall vorliegt (vgl. Schoreit in: KK, StPO, § 153, Rndnrn. 21 ff. m. w. N.). Siehe auch die Richtschnur der Ziffn. 229 Abs. 1, 232 Abs. 1, 233, 234 Abs. 1, 243 Abs. 3 RiStBV. 33 Siehe dazu auch die Privatklage (§§ 374, 376 StPO). Die Staatsanwaltschaft erhebt die öffentliche Klage in den Fällen der Katalogstraftaten des § 374 StPO nur bei Vorliegen eines „öffentlichen Interesses“ (vgl. § 376 StPO). 34 Vgl. § 407 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 StPO. Hiernach darf die Staatsanwaltschaft eine „öffentliche“ Hauptverhandlung in bestimmten Fällen für nicht erforderlich halten und dennoch bestimmte Rechtsfolgen festsetzen (vgl. auch Fischer in: KK, StPO, § 407, Rndnr. 2 m. w. N.). 35 So auch Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 39.

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

In ganz herausragendem Maße prägt der Sinngehalt „Öffentlichkeit“ schließlich (schon aufgrund seiner Bezeichnung) die Öffentlichkeitsmaxime des § 169 S. 1 GVG36, welche die prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit festschreibt. Hiernach ist die Verhandlung vor Gericht grundsätzlich „öffentlich“ durchzuführen. Demgemäß ist auch die strafgerichtliche Hauptverhandlung – der eigentliche „Strafprozess“ – grundsätzlich „öffentlich“ ausgestaltet.37 Ähnlich lautet daneben Art. 6 Abs. 1 S. 1, 2 EMRK.38 Obgleich diese Vorschriften keine Normierung einer übergeordneten Öffentlichkeitsmaxime darstellen, können wir immerhin festhalten, dass dem Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit eine gesetzlich nicht näher ausgeführte Vorstellung über Bedeutung und Funktionen eines solchen fundamentalen Publizitätsgebotes innewohnt, welche sowohl einer staatsrechtlichen als auch einer strafprozessrechtlichen Dimension entspringt.39

C. Rechtshistorische Konkretisierung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit Die bisherigen Erörterungen haben uns zur Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit geführt, welche in Gestalt der Öffentlichkeitsmaxime (vgl. § 169 S. 1 GVG) heutzutage die strafgerichtliche Hauptverhandlung, d. h. den eigentlichen 36 Ausführlich zur Öffentlichkeitsmaxime im Strafverfahren: Braun, Medienberichterstattung, S. 164 ff. m. w. N.; Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 313 ff. m. w. N. 37 § 169 S. 1 GVG normiert den Öffentlichkeitsgrundsatz für alle Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Hierzu gehört neben der Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten die Strafgerichtsbarkeit, §§ 2 EGGVG, 12 f. GVG (dazu Alwart, JZ 1990, S. 883 [884]; Ranft, Jura 1995, S. 573). Zu beachten sind gleichfalls die Ausnahmen der §§ 170 ff. GVG (dazu, aber auch zu existierenden Umgehungsgefahren, ausführlicher: Schroeder in: Eser / Kaiser [Hrsg.], Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 [144 ff.]). Jedenfalls aber erfolgt die Urteilsverkündung „öffentlich“ (vgl. § 173 Abs. 1 GVG). Wiederum eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellt z. B. § 48 Abs. 1 JGG dar. 38 Vgl. zu diesem Regelungsstandort auch Schroeder in: Eser / Kaiser (Hrsg.), Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 (142). Der Anwendungsbereich der EMRK erstreckt sich auch auf Entscheidungen über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen (Pieroth in: Erichsen / Kollhosser / Welp [Hrsg.], Recht der Persönlichkeit, S. 249 [267]). Die EMRK besitzt innerstaatliche Geltung (vgl. Zustimmungsgesetz vom 07. August 1952, BGBl., Teil II, S. 685), und zwar im Range eines einfachen Bundesgesetzes (BVerfGE 74, S. 358 [370 m. w. N.]; M-G, StPO, Vorbemerkungen zur EMRK, Rndnr. 3 m. w. N.). Grundsätzlich gilt, dass die Wertentscheidungen der EMRK bei der Auslegung des geltenden Rechts berücksichtigt werden müssen (vgl. hierzu insgesamt: M-G, StPO, Vorbemerkungen EMRK, Rndnr. 4 m. w. N.). Zur EMRK auch später noch ausführlicher: 5. Kap. A. II. 2. 39 Ähnlich Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 183 f. m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 193 ff., 237; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 37 ff., 62 ff. Vgl. insgesamt auch Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 37 ff. m. w. N.

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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„Strafprozess“, beherrscht.40 Insoweit wollen wir vorliegend zunächst von „Gerichtsöffentlichkeit“41 sprechen.

I. Das inquisitorische Strafverfahren des ausgehenden Mittelalters Bis in das 16. Jahrhundert hinein existierten verschiedene Sanktionssysteme nebeneinander: Fehde und Rache42 – insbesondere die Blutrache43 –, das Bußenstrafrecht44 (Kompositionensystem), die Kirchenbuße, aber auch die „peinliche“ Leibes- bzw. Lebensstrafe. Als öffentliches Strafrecht entwickelte sich das „peinliche“ Strafsystem im Hochmittelalter zum zentralen Sanktionsmechanismus und verdrängte allmählich die anderen Sanktionssysteme.45 Für diese Entwicklung des öffentlichen Strafrechts war insbesondere der starke Anstieg der Kriminalität46 von wesentlicher Bedeutung: Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der kräftig wachsenden Bevölkerung verschlimmerten sich zusehends; allenthalben lebten die Menschen in tiefer Armut und unglaublichem Elend.47 Ein äußerst strenges Strafrecht herrschte vor allem in den Städten. Dort war man bemüht, durch ein hartes Durchgreifen eine effektive Strafrechtspflege zu gewährleisten und hierdurch wiederum eine geordnete Verwaltung aufrechtzuerhalten. 48 Im Zuge dieser Entwicklungen veränderte sich auch die Verfahrensweise der Strafrechtspflege.49 Wurden die Gerichte im Mittelalter nur auf Bestrebungen des Dazu auch Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 31 m. w. N., 122 m. w. N. Von „Gerichtsöffentlichkeit“ im Sinne einer „unmittelbaren Öffentlichkeit“ durch unmittelbare Teilnahme am Gerichtsgeschehen kann die „mittelbare Öffentlichkeit“ im Sinne des „Verbreitens von Nachrichten über das Gesehene und Gehörte“ unterschieden werden (Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 84 ff. m. w. N.; von Feuerbach, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1. Bd., S. 25 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil III, Vorbemerkung zu den §§ 169 bis 175, Rndnrn. 2 ff. m. w. N.; Schroeder in: Eser / Kaiser [Hrsg.], Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 [143]; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 67 ff. m. w. N.). 42 Dazu Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 27. 43 Siehe hierzu Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 34 f. 44 Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, § 40. 45 Dazu ausführlicher Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 41 ff. 46 Zu diesem Aspekt schon Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 28. 47 Vgl. zu diesen Entwicklungen insgesamt: Willoweit (Hrsg.), Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 215 ff. Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 28, schildert, wie sich während der zweiten Hälfte des Mittelalters im Zuge der Städteentwicklung ein „fahrendes Volk“ herausgebildet habe, welches vornehmlich aus Vaganten, Spielleuten, gescheiterten Studenten und Bettlern bestanden habe. 48 Auch Eb. Schmidt, Geschichte, § 68. Vgl. ferner die instruktive Schilderung bei Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 28 ff. 49 So Eb. Schmidt, Geschichte, § 64. 40 41

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

Verletzten hin, eine Straftat zu ermitteln, tätig, hielt im Hochmittelalter der sog. „Inquisitionsprozess“50 Einzug, in dessen Rahmen von Amts wegen ermittelt wurde.51 Das inquisitorische Strafverfahren war dadurch gekennzeichnet, dass der „Inquirent“, d. h. der Richter, ex officio einschritt, indem er verhaftete, verhörte, beund schließlich ggf. verurteilte. Der schwere strukturelle Makel dieser Strafverfahrenskonzeption lag einerseits in der Befangenheit des Richters, der sich primär als Organ der Strafverfolgung fühlte, und andererseits in der Stellung des „Inquisitus“, d. h. des Verfolgten, als wehrloses Untersuchungsobjekt.52 Im inquisitorischen Strafverfahren fiel die gerichtliche Entscheidung bereits im geheimen Vorverfahren. Hinter den verschlossenen Türen der Amtsstuben und der Folterkammern der hoheitlichen Gefängnisse war es das vornehmliche Ziel des Inquirenten, mittels Anwendung der Folter während der sog. „peinlichen Befragung“ ein Geständnis zu produzieren.53 Darüber hinaus blieben die Namen des Richters und eventueller Zeugen, die schriftlich geladen und nichtöffentlich verhört wurden54, geheim. Lediglich der abschließende „endliche Rechtstag“55, welcher der Urteilsverkündung vorbehalten war, wurde öffentlich abgehalten.56 Ihm folgte zumeist die volksfestartig organisierte Bestrafung des Verurteilten.57 Insofern verbleibt die abschließende Feststellung, dass die herrschende Obrigkeit die Durchsetzung der Strafrechtspflege im Wege des inquisitorischen Strafverfahrens gegenüber der Öffentlichkeit nahezu hermetisch abriegelte.58 50 „Inquisition“ (lat.): das Aufspüren, die Untersuchung; „inquirere“ (lat.): aufsuchen, nachspüren, Straftatbestände erforschen (vgl. detaillierter Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 12. Bd., „Inquisition“). Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 70 ff., zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung des „Inquisitionsprozesses“; weiterhin auch Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnrn 28 ff. m. w. N. 51 Vgl. Braun, Medienberichterstattung, S. 48; Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 64 f. Zwar würde ein früheres Einsetzen die rechtshistorische Entwicklung des Öffentlichkeitsverständnisses eingehender verdeutlichen. Mit Rücksicht auf die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit und aus Gründen ihrer inhaltlichen Gewichtung soll an dieser Stelle trotzdem auf eine detailliertere Darstellung verzichtet werden (detaillierter jedoch Alber, Geschichte der Öffentlichkeit; Fögen, Gerichtsöffentlichkeit; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsgesetzes; Eb. Schmidt, Geschichte; Witzler, Die personale Öffentlichkeit). 52 Ähnlich Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 13, Rndnr. 2. 53 Siehe auch Kaufmann, JuS 1961, S. 250 m. w. N. 54 Dazu Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 16. 55 Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, § 79. 56 Der „endliche Rechtstag“ war – unter strafverfahrensrechtlichen Gesichtspunkten – eine reine Farce. In diesem Sinne wird er in der Literatur als „Komödie“, „Theater“ oder „Schauspiel“ beschrieben (vgl. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Bd., S. 414; Mitteis / Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 397 f. m. w. N.). 57 Siehe Schild, Alte Gerichtsbarkeit, S. 42. 58 In dieser Hinsicht wird oft von „Kabinettsjustiz“ gesprochen. Dieser Begriff beschreibt ausdrucksstark die Heimlichkeit der Rechtsprechung bzw. den Einfluss der Herrschenden auf die Rechtspflege (vgl. auch Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 26, der sich ähnlich dieser historischen Epoche widmet). Diese Geheimjustiz wurde in grotesker Weise etwa mit der

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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Angesichts der menschenunwürdigen Konzeption des inquisitorischen Strafverfahrens und des abschließenden Bestrafungsspektakels fragt sich, warum sich nicht zumindest die Kirche gegen dieses Prozedere der Durchsetzung hoheitlicher Strafrechtspflege zur Wehr gesetzt hat. Schließlich stellte sie doch als Vermittlerin des christlichen Glaubens den zentralen Bezugspunkt der seelischen Bedürfnisse und sittlichen Orientierung vieler Millionen gläubiger Menschen dar und beanspruchte als moralische Instanz eine herausragende Führungsposition. Die Antwort liegt in der eigenen Verfahrensweise der Kirche begründet: Bereits seit dem 13. Jahrhundert wendete die Kirche die Folter im Rahmen der sog. „Ketzerinquisition“ an. Dieses unmenschlich harte Vorgehen gegen mutmaßliche „Ketzer“ erklärt sich insofern, als diese – zumindest im kirchlichen Vorstellungsbild – die klerikale Herrschaft über die Gesamtheit aller Gläubigen in Frage stellten. Die Kirche sah sich in ihrer allmächtigen Stellung in der Welt gefährdet. Nicht zuletzt ist die Versuchung, sich bei der Ergreifung, Durchsetzung und Erhaltung der eigenen Macht ausschließlich an der Zweckmäßigkeit einer Maßnahme zu orientieren, besonders groß. Hierfür „liefert die ganze Menschheitsgeschichte schlagenden Beweis bis auf den heutigen Tag. Die Sorge um Macht verdrängt alle Rücksichten, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und aus sonstigen ethischen Gesichtspunkten sich einstellen und zu vorsichtigem und behutsamem Vorgehen gegen den Gegner nötigen könnten“59.

II. Historischer Paradigmenwechsel: Aufklärerische Kritik als geistiges Fundament der Einführung des reformierten, gerichtsöffentlichen Strafverfahrens Nach Jahrhunderten inquisitorischer Strafrechtsdurchsetzung vollzogen sich in der Epoche der „Aufklärung“ fundamentale Umwälzungen, in deren Rahmen sich eine gewandelte Auffassung justizieller Öffentlichkeit entwickelte.60 Die Gedankenkonzepte der aufklärerischen Philosophie und der hieran anknüpfende politiFeststellung begründet, dass nicht bei allen Richtern ein gründliches Studium der bestehenden Gesetze, geübte Urteilskraft und Festigkeit des Charakters anzutreffen wären. Insofern wäre vorteilhaft, wenn die „Beschränktheit und die Verwirrungen der Richter nicht den Augen des Volkes gezeigt, sondern nur den übrigen Amtsgenossen bekannt und von diesen in aller Stille verbessert würden“ (vgl. Nachweise bei Engels, AnwBl. 1983, S. 100 m. w. N.). An diesen Ausführungen wird deutlich, mit welcher selbstgerechten und herabwürdigenden Geisteshaltung den Menschen begegnet wurde. Der Beschuldigte wurde in dieser Konzeption des Strafverfahrens zum Verfahrensobjekt herabgewürdigt, welches die staatliche Vergeltung zu ertragen hatte (vgl. dazu Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 79 ff. m. w. N.). 59 Eb. Schmidt, Geschichte, § 78. 60 Sehr ausführlich Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 18 ff. m. w. N.; Ranft, Jura 1995, S. 573 f. m. w. N. Zum Wert der errungenen Strafverfahrensöffentlichkeit in aktuelleren Reformdiskussionen: Baumann, NJW 1982, S. 1558 m. w. N.

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

sche Liberalismus sollten den Weg für einen historischen Paradigmenwechsel vom inquisitorischen zum reformierten – gerichtsöffentlichen – Strafprozess bereiten.61

1. Charles Louis de Montesquieu: „De l’esprit des lois“ und Immanuel Kant: Aufgeklärte Anschauung von Vernunft und Moral Herausragende Vordenker der „Aufklärung“62 waren etwa in Frankreich Charles Louis de Montesquieu (1689 – 1755)63 und in Deutschland Immanuel Kant (1724 – 1804), der eine gewandelte Auffassung von dem individuellen Verhältnis des Einzelnen gegenüber seinem sozialen Umfeld (der Gesellschaft) und der hoheitlichen Machtausübung (dem Staat) vertrat64. Die Herrschaftsverhältnisse der absolutistisch konzipierten Staatsorganisation65 wurden prinzipiell in Zweifel gezogen und so in ihren Grundfesten erschüttert. Demgegenüber sollte allein die autonome menschliche Vernunft des Einzelnen diejenige maßgebliche Instanz sein, welche über die politische Staatsverfassung respektive über die das gesellschaftliche Zusammenleben betreffenden Normen entscheidet. Die effektive Durchsetzung des Einflusses der individuellen Vernunft sollte mittels der Instrumente der öffentlichen Kritik und des öffentlichen Diskurses erreicht werden. Hinter diesem grundsätzlichen Konzept einer originären Verantwortlichkeit des einzelnen StaatsÄhnlich Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (23). Die „Aufklärung“ bezweckte eine Verweltlichung und Systematisierung des Strafrechts, darüber hinaus aber auch dessen Humanisierung bzw. Anerkennung der menschlichen Vernunft als kritischer Maßstab des Rechts und dessen Anwendung (ähnlich Eb.Schmidt, Geschichte, § 203; vgl. weiterhin zu den Auswirkungen der „Aufklärung“ für das Strafrecht: Schröder [Hrsg.], Kodifikationsgeschichte Strafrecht, S. 10 ff.). 63 Seine Auffassung über die Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafe beeinflusste als zentraler Ansatz seiner „Straftheorie“ die Weiterentwicklung des Strafrechts im Sinne einer Humanisierung während der aufklärerischen Epoche. Ebenso einschneidend wirkte seine Forderung nach der Teilung der Staatsgewalten: Die Justiz sollte seiner Auffassung nach allein dem Gesetz unterworfen und exekutivem Einfluss entzogen, d. h. die sog. „Kabinettsjustiz“ abgeschafft werden (vgl. hierzu eingehend sein Werk „De l’Esprit des lois“ [vgl. Forsthoff [Hrsg.], Montesquieu, De l’Esprit des Lois]; weiterhin auch Eb. Schmidt, Geschichte, § 207). Ähnliche Forderungen erhob auch Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet [1694 – 1778], vgl. dazu Eb. Schmidt, Geschichte, § 208). 64 Zum „öffentlichen Recht“ und der Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?: Klenner (Hrsg.), Kant, Rechtslehre, S. 125 ff., 215 ff. m. w. N. 65 In dieser vereinigte sich die gesamte Staatsmacht in den Händen des absolutistischen Herrschers. Wohl bekanntestes Vorbild war der französische König Louis XIV. (1661 – 1715). Überliefert ist dessen Ausspruch: „L’état, c’est moi!“. Als absoluter Monarch regierte er frei von feudalen / ständischen Einflüssen und war – als Stellvertreter Gottes auf Erden – weder seinem Volk noch der Kirche zur Ablegung von Rechenschaft verpflichtet. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation beanspruchten die einzelnen Territorialfürsten diese Führungsposition für sich. Zur Ordnung des öffentlichen Gemeinwesens wurde im absolutistischen Staat ein zentraler Verwaltungsapparat installiert, dessen wesentlicher Bestandteil die Wirtschaftsverwaltung im Sinne einer Förderung von Gewerbe und Handel war. 61 62

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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bürgers für sein soziales Umfeld und „seinen“ Staat verbarg sich die grundlegende Anschauung, dass der Einzelne viel mehr sei als nur unmündiger Untertan. Vielmehr konstituierte sich die individuelle Existenz primär durch die individuelle Fähigkeit, eigenständig denken und handeln zu können. In diesem Zusammenhang sei die umfassende Information des Einzelnen über gesellschaftliche und staatliche Zustände und Geschehnisse zwingend erforderlich, denn nur auf deren Grundlage werde dem Einzelnen eine eigenständige Meinungsbildung und zudem die Partizipation an gesellschaftlichen und hoheitlichen Vorgängen möglich.66

2. Politische Kernforderung des Bürgertums: Publizität hoheitlicher Machtausübung – Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit als Wahrheits- und Gerechtigkeitsgarantin Hierfür war aber die umfassende Publizität hoheitlicher Vorgänge unabdingbares Grunderfordernis.67 Insofern ist nicht besonders verwunderlich, dass sich aus den inspirierenden Gedankenkonzepten der aufklärerischen Philosophie schnell die realpolitische Kernforderung der prinzipiellen Offenlegung hoheitlicher Entscheidungsprozesse entwickelte. Diese Forderung richtete sich insbesondere an die exekutive Regierungs-, aber eben auch an die judikative Gerichtstätigkeit. Ihr Ziel war es, zu Gunsten des einzelnen Staatsbürgers ein Höchstmaß individueller Sicherheit vor hoheitlichen Einflusssphären und dadurch die Manifestation der freien Existenz des Einzelnen zu erreichen.68 Zur Gewährleistung einer derartigen Kontrolle hoheitlicher Machtausübung müsste die öffentliche Ausgestaltung hoheitlicher Verfahrensweisen erreicht werden; ermöglicht doch die kontrollierbare, verlässliche (Straf)Verfahrenspraxis die Durchsetzung des individuellen Schutzes vor hoheitlicher Willkür und insoweit auch der individuellen Freiheit des einzelnen Staatsbürgers.69 Die enge Verknüpfung der politischen Kernforderung des Bürgertums mit den Gedankenkonzepten der aufklärerischen Philosophie zeigt sich etwa 66 Hierzu insgesamt: Weischedel (Hrsg.), Kant, 2. Bd. (Kritik der reinen Vernunft); zu Kants absoluter Straftheorie: Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 220 ff. 67 So maß Kants Staatstheorie der grundlegenden Publizität insofern eine herausragende Bedeutung bei, als er „alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt ( . . . )“ für „unrecht“ erachtete (zitiert bei Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 23 m. w. N., und Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 28 m. w. N.). 68 Vgl. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 56 m. w. N., zum politischen Liberalismus als Konsequenz der radikalen Rationalität der „Aufklärung“ seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. 69 Dazu Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 136 ff. m. w. N.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 442 ff. m. w. N.; Meiner (Hrsg.), Fichte, Grundlagen des Naturrechts, S. 148 (165). Vgl. auch von Rotteck / Welcker (Hrsg.), Staats-Lexicon, 10. Bd., S. 743 ff.: „Die Öffentlichkeit ist ( . . . ) nicht etwa eine Nebensache für Freiheit und Gerechtigkeit, sondern sie ist ( . . . ) die Sache selbst.“

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

besonders deutlich daran, dass es Montesquieu selbst war, der bereits im Jahre 1748 die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafprozesses forderte.70 Hierneben beeinflusste vor allem Cesare Beccaria (1738 – 1794) mit seinem Werk „Dei delitti e delle pene“ (1764)71, in welchem er eine am „aufgeklärten“ Modell des Gesellschaftsvertrages72 orientierte Gesamtreform des Strafrechts forderte, die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft und -praxis in Italien. Beccarias Einfluss blieb jedoch nicht auf Italien beschränkt: So legten etwa Hans Ernst von Globig und Johann Georg Huster Beccarias Ansatz ihrer „Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung“ (1783) zugrunde, um diesen weiterzuentwickeln.73 Ihre Abhandlung basierte auf der Idee des Gesellschaftsvertrages, die sie ausschließlich aus der Perspektive einer „gesunden Vernunft“74 begriffen und als einziges Modell zur Konzeption einer „gerechten Staatsverfassung“75 anerkannten. Die politischen Konsequenzen der strafrechtlichen Aufklärung in Frankreich und Italien ließen nicht lange auf sich warten: Im Jahre 1789 wurde in Frankreich ein provisorisches Gesetz erlassen, welches die „Verhandlung bei offenen Türen“76 anordnete. Hiernach wurde in Art. 153 des çode d’instruction criminelle“ vom 17. Oktober 1808 eine Öffentlichkeitsmaxime festgeschrieben.77 Diese Entwicklung hatte ebenso Auswirkungen auf Deutschland78, wo vor allem Paul Johann Anselm von Feuerbach79, Ernst Ferdinand Klein80 und Carl Joseph Anton Mittermaier81 die öffentliche Diskussion über die Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit prägten.82 So führte Ernst Ferdinand Klein was folgt aus: 70 Eingehender zu Montesquieus Ansätzen: Haber, Strafgerichtliche Öffentlichkeit, S. 72 ff. m. w. N.; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 49 ff. m. w. N. 71 Korn (Übers.): Beccaria, Verbrechen und Strafen (1788). 72 Durch den Gesellschaftsvertrag gibt das Individuum nur so viel Freiheit auf und setzt sich dadurch staatlichem Einfluss aus, wie zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft notwendig ist. Beccaria kritisierte die heimliche Durchführung des Inquisitionsprozesses, bewertete die Folter als verwerflich, forderte eine gesetzliche Verankerung von Regelungen über die Untersuchungshaft, plädierte für eine vernünftige Beweiswürdigung und trat schließlich vehement für eine öffentliche Ausgestaltung des Strafverfahrens ein (siehe Conrad, Rechtsgeschichte, 2. Bd., S. 436 f.; Kaiser in: Rehberg-FS, S. 171 [172]; Ranft, Jura 1995, S. 573, Fn. 7; weiterhin auch Schröder [Hrsg.], Kodifikationsgeschichte Strafrecht, S. 6, zum Einfluss Beccarias auf die strafrechtshistorischen Entwicklungen seiner Zeit). 73 Siehe von Globig / Huster, Abhandlung Criminal-Gesetzgebung, S. 162. 74 von Globig / Huster, Abhandlung Criminal-Gesetzgebung, S. 6, 9 ff. 75 von Globig / Huster, Abhandlung Criminal-Gesetzgebung, S. 9 (Fn.), S. 37 ff. 76 Dazu Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 29 m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 19 m. w. N. 77 Vgl. Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 317 m. w. N. Eingehender Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 205 ff., zur strafrechtlichen Aufklärung in Frankreich und Italien. 78 Siehe auch Eb. Schmidt, Geschichte, §§ 236 ff. 79 Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1. Bd. (1821). 80 In: Vermischte Abhandlungen, 1. Stk. (1779), S. 67 ff.

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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„Heimliche Hände fliehen den freien Schauplatz öffentlicher Untersuchung. Schikanen und lichtscheue Vorurtheile können in die Winkel der verschloßenen Gerichts-Stube sehr leicht ein falsches Licht werfen. (. . . ) Man nenne mir aber ein beßer Mittel, dem Despotismus der Richter Grenzen zu setzen, als die Scheu vor dem Publiko!“

Wesentliche Diskussionsinhalte waren darüber hinaus die Wiedereinführung der Geschworenengerichte und des Anklageverfahrens und die Verankerung einer Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsmaxime.83 Von grundsätzlicher politischer Brisanz war damals, dass der çode d’instruction criminelle“ in den Rheinbundstaaten über das Ende der französichen Besetzung hinaus weiterhin in Kraft geblieben war.84 Diese politische Konstellation war aufgrund folgender Umstände entstanden: Nach der Französischen Revolution (1789) war es zur Machtergreifung Napoléon Bonapartes und dessen militärischer Vernichtung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806) gekommen. Die hierauf folgenden Befreiungskriege (1813 – 1815) hatten den Wiener Kongress (1815) zur geographischen Neuordnung Mitteleuropas erforderlich gemacht.85 Nachdem Preußen im Zuge dieser Entwicklungen die linksrheinischen Gebiete zugesprochen bekommen hatte, setzte es zu einer umfassenden Rechtsvereinheitlichung an. Da diese zuvorderst die Abschaffung der noch jungen Öffentlichkeitsmaxime bedeutet hätte, kam es zu massiver politischer Gegenwehr.86 Dabei fußten die Argumente maßgeblich im liberalen Öffentlichkeitsverständnis und blieben nicht ohne spürbare Folgen: Im Jahre 1816 setzte der damalige preußische Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg eigens die „Königliche Rheinische Immediat-Justizkommission“ ein, welche die Prüfung möglicher Vor- und Nachteile der Beibehaltung des französischen Rechts zum Auftrag hatte. Im Jahre 1818 stellte die Kommission ein Gutachten über das „öffentliche und mündliche Verfahren in Civilsachen“ 87 vor, in welchem sich die fünf Gutachter einstimmig für die Beibehaltung der Öffentlichkeitsmaxime aussprachen. Diese Ereignisse verdeutlichen, welches gewaltige gesellschaftspolitische Konfliktpotential der Französichen Revolution (1789) innewohnte.88 Der Übergang in 81 Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht (1845). 82 Hierzu eingehender Schmidt, Geschichte, S. 232 ff.; Schroeder in: Eser / Kaiser (Hrsg.), Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141; ders., Strafprozeßrecht, Rndnr. 35. 83 Ausführlicher Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 36 ff. m. w. N.; Kaiser in: Rehberg-FS, S. 171 (172); Ranft, Jura 1995, S. 573 (574 m. w. N.); Eb. Schmidt, Geschichte, S. 324 f. Weiterhin Zipf, Gutachten C, 54. DJT, C 13 ff. m. w. N. 84 Ähnlich Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 65 m. w. N.; Eb. Schmidt, Geschichte, S. 259. 85 Siehe auch Sowada, JuS 1996, S. 384. 86 Dazu Braun, Medienberichterstattung, S. 49; Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 317. 87 Sehr detailliert zur „Rheinlandaffäre“: Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 15 ff. m. w. N.; auch Klein, Öffentlichkeit und Mündlichkeit, S. 6 m. w. N.

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

das 19. Jahrhundert markierte den Eintritt in die bürgerlich-liberale Epoche. Entgegen diesen Entwicklungen versuchte Preußen zunächst, die Gefahr einer gewaltsamen Beendigung der Monarchie durch die Reformierung der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Menschen mittels der Stein-Hardenberg’schen Reformen zu verhindern. Hierbei orientierte man sich an dem Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Konzept des „aufgeklärten Absolutismus“. Diesen prägte eine gewandelte Herrschaftsinterpretation, in deren Rahmen der Herrscher seine hoheitliche Macht nicht mehr von Gottes Gnaden, sondern vielmehr aus dem Prinzip des Gesellschaftsvertrages ableitete.89 Daneben verfolgte der österreichische Staatskanzler Klemens Fürst von Metternich, der schon den Vorsitz des Wiener Kongresses (1815) geführt hatte, im Deutschen Bund90 eine äußerst reaktionäre Politik. Sein damaliges politisches Motiv war die Sorge um Österreichs zukünftige Rolle im Bund; war die Kodifizierung einer auf dem Prinzip der Volkssouveränität fußenden Verfassung doch die damalige Kernforderung des politischen Frühliberalismus. Gefordert wurden beispielsweise die legislatorische Partizipation des Staatsvolkes und die Garantie fundamentaler, verfassungsunmittelbarer Bürgerrechte. Den daraufhin zunächst in den süddeutschen Staaten einsetzenden Verfassungsentwicklungen91 wollte sich Kaiser Franz I. von Österreich jedenfalls entgegenstemmen. Metternich befürchtete daher eine Isolation und schlimmstenfalls sogar die Abkopplung Österreichs vom Deutschen Bund.92 Metternichs Befürchtungen vertieften sich insbesondere auch durch grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen. Nach den Befreiungskriegen (1813 – 1815) und dem Wiener Kongress (1815) erlangte die bürgerliche Gesellschaft zunehmend politische Bedeutung. Es entstand ein Pressewesen und die Durchführung öffentlicher Versammlungen, wie beispielsweise das Wartburgfest (1817), förderte die öffentliche Diskussion. Dennoch wurden die Menschen, d. h. vor allem die in Burschenschaften und Turnvereinen organisierte Jugend, immer unzufriedener. Sie hatten die vorbezeichneten Entwicklungen verheißungsvoll miterlebt und ihre Hoffnungen, die sich vor allem auf die Erreichung nationaler Einheit nach Beendigung der napoleonischen Fremdherrschaft richteten, blieben unerfüllt.93 Den Anlass zur organisierten Verfolgung dieser brodelnden, gewaltbereiten Gegnerschaft erblickte Metternich schließlich in der Ermordung des reaktionärer Umtriebe bezichtigten Dichters August von Kotzebue durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand. Am 20. September 1819 wurden die von Metternich initiierten 88 Zum entwicklungsgeschichtlichen Potential der Jahre nach der Französichen Revolution und den Befreiungskriegen auch Schröder (Hrsg.), Kodifikationsgeschichte Strafrecht, S. 6 ff. 89 Vgl. auch Sowada, JuS 1996, S. 384 m. w. N. 90 Dieser Staatenbund war im Jahre 1815 gegründet worden. 91 Siehe etwa Schröder (Hrsg.), Kodifikationsgeschichte Strafrecht, zu den Entwürfen des Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg Stuttgart 1823 und 1832. 92 Vgl. Sowada, JuS 1996, S. 384 (385 m. w. N.). 93 So auch Sowada, JuS 1996, S. 384 (385 m. w. N.).

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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Karlsbader Beschlüsse von der Frankfurter Bundesversammlung verabschiedet, die äußerst reaktionären Inhaltes waren: Ein sog. „Universitätsgesetz“ sollte die Universitäten als Ursprung gesellschaftspolitischer Opposition unter Kontrolle bringen, ein sog. „Pressegesetz“ verankerte eine umfassende Pressezensur94 und ein sog. „Untersuchungsgesetz“ sollte schließlich die effektive hoheitliche Verfolgung von „Demagogen“ ermöglichen; Burschenschaften und Turnvereine wurden verboten, überall wurden Polizeispitzel und Denunzianten eingesetzt.95 Selbstverständlich standen diese politischen Verfolgungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eklatantem Gegensatz zu den damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ohnehin hegte das aufgeklärte Bürgertum ein tiefes Misstrauen gegenüber der Monarchie und ihrer machtsichernden Geheimjustiz. Die Formulierung der erwähnten politischen Forderungen nach volkssouveräner Regierungsteilhabe, Abschaffung ständischer Privilegien, richterlicher Unabhängigkeit oder Trennung von Justiz und Verwaltung sollte den Einbruch in die bisherigen hoheitlichen „Arkanbereiche“ 96 ermöglichen und schließlich die plebiszitäre Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen erbringen. Die politische Kernforderung nach umfassender Publizität hoheitlicher Machtausübung und demgemäß auch prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit wurden als staatsorganisatorisches Postulat im „Vormärz“97 zur Kampfformel gegen hoheitliche Geheimjustiz.98 In ihrer erbitterten Unbedingtheit erreichte diese Forderung in Form eines absoluten Öffentlichkeitsoptimismus ihren definitiven Höhepunkt. Man glaubte fest daran, durch die Einführung einer öffentlichen Strafrechtspflege die effektive Kontrolle der Justiz und dadurch den umfassenden Schutz des Einzelnen vor hoheitlicher Willkür erreichen zu können.99 Hierneben würde prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit die richterliche Unabhängigkeit vollenden, die Überzeugung in der Bevölkerung von einer gerechten Wahrheitsfindung100 stärken und einen 94 Zu den damaligen Presseverfahren: Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (23). Weiterhin Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 21, zur maßgeblichen Bedeutung der liberalen Bewegung des 19. Jahrhunderts für die Pressefreiheit. 95 Hierzu Braun, Medienberichterstattung, S. 48 f.; Sowada, JuS 1996, S. 384 (385 ff. m. w. N.). 96 Habermas, Strukturwandel, S. 70, 71, 239. Vgl. zu den „arcana rei publicae“ (Staatsgeheimnissen): Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 131. Hierzu waren einerseits eine „völlige Veränderung der Struktur des Verfahrens“ (Jung in: Kaufmann-GS, S. 891 [894]) und andererseits aber auch der Wille zur Veränderung des gesamten Staatsgefüges (dazu Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 82 ff. m. w. N., 123) notwendig. 97 Gemeint ist hiermit die Zeit zwischen dem Wiener Kongress (1814 – 1815) und der im „März“ beginnenden Revolution im Jahre 1848. 98 Vgl. Hölscher, Öffentlichkeit, S. 162 ff. m. w. N.; weiterhin auch Diemer in: KK, StPO, § 169 GVG, Rndnrn. 1 f. m. w. N. 99 Dazu Haber, Strafgerichtliche Öffentlichkeit, S. 202 m. w. N. 100 Zur Auffassung, Wahrheit durch Öffentlichkeit erreichen zu können: Martens, Öffentlich, S. 52 m. w. N.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 77 ff. m. w. N. Diesbezüglich spricht Rohde, Öffentlichkeit, S. 120, von „Wunderglauben“.

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

breit angelegten Vertrauensaufbau gegenüber der Justiz anstoßen.101 Nicht zuletzt auch unter dem Einfluss der Auffassung Immanuel Kants von Öffentlichkeit als çonditio sine qua non der Gerechtigkeit“102 oder Georg Wilhelm Friedrich Hegels von der konstitutiven Relevanz der Öffentlichkeit als „Vehikel der Wahrheit“103 markierten derartige Hoffnungen, die in der Anschauung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit als Wahrheits- und Gerechtigkeitsgarantin104 gipfelten, zweifellos den Höhepunkt der damaligen Entwicklungen. Die Gewährleistung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit wurde hierbei aufgrund dieser angenommenen Garantiefunktion zum „Vehikel (. . . ) der Wahrheit, der Sauberkeit, der Richtigkeit des Ergebnisses“105 erhoben. Zwar sah bereits Art. 178 der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 eine Öffentlichkeitsmaxime für Gerichtsverhandlungen vor106, jedoch eröffnete sich erst nach Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 eine echte Perspektive der einheitlichen gesetzlichen Regelung der Gerichtsverfassung. Die notwendige Gesetzgebungskompetenz ging auf den Bund über. Dieser erweiterte sich durch den Beitritt der süddeutschen Staaten zum Deutschen Reich, auf welches dann wiederum auch die Gesetzgebungskompetenz für eine reichseinheitliche Fixierung einer Gerichtsverfassung überging.107 Grundsätzlicher Ausgangspunkt der folgenden Reformbemühungen, welche die Beratungen der XI. Kommission des damaligen Reichstages zur Vorbereitung eines Entwurfes des Gerichtsverfassungsgesetzes prägte, war schließlich auch die öffentlichkeitsoptimistische Überzeugung der endgültigen Überwindung geheimer und willkürlich hoheitlicher Machtausübung durch die Verankerung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit.108 Das am 1. Oktober 1879 in Kraft getretene Gerichtsverfassungsgesetz109 markierte in seiner damaligen Form deswegen den „Höhepunkt in der Etablierung von Öffentlichkeit im Strafverfahren“110. 101 Schon von Feuerbach, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1. Bd, S. 91 ff.; weiterhin Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 116 ff. m. w. N., 123; Franke, Bildberichterstattung, S. 26, 28 ff. m. w. N. 102 Nachweis bei Marxen, JZ 2000, S. 294 (297). 103 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 317. Siehe hierzu auch Rohde, Öffentlichkeit, S. 97 m. w. N. 104 Dazu von Feuerbach, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1. Bd., S. 9, 86 ff., 169 f.; Franke, Bildberichterstattung, S. 26 ff. m. w. N.; Hahn, Materialien, 1. Bd., 1. Abt., S. 327 ff.; Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht, S. 333 ff. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 101, 120, der in Bezug auf die idealisierende Bedeutung als Wahrheitsgarantin von „Wunderglauben“ spricht; Scholler, Person und Öffentlichkeit, S. 74 ff. m. w. N.; Wickern in: L-R, StPO, Vor § 169 GVG, Rndnr. 2 m. w. N. 105 Smend in: Walter Jellinek-GS, S. 11 (14). 106 Vgl. Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 144 ff. m. w. N. 107 Siehe Mitteis / Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 443 f. m. w. N. 108 Dazu Hahn, Materialien, 1. Bd., 1. Abt., S. 327 ff.; Schubert, Gerichtsverfassung, S. 86 ff. m. w. N. 109 Hierzu Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 160 f.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 63 f.

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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3. Zusammenfassung Nach jahrhundertelanger Herrschaft des inquisitorischen Strafverfahrens vollzog sich in Anknüpfung an die Ideenkonzepte der aufklärerischen Philosophie ein historischer Paradigmenwechsel. Der politische Liberalismus formulierte im Rahmen seiner Abkehr vom absolutistischen Staatskonzept eine neue Auffassung über die Publizität hoheitlicher Machtausübung als Grundbedingung eines modernen Staatsganzen. Hieraus entwickelte sich eine gewandelte Vorstellung über prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit in einem reformierten Strafverfahren. Die aufgeklärtidealisierende Anschauung des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates strebte durch die Verankerung einer gerichtsöffentlichen Strafjustiz die endgültige Überwindung einer geheimen und willkürlichen Praxis hoheitlicher Machtausübung an. Hierdurch sollte die wahre Garantie gerechten Urteilens und damit die Gewährleistung wahrer und gerechter Verhältnisse innerhalb der Strafjustiz im bürgerlich-liberalen Rechtsstaat erreicht werden. Der fundamentale Charakter dieses Ansatzes zeigt sich in dessen rezeptiver Bedeutung für aktuelle Fragen der Reform des heutigen Strafprozesses. Selbst bei kritischer Analyse des diesbezüglichen Anleitungs- und Vorbildpotentials der reinen Ideale dieser aufgeklärt-idealisierenden Anschauung können wir zumindest was folgt festhalten: Die Ideale des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates des 19. Jahrhunderts können hilfreiche Grundlage einer pragmatischen Kontroverse über den aktuellen Reformbedarf des modernen Strafprozesses sein. Liegt doch in der kritischen Reflexion und nüchternen Akzeptanz der real existierenden Kluft111 zwischen ihrem Anspruch und ihrer Wirklichkeit ein erfolgversprechender Ausgangspunkt für die aktuelle Diskussion über Aspekte einer Reform des Strafverfahrens.112

III. „Wertungsumkehr“ von prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit Der idealisierenden Reinform der aufgeklärten Anschauung vom bürgerlichliberalen Rechtsstaat, in welchem eine gerichtsöffentlich ausgestaltete Justiz zur Erreichung der wahren Garantie gerechten Urteilens gereiche, wurden jedoch bald kritische Überlegungen entgegengesetzt. So war der Zenit umfassender Gerichtsöffentlichkeit bereits wenige Jahre nach Kodifizierung des Gerichtsverfassungsgesetzes überschritten: Schon im Jahre 1888 wurde die prinzipielle Gerichtsöffent-

Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 38. Zur Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im bürgerlich-liberalen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts sogleich ausführlicher (3. Kap. A.). 112 Ähnlich Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (23, 26 f. m. w. N.). 110 111

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

lichkeit zu Staatsschutzzwecken eingeschränkt.113 Helmut Kerscher spricht in diesem Zusammenhang von einer „Wertungsumkehr von Gerichtsöffentlichkeit als Kontrollinstrument zur Gerichtsöffentlichkeit als eines von mehreren kollidierenden Rechtsgütern“114.

Die Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes seit 1888 bis in die jüngere Vergangenheit hinein offenbaren vor allem den faktischen Bedeutungsverlust der unmittelbaren (Saal)Öffentlichkeit, den Bedeutungszuwachs der Medien und nicht zuletzt die Erkenntnis des Gefahrenpotentials der Medien für das Strafverfahren selbst und seine Beteiligten.115 Diese „Wertungsumkehr“ setzte sich auch bereits in der Weimarer Republik durch: Besonders instruktive Beispiele für die verstärkte Berücksichtigung widerstreitender Interessen waren der Öffentlichkeitsausschluss in persönlichen, häuslichen oder familiären Streitigkeiten (1909, 1919 / 1920)116 und die Einführung der Nichtöffentlichkeit der Hauptverhandlung in Jugendsachen durch das „Reichsjugendgerichtsgesetz“ (1923)117. Letzteres wurde – neben dem Schutzbedürfnis einer ungestörten Entwicklung des Jugendlichen – vor allem mit der Gefahr der Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung durch einen öffentlichen Strafprozess begründet.118

IV. Pervertierung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit zu Propagandazwecken während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft Im „Dritten Reich“ (1933 – 1945) wurde das Konzept der öffentlichen Ausgestaltung staatlicher Machtausübung als wesentliches Charakteristikum des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates missbraucht, um daraus ein Zurschaustellungsvehikel diktatorischer Machtdemonstration zu formen. Zwar befürwortete die nationalsozialistische Ideologie ausdrücklich die Öffentlichkeit staatlicher Strafrechtsdurchsetzung, die Interpretation seiner Funktionen ignorierte dessen ursprünglichen Kerngehalt allerdings völlig, ja pervertierte diesen geradezu: Die Notwendigkeit prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit wurde aus der „Verantwortlichkeit des Rechtsbrechers gegenüber der ,Volksgemeinschaft‘“119 abgeleitet. Im Rah113 Vgl. Bernheimer, Öffentlichkeit, S. 16; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 130, mit Verweis auf das RGBl.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 65; Schiff, Öffentlichkeit, S. 14 f. 114 Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 317. 115 Vgl. Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 317 m. w. N. 116 Auch Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 153 ff. m. w. N. 117 Dazu Bernheimer, Öffentlichkeit, S. 91 ff.; Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 159 f. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 69 m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 36. 118 So Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 317. 119 Rohde, Öffentlichkeit, S. 73 m. w. N.

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men dieser „Auslegung“ wurde das sog. „Volksgemeinschaftsprinzip“ begründet, welches in seiner Konsequenz den totalen Verlust der Privatsphäre zu Gunsten eines staatlich geprägten Gemeinschaftsgedankens bedeutete.120 Der „volksöffentlich“ durchgeführte Strafprozess führte die Strafrechtsdurchsetzung ausschließlich als Waffe gegen den Angeklagten, dessen Aburteilung vor einem möglichst großen Publikum exekutiert wurde.121 Diese strafprozessuale Herabwürdigung des Angeklagten erfolgte unter einer geradezu verbrecherischen Missachtung seiner Würde als Mensch. Während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft wurde somit jedes noch so zarte Pflänzchen bisher gewachsener, liberal-rechtsstaatlicher Strafverfahrensprägung vernichtet: So wurden zahlreiche „Sondergerichte“ eingerichtet, eine Vielzahl sog. „Verfahrensbeschleunigungsmöglichkeiten“ geschaffen, die staatsanwaltschaftlichen Befugnisse unverhältnismäßig überdehnt, die Legalitätsmaxime122 abgeschafft, „Generalklauseln“ eingeführt, Rechtsmittel massiv beschränkt, die Einführung rückwirkender Gesetze ermöglicht und nicht zuletzt auch die richterliche Unabhängigkeit abgeschafft.123 Die gesellschaftliche Kontrolle wurde neben polizeilichem und geheimdienstlichem Terror124 insbesondere auch durch die totale Überwachung des Pressewesens125 erreicht.

120 Hierzu Beese, Öffentlichkeit (1938), S. 18 ff. m. w. N. Instruktiv: Hirsch / Majer / Meinck (Hrsg.), Nationalsozialismus, S. 236 ff. 121 Hierzu ausführlich folgende Monographien aus dieser Zeit: Beese, Öffentlichkeit, S. 18 ff. m. w. N. (1938); Schuckert, Volksöffentlichkeit (1936), S. 72 ff. m. w. N.; Willies, Öffentlichkeit (1940), S. 48 ff. m. w. N., 78. Demgegenüber weiterhin Naucke in: NS-Recht, S. 71 ff. m. w. N. 122 Zu dieser später ausführlicher: 4. Kap. B. II. 2. 123 Zum Abbau des Rechtsstaats ab 1933 durch diese Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht: Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, S. 207 ff. m. w. N., S. 220; Naucke in: NS-Recht, S. 71 ff. (80 ff. m. w. N., 89); Rüping, GA 1984, S. 297 ff. m. w. N.; Eb. Schmidt, Geschichte, S. 425 ff., 434 ff.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 37. Insbesondere zum Volksgerichtshof: Buchheit, Richter in roter Robe; Hirsch / Majer / Meinck (Hrsg.), Nationalsozialismus, S. 474 ff. m. w. N.; Müller, Rechtsstaat, S. 74 ff. m. w. N.; ders., Furchtbare Juristen, S. 146 ff.; Eb. Schmidt, Geschichte, S. 447. Daneben unternimmt Schröder, „. . . aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“, eine instruktive Darstellung der Entwicklung der damaligen Zivilrechtspraxis. 124 Eb. Schmidt, Geschichte, S. 439 ff., zum Einsatz polizeilicher Gewalt im NS-Staat. 125 Die Nationalsozialisten nahmen den Reichstagsbrand am 27. / 28. Februar 1933 zum Anlass, auch das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit mit Hilfe der „Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat“ faktisch abzuschaffen. Bedingung journalistischer Tätigkeit war die Zugehörigkeit zur „Reichspressekammer“, deren Zugangsvoraussetzung die individuelle „politische Zuverlässigkeit“ war (vgl. eingehender Ionescu, Kriminalberichterstattung, S. 27 m. w. N.). Sodann trat am 4. Oktober 1933 das „Schriftleitergesetz“ in Kraft, wonach die Tätigkeit als Redakteur an die Eintragung in eine Berufsliste geknüpft war; die Eintragungen nahm wiederum die NSDAP selbst vor (vgl. dazu Ionescu, Kriminalberichterstattung, S. 28 m. w. N.; Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 22 f. m. w. N.). Hierzu auch später: 7. Kap. B. III. 2. a).

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

Mithin muss die nationalsozialistische Schreckensherrschaft (1933 – 1945) im Ergebnis auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die liberal-rechtsstaatliche Errungenschaft der prinzipiellen Gerichtsöffentlichkeit als dunkles Kapitel deutscher Zeitgeschichte bezeichnet werden.126

V. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland: Zunehmende Besorgnis wegen der Konsequenzen des technischen Fortschritts Die vorstehend bezeichnete „Wertungsumkehr“127 von Gerichtsöffentlichkeit setzte sich auch in der Bundesrepublik Deutschland fort: Im Zuge des technischen Fortschritts wurden Hörfunk und vor allem das Fernsehen zu Medien der Kriminalberichterstattung. 128 Hierdurch gewann die mittelbare Gerichtsöffentlichkeit129 im Strafverfahren erheblich an Bedeutung. Neben der Möglichkeit, Gerichtsverhandlungen unmittelbar mitzuerleben oder hiervon in den Zeitungen zu lesen, existierten nunmehr die technischen Voraussetzungen, mittels Bild und Ton zu berichten. So waren „Rundfunkreporter mit ihren Mikrophonen in den Schwurgerichtssaal eingedrungen“130, und die Sendung „Menschen und Paragraphen“ des Senders Freies Berlin übertrug wöchentlich Originalaufnahmen aus den Berliner Gerichtssälen.131 Diese neuen Möglichkeiten medialer Kriminalberichterstattung verschärften jedoch kehrseitig die ohnehin bestehenden Probleme und fachten insoweit die rechtspolitische Diskussion132 zusätzlich an: Konnte dem Angeklagten zugemutet werden, nicht mehr nur über ihn zu schreiben, sondern ihn zusätzlich auch zum Aufnahmeobjekt der audiovisuellen Medien zu machen? Gingen Hörfunk- und Fernsehaufnahmen zu weit, indem sie etwa die unbeschadete Aussage von Zeugen und Sachverständigen – mithin die strafgerichtliche Wahrheitsfindung – gefähr126 Dieses dunkle Kapitel deutscher Zeitgeschichte endete am 8. Mai 1945 – dem Tag der Kapitulation (vgl. eingehender zur Bedeutung dieses Tages: Schröder [Hrsg.], 8. Mai 1945 – Befreiung oder Kapitulation?). 127 Vgl. gerade oben: 2. Kap. B. III. 128 Eingehender Stutz, Zurückdrängung des Öffentlichkeitsprinzips, S. 50 ff. m. w. N. 129 Zu den Begriffen der „unmittelbaren“ und „mittelbaren Öffentlichkeit“ schon oben: 2. Kap. C. Vor I. (Fn. 41). Auf dem Hintergrund der Kenntnis dieser technischen Entwicklungen warnten vor den hieraus resultierenden Gefahren für das faire und rechtsstaatliche Strafverfahren etwa Bockelmann, NJW 1960, S. 217 ff. m. w. N. Gegen Bild- und Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal etwa Dahs, NJW 1961, S. 1755 ff. m. w. N.; Eb. Schmidt in: Walter Schmidt-FS, S. 338 ff. m. w. N. Anderer Auffassung bspw. Kohlhaas, DRiZ 1956, S. 2 ff. m. w. N. 130 Zitat bei Braun, Medienberichterstattung, S. 264 m. w. N. 131 Vgl. Braun, Medienberichterstattung, S. 264. 132 Hierzu eingehender Braun, Medienberichterstattung, S. 264 ff. m. w. N.

C. Rechtshistorische Konkretisierung

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deten? Vernichteten derartige Aufnahmen von vornherein jede Resozialisierungschance des Angeklagten?133 Diese Fragen verdeutlichen die wachsenden Zweifel angesichts einer tief greifenden Veränderung der Bedingungen medialer Strafrechtspflege. Die Warnungen vor einer schwerwiegenden Beeinträchtigung gegenläufiger Interessen wurden stetig lauter.134 Diese Entwicklung blieb nicht ohne Auswirkung auf die damalige Rechtsprechung.135 Zunächst wurde die audiovisuelle Kriminalberichterstattung über Strafprozesse für unzulässig erklärt, sofern Prozessbeteiligte hiergegen Widerspruch einlegten.136 In Sorge um die strafgerichtliche Wahrheitsfindung wurde sie schließlich für grundsätzlich unzulässig erklärt, wodurch wiederum gesetzgeberische Konsequenzen ausgelöst wurden: Durch das „Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes“ (StPÄG) wurde der heutige § 169 S. 2 GVG eingefügt.137 Zudem sollte die fortschreitende richterrechtliche Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts138 zu einer weiteren Begrenzung strafgerichtlicher Öffentlichkeit führen.139 Insofern waren schon die damali133 Eingehender zu diesen Problemen: Sarstedt, JR 1956, S. 121 ff. m. w. N.; Wickern in: L-R, StPO, Vor § 169 GVG, Rndnr. 2 m. w. N.; Eb. Schmidt, Walter Schmidt-FS, S. 338 ff. m. w. N. Zum Aspekt der Resozialisierung eines verurteilten Straftäters auch später eingehender: 5. Kap. A. II. 1. a) cc), 6. Kap. A. II. 3. b). 134 Vgl. Eb. Schmidt, Walter Schmidt-FS, S. 338 (352). Weiterhin auch Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 46 ff., 108. 135 Zur frühen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur strafgerichtlichen Öffentlichkeit, aber auch zur aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Zulässigkeit von Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal: Braun, Medienöffentlichkeit, S. 267 ff. m. w. N. 136 BGHSt 10, S. 202 ff. m. w. N. 137 Zum StPÄG vom 19. 12. 1964 (BGBl. 1964, Teil I, S. 1067): Dahs, NJW 1965, S. 81 (86 m. w. N.); Gerhardt, Rundfunk und Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 68 f. m. w. N.; Maul, MDR 1970, S. 286 ff. m. w. N.; Eb. Schmidt, JZ 1967, S. 382 (283). Kritisch bspw. Kohlhaas, NJW 1970, S. 600 m. w. N. 138 Vgl. auch noch später: 5. Kap. A. II. 1. 1.1. 139 Am 1. Januar 1975 modifizierte der Gesetzgeber die §§ 172, 174 GVG und schuf die Möglichkeit des Öffentlichkeitsausschlusses zu Gunsten der Privatsphäre der Prozessbeteiligten (vgl. BT-Drs. 7 / 550, S. 321 und BGBl. 1975, S. 1098 [1099]). Mit der Einfügung des § 171b GVG durch Art. 2 des Opferschutzgesetzes vom 18. Dezember 1986 (vgl. BGBl. 1986, S. 2499), welcher insbesondere § 172 Nr. 2 GVG ersetzte, wurde sodann eine spezielle Vorschrift geschaffen, welche ausschließlich dem Persönlichkeitsschutz der Prozessbeteiligten Rechnung tragen sollte und den Abwägungsmaßstab im Vergleich zu § 172 Nr. 2 GVG a. F. zu Gunsten des Persönlichkeitsschutzes abänderte. Zu beachten ist weiterhin, dass schon vor Einführung des § 172 Nr. 2 GVG im Jahre 1975 im Schrifttum ein Öffentlichkeitsausschluss zu Gunsten des Persönlichkeitsschutzes der Prozessbeteiligten – gestützt auf Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK oder direkt auf Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG – diskutiert wurde (vgl. bspw. Herbst, NJW 1969, S. 546 ff. m. w. N.; Kühne, NJW 1971, S. 224 [227 f. m. w. N.]; Müller-Gindullis, NJW 1973, S. 1218 ff. m. w. N.). Dem ist die Rechtsprechung damals jedoch nicht gefolgt (vgl. BGHSt 23, S. 82 ff. m. w. N.; BGH, MDR 1973, S. 730 f. m. w. N.).

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2. Kap.: Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit

gen Entwicklungen durch eine zunehmende Sensibilität für die Gefahr der Anprangerung des Angeklagten durch medienöffentliche Strafprozesse charakterisiert.140

D. Zwischenergebnis zum Zweiten Kapitel I. „Öffentlichkeit“ bedeutet grundsätzlich die individuelle Möglichkeit des einzelnen Staatsbürgers zur umfassenden Kenntnisnahme von gesellschaftlichen und staatlichen Sachverhalten und Geschehnissen durch deren freie Zugänglichkeit. „Öffentlichkeit“ meint zudem deren allgemeine Kundbarmachung. „Öffentlichkeit“ beschreibt mithin das Wechselverhältnis zwischen den Rechten des Einzelnen und seinem sozialen Umfeld bzw. den staatlichen Handlungsebenen.141

II. „Öffentlichkeit“ hat eine verfassungsunmittelbare Ausprägung erfahren, indem ein Publizitätsgebot für Handlungen einzelner Staatsorgane normiert wurde. Demgegenüber existiert in der Staatsverfassung der Bundesrepublik Deutschland kein Anknüpfungspunkt für die Annahme einer prinzipiellen Öffentlichkeitsmaxime aller drei Staatsgewalten. Insbesondere stellt die gerichtliche Öffentlichkeitsmaxime (vgl. § 169 S. 1 GVG, Art. 6 Abs. 1 S. 1, 2 EMRK) keine Regelung eines übergeordneten Konzeptes prinzipieller Justizöffentlichkeit dar. Immerhin können wir aber festhalten, dass diesem Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit eine gesetzlich nicht näher ausgeführte Vorstellung über Bedeutung und Funktionen eines solchen fundamentalen Publizitätsgebots innewohnt, welche sowohl einer staatsrechtlichen als auch einer strafprozessrechtlichen Dimension entspringt.142

III. 1. Als Wesensmerkmal eines reformierten Strafverfahrens im liberalen Rechtsstaat hat „Öffentlichkeit“ als prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit eine bewegte Ge140 Schroeder in: Eser / Kaiser (Hrsg.), Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 142, spricht davon, dass ein Strafverfahren zu „erheblichen Bloßstellungen“ führen kann und die „moderne Resozialisierungsbewegung“ insofern mit dem gerichtlichen Öffentlichkeitsgrundsatz „in Konflikt geriet“. 141 Vgl. oben: 2. Kap. A. III. 142 Vgl. oben: 2. Kap. B.

D. Zwischenergebnis zum Zweiten Kapitel

73

schichte durchlebt: Nach jahrhundertelanger Herrschaft des inquisitorischen Strafverfahrens vollzog sich in Anknüpfung an die Ideenkonzepte der aufklärerischen Philosophie ein historischer Paradigmenwechsel. Der entstehende politische Liberalismus formulierte im Rahmen seiner Abkehr vom absolutistischen Staatskonzept eine neue Auffassung über die Publizität hoheitlicher Machtausübung als Grundbedingung eines neuen Staatsganzen. 2. Hieraus entwickelte sich eine gewandelte Vorstellung über prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit in einem reformierten Strafprozess. Die aufgeklärt-idealisierende Anschauung des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates strebte durch die Verankerung einer gerichtsöffentlichen Strafjustiz die endgültige Überwindung einer geheimen und willkürlichen Praxis hoheitlicher Machtausübung an. Hierdurch sollte die wahre Garantie gerechten Urteilens erreicht werden. 3. Später stellte die nationalsozialistische Schreckensherrschaft (1933 – 1945) auch im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit ein dunkles Kapitel deutscher Zeitgeschichte dar: Die nationalsozialistische Ideologie fasste das Konzept der öffentlichen Ausgestaltung staatlicher Machtausübung in missbräuchlicher Weise als Instrument auf, um ein Zurschaustellungsvehikel diktatorischer Machtdemonstration zu formen. Der „volksöffentliche“ Strafprozess führte die Öffentlichkeit als Waffe gegen den Angeklagten, dessen Aburteilung vor einem möglichst großen Publikum exekutiert wurde. Diese Herabwürdigung des Angeklagten im Rahmen des Strafprozesses erfolgte unter der verbrecherischen Missachtung seiner Würde als Mensch.143 4. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstarkte der rechtsstaatliche Kerngehalt prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Der technische Fortschritt der audiovisuellen Medien und die hiermit verknüpften Sorgen um den Prozess strafgerichtlicher Wahrheitsfindung führten zur Normierung des § 169 S. 2 GVG. Schon die damaligen Entwicklungen waren mithin durch eine stärkere Sensibilität für die Gefahr der Anprangerung des Angeklagten durch medienöffentliche Strafprozesse gekennzeichnet.144

143 144

2. Kap. C. IV. 2. Kap. C. V.

Drittes Kapitel

Medienöffentliche Strafrechtspflege als Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt in der modernen Mediengesellschaft Die bisherigen Ausführungen haben uns zunächst zum Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit (vgl. § 169 S. 1 GVG, Art. 6 Abs. 1 EMRK) geführt. Deren rechtshistorische Entwicklung wirft weitergehende Fragen auf: Zwar ermöglichte das Gerichtsverfassungsgesetz aus dem Jahre 1879 als Höhepunkt der damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Kodifikationsbemühungen1 eine weitgehend öffentliche Durchführung des Strafverfahrens; schließlich versprach man sich hiervon die wahre Garantie gerechten Urteilens. Schon kurze Zeit später kam es im Jahre 1888 jedoch zu ersten Einschränkungen der Öffentlichkeit des Strafverfahrens, und gerade in der jüngeren Vergangenheit hat sich eine starke Tendenz der Beschränkung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit eingestellt.2 Welche Umstände waren für diesen Entwicklungsbruch ursächlich? Dieser Fragestellung wollen wir sogleich in einem ersten Schritt auf den Grund gehen (A.). Anschließend werden wir im Wege der Konkretisierung der Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit deren aufgeklärt-idealisierende Begründung überprüfen (B.). Diese wird eine verfassungsrechtliche Prägung der Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit offenbaren, welcher wir uns darauffolgend annehmen werden (C.). Schließlich wollen wir untersuchen, inwieweit die Behauptung zutrifft, dass sich ein Paradigmenwechsel in Gestalt eines „Medien- und Öffentlichkeitswandels“3 vollziehe und die traditionellen Funktionsstrukturen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit demgemäß nur noch von nachrangiger Bedeutung wirkten4 (D.). Es

Vgl. oben: 2. Kap. C. II. 2., III. Dazu oben: 2. Kap. C. III., V. Die Zeit zwischen 1933 – 1945 stellt insoweit eine Besonderheit dar (vgl. oben: 2. Kap. C. IV.). 3 Jarren, AfP 1994, S. 191, der – primär bezüglich der Medien zur Politik – eine strukturelle Umbruchphase zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen Politik und Medien annimmt. Eingehend zu dieser Frage auch Kaiser in: Rehberg-FS, S. 171 ff.; Kissel, GVG, § 169, Rndnrn. 1 ff. m. w. N. Zum Aspekt eines Funktionswandels der Justiz gegenüber der Öffentlichkeit im Sinne eines vornehmlichen „Dienstleister(s)“: Prinz in: Engelschall-FS, S. 243 (253). 4 So Kleinknecht in: Schmidt-Leichner FS, S. 111 (112 f. m. w. N.); M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; auch bereits Kübler, DRiZ 1969, S. 379 (382 m. w. N.). Ähnlich 1 2

A. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

75

gilt zu überprüfen, ob sich Sinn und Zweck einer medienöffentlichen Strafrechtspflege mittlerweile zuvorderst in der Befriedigung des öffentlichen Informationsinteresses erschöpfen.5

A. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und Bedeutungswandel prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit I. Kernforderung der „bügerlichen Öffentlichkeit“: Umfassende Publizität hoheitlicher Machtausübung und Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit In Anknüpfung an die Ideenkonzepte der Aufklärungsphilosophie wurde die Forderung nach umfassender Publizität hoheitlicher Machtausübung und der Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit erhoben. Die Durchsetzung dieser Forderungen wäre ohne die Unterstützung des damals aufstrebenden Bürgertums als „bürgerlicher Öffentlichkeit“ unmöglich gewesen.6 Jürgen Habermas7 stellt in seiner Untersuchung zentral auf diese „bürgerliche Öffentlichkeit“ des 18. Jahrhunderts ab, die sich aus der „repräsentativen Öffentlichkeit“8 der mittelalterlichen Feudalgesellschaft entwickelt habe. Diese repräsentative Öffentlichkeit habe zunächst hauptsächlich als Präsentationskulisse weltauch Schilken, der diesen Aspekt jedoch als „latent-präventiv“ weiterhin für beachtenswert einstuft (vgl. Gerichtsverfassungsrecht, Rndnr. 155 m. w. N.). 5 So M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1. 6 Vgl. Franke, Bildberichterstattung, S. 35; Rohde, Öffentlichkeit, S. 96. 7 Strukturwandel (1962). Marcic in: Arndt-FS, S. 267 (274), bezeichnet Habermas, Strukturwandel, als „Standardwerk“; vgl. auch Stamm, Alternative Öffentlichkeit, S. 24 m. w. N., der diese Untersuchung mit Negt / Kluge, Öffentlichkeit, als „theoretischen wie praktischen Wendepunkt ( . . . ) in der Auseinandersetzung mit den Massenmedien“ und als „praktisch politischen Impuls“ beschreibt. Speziell in juristischer Hinsicht wurde Habermas, Strukturwandel, in Bezug auf das juristische Öffentlichkeitsverständnis auch mehrfach übernommen: Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 191 ff. m. w. N.; Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 35 m. w. N., 69 m. w. N.; Franke, Bildberichterstattung, S. 37 f. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 99 ff. m. w. N.; Scholler, Person und Öffentlichkeit, S. 75 ff. m. w. N.; Zipf, Gutachten C, 54 DJT. Demgegenüber wird der Habermas’sche Ansatz auch kritisiert: Rust, Massenmedien, S. 19; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 78 ff. m. w. N.; Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 98 ff. m. w. N., der zuvorderst dessen Wirklichkeitsferne kritisiert (unter Verweis auf Dahrendorf [in: Löffler [Hrsg.], Das Publikum, S. 1 ff. m. w. N.], Debatin [in: Hirschfeld / Debatin [Hrsg.], Antinomien, S. 16 ff. m. w. N.] und Jäger [vgl. Öffentlichkeit und Parlamentarismus, S. 29 ff. m. w. N.]). Zur Begründung beruft sich Witzler insbesondere auf Untersuchungen zur politischen Theorie (etwa Barnes / Kasse, Political Action; Jäger, Öffentlichkeit; Negt / Kluge, Öffentlichkeit), auf kommunikationssoziologische (Friske, Justiz und Medien) und empirisch-juristische Untersuchungen (Delitz, Tagespresse und Justiz). 8 Habermas, Strukturwandel, S. 17 ff. m. w. N.

76

3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

licher und kirchlicher Herrschaft existiert. Demgegenüber sei die bürgerliche Öffentlichkeit vornehmlich die „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“9 gewesen, welche alsbald „die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit (. . . ) gegen die öffentliche Gewalt selbst (beanspruchte), um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen“10.

Diese politische Auseinandersetzung habe sich im Wesentlichen durch das „öffentliche Räsonnement“11 vollzogen. Ziel dieses öffentlichen Diskurses innerhalb der bürgerlichen Schicht der Besitzenden sei die Erreichung eines vernünftigen Konsenses gewesen12, galt doch – im Sinne Immanuel Kants – die grundlegende Vorstellung von der konstitutiven Notwendigkeit eines öffentlichen Staatsganzen als „dasjenige Prinzip, das allein die Einhelligkeit der Politik mit der Moral verbürgen kann“13. Stattgefunden habe diese öffentliche Diskussion zunächst in exklusiven kulturellen Foren (z. B. Salons).14 Dort sei über das Gehörte, Gelesene und Gesehene diskutiert worden. Die bürgerliche Öffentlichkeit habe sich sodann, in Gestalt dieser „literarischen Öffentlichkeit“, gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem gewichtigen gesellschaftspolitischen Faktor entwickelt, indem sie den öffentlichen Gebrauch der Vernunft erprobt habe. Dementsprechend habe sie den Vorgänger der „politischen Öffentlichkeit“ dargestellt.15 Diese politische Öffentlichkeit entwickelte sich anschließend zum maßgeblichen Förderer des öffentlichen Diskurses über Vernunft und Gerechtigkeit als Maßstäbe hoheitlichen Handelns. Man war nicht mehr bereit, die ausschließlich autoritäre Begründung hoheitlicher Machtausübung zu akzeptieren und übertrug, naheliegenderweise, den ökonomischen Wettbewerbsansatz auf die Politik.16 Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die geheime Staatspraxis der damaligen Zeit dem bürgerlichen Bedürfnis nach umfassender öffentlicher Diskussion über die Bedingungen hoheitlicher Machtausübung zuwiderlief. Demzufolge entwickelte sich die Forderung nach grundlegender Publizität hoheitlicher Entschei-

Habermas, Strukturwandel, S. 42. Im Vordergrund stand demgemäß die Durchsetzung eines ungehinderten Wirtschaftsverkehrs (vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 42). 11 Habermas, Strukturwandel, S. 42. 12 Habermas, Strukturwandel, S. 132 ff. m. w. N., 135. 13 Habermas, Strukturwandel, S. 128 m. w. N. 14 Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 131. 15 Siehe Habermas, Strukturwandel, S. 69 ff. m. w. N., zu den Begriffen der „literarischen“ und „politischen Öffentlichkeit“. 16 Siehe Franke, Bildberichterstattung, S. 30 m. w. N.; Martens, Öffentlich, S. 56 m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 98 m. w. N. 9

10

A. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

77

dungsprozesse respektive nach prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit gerade auf der gesellschaftlichen Ebene der politischen (bürgerlichen) Öffentlichkeit.

II. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und Wirkungsverlust des „bürgerlichen Menschentypus“ Dennoch erscheint die aufgeklärt-idealisierende Begründung der Notwendigkeit gerichtlicher Öffentlichkeit durch die Funktion der wahren Garantie gerechten Urteilens17 – insbesondere vor dem Hintergrund der tatsächlichen Entwicklungen – als fragwürdig. Zuzugeben ist doch, dass nach Durchsetzung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit wahrlich kein gerechtes Zeitalter angebrochen ist und sich die öffentliche Meinung in der Vergangenheit auch als fehlbar erwiesen hat.18 Insbesondere verschwammen die Konturen der liberalen Politikkonzepte in dem Maße, in welchem sich die damalige bürgerliche Gesellschaft veränderte.19 Dieser Wandel vollzog sich insbesondere seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts.20 Auf die diesbezügliche Bedeutung der damaligen sozialen Rahmenbedingungen weist Felix Herzog21 hin. Er nimmt dabei Bezug auf Eberhard Schmidt22, der feststellt, dass der „bürgerliche Menschentypus“ irgendwann aufhörte „für die soziale Struktur des deutschen Volkes bestimmend zu sein“. Der schnelle technische Fortschritt und die „wirtschaftliche Entfaltung nach der staatsrechtlichen Einigung des deutschen Volkes führten zur Industrialisierung und zur Entwicklung der Großstädte, die einerseits ungeahnte Möglichkeiten im Bereich des Kulturellen schufen, andererseits aber in ihren Elendsund Massenquartieren den furchtbaren Keim für die sozialen und politischen Spannungen erzeugten, deren abgründiger Problematik die Menschheit immer ratloser gegenüberzustehen begann. (. . . ) Die liberale Idee im Sinne Kants mit ihren herben Anforderungen an Haltung und Handeln durch den kategorischen Imperativ und ihrem humanen Verpflichtetsein gegenüber allem Menschlichen ging verloren“.

Auch Jürgen Habermas23 nimmt einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ an. Insoweit ist ihm auch grundsätzlich zuzustimmen: Wie schon oben24 festgestellt, 17 Dazu RGSt 18, S. 138 (140); 77, S. 186 (187); Arndt, NJW 1960, S. (423) 424 m. w. N.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 74 ff. m. w. N., 128 ff. m. w. N. Vgl. eingehender auch oben: 2. Kap. D. Kritisch Franke, Bildberichterstattung, S. 26 ff. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 101. 18 Vgl. Bäumler, JR 1978, S. 317 (319); Franke, Bildberichterstattung, S. 35 ff. m. w. N.; Martens, Öffentlich, S. 52 f. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 107 ff. m. w. N. 19 So auch Franke, Bildberichterstattung, S. 35 ff. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 87 f., 111 ff. m. w. N.; Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 90. 20 Hierzu Franke, Bildberichterstattung, S. 37 f. m. w. N. 21 (Hrsg.) Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (27). 22 Geschichte, S. 353. 23 Strukturwandel, S. 172 ff., 217 ff.

78

3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

ist die öffentliche Diskussion sozialer Probleme in der modernen Massendemokratie indessen wesentlich durch streitende Interessengruppen geprägt, welche die verschiedensten Partikularinteressen vertreten. Daher ist inzwischen weder das Modell der klaren Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft noch der Ansatz des finanziell unabhängigen, räsonnierenden Bürgertums einschlägig, welches ausschließlich das in solidarischer Hinsicht Beste im Blick hat.25 Daher können wir feststellen, dass sich die Strukturen der bürgerlichen Öffentlichkeit nachhaltig verändert haben. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass schon das Konzept der politischen (bürgerlichen) Öffentlichkeit nicht unproblematisch ist: Diese setzte sich hauptsächlich aus durch Bildung und Besitz privilegierten Bürgern zusammen.26 Die Auffassung, eine prinzipielle Offenheit dieses privilegierten Bürgertums sei allein schon dadurch gewährleistet, dass jedes Individuum den Zutritt aus eigener Anstrengung schaffen könne27, erscheint sehr fragwürdig: Aufgrund verschiedenster Umstände war der Großteil der Menschen vom öffentlichen Räsonnement des Bürgertums schlichtweg ausgeschlossen.28 Zudem verfolgte das Bürgertum seinerseits nicht etwa ausschließlich solidarische Interessen, sondern vielmehr insbesondere die eigenen wachstums- und wohlstandsorientierten Ziele.29 Zur Erreichung dieser Ziele stellte das politische Forum des öffentlichen Diskurses ein willkommenes und zugleich wirkungsvolles Instument der Einflussnahme dar. Dietmar Franke resümiert deshalb, „daß Öffentlichkeit ihrer ursprünglichen Grundlage beraubt und als Ideologie überführt war, noch bevor sie sich politisch durchzusetzen begann und in die Gerichtssäle Eingang fand“30.

1. Kap. B. II. Ähnlich auch Habermas, Strukturwandel, S. 211 ff. 26 In diesem Zusammenhang stellt Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (24) fest, dass sich die Mitglieder des Paulskirchenparlaments hauptsächlich aus Hochschullehrern, Beamten, freiberuflichen Juristen und Adligen zusammensetzten. 27 Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 101 ff. m. w. N., 107 f., 109 f. 28 So Franke, Bildberichterstattung, S. 35 f. m. w. N. und Rohde, Öffentlichkeit, S. 107 ff. m. w. N. Beide berufen sich auf Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 200, 243, der eine grundsätzliche „Ungleichheit der Geschicklichkeit, des Vermögens und selbst der intellektuellen und moralischen Bildung“ annimmt. 29 So auch Franke, Bildberichterstattung, S. 36 f. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 108; selbst Habermas, Strukturwandel, S. 76 ff. m. w. N., 87 ff. m. w. N. Auch Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (24), der schildert, dass es im Rahmen der Debatten über die Strafrechtspflege vornehmlich nicht etwa um die „Kriminalität der kleineren Leute“, sondern vielmehr darum ging, „wie politische Kriminalisierung von Angehörigen des aufstrebenden Bürgertums verhindert werden kann“. 30 Bildberichterstattung, S. 37. In eine ähnliche Richtung zielt auch Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (24), der davon spricht, „dass der bürgerliche Strafprozeß des 19. Jahrhunderts deutliche Erscheinungen von Klassenjustiz aufwies“. 24 25

A. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

79

Die eben erwähnte nachhaltige Veränderung der sozialen Strukturen begründet Jürgen Habermas mit dem „neuen Interventionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts“31. Er nimmt einerseits den Verlust des Dualismus von Staat und Gesellschaft an, dessen primäre Ursache er in einer fortschreitenden „Verstaatlichung der Gesellschaft“ und gleichzeitigen „Vergesellschaftung des Staates“ sieht, wodurch wiederum eine „repolitisierte Sozialsphäre“ entstanden sei.32 Andererseits stellt Jürgen Habermas aber auch eine Entwicklung des Publikums selbst „vom kulturräsonnierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“33 dar: Über das öffentliche Räsonnement der politischen (bürgerlichen) Öffentlichkeit hinaus wurde die Öffentlichkeit zunehmend auch durch Zeitschriften hergestellt. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts sei das öffentliche Räsonnement durch die Entwicklungen der industriellen Massengesellschaft und der hiermit einhergehenden Ausrichtung der wirtschaftlichen Bemühungen an der Massenproduktion verdrängt worden.34 Nicht zuletzt auch der steigende Absatzdruck führte zu einer inhaltlichen Entpolitisierung.35 Im Hinblick auf das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit nimmt Jürgen Habermas36 schließlich sogar eine „konsumkulturelle Entstellung“ insofern an, als Strafprozesse nunmehr weniger der Kontrolle der Rechtsprechung, sondern vielmehr der „Präparation der gerichtlich verhandelten Vorgänge für die Massenkultur der versammelten Verbraucher“ dienten.

III. Zusammenfassung Bei der Entwicklung der aufklärungsphilosophischen Ideenkonzepte der Publizität hoheitlichen Handelns und des öffentlichen Urteilens in einem reformierten Strafprozess spielte die politische (bürgerliche) Öffentlichkeit eine ganz wesentliche Rolle: Sie entwickelte diese Forderungen in der gesellschaftlichen Realität. Allerdings kann die Begründung der Notwendigkeit gerichtlicher Öffentlichkeit mit der Funktion der wahren Garantie gerechten Urteilens – der Gewährleistung wahrer und gerechter Verhältnisse innerhalb der Strafjustiz im bürgerlich-liberalen Habermas, Strukturwandel, S. 173. Vgl. zum Ganzen Habermas, Strukturwandel, S. 173. 33 Habermas, Strukturwandel, S. 193 ff. m. w. N. 34 Dazu Habermas, Strukturwandel, S. 203 m. w. N. zur „kommerziellen Massenpresse“ am Beispiel des frühen „Yellow Journalism“. 35 So Habermas, Strukturwandel, S. 206 m. w. N. 36 Strukturwandel, S. 245. Habermas, Strukturwandel, S. 247, widerspricht des weiteren Eb. Schmidt in: Walter Schmidt-FS, S. 338 (351 f.), der seinerseits fordert, prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit auf die Gewährleistung der unmittelbaren Öffentlichkeit zu reduzieren. Hierin liege ein untauglicher „Versuch einer Restauration liberaler Öffentlichkeit durch Reduktion ihrer plebiszitär ausgeweiteten Gestalt“, der „Öffentlichkeit allenfalls in der ihr genuin verbliebenen Restfunktion noch mehr schwächen“ würde. 31 32

80

3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Rechtsstaat – nicht aufrechterhalten werden. So ist nach deren Einführung kein gerechtes Zeitalter angebrochen und die Konturen liberaler Politikkonzepte verschwammen in dem Maße, in welchem sich auch die damalige bürgerliche Gesellschaft veränderte. Schon die Strukturen der deutschen Industrie- und Massengesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden nicht mehr durch den „bürgerlichen Menschentypus“ bestimmt. Der für die Entfaltung der politischen (bürgerlichen) Öffentlichkeit maßgebliche Dualismus von Staat und Gesellschaft ging aufgrund einer zunehmenden Verschränkung dieser beiden Sphären zu einer „repolitisierten (weder privaten noch staatlichen) Sozialsphäre“ verloren. Das Kulturräsonnement des bürgerlichen Publikums entwickelte sich zum schlichten Kulturkonsum. Obgleich staatliche Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse durch eine derartige öffentliche Ausgestaltung transparenter werden37, dient prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit mittlerweile weniger der öffentlichen Kontrolle als vielmehr der Befriedigung des öffentlichen Konsumbedarfs.38

B. Kritische Bestimmung der Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit Von Anfang an wurden dem Konzept einer prinzipiellen Gerichtsöffentlichkeit in der Diskussion über eine Reform des Strafprozesses neben der aufgeklärt-idealisierenden Hoffnung von der wahren Garantie gerechten Urteilens auch andere Funktionen zugeschrieben. Diese wurden jedoch während der Hochzeit aufgeklärter Öffentlichkeitseuphorie in den Hintergrund gedrängt.39 Je merklicher diese Euphorie aber abnahm, desto stärker traten diese anderen Funktionsstrukturen in den Vordergrund. Dieser Entwicklung trägt ein kritischerer Ansatz Rechnung, welcher die gegenwärtigen Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit vor dem Hintergrund eines kritischen rechtshistorischen Rückblicks bestimmt.40

37 So auch Arndt, NJW 1960, S. 423 (424); Franke, Bildberichterstattung, S. 38; Habermas, Strukturwandel, S. 247; Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 76 f. m. w. N. Zuletzt weiterhin Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 196 m. w. N., der Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ in seiner Untersuchung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit eine ähnliche Bedeutung beimisst. 38 Zur Untersuchung dieser Entwicklung sogleich: 3. Kap. D. I. 39 Eingehender Grundmann, Ausschluß der Oeffentlichkeit, S. 7 ff. m. w. N.; Kissel, GVG, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 26 ff. m. w. N. 40 Vgl. Franke, Bildberichterstattung, S. 24, 38 ff. m. w. N.; Martens, Öffentlich, S. 50 ff., 59 ff. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 149 ff. m. w. N.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 5 ff. m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 95 ff. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 40 ff., 84 ff. m. w. N.

B. Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

81

I. Schutz der richterlichen Unabhängigkeit Rechtshistorisch tief verwurzelt ist zunächst die Vorstellung, mittels prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit sicherstellen zu können, dass von Seiten des Monarchen bzw. seines hoheitlichen Verwaltungsapparates keinerlei unfaire Einflussnahme auf die Gerichte und deren Entscheidungsfindung erfolgt.41 Auch nach heutiger Auffassung kann das Prinzip gerichtlicher Öffentlichkeit den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit vor unzulässigen Eingriffen gewährleisten.42 Dennoch bleibt kritisch anzumerken, dass eine derartige Einflussnahme auch viel subtiler erfolgen kann (scil. mittels Beeinflussung des Einstellungsprozesses für Richter, deren dienstlicher Beurteilung oder deren Beförderung).43

II. Kontrollfunktion Bei der Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit kam weiterhin dem Gesichtspunkt des Kontrollbedürfnisses judikativer Entscheidungsprozesse eine herausragende Bedeutung zu.44 Geprägt durch die leidvollen Erfahrungen mit der inquisitorischen Geheimjustiz sollte unbedingt der Schutz des Angeklagten vor richterlicher Willkür gewährleistet werden. Genauso fürchtete man jedoch politische Einflussnahmeversuche auf einzelne Strafverfahren. Sicherlich ist diese Funktion prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit auch heutzutage relevant.45 Genauso wenig ist aber die vor allem in der modernen Mediengesellschaft46 bestehende Gefahr der medialen Beeinflussung des Gerichts durch intensive Kriminalberichterstattung von der Hand zu weisen. Mediale Kriminalberichterstattung kann dazu geeignet sein, einen erheblichen Verurteilungsdruck durch die Aufheizung der öffentlichen Stimmungslage auszuüben. Dies gilt in besonderem Maße, falls das vorhergehende Ermittlungsverfahren in eine einseitig-öffentliche „Inquisition“47 41 Siehe Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 40 m. w. N.; Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 37 ff. m. w. N.; Schiff, Oeffentlichkeit, S. 21. Dazu auch schon oben: 2. Kap. C. II. 2. 42 Dazu Bäumler, JR 1978, S. 317 (320 m.w.N); Franzki, DRiZ 1979, S. 82; Roxin, Strafverfahrensrecht, 8. Kap., § 45, Rndnr. 2 m. w. N. 43 Auch Bohlander / Latour, ZRP 1997, S. 437 ff. m. w. N.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 167 ff. m. w. N. 44 Vgl. Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 36, 77 ff. m. w. N.; von Feuerbach, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, 1. Bd., S. 147 ff.; Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 23 ff. m. w. N.; Ranft, Jura 1995, S. 573 (574 m. w. N.). Hierzu eingehender bereits oben: 2. Kap. C. II. 2. 45 Vgl. BGH, NJW 1970, S. 1847 m. w. N.; BGHSt 27, S. 13 (15 m. w. N.); Hamm, NJW 1995, S. 760 (761 m. w. N.); Diemer in: KK, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 2 m. w. N.; Peters, Der Strafprozeß, S. 554 m. w. N.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 22, 46, 57 ff. m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 118 ff. m. w. N.; Schroeder in: Eser / Kaiser (Hrsg.), Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141. 46 Vgl. oben: 1. Kap. B. I.

6 Neuling

82

3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

ausgeartet sein sollte. Diese Anfälligkeit des Strafverfahrens beeinträchtigt die funktionale Konkretisierung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit durch ihre Kontrollfunktion erheblich.48

III. Strafzweckdurchsetzung Das Strafverfahren dient grundsätzlich der Durchsetzung des materiellen Strafrechts.49 Insofern ist das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit auch im Hinblick auf die Strafzwecke relevant. Nach den relativen Straftheorien beabsichtigt die gerichtliche Strafe, eine allgemein spürbare – reale – Wirkung zu entfalten.50 Wird also zu Gunsten der Verhinderung von Straftaten und der Bewahrung der Schutzfunktion des Strafrechts ein realer – präventiver – Strafzweck verfolgt51, so wird man annehmen, prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit fördere die öffentliche Wahrnehmung der strafgerichtlichen Sanktionierung eines Verstoßes gegen die Rechtsordnung. Auf diesem Wege können die mit der gerichtlichen Bestrafung bezweckten Präventionseffekte unterstützt werden.52 So wird verständlich, warum auch generalpräventive Erwägungen53 während der Bemühungen um die Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit eine wichDazu schon oben: 1. Kap. A., E. Vgl. auch Hamm, NJW 1995, S. 760 f. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 43, 46 f., 62 ff. m. w. N. 49 Siehe Rohde, Öffentlichkeit, S. 134 f. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, Einleitung, § 1, Rndnrn. 3 ff., 13 m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 208 m. w. N. 50 Eingehender Hassemer, Einführung, § 28, S. 282 ff. m. w. N.; Schmidhäuser in: Eb. Schmidt-FS, S. 511 f. m. w. N.; Stock in: Mezger-FS, S. 429 ff. m. w. N. Hassemer vollzieht die Abgrenzung der relativen von der absoluten Straftheorie sehr instruktiv: Die absoluten –„klassischen„– Straftheorien “verstehen sich unabhängig von einem realen Zweck, sie achten nicht auf den Ausgang der Sache, sie ruhen in sich und sind nicht (. . . ) auf empirische Wirkungen der Strafe angewiesen“. Auf Kants lehrreiches „Inselbeispiel“ Bezug nehmend, erläutert Hassemer, dass es der absoluten Straftheorie darum gehe, der Gerechtigkeit zu genügen, indem ein Schuldausgleich vorgenommen werde. Dagegen gehe es der relativen Straftheorie um die Erzielung einer spürbaren Auswirkung in der unvollkommenen Wirklichkeit (vgl. dazu insgesamt Hassemer, Einführung, § 28, S. 283 f. m. w. N.). Insofern lässt sich zwischen dem absoluten Strafansatz und prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit von vornherein keinerlei Verbindung herstellen. 51 Im Hinblick auf präventive Strafzweckbestrebungen knüpft Herzog, Manifestation des Rechts, S. 1, 13 ff. m. w. N., 89 ff. m. w. N., an die maßgeblich von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte „Kritische Theorie“ an, welche insbesondere die Wandlung der aufklärerischen Vernunft zu einer ausschließlich zweckorientierten, „instrumentellen Vernunft“ in der Moderne kritisiert, und warnt davor, dass Strafrecht zu einer „strategischen Manövriermasse instrumenteller Herrschaftsvernunft“ gerät. Dabei spricht er sich grundsätzlich für den Weg „kritisch-absoluter Strafbegründung“ aus. 52 Vgl. detaillierter zur präventiven Straftheorie: Hassemer, Einführung, § 28. 53 Eingehender Hassemer, Einführung, § 30. 47 48

B. Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

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tige Rolle spielten.54 Im Sinne der negativen Generalprävention, welche das Konzept der Abschreckung durch die Androhung harter Strafen durch strenge Strafgesetze verfolgt, entfaltet prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit eine wünschenswerte Wirkung: Die öffentliche Wahrnehmung der strafgerichtlichen Verhängung einer Strafe bekräftigt in besonderem Maße die aktive Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs.55 Daneben sind die Folgen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit auch unter dem Gesichtspunkt der positiven Generalprävention56 begrüßenswert. Die durch die öffentliche Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs intendierte Vertrauensstärkung und die dadurch hervorgerufenen Befriedigungseffekte können dazu beitragen, dass sich in der Bevölkerung ein präsentes Rechtsbewusstsein im Sinne einer Gegenwärtigkeit der bestandskräftigen Rechtsordnung verbreitet. Demgegenüber verbleibt jedoch auch die Möglichkeit, dass hierdurch ein kontraproduktiver Effekt hervorgerufen wird. So ist grundsätzlich denkbar, dass eine strafgerichtliche Entscheidung in der breiten Öffentlichkeit auf Unverständnis oder sogar Ablehnung stößt.57 Im Rahmen der Spezialprävention58 ist zu unterscheiden: Soll im Sinne der negativen Spezialprävention erreicht werden, dass ein verurteilter Straftäter zukünftig keine Straftaten mehr begeht, so lässt sich in Bezug auf die Einordnung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit kein eindeutiges Votum erreichen. Erblicken wir jedoch bereits in der Durchführung des Strafverfahrens eine Bestrafung des Angeklagten59, kann dessen gerichtsöffentliche Durchführung in der Tat eine abschreckende Wirkung entfalten. Unter positiv-spezialpräventiven Gesichtspunkten stellt sich die Bewertung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit wiederum anders dar: Soll dem verurteilten Straftäter eine anschließende Resozialisierung ermöglicht werden, ist diesem Vorhaben jegliche Form strafgerichtlicher Öffentlichkeit abträglich.60 Selbst bei Anerkennung eines hierdurch verbreiteten Verständnisses in der Bevölkerung für die gesellschaftliche Bedeutung der Resozialisierung straffällig gewordener Menschen61 überwiegt doch die große Sorge vor möglichen Anprangerungs- und Stig-

54 Vgl. auch Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 41, 95 f. m. w. N.; Rohde, Öffentlichkeit, S. 144 ff. m. w. N. 55 Hierzu Jescheck / Weigend, Lehrbuch, § 8 IV 2 m. w. N.; Kaiser, Rehberg-FS, S. 171 (174 ff. m. w. N.); Martens, Öffentlich, S. 75 m. w. N.; Roxin, Strafrecht, 1. Abschn., § 3, Rndnrn. 23, 25 m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 211 f. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 50 f., 92 m. w. N. 56 Zu den Aspekten positiver Generalprävention eingehender: Müller-Dietz in: JescheckFS, 2. Bd., S. 813 ff. m. w. N. 57 Hierzu Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 30 ff. m. w. N.; Walther, JZ 1998, S. 1145 (1149 m. w. N.); Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 51 f., 92 f. m. w. N. 58 Siehe eingehender Hassemer, Einführung, § 29. 59 In diesem Kontext Feeley, The process is the punishment, S. 3 ff., 199 ff. 60 Ähnlich Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 203 m. w. N.

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

matisierungseffekten. Dementsprechend steht das Modell prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit grundsätzlich dem Bemühen um Resozialisierung entgegen. Zusammengefasst ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der strafprozessualen Berücksichtigung materiell-strafrechtlicher Ziele kein eindeutiges Ergebnis für oder wider prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit. Während deren „Nebenwirkungen“ unter generalpräventiven Gesichtspunkten durchaus begrüßenswert sein können, beschädigt sie demgegenüber den im Sinne der positiven Spezialprävention intendierten Resozialisierungsprozess u. U. in schwerwiegender Art und Weise.

IV. Vermittlung von Rechtskenntnissen Schon früh wurde von den Befürwortern der Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit die Auffassung vertreten, dass hierdurch eine verbesserte Verbreitung von Rechtskenntnissen in der Bevölkerung erreicht werden könne.62 Diese Funktion ist heute grundsätzlich anerkannt, obgleich kritisch bemerkt wird, dass Gerichtsverhandlungen mittlerweile kaum mehr besucht würden63 und dass die wenigen Gerichtsbesucher in Wirklichkeit vorrangig ihr Sensationsbedürfnis befriedigen wollten.64

V. Zusammenfassung Wir haben festgestellt, dass uns die kritische Bestimmung der Funktionsstrukturen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit immerfort zu verfassungsrechtlichen Fundamentalprinzipien führt: Das Motiv des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit besitzt mit Blick auf Art. 97 GG die Qualität eines rechtsstaatlichen Wesensmerkmals.65 Der Schutz des Einzelnen als demokratischer Staatssouverän

61 Hierzu Kargl / Sinner, Jura 1998, S. 231 (232 f. m. w. N.); Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 198, 217, 236 m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 48 ff. m. w. N. 62 Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 96 ff. m. w. N.; Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 52 ff. m. w. N.; Grundmann, Ausschluß der Oeffentlichkeit, S. 10 m. w. N. Weiterhin auch Hepp, Öffentlichkeit, S. 120 f.; Weber, Gerichtsverfahren, S. 55 f., die beide allerdings im Ergebnis auf die hiermit verbundene Abschreckungswirkung abheben. Dazu auch oben: 2. Kap. C. II. 2. 63 Siehe M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rndnr. 156 m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 216 m. w. N.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Kap., § 25 I 1; Zuck, NJW 1995, S. 2082 f. m. w. N. 64 Vgl. hierzu Rohde, Öffentlichkeit, S. 152 f. m. w. N.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Kap., § 25 I 1. 65 Ähnlich Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 234, 257 m. w. N. Demgegenüber kritisch: Franke, Bildberichterstattung, S. 53 ff. m. w. N.

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

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vor richterlicher Willkür und der Institution „Strafverfahren“ vor politischer Einflussnahme führt uns einerseits zur Demokratie-, andererseits aber auch erneut zur Rechtsstaatsmaxime. 66 Auch der vor dem Hintergrund der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs bedeutsame Aspekt der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege steht wiederum in verfassungsrechtlichem Kontext mit der Rechtsstaatsmaxime.67 Die Funktion der intensiveren Vermittlung von Rechtskenntnissen folgt dem Bedürfnis nach grundsätzlicher Berechenbarkeit richterlicher Entscheidungen und steht demgemäß in direktem Zusammenhang sowohl mit der Demokratie- als auch mit der Rechtsstaatsmaxime. 68 Mithin können wir festhalten, dass die Funktionsstrukturen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit durch eine verfassungsrechtliche Prägung charakterisiert werden.69 Dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass dem Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit selbst Verfassungsrang zukommt; dies muss vielmehr erst geprüft werden.

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit I. Vorbemerkungen In Anknüpfung an das gerade gefundene Ergebnis wollen wir uns nun der Frage zuwenden, inwieweit dem Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Prägung darüber hinaus selbst Verfassungsrang zukommt.70 So war es der Bundesgerichtshof selbst, der die prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit schon früh als „alte demokratische Forderung“71 bezeichnete und einen entspre66 Hierzu Rohde, Öffentlichkeit, S. 172 ff. m. w. N.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rndnr. 159 m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 229, 233, 249, 255 m. w. N.; eingehender Weidemann, DRiZ 1970, S. 114 ff. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 53 f. m. w. N.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Kap., § 25 I 2 m. w. N. 67 Hierzu ausführlicher BGH, NJW 1998, S. 86 ff. m. w. N. 68 So Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 228 f., 231, 253 f. m. w. N. Dagegen: Franke, Bildberichterstattung, S. 51 ff. m. w. N. 69 Rohde, Öffentlichkeit, S. 165 ff. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 8. Kap., § 45, Rndnr. 2 m. w. N.; Wettstein, Verfahrensöffentlichkeit, S. 55 ff. m. w. N.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Kap., § 25 I 2 m. w. N. Auch Britz arbeitet auf diesem Wege die verfassungsrechtliche Prägung der Garantie prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit heraus (Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 196 ff. m. w. N.). 70 Siehe hierzu auch Bäumler, JR 1978, S. 317 (319 m. w. N.); Rohde, Öffentlichkeit, S. 149 ff. m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 62 ff. m. w. N. 71 BGHSt 2, S. 56 (57); 4, S. 279 (283 m. w. N.); kritisch dazu: Fögen, Gerichtsöffentlichkeit, S. 46 ff., 64 ff., 72, 74, 122 ff. m. w. N.; Franke, Bildberichterstattung, S. 38 f. m. w. N. Zur prinzipiellen Gerichtsöffentlichkeit als in rechtsstaatlicher Hinsicht „grundlegende Einrichtung“: BGHSt 9, S. 280 (281 m. w. N.); 21, S. 72 (73); 22, S. 297 (301); 23, S. 176 (178).

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

chenden Zusammenhang mit der Rechtsstaatsmaxime herstellte. In die gleiche Richtung zielen die Feststellungen, prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit stelle ein tragendes gerichtsverfassungsrechtliches Prinzip72 bzw. eine Ausprägung der Demokratie- und der Rechtsstaatsmaxime 73 dar. Leider werden diese Bewertungen nur selten konkreter ausgeführt74, und prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit wird eher pauschal aufgrund ihrer rechtshistorischen Entwicklung als fester Bestandteil des reformierten Strafprozesses aufgefasst.75 Erst seit einigen Jahren wird versucht, die aktuellen Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit im Rahmen einer kritischen Analyse ihrer rechtshistorischen Wurzeln exakter zu bestimmen.76 Zunächst kann festgestellt werden, dass die prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit – anders als z. B. die Parlamentsöffentlichkeit (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG) – nicht ausdrücklich in der deutschen Staatsverfassung normiert wurde.77 Insoweit wird die Zulässigkeit einer verfassungsunmittelbaren Ableitung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit teilweise verneint.78 Hiergegen wendet sich eine widersprechende Auffassung mit dem Argument der fundamentalen grundgesetzlichen Entscheidung zu Gunsten eines repräsentativ-demokratischen Rechtsstaates.79 Der Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht wiederum stehen einer derartigen Herleitung kritisch gegenüber. Sie erkennen zwar an, dass eine prinzipielle Ge-

Vgl. BGHSt 1, S. 334 (335); Schweling, DRiZ 1970, S. 354. Siehe Rohde, Öffentlichkeit, S. 165 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 8. Kap., § 45, Rndnr. 2 m. w. N.; mit Verweis: Rieß in: L-R, Einl., Abschn. H., Rndnr. 66 m. w. N.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rndnr. 159 m. w. N.; Wettstein, Öffentlichkeitsgrundsatz, S. 55 ff. m. w. N.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, § 25 I 2 m. w. N.; deutlich von der Verfassung abgrenzend: Diemer in: KK, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 21. m. w. N. 74 Franke, Bildberichterstattung, S. 39 f., 48 m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 35 f. m. w. N. 75 Ähnlich kritisch auch Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 209 m. w. N. 76 Dazu Franke, Bildberichterstattung, S. 38 ff., 48 ff. m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 35 f. m. w. N. Deren „personale Komponente“ arbeiten Alwart, JZ 1990, S. 883 (892 f., 895 f. m. w. N.) bzw. Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 157 ff. m. w. N., heraus. 77 Eine landesverfassungsrechtliche Ausnahme stellt Art. 90 BayVerf dar (vgl. bereits oben: 2. Kap. / B.). 78 Franke, Bildberichterstattung, S. 38 ff., 48 ff. m. w. N.; Kleinknecht in: Schmidt-Leichner FS, S. 111 (112 m. w. N.); Kissel, GVG, § 169, Rndnr. 4 m. w. N.; M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1 m.w.N.; Martens, Öffentlich, S. 74 ff. m. w. N. 79 Vgl. grundsätzlich Arndt, NJW 1960, S. 423 ff. m. w. N.; Bäumler, JR 1978, S. 317 (320 m. w. N.); Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 77, der von einer „demokratischen Öffentlichkeit“ spricht; Prinz in: Engelschall-FS, S. 243 (246 f. m. w. N.); Rohde, Öffentlichkeit, S. 168, 176; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 63 ff., 71 ff. m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 243 ff., 262 m. w. N.; Schneider, JuS 1963, S. 346 (350 m. w. N.); Stürner, Gutachten A, 58. DJT, A 42 m. w. N.; ders. in: Baur-FS, S. 647 (660 m. w. N.); ders., JZ 1980, S. 1 (6 m. w. N.); Wettstein, Verfahrensöffentlichkeit, S. 64. 72 73

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

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richtsöffentlichkeit zu den „grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats“80 zählen müsse, lehnen eine verfassungsunmittelbare Verankerung im Ergebnis allerdings ab. Auch das Bundesverfassungsgericht ließ in einer älteren Entscheidung81 durchblicken, dass es die prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit zwar als eine beherrschende Prozess-, nicht aber als unmittelbare Verfassungsmaxime anerkenne. Eine Besonderheit gilt dennoch insofern, als dieser erwähnten Entscheidung keine fundamentale Aussage über die grundsätzliche Bedeutung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit entnommen werden kann. Die Einordnung als Prozessmaxime erfolgte vielmehr nebenbei, ohne dass detaillierter auf die konkrete Fragestellung der Zulässigkeit einer verfassungsunmittelbaren Ableitung eingegangen wurde.82 Deshalb ist eine eingehendere Befassung mit dieser grundlegenden Frage notwendig.

II. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit und demokratieprinzipielles Transparenzgebot für staatliche Entscheidungsprozesse Folgt prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit bereits aus der Demokratiemaxime (vgl. Art. 20 Abs. 1, 2 GG)?83 Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst untersucht werden, ob aus der Demokratiemaxime ein umfassendes Transparenzgebot staatlicher Entscheidungsprozesse folgt. Sollte diese Frage bejaht werden, wird zu analysieren sein, inwieweit hieraus auch das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit ableitbar ist. Die grundgesetzliche Demokratiemaxime (vgl. Art. 20 Abs. 1, 2 GG) bildet ein für die staatsorganisatorische Struktur der Bundesrepublik Deutschland konstitutives Prinzip.84 Art. 20 Abs. 2 GG konkretisiert diese staatsorganisatorische Konzeption als repräsentative Demokratie. Das Staatsvolk beschränkt sich als originärer Träger der Staatsgewalt auf deren unmittelbare Ausübung bei Wahlen und Abstimmungen. Hierdurch wird die Staatsgewalt auf die Staatsorgane der Legislative (gesetzgebende Staatsgewalt), der Exekutive (vollziehende Staatsgewalt) und der Judikative (rechtsprechende Staatsgewalt) übertragen. Jeder Form staatlicher Machtausübung geht ein Akt der Übertragung von Staatsgewalt im Wege der ple80 BGHSt 9, S. 280 (281 m. w. N.); 21, S. 72 (73); 22, S. 297 (301); 23, S. 176 (178); BVerwG, DÖV 1984, S. 889. 81 BVerfGE 15, S. 303 (307). 82 Ähnlich auch die Bewertung dieser Entscheidung von Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 209. 83 Zu dieser Frage auch: Prinz in: Engelschall-FS, S. 243 (244 f. m. w. N.). 84 Art. 20 GG wird auch als „Staatsfundamentalnorm“ bezeichnet (Herzog in: M-D, GG, Art. 20, 1. Abschn., Rndnrn. 7 f. m. w. N.). Weiterhin auch Stein in: AK, GG, Art. 20 Abs. 1 – 3, 2. Abschn., Rndnrn. 25 ff. m. w. N., 3. Abschn. m. w. N.

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

biszitären Delegation voraus.85 So legitimieren regelmäßige Wahlen und Abstimmungen die gewählten Volksvertreter, gewährleisten zugleich aber auch eine stete Kontrolle der getroffenen Delegationsentscheidungen.86 Ein derartiger Repräsentationsmechanismus funktioniert nur bei einer kontinuierlichen Kommunikation zwischen dem Staatsvolk und den Organen der Staatsgewalt.87 Zwar wäre grundsätzlich denkbar, die hierfür notwendige Bereitstellung von Auskünften und Informationen im Wege der staatlichen Fürsorge – etwa durch staatliche Informationsdienste oder Merkblätter – sicherzustellen.88 Wichtigste Funktionsbedingung dieses Auskunfts- und Informationsaustausches ist aber gerade dessen uneingeschränkte Freiheit vor jedweder Einflussnahmemöglichkeit seitens der Organe staatlicher Gewalt. Nur so wird jeder Anschein einer Manipulationsgefahr von Beginn an vermieden.89 Wird auf diesem Weg eine umfassende Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse erreicht, kann der einzelne Staatsbürger hiervon unbeeinflusst und detailliert Kenntnis nehmen und die Staatsgewalt kontrollieren.90 Die umfassende Information des Staatsvolkes über staatliche Entscheidungsprozesse stellt somit das vitale Fundament des demokratischen Staatsganzen dar.91 Obgleich gewisse Bereiche staatlicher Machtausübung aufgrund überwiegend gegenläufiger Interessen nichtöffentlich ausgestaltet sind92, können wir trotzdem 85 In diesem Sinne wird auch von dem Erfordernis einer „Legitimationskette“ gesprochen (BVerfGE 47, S. 253 [275]); ähnlich 77, S. 1 [41]; 83, S. 71 ff. m. w. N. Weiterhin Herzog in: M-D, GG, Art. 20, 2. Abschn., Rndnrn. 52, 53 m. w. N. Ähnlich Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 3. Abschn., § 11 III 1 m. w. N. Auch Stein in: AK, GG, Art. 20 Abs. 1 – 3, 2. Abschn., Rndnr. 25. 86 So bereits BVerfGE 1, S. 13 (33); 18, S. 151 (154); Degenhart, Staatsrecht, Rndnrn. 12 f. m. w. N.; Jarass in: J / P, GG, Art. 20, Rndnr. 6 m. w. N. Neben dieser direkten Teilhabe des Staatsvolkes schützt das Grundgesetz weiterhin die kontinuierliche Entwicklung der öffentlichen Meinung, welche wiederum auf die Entscheidungen der Staatsorgane Einfluss nehmen soll (vgl. hierzu BVerfGE 5, S. 85 [204 f.]; 20, S. 56 [98 f.]; Stein / Frank, Staatsrecht, 2. Kap., § 8 III m. w. N.). 87 BVerfGE 69, S. 315 (344 f.); Schnapp in: M / K, GG, Art. 20, Rndnrn. 15, 18 m. w. N.; Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 75 m. w. N.; Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 3. Abschn., § 11 III 3 m. w. N. 88 Diese Alternative bedenkt auch Franke, Bildberichterstattung, S. 46 f. m. w. N. 89 Hierzu Grimm in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch, 3. Kap., § 14, Rndnr. 7. 90 BVerfGE 70, S. 324 (358), spricht von einem „allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie“. Weiterhin BVerfGE 89, S. 155 (185 m. w. N.); Bäumler, JR 1978, S. 317 (319 f. m. w. N.); Franke, Bildberichterstattung, S. 42 f. m. w. N.; Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 68 ff., 71 m. w. N.; Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 3. Abschn., § 11 III 1 m. w. N.; Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 245 m. w. N.; Zuck, DRiZ 1997, S. 23 (26 f. m. w. N.). 91 Vgl. hierzu umfassend BVerfG, NJW 1970, S. 235 ff. m. w. N.; Prinz in: EngelschallFS, S. 243 (247 m. w. N.); Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnrn. 5 ff. m. w. N. 92 Nahe liegendes Beispiel ist die nichtöffentliche Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden (dazu später detaillierter: 4. Kap. A.).

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

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feststellen, dass einer nichtöffentlichen Durchführung staatlicher Entscheidungsprozesse grundsätzlich die demokratische Legitimation fehlt. Derartige Vorgänge sind der plebiszitären Kontrolle a priori entzogen. Die Existenz einer öffentlichen Meinung ist deshalb wesentlicher Charakterzug einer repräsentativen Demokratie93, bereitet sie doch wiederum den unmittelbaren plebiszitären Teilhabeakt vor.94 Nun fragt sich weiterhin, inwieweit aus diesem demokratieprinzipiellen Grundsatz der Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse auch eine verfassungsunmittelbare Verankerung des Prinzips der Gerichtsöffentlichkeit folgt. Im Hinblick auf die vorstehend dargelegten Anforderungen an die plebiszitäre Delegation der Staatsgewalt erscheint vor allem der Prozess der Delegation judikativer Staatsgewalt problematisch. Diesbezüglich wird teilweise die Auffassung vertreten, dass ein verfassungsunmittelbares Erfordernis prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit mangels direkter und regelmäßiger Richterwahl abzulehnen sei.95 Zuzugeben ist dieser Auffassung zwar, dass der Status des auf Lebenszeit berufenen Richters von dem Status der Legislative respektive der Exekutive, die beide regelmäßigen Wahlen unterliegen, abgekoppelt ist. In dieser Hinsicht ist die judikative Staatsgewalt mithin unabhängiger (vgl. Art. 97 GG). Demgegenüber soll für die Frage der verfassungsrechtlichen Verankerung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit nach widersprechender Auffassung ausschließlich die lückenlose Rückführbarkeit judikativer Gewaltausübung auf ihren durch Wahlen ausgedrückten Auftrag des Staatsvolkes entscheidend sein.96 Diesem Erfordernis sei insofern Genüge getan, als der einzelne Richter durch den Justizminister berufen werde, der wiederum seine Exekutivgewalt von der gewählten Legislative ableite.97 Mithin sei das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit verfassungsrechtlich ge93 Eingehend hierzu Bleckmann, Staatsrecht, Rndnrn. 385 ff. m. w. N.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rndnr. 150 m. w. N.; Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 3. Abschn., § 11 III 3 m. w. N.; Stern, Staatsrecht, 1. Bd., 2. Abschn., § 6 II 10 m. w. N. Instruktiv zur freien Bildung der öffentlichen Meinung respektive ihrer Relevanz als politischer Faktor: Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 28 II, III m. w. N. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es „die öffentliche Meinung“ als solche nicht gibt und sie sich vielmehr aus der Gesamtheit der vielfältigen gesellschaftlichen Meinungsströmungen zusammensetzt. 94 Man kann hier auch von einer „Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes“ sprechen (vgl. dazu BVerfGE 8, S. 104 [113]. Weiterhin BVerfGE 14, S. 121 [132]). Dieser Bereich der Meinungs- und Willensentstehung ist verfassungsrechtlich geschützt, dem staatlichen Einfluss entzogen (dazu BVerfGE 20, S. 56 [97, 99 ff. m. w. N.], 44, S. 125 [138 ff. m. w. N.], 57, S. 295 [319 ff. m. w. N.]) und durch die fundamentalen Grundrechte der Art. 5 Abs. 1 , 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 2 gewährleistet (hierzu BVerfGE 5, S. 85 [134 f., 205]; 7, S. 198 [208]; 12, S. 113 [125 m. w. N.]). 95 So Martens, Öffentlich, S. 64, 74 f. m. w. N. Ähnlich Franke, Bildberichterstattung, S. 43, 47 m. w. N., der eine staatliche „Publizitätsbereitschaft“ verlangt. 96 Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 247 f. m. w. N.; auch Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 126 f. m. w. N. 97 Beachte auch die Ernennung der Richter am Bundesverfassungsgericht (vgl. Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG) und an den obersten Gerichtshöfen (vgl. Art. 95 Abs. 2 GG).

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

boten. Hiergegen ist einzuwenden, dass sich eine derartige Herleitung demokratischer Legitimation allenfalls bei Berufsrichtern durchführen ließe. Eine Begründung der demokratischen Legitimation von Laienrichtern ließe sich auf diesem Weg hingegen nicht erreichen. Unabhängig davon kann jedoch festgehalten werden, dass die judikative Staatsgewalt jedenfalls unmittelbar an die Gesetze der Legislative gebunden ist (vgl. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG); insofern ist der Wille des Staatsvolkes bestimmend.98 Hierneben wurzelt die richterliche Praxis unmittelbar in der plebiszitären Staatsgewalt, denn gerichtliche Urteile ergehen „im Namen des Volkes“ (vgl. § 268 Abs. 1 StPO).99 Darüber hinaus muss der einzelne Staatsbürger in unserer komplexer werdenden Rechtsordnung durch eine transparente Strukturierung gerichtlicher Rechtsfortbildung in die Lage versetzt werden, sich über seine Rechte und Pflichten umfassend informieren zu können.100 Muss sich die judikative Staatsgewalt bei der Anwendung unserer Gesetze zudem an der öffentlichen Meinung orientieren? Dies wird teilweise – unter Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG – bejaht.101 Gegen diese Auffassung wird wiederum der Einwand vorgebracht, dass – bejahendenfalls – die Gefahr einer unkontrollierbaren Beeinflussung der Rechtsprechung bestünde.102 Sicherlich bestehen gegenüber der Bejahung einer derartigen judikativen Bindung insbesondere im Hinblick auf den Minderheitenschutz erhebliche Bedenken. Keinesfalls dürfen in einer freien Demokratie Bedingungen entstehen, unter denen sich eine Minderheit prinzipiell dem Mehrheitswillen beugen muss. Diese Kernaussage ist wesentlicher Aspekt des Schutzes des pluralistischen Gemeinwesens103 im freien und demokratischen Rechtsstaat.104 Gleichfalls muss die judikative Staatsgewalt – ähnlich wie Legislative und Exekutive – der öffentlichen Diskussion und deren Ergebnis, der öffentlichen Meinung, offen gegenüberstehen. Die Rechtsprechung ist insoweit auf Zugänglichkeit angewiesen, als ansonsten keinerlei Möglichkeit bestünde, die grundlegenden Werte einer Gesellschaft bei der Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Im Idealfall finden diese gesellschaftlichen Vorstellungen schließlich Eingang in die Recht98 Bereits Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 47, der die umfassende Überprüfung der verfassungsrechtlichen Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit ähnlich durchführt. 99 Auch Bäumler, JR 1978, S. 317 (320 m. w. N.); Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 76 f. m. w. N.; Kübler, DRiZ 1969, S. 379 (383); Rohde, Öffentlichkeit, S. 171; Witzler, Die personale Öffentlichkeit, S. 127 m. w. N. Kritisch gegenüber dieser Begründung: Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 218 f. m. w. N. 100 In Bezug auf die Frage der Publikationspflicht für Gerichtsentscheidungen so schon das BVerwG, ZUM 1998, S. 78 (80 m. w. N.). 101 Schmidthals, Verfahrensöffentlichkeit, S. 248 f. m. w. N. 102 Bockelmann, NJW 1960, S. 217 (219 f. m. w. N.). 103 Zu diesem Aspekt Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rndnr. 154 m. w. N. 104 So bereits Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 48. Vgl. auch Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 3. Abschn., § 13 II 2 m. w. N.

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

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sprechung – findet gerichtliche Rechtsanwendung doch keinesfalls zum Selbstzweck statt.105 Mithin darf festgestellt werden: Im Sinne eines „allgemeinen Öffentlichkeitsprinzips der Demokratie“106 ist die kontinuierliche, wechselseitige Kommunikation zwischen dem Staatsvolk als originärem Inhaber der Staatsgewalt und den Organen der Staatsgewalt wesensmäßiges Charakteristikum der Organisation des freien und demokratischen Staatsganzen.107 Demgemäß findet das demokratieprinzipielle Transparenzgebot der judikativen Staatsgewalt seine verfassungsunmittelbare Ausprägung auch im Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit.108

III. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit und rechtsstaatsprinzipielles Transparenzgebot zur Kontrolle judikativer Rechtspraxis im gesellschaftlichen Raum Folgt weiterhin auch aus der Rechtsstaatsmaxime 109 das Erfordernis prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit?110 105 Dabei Zippelius, Wertungsprobleme, S. 131 ff. m. w. N., zur „herrschenden Rechtsmoral“ als dem „Richtmaß rechtlicher Wertentscheidungen“. 106 BVerfGE 70, S. 324 (358). In dieser Entscheidung hat das Gericht mit ähnlicher Begründung den gleichfalls nicht ausdrücklich in der Verfassung verankerten „Grundsatz der Budgetöffentlichkeit“ als Verfassungsgrundsatz eingestuft. Insoweit hat es sich zur eigenen beiläufigen Einordnung der prinzipiellen Gerichtsöffentlichkeit als Prozessmaxime (vgl. BVerfGE 15, S. 303 [307]) in Widerspruch gesetzt (so auch Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 49 m. w. N.). In eine ähnliche Richtung zielt auch eine Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts (ZUM 1998, S. 78 [80]) im Kontext einer gerichtlichen Veröffentlichungspflicht für Urteile bei dementsprechenden Anfragen: „Zur Begründung der Pflicht der Gerichte, der Öffentlichkeit ihre Entscheidungen zugänglich zu machen und zur Kenntnis zu geben, bedarf es bei dieser Verfassungslage keiner speziellen gesetzlichen Regelung; eine solche hätte lediglich klarstellende Wirkung.“ 107 Ähnlich BVerwG, ZUM 1998, S. 78 (80); Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 50 m. w. N. Die Auffassung, die Judikative habe sich grundsätzlich der öffentlichen Meinungsbildung zu stellen, untermauert Kohlhaas, NJW 1963, S. 477, sehr anschaulich, indem er zu bedenken gibt, dass doch „kein Naturschutzpark für irrende Richter und reformbedürftige Gesetze“ entstehen solle. 108 Vgl. Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 50 m. w. N.; Pieroth, JuS 1981, S. 625 (627 f. m. w. N.). Im Ergebnis auch Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 219 ff. m. w. N. 109 Der „Rechtsstaat“ wird ausdrücklich nur in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG bezeichnet. Die Maxime der „Rechtsstaatlichkeit“ ist jedoch als verfassungsrechtlich verankertes Fundamentalprinzip zweifellos anerkannt (vgl. BVerfGE 20, S. 323 [331 m. w. N.]; Herzog in: M-D, GG, Art. 20, 7. Abschn., Rndnrn. 1 ff. m. w. N.; Schmidt-Jortzig, NJW 1994, S. 2569 [2570 m. w. N.]; Stern, Staatsrecht, 1. Bd., § 20 II m. w. N.). Es hat an verschiedenen Stellen in der Verfassung seine nähere Konkretisierung erfahren (vgl. etwa Jarass in: J / P, GG, Art. 20, Rndnr. 28 m. w. N.). Hierneben erwägt Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 210 f.

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Aufgrund der inhaltlichen Komplexität und Weite dieser Maxime111 erscheint eine unmittelbare Ableitung äußerst problematisch.112 Daher soll es zunächst einmal darum gehen, die Rechtsstaatsmaxime in ihren verschiedenen Ausgestaltungen zu erfassen.113 Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung ist vor allem der Aspekt der Voraussehbarkeit staatlicher Machtausübung. Im modernen Rechtsstaat muss die Ausübung staatlicher Macht für den einzelnen Staatsbürger grundsätzlich berechenbar sein, so dass er sich über die aktuelle Rechtslage klar werden kann, d. h. ein Zustand umfassender Rechtssicherheit geschaffen wird.114 Demgemäß existiert eine Publikationspflicht für in Kraft getretene Gesetze (vgl. Art. 82 Abs. 1 GG), denn diese ist Grundvoraussetzung dafür, dass neue Norminhalte den einzelnen Staatsbürger überhaupt erreichen.115 Genügt eine abstrakte Möglichkeit zur Kenntnisnahme von Norminhalten nun aber dem rechtsstaatlichen Wesensmerkmal der Berechenbarkeit staatlicher Machtausübung?116 Oder besteht zudem vielleicht sogar das Erfordernis einer praktischen Möglichkeit zur Beobachtung richterlicher Rechtsanwendung?117 Diese letzte Frage ist im Hinblick auf die oftmals sehr weitreichenden Rechtsnormen zu bejahen. Zudem erbringt die Rechtsprechung für deren gesellschaftliche Akzeptanz einen außerordentlich wichtigen Beitrag: Während der Entwurf, die Beratung und schließlich der Beschluss unserer Gesetze der Lem. w. N., zusätzlich eine verfassungsunmittelbare Herleitung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit aus der Sozialstaatsmaxime. Siehe auch zum „Rechtsstaat“: Klein in: AK, GG, Art. 20 Abs. 1 – 3, 3. Abschn., Rndnrn. 26 f. m. w. N.; Frankenberg in: AK, GG, Art. 20 Abs. 1 – 3, 4. Abschn. m. w. N. 110 Vgl. zu dieser Frage auch Prinz in: Engelschall-FS, S. 243 (246 f.). 111 So BVerfGE 57, S. 250 (276), das die vorrangige Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im Hinblick auf die normative Ausgestaltung eines Verfassungsprinzips hervorhebt. Vgl. hierzu ausführlich Degenhart, Staatsrecht, § 3 m. w. N. 112 Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 210 ff. m. w. N., sieht deswegen völlig von einer Untersuchung möglicher Ableitungsalternativen ab. Ausführlich zur Rechtsstaatsmaxime: Franke, Bildberichterstattung, S. 48 ff. m. w. N.; Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 77 ff. m. w. N. 113 Diesbezüglich sind insbesondere das Prinzip der Teilung der Staatsgewalten, die Gewährleistung individueller Grundrechte, die Bindung der Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz sowie die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes bedeutsam (hierzu sehr übersichtlich Maunz / Zippelius, Staatsrecht, 3. Abschn., § 13 III). Vgl. weiterhin Heinrich, Jura 2003, S. 167 ff. m. w. N., zu „rechtsstaatlichen Mindestgarantien im Strafverfahren“. 114 Vgl. auch Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 82 f. m. w. N. 115 Hierzu BVerfGE 65, S. 283 (291 m. w. N.); BVerwGE 17, S. 192 (193 m. w. N.); Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 78 f. m. w. N. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 211 ff. m. w. N. Diesen Anknüpfungspunkt akzeptiert auch Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 211 m. w. N. 116 Dazu detaillierter Franke, Bildberichterstattung, S. 49 f. m. w. N.; Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 82 f. 117 Vgl. auch BVerwG, ZUM 1998, S. 78 (80); Franke, Bildberichterstattung, S. 49 f. m. w. N.; Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 78 f., 82 f. m. w. N.

C. Verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit

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gislative zugewiesen ist, füllen sich diese erst durch ihre praktische Anwendung in der judikativen Praxis mit Leben. Vielfach nimmt das „Recht“ erst zu diesem Zeitpunkt konkrete Formen an und wird auf diesem Weg für die Menschen begreifbar.118 Für die Bewährung des Rechts in der gesellschaftlichen Realität trägt die Rechtsprechung also eine ähnlich große Verantwortung wie die gesetzesschaffende Staatsgewalt, deren Praxis transparent ausgestaltet ist (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG)119.120 Demzufolge muss konsequenterweise auch eine maximale Wirkungskraft des Prinzips der Gerichtsöffentlichkeit befürwortet werden. Von dieser Annahme unberührt bleiben selbstverständlich – ähnlich wie im Bereich der Legislative – diejenigen Beschränkungen, welche aufgrund überwiegender entgegenstehender Interessen zwingend geboten sind. Ebenso ist im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung ein zweiter, den modernen Rechtsstaat wesensmäßig charakterisierender Aspekt ganz besonders relevant: die gewaltengeteilte Kontrolle judikativer Machtausübung. Die moderne rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schreibt die Teilung der Staatsgewalten als unveränderliches Fundamentalprinzip fest (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG). Es wird durch das Prinzip der Verschränkung und Verzahnung der Staatsgewalten maßvoll modifiziert, um die Staatsmacht in ihren verschiedenen Ausprägungen auszugleichen.121 Um die Staatsmacht gleichmäßig den Organen der Staatsgewalt zuzuweisen, ist gleichzeitig deren interessengerechte Mäßigung notwendig. Dieses Konzept wird allerdings nicht etwa durch ein rigoroses Abriegeln der Staatsgewalten untereinander, sondern vielmehr mittels der Installation eines ausgleichenden Systems wechselseitiger Kontrolle und Mäßigung erreicht. Präziser formuliert: Für den modernen Rechtsstaat ist ein durch çhecks and balances“ geprägtes Staatssystem konstitutiv.122 Nun sind aber nicht ausschließlich die Organe der Staatsgewalt zur rechtsstaatlichen Kontrolle befugt und verpflichtet. Vielmehr stellt gerade das Staatsvolk in seiner Gesamtheit den obersten (plebiszitären) Kontrolleur dar.123 Von dieser plebiszitären Kontrolle muss zuvorderst die judikative Staatgewalt erfasst sein, ist diese doch – wie schon oben124 dargelegt – weitgehend unabhängig.125 Zur effektiven Kontrolle ist mithin unbedingt eine weitgehende Information des Staatsvolkes Ähnlich schon Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 52 m. w. N. Hierzu schon oben: 2. Kap. B. 120 Vgl. insgesamt BVerwG, ZUM 1998, S. 78 ff. m. w. N. 121 Dazu BVerfG, DÖV 1997, S. 117 ff. m. w. N. Degenhart, Staatsrecht, Rndnr. 243 m.w.N; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rndnrn. 495 f. m. w. N. 122 Hierzu auch Degenhart, Staatsrecht, Rndnr. 243 m. w. N.; Schnapp in: M / K, GG, Art. 20, Rndnrn. 21, 32 ff. m. w. N. 123 Etwa Prinz, Engelschall-FS, S. 243 (246 m. w. N.); ausführlicher Schnapp in: M / K, GG, Art. 20, Rndnrn. 18 ff. m. w. N. 124 3. Kap. C. II. 125 Vgl. eingehender Gollwitzer in: L-R, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnrn. 86 ff. m. w. N. 118 119

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

erforderlich.126 Obwohl selbst der Bundesgerichtshof diese plebiszitäre Kontrolle als rechtsstaatliches Erfordernis bezeichnet hat127, begründet er die Ablehnung einer verfassungsunmittelbaren Verwurzelung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit mit dem Argument, hiergegen spreche die gesetzgeberische Möglichkeit, in gewissen Fällen deren Nichtöffentlichkeit normieren zu können.128 Diese Begründung überzeugt nicht, werden Verfassungsmaximen doch allgemein nicht „uferlos“ gewährleistet. Andernfalls bestünde die Gefahr der unverhältnismäßigen Beschränkung anderer verfassungsrechtlich verankerter Rechtspositionen. In diesem Sinne erschließt sich das verfassungsunmittelbare Wesen des Prinzips der Gerichtsöffentlichkeit gerade durch die Akzeptanz ihrer Beschränkung zu Gunsten widerstreitender Interessen.129

IV. Zusammenfassung Wir können festhalten, dass sowohl aus dem demokratieprinzipiellen als auch dem rechtsstaatsprinzipiellen Transparenzgebot ein verfassungsimmanentes Konzept prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit folgt.130 Der repräsentativ-demokratischen Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 1, 2 GG) entspringt eine konstitutive Notwendigkeit zur kontinuierlichen und manipulationsresistenten Kommunikation zwischen dem Staatsvolk als plebiszitärer Staatsgewalt und den Organen der Staatsgewalt. Insofern ist umfassende Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse vitales Fundament des freien und demokratischen Staatsganzen. Im Besonderen muss daher auch die judikative Staatsgewalt der öffentlichen Diskussion zugänglich sein. Schließlich ist die Rechtsprechung auf diesen Zugang angewiesen, um die grundlegenden Wertvorstellungen unserer Gesellschaft bei der Rechtsanwendung berücksichtigen zu können. Im Sinne einer elementaren, demokratischen Öffentlichkeitsmaxime erstreckt sich das demokratieprinzipielle Transparenzgebot – in seiner verfassungsunmittelbaren Ausprägung als prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit – mithin auch auf die judikative Staatsgewalt. Dem rechtsstaatsprinzipiellen Transparenzgebot ist das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit in zweierlei Hinsicht immanent: Zunächst erfordert das rechtsstaatliche Wesensmerkmal der Berechenbarkeit staatlicher Machtausübung mehr als nur Auch Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 54 m. w. N. Der Bundesgerichtshof spricht in diesem Zusammenhang von der öffentlichen Verhandlung als „grundlegender Einrichtung des Rechtsstaates“ (vgl. BGHSt 9, S. 280 [281 m. w. N.]; 21, S. 72 f. m. w. N.; 22, S. 297 [301 m. w. N.]; 23, S. 176 [178]). 128 BGHSt 21, S. 72 (73). Ähnlich Kissel, GVG, § 169, Rndnr. 4 m. w. N. 129 Vgl. auch Kuß, Öffentlichkeitsmaxime der Judikative, S. 55 m. w. N. 130 Siehe dazu auch Schroeder in: Eser / Kaiser (Hrsg.), Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 (142). 126 127

D. Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit

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die abstrakte Möglichkeit zur Kenntnisnahme von Norminhalten. Notwendig ist weiterhin die praktische Möglichkeit zur Beobachtung richterlicher Rechtsanwendung, nimmt doch „Recht“ konkrete Formen erst durch seine praktische Anwendung an und wird auf diese Weise Bestandteil gesellschaftlicher Realität. Dementsprechend trägt die Rechtsprechung für die endgültige Bewährung des „Rechts“ im Leben der Menschen eine ähnlich bedeutende Verantwortung wie die gesetzesschaffende Staatsgewalt, deren Praxis jedoch öffentlich ausgestaltet ist (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG). Daneben beschränkt sich das den modernen Rechtsstaat prägende Konzept der Teilung der Staatsgewalten (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG) im Sinne eines çhecks and balances“ nicht etwa auf die Organe staatlicher Gewalt; vielmehr stellt das Staatsvolk den obersten (plebiszitären) Kontrolleur dar, wodurch dessen umfassende Information notwendig ist.

D. Prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit und moderne Medienöffentlichkeit I. Aktueller Strukturwandel zu medialer Gerichtsöffentlichkeit? Nachdem die Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit im Wege einer kritischen Bestimmung dargelegt worden sind, soll nunmehr abschließend erörtert werden, ob es zutrifft, dass sich ein Paradigmenwechsel in Gestalt eines „Medienund Öffentlichkeitswandels“131 vollzieht, wodurch sich wiederum auch der gerade entwickelte „klassische“ Bedeutungs- und Funktionsgehalt prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit kontinuierlich auflöst.132 Erschöpfen sich Sinn und Zweck einer medienöffentlichen Strafrechtspflege daher mittlerweile zuvorderst in der Befriedigung des öffentlichen Informationsinteresses?133 Diesbezüglich bemerkt Roy Roberg:

Vgl. einleitend oben: 3. Kap. Vor A. So Kissel, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; Kleinknecht in: Schmidt-Leichner-FS, S. 111 f. m. w. N.; M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rndnrn. 155 f. m. w. N. Die Öffentlichkeit sei von einer „repräsentativen“ zu einer „kollektiven“ Öffentlichkeit geworden. Diese bezeichne nicht mehr nur den einzelnen interessierten Zuhörer im Gerichtssaal, sondern drehe sich um den Gerichtsberichterstatter, welcher für die Medien die breite Öffentlichkeit informiere. In diesem Sinne einer „Verfahrensöffentlichkeit“ stünde also die „Medienöffentlichkeit“ primär im Vordergrund (vgl. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit). Medienöffentlichkeit diene nicht mehr der öffentlichen Kontrolle des einzelnen Verfahrens, sondern vielmehr der abstrakt-generellen Information der breiten Öffentlichkeit. Daneben diene Medienöffentlichkeit einer kritischen Begleitung der Rechtsprechungspraxis als Teilaspekt des gesellschaftlichen Lebens (vgl. auch Erdsieck, NJW 1960, S. 1048 ff. m. w. N.; Kübler, DRiZ 1969, S. 379 [382 m. w. N.]). 133 So M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnr. 1 m. w. N. Vgl. einleitend bereits oben: 3. Kap Vor A. A. II., III. 131 132

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege „The impact of the media on crime and justice has always been of critical importance to a democratic society. The importance of the relationship between the mass media news and entertainment systems and the criminal justice system may be greater today than ever before. This is not only because of the increased interaction between these two powerful institutions in recent years, but also because the mass media have become the most pervasive source of shared knowledge regarding crime and justice in our society.“134

Wir können an diese Bemerkungen insoweit anknüpfen, als schon zu einem früheren Zeitpunkt dieser Untersuchung herausgearbeitet wurde, dass vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein folgenreicher technischer Fortschritt stattfindet. Dieser hat erhebliche Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen von Gerichtsöffentlichkeit und medialer Kriminalberichterstattung: Durch die technischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Informationstechnologien, insbesondere der audiovisuellen Medien (damals: Hörfunk und Fernsehen), gewann die mittelbare Gerichtsöffentlichkeit in besonderem Maße an Bedeutung.135 Diese technische Fortentwicklung hat sich über die Jahre hinweg beschleunigt und hat schließlich zum Eintritt unserer Gesellschaft in das moderne Informations- und Medienzeitalter136 geführt. Die neuen transindividuellen Kommunikationsstrukturen führen dazu, dass die Menschen viel eher auf die mittelbare Informationsmöglichkeit zurückgreifen, um sich ein Bild vom Zustand der staatlichen Strafrechtspflege zu machen. Hinzu tritt, dass vielen Menschen das unmittelbare Erleben strafgerichtlicher Rechtsanwendung durch ihre persönliche Anwesenheit im Gerichtssaal aufgrund ihrer Arbeitszeiten ohnehin zumeist kaum möglich ist.137 So reduziert sich die Funktion prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit zunehmend auf die Gewährleistung der Informationsmöglichkeiten der Medien im Hinblick auf ihre Stellung als zentrale Informationsübermittler.138 Zwar betont auch der Bundesgerichtshof regelmäßig, dass die breite Öffentlichkeit den „regsten Anteil“139 an der Strafrechtspflege nehme. Hierzu ist jedoch einschränkend zu bemerken, dass sich diese Anteilnahme vor allem auf besonders aufsehenerregende Strafverfahren beschränkt. Insoweit ist das Informationsinteresse der breiten Öffentlichkeit selektiven Charakters. Aufgrund seines formal festgelegten Ablaufes (vgl. §§ 243, 244 Abs. 1, 257 ff. StPO) stellt der Strafprozess wiederum für die Medien ein besonders gut verwertbares Ereignis dar, das regelrecht inszeniert werden kann. Zudem erspart es den Medienvertretern die Recherche und erleichtert auf diese Weise die mediale Darstellung. Diese Umstände werVorwort: Surette; Media, S. VII. Zu diesem Aspekt bereits oben: 1. Kap. B. I., 2. Kap. C. V. 136 Hierzu schon oben: 1. Kap. B. I. 137 Vgl. Lang, Ton- und Bildträger, S. 59 m. w. N.; Schneider, JuS 1963, S. 346 (350 m. w. N.). Kritisch Eb. Schmidt, JZ 1956, S. 206 (210 m. w. N.). 138 Siehe Bäumler, JR 1978, S. 317 (320 m. w. N.); Gerhardt, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 33 m. w. N. 139 Zu dieser Relevanz der Gerichtsöffentlichkeit BGHSt 9, S. 280 (282 m. w. N.); 21, S. 72 ff. m. w. N.; 22, S. 297 (301 m. w. N.); 23, S. 176 (178 ff. m. w. N.). 134 135

D. Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit

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den zusätzlich durch die feststehenden Termine begünstigt, die eine gut planbare und straffe Gerichtsberichterstattung ermöglichen.140 In unserer Mediengesellschaft stehen die „klassischen“ Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit also mittlerweile im Hintergrund. Demgegenüber wirkt sich prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit vorrangig durch ihre Informationsfunktion aus. Diese mediale Gerichtsöffentlichkeit orientiert sich nicht an der unmittelbaren Saal-, sondern vielmehr an der mittelbaren Medienöffentlichkeit.141

II. Mediale Gerichtsöffentlichkeit und grundgesetzliche Medienfreiheit Aufgrund des eben dargestellten Funktionswandels existiert das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit in unserer Mediengesellschaft heute primär zu Informationszwecken, d. h. im Sinne einer Medienöffentlichkeit. Insoweit kann von medialer Gerichtsöffentlichkeit gesprochen werden. Um die aktuellen Funktionen medialer Gerichtsöffentlichkeit in verfassungsrechtlicher Hinsicht exakt und realitätsnah bestimmen zu können, ist somit eine eingehendere Befassung mit der grundgesetzlichen Medienfreiheit notwendig.

1. Die „(Massen)Medien“ und der Prozess „medialer Kommunikation“ – Die Bedeutung des Machtfaktors „Vierte Gewalt“ in politischen Krisenzeiten Die „Medien“ sind zunächst einmal Organisationen, welche die öffentliche Kommunikation durch „Medienprodukte“ ermöglichen und fördern. Sie treffen konkrete Aussagen, die sich in ihrer Gesamtheit zu „Medieninhalten“ verbinden und Inhalt der Medienprodukte werden.142 Die Medien richten sich im Rahmen Siehe Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 33 f., 45 m. w. N. So zuletzt auch Britz, Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal, S. 226 ff. m. w. N. Er weist auf die instruktiven Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Honecker-Verfahrens (vgl. BVerfGE 87, S. 334 ff. m. w. N.; 91, S. 125 ff. m. w. N.) respektive des „Politbüro-Prozesses“ (siehe BVerfG, NJW 1996, S. 581 ff. m. w. N.) hin (zu diesen Strafverfahren eingehender noch später: 5. Kap. B. III. 2. 2.4.): In der letztgenannten Entscheidung beurteilte das Gericht eine Verfassungsbeschwerde auf Zulassung von Ton- und Fernsehaufnahmen aus einer Gerichtsverhandlung in Bezug auf § 169 S. 2 GVG als „nicht unzulässig oder offensichtlich unbegründet“. Hierbei spielte die Frage der Beeinträchtigung der persönlichkeitsrechtlichen Belange der Beteiligten eine gewichtige Rolle (vgl. zu der weitergehenden Frage der Anwendbarkeit des § 169 S. 1 GVG etwa auf die Phasen der Verhandlungspausen bspw. Ranft, Jura 1995, S. 573 [581 m. w. N.]). Vgl. eine insgesamt ähnliche Darstellung zuletzt auch bei Kuß, Öffentlichkeitspflicht der Judikative, S. 60 ff. m. w. N. 142 Umfassend zum „Kommunikationsprozeß“: Noelle-Neumann / Schulz, Publizistik, S. 96 f. m. w. N. Zur „Aussage“ und zum „Medium“ als „Faktor der Massenkommunikation“: Maletzke, Massenkommunikation, S. 53 ff., 76 f. m. w. N. 140 141

7 Neuling

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

ihrer Tätigkeit an die „Rezipienten“.143 Bei den „Massenmedien“ handelt es sich ferner um Unternehmen oder Institutionen, die ihre Medienprodukte überindividuell, d. h. der anonymen Masse als ihrem medienöffentlichen „Publikum“, zugänglich machen.144 Dabei handelt es sich um die Printmedien der Zeitungs- und Zeitschriftenpresse, aber auch um die audiovisuellen Medien des Hörfunks, des Fernsehens und des Films145, deren Tätigkeit ihrerseits auf technischen Vervielfältigungsprozessen beruht. Sie greifen auf die modernen Kommunikationsmittel und Informationstechnologien146 zurück, die ihnen eine aktuelle Berichterstattung in Schrift, Bild und Ton ermöglichen. Die Frage der Bestimmung der gesellschaftlichen Relevanz des Prozesses „medialer Kommunikation“ ist strittig.147 Die Kontroverse hat gleichwohl einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ in der Annahme einer sozialen Stabilisierungsfunktion: Mediale Kommunikation wird als konstitutive Existenzbedingung unseres ausgeprägten Gesellschaftssystems aufgefasst, in deren Rahmen die Medien – dem kulturellen Entwicklungsstand entsprechend – die überindividuelle Verständigung der Menschen bzw. den sozialen Zusammenhalt insgesamt fördern. Dieses Maletzke, Massenkommunikation, S. 77 ff. m. w. N. Vgl. Löffler in: Bappert-FS, S. 117 (S. 119 f.). 145 Zum Begriff der „Medien“ schon oben: 1. Kap. A. (Fn. 2) B. I. 146 Dazu bereits oben: 1. Kap. B. I. 147 So fassen z. B. die funktionalistischen Theorien den Prozess der Massenkommunikation als gesellschaftliches System auf, dessen Wirkungen auf das Sozialsystem einen stabilisierenden (funktionalen) oder destabilisierenden (dysfunktionalen) Einfluss nehmen können (grundlegend zur funktionalen Analyse sozialer Systeme: Merton, Social theory, [1957]; zum strukturfunktionalistischen Ansatz etwa DeFleur, Mass Communication [1966]; Parsons, Social Action [1968]; sodann auch zum äquivalenz-funktionalistischen Ansatz etwa Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1. und 2. Bd. [1970 / 75]; ders. in: Schatz, Die elektronische Revolution [1975], S. 13 ff.). Vgl. sodann die kritischen Medientheorien (vgl. Habermas’ „Theorie der kommunikativen Kompetenz“ in: Theorie-Diskussion Habermas / Luhmann [1971]) und die materialistischen Medientheorien (etwa Dröge, Wissen ohne Bewußtsein [1972]; Holzer, Massenkommunikation [1969]). Schließlich ist die neuere Wirkungsforschung in Gestalt der systemtheoretischen Theorien zum Prozess der Massenkommunikation zu berücksichtigen, welche die Gesellschaft als System vernetzter Regelungskreise auffassen, in dem ein Informationsfluss herrscht (vgl. Ackhoff / Emery, Zielbewußte Systeme [1975]). Teilweise wird dabei vertreten, dass die Kommunikation als zentrale Variable der Systemsteuerung existiere. Die Massenmedien würden als Teil des Steuerungsprozesses der Massenkommunikation zur Systemstabilisierung beitragen (hierzu Deutsch, Politische Kybernetik [1973]). Weiterhin wird zur Analyse der gesellschaftlichen Wirkung der Massenmedien auf gewisse Basisbedürfnisse (sog. „basic human needs“, scil. „need for affection“, „recognition“, „context“, „repeated gratification“) rekurriert; entscheidende Frage hierbei sei, inwieweit eine Gesellschaft ihren Mitgliedern eine Befriedigung dieser Bedürfnisse ermögliche (vgl. Etzioni, Die aktive Gesellschaft [1975]). Eine detailliertere Darlegung dieser verschiedenen Ansätze findet sich bei Braun, Massenmedien und Gesellschaft, S. 7 ff. m. w. N. 143 144

D. Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit

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integrative Potential148 der Medien hat nachhaltige Konsequenzen für die bestehenden Machtstrukturen149 innerhalb unserer Gesellschaft. Machtstrukturen bestehen in einem Gesellschaftssystem zunächst, um das existierende Ordnungsgefüge auszubalancieren. Mit anderen Worten: Die Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihr individuelles Verhalten mit Rücksicht auf ihr soziales Umfeld zu beschränken, damit ein solidarisches Miteinander entstehen und existieren kann. Auf diese Ordnungsstrukturen wirken diejenigen Einflusskräfte ein, d. h. üben solche Faktoren „Macht“ aus, die derartige individuelle Beschränkungen hervorrufen.150 Demzufolge stellt vor allem der Staat selbst einen klassischen Machtträger dar, wobei u. U. auch wirtschaftliche Organisationen oder religiöse Institutionen Inhaber von Macht sein können. Grundsätzlich gilt dabei, dass es im modernen Rechtsstaat ohnehin nur in besonderen Ausnahmefällen zu (staatlicher) Machtausübung durch offenen und unmittelbaren Zwang kommen soll.151 Wegen ihrer sozialen Funktion als zentrale Informationsübermittler stehen nun vor allem die Medien im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses der Menschen, die sich über politische und gesellschaftliche Ereignisse informieren möchten.152 Das spezifische Machtpotential der Medien erschöpft sich hierbei vor allem in ihrem Informationsvorsprung, welcher ihnen als zentrale Informationsübermittler zukommt. Insoweit existiert eine Abhängigkeit von den Medien, sind die verschiedenen Teilbereiche unserer modernen Mediengesellschaft153 doch auf eine umfassende Information angewiesen.154 Mithin kommt den Medien ein herausragendes Einwirkungspotential zu – sind „Medienfragen immer auch Machtfragen“155. Durch die Übermittlung konkreter Informationsinhalte werden bei den Menschen verschiedene Reaktionen – wie beispielsweise Zustimmung oder Ablehnung, 148 Vgl. auch Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 21 m. w. N.; Maletzke, Publizistik 25 (1980), S. 199 ff. m. w. N. 149 „Macht“ ist nach Max Weber zunächst „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (dtv-Lexikon, Bd. 12, „Macht“ [S. 8]). 150 Zu „Macht“ als Einflussfaktor in einem Gesellschaftssystem: Luhmann, Macht, S. 4 ff., 90 ff. Hierzu auch Ronneberger, Kommunikationspolitik, 2. Bd., S. 79 (86 ff. m. w. N.). 151 Auch Ronneberger, Kommunikationspolitik, 2. Bd., S. 79 (87). 152 Vgl. hierzu Maletzke, Publizistik 25 (1980), S. 199 ff. m. w. N.; Ronneberger in: Saxer (Hrsg.), Massenmedien, S. 3 ff. m. w. N. Siehe auch schon oben: 1. Kap. A. B. I. Weiterhin Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 15 ff., zu den (Massen)Medien als „Träger sozialer Kontrolle“. 153 Siehe dazu schon oben: 1. Kap. B. I. 154 So Ronneberger, Kommunikationspolitik, 2. Bd., S. 79 (91). 155 Braun, Massenmedien und Gesellschaft, S. 1. Stober konkretisiert die „Medienmacht“ mittels vier „Teilgewalten“: „Berichts und Informationsgewalt“, „Bewertungs- und Beurteilungsgewalt“, „Vermittlungsgewalt“ und „Monopolgewalt“ (in: Wittkämper [Hrsg.], Medien und Politik, S. 27 [29]).

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Unterstützung oder Empörung, vielleicht sogar Freude oder Trauer – hervorgerufen. Insoweit beeinflusst die selektive Übermittlung von Informationen als Medienbotschaft an ein großes Publikum die öffentliche Meinung: In dem unter demokratieprinzipiellen Gesichtspunkten156 zentralen Bereich des politischen Tagesgeschäftes beeinflussen die Medien den Bekanntheitsgrad, das Prestige und die Anerkennung von Politikern – etwa durch dessen positive Darstellung in der Öffentlichkeit – in entscheidender Art und Weise.157 Den Medien kommt in unserer parlamentarischen Demokratie, die durch die Strukturen des Parteienstaates geprägt wird, daher eine gewichtige politische Funktion zu.158 Kommen die politischen Parteien in diesem Staatssystem ihrer politischen Verantwortung nicht nach, gemeinsam mit den Menschen Reformblockaden abzubauen und Visionen für eine gesellschaftliche Zukunft zu entwerfen, so entsteht ein Machtvakuum. Die politischen Parteien verlieren ihre gesellschaftspolitische Leitfunktion. In diesem Szenario werden die Medien aufgrund ihrer zentralen gesellschaftlichen Stellung als Informationsübermittler bzw. ihres demgemäßen sozialen Einwirkungspotentials zu dominierenden Impulsgebern für die öffentliche Diskussion – ohne hierzu demokratisch legitimiert zu sein.159 Dieser Prozess mag zunächst – unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung der medialen Kontroll- und Kritikfunktion gegenüber der Politik – als wünschenswert erscheinen; nicht zuletzt erscheint besonders bedenklich, dass die Parlamentsmehrheit aufgrund unseres Parteiensystems in vielfältigster Weise mit der Regierung verwoben ist.160 Demgegenüber ist die tatsächliche Konsequenz dieses Prozesses der medialen „Machtübernahme“, insbesondere unter repräsentativ-demokratischen Gesichtspunkten, in höchstem Maße besorgniserregend: Als „politische Gewalt“161 – besser: als „Vierte Gewalt“162 – bestimmen die Medien in parteipolitischen Schwächephasen das gesamtpolitische Klima. Insofern gibt Martin Kriele – in Bezug auf die Presse – zutreffend was folgt zu bedenken: „Aus dem bürgerlichen Dienstleistungsgewerbe Presse wird eine Vierte Gewalt. Ihre Einflußmacht kann, wenn sie sich nicht an den Grundsätzen eines journalistischen Ethos orientiert, so groß werden, daß die Volkssouveränität ernstlich in Frage steht. Es gilt dann immer noch: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Was das Volk aber meint und will,

Vgl. auch gerade oben: 3. Kap. C. II. Dazu Ronneberger, Kommunikationspolitik, 2. Bd., S. 79 (106). 158 Streinz, AfP, S. 857 (868), führt dies auf strukturbedingte Defizite zurück und stellt die grundsätzliche Frage, inwieweit die Presse als „vierte Staatsgewalt“ anzuerkennen ist. 159 Ulsamer in: Jauch-FS, S. 221 (223), fragt deswegen prägnant: „Wer kontrolliert die ,Vierte Gewalt‘ im Staate und begegnet wirksam einem Machtmißbrauch?“ 160 Siehe ähnlich Löffler / Ricker, Handbuch, 1. Abschn., 3. Kap., Rndnr. 25 m. w. N. Auch dort fällt in der Konsequenz dieser Annahmen der Begriff der Presse als „ ,vierter Gewalt‘ im demokratischen Staat“. 161 Stober in: Wittkämper (Hrsg.), Medien und Politik, S. 27 (28). 162 Zur „vierten Gewalt“ sehr ausführlich schon Bergsdorf, Die vierte Gewalt (1980). 156 157

D. Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit

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darauf hat ein von demokratischer Abhängigkeit abgekoppelter Berufsstand maßgeblich Einfluß.“163

2. Art. 5 Abs. 1 GG – Verfassungsrechtlicher „Anker“ der medialen Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge Wenden wir uns nunmehr der verfassungsrechtlichen Untersuchung der grundgesetzlichen Medienfreiheit zu.164 Diese wird durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet165 und bezweckt den Schutz der ungehinderten Entfaltung des öffentlichen Diskurses, der für die Existenz des freien und demokratischen Rechtsstaates unabdingbar ist166: So muss die Presse schreiben können „was sie will, damit gewisse Leute nicht tun können, was sie wollen“167.

Diese grundsätzliche Funktionszuweisung wird durch die spezielle Kontroverse in Bezug auf die dogmatisch exakte inhaltliche Bestimmung der grundgesetzlichen Medienfreiheit überlagert.168 Diesbezüglicher Ausgangspunkt sind unterschiedliche Auffassungen169 zur Frage der genaueren Konkretisierung der sog. „öffentli163 ZRP 1990, S. 109 (111). Ähnlich auch Stober in: Wittkämper (Hrsg.), Medien und Politik, S. 27 ff. m. w. N. 164 Vgl. auch eingehender Peters in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Kriminalität in den Medien, S. 150 m. w. N., zur „Medienfreiheit“ im Kontext medialer Kriminalberichterstattung. 165 Zur Meinungsäußerungsfreiheit als „unmittelbarster Ausdruck der Persönlichkeit“ und „für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung „schlechthin konstituierende“ Freiheit z. B. BVerfGE 7, S. 198 (208 m. w. N.); 12, S. 113 (125 m. w. N.). Zur zensurfreien Presse als „Wesenselement des freiheitlichen Staates“ etwa BVerfGE 20, S. 162 (174 ff. m. w. N.); 50, S. 234 (239 f. m. w. N.); 52, S. 283 (296 m. w. N.). Zum Grundrecht der Informationsfreiheit als „eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie“: BVerfGE 27, S. 71 (81 f. m. w. N.). In Bezug auf die Rundfunkfreiheit als „schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“: BVerfGE 35, S. 202 (221 ff. m. w. N.). Vgl. eingehend Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 24 ff. m. w. N., zu Art. 5 GG als verfassungsunmittelbare Grundlage der „Recherchefreiheit“. 166 Hierzu in den umfassenden Ausführungen zur „Spiegel-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (unter anderem in NJW 1966, S. 1603 ff. m. w. N.). Weiterhin BGH, NJW 1966, S. 1227 ff. m. w. N.; umfassend auch Stern, Staatsrecht, 1. Bd., 3. Abschn., § 22 II 5 ff. m. w. N.; Streinz, AfP 1997, S. 857 (862 m. w. N.). 167 Terrenoire in: Wassermann, Justiz und Medien, Vorwort. 168 Zu dieser Kontroverse detaillierter Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 28 ff. m. w. N. 169 Früh verwendete das Bundesverfassungsgericht selbst den Begriff „öffentliche Aufgabe“ (so in der „Spiegel-Entscheidung“ bezüglich der Presse: BVerfGE 20, S. 162 [175]). Einerseits wird nun an das Merkmal „öffentlich“ angeknüpft, um der Presse das Merkmal einer staatlich-institutionellen Prägung anzuheften (hiergegen Dagtoglou, der in der Folge die Bezeichnung der Presse als „vierte öffentliche Gewalt“ als widersprüchlich bezeichnet [vgl. Pressefreiheit, S. 24]). Eine solche staatlich-institutionelle Prägung wird von Ridder in:

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

chen Aufgabe“ (vgl. § 3 LPG170). Wesentliches Motiv dieser intensiven Auseinandersetzung ist die Sorge, durch eine ungeeignete inhaltliche Bestimmung eine weitgehende Beschränkung der Medienfreiheit zuzulassen.171 Entscheidender Anhaltspunkt für die inhaltliche Bestimmung der grundgesetzlichen Medienfreiheit ist die gesellschaftliche Stellung der Medien als Informationsübermittler.172 Demgemäß obliegt den Medien die Herstellung „allgemein zugänglicher Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG)173; mit anderen Worten: Die Medien sind für die informationelle Daseinsvorsorge verantwortlich. Dies bedeutet wiederum, dass die grundgesetzliche Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) das Individualfreiheitsrecht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ermöglicht.174 Dabei darf die informationelle Daseinsvorsorge im Sinne der Herstellung „allgemein zugänglicher Quellen“ nicht ausschließlich auf politische Informationssachverhalte beschränkt bleiben. VielNeumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, 2. Bd., S. 243 ff., 257, 259 m. w. N., durch folgende Erwägungen gestützt: Da die Pressefreiheit in der modernen Massengesellschaft nicht mehr ihren Charakter als individuelles Abwehrrecht gegenüber dem Staat präge, könne die „politische Presse“ im Rahmen der „öffentlichen Meinungsfreiheit“ nicht mehr durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geschützt werden. Vielmehr unterfalle sie – ebenso wie die politischen Parteien – der institutionellen Garantie des Art. 21 GG. Offensichtlich höchst problematisch ist insofern die Schlussfolgerung, welche auch die in Art. 21 Abs. 1 S. 3 und 4 GG normierten Erfordernisse annimmt (hierzu auch Löffler / Ricker, Handbuch, 1. Abschn., 3. Kap., Rndnrn. 9 ff. m. w. N.). Eine andere Auffassung nimmt demgegenüber – in Ablehnung eines staatlich-institutionellen Charakters der Presse – die Erforderlichkeit einer wertbezogenen Interpretation der Pressefreiheit am Maßstab der „öffentlichen Aufgabe“ der Presse an und gelangt insoweit zu einer restriktiven Anwendung dieses Grundrechts: Hierbei wird grundsätzlich zwischen dem „Öffentlichkeitsinteresse“ bzw. „öffentlichen Interesse“ differenziert. Während Unterhaltung zu ersterem zähle, habe die Presse demgegenüber der Befriedigung des „öffentlichen Interesses“ zu dienen (vgl. zu dieser ebenfalls problematischen Auffassung detaillierter Bullinger in: Presserecht, § 3 LPG, Rndnr. 34 m. w. N.; Herzog in: M-D, GG, Art. 5 Abs. 1 / 2 , Rndnrn. 127 f. m. w. N.). Eine dritte Auffassung interpretiert die „öffentliche Aufgabe“ der Presse – unter Ablehnung sowohl einer staatlich-institutionellen Anschauung als auch der Zulässigkeit einer wertbezogenen Interpretation (d. h. der Ablehnung der Anwendbarkeit des Grundrechts der Pressefreiheit in Bezug auf „lediglich“ unterhaltende Presse) – funktional: Sie erblickt diese „öffentliche Aufgabe“ in der Durchsetzung der staatlichen Pflicht zur öffentlichen Entfaltung ihres Wesens und Handelns (vgl. eingehender Löffler / Ricker, Handbuch, 1. Abschn., 3. Kap., Rndnrn. 19 ff. m. w. N.). 170 Diese Abkürzung steht für die Landespressegesetze der Bundesländer. Vgl. einen Abdruck des § 3 LPG bei Bullinger in: Löffler, Presserecht, § 3 LPG. 171 Hierzu unter anderem Streinz, AfP 1997, S. 857 (862 m. w. N.). 172 Dazu eingehender oben: 1. Kap. A. B. I., 3. Kap. D. I. II. 1. 173 In diese Richtung bereits Dagtoglou, Pressefreiheit, S. 23 m. w. N.; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 45 m. w. N. Im Sinne einer Herstellung von „Allgemeinzugänglichkeit“: Löffler / Ricker, Handbuch, 1. Abschn., 3. Kap., Rndnr. 20 m. w. N. Durch diesen Anstoß eines „transindividuellen Kommunikations- und Meinungsbildungsprozess(es)“ wird ein „öffentlicher Meinungsmarkt“ hergestellt (schon Ricker, Presse, S. 28). 174 Ausführlicher Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 33 ff. m. w. N., zur Informationsfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG).

D. Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit

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mehr ist auch die ggf. „nur“ unterhaltende Berichterstattung über das gesellschaftliche Leben umfasst175, d. h. eine Beschränkung auf politisch-informative Informationssachverhalte wäre im Ergebnis unzulässig.176 Angesichts des fundamentalen Charakters der grundgesetzlichen Konsequenzen einer derartigen Beschränkung ist schon zweifelhaft, ob überhaupt eine angemessene und verlässliche Differenzierung möglich ist.177 Zudem ist die Konstellation denkbar, dass ein Informationssachverhalt zwar schwerpunktmäßig politisch-informativen Charakters ist, zugleich aber auch von erheblichem Unterhaltungswert begleitet wird.178 Daher ist im Ergebnis festzuhalten, dass sich die Verantwortung der Medien zur Herstellung „allgemein zugänglicher Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG) über politisch-informative Informationssachverhalte hinaus auch auf „nur“ unterhaltende erstreckt.179

175 Hoffmann-Riem in: AK, GG, Art. 5 Abs. 1 / 2, Rndnr. 10 m. w. N. Vgl. insoweit auch gerade Fn. 169. 176 In diese restriktivere Richtung etwa BGHZ 24, S. 200 (208); Lerche / Ulmer, Kurzberichterstattung im Fernsehen, S. 30 f. m. w. N.; Wasserburg, Schutz der Persönlichkeit, S. 74 m. w. N. Vgl. hierzu auch eben Fn. 169, 175. 177 Auch Kunig, Jura 1995, S. 589 (595 m. w. N.), lehnt eine derartige Begrenzung mit Verweis auf den „von staatlichen Wertungen freigehaltenen Pressebegriff“ als „Errungenschaft“ ab, schlägt jedoch vor, etwaige Einschränkungsüberlegungen an den Ausgestaltungsgrad der Pressefreiheit als institutionelle Garantie zu knüpfen. Herzog in: M-D, GG, Art. 5 Abs. 1 / 2, Rndnr. 128, meint, eine derart einschränkende Auffassung von der Pressefreiheit widerspreche der grundsätzlichen „Orientierung des Art. 5 an Art. 1“ und dem „demokratischen Prinzip des Art. 20“. 178 Hierzu eingehender Kübler, Massenmedien, S. 38 ff. m. w. N.; Lerche / Ulmer, Kurzberichterstattung im Fernsehen, S. 33 m. w. N. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer jüngeren Entscheidung bezüglich des Rundfunkauftrags festgestellt, dass die diesbezügliche Informationsarbeit „gegenständlich uneingeschränkt (. . . ) alle Lebensbereiche unter Zugrundelegung publizistischer Kriterien“ betreffe (NJW 1998, S. 1627 [1629 m. w. N.]). Speziell im Rahmen der medialen Berichterstattung über „vorgefallene Straftaten“ gelte, dass diese grundsätzlich zum Zeitgeschehen dazugehörten; insofern treffe die Massenmedien auch diesbezüglich zunächst eine grundsätzliche Berichterstattungspflicht (so BVerfGE 35, S. 202 [230 f.]); NJW 1998, S. 1627 [1629]). 179 So auch BVerfG, NJW 1998, S. 1627 (1629 m. w. N.). Umfassend zur Informationsverantwortlichkeit von Hörfunk und Fernsehen bereits BVerfGE 35, S. 202 (222 ff. m. w. N.). Eingehend zur Funktion der Rundfunkfreiheit im Sinne einer umfassenden Informationsübermittlung: BVerfGE 57, S. 295 (319 ff. m. w. N.); zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Rundfunkfreiheit sowohl für den privaten als auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: BVerfGE 73, S. 118 (157 ff. m. w. N.); zur sog. „Grundversorgung“: BVerfGE 74, S. 297 (325 ff. m. w. N.). Im Hinblick auf strafgerichtliche Informationssachverhalte lehnt es Bockelmann, NJW 1960, S. 217 (219 f. m. w. N.), ab, diese dem Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zugänglich zu machen; schließlich sei die Judikative ohne jegliches „plebiszitäre Moment“.

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

3. Informationelle Daseinsvorsorge mittels Herstellung medial zugänglicher Quellen Nachdem der grundgesetzliche Rahmen der medialen Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge abstrakt-normativ bestimmt werden konnte, soll nunmehr deren tatsächliche Umsetzung in der Rechtswirklichkeit erörtert werden. Grundsätzlich hat der Einzelne kein umfassendes Auskunfts- und Informationsrecht; daneben existiert auch keine allgemeine Pflicht der Organe der Staatsgewalt, betreffende Vorgänge uneingeschränkt offenzulegen.180 Die verfügbaren Auskunfts- und Informationsmöglichkeiten sind vielmehr ausschließlich „allgemein zugängliche Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG). Insofern unterscheiden sich die Auskunfts- und Informationsmöglichkeiten der Medien von denen des Einzelnen in gravierendem Maße: In solchen Bereichen, welche nicht allgemein zugänglich sind, ist der Einzelne auf die mediale Berichterstattung angewiesen. Demgegenüber unterliegen die Medien derartigen Auskunftsund Informationsbeschränkungen in viel geringerem Maße. Indem die Medien daher ihre weitergehenden Auskunfts- und Informationsmöglichkeiten wahrnehmen, schaffen sie medial zugängliche Quellen. Aus diesen kann sich die Bevölkerung wiederum uneingeschränkt informieren.181 Die Medien stellen somit ein wesentliches informationelles Bindeglied zwischen dem Staat und der Gesellschaft dar, obgleich ihre Auskunfts- und Informationsmöglichkeiten vom jeweiligen Einzelfall abhängen: Dort, wo die Belange der Menschen maßgeblich betroffen sind, kann im Einzelfall eine direkte Zugriffsmöglichkeit auf Informationen notwendig sein. Droht im Falle einer Zugriffsmöglichkeit der Medien indes die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung staatlicher oder individueller Belange, müssen die Medien entweder auf den Auskunftsanspruch (vgl. § 4 Abs. 1 LPG)182 verwiesen werden oder muss von einer Auskunftserteilung ggf. sogar ganz abgesehen werden.183 Neben der direkten Zugriffsmöglichkeit, die es den Journalisten ermöglicht, Auskünfte persönlich – also völlig authentisch – einzuholen und Informationen dadurch selbst zu erfassen184, sodann zu verarbeiten und zu veröffentlichen, kommt daher insbesondere 180 So auch Franke, Bildberichterstattung, S. 46 f. m. w. N.; Wendt in: M / K, GG, Art. 5, Rndnr. 25 m. w. N. Vgl. weiterhin auch Herzog in: M-D, GG, Art. 5 Abs. 1 / 2, Rndnr. 101 m. w. N. Dazu auch später noch einmal: 5. Kap. A. I. 1. a). 181 Hierzu Herzog in: M-D, GG, Art. 5 Abs. 1 / 2 , Rndnrn. 91 f. m. w. N.; Wendt in: M / K, GG, Art. 5, Rndnr. 23 m. w. N. 182 Vgl. die Darstellung der einzelnen landespressegesetzlichen Auskunftsansprüche bei Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG. Daneben existiert in (nur) einigen Bundesländern eine Regelung, welche die Geltung des § 4 LPG auch für den Rundfunk normiert (vgl. Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 25 LPG). 183 So u. U. im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Vgl. zu hier entgegenstehenden Interessen die späteren Ausführungen: 4. Kap. A. I. 184 Ist doch insbesondere die Auskunfts- und Informationsbeschaffung von entscheidender Relevanz: BVerfGE 50, S. 234 (240 m. w. N.); 91, S. 125 (134 m. w. N.); NJW 1998, S. 1627

E. Zwischenergebnis zum Dritten Kapitel

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der Auskunftsanspruch gegenüber den Behörden in Betracht. Dabei wird kontrovers über die Frage gestritten, ob dieser Anspruch verfassungsunmittelbarer Natur (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) und dessen einfachgesetzliche Normierung (vgl. § 4 Abs. 1 LPG) deswegen lediglich näher konkretisierenden Charakters ist.185 Prekär ist in diesem Kontext, dass in einigen Bundesländern186 keine die entsprechende Anwendung zu Gunsten des Rundfunks (Hörfunk und Fernsehen) regelnde Verweisungsnorm187 existiert. Hierneben ist die Frage der normativen Verankerung des Auskunftsanspruchs für dessen Gewicht im Rahmen einer Abwägung mit widerstreitenden Rechtspositionen respektive für die Auslegung einfachgesetzlicher Normen erheblich. Da wir uns später188 mit einer solchen Abwägungssituation befassen werden, soll auch diese Streitfrage erst dann189 eingehender diskutiert werden. Schließlich weist die Konstellation der völligen Auskunftsverweigerung darauf hin, dass der Auskunftsanspruch bzw. das dahinter stehende Informationsinteresse keinesfalls schrankenlos bevorrechtigt sein kann.

E. Zwischenergebnis zum Dritten Kapitel I. 1. Bei der Entwicklung der aufklärungsphilosophischen Ideenkonzepte der Publizität hoheitlichen Handelns und des öffentlichen Urteilens in einem reformierten Strafprozess spielte die politische (bürgerliche) Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle: Sie entwickelte diese Forderungen in der gesellschaftlichen Realität.

(1629). Vgl. bspw. zu der Frage des Ausschlusses eines Gerichtsjournalisten (vgl. §§ 169 ff. GVG) im Lichte des Art. 5 Abs. 2 GG: BVerfGE 50, S. 234 (241 ff. m. w. N.). Grundsätzlich zur Frage der notwendigen Beschaffenheit staatlicher Informationspolitik in Bezug auf den „Geist des GG“: Herzog in: M-D, GG, Art. 5 Abs. 1 / 2, Rndnrn. 137 ff. m. w. N. Zum Zugangsrecht der Presse zu öffentlichen Veranstaltungen: Wendt in: M / K, GG, Art. 5, Rndnr. 34 m. w. N. Zum Zutritt von Journalisten zu privaten Veranstaltungen: Wente, FuR 1987, S. 167 ff. m. w. N. 185 Vgl. die zahlreichen Nachweise für die verschiedenen Auffassungen bei Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnrn. 16 ff. m. w. N.; bspw. Schröer-Schallenberg, Informationsansprüche, S. 36 m. w. N.; Starck, AfP 1978, S. 171 (172 ff. m. w. N.); Stober, DRiZ 1980, S. 3 (8 ff. m. w. N.); Wenzel in: Löffler-FS, S. 391 (393 m. w. N.). 186 Bayern, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen und Thüringen. Vgl. insoweit auch die Regelung des § 17 PresseG Bbg (vgl. Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 25 LPG, Vor Rndnr. 1). 187 Vgl. bspw. für Berlin § 23 Abs. 1 BerlPresseG. 188 5. Kap. A. 189 5. Kap. A. I. 1. b).

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

2. Allerdings kann die Begründung der gerichtlichen Öffentlichkeitsmaxime mit ihrer Funktion der wahren Garantie gerechten Urteilens – der Gewährleistung wahrer und gerechter Verhältnisse im bürgerlich-liberalen Rechtsstaat – nicht aufrechterhalten werden. So ist nach deren Einführung kein gerechtes Zeitalter angebrochen; die Konturen liberaler Politikkonzepte verschwammen in dem Maße, in dem sich auch die damalige bürgerliche Gesellschaft veränderte. 3. Schon die sozialen Strukturen der deutschen Industrie- und Massengesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden nicht mehr durch den „bürgerlichen Menschentypus“ bestimmt. Der für die Entfaltung der „bürgerlichen Öffentlichkeit maßgebliche Dualismus von Staat und Gesellschaft ging verloren. Das Kulturräsonnement des bürgerlichen Publikums entwickelte sich zum schlichten Kulturkonsum.190

II. Die kritische Bestimmung der Funktionsstrukturen des Prinzips der Gerichtsöffentlichkeit im Sinne des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit, ihrer Kontrollfunktion, der Förderung der Strafzweckdurchsetzung und der Vermittlung von Rechtskenntnissen hat eine verfassungsrechtliche Prägung der Öffentlichkeitsmaxime offenbart.191

III. 1. Diese verfassungsrechtliche Prägung erschließt sich einerseits durch das demokratieprinzipielle Transparenzgebot staatlicher Entscheidungsprozesse: Der repräsentativ-demokratischen Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 1, 2 GG) entspringt eine konstitutive Notwendigkeit zur kontinuierlichen und manipulationsresistenten Kommunikation zwischen dem Staatsvolk als plebiszitärer Staatsgewalt und den Organen der Staatsgewalt. Insofern ist umfassende Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse vitales Fundament des freien demokratischen Staatsganzen. Im Sinne einer elementaren demokratischen Öffentlichkeitsmaxime erstreckt sich das demokratieprinzipielle Transparenzgebot mithin auch auf die judikative Staatsgewalt. Diese muss in ähnlichem Maße der öffentlichen Diskussion zugänglich sein, ist die Rechtsprechung doch auf diesen Zugang angewiesen, um die grundlegenden Wertvorstellungen unserer Gesellschaft bei der Rechtsanwendung berücksichtigen zu können. 2. Andererseits wurzelt die verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit auch im rechtsstaatsprinzipiellen Transparenzgebot zur Kon190 191

3. Kap. A. III. 3. Kap. B. V.

E. Zwischenergebnis zum Dritten Kapitel

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trolle judikativer Praxis im gesellschaftlichen Raum: Zunächst ist zur Berechenbarkeit staatlicher Machtausübung – über die abstrakte Möglichkeit zur Kenntnisnahme von Norminhalten hinaus – die praktische Möglichkeit zur Beobachtung richterlicher Rechtsanwendung erforderlich; nimmt doch das „Recht“ seine konkrete Gestalt erst durch seine praktische Anwendung an und wird so zum Bestandteil gesellschaftlicher Realität. Somit trägt die Rechtsprechung für die endgültige Bewährung des „Rechts“ im Leben der Menschen eine ähnlich bedeutende Verantwortung wie die gesetzesschaffende Staatsgewalt, deren Praxis allerdings öffentlich ausgestaltet ist (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG). Schließlich beschränkt sich das den modernen Rechtsstaat prägende Konzept der Teilung der Staatsgewalten (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG) im Sinne eines çhecks and balances“ nicht etwa auf die Organe staatlicher Gewalt. Vielmehr stellt das Staatsvolk den obersten – plebiszitären – Kontrolleur dar, wodurch dessen umfassende Information notwendig wird.192

IV. 1. Das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit wird in der heutigen Informations- und Mediengesellschaft neben ihren „klassischen“ Funktionen vorrangig durch ihre Informationsfunktion geprägt. Gerichtsöffentlichkeit orientiert sich mittlerweile nicht mehr an der unmittelbaren Saalöffentlichkeit, sondern vielmehr an der mittelbaren Medienöffentlichkeit.193 2. Den Medien kommt ihrerseits – als zentrale Informationsübermittler – die Verantwortung für die Verursachung und Aufrechterhaltung des Prozesses der überindividuellen Kommunikation, d. h. eine gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion, zu. Demzufolge besitzen die Medien ein herausragendes Einwirkungspotential, denn sie können die öffentliche Meinung durch die selektive Übermittlung von Informationen in maßgeblicher Art und Weise beeinflussen. 3. Bleiben in unserer parlamentarischen Demokratie die politischen Parteien hinter ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung, gemeinsam mit den Menschen Reformblockaden abzubauen und Visionen einer gesellschaftlichen Zukunft zu entwerfen, zurück, so verlieren sie ihre politische Leitfunktion. Es entsteht ein Machtvakuum. Dadurch können die Medien, ohne hierzu demokratisch legitimiert zu sein, aus ihrer gesamtgellschaftlichen Kernfunktion als zentrale Informationsübermittler heraus zu dominierenden Impulsgebern für die öffentliche Diskussion werden. 4. Mag dieser Mechanismus zunächst noch als wünschenswerte Wahrnehmung der medialen Kontroll- und Kritikfunktion gegenüber der politischen Führung er192 193

3. Kap. C. IV. 3. Kap. D. I.

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3. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

scheinen, wird schnell dessen tatsächliche und – insbesondere unter repräsentativdemokratischen Gesichtspunkten – in höchstem Maße bedenkliche Konsequenz sichtbar: Als „Vierte Gewalt“ bestimmen die Medien in parteipolitischen Schwächephasen u. U. das gesamtpolitische Klima.194 5. Den abstrakt-normativen (verfassungsrechtlichen) Rahmen der soeben angesprochenen gesamtgesellschaftlichen Verantwortung der Medien für informationelle Daseinsvorsorge stellt Art. 5 Abs. 1 GG – als verfassungsrechtlicher „Anker“ – dar: Im Rahmen der grundgesetzlichen Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) obliegt den Medien – als zentralen Informationsübermittlern – die Herstellung „allgemein zugänglichen Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG). Dies gilt in gleichem Maße für politisch-informative wie auch für „nur“ unterhaltende Informationssachverhalte. Insofern ermöglicht die grundgesetzliche Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) die Ausübung des Individualfreiheitsrechts des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.195 6. Diese gesellschaftliche Verantwortung setzten die Medien in der Rechtswirklichkeit durch die Herstellung medial zugänglicher Quellen um; sind die Informationsmöglichkeiten des Einzelnen doch auf „allgemein zugängliche Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG) beschränkt. Insofern bilden die Medien ein elementares Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, wenngleich auch deren Auskunftsmöglichkeiten vom jeweiligen Einzelfall abhängen: Sind die Belange der Menschen in maßgeblicher Weise betroffen, kann ggf. eine direkte Zugriffsmöglichkeit auf entsprechende Informationen notwendig sein. Droht im Falle einer Zugriffsmöglichkeit der Medien indes die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung staatlicher oder individueller Belange, müssen die Medien entweder auf den eingeschränkten Auskunftsanspruch (vgl. § 4 Abs. 1 LPG) verwiesen oder muss von einer Auskunftserteilung ggf. sogar ganz abgesehen werden.196

194 195 196

3. Kap. D. II. 1. 3. Kap. D. II. 2. 3. Kap. D. II. 3.

Viertes Kapitel

Medienöffentliche Strafrechtspflege und nichtöffentliches Ermittlungsverfahren Das liberal-rechtsstaatliche Konzept prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit beschreibt in vielschichtiger Weise die Wechselbeziehungen zwischen dem Individuum, der Gesellschaft und dem Staat. Sein Zustand war und ist Spiegelbild des jeweils herrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnisses und unterliegt demgemäß in demselben Maße einem zeitgeschichtlichen Wandel wie unsere Gesellschaft selbst. In unserer heutigen Mediengesellschaft wird prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit – neben ihren „klassischen“ Funktionen – mittlerweile primär durch ihre Informationsfunktion geprägt. Insoweit orientiert sich die Gerichtsöffentlichkeit, über die unmittelbare Saalöffentlichkeit hinausgehend, an der mittelbaren Medienöffentlichkeit.1 Als zentrale Informationsübermittler erfüllen die Medien dabei ihre gesellschaftliche Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge. Wie stellt sich nun aber die Situation im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren dar, welches dem öffentlichen Hauptverfahren, d. h. dem eigentlichen „Strafprozess“, vorgelagert ist? Wie im Folgenden darzustellen sein wird, ist das Ermittlungsverfahren grundsätzlich nichtöffentlich durchzuführen, wodurch ein Konflikt mit den modernen Strukturen einer medienöffentlichen Strafrechtspflege entsteht. Gleichwohl muss der Beschuldigte auch schon im Ermittlungsverfahren die Möglichkeit haben, sich durch die „Veröffentlichung“ des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens zu schützen. Außerdem muss eine gewisse Zugänglichkeit zu Gunsten der Medien bestehen; liefen doch sonst Sinn und Zweck, durch eine medienöffentliche Strafjustiz die plebiszitäre Staatsgewalt auch auf dem Gebiet der Strafrechtspflege zu manifestieren, leer. Dies vorausgeschickt, werden wir uns in diesem Vierten Kapitel zunächst mit den Hintergründen der nichtöffentlichen Konzeption des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens beschäftigen (A.). Sodann werden wir uns dessen leitenden Verfahrensmaximen (B.) und den Verfahrensbeteiligten (C.) zuwenden. Schließlich wollen wir uns den drohenden persönlichen, sozialen und beruflichen Konsequenzen der schlichten Existenz eines Ermittlungsverfahrens zuwenden, um dessen einschneidende Wirkungskraft in der modernen Mediengesellschaft darzustellen (D.). Nach dieser Darstellung der vielgestaltigen Bedingungen des Ermittlungsverfah1

Dazu gerade: 3. Kap. E.

110

4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

rens wird es als strafprozessuales „Feld“ der vorliegenden Untersuchung mit seinen vielfältigen Aspekten vollständig erfassbar. Erst hiernach soll der Konflikt zwischen dem Sinn und Zweck einer medienöffentlichen Strafrechtspflege und des nichtöffentlichen Ermittlungsverfahrens im darauffolgenden Fünften Kapitel vollständig herausgearbeitet werden.

A. Die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens I. Der Grundsatz: Schutz der strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen und der individualrechtlichen Schutzbelange des Beschuldigten Wenden wir uns daher zunächst den Hintergründen2 der nichtöffentlichen Ausgestaltung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu, wobei zuerst deren rechtshistorische Entwicklung erörtert werden soll. Im Rahmen der Diskussion über die Einführung3 prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit war strittig, ob sich die öffentliche Strafrechtspflege auch auf das Ermittlungsverfahren erstrecken sollte. Diese Kontroverse lässt sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen; damals wurde kontrovers diskutiert, ob das Ermittlungsverfahren als öffentlicher Strafverfahrensabschnitt ausgestaltet werden sollte.4 Zu diesem Zeitpunkt setzten sich insbesondere Paul Johann Anselm von Feuerbach5 und Philipp Jakob Siebenpfeiffer6 für die Öffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens ein. Paul Johann Anselm von Feuerbach7 argumentierte zunächst, dass jeder Strafprozess bereits mit der Erhebung konkreter Vorwürfe beginne. Ohne Teilhabe der breiten Öffentlichkeit an den darauffolgenden Ermittlungen wäre das Strafverfahren von Beginn an dem möglicherweise ausartenden Amtseifer des Ermittlungsbeamten ausgeliefert. Man möge bedenken, dass eine derartig unkontrollierte Ermittlungsarbeit sehr schnell ausufern könnte. Qualen, welche der Beschuldigte unter solchen Umständen ggf. erleide, könnten in einem späteren öffentlichen Strafprozess, selbst im Falle ihres Bekanntwerdens, nicht mehr ungeschehen gemacht werden.8 Feuerbachs Sorge verdeutlicht eindringlich, welches tiefe Misstrauen – ja geradezu welche Angst – vor jedweder Form geheimer, hoheitlicher Machtausübung den damaligen Diskurs Vgl. auch Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (256). Hierzu bereits oben: 2. Kap. C. II. 4 Siehe dazu Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 124, 150 m. w. N.; Jung, KaufmannGS, S. 891 (909 f. m. w. N.); Zipf, Gutachten C, 54. DJT, C 88 ff. m. w. N. 5 Heidelberger Jahrbücher, Nr. 11 (1822), S. 161 (171 ff.). 6 Gerechtigkeitspflege (1823), S. 275 ff. 7 Heidelberger Jahrbücher, Nr. 11, S. 161 (171). 8 von Feuerbach, Heidelberger Jahrbücher, Nr. 11, S. 161 (172). 2 3

A. Die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens

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über strafverfahrensrechtliche Reformaspekte beherrschte.9 Philipp Jakob Siebenpfeiffer10 gab damals zu bedenken, dass die Öffentlichkeit wohl weitaus schlechter über den Beschuldigten dächte, könnte sie den Ermittlungsverlauf nicht mitverfolgen. Insofern sei auch die Gefahr einer Beeinflussung des Strafverfahrens durch voreingenommene Geschworene signifikant größer als bei einer öffentlichen Durchführung des Ermittlungsverfahrens. Im Übrigen gäbe diese dem Beschuldigten gleichzeitig die Sicherheit, nicht unangemessen schlechter als dem Stand der Ermittlungen gemäß beurteilt zu werden.11 Zunächst müssen Siebenpfeiffers Ausführungen vor dem Hintergrund der schlimmen Erfahrungen mit der inquisitorischen Geheimjustiz der vergangenen Zeit berücksichtigt werden. So wurde zum damaligen Zeitpunkt jedes „Mehr“ an Öffentlichkeit – egal zu welchem Zeitpunkt des Strafverfahrens – automatisch auch mit einem „Mehr“ an Schutz gleichgesetzt. Doch haben sich die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen mittlerweile völlig verändert: In der modernen Mediengesellschaft kann die mediale Kriminalberichterstattung u. U. eine irreparable, öffentliche Etikettierung des – vielleicht sogar unschuldigen – Beschuldigten mit dem Stigma des „Kriminellen“ verursachen.12 Entgegen den Auffassungen Paul Johann Anselm von Feuerbachs und Philipp Jakob Siebenpfeiffers wurde die öffentliche Konzeption des Ermittlungsverfahrens – etwa von Friedrich August Biener13 oder Heinrich Albert Zachariae14 – teilweise abgelehnt. Zur Begründung wurde vorgebracht, die Teilhabe der Öffentlichkeit bereits zu diesem Zeitpunkt des Strafverfahrens beeinträchtige eher die Wirksamkeit der Ermittlungen.15 So befürchtete man eine erschwerte Verfolgung konkreter Spuren und die Beeinflussung von Zeugen durch eine erleichterte Entstehung von Gerüchten. Weiterhin könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein zu Unrecht Beschuldigter in Verruf geraten oder die Strafjustiz im Falle ergebnisloser Ermittlungsbemühungen kompromittiert werden könnte. Dennoch sprach sich der 11. Deutsche Juristentag in Hannover (1873) für die Anerkennung einer umfassenden Justizöffentlichkeit schon im Ermittlungsverfahren aus.16 Man erhoffte sich hierdurch ein höheres Maß an Gerechtigkeit für den betroffenen Beschuldigten. An dieser Stelle wird erneut der damalige idealistische „Öffentlichkeitsglaube“ als grundlegendes Motiv deutlich, welches sich auch bei Dazu schon oben: 2. Kap. C. II. 2. Gerechtigkeitspflege, S. 276 f. 11 Siebenpfeiffer, Gerechtigkeitspflege, S. 277. 12 Vgl. schon oben: 1. Kap. A. 13 Beiträge (1827), 179 f. Ausführlicher zu Biener: Schmidt, Geschichte, § 264. 14 Handbuch (1861). Eingehender zu Zachariae: Schmidt, Geschichte, § 266. 15 Instruktiv Schmidt, Geschichte, S. 292, zu diesem elementaren Kritikpunkt Zachariaes. 16 Diskussion und Beschluss in: Verhandlungen, 2. Bd., S. 226 ff., 358 f. Dazu instruktiv auch Alber, Geschichte der Öffentlichkeit, S. 150 f. m. w. N.; Berka, Kriminalberichterstattung, S. 22. 9

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

der Einführung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit offenbarte.17 Nach damaliger Vorstellung war nur ein öffentliches Ermittlungsverfahren geeignet, einem zu Unrecht Beschuldigten durch öffentliches Miterleben der Verfahrenseinstellung die verdiente Genugtuung zu verschaffen.18 Während die Nichtöffentlichkeit grundsätzlich inquisitorische Auswüchse fördere, könne der Respekt des Ermittlungsbeamten vor einer öffentlichen Verfahrenskontrolle die Gefahr einer pflichtwidrigen Behandlung des Beschuldigten, z. B. die Erzwingung von Geständnissen durch List, Drohung oder Gewalt, verhindern.19 Zudem sei die wahrheitsgemäße Aussage von Zeugen nur im Falle ihrer öffentlichen Kontrolle verlässlich sicherzustellen. In grundsätzlicher Hinsicht stärke der öffentliche Zugang schon zum Ermittlungsverfahren das allgemeine Vertrauen der Menschen in die Strafjustiz und stimuliere diese sogar zu deren Unterstützung.20 Dem Einwand, die Öffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens könne u. U. zur Beeinträchtigung der Ermittlungen führen, entgegnete man einerseits, dass die Ermittler eine derartige Gefahr bedächten und dass solche Versuche dem öffentlichen Publikum nicht entgingen. Daher könne ein öffentliches Ermittlungsverfahren allenfalls zu einer schnelleren Überführung des Straftäters beitragen. Andererseits erkannte man schon damals die Notwendigkeit eines Öffentlichkeitsausschlusses in gewissen Fällen.21 Anhand dieser Erwägungen wird erneut deutlich: Die üblen Erfahrungen mit der inquisitorischen Geheimjustiz der damaligen Zeit22 führten während der Reformdiskussionen zu einer durchaus verständlichen, aber dennoch unreflektierten und uneingeschränkt idealistischen Akzeptanz umfassender Justizöffentlichkeit. Es schien undenkbar, dass Justizöffentlichkeit neben ihrer erhofften wahrheits- und gerechtigkeitsstiftenden Wirkung möglicherweise auch nachteilige Effekte, wie etwa die Beeinträchtigung der Ermittlungen oder die öffentliche Bloßstellung des Beschuldigten, haben könnte. Schlussendlich konnten sich die Bemühungen, justizielle Öffentlichkeit auch auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren auszudehnen, nicht durchsetzen und dessen Nichtöffentlichkeit konnte sich bis in die Gegenwart hinein behaupten.23 Es behielten also die Argumente wider das öffentliche Ermittlungsverfahren die Oberhand. Diese ließen sich insbesondere von der Erwägung leiten, dass andernfalls der Untersuchungszweck vereitelt werden könnte. Im Besonderen könnten Beweismittel vernichtet und falsche Anschuldigungen aufgrund „feindseliger Bestrebungen“24 gemacht werden. Weiterhin müsste ernstlich befürchtet werden, dass es 17 Dazu schon oben: 2. Kap. C. II.; 3. Kap. A. Außerdem: Gneist, Strafprocess-Ordnung (1874). 18 Gneist, Strafprocess-Ordnung, S. 86. 19 Gneist, Strafprocess-Ordnung, S. 87. 20 Gneist, Strafprocess-Ordnung, S. 87, 90, 95. 21 Gneist, Strafprocess-Ordnung, S. 96 f. 22 Dazu schon oben: 2. Kap. C. I., II. 23 Jung, Kaufmann-GS, S. 891 (910).

A. Die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens

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eventuell – entgegen des vorläufigen Charakters der existierenden Verdachtsmomente – zur Entstehung öffentlicher „Vorurtheile für den Ausgang des Prozesses“25 kommen könnte. Hierdurch könnte wiederum „die gute Wirkung, welche die Oeffentlichkeit überhaupt hat, aufgehoben oder getrübt“26 werden. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass bereits zum damaligen Zeitpunkt die Sorge bestand, die Vorteile einer öffentlichen Strafrechtspflege könnten sich u. U. in Nachteile verkehren.27 Im Ergebnis können wir feststellen, dass die damaligen Reformdiskussionen zwar einerseits wesentlich durch die üblen Erfahrungen mit der inquisitorischen Geheimjustiz geprägt waren. Deshalb wurde – durchaus verständlich – vehement und geradezu unreflektiert euphorisch für die uneingeschränkte Einführung von Justizöffentlichkeit auch schon im Ermittlungsverfahren gestritten. Andererseits wurden damals in geradezu hellseherischer Weise die wesentlichen Gefährdungspotentiale eines öffentlichen Ermittlungsverfahrens (scil. die Gefährdung seines fairen Verlaufs und die drohenden Belastungen für den betroffenen Beschuldigten) antizipiert. Auch das Schrifttum und die neuere Rechtsprechung stellen im Hinblick auf die Nichtöffentlichkeit des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auf diese beiden Motive ab: einerseits auf das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung28 und andererseits auf den Schutz individualrechtlicher Interessen des Beschuldigten29.

II. Die Ausnahme: Die das Ermittlungsverfahren prägende Begrenzung medienöffentlicher Strafrechtspflege Sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer öffentlichen Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens hatten – freilich aus unterschiedlicher Perspektive – das Ortloff, Strafverfahren (1858), S. 102. Ortloff, Strafverfahren, S. 102. 26 Ortloff, Strafverfahren, S. 102. 27 Dazu Ortloff, Strafverfahren, S. 101 f. Vgl. ausführlicher zum „Vorverfahren“ auch Ortloff, Vorverfahren (1893). 28 Siehe OLG Braunschweig, NJW 1975, S. 651 (652); M-G, StPO, Einl., Rndnr. 60 m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 35; Rieß in: L-R, StPO, § 160, Rndnr. 41a m. w. N.; Zipf, Gutachten C, 54. DJT, C 89 m. w. N. 29 Vgl. OLG Braunschweig, NJW 1975, S. 651 (652), das auf die „Gefahr einer Art ,Prangerwirkung‘“ und die mögliche Konsequenz eines „Rufmordes“ hinweist. Einer solchen Anprangerung soll die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens gerade entgegenwirken (vgl. schon den Wortlaut der Ziff. 4a RiStBV: „Bloßstellung“). Hierzu weiterhin von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 208 ff. m. w. N.; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 262 f. m. w. N.; Dahs, NStZ 1986, S. 563 f. m. w. N.; Rieß in: LR, StPO, § 160, Rndnr. 41 m. w. N. Ähnlich auch Schreiber in: AK, StPO, Einl. I, Rndnr. 21 m. w. N. 24 25

8 Neuling

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Argument des Schutzes des Beschuldigten im Blick: Der Beschuldigte sollte möglichst umfassend vor einer rechtswidrigen Gewaltausübung durch den hoheitlichen Justizapparat geschützt werden.30 Das geltende Strafprozessrecht verbietet zwar gewisse Vernehmungsmethoden, welche die Willensentschließung oder -betätigung des Beschuldigten durch Zwang, Täuschung, Drohung oder ähnliche Mittel beeinträchtigen können (vgl. § 136a StPO).31 Das diesem Beweiserhebungsverbot zwingend folgende Beweisverwertungsverbot greift nach überwiegender Auffassung32 allerdings dann nicht, wenn die verbotene Vernehmungsmethode derart geheim erfolgt, dass sie nicht nachgewiesen werden kann. Somit gebietet der in der „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK)33 wurzelnde Grundsatz der „Waffengleicheit“ 34, dem Beschuldigten konkrete Rechte zuzuweisen, um sich vor der strukturbedingt überlegenen „Definitionsmacht des Kriminaljustizsystems“35 zu schützen. So hat der Beschuldigte beispielsweise das Recht, bei seiner Vernehmung die Anwesenheit eines Strafverteidigers seiner Wahl zu verlangen (vgl. §§ 136 Art. 1 S. 2, 163a Abs. 3 S. 2, 168c Abs. 1 StPO). Insofern kann er seine Vernehmung36 durch das Hinzuziehen einer unabhängigen und fachlich hierzu berufenen Vertrauensperson „veröffentlichen“ und somit kontrollierbar machen. Wie steht es im Übrigen um die Verankerung einer medienöffentlichen Strafjustiz im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zur Manifestation plebiszitärer Staats30 Vgl. insbesondere die Argumente von Feuerbachs auf dem 11. DJT (1873). Oben: 4. Kap. A. I. 31 Dieser strafverfahrensrechtliche Grundsatz war unlängst zentraler Anknüpfungspunkt einer heftigen öffentlichen Diskussion über die rechtliche Bewertung des Verhaltens des Frankfurter Vize-Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner. Dieser hatte im „Mordfall Metzler“ verfügt, den Beschuldigten während dessen Vernehmung notfalls durch die Androhung der kontrollierten Schmerzzufügung dazu zu veranlassen, das vermutete Versteck Jakob von Metzlers preiszugeben. Zu diesem Zeitpunkt ging man davon aus, dass das Entführungsopfer Jakob von Metzler noch am Leben war (vgl. den detaillierten Überblick über den „Mordfall Metzler“ anlässlich der Kriminalberichterstattung über die Verurteilung des Angeklagten: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juli 2003, S. 7). 32 Vgl. den instruktiven Überblick über die widerstreitenden Auffassungen bei M-G, StPO, § 136a, Rndnr. 32 m. w. N. 33 Dazu sogleich: B. III. 2. d). 34 BVerfGE 39, S. 238 (243 m. w. N.); Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 28 m. w. N.; M-G, StPO, Einl., Rndnr. 88 m. w. N. und Art. 6 MRK, Rndnr. 4 m. w. N.; Müller, NJW 1976, S. 1063 ff. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 11, Rndnr. 13 m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 54. 35 Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 207. 36 Speziell für die polizeiliche Vernehmung ist dies umstritten (vgl. eingehender M-G, § 163, Rndnr. 16 m. w. N. und § 163a, Rndnr. 7 m. w. N.; Rieß in: LR, StPO, § 163a, Rndnr. 95 m. w. N.). Im Ergebnis ist zwar zuzugeben, dass eine entsprechende gesetzliche Regelung fehlt. Unbeschadet dessen wäre es allerdings völlig lebensfremd, ein Schutzbedürfnis des Beschuldigten bei polizeilichen Vernehmungen – im Gegensatz zu staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Vernehmungen – zu verneinen.

A. Die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens

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gewalt auch auf dem Gebiet der Strafrechtspflege? Im Unterschied zum Hauptverfahren, dem eigentlichen „Strafprozess“ (vgl. § 169 S. 1 GVG, Art. 6 Abs. 1 EMRK)37, ist das Ermittlungsverfahren für die breite Öffentlichkeit unzugänglich. Daneben haben nur der Strafverteidiger des Beschuldigten (vgl. § 147 StPO)38 und der Rechtsanwalt des Verletzten (vgl. § 406e StPO) ein Akteneinsichtsrecht. Weil darüber hinaus kein allgemeines Akteneinsichtsrecht existiert39, ist die breite Öffentlichkeit zur Befriedigung ihres diesbezüglichen Informationsbedürfnisses auf die Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden angewiesen. Diese wird auf der Grundlage des landespressegesetzlichen Auskunftsanspruches (vgl. § 4 Abs. 1 LPG)40 durchgeführt und ermöglicht es ihrerseits wiederum den Medien, medial zugängliche Quellen zu schaffen.41 Ohne den noch folgenden42 Erörterungen bereits an dieser Stelle vorzugreifen, können wir dementsprechend schon jetzt was folgt festhalten: Der ermittlungsbehördlichen Entscheidung über die Erteilung von Auskünften liegt eine Abwägungsentscheidung zu Grunde, die in jedem konkreten Einzelfall individuell getroffen werden soll. Im Rahmen der Wahrung einer effektiven Strafrechtspflege soll das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Informationsinteresse und den individualrechtlichen Schutzbelangen des Beschuldigten daher immer wieder neu bestimmt werden.43 Keinesfalls darf dieses „Einfallstor“ für Medienöffentlichkeit aber in ihren praktischen Konsequenzen zu einer Erosion der nichtöffentlichen Konzeption des Ermittlungsverfahrens führen.44 Insofern unterliegt die medienöffentliche Strafrechtspflege einer das Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung.

III. Zusammenfassung Die grundsätzliche Nichtöffentlichkeit des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wurzelt einerseits in strafprozessrechtlichen, institutionellen Erwägungen im Interesse einer effektiven Strafverfolgung und Unterstützung eines fairen Strafverfahrensablaufs. Andererseits gründet sich die Nichtöffentlichkeit auf individualrechtliche, personelle Motive: den Schutz der privaten und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten. Daneben soll auch die Unbefangenheit derjenigen Personen, Vgl. oben: 2. Kap. B. C. V., 3. Kap. B. C. D. Hierzu eingehender unten: 7. Kap. A. III. 39 M-G, StPO, § 147, Rndnrn. 2 ff. m. w. N.; § 406e, Rndnrn. 1 ff. m. w. N. 40 Dazu sogleich detaillierter: 5. Kap. A. I. 1. 41 Siehe oben: 3. Kap. D. II. 3. 42 Vgl. später: 5. Kap. A. I. 1. 43 Diese konkrete Einzelfallabwägung kann auch dazu führen, dass nicht die Auskunftserteilung insgesamt, sondern vielmehr lediglich einzelne Auskunftsteile zurückgehalten werden (Kürscher, DRiZ 1981, S. 401 [402 m. w. N.]). 44 Entsprechend existieren gleichfalls gesetzliche Auskunfts- und Informationsverweigerungstatbestände (vgl. § 4 LPG [dazu später detaillierter: 5. Kap. A. I. 1.]). 37 38

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

die als Richter, Zeugen oder Sachverständige am Hauptverfahren beteiligt sein können, geschützt werden.45 Dennoch gewähren die „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) respektive der hierin wurzelnde Grundsatz der „Waffengleicheit“ dem Beschuldigten gegenüber der strukturbedingt überlegenen Strafjustiz die Möglichkeit, seinerseits Schutz durch Öffentlichkeit zu suchen. Demgegenüber ist die breite Öffentlichkeit ihrerseits zur Befriedigung ihres Informationsbedürfnisses auf die strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit angewiesen. Diese wird auf Grundlage des landespressegesetzlich normierten Auskunftsanspruchs (vgl. § 4 Abs. 1 LPG) durchgeführt und ermöglicht den Medien die Schaffung medial zugänglicher Quellen. Hierdurch können die Medien ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge nachkommen. Um jedoch einer Erosion der grundsätzlich nichtöffentlichen Konzeption des Ermittlungsverfahrens vorzubeugen, sollen die Ermittlungsbehörden – jedenfalls unter Wahrung einer effektiven Strafrechtspflege – das öffentliche Informationsinteresse einerseits und die individualrechtlichen Beschuldigtenbelange andererseits in jedem Einzelfall abwägen. Insofern unterliegt die medienöffentliche Strafrechtspflege zur Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt einer das Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung.

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens in den Grenzen Fairness gewährleistender Strafverfahrensmaximen I. Vorbemerkungen Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren46 (vgl. §§ 158 – 170 StPO) stellt den ersten Abschnitt des Strafverfahrens dar und dient grundsätzlich dem Zweck, den einem konkreten Verdacht einer Straftat zugrunde liegenden Sachverhalt aufzuklären (vgl. § 160 Abs. 1 StPO). Weiterhin dient es den Zwecken der Stoffsammlung, Beweissicherung (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) und der Persönlichkeitserforschung (vgl. § 160 Abs. 3 StPO). Die Staatsanwaltschaft soll nach dem Abschluss ihrer Ermittlungen in der Lage sein, entweder Anklage zu erheben oder die ErmittlunWeigend in: Rolinski-FS, S. 253 (256). Weiterhin sind auch die Begriffe „Vorverfahren“ oder „vorbereitendes Verfahren“ gebräuchlich. Die Bezeichnung „Ermittlungs“verfahren hat sich allerdings durchgesetzt (vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, § 15 m. w. N.; M-G, StPO, Einl., Rndnr. 60; § 160, Rndnr. 5 m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 33; § 160, Rndnr. 1 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, 2. Teil, 1. Abschn.). Mit Blick auf die strafverfahrensrechtliche Bedeutung der praktischen Ermittlungen durch die Strafverfolgungsbehörden ist sie auch am sinnhaltigsten. 45 46

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens

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gen einzustellen (vgl. § 170 StPO). Das Ermittlungsverfahren erstreckt sich von der ersten Amtshandlung eines Staatsanwaltes oder eines Polizeibeamten bis hin zur Anklageerhebung oder Einstellung. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Polizei dürfen als Ermittlungsbehörden Ermittlungen aller Art vornehmen (vgl. § 161 StPO). Hierbei dürfen sich Staatsanwälte zur Erfüllung ihrer Aufgaben der Beamten des Polizeidienstes bedienen. Dabei sind diese wiederum verpflichtet, staatsanwaltschaftlichen Weisungen Folge zu leisten (vgl. § 161 StPO, § 152 Abs. 1 GVG). Der Staatsanwaltschaft stehen zahlreiche Zwangsmaßnahmen zur Verfügung, deren Anordnung allerdings in weiten Teilen dem Ermittlungsrichter vorbehalten ist.47

II. Einleitung des Ermittlungsverfahrens 1. Strafanzeige, Strafantrag und amtliche Wahrnehmung des Verdachtes strafbaren Verhaltens Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens kann durch Strafanzeige, Strafantrag oder die amtliche Wahrnehmung einer Straftat erfolgen.48 Jeder Bürger kann eine wahrgenommene Straftat anzeigen, wobei zu beachten ist, dass ihn hierzu keine Pflicht trifft (vgl. § 158 Abs. 1 StPO).49 Die Strafanzeige besteht in der Mitteilung eines konkreten Lebenssachverhaltes an die Strafverfolgungsbehörden, der nach individueller Auffassung des Anzeigenden Anlass zur Strafverfolgung gibt.50 Eine Strafanzeige kann bei der Staatsanwaltschaft, der Polizei oder auch bei den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich erfolgen (vgl. § 158 Abs. 1 StPO). Des Weiteren kann der Einzelne auch einen „Strafantrag“ stellen (vgl. § 158 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO). Hierbei ist in zweierlei Hinsicht zu differenzieren: Einerseits kann ein Strafantrag schon in der bloßen Anzeige einer Straftat – verbunden mit der erkennbaren Willensäußerung zur Verfolgung – liegen (vgl. § 158 Abs. 1 StPO – Strafantrag im weiten Sinn). Andererseits kann der Strafantrag aber auch speziell durch den Antragsberechtigten erfolgen (vgl. § 158 Abs. 2 StPO i.V.m. §§ 77 ff. StGB i.V.m. dem konkreten Antragsdelikt – Strafantrag im engen Sinn).51 Der Strafantrag im engen Sinn unterliegt einem Schrift47 Siehe die §§ 81a Abs. 2 , 81 f. Abs. 1 S. 1, 98 Abs. 1 S. 1, 100 Abs. 1, 100b Abs. 1 S. 1, 100d Abs. 1 S. 1, 100d Abs. 2 S. 1, 105 Abs. 1 S. 1, 110b Abs. 2 S. 1 StPO. 48 Vgl. Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 33 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 37, Rndnrn. 2 ff. m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 77 ff. m. w. N. 49 Beachte jedoch die ausnahmsweise Anzeigepflicht gemäß § 138 StGB (Rückausnahme: § 139 StGB). 50 Ähnlich M-G, StPO, § 158, Rndnr. 2 m. w. N. 51 Dazu Wache in: KK, StPO, § 158, Rndnrn. 1 ff., 32 m. w. N.; Rieß in: L-R, StPO, § 158, Rndnrn. 1, 6 f., 23 f. m. w. N.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

lichkeitserfordernis (vgl. § 158 Abs. 2 StPO). Zwischen den beiden Formen des Strafantrags muss streng unterschieden werden, denn nur der Strafantrag im engen Sinn kann die Prozessvoraussetzung der Antragstellung bei Antragsdelikten erfüllen.52 Schließlich kommt es in der Praxis oftmals vor, dass die Strafverfolgungsbehörden „auf anderem Wege“ von dem Verdacht strafbaren Verhaltens Kenntnis erhalten (vgl. § 160 Abs. 1 StPO).53 Diesbezüglich kommen einerseits eigene, d. h. amtliche Wahrnehmungen des Staatsanwaltes54, andererseits aber auch eigene Erforschungshandlungen der Behörden und Beamten des Polizeidienstes in Betracht (vgl. §§ 158 Abs. 1, 161, 163 Abs. 1 S. 1)55. Schließlich kommt auch eine Kenntniserlangung von Amts wegen durch den Ermittlungsrichter (vgl. §§ 21e Abs. 1 S. 1 GVG, 162 Abs. 1 S. 1 StPO), z. B. bei einer richterlichen Vernehmung, in Betracht. In einem solchen Fall gibt der Ermittlungsrichter die Strafverfolgung an die Staatsanwaltschaft ab (vgl. § 167 StPO). Nur in Ausnahmefällen darf er, gewissermaßen „stellvertretend“, als „Notstaatsanwalt“ tätig werden (vgl. § 165 StPO).

2. Legalitätsmaxime und Anfangsverdacht Die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) verpflichtet die Staatsanwaltschaft, Ermittlungen durchzuführen und gegebenenfalls öffentliche Klage zu erheben.56 Auch die Polizei wird durch die Legalitätsmaxime gebun-

52 Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 283 m. w. N. Ferner zum Strafantrag als Prozessvoraussetzung auch Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 68, der den Regelungsstandort in den §§ 77 ff. StGB für systematisch falsch hält. 53 Sogar bei Antragsdelikten (vgl. §§ 77 ff. StGB) ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens von Amts wegen ohne vorherige Stellung eines Strafantrages im engen Sinn möglich (vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 310 m. w. N.). 54 In diesem Fall ist die Frage strittig, ob den Staatsanwalt bei privater Kenntniserlangung ein Verfolgungszwang trifft. Teilweise wird eine Ermittlungspflicht mit der Begründung abgelehnt, dass auch dem Staatsanwalt eine rechtlich geschützte Privatsphäre zugebilligt werden müsse (hierzu differenziert Rieß in: L-R, StPO, § 160, Rndnr. 25 m. w. N.). Nach a.A. habe – mit Rücksicht auf die Effektivität der Durchsetzung des staatlichen Sanktionsanspruchs und den Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten – zumindest eine Einzelfallabwägung zu erfolgen. Hierbei müssten sodann vor allem die Intensität der privatsphärischen Verstrickung des Staatsanwaltes, die Schwere der mutmaßlichen Straftat und der Grad der Gefährdung der Allgemeinheit berücksichtigt werden (BGHSt 5, S. 225 [229 m. w. N.]; 12, S. 277 [279 ff. m. w. N.]; hierzu wiederum kritisch: T / F, StGB, § 258a, Rndnr. 4 m. w. N.). 55 Obgleich vorrangig die Staatsanwaltschaft zur Durchführung und Leitung der Ermittlungen gesetzlich berufen ist, sind polizeiliche Ermittlungen in der Praxis – zumindest in den Bereichen „kleinerer“ und „mittlerer“ Kriminalität – mittlerweile die Regel. So spricht etwa Hellmann, Strafprozeßrecht, Teil II, § 3, Rndnrn. 57 ff. m. w. N., von einer „faktischen Dominanz der Polizei im Ermittlungsverfahren“ (dazu auch schon oben: 1. Kap. C.). 56 Ausführlich: Rieß in: L-R, StPO, § 152, Rndnrn. 8 ff. m. w. N.; Schoreit in: KK, StPO, § 152, Rndnrn. 13 ff. m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, 2. Teil, 1. Abschn., § 9 m. w. N.

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens

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den, soweit sie mit den Ermittlungen befasst ist (vgl. § 163 StPO). Die Legalitätsmaxime ist Konsequenz der Offizialmaxime (vgl. § 152 Abs. 1 StPO), denn: Ist die Strafrechtspflege ausschließlich Aufgabe der staatlichen Hoheitsgewalt, dann muss diese beim Einschreiten an gleiche, verlässliche Maßstäbe gebunden sein (vgl. Art. 3 Abs. 1 GG).57 Zu bemerken bleibt, dass die Offizialmaxime ihrerseits wiederum teilweise durch die Opportunitätsmaxime durchbrochen wird, wonach die Staatsanwaltschaft befugt ist, von einer Strafverfolgung im Einzelfall abzusehen (vgl. z. B. §§ 153 ff. StPO, § 45 JGG).58 Nach der Legalitätsmaxime obliegt den Strafverfolgungsbehörden die gesetzliche Pflicht zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen, wenn ein entsprechender Anfangsverdacht gegeben ist. Ein Anfangsverdacht liegt grundsätzlich dann vor, wenn konkrete Tatsachen existieren (vgl. § 100a StPO), die das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat nach kriminalistischer Erfahrung nahe legen.59 Erforderlich sind insoweit „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ (vgl. § 152 Abs. 2 StPO), wobei jedoch „bloße Vermutungen“60 nicht ausreichen. Bei der Beurteilung der Frage, ob die vorliegenden Verdachtsmomente die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens begründen können, hat die Staatsanwaltschaft einen Ermessensspielraum.61 Dieser wird erst in dem Moment überschritten, in welchem bei umfassender Berücksichtigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen den Beschuldigten nicht mehr nachvollziehbar ist.62 Die sog. „Vorermittlungen“, die in der staatsanwaltschaftlichen Praxis oftmals aufgenommen werden, um vorab die Notwendigkeit der Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens abzuklären, werden zu einem späteren Zeitpunkt63 der vorliegenden Untersuchung erörtert.

Siehe M-G, StPO, § 152, Rndnr. 2 m. w. N. Zu den rechtlichen Einschränkungen detailliert Schöch in: AK, StPO, § 152, Rndnrn. 15 ff. m. w. N. 59 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 37, Rndnr. 13 m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 76, unter Verweis auf Ziff. 6.2. Anl. E RiStBV. 60 Pfeiffer, StPO, § 152, Rndnr. 1a m. w. N.; Rieß in: L-R, StPO, § 152, Rndnrn. 21 ff. m. w. N.; Schöch in: AK, StPO, § 152, Rndnr. 10 m. w. N. Außerdem zur „pflichtgemäßen Beurteilung der Strafverfolgungsbehörden“: BGHSt 10, S. 8 (12); 37, S. 48 (51). 61 Vgl. BGHSt 38, S. 214 (228 m. w. N.). 62 In diesem Sinne sind staatsanwaltschaftliche Einleitungsentscheidungen nicht auf ihre „Richtigkeit“, sondern vielmehr auf ihre „Vertretbarkeit“ hin gerichtlich überprüfbar (BGH, StV 1988, S. 441 ff. m. w. N.; OLG Dresden, StV 2001, S. 581). 63 7. Kap. B. II. 4. 57 58

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

III. Durchführung des Ermittlungsverfahrens 1. Dauer: Beschleunigungsmaxime Aus der Rechtsstaatsmaxime 64 folgt das grundsätzliche Gebot der beschleunigten Durchführung von Strafverfahren, denn der Beschuldigte soll innerhalb einer angemessenen Frist über die erhobenen Vorwürfe Gewissheit, d. h. vor allem auch Rechtssicherheit erhalten (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG).65 Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass das Strafverfahren zum einen empfindlich in den Rechtskreis des – ggf. zu Unrecht – Verfolgten eingreift und dass zum anderen etwa die „Qualität“ von Beweismitteln (z. B. das Erinnerungsvermögen von Zeugen) mit der Zeit abnimmt. Demzufolge besteht ein großes Interesse an einer „raschen Strafrechtspflege“66. Daneben ergibt sich das angesprochene Erfordernis, den Beschuldigten innerhalb „angemessener Frist“ zu den erhobenen Vorwürfen zu hören, aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. So ergibt sich aus der Gesamtbetrachtung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 20 Abs. 3 GG die Beschleunigungsmaxime. Die Frist zur Bestimmung einer angemessenen Verfahrensdauer beginnt zu laufen, sobald der Beschuldigte von den konkreten Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird, und endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens.67 Die schnelle Herbeiführung einer strafgerichtlichen Entscheidung ist insbesondere in den Fällen angezeigt, in denen Untersuchungshaft angeordnet wurde.68 Nach aktueller Rechtsprechung bewirkt eine überlange Verfahrensdauer allerdings kein Verfahrenshindernis, d. h. ein unangemessen lang andauerndes Strafverfahren ist nicht einzustellen (vgl. § 260 Abs. 3 StPO). Es handelt sich jedoch um einen Umstand, der im Rahmen der Strafzumessung regelmäßig strafmildernd berücksichtigt werden muss.69

Dazu umfassender oben: 3. Kap. C. III. Eingehender BVerfG, NJW 2001, S. 2707 f. m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 360 f. m. w. N. 66 Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 16, Rndnr. 3. 67 Siehe BGH, NStZ-RR 2001, S. 294 f. 68 Zum Faktor „Untersuchungshaft“ und insbesondere zum Aspekt der überlangen Untersuchungshaft: BVerfG, NJW 2002, S. 207 f. m. w. N.; OLG Zweibrücken, StV 2002, S. 152 m. w. N. 69 Vgl. BGHSt 35, S. 137 ff. m. w. N.; BGH, NJW 2000, S. 748 f. m. w. N. 64 65

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens

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2. Art und Weise: Strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungsprimat vorbehaltlich der Berücksichtigung der privaten und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten a) Inquisitionsmaxime Die Inquisitionsmaxime (vgl. §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 1 und 2, 244 Abs. 2 StPO) begründet die Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, einen konkreten Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und aufzuklären. Hierbei konstituiert die Erhebung der öffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft (vgl. § 170 Abs. 1 StPO) den Übergang dieser strafverfahrensrechtlichen Leitfunktion auf das zuständige Gericht. Diesem obliegt im Strafprozess die Aufklärung des wirklich geschehenen Sachverhaltes (Prinzip der materiellen Wahrheit70). Demgegenüber gilt im Zivilprozess die Dispositionsmaxime, wonach den Prozessparteien selbst die Entscheidung obliegt, welche konkreten Sachverhaltsumstände sie für beweiswürdig erachten und dem zuständigen Gericht zur Entscheidung vorlegen wollen (Prinzip der formellen Wahrheit71). Im Zivilprozess wird mithin die aufgrund der Dispositionsmaxime bestehende Verfügungsmacht der Prozessparteien auch auf die eigentliche Beweisgewinnung ausgedehnt.72

b) Grundsatz der freien Gestaltung der Ermittlungen Der Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens (vgl. § 161 StPO) ermächtigt die Strafverfolgungsbehörden zur Ergreifung sämtlicher zulässiger Maßnahmen, die geeignet und erforderlich sind, eine Straftat aufzuklären.73 Dabei sollen die Strafverfolgungsbehörden bei der Gestaltung ihrer Ermittlungen keinesfalls schablonenhaften gesetzlichen Vorgaben unterliegen. Vielmehr muss gerade ein gewisser Freiraum für Ermittlungstaktik und den richtigen Einsatz der Kriminaltechnik bleiben.74 Von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. z. B. § 163a Abs. 1 S. 1 StPO) begrenzt die Strafprozessordnung daher weder die grundsätzliche Zulässigkeit bestimmter Ermittlungshandlungen, noch gibt sie eine obligatorische Abfolge verschiedener Ermittlungsschritte vor.75

70 Zum Begriff der „materiellen Wahrheit“: BVerfGE 57, S. 250 (275). Zu beachten ist dabei die begrenzende Leitidee, dass eine „Wahrheitsermittlung um jeden Preis“ unzulässig ist (vgl. BGHSt 14, 358 [365]; 31, S. 304 [309 m. w. N.]). 71 Zum Begriff der „formellen Wahrheit“: Rieß in: L-R, StPO, Einl., Abschn. H, Rndnr. 32 m. w. N. 72 So Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 15, Rndnr. 1. 73 Siehe M-G, StPO, Einl., Rndnr. 60 m. w. N.; § 161, Rndnr. 7 m. w. N. 74 M-G, StPO, § 163, Rndnr. 47 m. w. N. 75 Dazu Rieß in: L-R, StPO, Vor § 158, Rndnr. 17 m. w. N.; § 160, Rndnr. 35 m. w. N. Hierzu kritisch: Wolter in: SK, StPO, Vor § 151, Rndnrn. 21 ff. m. w. N.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Von diesem Grundsatz ausgenommen sind selbstverständlich außerordentlich belastende und somit unter Richtervorbehalt stehende Zwangsmaßnahmen.

c) Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, nach welchem das Gericht „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ entscheidet76 (vgl. § 261 StPO), gilt auch für die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren.77 Demzufolge dürfen die Strafverfolgungsbehörden die Frage, ob einzelne Tatsachen als bewiesen anzusehen sind, nach eigener Überzeugung beurteilen. Insbesondere muss sich die Staatsanwaltschaft vor Anklageerhebung der individuellen Schuld des Beschuldigten nicht völlig sicher sein; der hier entscheidende hinreichende Tatverdacht wird sogleich78 erörtert.

d) „Fair trial“-Maxime Obgleich die „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK) nicht ausdrücklich gesetzlich normiert ist, wird sie gemeinhin als übergeordnete Strafverfahrensmaxime akzeptiert, nach welcher der Beschuldigte einen Anspruch auf ein faires Strafverfahren hat.79 Zwar wird die „fair trial“-Maxime als „oberstes Gebot des gesamten Strafprozeßrechtes“ 80 bezeichnet; dennoch liegt ein Hauptproblem darin, dass ihre tatsächliche Reichweite in der Praxis völlig ungeklärt ist.81 Diese Unsicherheit besteht vor allem im Hinblick auf die Frage, in welchen Fällen ein bestimmtes strafverfahrensrechtliches Verhalten – fairnessgemäß – zu erfolgen 76 Insoweit existieren grundsätzlich keinerlei Bindungen an strafprozessuale Beweisregeln (Ausnahmen: §§ 190 StGB, 274 StPO und die entwickelten Beweisverwertungsverbote), vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 22 m. w. N. 77 So Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 15, Rndnr. 11. 78 4. Kap. B. IV. Weiterführend M-G, StPO, § 170, Rndnrn. 1 f. m. w. N., zur entsprechenden staatsanwaltschaftlichen Prognoseentscheidung. 79 Hierzu eingehender BVerfGE 38, S. 105 (111 ff. m. w. N.); 39, S. 238 (243 m. w. N.); 41, S. 246 ff. m. w. N.; 57, S. 250 (274 ff. m. w. N.); 63, S. 45 (60 ff. m. w. N.). Weiterhin auch BGHSt 24, S. 125 (131 f.). Die Bundesregierung setzte den Begriff des „fair trial“ bereits vor Jahren voraus (vgl. schon BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Nr. 12, S. 6). Vgl. ferner Bottke in: Roxin-FS, S. 1243 ff.; Dörr, Faires Verfahren, S. 141 ff., 177 f.; M-G, StPO, Einl., Rndnr. 19 m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 28 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 11, Rndnrn. 9 ff. m. w. N.; Scherer, ZRP 1990, S. 332 ff. m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 54 ff. m. w. N.; Stürner, JZ 1980, S. 1 (4 m. w. N.). 80 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 11, Rndnr. 9 m. w. N. 81 So bemerkt Jahn, Konfliktverteidigung, S. 132, dass man sich „freilich weniger über den Richtigkeitsgehalt dieses Satzes, als vielmehr darüber [streitet], was sich dahinter an Inhalten verbergen sollte“.

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens

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hat und welche prozessualen Folgerungen im Einzelfall aus einem bestimmten strafverfahrensmäßigen Verhalten zur Wahrung der strafprozessualen Fairness gezogen werden müssen.82 Der Bundesgerichtshof gibt an dieser Stelle die praktische Gefahr zu bedenken, dass durch eine weitgehende Anwendung vager Verfassungsmaximen die Entstehung größerer Rechtsunsicherheit drohe.83 Dieses Argument ist zugleich in der Kontroverse über die dogmatische Deduktion der „fair trial“-Maxime bedeutsam.84 So verneint Horst Heubel die Existenz eines Anspruchs auf ein „fair trial“.85 Heubels Kritik ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar, in der Rigorosität ihres Resultats aber verfehlt.86 Sicherlich können im Hinblick auf die Weite der Rechtsstaatsmaxime87 Schwierigkeiten einer sinnvollen Begrenzung des tatsächlichen Anwendungsbereiches der „fair trial“-Maxime entstehen. Daneben wird ebenso die konkrete Gefahr der Aushöhlung einfachgesetzlicher Regelungsinhalte geltend gemacht, wäre jeder vermeintliche Strafverfahrensverstoß im Hinblick auf den Maßstab eines „fair trial“ rügbar.88

82 Neben dem Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren durch einen vertrauten Strafverteidiger vertreten zu lassen (vgl. BVerfGE 39, S. 238 [243]; BVerfG, StV 2001, S. 601 ff. m. w. N.), umfasst das Recht auf ein „fair trial“ weiterhin auch das Recht, zu den erhobenen Vorwürfen schweigen zu dürfen (vgl. BGHSt 38, S. 214 [220]; EGMR, NJW 2002, S. 499 ff. m. w. N.). In der Frage der Festsetzung der Rechtsfolgen ist zu Gunsten des Beschuldigten z. B. zu berücksichtigen, wenn dieser zunächst unverdächtig und nicht tatgeneigt war, aber durch eine von einem Amtsträger geführte Vertrauensperson („Lockspitzel“) zur Tatbegehung provoziert wurde (vgl. EGMR, StV 1999, S. 127 f. m. w. N.; BGHSt 45, S. 321 [335 f. m. w. N.]. Schon vor einigen Jahren kritisch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung bei tatprovozierenden Einsätzen polizeilicher Lockspitzel: Herzog, NStZ 1985, S. 153 ff.). Siehe weitere Beispiele zum Anwendungsbereich der „fair trial“-Maxime bei Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 28 m. w. N. 83 BGHSt 40, S. 211 (217 f. m. w. N.). Deswegen soll ein Verstoß gegen die „fair trial“-Maxime jedenfalls kein Prozesshindernis begründen (vgl. BGHSt 42, S. 191 [193]). 84 Teilweise wird vertreten, dass die „fair trial“-Maxime in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK positiviert sei (hierzu Gollwitzer in: L-R, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnrn. 64 f. m. w. N.; M-G, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnr. 4 m. w. N.). Demgegenüber wird vertreten, die Ableitung habe aus Art. 2 Abs. 1 GG und der Rechtsstaatsmaxime zu erfolgen (vgl. BVerfGE 38, S. 105 [111 ff. m. w. N.]; 41, S. 246 [249]; 57, S. 250 [274 f. m. w. N.]; 63, S. 45 [60 f. m. w. N.]). Schließlich wird vertreten, die Herleitung ergebe sich aus der Rechtsstaatsmaxime und habe in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK seinen besonderen Ausdruck gefunden (BGHSt 24, S. 125 [131]. Vgl. ferner BGHSt 32, S. 345 [350], 37, S. 10 [13]). Siehe die instruktive Darstellung dieser Streitfrage bei Jahn, Konfliktverteidigung, S. 133 m. w. N. Vgl. dazu auch später: 5. Kap. A. II. 3. 85 Nach Heubels Auffassung verfüge eine „fair trial“-Maxime weder über eine erkennbare strafverfahrensspezifische Funktion noch über hinreichend präzisierbare dogmatische Inhalte. Insoweit sei sie entbehrlich (fair trial, S. 73, 124, 137 m. w. N.). 86 Ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 30 m. w. N.; Rüping, JZ 1983, S. 663 (664 m. w. N.). 87 Hierzu schon oben: 3. Kap. C. III. 88 Vgl. Dörr, Faires Verfahren, S. 146 f. m. w. N. 89 Vgl. Rüping, JZ 1983, S. 663 (664 m. w. N.).

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Diesen Einwänden ist mit grundlegenden Überlegungen zur übergreifenden Konzeption des modernen Strafverfahrens entgegenzutreten: Zunächst besteht durchaus die Möglichkeit einer sinnvollen und trennscharfen Eingrenzung des Anwendungsbereiches der „fair trial“-Maxime. So könnten wir formulieren, dass die Durchführung eines Strafverfahrens im Sinne eines „fair trial“ immer dann beeinträchtigt wird, wenn gegen elementare Strafverfahrensmaximen verstoßen wird. Hierdurch wird gewährleistet, dass die (durchaus selbstbeschränkende) Verpflichtung der Strafjustiz zur fairen Strafverfahrensführung als Kernbestand der Grundkonzeption des Strafverfahrens im liberalen Rechtsstaat und dessen Staatsverfassung gewährleistet und durchgesetzt werden kann. Der von strafjustizieller Gewaltausübung Betroffene muss dabei vor allem die Möglichkeit haben, sich einer unfairen, rechtswidrigen Machtpraxis wirksam erwehren zu können.89 Anderenfalls entstünde die Gefahr einer schwerwiegenden strafverfahrensrechtlichen Benachteiligung des Betroffenen – eine nicht hinnehmbare Vorstellung. Dennoch ist die Gefährdung, genauer besehen, akuter als vielfach angenommen, sind doch beispielsweise schon Fälle schlichter Verfahrensungerechtigkeit nicht von einfachgesetzlich geregelten Verfahrensgarantien umfasst. Demzufolge verbleibt es bei der dringenden Notwendigkeit, im Rahmen einer liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahrenskonzeption und Staatsverfassung die Ausgewogenheit im Strafverfahren mittels strafverfahrensrechtlicher Grundsicherungen zu garantieren. Somit muss die Gewährleistung des „fair trial“ im Sinne eines elementaren strafprozessrechtlichen Prinzips – gewissermaßen als strafprozessuales „Grundrecht“ – neben spezielleren Verfahrensrechten anerkannt werden.90 Im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung ist eben dieses strafprozessuale „Grundrecht“ verletzt, wenn bereits im Stadium vorläufiger Ermittlungen in der Öffentlichkeit ein Klima der Vorverurteilung entsteht. Daher wird an die „fair trial“-Maxime zu einem späteren Zeitpunkt91 noch einmal anzuknüpfen sein, wenn wir uns mit dem konkreten Anwendungsfall der rechtlichen Rahmenbedingungen von Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren befassen werden. Neben der Frage, ob die Gewährleistung eines „fair trial“ überhaupt existiert, fragt sich anschließend, wie der konkrete Gehalt der „fair trial“-Maxime bestimmt werden kann. Hierbei ist grundsätzlich zu beachten, dass die inhaltliche Konkretisierung der „fair trial“-Maxime als wesentliche strafprozessuale Rechtsmaterie der legislativen Initiative des Gesetzgebers überlassen bleiben muss, der entsprechende differenzierte Ge- und Verbote schaffen kann.92 Im Kontext der Einleitung

90 Ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 30 m. w. N.; Dörr, Faires Verfahren, S. 142 f. m. w. N. Instruktiv daneben: Rieß in: L-R, StPO, Einl. H, Rndnrn. 99 ff. m. w. N. 91 5. Kap. A. II. 3. 92 Siehe Meyer, JR 1984, S. 173 f. m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 28 m. w. N. Hierzu auch später noch einmal im Rahmen des Vorschlags eines „§ 160a StPO“ (7. Kap. B. II.).

B. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens

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und Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen gilt allerdings für den Staatsanwalt, dass diesem im Falle eines medienöffentlichen Interesses an einem Ermittlungsverfahren – eben aufgrund des Fairnessgebots – die Pflicht obliegt, deutlich zu machen, dass die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen keinesfalls mit einer rechtskräftigen Verurteilung gleichgesetzt werden darf. Ferner ist der Beschuldigte vor den Medien über die Einleitung des Ermittlungsverfahrens in Kenntnis zu setzen93 und haben die Ermittlungsbehörden ihre Öffentlichkeitsarbeit sodann während des Ermittlungsverfahrens fair zu gestalten (vgl. Ziff. 4a, 23 RiStBV94).95

e) Grundsatz staatsanwaltschaftlicher Fürsorgepflicht Das strafprozessuale Institut der Fürsorgepflicht ist nach herrschender Auffassung anerkannt.96 Ihr Fundament wird vorrangig den verschiedenen gesetzlichen Belehrungs- und Hinweispflichten entnommen.97 Der Fürsorgepflicht wohnt die grundlegende Konzeption inne, dass den Ermittlungsbehörden, ebenso wie den Gerichten, eine Pflicht zur Berücksichtigung weiterer Nebenpflichten obliegt. Diese Pflicht wird der Rechtsstaatsmaxime 98, dem öffentlich-rechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes, dem Recht auf Strafverteidigung, der „fair trial“-Maxime und schließlich der allgemeinen Rechtspflicht, ein Strafverfahren justizförmig, „pfleglich und zweckvoll zu gestalten“99, entnommen. Diese Fürsorgepflicht beeinflusst daher zuvorderst die Inquisitionsmaxime (vgl. §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 1 und 2, 244 Abs. 2 StPO)100, indem sie die faire Durchführung der Ermittlungen vorschreibt101 und somit die effektive Wahrnehmung der Strafverfahrensrechte des Beschuldigten zu gewährleisten beabsichtigt. Auf diese Weise soll das strukturbe93 Dazu unten eingehender im Zusammenhang mit der Darstellung des Rechtsstreits „Dr. Esser . / . Land NRW“ (6. Kap. B. III. 2.). 94 Zum Problem der fehlenden rechtlichen Bindungswirkung der Ziff. 4a, 23 RiStBV später noch detaillierter: 5. Kap. A. I. 3. 95 Instruktiv zu diesen staatsanwaltschaftlichen Pflichten: Schaefer in: Riess-FS, S. 491 (492 ff. m. w. N.). 96 Siehe nur BVerfGE 57, S. 250 (280); BGHSt 18, S. 257 ff. m. w. N.; 19, S. 101 ff. m. w. N.; 22, S. 118 (122); 24, S. 15 (25); 25, S. 325 (330 m. w. N.); 36, S. 210 ff. m. w. N., 305 ff. m. w. N.; M-G, StPO, Einl., Rndnrn. 156 ff. m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 32 m. w. N.; Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnrn. 110 ff. m. w. N. Speziell zum Ermittlungsverfahren auch: Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 107 ff. m. w. N. 97 Vgl. §§ 35a, 52 Abs. 2, 55 Abs. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1, 265 Abs. 1 StPO (dazu auch Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnr. 110). 98 Dazu schon oben: 3. Kap. C. III. 99 M-G, StPO, Einl., Rndnrn. 156 f. m. w. N. Ferner Rieß in: L-R, StPO, Einl., Abschn. H, Rndnr. 120 m. w. N. 100 Siehe gerade oben: 4. Kap. B. III. 2. a). 101 Detaillierter Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnr. 114 m. w. N.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

dingte Übergewicht der „Definitionsmacht des Kriminaljustizsystems“102 abgemildert werden.103

IV. Abschluss des Ermittlungsverfahrens Das Ermittlungsverfahren endet entweder mit der Erhebung der öffentlichen Klage oder einer Einstellung des Verfahrens (vgl. § 170 StPO).104 Der Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) folgend ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, die öffentliche Klage zu erheben, falls ihre Ermittlungergebnisse hierzu „genügenden Anlaß“ bieten (vgl. § 170 Abs. 1 StPO). Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn ein hinreichender Tatverdacht besteht (vgl. § 203 StPO), d. h. der sachbefasste Staatsanwalt aufgrund des ermittelten Sachverhaltes zur Prognose einer wahrscheinlichen Verurteilung gelangt.105 Die Erhebung der öffentlichen Klage erfolgt regelmäßig „durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht“ (vgl. § 170 Abs. 1 StPO) oder durch Beantragung des Erlasses eines Strafbefehls (vgl. § 407 Abs. 1 S. 4 StPO).106 Sobald die Staatsanwaltschaft die Erhebung der öffentlichen Klage in Betracht zieht, vermerkt sie den Ermittlungsabschluss in den Akten (vgl. § 169a StPO). Ein solcher Vermerk hat vor allem die Konsequenzen, dass spätestens jetzt auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist (vgl. § 141 Abs. 3 S. 3 StPO) und dass nunmehr Akteneinsicht gewährt werden muss (vgl. § 147 Abs. 2 StPO).107 Eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens kommt zum einen aufgrund mangelnden Tatverdachts (vgl. § 170 Abs. 2 S. 1 StPO), zum anderen aber auch aus Opportunitätsgründen (vgl. §§ 153 ff. StPO) in Betracht.

Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 207. Eingehender Rieß in: L-R, StPO, Einl. H, Rndnr. 121 m. w. N. 104 Instruktiv Schroeder, Strafprozeßrecht, §§ 19, 20. 105 Vgl. auch Achenbach in: AK, StPO, § 170, Rndnr. 9 m. w. N.; Hellmann, Strafprozeßrecht, Teil II, § 8, Rndnr. 7; M-G, StPO, § 170, Rndnrn. 1 f. m. w. N.; M-G, StPO, § 170, Rndnr. 2 m. w. N.; Rieß in: L-R, StPO, § 170, Rndnrn. 18, 20 m. w. N., Rndnr. 7 m. w. N.; Schmid, KK, StPO, § 170, Rndnr. 3. Hierzu auch BGHSt 15, S. 155 ff. m. w. N.; Schlüchter, Strafverfahren, Rndnrn. 61.1 – 61.5 m. w. N. Weiterhin Rieß in: L-R, StPO, § 170, Rndnrn. 22 ff. m. w. N., zum Einwand der Bindung der staatsanwaltschaftlichen Abschlussentscheidung an die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach auf die gerichtliche Prognose abzustellen sei. 106 Daneben sind weiterhin auch der Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren (vgl. § 417 StPO), der Antrag im vereinfachten Jugendverfahren (vgl. § 76 JGG) oder aber der Antrag im Sicherungsverfahren (vgl. § 413 StPO) denkbar. 107 Weiterführend: Bohnert, Abschlußentscheidung; speziell zum Akteneinsichtsrecht später noch ausführlicher: 7. Kap. A. III. B. I. 1. a). 102 103

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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V. Zusammenfassung Durch die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) werden die Strafverfolgungsbehörden, d. h. die Staatsanwaltschaft und die Behörden und Beamten des Polizeidienstes (vgl. § 163 StPO), gesetzmäßig verpflichtet, im Falle des Vorliegens eines Anfangsverdachtes einzuschreiten. Dies bedeutet vor allem, den konkreten Sachverhalt sachgerecht, d. h. ohne begünstigende Nachsicht oder benachteiligenden Übereifer – beispielsweise hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung eines prominenten Beschuldigten – zu erforschen und aufzuklären. Im Rahmen der Durchführung des Ermittlungsverfahrens kommt den Strafverfolgungsbehörden einerseits unzweifelhaft der Ermittlungsprimat zu. Dieser wird insbesondere durch die Inquisitionsmaxime (vgl. §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 1 und 2, 244 Abs. 2 StPO), den Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens (§ 161 StPO) und den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) manifestiert. Dennoch obliegt den Strafverfolgungsbehörden gleichzeitig die Verpflichtung zum Respekt vor den individualrechtlichen, persönlichen und sozialen Schutzbelangen des Beschuldigten. Im Sinne einer Selbstbeschränkung des eigenen Ermittlungsprimats obliegt den Strafverfolgungsbehörden demgemäß die Berücksichtigung vor allem der Beschleunigungsmaxime (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), der „fair trial“-Maxime (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) und des Grundsatzes staatsanwaltschaftlicher Fürsorgepflicht. Im Ergebnis beabsichtigt die Strafprozessordnung eine gesetzliche Synthese: Obwohl einerseits die effektive Durchführung der Ermittlungen ermöglicht werden soll, wird andererseits – in fairer Akzeptanz der Beschuldigtenrechte – das liberalrechtsstaatliche Anliegen ermittlungsbehördlicher Selbstbeschränkung manifestiert.

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren I. Die Staatsanwaltschaft 1. „Herrin“ des Ermittlungsverfahrens Der Verlauf des Ermittlungsverfahrens wird maßgeblich durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft geprägt. Ihre umfangreichen Kompetenzen reichen von exekutiven Ermittlungs- bis hin zu judikativähnlichen Entscheidungsbefugnissen.108 108 Hinsichtlich der Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren instruktiv und weiterführend: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft (2001), insbesondere zu diesbezüglichen aktuellen Fragen – allerdings in Bezug auf das österreichische Strafverfahren (vor allem Steininger in: Pilgermair [Hrsg.], Staatsanwaltschaft, S. 17 ff. m. w. N., zum Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Gericht).

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Insofern verwundert nicht, dass kontrovers darüber gestritten wird, ob die Staatsanwaltschaft ihrem Wesen nach der exekutiven oder vielmehr der judikativen Staatsgewalt zugeordnet werden muss.109 Zunächst könnte die Staatsanwaltschaft als ein der Judikative gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege aufgefasst werden, welches gemeinsam mit den Gerichten die Justizgewährung wahrnimmt.110 Für eine solche gerichtsähnliche Stellung der Staatsanwaltschaft könnten vor allem die Regelungen der §§ 153 ff., 160 Abs. 2 StPO und des § 150 GVG111 sprechen. Gleichwohl ergeben sich im Falle einer solchen Einordnung schwerwiegende Bedenken: Zunächst einmal wird schon der grundlegende Aufbau der Staatsanwaltschaft durch eine streng hierarchisch organisierte Befugnisstruktur geprägt. Staatsanwälte haben den Anweisungen ihres Dienstvorgesetzten grundsätzlich Folge zu leisten (vgl. §§ 146, 147 GVG).112 Insoweit unterscheiden sich Staatsanwalt und Richter in besonders gravierendem Ausmaß, ist doch der Richter im Rahmen der Ausübung seiner judikativen Staatsgewalt sachlich und persönlich unabhängig (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG). Des Weiteren ist zu bedenken, dass eine Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur judikativen Staatsgewalt die Rücknahme einer längst vollzogenen Trennung der Anklageinitiative von der späteren Beurteilung – deren Verquickung prägendes Merkmal des inquisitorischen Strafverfahrens war113 – zur Folge hätte.114 Die Unterscheidung zwischen Ermittlungs- und Hauptverfahren respektive die folgerichtige Übertragung der federführenden Ermittlungskompetenz auf eine – vom später erkennenden Strafgericht – unabhängige Stelle beabsichtigte gerade die Überwindung der unfairen und rechtsstaatswidrigen Inquisitionsrealität.115 Ferner spricht schon ein formalrechtlicher Aspekt für eine Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur öffentlichen Verwaltung: Gemäß der strafrechtlichen Personen- und Sachbegriffe (vgl. § 11 StGB) werden nur der Richter und das Gericht ausdrücklich der exekutiven Begrifflichkeit „Amtsträger“ / „Behörde“ gleichgesetzt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 2a, 7 StGB). Hieraus kann nunmehr umgekehrt geschlussfolgert werden, dass die Staatsanwaltschaft schon per definitionem der Exekutive zuzurechnen ist.116 Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass die

109 Siehe beispielsweise die Darstellungen von Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 22 ff. m. w. N.; Rieß in: L-R, StPO, Einl. I.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 8. 110 Dazu BGHSt 24, S. 170 (171); Göbel, NJW 1961, S. 856 (857 m. w. N.); Kaiser, NJW 1961, S. 200 (201 m. w. N.). 111 Gegen eine solche Auslegung des § 150 GVG spricht sich Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 107, aus. 112 Hierzu noch eingehender unten: 7. Kap. C. I. 2. b) aa), bb). 113 Siehe dazu schon oben: 2. Kap. C. I. 114 So bereits Gössel, GA 1980, S. 325 (335 m. w. N.). 115 Vgl. Gössel, GA 1980, S. 325 (335 m. w. N.); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 31 m. w. N.

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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Staatsanwaltschaft bei der Strafrechtspflege auf die Polizei, die ihrerseits wiederum zweifelsfrei der exekutiven Staatsgewalt angehört, zurückgreifen kann (vgl. §§ 161 Abs. 1, 163 StPO). Wäre die Staatsanwaltschaft nun aber Teil der judikativen Staatsgewalt, ergäbe sich im Ergebnis eine unterschiedliche Zuordnung der Strafverfolgungskompetenz. Die Zuständigkeit hinge mithin von dem schlichten Fakt ab, welche Behörde zuerst die Ermittlungen aufgenommen hat. Indessen sollten die Strafverfolgungsbehörden zur kompakten Erfüllung ihrer Aufgaben einheitlich einer Staatsgewalt angehören.117 Somit ist auch derjenige Ansatz zu verwerfen, welcher die Staatsanwaltschaft als autonomes, d. h. weder der öffentlichen Verwaltung noch der Judikative zugehöriges Rechtspflegeorgan auffasst.118 Die faktische Anerkennung einer vierten Gewalt verstieße gegen das Fundament der grundgesetzlich festgeschriebenen Staatsverfassung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, 79 Abs. 3 GG).119 Mithin kann festgestellt werden, dass die Staatsanwaltschaft wegen ihrer gesetzesausführenden Praxis als Organ der exekutiven Staatsgewalt aufzufassen ist.120 Aufgrund ihrer Eingliederung in die Justiz übt die Staatsanwaltschaft allerdings keine typische, d. h. am Maßstab der Zweckmäßigkeit orientierte Verwaltung aus. Ihre Tätigkeit ist vielmehr auf die gesetzmäßige Durchsetzung einer effektiven Strafrechtspflege gerichtet. Insofern können wir die Staatsanwaltschaft als rechtspflegendes Exekutivorgan bezeichnen. Sie ist in diesem Rahmen „Trägerin und Leiterin“121 der strafrechtlichen Ermittlungen, liegt deren Durchführung doch nach dem Gesetzeswortlaut ganz wesentlich in ihren Händen. Zwar kommt mittlerweile auch der Polizei ein außerordentlich großer Anteil an der Sachverhaltserforschung und Aufklärungsarbeit zu.122 Die Staatsanwaltschaft hat jedoch neben der eigenen 116 Ähnlich Ostendorf, GA 1980, S. 445 (447 m. w. N.), der zusätzlich auf den Wortlaut der §§ 331 – 334 StGB verweist, wo in Abs. 2 eine besondere Behandlung des „Richters“ geregelt ist. 117 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 58 m. w. N. 118 In diese Richtung dennoch Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 8 m. w. N. 119 Gössel, GA 1980, S. 325 (336 m. w. N.). 120 Auch BVerfG 103, S. 142 (156 m. w. N.); NJW 2001, S. 1121 (1123); sehr kritisch dazu: Schaefer, NJW 2001, S. 1396 (1397); Gössel, GA 1980, S. 325 (336 m. w. N.); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 25 ff., 34 m. w. N.; M-G, StPO, Vor § 141 GVG, Rndnrn. 6 f. m. w. N. Vgl. weiterhin Krey / Pföhler, NStZ 1985, S. 145 (146 m. w. N.); Ostendorf, GA 1980, S. 445 (447 m. w. N.); Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 61 m. w. N. Ferner weiterführend Funk / Lachmayer in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 31 ff. m. w. N., zur Stellung der Staatsanwaltschaft im österreichischen „Verfassungsgefüge“ und zu entsprechenden Reformvorhaben. 121 Rieß in: L-R, StPO, Vor § 158, Rndnr. 21 m. w. N. 122 So wird ein Großteil der Strafanzeigen bei der Polizei erstattet. Daher erfährt die Polizei regelmäßig zuerst von einem Anfangsverdacht, d. h. eine überwiegende Anzahl strafrechtlicher Ermittlungsverfahren nimmt einen „polizeilichen Anfang“. Bei „kleiner“ und „mittlerer“ Kriminalität verbleibt die Ermittlungsarbeit zumeist bis zur Abschlussreife bei der Polizei (dazu auch schon oben: 1. Kap. C.). Die Staatsanwaltschaft beschränkt sich in

9 Neuling

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Ermittlungspflicht zudem die umfassende Verantwortung für die justizförmige Durchführung des Ermittlungsverfahrens inne. Deswegen besitzt sie gegenüber der Polizei eine umfassende Leitungskompetenz (vgl. §§ 161, 163 StPO).123 Vor allem aber trifft die Staatsanwaltschaft die maßgebliche Abschlussentscheidung (vgl. § 170 StPO). Demzufolge wird die Staatsanwaltschaft vielfach auch als „Herrin“124 des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bezeichnet.

2. „Objektivste Behörde der Welt“? Daneben wird die Staatsanwaltschaft teilweise auch als „objektivste Behörde der Welt“125 bezeichnet. Hiermit wird auf die Vorschrift des § 160 Abs. 2 StPO Bezug genommen, die vor dem Hintergrund der mächtigen Stellung der Staatsanwaltschaft als „Herrin“ des Ermittlungsverfahrens von herausragender Bedeutung für den fairen Verlauf der strafrechtlichen Ermittlungen ist: „Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln ( . . . ).“

Dieses Postulat einer objektiven Grundhaltung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gründet sich auf die Annahme, die Staatsanwaltschaft dürfe im diesen Fällen vielfach auf die Anordnung einzelner Nachermittlungen und den Erlass einer Abschlussverfügung (vgl. § 170 StPO). Diese ermittlungsrechtliche Dominanz der Polizei kann wesentlich auf ihr größeres Personal im Bereich der Ermittlungsarbeit im engen Sinn (scil.: die Durchführung von Vernehmungen oder kriminalistischen bzw. kriminaltechnischen Untersuchungen) zurückgeführt werden (zum Ganzen: Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 77; Rieß in: L-R, StPO, Vor § 158, Rndnrn. 34 ff.; Rzepka, KritV 1999, S. 312 ff.). Weiterführend zur Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei: Ahlf in: Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 113 (128 ff.); Artkämper, Kriminalistik 2002, S. 146 ff. m. w. N.; Kempf in: Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 143 ff.; Lilie, ZStW 111 (1999), S. 807 ff.; Weidmann, Kriminalistik 2001, S. 378 ff. 123 Siehe BVerwGE 47, S. 255 (261 f. m. w. N.); Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnrn. 34, 77 m. w. N.; Rieß in: L-R, StPO, Vor § 158, Rndnr. 33 m. w. N. Insoweit wird die Polizei im Kontext des § 163 Abs. 1 StPO auch als „verlängerter Arm der Staatsanwaltschaft“ bezeichnet (BVerwGE 47, S. 255 [263 m. w. N.]). 124 Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 79 m. w. N.; Braun, Medienberichterstattung, S. 56; Kühne, Strafprozessrecht, Rndnrn. 131 ff. m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 34 m. w. N. Kritischer Rieß in: L-R, StPO, Vor § 158, Rndnr. 22 m. w. N. Hellmann, Strafprozeßrecht, Teil II, § 3, Rndnr. 1 m. w. N., spricht von „Herrschaft“. Peters, Der Strafprozeß, § 23, IV, S. 166, bezeichnet den Staatsanwalt als „Herr“ des Ermittlungsverfahrens (so auch Pfeiffer in: KK, StPO, Einl., Rndnr. 77 m. w. N.; Wache in: KK, StPO, § 160, Rndnrn. 4 f. m. w. N.). Angesichts der tatsächlichen Verhältnisse der Strafverfolgungspraxis fragt Wolter, Strafprozeßreform, S. 54 f. m. w. N., daneben provokant: „Kriminalpolizei als Herrin des Ermittlungsverfahrens?“. Ähnlich Rzepka, KritV 1999, S. 312 (335), die von einer „Verpolizeilichung des Strafverfahrens“ spricht. 125 Dieses geflügelte Wort wird Hugo Isenbiel zugeschrieben, der seit 1899 Oberstaatsanwalt am Landgericht Berlin und seit 1908 Generalstaatsanwalt am Kammergericht (ebd.) war (vgl. Wagner, JZ 1974, S. 212 m. w. N.; Roxin, DRiZ 1997, S. 109 [113]).

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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Strafverfahren keinesfalls Partei sein; werde doch von der Staatsanwaltschaft zuvorderst erwartet, für die gesetzmäßige Durchsetzung einer effizienten Strafverfolgung zu sorgen. Insoweit müsse die Staatsanwaltschaft zwingend – ähnlich einem Strafgericht – zur objektiven Ermittlungsleitung verpflichtet werden, um die Erreichung eines wahrheitsgetreuen und gerechten Ergebnisses im Strafverfahren zu fördern.126 Gleichwohl bestehen im Hinblick auf die tatsächliche Wirksamkeit dieses Objektivitätspostulats schwerwiegende Bedenken.127 Wie bereits128 dargestellt, setzt die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen die Bejahung eines Anfangsverdachts gegen den Beschuldigten voraus. Demzufolge manifestiert sich schon im Zeitpunkt der Einleitungsentscheidung ein staatsanwaltschaftlicher Verdachtsvorbehalt im Sinne einer typischen strafverfolgungsrechtlichen Ausgangslage im Ermittlungsverfahren.129 Aufgrund seiner kriminalistischen Erfahrung argwöhnt der Staatsanwalt die Beteiligung des Beschuldigten an einer Straftat.130 Dabei ist sich der sachbefasste Staatsanwalt während des Ermittlungsverfahrens natürlich bewusst, dass der Strafverteidiger des Beschuldigten – in parteiischer Willensrichtung – jedenfalls versuchen wird, die Interessen seines Mandanten weitgehend durchzusetzen. Je stärker diese Bemühungen ausgeprägt sind, desto eher wird sich der Staatsanwalt – gewissermaßen als Gegenspieler – veranlasst sehen, für eine gewisse „Ausgeglichenheit“ während des Ermittlungsverfahrens zu sorgen.131 Ähnlich stellt sich dessen Vorstellungsbild auch bei strafrechtlichen Ermittlungen „gegen Unbekannt“ dar, wo die Ermittlungen vornehmlich darauf gerichtet sein werden, die tatsächlichen Umstände einer Straftat zu erforschen und aufzuklären. Dem Staatsanwalt obliegt auch in dieser Konstellation die Aufgabe, Aufklärungsarbeit zu leisten, indem zuvorderst ein Tatverdächtiger ermittelt wird. Diese Bemühungen werden vor allem im Hinblick auf die Wahrnehmung der Aufgaben und der Verantwortung der Staatsanwaltschaft in der breiten Öffentlichkeit verständlich. Der Staatsanwalt wird als Hüter unserer Rechtsordnung angesehen, der deswegen grundsätzlich zu außerordentlichen Leistungen verpflichtet sein soll. Er 126 Schon BGHSt 15, S. 155 (159); in diese Richtung auch BGHSt 30, S. 131 (139). Dazu weiterhin Rieß in: L-R, StPO, Einl., Abschn. I, Rndnrn. 49 ff. m. w. N.; ders. in: L-R, StPO, § 160, Rndnrn. 47 ff. m. w. N. Außerdem auch Boll in: L-R, StPO, Vor § 141 GVG, Rndnrn. 16 ff. m. w. N. 127 Instruktiv Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 166 ff., der – im Rahmen einer Darstellung der staatsanwaltschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit im „Fall co op“ [dazu eingehender unten: 5. Kap. B. III. 1. a) ee)] – die schwerwiegende Missachtung des Objektivitätspostulats durch die Staatsanwaltschaft kritisiert. 128 Vgl. oben: 4. Kap. B. II. 2. 129 Dazu auch Krekeler, StraFo 2001, S. 329 (332), der diese psychologische Voreingenommenheit anschaulich darlegt. Ähnlich weiterhin Hellmann, Strafprozeßrecht, Teil II, § 3, Rndnr. 23 m. w. N., der es allerdings bei der Feststellung dieses strukturellen Problems belässt. 130 Siehe Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 93. 131 Ähnlich Krekeler, StraFo 2001, S. 329 (333 m. w. N.), in Bezug auf das Hauptverfahren.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

soll die gesetzmäßige Durchsetzung einer nachhaltigen Strafrechtspflege gewährleisten, d. h. einfacher ausgedrückt: Er soll für die Durchsetzung des „Guten“ gegenüber dem „Bösen“ sorgen.132 Überdies kann eine gewisse Neigung zum Vernachlässigen von Schwachstellen einer Verdachtsbegründung Folge einer berufsbedingten, täglichen Befassung mit Straftaten beziehungsweise Straftätern und einer hierdurch hervorgerufenen psychischen Abnutzung sein.133 Gleichermaßen wird davor gewarnt, dass die Staatsanwaltschaft dieser öffentlichen Erwartungshaltung erliegen und sich dazu veranlasst sehen könnte, mit Hochdruck einzuschreiten, falls die Staatsverwaltung hinter ihrer sozialen Steuerungs- und Kontrollverantwortung zurückbleibt (scil. in Verfahren gegen andere staatliche Stellen oder aber große Konzerne z. B. wegen Verstoßes gegen Umweltbestimmungen oder Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts).134 Aufgrund dieser vielschichtigen Gemengelage entsteht im Hinblick auf das Objektivitätspostulat (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) ein starkes Spannungsfeld, in dessen Mittelpunkt sich die Staatsanwaltschaft wieder findet. Dieser Befund kommt in ähnlicher Form auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Ausdruck, das was folgt festgestellt hat: „Polizei und Staatsanwaltschaft genießen aber keine Unabhängigkeit, und von ihnen kann – im Hinblick auf die Aufgabe, beim Verdacht von Straftaten den Sachverhalt zu erforschen (§§ 160 Abs. 1, 2, 163 Abs. 1 StPO) – auch nicht, wie vom Richter, strikte Neutralität erwartet werden.“135

Diese Ausführungen veranschaulichen instruktiv die Konsequenzen, würde man der Staatsanwaltschaft – neben ihrer strafverfahrensrechtlichen Verantwortung für eine effiziente Strafverfolgung – zusätzlich auch die Pflicht zur objektiven Ermittlungsleitung auferlegen (so aber § 160 Abs. 2 StPO). Einmal abgesehen von zusätzlichen Ermittlungen und äußerst zeit- und ressourcenaufwändigen „Selbstkontrollen“, die unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmäßigkeit der Strafverfolgung allerdings u. U. noch hinnehmbar wären, zwänge das Gesetz den Staatsanwalt in einen extraordinären, nahezu unlösbaren Pflichtenkonflikt: Einerseits soll er seiner „Berufung“ zum Hüter der Rechtsordnung durch eine effiziente Strafverfolgung gerecht werden. Diese Verantwortung wiegt in der modernen Mediengesellschaft ganz besonders schwer, sieht sich unsere Strafjustiz doch einem gewaltigen Medieninteresse und zweckorientierten Übergriffen zur 132 Vgl. Krekeler, StraFo 2001, S. 329 (333). Zu diesem psychologischen Moment auch Heghmanns, GA 2003, S. 433 (444). 133 Siehe auch Heghmanns, GA 2003, S. 433 (444 m. w. N.). 134 So Schaefer in: Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 61 (74). Die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit für gewisse Kriminalfälle begründet insoweit zugleich das Bedürfnis, von den Strafverfolgungsbehörden einen schuldigen Täter präsentiert zu bekommen (vgl. Heghmanns, GA 2003, S. 433 [444 m. w. N.]). 135 BVerfGE 103, S. 142 (154).

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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Bekämpfung „gesellschaftlicher Großstörungen“136 ausgesetzt. Andererseits wird dem Staatsanwalt gegenüber gleichermaßen die – durchaus ehrenwerte – Zielvorstellung einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Ermittlungspflicht erhoben (vgl. § 160 Abs. 2 StPO). Hierdurch gerät die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde in ein strafverfolgungsrechtliches Dilemma137, in welchem dem Staatsanwalt etwas menschlich nahezu Unmögliches abverlangt wird. Angesichts dieser Bedrängnis liegt die Annahme nahe, dass die Objektivitätspflicht des § 160 Abs. 2 StPO eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund ist.138

3. Überlegungen zur Verwurzelung der Objektivitätsmaxime in der Staatsanwaltschaft aus rechtshistorischer Perspektive Die gerade getroffene Feststellung der herausragenden Bedeutung der Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) für den fairen Verlauf des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wird also durch gravierende Zweifel an deren realer Wirksamkeit getrübt. Deswegen wollen wir nunmehr der Frage der Stärke ihrer Verwurzelung in den rechtshistorisch gewachsenen Strukturen staatsanwaltschaftlicher Organisation nachgehen. Im Verlaufe der „aufgeklärten“ Reformdiskussionen in Politik und Rechtswissenschaft139 wurde auch die Einführung der Staatsanwaltschaft erwogen. Derartige Bestrebungen wurden anfangs nur äußerst zögerlich unterstützt, waren die Justizverwaltungen doch vorrangig bemüht, ihren maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf des Strafverfahrens auch über die Reformzeit hinweg aufrechtzuerhalten. 140 So kam es, dass die Reformen im damaligen Preußen nicht etwa durch die politischen Forderungen bewirkt, sondern vielmehr von König Friedrich Wilhelm IV. selbst herbeigeführt wurden.141 Durch die eigene Kritik an den Strafgerichten im Vgl. oben: 1. Kap. A., B. II., E. Instruktiv auch Aicher in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 377 ff., zum „Spannungsfeld“ Parteistellung – Objektivitätsgebot, allerdings nach österreichischem Strafprozessrecht. 138 Ähnlich Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (113). Deutlicher stellt auch Jahn, Konfliktverteidigung, S. 135 m. w. N., ein Überwiegen des Erkenntnisinteresses (vgl. § 160 Abs. 1 StPO) heraus. Daher auch äußerst kritisch: Stern in: AK, StPO, Vorbem. § 137, Rndnr. 14 m. w. N. Inkonsequenter dagegen z. B. Rieß in: L-R, StPO, Einl. I, Rndnrn. 52 ff. m. w. N., der diese Konfliktsituation zwar anerkennt, grundsätzlich jedoch eine Beachtung der Objektivitätspflicht des § 160 Abs. 2 StPO annimmt. 139 Eingehender schon oben: 2. Kap. C. II. 140 So Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 12. 141 Vgl. auch Rieß in: L-R, StPO, Einl., Abschn. I, Rndnr. 41 m. w. N., der grundsätzlich bezweifelt, ob die Einführung der Staatsanwaltschaft wirklich der Verdienst liberal-rechtsstaatlicher Reformforderungen und nicht vielmehr Nebenprodukt der Bemühungen zur Bewahrung des hoheitlichen Einflusses auf das Strafverfahren war. 136 137

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Bereich des Staatsschutzes gelangte Friedrich Wilhelm IV. in 1842 / 1843 zur Forderung nach einer eigenständigen Anklagebehörde: der Staatsanwaltschaft.142 Deren Einrichtung kann auf den sog. „Polenaufstand“ im Jahre 1846 zurückgeführt werden, in dessen Folge es zu vielen Strafverfahren kam, die ihrerseits schon zahlenmäßig nur schlecht mit den vorhandenen Strukturen des inquisitorischen Strafverfahrens zu bewältigen waren.143 Durch das „Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen“ vom 17. Juli 1846 erhielt in Deutschland erstmals eine Staatsanwaltschaft das Anklagemonopol.144 Ferner wurde festgelegt, dass der Staatsanwalt ausschließlich seiner Auffassung nach schuldige Personen zu verfolgen und Unschuldige dagegen zu schützen habe.145 Dieser Bestimmung lag die Vorstellung des damaligen preußischen Justizministers von Mühler zugrunde, wonach Staatsanwälte „die ehrenvolle Bestimmung haben, Wächter der Gesetze zu sein, die Uebertreter der Gesetze zu verfolgen, die Bedrängten zu schützen, und Allen, denen der Staat seine Vorsorge widmet, ihren Beistand zu gewähren (. . . )“146.

142 Detaillierter hierzu Otto, Die Preußische Staatsanwaltschaft (1899), S. 14; Wagner, JZ 1974, S. 212 m. w. N.; Zimmermann, Staatsanwaltschaft, S. 21 m. w. N. Bald sollte auch die Justiz selbst die Einführung der Staatsanwaltschaft befürworten (so Otto, Die Preußische Staatsanwaltschaft, S. 39). Weiterhin Steininger in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 19 ff. m. w. N., zur rechtshistorischen Entwicklung der Staatsanwaltschaft im 19. Jahrhundert aus österreichischer Sicht. 143 Dazu eingehender Zimmermann, Staatsanwaltschaft, S. 25 m. w. N. Zu diesem Zeitpunkt galt noch die damalige „Kriminalordnung“ aus dem Jahre 1805 (vgl. Wagner, JZ 1974, S. 212 [213 m. w. N.]). 144 Die eigenständige Anklagekompetenz wurde sodann im Zuge der Revolution im März 1848 in den meisten deutschen Partikularstaaten verankert, weil einhelligerweise der Einfluss der Strafgerichte beschränkt werden sollte. Allerdings erfolgten diese Einführungen – wie gerade bereits erwähnt – aus den unterschiedlichsten Motiven (vgl. Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 19 f. m. w. N.; Zimmermann, Staatsanwaltschaft, S. 26 f. m. w. N.). An dieser Stelle nur so viel: Während es den jeweiligen Landesregierungen primär um die Sicherung ihrer Einflussnahmemöglichkeiten auf das Strafverfahren über weisungsgebundene Staatsanwälte ging, verlangte die bürgerliche Öffentlichkeit, der richterlichen Willkür endlich ein Ende zu setzen und die geheime „Kabinettsjustiz“ abzuschaffen (vgl. bereits oben: 2. Kap. C. II.). 145 §§ 5, 6, 7, 10, 24, 43 des „Gesetzes betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen“ (näher dazu Elling, Staatsanwaltschaft [1911], S. 80 ff. m. w. N.; Otto, Die Preußische Staatsanwaltschaft, S. 74 ff.; Wagner, JZ 1974, S. 212 [213 m. w. N.]; Zimmermann, Staatsanwaltschaft, S. 25 f. m. w. N.). Einzelne Vorschriften legen jedoch gleichzeitig den Schluss nahe, dass es Ziel der hoheitlichen Einführung der Staatsanwaltschaft war, der preußischen Regierung primär die Einflussnahmemöglichkeit auf das Strafverfahren und dessen Ausgang zu sichern. So schrieb beispielsweise § 9 vor, dass ein Staatsanwalt den einer Straftat verdächtigten Amtsträger auf Verlangen seiner Vorgesetzten im Zweifel auch entgegen seiner eigenen Überzeugung strafrechtlich verfolgen musste (vgl. Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 18 m. w. N.). 146 von Mühler, „Exposée“ über die Funktionen der „demnächstigen Staatsanwaltschaft“ vom 12. Dezember 1843, in: Otto, Die Preußische Staatsanwaltschaft, S. 21. Vgl. zu diesem

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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Dieser Grundsatz wurde auch beibehalten, nachdem die zunächst nur für Berlin geschaffene Staatsanwaltschaft auf ganz Preußen erweitert worden war. Als nach Reichsgründung sodann die Schaffung einer einheitlichen Verfahrensordnung unternommen wurde, fehlte der Grundsatz der objektiven staatsanwaltschaftlichen Amtsführung jedoch in dem Entwurf der Reichsregierung aus dem Jahr 1874. Dieser Entwurf sah in § 139 Reichs-Strafprozessordnung – entsprechend dem heutigen § 160 Abs. 1 StPO – lediglich vor, dass die Staatsanwaltschaft einen Sachverhalt im Falle des Vorliegens eines Verdachts strafbaren Verhaltens zu erforschen habe. Der anschließenden Diskussion folgte allerdings die Übernahme einer beantragten Vorschrift in die Reichs-Strafprozessordnung, die ihren heutigen Niederschlag in § 160 Abs. 2 StPO findet.147 Dem strafverfolgungsrechtlichen Postulat staatsanwaltschaftlicher Objektivität kam bereits damals zugute, dass schon die Reichs-Strafprozessordnung von 1877 in § 134 Abs. 2 die Legalitätsmaxime vorsah.148 Deren straffe Struktur wurde insbesondere dadurch verstärkt, dass in der Reichs-Strafprozessordnung die heutigen §§ 153 ff. StPO gänzlich fehlten.149 Schon bald sollten sich jedoch erste Bestrebungen zur Auflockerung der Legalitätsmaxime durchsetzen150, denen aber der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein abruptes Ende setzte. Hiernach wurden durch das „Gesetz zur Entlastung der Gerichte“ vom 11. März 1921151 der Kreis der Privatklagedelikte auf den heutigen Stand erweitert und die Gedanken weiterhin die „Promemoria (. . . ) über die Einführung der Staats-Anwaltschaft im Kriminalprozesse“ (Otto, Die Preußische Staatsanwaltschaft, S. 40). 147 Instruktiv Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 21, 148; 2. Abt., S. 1323, S. 1621, 1649 f., 1687, 1859, 2211 f., 2419. 148 Vgl. den Wortlaut bei Zimmermann, Staatsanwaltschaft, S. 63; weiterhin auch Hahn, Materialien, 3. Bd., S. 20, 145 f. Im Hinblick auf das Motiv einer beabsichtigten Arbeitsentlastung der Staatsanwaltschaften entzündete sich hieran eine heftige Kontroverse. Die Kritiker einer umfassenden Legalitätsmaxime konnten sich jedoch schlussendlich nicht durchsetzen (hierzu sehr anschaulich Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 707 ff.; 2. Abt., S. 1304, 1859, 2208 f., 2418). Zum Hintergrund: Im Zeitpunkt der Entstehung der Strafprozessordnung herrschten in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Handhabungen der Legalitätsmaxime. Während beispielsweise in solchen Ländern, in denen es zunächst bei der Beibehaltung der richterlichen Ermittlungskompetenz verblieben war, ein Einschreiten des zuständigen Richters beim Vorliegen eines entsprechenden Verdachtes einer Straftat vorgeschrieben war und die preußischen Staatsanwälte ihr Einschreiten sogar an Zweckmäßigkeitserwägungen knüpfen durften, waren etwa die sächsischen Staatsanwälte streng an ihre hoheitliche Verfolgungspflicht gebunden (vgl. Wagner, JZ 1974, S. 212 [215 m. w. N.]). 149 Gleichwohl wurde schon damals – z. B. für Beleidigungen und Körperverletzungen – die Privatklage eingeführt, um die Staatsanwaltschaft in der Strafverfolgung „kleiner“ bis „mittlerer“ Kriminalität zu entlasten. Die Privatklage war allerdings in einem insgesamt deutlich geringeren Umfang zulässig als heute. (Detaillierter zur damals heftig geführten Diskussion über die Frage der Reichweite der Privatklage: Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 1059 ff., 1083 ff., 2. Abt., S. 1440 f., 1995, 2118, 2332 f., 2455 ff.). 150 Ein Regierungsentwurf von 1908 enthielt – in umgekehrter Reihenfolge – die heutigen §§ 153, 154 StPO und erweiterte den Bereich der Privatklagedelikte (vgl. Wagner, JZ 1974, S. 212 [215 m. w. N.]). 151 RGBl. I, S. 229 ff.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

§§ 153, 154 StPO eingeführt152. Schon damals warnte der Deutsche Anwaltsverein153 vor dem Hintergrund dieser Neuregelungen vor einer bedenklichen Machtkonzentration bei der Staatsanwaltschaft und bezeichnete die Wirkung dieser Einschränkungen der Legalitätsmaxime als „schlechthin demoralisierend“. Ferner forderte er, zu Gunsten der Stützung des allgemeinen Vertrauens in die objektive Amtsführung der Staatsanwaltschaft die neuen opportunen Befugnisse gänzlich zu beseitigen oder zumindest diesbezügliche Privatklagemöglichkeiten einzuführen. In den Jahren zwischen 1933 und 1942154 wurde die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung ganzer Deliktsgruppen entbunden.155 Die sog. „Verordnung zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges (Vierte Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege)“156 vom 13. Dezember 1944 schaffte die Legalitätsmaxime schließlich vollumfänglich ab. Nach dem Niedergang der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft wurde die Legalitätsmaxime zwar wieder in Kraft gesetzt. Allerdings wurden nicht nur bisherige opportune Ausnahmebefugnisse der Staatsanwaltschaft beibehalten, sondern vielmehr noch zusätzlich ausgeweitet (vgl. §§ 153 ff. StPO)157. Insofern ist mittlerweile ernsthaft zu befürchten, dass irgendwann bestimmte Kriminalitätsbereiche insgesamt einem ordentlichen Gerichtsverfahren vollständig entzogen sein werden.158

4. Zusammenfassung Der Staatsanwaltschaft obliegt als rechtspflegendem Exekutivorgan die Trägerund Leitfunktion im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Sie trägt die grundsätzliche übergreifende Verantwortung für die justizförmige Durchführung des Ermitt152 Vgl. hierzu die nach dem damaligen Reichsjustizminister Emminger benannte und aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 erlassene Verordnung vom 4. Januar 1924 (RGBl. I, S. 15). 153 Siehe die Entschließung der Strafrechtsgruppe des Deutschen Anwaltsvereins zur Reform des materiellen Strafrechts und des Strafprozesses vom 9. September 1924 (vgl. JW 1924, S. 1641 ff. [1655 ff. m. w. N.]). 154 Vgl. zur Entwicklung des Rechts während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft auch schon die obigen Ausführungen: 2. Kap. C. IV. 155 Siehe hierzu das sog. „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens“ vom 24. April 1934 (RGBl. I, S. 341 ff.) und die sog. „Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege“ vom 13. August 1942 (RGBl. I, S. 508 ff.). 156 RGBl. I, S. 339 ff. 157 Umfassend zur höchst kontroversen kriminalpolitischen Diskussion dieser staatsanwaltschaftlichen Ausnahmebefugnisse: Rieß in: L-R, StPO, Einl., Abschn. I, Rndnr. 42 m. w. N.; § 153, Rndnrn. 1, 18 ff. m. w. N.; § 153a, Rndnrn. 11 ff. m. w. N. Auch Kaiser in: Rehberg-FS, S. 171 (180). 158 Ähnlich schon Wagner, JZ 1974, S. 212 (216 m. w. N.). Dazu auch Schoreit in: KK, StPO, § 153a, Rndnr. 4 m. w. N.

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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lungsverfahrens, wenngleich der Polizei in weiten Teilen der Strafverfolgungspraxis mittlerweile die ganz überwiegende Ermittlungsarbeit im Sinne der Sachverhaltserforschung und -aufklärung zukommt. Schließlich hat die Staatsanwaltschaft gegenüber der Polizei eine umfassende Leitungskompetenz (vgl. §§ 161, 163 StPO) inne und sie trifft die maßgebliche Abschlussentscheidung (vgl. § 170 StPO). Die Staatsanwaltschaft wird deshalb auch als „Herrin“ des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bezeichnet. Die Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO), die für den fairen Verlauf des Ermittlungsverfahrens von elementarer Bedeutung ist, zwingt die Staatsanwaltschaft jedoch gleichzeitig – vor dem Hintergrund der typischen strafverfolgungsrechtlichen Ausgangslage – in einen extraordinären, nahezu unlösbaren Pflichtenkonflikt: Einerseits wiegt die staatsanwaltschaftliche Pflicht zur gesetzmäßigen Durchführung einer nachhaltigen Strafverfolgung in der modernen Mediengesellschaft besonders schwer – sieht sich unsere Strafjustiz doch einem gewaltigen Medieninteresse und zweckorientierten Übergriffen zur Beseitigung gesellschaftlicher Konflikte ausgesetzt. Andererseits wird dem Staatsanwalt gegenüber die – sicherlich ehrenwerte – Zielvorstellung einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Ermittlungspflicht erhoben (vgl. § 160 Abs. 2 StPO). Hierdurch gerät die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde in ein strafprozessrechtliches Dilemma, in welchem dem Staatsanwalt etwas menschlich nahezu Unmögliches abverlangt wird. Angesichts dieser Zwangslage liegt demzufolge die Annahme nahe, dass die Objektivitätspflicht (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund ist. Vor diesem Hintergrund wurde die Frage der Stärke der Verwurzelung der Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) in den rechtshistorisch gewachsenen Strukturen staatsanwaltschaftlicher Organisation erörtert. Zwar spricht für eine starke Verwurzelung die Tatsache, dass sich die Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) über die Jahre hinfort in ihrer grundsätzlichen Existenz behauptet hat. Dennoch wird ihr Bestand – ihr Korsett – durch die weitgehende Ausweitung und verstärkte Inanspruchnahme opportuner Ausnahmebefugnisse der Staatsanwaltschaft (vgl. §§ 153 ff. StPO) zu Lasten der Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 2 StPO) ernsthaft gefährdet.

II. Die „Behörden und Beamten des Polizeidienstes“ Die „Behörden und Beamten des Polizeidienstes“ (vgl. § 161 Abs. 1 S. 1 StPO) stellen in ihrer Gesamtheit ein weiteres Strafverfolgungsorgan – ein „Ermittlungsorgan“159 – dar. Wie eben ausgeführt, ist die Staatsanwaltschaft schon aus Kapazi159 Zu diesem Begriff: M-G, StPO, § 163, Rndnr. 3 m. w. N. Rüping, Strafverfahren, S. 27, verwendet den Begriff “Mandatar“. Hierzu auch Achenbach in: StPO, § 163, Rndnr. 3 m. w. N. Zur Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei: Ahlf in: Lagodny (Hrsg.),

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

tätsgründen nicht in der Lage, in jedem Fall selbst die Erforschung und Aufklärung eines Verdachtes strafbaren Verhaltens zu unternehmen. Ursache hierfür ist vor allem, dass der Staatsanwaltschaft gewissermaßen ein integrierter Ermittlungsunterbau fehlt. Demzufolge wird vielfach kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft ein „Kopf ohne Hände“160 sei, die allerdings gegenüber der Polizei weisungsbefugt ist (vgl. § 161 Abs. 1 S. 2 StPO).161 Die Entscheidung, ob die Staatsanwaltschaft selbst unmittelbar einschreitet, richtet sich im Wesentlichen nach der Intensität des strafrechtlichen Vorwurfs. So wird die Staatsanwaltschaft in Fällen „schwerer“ Kriminalität (z. B. Mord, Totschlag, Brandstiftung und schwere Wirtschaftskriminalität) auch selbst ermitteln. Sie nimmt in derartigen Fällen von Beginn an ihre Träger- und Leitfunktion bei den Ermittlungen wahr, wobei die Polizei in aller Regel zuerst von einem ermittlungswürdigen Sachverhalt Kenntnis erlangt.162 Daneben greift die Staatsanwaltschaft bei eigenen Ermittlungen regelmäßig auf den kriminaltechnischen Sachverstand der Polizei163 (beispielsweise zum Lokalisieren und Konservieren von Fingerabdrücken oder zum Abgleich von Schusswaffenprojektilen) zurück. Die Polizei wird nicht nur durch Fremdinitiative, mithin z. B. wegen staatsanwaltschaftlicher Weisungen (vgl. § 161 Abs. 1 S. 2 StPO), sondern auch durch eigene Initiative tätig, sofern sie selbst eine entsprechende Wahrnehmung macht (z. B. durch eine erstattete Strafanzeige, vgl. § 158 Abs. 1 StPO)164. In diesem Fall hat die Polizei zu ermitteln und „alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten“ (vgl. § 163 Abs. 1 S. 1 StPO). Diese Pflicht erklärt sich wiederum aus der Stellung der Polizei im Organisationsgefüge der Strafverfolgung: Wie gerade erwähnt, wird die Polizei regelmäßig zuerst von einer Straftat Kenntnis erlangen. Wäre die Polizei in dieser Situation dazu verpflichtet, die Staatsanwaltschaft in Kenntnis zu setzen und deren Anwei-

Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 113 (128 ff.); Kempf in: Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 143 ff.; Weidemann, Kriminalistik 2001, S. 378 ff. Zum Thema des Verhältnisses zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei zuletzt ausführlicher: Fn. 122. 160 Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 2. Kap., § 32, S. 227. Heghmanns, GA 2003, S. 433 (434), spricht in diesem Kontext von einem „zahnlosen Tiger“. 161 Diese Weisungsbefugnis kann in zweierlei Hinsicht wahrgenommen werden: zunächst einmal durch „Auftrag“ (vgl. § 161 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StPO) an die „Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft“ (vgl. § 152 GVG i.V.m. LBG) oder durch „Ersuchen“ (vgl. § 161 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StPO) gegenüber den übrigen Polizeibeamten. Den Begriff des „Ersuchens“ verwendet das Gesetz aufgrund des fehlenden unmittelbar-hierarchischen Rangverhältnisses i. S. d. § 152 GVG (vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 102 m. w. N.). 162 Dazu bereits oben: 1. Kap. C., 4. Kap. C. I. 1. 163 Siehe Hellmann, Strafprozeßrecht, Teil II, § 3, Rndnr. 58 m. w. N. Weiterhin zur „(nicht nur technischen) Übermacht der Polizei im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren“: Kempf in: Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 143 ff. 164 Vgl. hierzu oben: 4. Kap. B. II. 1.

C. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren

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sungen abzuwarten, könnte die hieraus resultierende Verzögerung die Erforschung und Aufklärung erheblich erschweren und ggf. sogar gänzlich vereiteln.165 Die Polizei besitzt demzufolge das Recht und die Pflicht des „ersten Zugriffs“. Danach hat sie den konkreten Vorgang – zumindest theoretisch166 – unverzüglich an die Staatsanwaltschaft zu übersenden (vgl. § 163 Abs. 1, 2 S. 1 StPO). Schließlich verbleibt die Erkenntnis, dass neben der Staatsanwaltschaft auch die Polizei wegen ihrer oftmals „hauptamtlichen“ Ermittlungsarbeit als Auskunftsquelle für die Medien in Betracht kommt.

III. Der Beschuldigte Die tatverdächtige Person, gegen die ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird, ist als „Beschuldigter“ bezeichnet.167 Der Beschuldigte ist als Verfahrenssubjekt mit eigenen Rechten ausgestattet, d. h. er kann das Strafverfahren selbst beeinflussen.168 Damit stellt sich die entscheidende Frage, unter welchen Voraussetzungen die Beschuldigteneigenschaft einer tatverdächtigen Person begründet wird. Hierbei muss jedenfalls gewährleistet sein, dass die Begründung der Beschuldigtenstellung des Tatverdächtigen im Falle eines strafverfolgungsbehördlichen Einschreitens rechtzeitig erfolgt. Ansonsten entstünde die Gefahr, dass die 165 Vor der Neufassung des § 163 StPO wurde kontrovers diskutiert, wie umfänglich die polizeiliche Befugnis zur Durchführung konkreter Ermittlungsmaßnahmen war. Schließlich existierte keine ausdrückliche gesetzliche Rechtsgrundlage, denn § 163 StPO enthielt in seiner alten Fassung zwar eine Aufgabenzuweisung, nicht jedoch eine Eingriffsbefugnis (vgl. hierzu detailliert Rieß in: L-R, StPO, § 163, Rndnrn. 24 ff. m. w. N.). Im Jahre 1999 wurde vom Gesetzgeber jedoch eine Ermittlungsgeneralklausel geschaffen (vgl. §§ 161 Abs. 1 i.V.m. 163 Abs. 1 StPO [Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 104 m. w. N.]). Im Übrigen bedarf es bei schwerwiegenden, grundrechtsrelevanten Eingriffshandlungen weiterhin einer – verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Rechtmäßigkeitsanforderungen genügenden – Einzeleingriffsermächtigung (M-G, StPO, § 161, Rndnr. 1 m. w. N.). 166 Vgl. schon obige Darstellung (1. Kap. C., 4. Kap. C. I. 1. II.) der Rechtswirklichkeit in einer Vielzahl von Fällen „leichter“ und „mittlerer“ Kriminalität, wo die Polizei zumeist völlig eigenständig ermittelt und ihre Ermittlungsergebnisse später an die Staatsanwaltschaft weiterleitet (ausführlicher: Peters, Der Strafprozeß, § 24 III m. w. N.). Dieser verbleibt vielfach nur die Anordnung einzelner Nachermittlungen und die Abschlussentscheidung gemäß § 170 StPO. Kritisch im Hinblick auf die hierdurch verursachte sukzessive Verlagerung staatlicher Ermittlungsverantwortlichkeit: Lilie, ZStW 106 (1994), S. 625 ff. m. w. N.; Rieß in: Schäfer-FS, S. 155 (195 f. m. w. N.); Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnrn. 34 f. m. w. N.; Schünemann, Kriminalistik 1999, S. 74 ff., 146 ff. 167 Vgl. BGHSt 26, S. 367 (371). Ferner Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 81 f. m. w. N., zu den Rechten des Beschuldigten im Einzelnen. 168 So BVerfGE 63, S. 380 (390 m. w. N.); ausführlicher BVerfG, StV 2001, S. 601 ff.; weiterhin BGHSt 38, S. 372 (374 m. w. N.). Eine detaillierte Erörterung der verschiedenen Beschuldigtenrechte findet sich unter anderem bei Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 115 ff. m. w. N.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

dem Beschuldigten als Verfahrenssubjekt garantierten Rechte unterlaufen werden.169 Problematisch wird die exakte Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft einer tatverdächtigen Person dadurch, dass der Begriff des „Beschuldigten“170 nirgendwo ausdrücklich geregelt ist. Die §§ 55, 60 Nr. 2 StPO über einen tatverdächtigen Zeugen verwehren überdies die ausschließliche Anknüpfung zur Bestimmung des Zeitpunktes, in welchem eine Person zum Beschuldigten wird, an den bestehenden Verdachtsgrad. Vielmehr ist neben dem objektiven Kriterium des Verdachtes zudem ein Willensakt erforderlich, welcher den ermittlungsbehördlichen Willen manifestiert, gegen eine tatverdächtige Person als Beschuldigtem ein Ermittlungsverfahren betreiben zu wollen.171 Ein derartiger Ermittlungswille ist jedenfalls zu bejahen, wenn konkrete strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden oder der hiervon Betroffene ausdrücklich als Beschuldigter vernommen wird. Insbesondere trifft die Strafverfolgungsbehörden die Pflicht, eine tatverdächtige Person als Beschuldigten zu bezeichnen, falls sich vorhandene Verdachtsmomente zu einem Anfangsverdacht172 verdichten (vgl. § 152 Abs. 2 StPO).173 Bei der Beurteilung dieser Frage steht den Ermittlungsbehörden ein Beurteilungsspielraum zu.174

169 Zur entsprechenden Bedeutung der Beschuldigteneigenschaft ausführlich: Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 9 ff. m. w. N. 170 Zum Beschuldigten und zur Beschuldigteneigenschaft eingehend: Peters, Der Strafprozeß, § 28 m. w. N.; Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnrn. 9 ff. m. w. N. 171 So bereits BGHSt 10, S. 8 (12); in diese Richtung auch 37, S. 48 (51 f. m. w. N.); siehe auch Krey, Strafverfahrensrecht, 1. Bd., Rndnrn. 760 ff. m. w. N. In diesem Kontext der Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft weisen Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnrn. 31 ff. m. w. N., und Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnr. 81, auf die Bedeutung des § 397 Abs. 1 AO hin. Vgl. weiterführend etwa zur Unverwertbarkeit einer Aussage, wenn die Beschuldigteneigenschaft des Vernommenen unzweifelhaft war und dieser dennoch nicht belehrt wurde (vgl. §§ 163a Abs. 4, 136 StPO): AG Hameln, StV 1988, S. 382 f. m. w. N. Daneben gilt in derartigen Fällen, in welchen sich der Tatverdacht auf eine oder mehrere tatverdächtige Personen erstreckt, es aber an konkreten Ermittlungsmaßnahmen fehlt, dass der Beschuldigtenstatus auch in solchen Fällen aktiviert wird, in denen die Strafverfolgungsbehörde diesen Status willkürlich vorenthält (vgl. BVerfG, StV 2001, S. 257 f. m. w. N.; zu einem möglichen Ermessensmissbrauch in diesem Zusammenhang: BGHSt 10, S. 8 [12]; weiterführend auch BGH, NStZ 1995, S. 410 ff. m. w. N.). Vgl. darüber hinaus zu den weiterführenden Problemkomplexen der sog. „Spontanäußerungen“ und der sog. „informatorischen Befragung“: Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 113 m. w. N. 172 Hierzu schon oben: 4. Kap. II. 2. 173 Vgl. weiterhin ausführlich zur zeitlichen Komponente der Beschuldigteneigenschaft: Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnrn. 21 ff. m. w. N. 174 Siehe BGHSt 37, S. 48 (51 f.); 38, S. 214 (228 m. w. N.); Rogall in: SK, StPO, Vor § 133, Rndnr. 17 m. w. N.

D. Konsequenzen eines Ermittlungsverfahrens

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D. Persönliche, soziale, berufliche und strafprozessuale Konsequenzen eines Ermittlungsverfahrens Nachdem wir uns in den letzten Abschnitten aus verschiedenen Perspektiven mit dem strafprozessrechtlichen Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auseinandergesetzt haben, wollen wir nunmehr dessen Auswirkungen in der Rechtswirklichkeit erörtern. Bereits die schlichte Existenz eines Ermittlungsverfahrens birgt die Gefahr schwerwiegender nachteiliger Konsequenzen für die individuelle Situation des betroffenen Beschuldigten.175 Als Grund für die Ausübung staatlicher Gewalt verknüpft der Einzelne grundsätzlich einen Verstoß gegen die Rechtsordnung. Er fasst belastende Maßnahmen der Strafjustiz insoweit als notwendiges Einschreiten gegen einen Rechtsbrecher auf. Daher ist die Konfrontation des Betroffenen mit der Institution „Staatsgewalt“ eine tief greifende Erfahrung. Diese plötzliche Begegnung mit der Strafjustiz stellt – etwa in Form der Erhebung strafrechtlicher Vorwürfe, von Durchsuchungen der Privaträume und des Arbeitsplatzes oder der Durchsetzung angeordneter Untersuchungshaft176 – ein einzigartiges verunsicherndes Erlebnis dar. Sie verursacht einen „tiefen Einschnitt in die gesamte Lebensführung“177. Man vergegenwärtige sich nur einmal die eventuellen Konsequenzen einer Durchsuchung der privaten Räumlichkeiten. Die Privaträume gelten jedem als persönlicher Zufluchtsort, durch welchen sich der Einzelne gemeinsam mit seinem privaten Umfeld den öffentlichen Zugriffen der ihn umgebenden gesellschaftlichen Einflusskreise entziehen kann. Diese Möglichkeit des Rückzuges gegenüber dem sozialen Umfeld trägt in ihrer jederzeitigen Verfügbarkeit einem grundlegenden Bedürfnis des sich als Individuum erkennenden Menschen Rechnung.178 Bei den privaten Wohnräumen handelt es sich um einen „elementaren Lebensraum“179, auf welchen der Einzelne zur Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse und zur Freiheitssicherung bzw. Persönlichkeitsentfaltung angewiesen ist. Durch den staatlichen Zugriff wird in diesen „Lebensraum“ eingebrochen. Außerdem existiert in der Bevölkerung das weit verbreitete Vorurteil, dass jemand,

175 Ähnlich Schulz, Medienberichterstattung, S. 5 f. m. w. N., der anschaulich mögliche persönliche, soziale und berufliche Konsequenzen schildert, welche dem Betroffenen durch ein Strafverfahren drohen können. 176 Grundsätzlich ermöglicht die Einleitung strafjustizieller Ermittlungen eine Vielzahl belastender Ermittlungseingriffe. In Betracht kommen weiterhin z. B. die Überwachung der Telekommunikation (vgl. §§ 100a f. StPO) oder das Abhören und die Aufzeichnung des nichtöffentlich gesprochenen Wortes (vgl. § 100c Abs. 1 Nr. 2, 3 StPO). 177 Schulz, Medienberichterstattung, S. 5. 178 Ähnlich Kunig in: M / G, GG, Art. 13, Rndnr. 1. 179 Hermes in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 13., Rndnr. 9 m. w. N.

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

„der ein- oder mehrmals Besuche von der Polizei bekommt, bzw. über den die Polizei Informationen sammelt, auch in irgendeiner Weise ,Dreck am Stecken‘ hat“180.

Dieses Eindringen kann das soziale Vertrauen selbst gesellschaftlich präsenter, beruflich erfahrener, finanziell abgesicherter und charakterstarker Personen brechen. Sie empfinden bereits durch das Ermittlungsverfahren den Verlust des individuellen Status eines souveränen Bürgers bzw. eine große Machtlosigkeit in Folge einer Unterwerfung des vermuteten Rechtsbrechers unter die Institution „Staatsgewalt“.181 In sozialer Hinsicht verursacht die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen entsprechende Reaktionen im gewohnten gesellschaftlichen Umfeld des betroffenen Beschuldigten. Diese Reaktionen können vor allem in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse äußerst intensiv ausfallen; verursacht die mediale Kriminalberichterstattung doch die „Veröffentlichung“ der erhobenen Anschuldigungen.182 Aber unabhängig von der Prominenz des Falles: Man redet über die Vorwürfe, die strafrechtlichen Vorwürfe „machen die Runde“ und werden für den Beschuldigten zum Stigma183. Der Prozess der Stigmatisierung als „Krimineller“ führt zu einer erheblichen sozialen Diskreditierung des Beschuldigten.184 Im Freundeskreis und im Kreise der Arbeitskollegen fühlt der Beschuldigte automatisch eine Art Rechtfertigungsbedürfnis. Darüber hinaus verursachen derartige Reaktionen im sozialen Umfeld des Beschuldigten auch Beeinträchtigungen im familiären Kreis: Die Vorwürfe werden auch zum Diskussionsthema mit dem (Ehe)Partner. Sind Kinder vorhanden, tragen diese die schulischen Konfrontationen und hierdurch entstandene persönliche Konflikte nach Hause.185 Schließlich bringt Reinhard Böttcher186 die drohenden sozialen Konsequenzen anhand des Beispiels eines Politikers, der Opfer einer Instrumentalisierung des Ermittlungsverfahrens im politischen Meinungskampf wird, durch die nachfolgende Formel auf den Punkt: „Der Politiker hört noch nach Jahren: Da war doch was, geklärt wurde das nie.“ Kühne, Strafprozessrecht, Rndnr. 317. Eine ähnliche Beurteilung der Auswirkungen eingeleiteter Ermittlungen auf die Situation des Betroffenen findet sich auch bei Dahs, Handbuch, Rndnr. 215. 182 Vgl. schon oben: 1. Kap. A. 183 Kühne, Strafprozessrecht, Rndnr. 317, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Stigmatisierungswirkung“. Treffer, ZUM 1989, S. 433 (436), behandelt das „Prangersyndrom“. 184 Vgl. zu diesem Stigmatisierungsprozess auch Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 16. 185 Ähnlich Treffer, ZUM 1989, S. 433 (436). In Bezug auf das Strafverfahren insgesamt fragt Franz Salditt in: Mandant und Verteidiger, S. 25, angesichts der Vielzahl drohender Nachteile: „Was wird angesichts der Familie, der Freunde und der Öffentlichkeit verbleiben, nachdem das Verfahren seinen Abschluß gefunden hat? Und welcher Rest an Selbstachtung kann in die Zukunft gerettet werden?“ 186 In: Schlüchter-GS, S. 435. 180 181

D. Konsequenzen eines Ermittlungsverfahrens

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In beruflicher Hinsicht kann ein Ermittlungsverfahren gravierend nachteilige und manchmal sogar ruinöse Folgen haben187: Viele Arbeitgeber sehen von der Einstellung eines Arbeitsplatzbewerbers ab, sofern dieser durch ein Ermittlungsverfahren betroffen ist.188 Unterhält der Beschuldigte Geschäftsbeziehungen, kann es ihm passieren, dass sich seine Geschäftspartner in Sorge um ihr eigenes Ansehen und um die ungewisse Zukunft der Geschäftsbeziehung von ihm abwenden. Darüber hinaus kann die Erteilung der ärztlichen Approbation u. U. bis zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens aufgeschoben werden oder führt das Bekannt werden strafjustizieller Ermittlungen in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen möglicherweise zur Einleitung disziplinärer Vorermittlungen und – jedenfalls bis zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens – zur Verhängung einer Beförderungssperre.189 Für in Strafvollzug befindliche Beschuldigte hat die Betroffenheit durch strafrechtliche Ermittlungen vielleicht sogar freiheitsbeschränkende Konsequenzen.190 Neben diesen drohenden persönlichen, sozialen und beruflichen Konsequenzen hat das strafrechtliche Ermittlungsverfahren zudem eine gewichtige strafprozessuale Bedeutung191: Entgegen der ursprünglichen Konzeption der Strafprozessordnung192 wird dem Ermittlungsverfahren in der modernen Mediengesellschaft mittlerweile „(strafverfahrens)prägende Kraft“193 zugeschrieben. Diese Entwicklung wird nicht zuletzt auch durch den erheblichen Zuwachs staatsanwaltschaftlicher Ausnahmebefugnisse begünstigt.194 Es bildet in der strafprozessualen Rechtswirklichkeit den maßgeblichen Strafverfahrensabschnitt195, in welchem die Weichen des Strafverfahrens entscheidend gestellt werden196.

Hierzu auch Füßer / Viertel, NStZ 1999, S. 116. Siehe Eisenberg / Cohen, NJW 1998, S. 2241 (2242 m. w. N.). 189 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, Rndnr. 317 m. w. N. 190 So gilt derjenige, gegen den ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, als für den offenen Vollzug, Vollzugslockerungen und Urlaub aus der Haft ungeeignet (vgl. dieses und andere Beispiele in der insgesamt ähnlichen Darstellung von Richter II, StV 1985, S. 382 [383 f. m. w. N.]). 191 Vgl. auch schon oben: 1. Kap. C. 192 Ursprünglich war der öffentliche Strafprozess als „Höhepunkt“ des Strafverfahrens konzipiert (vgl. Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 142 f.). 193 Richter II, StV 1986, S. 382, 385 m. w. N. Sehr ausführlich hierzu auch Wolter in: SK, StPO, Vor § 151, Rndnrn. 60 ff. m. w. N. Beulke, Der Verteidiger, S. 244 m. w. N., spricht von der „urteilsprägenden Kraft des Ermittlungsverfahrens“; so auch Ahlf in: Lagodny (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen?, S. 113 (117 m. w. N.). Müller, AnwBl. 1986, S. 49 (51 m. w. N.), spricht von einer „Zementierung der Hauptverhandlung“. Rieß in: L-R, StPO, Vor § 158, Rndnr. 7 m. w. N., stellt schließlich fest, dass im Ermittlungsverfahren „entscheidende Weichen für das Ergebnis des Hauptverfahrens gestellt werden (. . . )“. 194 Hierzu oben: 4. Kap. I. 3., 4. 195 So auch Wolter, Strafprozeßreform, S. 53, der das Ermittlungsverfahren gleich in einer Überschrift als „Höhepunkt des Strafprozesses“ bezeichnet. Ganz anders BVerfGE 39, S. 156 (167); 74, S. 358 (372), worin das Hauptverfahren als eigentliches „Kernstück“ des Strafver187 188

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4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Fehler in diesem Stadium sind im weiteren Verlauf des Strafverfahrens nur selten auszubessern und Ermittlungsergebnisse sind unter anderem aufgrund der §§ 251 ff. StPO respektive des Vorhalts auch im Hauptverfahren präsent.197 Karl Peters bemerkte in diesem Zusammenhang: „Immer wieder stießen wir auf die Erkenntnis, daß weitgehend im Ermittlungsverfahren die Weichen auf das richtige oder falsche Urteil hin gestellt werden.“198

E. Zwischenergebnis zum Vierten Kapitel I. 1. Die Nichtöffentlichkeit des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wurzelt einerseits in strafprozessrechtlichen, institutionellen Erwägungen zu Gunsten des Interesses an einer effektiven Strafverfolgung und zu Gunsten der Förderung fairer Strafverfahrensstrukturen. Andererseits gründet sich die Nichtöffentlichkeit auf individualrechtliche, personelle Motive: den Schutz der privaten und sozialen Belange des betroffenen Beschuldigten. Daneben soll die Unbefangenheit derjenigen Personen, die als Richter, Zeugen oder Sachverständige am Hauptverfahren beteiligt sein können, geschützt werden. 2. Gleichwohl gewährt der in der „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) wurzelnde Grundsatz der „Waffengleicheit“ dem Beschuldigten gegenüber der strukturbedingt überlegenen institutionellen Staatsgewalt „Strafjustiz“ die Möglichkeit, seinerseits Schutz durch Öffentlichkeit zu suchen. 3. Daneben ist die breite Öffentlichkeit zur Befriedigung ihres Informationsbedürfnisses auf die ermittlungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit angewiesen, die auf Grundlage der landespressegesetzlich normierten Auskunftsansprüche (vgl. § 4 Abs. 1 LPG) durchgeführt wird. Demzufolge existieren also medial zugängliche Quellen. Um aber einer Erosion der nichtöffentlichen Konzeption des Ermittlungsverfahrens angesichts dieses „Einfalltores“ für Medienöffentlichkeit vorzubeugen, sollen die Strafverfolgungsbehörden ihre Entscheidung für oder wider eine Ausfahrens bezeichnet wird. Diese Feststellung wird wiederum von Roxin, Strafverfahrensrecht, 8. Kap., § 42, Rndnr. 1 m. w. N., mit Blick auf die Verhältnisse der heutigen Zeit relativiert. 196 Ähnlich Schröer, Einheitsrechtsmittel, S. 198 f. m. w. N. 197 Müller, AnwBl. 1986, S. 49 (51), spricht bei möglichen Ermittlungsfehlern im Ermittlungsverfahren von einer “,Rutschbahn‘“, welche sich „bis hin zur Wiederaufnahme erstreckt“. Diesbezüglich spricht Wolter in: SK, StPO, Vor § 151, Rndnr. 60 m. w. N., dem Zwischenverfahren dessen Filterfunktion ab. 198 Fehlerquellen im Strafprozeß, 2. Bd., S. 195, 299. Auch Richter II, StV 1985, S. 382 (386 m. w. N.), bemerkt diese Feststellungen und untermauert sie zusätzlich mit ähnlich lautenden Feststellungen zweier Generalstaatsanwälte und eines Oberstaatsanwaltes.

E. Zwischenergebnis zum Vierten Kapitel

145

kunftserteilung – jedenfalls unter Wahrung einer effektiven Strafverfolgung – an die Einzelfallabwägung des öffentlichen Informationsinteresses mit den individualrechtlichen Schutzbelangen des Beschuldigten knüpfen. Daher unterliegt die medienöffentliche Strafrechtspflege zur Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt einer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung.199

II. 1. Im Ermittlungsverfahren verpflichtet die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) die Strafverfolgungsbehörden, d. h. Staatsanwaltschaft und Polizei (vgl. § 163 StPO), im Sinne eines gesetzmäßigen Maßstabes, bei Vorliegen eines Anfangsverdachtes einzuschreiten. Demgemäß hat eine sachgerechte Sachverhaltserforschung und -aufklärung ohne begünstigende Nachsicht oder benachteiligenden Übereifer hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung eines prominenten Beschuldigten zu erfolgen. 2. Dabei kommt den Strafverfolgungsbehörden einerseits zwar unzweifelhaft der Ermittlungsprimat zu. Dieser wird durch die Inquisitionsmaxime (vgl. §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 1 und 2, 244 Abs. 2 StPO), den Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens (§ 161 StPO) und den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) manifestiert. Andererseits obliegt den Ermittlungsbehörden gleichzeitig aber auch die Verpflichtung zum Respekt vor den individualrechtlichen, d. h. insbesondere persönlichen und sozialen Schutzbelangen des Beschuldigten. Im Sinne einer Selbstbeschränkung des eigenen Ermittlungsprimats trifft sie daher die Pflicht zur Berücksichtigung etwa der Beschleunigungsmaxime (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), der „fair trial“-Maxime (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) und des Grundsatzes staatsanwaltschaftlicher Fürsorgepflicht. 3. Folglich beabsichtigt die Strafprozessordnung eine gesetzliche Synthese: Obwohl einerseits die effektive Durchsetzung der Ermittlungen ermöglicht werden soll, wird andererseits in fairer Würdigung der Beschuldigtenrechte das liberalrechtsstaatliche Anliegen strafjustizieller Selbstbeschränkung manifestiert.200

III. 1. Innerhalb dieses Rahmens hat die Staatsanwaltschaft als rechtspflegendes Exekutivorgan die Träger- und Leitfunktion im Ermittlungsverfahren inne. Sie trägt die grundsätzliche und übergreifende Verantwortung für die justizförmige 199 200

4. Kap. A. III. 4. Kap. B. V.

10 Neuling

146

4. Kap.: Medienöffentliche Strafrechtspflege

Durchführung des Ermittlungsverfahrens, wenngleich der Polizei in weiten Teilen der Strafverfolgungspraxis die ganz überwiegende Ermittlungsarbeit im Sinne der Sachverhaltserforschung und -aufklärung zukommt (vgl. §§ 161, 163, 170 StPO). Die Staatsanwaltschaft wird deshalb auch als „Herrin“ des Ermittlungsverfahrens bezeichnet. 2. Dementsprechend ist die Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) für den fairen Verlauf des Ermittlungsverfahrens von grundlegendem Einfluss, zwingt die Staatsanwaltschaft allerdings gleichzeitig vor dem Hintergrund der typischen strafverfolgungsrechtlichen Ausgangslage im Ermittlungsverfahren in einen extraordinären, nahezu unlösbaren Pflichtenkonflikt: Einerseits wiegt die staatsanwaltschaftliche Pflicht zur gesetzmäßigen Durchführung einer nachhaltigen Strafverfolgung in der modernen Mediengesellschaft ganz besonders schwer – sieht sich unsere Strafjustiz doch einem gewaltigen Medieninteresse und zweckorientierten Übergriffen zur Beseitigung „gesellschaftlicher Großstörungen“ ausgesetzt. Andererseits wird der Staatsanwaltschaft gegenüber die durchaus ehrenwerte Zielvorstellung einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Ermittlungspflicht erhoben (vgl. § 160 Abs. 2 StPO). Hierdurch gerät die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde in ein strafverfolgungsrechtliches Dilemma, in welchem dem Staatsanwalt etwas menschlich nahezu Unmögliches abverlangt wird. Angesichts dieses grundlegenden Zwiespaltes liegt die Annahme nahe, dass die Objektivitätspflicht (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund ist. 3. Hierbei spricht zwar für eine starke Verwurzelung der Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) in den rechtshistorisch gewachsenen Strukturen staatsanwaltschaftlicher Organisation, dass sich ihre grundsätzliche Existenz über die Jahre hinweg behaupten konnte. Trotzdem wird ihr Bestand – ihr Korsett – durch die weitreichende Ausweitung und verstärkte Inanspruchnahme opportuner Ausnahmebefugnisse der Staatsanwaltschaft (vgl. §§ 153 ff. StPO) zu Lasten der Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 2 StPO) ernsthaft gefährdet.201

IV. 1. Im modernen Rechtsstaat der Gegenwart verknüpft der Einzelne die Ausübung strafjustizieller Staatsgewalt zunächst mit dem notwendigen Einschreiten gegen mutmaßliche Rechtsbrecher. In persönlicher Hinsicht stellt die eigene Konfrontation des Beschuldigten mit der Institution „Staatsgewalt“ deswegen eine das soziale Vertrauen tief greifend verunsichernde Erfahrung dar. Durch die Unterwerfung unter die Institution „Staatsgewalt“ empfindet er den Verlust seines individuellen Status als souveräner Bürger.

201

4. Kap. C. I. 4.

E. Zwischenergebnis zum Vierten Kapitel

147

2. In sozialer Hinsicht verursacht die Einleitung strafjustizieller Ermittlungen Reaktionen im gewohnten sozialen Umfeld des betroffenen Beschuldigten. Diese können vor allem in Verfahren von besonderem öffentlichen Interesse äußerst intensiv ausfallen, verursacht die mediale Kriminalberichterstattung doch die „Veröffentlichung“ der erhobenen Anschuldigungen. Unabhängig von der Prominenz des Falles wird über die Vorwürfe im Freundeskreis und im Kreise der Arbeitskollegen geredet, machen die Beschuldigungen „die Runde“ und verursachen u. U. schließlich schwerwiegende Beeinträchtigungen im familiären Kreis. 3. In beruflicher Hinsicht kann ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gravierend nachteilige und manchmal sogar ruinöse Folgen haben. Viele Arbeitgeber sehen von der Einstellung eines Arbeitsplatzbewerbers ab, sofern dieser durch ein Ermittlungsverfahren betroffen ist. Unterhält der Beschuldigte Geschäftsbeziehungen, wenden sich seine Geschäftspartner in Sorge um das eigene Renommee und die ungewisse Zukunft ihrer Geschäftsbeziehungen vielleicht von ihm ab. 4. Schließlich hat das strafrechtliche Ermittlungsverfahren außerdem eine gewichtige strafprozessuale Bedeutung: Entgegen der ursprünglichen Konzeption der Strafprozessordnung wird dem Ermittlungsverfahren in der modernen Mediengesellschaft eine strafverfahrensprägende Wirkung zugeschrieben. In der strafprozessualen Rechtswirklichkeit stellt es mittlerweile den maßgeblichen Strafverfahrensabschnitt dar.202

202

10*

4. Kap. D.

Fünftes Kapitel

Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren – Rechtlicher Rahmen und Wirklichkeit des Rechts Im letzten Kapitel haben wir feststellen können, dass im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zwar der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit gilt. Gleichwohl existiert neben der Möglichkeit des Beschuldigten, selbst durch Öffentlichkeit Schutz zu suchen, eine das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägende Begrenzung von Öffentlichkeit. Im Ergebnis wird also selbst das Ermittlungsverfahren durch eine eingeschränkte medienöffentliche Strafrechtspflege geprägt. Fördert diese eingeschränkte Öffentlichkeit einerseits die Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt auch auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, geraten hierdurch andererseits deren Effektivität, der faire Ablauf des Strafverfahrens und auch die privaten bzw. sozialen Schutzbelange des Beschuldigten in Gefahr. Wie schon zu Beginn des Vierten Kapitels1 angeklungen befinden sich im Ermittlungsverfahren somit der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit und die (eingeschränkte) medienöffentliche Strafrechtspflege im Konflikt. Die praktische Relevanz dieses Konfliktes für die vorliegende Arbeit zeigt sich durch dessen Auswirkungen in der Rechtswirklichkeit: Vor allem Strafverfahren von besonderem öffentlichen Interesse werden oftmals von intensiver medialer Kriminalberichterstattung begleitet. Die Effektivität des Schutzes respektive die Intensität der Verletzung der konkurrierenden Interessenpositionen hängen dabei im Ermittlungsverfahren maßgeblich von der strafverfolgungsbehördlichen Öffentlichkeitsarbeit ab. Im „Fall Friedman“ etwa sah sich Friedmans Strafverteidiger Eckhard Hild gezwungen, gegenüber der Berliner Staatsanwaltschaft den Vorwurf zu erheben, sie betreibe durch ihre Informationspolitik eine „öffentliche Hinrichtung“2 seines Mandanten. Schließlich wurde in diesem Verfahren sogar eine Informationssperre verhängt. Die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert wehrte sich gegen derartige Vorwürfe einer folgenschweren Informationspolitik: die betroffenen Interessenpositionen wären „hinreichend abgewogen“3 worden. Der schwerwiegende Vorwurf und die 1 2 3

Vgl. oben: 4. Kap. Vor A. Dazu eingehender schon oben: 1. Kap. A. Siehe schon 1. Kap. A.

A. Rechtlicher Rahmen

149

drastische Maßnahme der Informationssperre verdeutlichen, wie schwer die konkurrierenden Interessenpositionen wiegen, d. h. welche Brisanz dem betreffenden Konflikt im Ermittlungsverfahren innewohnt. Verursacht durch rücksichtslose Medienberichterstattung und gefördert durch sehr offensive Öffentlichkeitsarbeit kann in unserer modernen Mediengesellschaft oftmals schon im Ermittlungsverfahren ein intensives Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung entstehen. Unter derartigen Umständen droht die Gefahr, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren zur einseitig-öffentlichen Untersuchung – zur „Inquisition“4 – ausartet. Dies vorausgeschickt, wollen wir uns im folgenden Kapitel genauer mit diesem Konflikt zwischen einer medienöffentlichen Strafrechtspflege einerseits und dem Grundsatz der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren andererseits befassen. Hierzu ist eine eingehendere Untersuchung der diesem Konflikt zugrunde liegenden Interessenpositionen erforderlich. Diese Untersuchung wird in zwei Schritten erfolgen: Wir befassen uns zunächst mit dem rechtlichen Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren (A.), gefolgt von einer Darstellung der diesbezüglichen „Wirklichkeit des Rechts“, d. h. einiger konkreter Einzelfallbeispiele (B.).

A. Rechtlicher Rahmen I. Interessenlage der Strafverfolgungsbehörden: Existenz einer Rechtsgrundlage für Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren? Die Entscheidung über die nähere Gestaltung der Informationspolitik, d. h. die Frage, worüber die Medien im Wege der Auskunft informiert werden sollen, obliegt der Staatsanwaltschaft und der Polizei als Ermittlungsbehörden bzw. Auskunftsquellen.5 Hierbei werden sich die Ermittlungsbehörden wesentlich von der Überlegung leiten lassen, welche Auskünfte den ungestörten Fortgang der Ermittlungen oder die individualrechtlichen Schutzbelange des Beschuldigten gefährden können. Zur entsprechenden Orientierung ist von erheblicher Bedeutung, ob für die Durchführung von Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren Rechtsgrundlagen existieren.

Ausführlicher hierzu bereits oben: 1. Kap. A., C., E. Das besondere Ermittlungsszenario der Fahndung, in welchem die Strafverfolgungsbehörden u. U. gezwungen sein können, unter intensiver Einbeziehung der Öffentlichkeit zu ermitteln, soll an dieser Stelle außer Betracht gelassen werden. 4 5

150

5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

1. Der Auskunftsanspruch Dabei ist zuvorderst der schon mehrfach6 angeschnittene landespressegesetzliche Auskunftsanspruch bedeutsam (vgl. § 4 Abs. 1 LPG)7.

a) Sinn und Zweck Wie bereits ausgeführt8, entspringt der repräsentativ-demokratischen Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 1 GG) eine konstitutive Notwendigkeit zur kontinuierlichen und manipulationsresistenten Kommunikation zwischen dem Staatsvolk als plebiszitärer Staatsgewalt und ihren Organen. Die umfassende Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse ist demgemäß vitales Fundament des freien und demokratischen Staatsganzen. Das Staatsvolk stellt im demokratischen Rechtsstaat den obersten (plebiszitären) Kontrolleur der Organe der Staatsgewalt dar und ist demzufolge auf umfassende Informationen über das Staatsgeschehen angewiesen.9 Indessen sind die Informationsmöglichkeiten des Einzelnen auf „allgemein zugängliche Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG) beschränkt.10 Diese allein ermöglichen jedoch nicht die Bildung einer ausreichend umfassenden und realistischen Vorstellung von konkreten Lebenssachverhalten aus Politik, Wirtschaft, Kultur etc. Vielmehr finden gerade für das Gemeinwohl besonders wichtige Entscheidungsprozesse oftmals nichtöffentlich statt (z. B. in nichtöffentlichen Ausschusssitzungen des Deutschen Bundestages11). Dies gilt in besonderem Maße auch für den Bereich der staatlichen Strafrechtspflege. Die öffentliche Beobachtung der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches zur Wahrung eines umfassenden gesellschaftlichen Rechtsfriedens ist für die Menschen von allerhöchster Bedeutung. Diesem Bedürfnis Rechnung tragend, erfüllen die Medien eine gesellschaftliche Verantwortung12, indem sie informationelle Da-

Vgl. oben: 3. Kap. D. II. 3. E., 4. Kap. A. II. III., E. Siehe zu den nahezu identischen Vorschriften des § 4 der Pressegesetze der einzelnen Bundesländer: Braun, Medienberichterstattung, S. 56 f. m. w. N.; Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG. Daneben existieren keinerlei spezialgesetzliche Vorschriften, die etwa konkret regeln, was die Medien während des Ermittlungs- und Zwischenverfahrens berichten dürfen (vgl. Braun, Medienberichterstattung, S. 56). Weiterführend zum landespressegesetzlichen Auskunftsanspruch auch Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 41 ff. m. w. N. 8 Vgl. oben: 3. Kap. C. I. II. IV., E. 9 Dazu bereits oben: 3. Kap. C. IV., E. 10 Schon oben: 3. Kap. D. II. 2., E. 11 Ein weiteres Beispiel stellt der gesamte Bereich der öffentlichen Verwaltung dar, in welchem es keine „allgemein zugänglichen“ öffentlichen Sitzungen gibt (vgl. Löffler / Ricker, Handbuch, Kap. 18, Rndnr. 4 m. w. N.). 12 Auch das Bundesverfassungsgericht betont die herausragende Bedeutung der Medien für ein freies und demokratisches Staatswesen und weist darauf hin, dass die verfassungsunmittelbare Sicherung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG von der Informationsbeschaffung bis hin 6 7

A. Rechtlicher Rahmen

151

seinsvorsorge leisten (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) und demzufolge als Informationsübermittler medial zugängliche Quellen für die Bevölkerung schaffen (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG). In diesem Rahmen ermöglicht die grundgesetzliche Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) die Ausübung des Individualfreiheitsrechts des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.13 Die Medien erfüllen mithin eine „öffentliche Aufgabe“14 (vgl. § 3 LPG), indem sie über die verschiedenen Lebenssachverhalte berichten, die von öffentlichem Interesse sind. Hierunter fallen in einer offenen Gesellschaft alle für den Staat und die Gesellschaft in informationeller, kritikwürdiger und auch nur unterhaltender Hinsicht wichtigen Themenkomplexe.15 Konkret besteht ein solches öffentliches Interesse natürlich gerade auch an den Geschehnissen auf dem Gebiet staatlicher Strafrechtspflege.

b) Normative Legitimationswirkung Wie bereits zu einem früheren Zeitpunkt16 der vorliegenden Untersuchung deutlich wurde, ist strittig, ob die normative Legitimationswirkung dieses Auskunftsanspruches unmittelbar aus Art. 5 Art. 1 S. 2 GG oder erst aus den Landespressegesetzen folgt. Konkret wird vertreten, dass den Grundrechten neben ihrer eigentlichen individualrechtlichen Garantiefunktion auch eine institutionelle Dimension zukomme, welche wiederum den Staat zur uneingeschränkten Kooperation mit den Medien zwinge.17 Konsequent nimmt diese Auffassung eine verfassungsunmittelbare Verankerung des Auskunftsanspruches an.18 Demgegenüber wird diese Verfassungsunmittelbarkeit teilweise abgelehnt19: Unmittelbar aus der zur Nachrichtenverbreitung reiche (vgl. BVerfGE 20, S. 162 [176 m. w. N.]; 35, S. 202 [222 m. w. N.]; 66, S. 116 [133 m. w. N.]). 13 Vgl. zum Ganzen schon oben: 3. Kap. D. II. 3., E. 14 Diese ist verknüpft mit der herausragenden Wichtigkeit der Tätigkeit der Medien für Staat und Gesellschaft in einer freien und demokratischen Staats- und Gesellschaftsform (vgl. die Anerkennung der Wichtigkeit dieser Tätigkeit auch in: BVerfGE 10, S. 118 [121 m. w. N.]; 12, S. 113 ff. m. w. N., 205 ff. m. w. N.). 15 Detaillierter Bullinger in: Löffler, Presserecht, § 3 LPG, Rndnrn. 32 ff. m. w. N.; ferner auch schon oben: 3. Kap. D. II. 2., E. 16 Vgl. schon oben: 3. Kap. D. II. 3. 17 So für das Institut der „freien Presse“: BVerfGE 20, S. 162 (175 f.); Löffler / Ricker, Handbuch, Kap. 18, Rndnr. 6 m. w. N. 18 Siehe etwa Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive, S. 223 ff.; ausführlicher Staggat, Rechtsgrundlage des Informationsanspruches, S. 63 ff. m. w. N. Danach hätte § 4 Abs. 1 LPG lediglich „deklaratorische“ Bedeutung (Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 47 f. m. w. N., in Bezug auf § 4 Abs. 1 PresseG NW). 19 BVerwGE 70, S. 310 (311 f. m. w. N.); AfP 1985, S. 72 (73 f. m. w. N.), welches unter anderem argumentiert, dass dem Wortlaut und der Stellung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG im Normgefüge des Grundgesetzes selbst bei Anerkennung einer institutionellen Garantie der Pressefreiheit „ein Anhaltspunkt für einen Informationsanspruch“ nicht entnommen werden

152

5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Verfassung könnten nur objektive und im Sinne eines Verfassungsauftrags verfasste Pflichten folgen, grundrechtlich verbürgte Freiheiten und Prinzipien zu gewährleisten. Konkrete Leistungsansprüche müssten hingegen aus Gesetzen folgen, die ihrerseits die tatbestandlichen Voraussetzungen derartiger Ansprüche festlegten. Dieser Auffassung folgend wären die landespressegesetzlichen Auskunftsansprüche als die einfachgesetzliche Umsetzung einer konkreten objektivverfassungsrechtlichen Direktive anzusehen, mittels welcher der Gesetzgeber ein subjektives Recht normiert hätte.20 Im Ergebnis sollen die landespressegesetzlichen Auskunftsansprüche nach übereinstimmender Auffassung jedenfalls zum Ausdruck bringen, dass ein subjektives Auskunftsrecht grundsätzlich existiert.21 Daher regelt die Vorschrift des § 4 Abs. 1 LPG die Gewährleistung eines gerichtlich durchsetzbaren Auskunftsanspruches, falls eine auskunftspflichtige Information vorliegt. Dagegen regelt § 4 Abs. 1 LPG gerade nicht das „Ob“ der Auskunftspflichtigkeit einer Information und erst recht keine von vornherein umfassende Auskunftspflicht der Ermittlungsbehörden.22 In Anbetracht der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung medienöffentlicher Strafrechtspflege vermag schon § 4 Abs. 1 LPG allein ermittlungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit nicht zu legitimieren. Vielmehr steht § 4 Abs. 1 LPG seinerseits aufgrund seiner Funktion der grundlegenden Gewährleistung eines Auskunftsanspruches mit § 4 Abs. 2 LPG23 in einem Regelungszusammenhang, wonach Auskünfte unter gewissen Voraussetzungen verweigert werden „können“. § 4 Abs. 2 LPG stellt mithin den ausschlaggebenden Anknüpfungspunkt für die Frage des „Ob“ der Auskunftspflichtigkeit einer Information dar.24 Dabei wird den Ermittlungsbehörden im Hinblick auf ihre Entscheidung in dieser Frage ein Ermessensspielraum eingeräumt, in dessen Rahmen sie eine einzelfallbezogene Intereskönne. Daneben meinen Wendt in: M / K, GG, Art. 5, Rndnr. 35 m. w. N., und Schröer-Schallenberg, Informationsansprüche, S. 35 m. w. N., dass gegen eine unmittelbare Herleitung unter anderem die Unbestimmtheit eines solchen Auskunftsanspruches spreche (hiergegen im Ergebnis wiederum Sobotta, Informationsrecht, S. 63 m. w. N.). Wieder andere stellen auf den Charakter des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG als primäres Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat ab (so etwa Jarass, DÖV 1986, S. 721 [722 m. w. N.]; in diese Richtung auch Stober, DRiZ 1980, S. 3 [9 m. w. N.]). 20 Somit wäre § 4 Abs. 1 LPG nach dieser Auffassung eine „konstitutive“ Bedeutung beizumessen (Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 47 f. m. w. N., für das PresseG NW). 21 Ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 48 m. w. N., für das PresseG NW; Wente, StV 1988, S. 216 f. m. w. N. 22 So auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 48 f. m. w. N., hinsichtlich des PresseG NW. Dagegen Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 138 ff. m. w. N.; Ostendorf, GA 1980, S. 445 (460). 23 Die Auskunftsverweigerung ist in den meisten Bundesländern in § 4 Abs. 2 LPG geregelt (vgl. hierzu den Abdruck bei Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG). 24 Vgl. Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 49 m. w. N., bzgl. des PresseG NW.

A. Rechtlicher Rahmen

153

senabwägung vornehmen müssen.25 Hierbei kann im Einzelfall sogar eine Ermessensreduzierung auf „Null“ vorliegen, d. h. nur eine behördliche Entscheidung ist ermessensfehlerfrei.26 So schrumpft der ermittlungsbehördliche Ermessensspielraum beispielsweise auf „Null“, wenn einer Auskunftserteilung eine gesetzliche Geheimhaltungsvorschrift entgegensteht (vgl. § 4 Abs. 2 LPG27) und insoweit eine Auskunftsverweigerungspflicht existiert.28 Im Normalfall wird dagegen eine Ermessensentscheidung zu treffen sein, die regelmäßig von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren ist. Diese Entscheidung hat direkte Auswirkungen auf den oben29 bereits dargelegten Konflikt zwischen medienöffentlicher Strafrechtspflege einerseits und dem Prinzip der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren andererseits. Gerade in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse entscheiden die Strafverfolgungsbehörden in diesem Moment über das Ausmaß der (medien)öffentlichen Darstellung dieser Ermittlungsverfahren. Mithin liegt es in ihren Händen, beispielsweise durch eine restriktive Öffentlichkeitsarbeit zu verhindern, dass ein Strafverfahren außer Kontrolle gerät und sich zu einer einseitigöffentlichen „Inquisition“30 entwickelt. Wie gezeigt, kann § 4 Abs. 1 LPG allein strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren also nicht legitimieren und es kommt vielmehr entscheidend auf den Umfang und die Grenzen der Fallgruppen des § 4 Abs. 2 LPG an.31

25 Dabei müssen alle relevanten Aspekte, die ggf. für die Ermessensentscheidung in Betracht kommen, sachgerecht abgewogen werden. Die Abwägungsentscheidung muss dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Die Gerichte sind zur Kontrolle der Entscheidungen für eine Auskunft bzw. zur Überprüfung der demgemäßen Ermessensanwendung grundsätzlich befugt (vgl. Löffler / Ricker, Handbuch, 20. Kap., Rndnr. 2 m. w. N.; Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 46 ff. m. w. N.; Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnr. 90). Selbst den nordrhein-westfälischen Strafverfolgungsbehörden kommt im Ergebnis – trotz unterschiedlichen Wortlauts des § 4 Abs. 2 PresseG NW – ein „praktischer“ Ermessensspielraum zu: Die Entscheidung der Frage, ob ein Fall des § 4 Abs. 2 PresseG NW vorliegt, erfordert eine Prognose, welche ihrerseits wiederum einen Ermessensspielraum erforderlich macht (so Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnr. 91 m. w. N.). 26 Dazu Löffler / Ricker, Handbuch, 20. Kap., Rndnr. 2. 27 In den meisten Bundesländern beinhaltet § 4 Abs. 2 LPG verschiedene Auskunftsverweigerungstatbestände, die in mehreren Ziffern geregelt sind. Obwohl sich die Tatbestände dem Grunde nach ähneln, sind sie zumeist in verschiedenen Ziffern geregelt. So ist bspw. die Geheimhaltung in § 4 Abs. 2 Ziff. 2 PresseG BW, aber in § 4 Abs. 2 Ziff. 1 PresseG Bln geregelt (vgl. Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG). 28 Vgl. Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnr. 92. 29 5. Kap. Vor A. 30 Dazu schon eingangs: 1. Kap. A., C., E. 31 Vgl. auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 50, hinsichtlich des PresseG NW. Diese Feststellung wird später noch einmal Anknüpfungspunkt im Rahmen der Überlegungen zur Einführung eines „§ 160a StPO“ sein (7. Kap. B. II.).

154

5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

2. Strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungsprimat Zur Legitimation strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren kommt weiterhin der allgemeine Ermittlungsprimat32 (vgl. §§ 160, 161, 163 StPO) in Frage. Fraglich ist allerdings, ob Öffentlichkeitsarbeit die Erforschung eines strafrechtlichen Sachverhaltes nach Tat und Täter33 unterstützen oder sogar fördern kann. Hierbei ist erneut zu berücksichtigen, dass die medienöffentliche Strafrechtspflege einer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung unterliegt.34 Außerdem dient Öffentlichkeitsarbeit – einmal abgesehen vom speziellen Fall des öffentlichen Fahndungsaufrufs – nicht zwangsläufig einem spezifischen strafverfolgungsrechtlichen Erforschungs- und Aufklärungszweck, sondern oftmals auch lediglich der schlichten Information der breiten Öffentlichkeit. Daher ist Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren nicht unbedingt zur Durchsetzung des strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungsprimats (vgl. §§ 160, 161, 163 StPO) geeignet. Daneben scheidet auch eine entsprechende Befugnis zur Instrumentalisierung des mutmaßlichen Straftäters für präventiv-kriminalpolitische Zwecke aus.35 Somit bleibt festzuhalten, dass eine Legitimation ermittlungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren durch den gesetzlichen Strafverfolgungsauftrag (vgl. §§ 160, 161, 163 StPO) ausscheidet.

Dazu auch bereits: 4. Kap. B. III. 2. V., C. I. 1. 4. II. So Wache in: KK, StPO, § 163, Rndnr. 8. 34 Eingehender hierzu oben: 4. Kap. A. III. E, 5. Kap. Vor A. 35 Dagegen wird teilweise versucht, eine (polizeiliche) Pflicht zu (konkret-individualisierender) Öffentlichkeitsarbeit insbesondere unter generalpräventiven Prämissen (vgl. hierzu oben: 3. Kap. B. III.) herzuleiten. Die Bevölkerung müsse schon frühzeitig vor einem mutmaßlichen Straftäter gewarnt werden. Eine diesbezügliche (polizeiliche) Befugnis folge aus dem Umstand, dass die Polizei auch eine präventiv-gefahrenabwehrende Verantwortung trage (dies diskutierend und im Ergebnis ablehnend: Ostendorf in GA 1980, S. 445 [455 f. m. w. N.]). Insbesondere konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit sei weiterhin geeignet, das durch eine Straftat negativ beeinträchtigte gesellschaftliche Gesamtrechtsbewusstsein (vgl. hierzu wiederum oben: 3. Kap. B. III.) mittels der schnellen individuellen Kennzeichnung begangenen Unrechts zu beruhigen (dazu wieder Ostendorf, GA 1980, S. 445 [456 m. w. N.]). Solche Instrumentalisierungsversuche, welche den Betroffenen als bloßes Objekt der Strafrechtspflege auffassen, verbieten sich jedoch schon im Hinblick auf das Gebot der Wahrung der Menschenwürde (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG). Unter keinerlei Umständen darf ein mutmaßlicher Straftäter unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruches zum bloßen Objekt der Strafrechtspflege herabgewürdigt werden (BVerfGE 45, S. 187 [227 f. m. w. N.]). Zudem verstoßen derartige Versuche zweifelsohne gegen die Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK; hierzu sogleich ausführlicher: 5. Kap. A. II. 3.). 32 33

A. Rechtlicher Rahmen

155

3. Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) Daneben kommen die Verwaltungsanordnungen Ziffn. 4a, 23 RiStBV als mögliche Rechtsgrundlage in Betracht.36 Schon vor Jahrzehnten wurden „Empfehlungen“ ausgesprochen und „Richtlinien“ erlassen, um den Schutz des von vorverurteilender Medienberichterstattung betroffenen Beschuldigten besser zu gewährleisten.37 Diese Bemühungen hatten jedoch ausschließlich die Medien zum Adressaten. Dagegen wurde erst später berücksichtigt, dass auch die Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren ein Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung verursachen und den Beschuldigten zukünftig çhronisch“ stigmatisieren kann. Im Jahre 1977 wurden schließlich die „Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren“ (RiStBV) erlassen, die in den Ziffn. 4a, 23 explizit die Rahmenbedingungen zulässiger staatsanwaltschaftlicher Medienauskünfte festlegten.38 Deren reale Wirksamkeit wird jedoch bereits durch die Einleitung der RiStBV39 entscheidend beeinträchtigt, indem ihre umfassende Geltung aufgrund der „Mannigfaltigkeit des Lebens“ und eventuellen „Besonderheiten des Einzelfalles“ ausdrücklich ausgeschlossen wird. Die RiStBV besitzen zudem keine effektive Bindungswirkung, denn als schlichte Verwaltungsvorschriften haben sie keine gesetzliche Bindungswirkung und können somit bedenkenlos übertreten werden.40 Wie zu einem späteren Zeitpunkt41 zu erörtern sein wird, führt diese fehlende effektive Bindungswirkung in einer Vielzahl von Einzelfällen zu einer bedenklich freien Gestaltung staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit. Unabhängig von diesem tatsächlichen Aspekt bestehen zudem grundlegende dogmatische Bedenken: Kann es im Hinblick auf den Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) überhaupt rechtmäßig sein, individualrechtliche Eingriffe der

36 Hierzu im Sinne einer Regelung der staatsanwaltschaftlichen Informationspolitik gegenüber den Medien im Ermittlungsverfahren auch Braun, Medienberichterstattung, S. 57. 37 Siehe z. B. den Bericht über die Entschließung der 3. Abteilung des VII. Internationalen Strafrechtskongresses vom 21. bis 27. September 1961 in Lissabon (Jescheck, ZStW 74 [1962], V, S. 35 ff.) und die am 12. Dezember 1973 dem damaligen Herrn Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann überreichten „Publizistischen Grundsätze“ (abgedruckt in: Wassermann, Justiz und Medien, S. 185 ff. [Stand: 31. Dezember 1979]). Zum aktuellen Pressekodex schon oben: 1. Kap. A. 38 Diese seit dem 1. Januar 1977 wirksamen Richtlinien sind in der ab dem 1. Juli 1998 bundeseinheitlich geltenden Fassung in KK, StPO, Anhang III., abgedruckt. Vgl. weiterhin auch die „Richtlinien für die Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden mit der Presse“ der einzelnen Bundesländer (Überblick bei Delp [Hrsg.], Publizistik, Nr. 162 ff.). 39 Siehe KK, StPO, RiStBV (Einführung). 40 Ähnlich Roxin, NStZ 1991, S. 153 (156), der schildert, dass deswegen Fälle bekannt geworden sind, in denen Staatsanwälte, Bundesminister und sogar ein Bundesrichter Anklageschriften und Vernehmungsprotokolle an die Medien weitergegeben haben. Weiterhin zu diesen Wirksamkeitsproblemen auch Schulz, Medienberichterstattung, S. 59 f. m. w. N. 41 Vgl. unten: 5. Kap. B.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

strafjustiziellen Staatsgewalt durch Medienauskünfte nur auf ministerielle Verwaltungsanordnungen zu stützen?42 4. Zusammenfassung Die Rechtmäßigkeit strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren wird entscheidend durch die Reichweite des § 4 Abs. 2 LPG bestimmt. Diesem Verhältnis liegt die konsequente Umsetzung der für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung medienöffentlicher Strafrechtspflege zugrunde.43 Indessen kommen die §§ 160, 161, 163 StPO – im Übrigen genauso wenig wie § 81b 1. Alt. StPO44 und § 24 KUG45 – als Rechtsgrundlage nicht in Betracht. Schließlich stellen auch die Ziffn. 4a, 23 RiStBV wegen ihrer fehlenden gesetzlichen Bindungswirkung keine tragfähige Legitimation staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren dar. Vgl. auch Scherer, ZRP 1990, S. 332 (336). Dazu zuletzt oben: 5. Kap. Vor A. 44 Eingehender zunächst zum Anwendungsbereich Dahs in: LR, StPO, § 81b, Rndnr. 6 m. w. N.; M-G, StPO, § 81b, Rndnrn. 2 ff. m. w. N.; Senge in: KK, StPO, § 81b, Rndnr. 1 m. w. N. Die Ablehnung der Anwendbarkeit des § 81b 1. Alt. StPO als Rechtsgrundlage für konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden wird dabei unterschiedlich begründet: einerseits mit einem Umkehrschluss aus § 81b 1. Alt. StPO, wonach eine Identitätsveröffentlichung zu rein informativen Zwecken ohne Zustimmung des Betroffenen gerade unzulässig sein müsse (vgl. Eb. Schmidt in: Recht und Staat, S. 15 ff.; Franke, Bildberichterstattung, S. 113 ff. m. w. N.; Ostendorf, GA 1980, S. 445); andererseits mit dem Argument, eine rein informative Identitätsveröffentlichung gehe als strafverfahrensferne Handlung über den durch § 81b 1. Alt. StPO geregelten strafverfahrensrechtlichen „Innenbereich“ hinaus (so Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 36 m. w. N.; Schulz, Medienberichterstattung, S. 59 m. w. N.; vgl. dazu auch Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 69 f. m. w. N.). 45 Zwar kommt § 24 KUG u. U. als Rechtsgrundlage für konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden in Betracht (dazu Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 40). Gleichwohl handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Norm polizeirechtlicher Prägung, die einen besonderen Ausnahmecharakter besitzt und eine Einschränkung des Rechts am eigenen Bild zu Gunsten des Strafverfolgungsinteresses nur in dringenden Ausnahmefällen legitimieren soll (siehe von Gamm, Urheberrechtsgesetz, Einf., Rndnrn. 125 ff. m. w. N.). Voraussetzung ist demgemäß ein konkreter strafverfolgungsrechtlicher Zweck, welcher die Verwendung eines Bildnisses aus Gründen der Strafrechtspflege bzw. der öffentlichen Sicherheit erforderlich macht (vgl. von Gamm, Urheberrechtsgesetz, Einf., Rndnr. 127 m. w. N.). Daher darf § 24 KUG keinesfalls pauschal als Rechtsgrundlage für informative Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden herangezogen werden (so auch Ostendorf, GA 1980, S. 445 [452 ff. m. w. N.]; Eb. Schmidt in: Walter Schmidt-FS, S. 338 [346 m. w. N.]). Ansonsten unterliefe man den Ausnahmecharakter der Norm, welcher insbesondere für die strafverfolgungsbehördliche Fahndungsarbeit bedeutsam ist (hierzu auch Helle, Persönlichkeitsrechte, S. 194 m. w. N. Weiterführend Ranft, StV 2002, S. 38 ff. m. w. N., zur Fahndung nach Beschuldigten und Zeugen auf Grundlage des „Strafverfahrensänderungsgesetzes“ [StVÄG] von 1999). 42 43

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II. Interessenlage des Beschuldigten: Beachtung persönlicher und sozialer Schutzbedürfnisse Neben der Frage nach möglichen Rechtsgrundlagen ist zur Konkretisierung des rechtlichen Rahmens strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren weiterhin erforderlich, die persönlichen und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten zu berücksichtigen, die im Falle einer ermittlungsbehördlichen Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Erteilung von Medienauskünften ggf. verletzt werden könnten.

1. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht a) Vorbemerkungen Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG) stellt ein zentrales Grundprinzip der bundesdeutschen grundgesetzlichen Staatsverfassung dar. Als konstitutives Universalprinzip beherrscht es alle anderen grundgesetzlichen Normen.46 Der umfassende Schutz der Persönlichkeit des Einzelnen wird durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet, welches an Art. 1 Abs. 1 GG – aber auch an Art. 2 Abs. 1 GG – anknüpft.47 Aus dieser verfassungsrechtlichen Verknüpfung folgt die Einsicht, dass unsere grundgesetzliche Werteordnung in der sozialen Gemeinschaft individueller, sich frei entfaltender und würdevoller Persönlichkeiten wurzelt. Diese Konzeption ist von den Staatsgewalten zu achten und zu schützen.48 Zur effektiven Verwirklichung dieser Schutzpflicht in der Rechtswirklichkeit wurde das Rechtsinstitut des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ auf einfachgesetzlicher Ebene als „sonstiges Recht“ (vgl. § 823 Abs. 1 BGB) entwickelt und fortgebildet.49 Die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Einzelnen, wie es im Schrifttum schon Otto von Gierke50 forderte, stieß bei Gesetzgebung und 46 Schon früh BVerfGE 2, S. 1 (12); 6, S. 32 (36 ff., 41). Weiterhin Herdegen in: M-D, GG, Art. 1, Rndnrn. 18 ff. m. w. N. 47 Vgl. BVerfGE 6, S. 32 (39 ff. m. w. N.), S. 389 (433); hierzu auch BGHZ 13, S. 334 (338 m. w. N.); 24, S. 72 (76 m. w. N.); weiterhin Herdegen in: M-D, GG, Art. 1, Rndnr. 23 m. w. N. 48 Siehe Leibholz / Rinck / Hesselberger, GG, Art. 2, Rndnr. 26. 49 Vgl. auch Podlech in: AK, GG, Art. 2 Abs. 1, Rndnr. 8 m. w. N. Ausführlicher zur Entwicklung: Helle, Persönlichkeitsrechte, S. 3 ff. m. w. N. Siehe ferner Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 301 m. w. N., zur Gegenüberstellung der kollidierenden Rechtsgüter bei Gerichtsberichterstattung. 50 Privatrecht, 1. Bd (1895), S. 702 f. und 3. Bd. (1917), S. 887. Vgl. auch die Forderungen Josef Kohlers (dazu Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, § 6, S. 28). Weiterführend zu beiden etwa Wandtke, GRUR 1995, S. 385 ff. m. w. N.

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Rechtsprechung lange Zeit auf Ablehnung. Noch das Reichsgericht51 lehnte ein derart umfassendes individuelles Schutzrecht ab. Es schützte die Persönlichkeit des Einzelnen zwar teilweise durch § 826 BGB, erkannte absolut wirkende Persönlichkeitsrechte indessen nur vereinzelt für bestimmte Persönlichkeitsrechtsgüter an.52 Erst der Bundesgerichtshof erkannte das Allgemeine Persönlichkeitsrecht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung im sog. „Leserbrief-Urteil“53 als „sonstiges Recht“ i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB an. Diese Rechtsprechung wurde durch das Bundesverfassungsgericht54 bestätigt. Der Bedeutung für unsere grundgesetzliche Werteordnung entsprechend, umfasst der Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Summe aller Werte, welche die individuelle Persönlichkeit prägen. Ihre Anzahl ist aufgrund der Vielschichtigkeit der Persönlichkeit des Einzelnen grundsätzlich offen. Mithin umfasst der Schutzbereich sämtliche „Rechte an der eigenen Person“55. Wegen der sich durch diese Definition ergebenden Weite des Schutzbereiches gehen die Bemühungen dahin, auf Grundlage der Akzeptanz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als “,Muttergrundrecht‘ (. . . ) oder ,Quellrecht‘“56 respektive „Rahmenrecht“ 57 einzelne besondere Persönlichkeitsrechte zu entwickeln.58 Aus der großen Anzahl besonderer Persönlichkeitsrechte59 heraus wurden umfangreiche spezialgesetzliche Regelungen entwickelt.60 Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) kann durch zwei elementare Wesenszüge charakterisiert werden.61 Während seine statische Prägung dem Einzelnen einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung gewährt, schützt dessen dynamische Prägung das Recht auf individuelle Selbstentfaltung und Teilhabe an unserer sozialen Gemeinschaft. Diese zweigliedrige Wesensmäßigkeit bedeutet für unsere Untersuchung: RGZ 82, S. 333 ff.; 107, S. 277 (281); 123, S. 312 (320). RGZ 85, S. 343 ff.; 115, S. 416 ff.; 162, S. 7 (11 ff.). 53 Grundlage dieser Entscheidung war die Feststellung, dass „das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht angesehen werden (muß)“ (BGHZ 13, S. 334 [338 m. w. N.]; 26, S. 349 [354 m. w. N.]). 54 BVerfGE 34, S. 269 (280 ff. m. w. N.); 35, S. 202 (219 f. m. w. N.). 55 von Gierke, Privatrecht (1895), 1. Bd., S. 702. Ähnlich auch Hubmann, JZ 1957, S. 521 (524); Neumann-Duesberg, NJW 1957, S. 1341 (1342). 56 BGHZ 24, S. 72 (78 m. w. N.); auch Larenz, NJW 1955, S. 521 (524 f. m. w. N.). 57 Fikentscher, Schuldrecht, § 103, II 2, S. 757. 58 Vgl. Franke, Bildberichterstattung, S. 84 f. m. w. N.; Helle, Persönlichkeitsrechte, S. 8 m. w. N.; Larenz, NJW 1955, S. 521 (524 f. m. w. N.). 59 Detailliert Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 11 ff., 16 ff., 22 ff., 69 ff., 101 ff.; Hubmann, Persönlichkeitsrecht, S. 175 ff., 220 ff., 268 ff. 60 Z. B. das Urheberrechtsgesetz (zum Schutze des Urheberrechts) oder die §§ 22 ff. KUG (zum Schutze des Rechts am eigenen Bild). Außerdem Regelungen wie § 12 BGB (zum Schutze des Rechts am eigenen Namen). 61 Siehe auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 88 f. m. w. N. Eingehender weiterhin Ionescu, Kriminalberichterstattung, S. 43 ff. m. w. N., zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Zusammenhang mit Presseberichterstattung. 51 52

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Der Beschuldigte, gegen den ein Ermittlungsverfahren geführt wird, hat einerseits ein „Recht auf Anonymität“62 (1.2.) und andererseits ein „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“63 (1.3.).

b) Das „Recht auf Anonymität“ als „Recht auf Bild- und Namensanonymität“ Angesichts der aktuellen Verhältnisse auf dem Gebiet der medialen Kriminalberichterstattung64 leuchtet ein, dass die Freiheit privater Lebensgestaltung und ungestörter Sozialisation oftmals als „Freiheit von Öffentlichkeit“65 aufgefasst wird. Auch das Bundesverfassungsgericht betont das Recht des Einzelnen, „selbst und allein (zu) bestimmen, ob und wieweit andere sein Lebensbild im ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich zur Schau stellen dürfen“66.

In den Kategorien des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts deutet dies auf ein „Recht auf nichtöffentliches Leben“67 hin. Genauer kann in Anknüpfung an den von Horst Neumann-Duesberg68 geprägten Begriff auch vom individuellen „Recht auf Anonymität“ gesprochen werden.69 Schließlich kann schon allein die Herstellung einer Verbindung des Beschuldigten mit einer begangenen Straftat für diesen mit erheblichen desozialisierenden Auswirkungen verknüpft sein.70 Insoweit ist das individuelle Recht auf Anonymität als besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) in 62 Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 119 ff. m. w. N.; von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 89 ff. m. w. N.; Bornkamm, NStZ 1983, S. 102 (103 m. w. N.); Neumann-Duesberg, JZ 1970, S. 564 ff. m. w. N. 63 Zunächst zum sog. „Recht auf Resozialisierung“ im Falle eines verurteilten Straftäters: BVerfG vom 5. Juni 1973 – „Lebach“ (BVerfGE 35, S. 202 [235 ff.]). Zum „Recht auf NichtEntsozialisierung“ des Beschuldigten nunmehr im Rahmen der nachfolgenden Erörterungen. 64 Dazu schon oben: 1. Kap. A. 65 von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 91 m. w. N. 66 BVerfGE 35, S. 202 (220). 67 Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 101 ff. m. w. N.; hierzu auch Schwerdtner, JZ 1990, S. 769 (771 m. w. N.). 68 In: Erdsieck (Hrsg.), Juristen-Jahrbuch, 7. Bd. (1966 / 67), S. 138 ff. m. w. N.; ders., JZ 1970, S. 564 ff. m. w. N., zum „Persönlichkeitsrecht auf Namensanonymität“. 69 Dementsprechend zum „Anonymitätsinteresse“ des Einzelnen: Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, 119 ff. m. w. N.; von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 91 m. w. N.; Franke, Bildberichterstattung, S. 88; Koebel, JZ 1966, S. 389 (390 m. w. N.); Wenzel, Bildberichterstattung, S. 393 m. w. N. Zum „Persönlichkeitsrecht auf Namensanonymität“: Bornkamm, NStZ 1983, S. 102 (103 m. w. N.). Grundsätzlich a.A. ist demgegenüber Helle, Persönlichkeitsrechte, S. 48 f. m. w. N. 70 Vgl. schon oben: 4. Kap. D., E. Weiterhin von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 137. Speziell Neumann-Duesberg, JZ 1973, S. 261 ff. m. w. N., in Bezug auf die Fernsehsendung „Soldatenmord von Lebach“.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

zweierlei Hinsicht zu konkretisieren: einerseits durch den individuellen Schutz vor unzulässiger Bildveröffentlichung (vgl. das „Recht am eigenen Bild“, §§ 22 ff. KUG71), andererseits durch das „Recht auf Namensanonymität“72. Obgleich das „Recht auf Namensanonymität“ nicht ausdrücklich geregelt ist, gilt dennoch: Der Name einer Person dient nicht lediglich der individuellen Unterscheidung, sondern beschreibt zugleich eine die „Hülle“ des Erscheinungsbildes ausfüllende und in ihrer Individualität einzigartige Persönlichkeit. Neben dem äußeren Erscheinungsbild prägt insbesondere der persönliche Name die spezifische Individualität jedes Einzelnen.73 Die öffentliche Individualisierung einer Person mittels Namensveröffentlichung stellt daher einen vergleichbaren Einbruch in deren individuelle Anonymität dar, wie die Veröffentlichung ihres Abbildes.74 Aufgrund dieser Vergleichbarkeit der individuellen Schutzinteressen und der drohenden Konsequenzen eines Verstoßes hiergegen ist die Schutzwirkung des § 22 KUG – die Wahrung der individuellen Anonymität – auch auf den persönlichen Namen des Einzelnen auszudehnen.75 Mithin kann konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) des Beschuldigten in dessen besonderer Ausprägung als „Recht auf Anonymität“ im Sinne einer umfassenden Bild- und Namensanonymität (vgl. §§ 22 ff. KUG) verletzen.76

71 Zum individuellen Persönlichkeitsrecht als Recht auf Bildanonymität: BGHZ 20, S. 345 (347); 26, S. 349 (355). Zum „Recht auf Individualität“ im Sinne des eigenen „Erscheinungsbildes“: Hubmann, Persönlichkeitsrecht, S. 296 ff. Als sog. „Bildnisanonymität“: NeumannDuesberg, JZ 1970, S. 564 (566). 72 Neumann-Duesberg, JZ 1970, S. 564 (566 m. w. N.). Dann von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 144 ff. m. w. N.; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß im Strafverfahren, S. 250 m. w. N.; ders., NStZ 1983, S. 102 (103); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 5 m. w. N.; Kotz, NStZ 1982, S. 14 (16 m. w. N.); Lampe, NJW 1973, S. 217, zum „nahezu unumschränkten Verbot der Namensnennung während des Ermittlungsverfahrens“. 73 Ähnlich Neumann-Duesberg, JZ 1970, S. 564 (566 f. m. w. N.). 74 Eingehender hierzu von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 144 m. w. N.; Neumann-Duesberg, JZ 1970, S. 564 (566 f. m. w. N.). 75 Hierzu insgesamt detaillierter: Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 119 ff. m. w. N.; von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 144 ff. m. w. N.; Lampe, NJW 1973, S. 217 ff. m. w. N.; Marxen, GA 1980, S. 365 (370 ff. m. w. N.); Neumann-Duesberg, JZ 1970, S. 564 (566 f. m. w. N.). 76 Ferner Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 302 m. w. N., zum „Recht auf Anonymität“ im Zusammenhang der kollidierenden Rechtsgüter bei Gerichtsberichterstattung.

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c) Das „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“ Wir haben festgestellt, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) in seiner dynamischen Prägung auch das individuelle „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“ gewährleistet.77 An dieser Stelle ist die „Lebach-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichtes78 vom 5. Juni 1973 von herausragender Bedeutung. Das Gericht stellte damals fest, dass die Ausstrahlung einer Fernsehdokumentation, in welcher der Beschwerdeführer, ein zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Straftäter, schon „eingangs im Bilde vorgeführt (wird)“79, nicht mit den gemeinsamen Bemühungen um dessen Resozialisierung vereinbar sei. „Die erneute bildhafte Konfrontation mit der Tat wirft ihn (den Straftäter) gewissermaßen auf den Stand der Tatzeit zurück und gibt ihm die entmutigende Überzeugung, daß die Umwelt ihn trotz aller seiner Bemühungen noch immer als Täter von damals ansieht.“80

Das Gericht hob hervor, dass den gemeinsamen Anstrengungen unserer Gesellschaft zur Resozialisierung eines verurteilten Straftäters insbesondere durch die mediale Verwertung strafjustizieller Ereignisse schwerwiegende Gefahren drohen. Schließlich hängt der Erfolg einer Resozialisierung nicht allein von staatlichen Bemühungen ab; ihr Erfolg wird vielmehr in ganz besonderem Maße auch von dem Verhalten der bedrohten oder sogar geschädigten Gesellschaft selbst beeinflusst. Demgemäß birgt mediale Kriminalberichterstattung ein starkes Gefährdungspotential in sich, fördert sie doch eher die weit verbreitete „allgemeine Abwehrhaltung gegenüber Strafentlassenen“81 in Bezug auf deren Bereitschaft, sich in die Gesellschaft wieder einzugliedern.82 Nun fragt sich, ob sich diese grundlegenden Feststellungen im Hinblick auf das Schutzbedürfnis der gesellschaftlichen Bemühungen zur Resozialisierung eines rechtskräftig verurteilten Straftäters überhaupt auf unsere Konstellation des Beschuldigten übertragen lassen. Zweifel ergeben sich vor allem insofern, als einer Resozialisierung zunächst eine Entsozialisierung vorausgegangen sein muss.83 Gleichwohl lässt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes die Auffassung des individuellen Rechts auf Resozialisierung als Teilaspekt eines übergeordneten 77 Dazu schon oben: 5. Kap. A. II. 1. 1.1. Ausführlich auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 92 ff. m. w. N.; Franke, Bildberichterstattung, S. 117 ff. m. w. N. 78 BVerfGE 35, S. 202 ff. Danach BVerfG, NJW 2000, S. 1859 ff. – „Lebach II“; Besprechung bei Cole, NJW 2001, S. 795 f. 79 BVerfGE 35, S. 202 (206). 80 BVerfGE 35, S. 202 (237). 81 BVerfGE 35, S. 202 (237). 82 Ähnlich Koebel, JZ 1966, S. 389 (391 m. w. N.); Scholderer, ZRP 1991, S. 298 (300 m. w. N.). 83 So bereits Franke, Bildberichterstattung, S. 121.

11 Neuling

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Rechts auf Sozialisation84 zu: Das Bundesverfassungsgericht stellte damals fest, dass ein rechtskräftig verurteilter Straftäter „als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte (. . . ) die Chance erhalten (muß), sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen“85.

Dieser Anspruch ergebe sich aus den Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG und der sozialstaatsprinzipiell verankerten Verpflichtung des Staates zur Unterstützung solcher gesellschaftlichen „Gruppen“86, die in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung eingeschränkt sind. Zu dieser Gruppe hat das Bundesverfassungsgericht den rechtskräftig verurteilten Straftäter hinzugezählt. Nun erschöpft sich diese Gesamtbetrachtung der konstitutiven grundgesetzlichen Prinzipien der Würde des Menschen, des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und schließlich des Sozialstaates aber nicht im exklusiven Schutz nur dieser „Gruppe“. Vielmehr müssen rechtskräftig verurteilte Straftäter im Rahmen einer grundsätzlicheren Anschauung als Teil derjenigen „Gruppe“ aufgefasst werden, deren gesellschaftliche Integration ohne den Schutz staatlicher Institutionen beeinträchtigt wäre. Zu Gunsten des Beschuldigten folgt aus den vorstehenden Erwägungen die Annahme eines „Rechts auf Nicht-Entsozialisierung“87, welches als Ausfluss des übergeordneten Rechts auf Sozialisation in jeder Phase eines fairen Strafverfahrens im liberalen Rechtsstaat gelten muss. Gerade das Ermittlungsverfahren wird maßgeblich durch den Charakter der Vorläufigkeit seiner Ermittlungsergebnisse geprägt. Erst nach Abschluss der strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen wird die Entscheidung darüber getroffen, ob überhaupt Anklage erhoben wird. Wenn also schon dem bereits verurteilten Straftäter ein „Recht auf Resozialisierung“ zukommt, dann muss erst recht schon der Beschuldigte vor einer Entsozialisierung geschützt werden. Denn stellt sich schließlich u. U. die Unschuld des Beschuldigten heraus, so muss gewährleistet sein, dass er sein zukünftiges Leben – soweit dies überhaupt möglich ist – weitgehend in den vertrauten privaten und sozialen Strukturen fortsetzen kann.88 Dies bedeutet, dass strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) des Beschuldigten in seiner besonderen Ausprägung als „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“ verletzen kann. 84 Dazu auch Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 302 m. w. N., im Zusammenhang kollidierender Rechtsgüter bei Gerichtsberichterstattung. 85 BVerfGE 35, S. 202 (235 f.). 86 BVerfGE 35, S. 202 (236). 87 von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 92 ff., 99 f. m. w. N.; Franke, Bildberichterstattung, S. 120 f. m. w. N.; Ostendorf, GA 1980, S. 445 (457 m. w. N.); Zipf, Gutachten C, 54. DJT, C 31 f. m. w. N. 88 Ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 20 m. w. N.

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2. Unschuldsvermutung Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) normiert in Art. 6 Abs. 2 die Unschuldsvermutung.89 „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“90

Die durch Art. 2 des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952 mit Gesetzeskraft veröffentlichte EMRK ist Bestandteil des geltenden Rechts der Bundesrepublik Deutschland, wobei die Konvention den Rang eines einfachen Bundesgesetzes besitzt.91 Durch ihre Aufnahme in das bundesdeutsche Recht ist übereinstimmendes Recht gefestigt und mit supranationalem Rechtsschutz versehen worden, während nicht übereinstimmendes Recht durch die Konvention aufgehoben, abgeändert oder ergänzt wurde. Zudem sind bei der Auslegung der bestehenden Gesetze die grundlegenden Werte der Konvention zu berücksichtigen.92 Eine Verletzung hierdurch gewährleisteter Rechte und Freiheiten kann mit den allgemeinen Rechtsmitteln gerügt werden.93 Das Prinzip der Unschuldsvermutung besitzt als Prozessgrundrecht unmittelbaren Verfassungsrang, welcher sich einerseits aus dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG) und andererseits aus der Rechtsstaatsmaxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) herleitet.94 Nichtsdestotrotz ist die Frage nach dem exakten Inhalt respektive der genauen Reichweite des Prinzips der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) aktuell noch unzureichend geklärt.95 Vor diesem Hintergrund ist für uns zunächst in inhaltlicher Hin89 Vgl. Gollwitzer in: L-R, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnr. 104 m. w. N. Sehr detailliert und weiterführend: Stuckenberg, Unschuldsvermutung (1998). 90 Schon Art. 9 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 lautete: „Tout homme, étant présumé innocent jusqu’à ce qu’il ait été déclaré coupable, s’il est jugé indispensable de l’arrêter, toute rigueur, qui ne serait pas nécessaire pour s’assurer de sa personne, doit être sévèrement réprimée par la loi“ (Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 1 m. w. N.). 91 Dazu M-G, StPO, Vor Art. 1 EMRK, Rndnr. 3 m. w. N. Demgegenüber vertritt eine widersprechende Auffassung, dass die EMRK im Range höher als einfache Bundesgesetze rangiere (vgl. Marxen, GA 1980, S. 365 [372 m. w. N.]; Nachweise auch bei Franke, Bildberichterstattung, S. 116, Fn. 231, und Krey, JZ 1979, S. 702 [708]). 92 So M-G, StPO, Vor Art. 1, EMRK, Rndnr. 4 m. w. N. 93 Vgl. M-G, StPO, Vor Art. 1, EMRK, Rndnr. 6 m. w. N. 94 Zu dessen verfassungsrechtlicher Verbürgung im Sinne eines rechtsstaatlichen Erfordernisses: BVerfGE 19, S. 342 (347); 22, S. 254 (265); Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 254 m. w. N.; Marxen, GA 1980, S. 365 (372 m. w. N.). Das Prinzip der Unschuldsvermutung ist auch in einigen Länderverfassungen ausdrücklich enthalten (vgl. z. B. Art. 9 Abs. 2 VvB). Vogler in: IK, EMRK, Art. 6, Rndnr. 382 m. w. N. Zur Ableitung aus Art. 1 GG etwa BGHSt 14, S. 358 (364 m. w. N.). 95 Ähnlich Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 11, Rndnr. 4 m. w. N. Vgl. daneben instruktiv Pfeiffer in: Geiß-FS, S. 147 ff. m. w. N.; Richter II in: Mandant und Verteidiger, S. 33 ff. m. w. N.; Schulz, GA 2001, S. 226 ff. m. w. N.

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sicht entscheidend, ob die Unschuldsvermutung – die ausdrücklich auf eine „angeklagte“ Person beschränkt ist (vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK) – auf den Ablauf des strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungsverhaltens überhaupt einwirken kann. Sollte diese Frage zu bejahen sein, stellt sich sodann die Anschlussfrage, wie die Strafverfolgungsbehörden gegen die Unschuldsvermutung verstoßen können. Befassen wir uns daher zunächst mit der Frage des „Ob“, d. h. der Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung auf die Ermittlungen der Strafjustiz. Grundsätzlich könnte man die Auffassung vertreten, der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EMRK schließe eine Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung über den eigentlichen „Strafprozess“ hinaus aus. Diesen Weg weist zumindest auch die frühe Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte, welche die Garantie des Art. 6 Abs. 2 EMRK insbesondere als Schutzgewährung gegenüber einer möglichen Voreingenommenheit des sachbefassten Gerichtes auslegte.96 Hierbei interpretierte die Kommission Art. 6 Abs. 2 EMRK dahingehend, dass es mit der überragenden Verantwortung eines Richters unvereinbar sei, wenn dieser das Hauptverfahren gegen einen Angeklagten führe, obwohl er bereits von der individuellen Schuld des Angeklagten überzeugt sei. Vielmehr dürfe der Richter eine Verurteilung ausschließlich auf die in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise stützen, die ihrerseits wiederum geeignet wären, eine nachweisliche Bejahung des individuellen Schuldvorwurfes zu ermöglichen. Mithin legte die Kommission Art. 6 Abs. 2 EMRK zunächst – streng am Wortlaut orientiert – als rechtsstaatliches Strukturprinzip richterlicher Prozessführung und Entscheidungsfindung aus.97 In späteren Entscheidungen erweiterte die Kommission die Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung schließlich auf staatliche Behörden und deren Verfahrensweisen.98 So beispielsweise in einem Fall, in welchem ein Justizminister in einem Fernsehinterview die Verhaftung einer mutmaßlichen Terroristin medienwirksam kommentiert hatte. Die Kommission urteilte in diesem Fall, dass die Unschuldsvermutung zwar grundsätzlich den Charakter einer Prozessmaxime habe.99 Darüber hinaus müsse die Unschuldsvermutung als umfassendes individuelles Schutzprinzip aufgefasst werden, welches den Einzelnen davor schütze, als „Schuldiger“ angeprangert zu werden, bevor ein zuständiges Gericht am Ende eines justizförmigen Strafverfahrens entschieden habe. Die Schutzgewähr der Unschuldsvermutung sei

96 Vgl. Peuckert, EuGRZ 1980, S. 247 (260 m. w. N.). Weiterhin Kühl in: Hubmann-FS, S. 241 (245 f. m. w. N.), zur Unschuldsvermutung in der Spruchpraxis der Straßburger Menschenrechtsorgane. 97 Siehe „Austria against Italy“ (vgl. Yearbook No. 6 [1963], S. 740 [782 f.]). 98 Peuckert, EuGRZ 1980, S. 247 (260 f. m. w. N.), detailliert zur Erweiterung der Anwendbarkeit auf „inkriminierende, öffentliche Äußerungen über den Beschuldigten außerhalb des Strafverfahrens“. 99 Vgl. „Petra Krause v / Switzerland“ (vgl. Decisions and Reports No. 13 [1979], S. 73 [76]).

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mithin bereits in dem Augenblick angegriffen, in welchem der Beschuldigte von den Strafverfolgungsbehörden als „schuldig“ hingestellt werde, ohne dass ein gesetzmäßiges Verfahren vor einem zuständigen Gericht diesen Nachweis justizförmig und rechtskräftig erbracht habe.100 Dieser Auffassung sind Schrifttum und Rechtsprechung mittlerweile überwiegend gefolgt.101 So entschied beispielsweise das Bundesverfassungsgericht, dass die Unschuldsvermutung die „Behandlung (einer nicht rechtskräftig verurteilten Person) als schuldig“102 ausschließe. Die Frage, ob das Schutzprinzip der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 2 EMRK) auch die Strafverfolgungsbehörden bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren beschränkt, ist mithin zu bejahen.103 Wir wollen nunmehr das „Wie“ der Beschränkung von strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren erörtern. Hierbei gilt, dass die Unschuldsvermutung verletzt wird, sobald den Beschuldigten die „sozialethisch deklassierende und damit strafähnliche Wirkung“104 staatlicher Maßnahmen trifft. Damit soll verhindert werden, dass den Beschuldigten die Folgen einer tatsächlichen Verurteilung aufgrund schuldantizipierender Medienauskünfte der Strafverfolgungsbehörden schon im Ermittlungsverfahren treffen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes schreibt insoweit vor, dass die Unschuldsvermutung eine entsprechend verantwortungsvolle „Zurückhaltung, mindestens eine angemessene Berücksichtigung der zu seiner Verteidigung vorgetragenen Tatsachen und Argumente“105

gebiete. Demzufolge ist eine einseitige und anprangernde Öffentlichkeitsarbeit, die eine Entstehung oder Verfestigung eines Stimmungsklimas öffentlicher Vorverurteilung fördert, unzulässig.106 Zwar kann aufgrund eines entsprechenden Tatverdachtes die Durchführung belastender Ermittlungsmaßnahmen notwendig werden. Indessen ist eine darüber hinausgehende schuldantizipierende Öffentlichkeitsarbeit 100 Instruktiv hierzu „X. against Austria“ (vgl. Yearbook, No. 10 [1967], S. 176 [182]); „G. Ensslin, A. Baader & J. Raspe v / the Federal Republic of Germany“ (vgl. Decisions and Reports No. 14 [1979], S. 64 [112 f.]). 101 Zutreffend OLG Koblenz, StV 1987, S. 430 (431 m. w. N.); OLG Köln, NJW 1987, S. 2682 (2683 f. m. w. N.); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 11 m. w. N.; Kühl in: Hubmann-FS, S. 241 (246 ff. m. w. N.); Peukert in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6, Rndnrn. 162 ff. m. w. N.; Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 11 f. m. w. N. 102 BVerfGE 22, S. 254 (265). 103 Vgl. weiterführend Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 306 ff. m. w. N., zur Bedeutung der Unschuldsvermutung bei Gerichtsberichterstattung. 104 Kühl, Hubmann-FS, S. 241 (247). 105 BVerfGE 35, S. 202 (232); 71, S. 206 (216 f.). 106 Instruktiv von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S 210 ff. m. w. N. Weiterhin auch Erdsieck, NJW 1963, S. 1048 ff. m. w. N.; M-G, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnrn. 12 f. m. w. N.; Eb. Schmidt in: Recht und Staat, S. 55 ff. m. w. N.; Scholderer, ZRP 1991, S. 298 (299 f. m. w. N.).

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

keinesfalls gerechtfertigt.107 Ganz im Gegenteil: Die Ermittlungsbehörden sind viel eher dazu verpflichtet, konkrete Informationssachverhalte vor ihrer Veröffentlichung einer gewissen Selektion zu unterwerfen108 – schließlich liegt es gerade in öffentlich bedeutsamen Ermittlungsverfahren oftmals in ihren Händen, eine einseitig-öffentliche „Inquisition“109 gegen den Beschuldigten zu verhindern. Strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit kann mithin bereits im Ermittlungsverfahren die Schutzgewähr der Unschuldsvermutung (Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) verletzen. Die folgende Analyse einiger Einzelfallbeispiele staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit 110 wird es uns vor dem Hintergrund der Schutzwirkung des Prinzips der Unschuldsvermutung ermöglichen, die Einhaltung der entsprechenden Grenzen zulässiger Medienauskünfte eingehender zu überprüfen.

3. „Fair trial“-Maxime Wir haben bereits festgestellt111, dass die „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3, 6 Abs. 1 EMRK) von fundamentaler Bedeutung für die grundlegenden Strukturen des modernen Strafverfahrens ist. Eine Verletzung kommt vorliegend im Falle eines öffentlich vorverurteilenden Stimmungsklimas zu Lasten des Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren in Betracht. Schließlich kann sich ein derartiges öffentliches Meinungsbild schon im Ermittlungsverfahren nachteilig auf den staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsprozess hinsichtlich der Abschlussentscheidung über Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung (vgl. § 170 StPO) auswirken.112 Diese Gefahr wird durch das strafprozessuale Dilemma, in welchem sich die Staatsanwaltschaft aufgrund der Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) befindet113, zusätzlich verschärft. Zudem besteht die Gefahr, dass sowohl 107 In diesem Sinne Kühl, Hubmann-FS, S. 241 (247 f. m. w. N.); Lampe, NJW 1973, S. 217 f. m. w. N. 108 So auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 210 m. w. N. Vgl. auch die Ziff. 4a, 23 RiStBV (dazu schon oben: 5. Kap. / A. / I. / 3.). Von herausragender Bedeutung ist dabei die Notwendigkeit, im Wege der Öffentlichkeitsarbeit deutlich herauszustellen, dass es sich bisher „lediglich“ um Beschuldigungen, nicht jedoch um bereits feststehende Fakten handelt (vgl. „Petra Krause v / Switzerland“ [Decisions and Reports, No. 13 [1979], S. 73 [75 f.]], OLG Köln, NJW 1987, S. 2682 [2683 f. m. w. N.]; Marxen, GA 1980, S. 365 [369 m. w. N.], Vogler in: IK, EMRK, Art. 6, Rndnr. 410 m. w. N.). 109 Siehe bereits zu Beginn: 1. Kap. A., C., E. 110 Dazu sogleich: 5. Kap. B. II., III. 111 Vgl. schon oben: 4. Kap. B. III. 2. d). 112 So Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 28 m. w. N. Dafür spricht insbesondere das geringe „Anklagerisiko“ der Staatsanwaltschaft, denn schließlich kann eine zu Unrecht angeklagte Person immer noch im Hauptverfahren von dem erkennenden Strafgericht freigesprochen werden. 113 Siehe schon oben: 4. Kap. C. I. 2. 4., E.

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Laien- als auch Berufsrichter ihre gerichtliche Entscheidung nicht mehr ausschließlich aufgrund des justizförmigen Hauptverfahrens, d. h. des eigentlichen „Strafprozesses“, fällen (vgl. § 261 StPO).114 Weiterhin ist denkbar, dass Zeugen und Sachverständige in ihrem Aussageverhalten beeinflusst werden.115 Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Angeklagter, in Sorge um eine erneute mediale Aufbereitung „seines“ Falles, sogar von der Einlegung von Rechtsbehelfen absieht.116 Um derartigen Gefahren wirksam begegnen zu können, unterliegt das moderne Strafverfahren gesetzmäßigen, Fairness gewährleistenden Strukturen.117 Zu deren Durchsetzung wird dem Beschuldigten, abgesehen von dem Aspekt strafjustizieller Selbstbeschränkung, ein Anspruch auf ein faires Strafverfahren zuteil.118 Zur effektiven Durchsetzung dieses Anspruchs kann es mangels aussagekräftiger Kriterien zur Bestimmung einer unfairen Verfahrensbeeinflussung119 nicht auf eine konkrete Beeinflussung ankommen. Vielmehr muss zur Feststellung einer Verletzung der Schutzgewähr der „fair trial“-Maxime bereits die Besorgnis ausreichen, dass Sachverständige, Zeugen oder sogar das erkennende Gericht selbst in ihrer Unvoreingenommenheit hinsichtlich der erhobenen Vorwürfe beeinträchtigt werden.120 114 Hierzu BVerfGE 71, S. 206 (217); BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Nr. 12, S. 5 (6); Hassemer in: Oehler u. a., Einfluß der Medien, S. 61 (67 m. w. N.); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 7 f. m. w. N.; Kühl in: Huber-FS, S. 241 (242 f. m. w. N.). Vgl. diesbezügliche Äußerungen von Berufsrichtern selbst bei: Gerhardt in: Oehler u. a., Einfluß der Medien, S. 19 (21 ff. m. w. N.). Der Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 22, S. 289) ist in dieser grundsätzlichen Frage zurückhaltender und meint, dass mediale Vorverurteilungen als solche die Annahme einer Beeinflussung des Gerichtes noch nicht einmal bei Schöffen rechtfertigen könnten: „Die Tatsache, daß ein Laienrichter das Ergebnis vorwegnehmende Presseveröffentlichungen gelesen hat, kann für sich allein kein Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit rechtfertigen“. 115 Vgl. BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Nr. 13, S. 6 m. w. N.; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 214 ff. m. w. N.; Gross in: Hanack-FS, S. 38 (40 m. w. N.); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 7 f. m. w. N. Umfassend Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 4 ff. m. w. N., zum diesbezüglichen Schutzgedanken einer Einschränkung der Kriminalberichterstattung. 116 Zu diesem Aspekt: BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Nr. 12, S. 5 (6); Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 216 f. m. w. N. Ferner ist der Gefahr eines allgemeinen Vertrauensverlustes in eine objektive und faire, gleichzeitig aber auch effektive Strafrechtspflege entgegenzuwirken. Dieser kann aus dem Umstand resultieren, dass die breite Öffentlichkeit einen Professionalitätsverlust der Strafverfolgungsbehörden befürchtet (vgl. hierzu Hassemer, NJW 1985, S. 1921 [1924 m. w. N.]; ders. in: Einfluß der Medien, S. 61 [67 f.]; Stürner, Gutachten A, 58. DJT [1990], A 27). 117 Hierzu bereits oben: 4. Kap. B. III. 2. d). 118 Ähnlich schon Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 218 f. m. w. N.; Hassemer, NJW 1985, S. 1921 (1923 m. w. N.); Stürner, JZ 1980, S. 1 (4 m. w. N.). 119 Vgl. Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 217, zur latenten Gefahr der unfairen Beeinflussung besonders in Fällen von großem öffentlichen Interesse. 120 Schließlich wird die Qualität einer objektiven und fairen – aber auch effektiven – Strafrechtspflege maßgeblich dadurch mitgeprägt, dass der Beschuldigte selbst den Eindruck

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Mit Blick auf unsere Untersuchung bedeuten die vorstehenden Ausführungen: Verursachen oder fördern die Strafverfolgungsbehörden ein öffentlich vorverurteilendes Stimmungsklima durch ihre Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren, u. U. also eine einseitig-öffentliche „Inquisition“121 gegen den Beschuldigten, beeinträchtigen sie den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Strafverfahren. Demzufolge haben die Ermittlungsbehörden vor allem in Aufsehen erregenden Ermittlungsverfahren – wie schon oben122 gezeigt – wenigstens frühzeitig daraufhin zu wirken, dass die Einleitung der Ermittlungen in der medienöffentlichen Wahrnehmung nicht schon als rechtskräftige Verurteilung gedeutet wird. Zudem ist der Beschuldigte jedenfalls vor den Medien über das Ermittlungsverfahren in Kenntnis zu setzen. Schließlich gilt für die Öffentlichkeitsarbeit während der Ermittlungen der Rahmen der Ziffern 4a, 23 RiStBV123.

III. Zusammenfassung Die Untersuchung des rechtlichen Rahmens strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren124 hat einerseits die Erkenntnis erbracht, dass sich ihre Rechtmäßigkeit entscheidend an der Reichweite des § 4 Abs. 2 LPG ausrichtet. Diesem Abhängigkeitsverhältnis liegt die konsequente Anerkennung einer Beschränkung medienöffentlicher Strafrechtspflege zugrunde, welche das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägt. Demgegenüber wurden die schwerwiegenden Gefahren für die privaten und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten und für die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens offenbar125: So kann konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit eventuell das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) verletzen, und zwar in dessen besonderen Ausprägungen als „Recht auf Anonymität“ im Sinne einer umfassenden Bild- und Namensanonymität (vgl. §§ 22 ff. KUG) und als „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“. Daneben kann Öffentlichkeitsarbeit auch mit zwei fundamentalen Grundsätzen des liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahrens kollidieren: dem Schutzprinzip der Unschuldsvermutung (vgl. gewinnt, das gegen ihn geführte Strafverfahren verlaufe ordnungsgemäß (Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 218 f. m. w. N.). 121 Vgl. dazu bereits oben: 1. Kap. A., C., E. 122 4. Kap. B. III. 2. d). 123 Gleichwohl deren rechtliche Verbindlichkeit „gleich Null“ ist (vgl. oben: 5. Kap. A. I. 3.). 124 Instruktiv hierneben die Untersuchung Kerschers, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 299 ff., zu den kollidierenden Rechtsgütern bei Gerichtsberichterstattung. 125 Vgl. auch überblickhaft Schulz, Medienberichterstattung, S. 6 ff. m. w. N., zu diesem insgesamten „Spannungsverhältnis“.

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Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) und der Schutzgewähr des „fair trial“ (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK). Beide werden schwerwiegend beschädigt, wenn durch Öffentlichkeitsarbeit ein öffentlich vorverurteilendes Stimmungsklima verursacht oder gefördert wird. In einem solchen Fall tragen auch die Strafverfolgungsbehörden die Verantwortung, wenn sich ein Ermittlungsverfahren zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“126 entwickelt.

B. Wirklichkeit des Rechts I. Vorbemerkungen: Integration der Medien durch staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit Wenden wir uns nunmehr, die rechtlich abstrakte Erörterungsebene verlassend, der Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren zu. Grundsätzlich lässt sich zur Medienarbeit im Strafverfahren sagen, dass mittlerweile alle Beteiligten die Möglichkeiten erkannt haben, die eine Integration der Medien u. U. bietet.127 Wie wir bereits festgestellt haben128, kommt der medialen Kriminalberichterstattung in unserer modernen Mediengesellschaft eine außerordentlich wichtige Bedeutung zu. Dabei verfolgt jeder Strafverfahrensbeteiligte eine individuelle Strategie: Seitens der Strafverfolgungsbehörden kann eine medienöffentliche Strafrechtspflege beispielsweise der Polizei nutzen. Deren Tätigkeit wird oftmals äußerst kritisch beurteilt und insofern kann mittels polizeilicher Öffentlichkeitsarbeit eine positive öffentliche Imagepflege betrieben werden. So eröffnet eine medienöffentliche Strafrechtspflege die Möglichkeit der öffentlichkeitswirksamen Präsentation eigener Leistungsnachweise oder kann öffentliche Akzeptanz für bestimmte Strafverfolgungskonzepte schaffen.129 Daneben kann eine Integration der Medien auch für den Staatsanwalt von Nutzen sein, wenn dieser beispielsweise vertrauliche Ermittlungserkenntnisse an Journalisten weiterleitet, um das öffentliche Meinungsklima zu beeinflussen und hierdurch die Fortführung eines Strafverfahrens vielleicht sogar gegen den ausdrücklichen Willen des Dienstvorgesetzten abzusichern.130 Zudem hat die Integration der Medien für die Strafverfolgungsbehörden grundlegende strafverfahrenstaktische Vorteile: Vereinigt sich im Ermittlungsverfahren einerseits die „Definitionsmacht des KriminalHierzu detaillierter schon eingangs: 1. Kap. A., C., E. Siehe auch Ulsamer in: Jauch-FS, S. 221 (222 m. w. N.). 128 Vgl. schon oben: 1. Kap. A. C. E., 3. Kap. D. E. 129 Zu diesen Aspekten instruktiv: Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 34. 130 So wird oftmals versucht, durch die Beteiligung der Öffentlichkeit strafprozessuale Fakten zur Weiterführung eines Strafverfahrens zu schaffen. Instruktiv zu dieser Praxis der „Durchstecherei“: Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 32 ff. 126 127

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justizsystems“131, ist andererseits kein Journalist an irgendein justizförmiges Verfahren gebunden.132 So kann ein Journalist zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwo auf dieser Welt einen Zeugen oder sogar einen Beschuldigten vor laufender Kamera vernehmen und dieses Material danach vollkommen unkontrolliert bearbeiten.133 Eine derartige Kriminalberichterstattung ist nicht selten Anlass für die Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, welche dann wiederum – beispielsweise im Falle einer Durchsuchung – medial verwertet werden können. Gleichermaßen ist denkbar, dass ein Strafverteidiger den Versuch unternimmt, die Medien zu Gunsten des eigenen Mandanten zu vereinnahmen und so gewissermaßen den „Druck der Straße“ zu mobilisieren, obwohl hierbei zu beachten ist, dass bereits der Zugang zu den Medien für den Strafverteidiger ungleich schwerer ist als für die Ermittlungsbehörden.134 Ob nun „Vorverurteilung“ oder „Vorfreispruch“135 – in ihren tatsächlichen Auswirkungen sind Versuche, die Medien schon im Ermittlungsverfahren einzubeziehen, oftmals unkalkulierbar. Die größte Gefahr für den fairen Verlauf des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens geht dabei von Beeinflussungsversuchen seitens der Strafverfolgungsbehörden, d. h. insbesondere der Staatsanwaltschaft, aus.136 Diese bestimmt als „Herrin“137 des Ermittlungsverfahrens dessen Ablauf, d. h. sie besitzt die größte strafverfahrensrechtliche Steuerungsmacht. Außerdem sind es gerade behördliche – „offizielle“ – Medienauskünfte, die in besonderem Maße geeignet sind, als amtliche Mitteilungen138 die Medien und damit auch das öffentliche Meinungsklima zu beeinflussen.139 Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 207. Auch Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 109. 133 Einen Interviewfehlschlag kommentieren Journalisten hinterher gerne mit der bekannten Wendung, die Person habe sich geweigert, zu den erhobenen Vorwürfen Stellung zu beziehen. Eine derartige Kriminalberichterstattung suggeriert der breiten Öffentlichkeit, dass die Person durch ihr Schweigen höchstwahrscheinlich Unrecht verbergen wolle (vgl. hierzu Hamm, Große Strafprozesse, S. 9). Vergessen wird dabei gelegentlich, dass sich der Beschuldigte frei entscheiden darf, ob er sich im Rahmen einer Vernehmung zur Sache einlässt. Weiterhin gilt, dass aus einem Schweigen grundsätzlich keine den Beschuldigten benachteiligenden Schlüsse gezogen werden dürfen (Boujong in: KK, StPO, § 136, Rndnr. 10 m. w. N.). Vgl. auch Berka, Kriminalberichterstattung, S. 9 f. 134 Auch Gatzweiler in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Kriminalität und Medien, S. 212. 135 Braun, Medienberichterstattung, S. 171 ff. m. w. N., zu den Problemen der Vorveröffentlichung, Vorverurteilung und des Vorfreispruchs bzw. den hiermit zusammenhängenden Problemen der medialen „Parallel-Ermittlungen“, des „Scheckbuch-Journalismus“ oder der „Medienkampagnen“. Zu den medialen „Parallel-Ermittlungen“ später noch eingehender: 7. Kap. B. III. 1. 136 Demgegenüber verweist Wagner, Strafprozeßführung über Medien, insbesondere auf den Informationsaustausch zwischen dem Strafverteidiger und den Medien. 137 Vgl. schon oben: 4. Kap. C. I. 1. 4., E. 138 Zur Bedeutung der Wirkung dieser „Amtlichkeit“ später noch genauer (5. Kap. C., 6. Kap. A. I. 3.). 131 132

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Insoweit wird verständlich, warum wir uns im Rahmen der folgenden Ausführungen auf die Erörterung der Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit beschränken werden. Sicherlich hat diese Einschränkung zunächst einen ganz praktischen Hintergrund. Die zusätzliche Untersuchung polizeilicher Öffentlichkeitsarbeit würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Obgleich uns die ähnliche Relevanz der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit für die vorliegende Untersuchung bewusst ist140, sprechen für eine spezielle Beobachtung 139 Man denke hierbei nur an die pressekonferenzähnlichen Medienauskünfte des Berliner Justizsprechers Björn Retzlaff im „Fall Friedman“ (dazu oben: 1. Kap. A.). Vgl. zur besonderen Beeinflussungsmacht der Strafverfolgungsbehörden weiterhin auch Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 241 f. m. w. N. Ausgewogener in seiner diesbezüglichen Beurteilung ist Jahn in: Oehler u. a., Einfluß der Medien, S. 8 f. m. w. N. 140 Auch die Polizei betreibt vielfach eine äußerst offensive Öffentlichkeitsarbeit (Braun, Medienberichterstattung, S. 58). Vgl. weiterhin Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 192, der insbesondere die polizeiliche Auskunftsarbeit als Quelle medialer Berichterstattung ausmacht. So auch Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 34. Eingehender Reuband, KrimJournal 10 (1978), S. 174 ff. m. w. N., zu den Polizeipressestellen als Vermittlungsinstanz zwischen Kriminalitätsgeschehen und Kriminalberichterstattung. Die Polizei gibt Ermittlungsergebnisse oftmals ohne vorherige Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft an die Medien weiter (Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 243). Sie steht fortwährend unter hohem öffentlichen Erfolgsdruck und versucht oftmals, über eine weitgehende Beteiligung der breiten Öffentlichkeit den Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit zu erbringen (Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 34, 42 ff.). Beispielhaft für derartige polizeiliche Profilierungsversuche, welche oftmals durch die Hoffnung auf eine baldige Beförderung motiviert sind, schildert Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 47 ff., den Fall eines Polizeibeamten, der sich in der Neuen Revue als „Sherlock Holmes von Ost-Westfalen“ feiern ließ. Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 193 m. w. N., fordert in diesem Zusammenhang eine Beschränkung polizeilicher Auskünfte auf unmittelbare Beobachtungen am Tatort. Durch die vorschnellen Veröffentlichungen vorläufiger Ermittlungserkenntnisse – z. B. der Identität des Beschuldigten – wird ein Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung geschürt. Anschauliche Fallbeispiele für eine derartige polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit sind etwa der Fall der „vierzehnjährigen Dirne“ (Darstellung bei von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 17 ff. m. w. N.) oder aber der Fall einer Frau, die im Zusammenhang mit dem „Ponto-Mord“ im Frühherbst 1977 verhaftet wurde und über die öffentlich geurteilt wurde, sie (ihr Name wurde tatsächlich genannt) habe „dick in der Terrorszene“ gesteckt. Der Haftbefehl wurde sodann vom Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof nach fünf Tagen mangels dringenden Tatverdachtes aufgehoben und das Ermittlungsverfahren hiernach eingestellt (eingehende Darstellung bei Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 17 ff. 241 m. w. N.). Noch ein Fall beispielloser „Stimmungsaufheizung und Sensationsanstachelung“ (LG Frankfurt, StV 1981, S. 421 [428]) ist schließlich der Fall eines Mannes aus Frankfurt am Main, der als „Vampir von Sachsenhausen“ in die Mediengeschichte eingegangen ist. Auch diesem Fall war wieder eine reißerische Pressemitteilung der Frankfurter Polizei vorausgegangen (ausführlichere Schilderung bei Gerhardt in: Oehler u. a., Einfluß der Medien, S. 19 [37 f. m. w. N.]). Aufgrund dieser Umstände wurde in den vergangenen Jahren kontrovers über eine bessere Strukturierung polizeilicher Medienarbeit diskutiert, und es ergingen zumindest vereinzelt behördeninterne Verfügungen, welche die Auskunftskompetenz klar zuweisen und die polizeiliche Medienarbeit grundlegender einschränken sollten. Deren faktischer Einfluss war und ist jedoch denkbar gering (hierzu Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 10 m. w. N.).

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staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit ferner gewichtige inhaltliche Gründe: Wie gerade dargelegt, kommt der Staatsanwaltschaft als „Herrin“141 des Ermittlungsverfahrens eine besondere strafverfolgungsrechtliche Steuerungsmacht im Ermittlungsverfahren zu. Aufgrund dieser speziellen „Befähigung“ und der besonderen Aufmerksamkeit, die seitens der breiten Öffentlichkeit amtlichen Mitteilungen entgegengebracht wird, liegt es vorrangig in den Händen der Staatsanwaltschaft, gerade aufsehenerregende Ermittlungsverfahren nicht in eine einseitig-öffentliche „Inquisition“142 umschlagen zu lassen. Schließlich kommt es nach dem Abschluss der Ermittlungen entscheidend auf die staatsanwaltschaftliche Beurteilung des Falles an, denn sie fällt die für den Fortgang des Strafverfahrens maßgebliche Entscheidung über Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung (vgl. § 170 StPO). Insoweit bemerkte schon Claus Roxin: „Im übrigen hat die Polizei jedenfalls im Rahmen der Strafverfolgung (abgesehen von speziellen Fahndungsmaßnahmen) keine eigene Medienpolitik zu betreiben. Herrin des Vorverfahrens ist die Staatsanwaltschaft, die allein die Ermittlungen zu würdigen hat.“143

II. Politische Ermittlungsverfahren Zuerst werden wir Beispiele staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit in Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit politischen Sachverhalten untersuchen.144 Dabei handelt es sich um Sachverhalte, die unmittelbar dem politischen Leben in unserem Land entspringen und an politische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anknüpfen.

Vgl. schon oben: 4. Kap. C. I. 1. 4., E. Dazu bereits oben: 1. Kap. C. 143 Roxin, NStZ 1991, S. 153 (159). Er meint in diesem Zusammenhang, polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit solle sich daher auf den Ermittlungskern des Typus des strafrechtlichen Vorwurfs beschränken. 144 Es wird nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Vielmehr wurden einzelne instruktive Beispiele ausgewählt, um die Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit beispielhaft darzustellen. Eine lückenlose Besprechung aller in diesem Kontext relevanten Beispiele ist wohl kaum möglich. Die im Folgenden verwendeten Zitate entstammen der detaillierten Recherche in diversen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen. Vor allem wurde hierbei auf die Kriminalberichterstattung des bundesweit marktführenden Nachrichtenmagazins Der Spiegel eingegangen. Verwendet wurden ausschließlich direkte Zitate von Strafverfolgern. Es wurde also davon ausgegangen, dass es sich um wahrheitsgetreue Zitate handelt (weiterhin Herbort, Im Focus des Spiegel – im Spiegel des Focus [2002], zur Medienberichterstattung von Nachrichtenmagazinen). 141 142

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1. Die achtziger Jahre Zunächst sollen konkrete Beispiele politischer Sachverhalte aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erörtert werden: Dies sind die Flick- und Parteispendenaffäre, die Naphtali-Spendenaffäre, die „Waterkantgate“-Affäre und die U-Boot-Affäre.145 a) Flick- und Parteispendenaffäre Wenden wir uns zunächst der Flick- und Parteispendenaffäre zu. Das kriminalsoziologische Phänomen der öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren ist insbesondere unter dem Aspekt der öffentlichen Diskussion staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsergebnisse vor der Hauptverhandlung spätestens seit dieser Affäre fester Bestandteil der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion.146 Im Jahre 1982 untersuchte der 54. Deutsche Juristentag (DJT) in Nürnberg die Frage, ob „die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Strafverfahrens neu zu gestalten, insbesondere zur Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten weitere nichtöffentliche Verfahrensgänge zu entwickeln“ seien.147 Im Jahre 1984 bat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung zu überprüfen, ob das Prinzip des angelsächsischen Prozessrechts, dass öffentliche Vorverurteilungen ein faires Verfahren nicht erschweren dürfen, auf deutsches Strafverfahrensrecht übertragen werden kann.148 Der dem Deutschen Bundestag im Jahre 1985 zugeleitete Bericht „Öffentliche Vorverurteilung und faires Verfahren“149 befasst sich mit den möglichen Auswirkungen vorverurteilender Medienberichterstattung auf das Strafverfahren. Allein zwischen 1979 und 1982 erschienen daneben mehrere bedeutende Monographien zu diesem Thema.150 Vgl. unten: 5. Kap. B. II. 1. a) – d). So Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 128. Ähnlich auch Schulz, Medienberichterstattung, S. 9 f. m. w. N. Dennoch existierte die Problematik vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit auch schon vorher. So äußerte die Staatsanwaltschaft z. B. während der Ermittlungen gegen den damaligen Landwirtschaftsminister Ertl (FDP): „Unsere Neugierde war geweckt. Der Anfangsverdacht hat sich weiter dann erhärtet“ (Der Spiegel, Nr. 9 / 1981, S. 35). Bemerkenswert war insbesondere auch, dass sowohl das Aktenzeichen des Ermittlungsverfahrens als auch ein Vernehmungsprotokoll dem Magazin Der Spiegel vorgelegen haben (Nr. 6 / 1981, S. 90 [91]). Ein weiteres Beispiel sind auch die öffentlichen Bewertungen der Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren gegen den damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Heinz Schwarz: Der CDU-Politiker habe sich „vor den Karren illegaler Geschäfte spannen lassen“. Weiterhin kommentierten Beamte des Landes- bzw. Bundeskriminalamtes eine Durchsuchung mit den Worten, sie wären „sehr fündig“ geworden und hätten „Goldstücke“ sichergestellt (Der Spiegel, Nr. 30 / 1980, S. 46 f.). 147 So der Titel des Gutachtens C – Abteilung Strafprozessrecht – von Heinz Zipf. 148 BT-Drs. 10 / 1496 vom 24. Mai 1984. 149 BT-Drs. 10 / 4608 vom 27. Dezember 1985. Erschienen auch als selbständige Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht: Eser / Meyer (Hrsg.), Öffentliche Vorverurteilung (1986). 145 146

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

aa) Sachverhalt Welche Umstände hatten diesen intensiven, gesellschaftsübergreifenden Diskurs verursacht? Im Mittelpunkt der Affäre standen der Unternehmer Friedrich-Karl Flick und sein Unternehmen. Flick wurde damals vorgeworfen, er sei durch Spenden an hochrangige Bundespolitiker von CDU / CSU, FDP und SPD, d. h. insbesondere an den damaligen Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und seinen Amtsvorgänger Hans Friderichs (beide FDP), in den Genuss steuerlicher Befreiungstatbestände gekommen. Diesen Vorwürfen waren folgende Ereignisse vorausgegangen: Im Januar 1975 verkaufte der Flick-Konzern 29% seiner damaligen Aktienbeteiligung an dem deutschen Unternehmen Daimler-Benz – der Konzern hielt damals eine Aktienbeteiligung in Höhe von 39% – für rund zwei Milliarden DM an die Deutsche Bank. Nach damaligem Steuerrecht hätte mehr als die Hälfte des aus diesem Verkauf resultierenden Gewinnes an das zuständige Finanzamt abgeführt werden müssen. Um diese steuerliche Belastung zu vermeiden, so lautete der damalige Vorwurf, habe der Flick-Konzern den damaligen § 6b Einkommensteuergesetz (EStG) beziehungsweise den § 4 Auslandsinvestitionsgesetz (AIG) zu seinen Gunsten zur Anwendung bringen wollen. Diese Regelungen normierten rechtsfolgenseitig die Steuerbefreiung eines Gewinnes, der aufgrund der teilweisen Veräußerung der Beteiligung an einem Unternehmen anfällt; allerdings nur, falls der aus dem Verkauf resultierende Gewinn reinvestiert wird. Diese Reinvestition musste als „volkswirtschaftlich förderungswürdig“ erachtet werden – unabhängig davon, ob sie im Inland (in diesem Fall wäre u. U. § 6b EStG zur Anwendung gekommen) oder im Ausland (dann wäre möglicherweise der Anwendungsbereich von § 4 AIG eröffnet gewesen) getätigt wurde. Sinn und Zweck dieser Steuerbefreiungstatbestände war die Förderung gesamtwirtschaftlich wünschenswerter Anpassungsprozesse durch deren steuerliche Entlastung. Über eben jene volkswirtschaftliche Förderungswürdigkeit entschied damals das Bundeswirtschaftsministerium auf Antrag und „im Benehmen“ mit dem Bundesfinanzministerium. An dieser Stelle schloss sich der Kreis der gegenüber dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP), der vorher bis 1978 Schatzmeister der FDP in Nordrhein-Westfalen gewesen war, und gegenüber Hans Friderichs (FDP), dem Amtsvorgänger Graf Lambsdorffs, erhobenen Vorwürfe: Zwischen 1976 und 1981 stellte der Flick-Konzern insgesamt drei solcher Anträge auf Steuerbefreiung, die seitens der zuständigen Bundesministerien allesamt positiv be150 von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien (1979); Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens (1980); Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz (1982); Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz (1982); Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte (1982). Bereits 1969: Zitscher, Presse und Strafrichter.

B. Wirklichkeit des Rechts

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schieden wurden und so eine Steuerersparnis von 840 Millionen DM zu Gunsten des Konzerns bewirkten. Als später im Rahmen von Durchsuchungen in der Aktentasche des damaligen Flick-Buchhalters Rudolf Diehl ein Schlüssel zu einem Schließfach gefunden wurde, in dem wiederum ein Buch151 mit Eintragungen über Spenden an Politiker von CDU / CSU, FDP und SPD deponiert worden war, mutmaßte man über einen Zusammenhang zwischen den gewährten Steuerbefreiungen und den Spenden.

bb) Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen Die Flick- und Parteispendenaffäre war in massivem Umfang Gegenstand bundesweiter und jahrelanger Medienberichterstattung. In der Öffentlichkeit wurde heftig über die Regelungen des Parteispendenrechts diskutiert. Die Affäre bewegte als „Politskandal“ über viele Jahre hinweg die öffentliche Meinung. Diese intensive Medienberichterstattung und die hierdurch erregte Öffentlichkeit erzeugten zusammen einen sehr starken Druck auf die sachbefassten Strafverfolger, d. h. vor allem auf die Bonner Staatsanwaltschaft. Man erwartete von ihnen die restlose Aufklärung des besorgniserregenden Anscheins organisierter Einflussnahme der freien Wirtschaft auf politische Entscheidungsprozesse. Wie verhielt sich nun aber die Staatsanwaltschaft? Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt wurde der den strafrechtlichen Ermittlungen zugrunde liegende Sachverhalt öffentlich kommentiert, so dass gerade vor dem Hintergrund des erregten öffentlichen Stimmungsklimas der Eindruck entstehen musste, die Beschuldigten hätten erwiesenermaßen wie „Kriminelle“ gehandelt.152 Darüber hinaus wurden einzelne Ermittlungserkenntnisse noch während der Durchführung weiterer Ermittlungen öffentlich beurteilt.153 Insgesamt wurden 151 Siehe den Abdruck dieser sog. „Diehl-Liste“ bei Germis, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Anh. 2 (S. 137 ff.). 152 So zitiert Der Spiegel z. B. einen damaligen Ermittler mit den Worten „oft hat man einen Faden, dann noch einen Faden, und plötzlich ist es ein ganzes Geflecht“ (Nr. 50 / 1981, S. 17 [19]). Ferner bezeichnete die Staatsanwaltschaft die sog. „Staatsbürgerliche Vereinigung 1954 e.V.“ noch während der laufenden Ermittlungen als „Spendensammelbank“ (Der Spiegel, Nr. 39 / 1983, S. 25). Im Kontext der Flick- und Parteispendenaffäre sagte man insbesondere auch der Hessen-SPD illegale Spendenpraktiken nach. Hier äußerte der damalige Erste Oberstaatsanwalt Friedrich Hoffmann: „Offenbach-Land, das war fast so schön wie Liechtenstein“ (Der Spiegel, Nr. 26 / 1982, S. 27 [30]). 153 Der damals ermittelnde Bonner Oberstaatsanwalt Dieter Irsfeld äußerte schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Ermittlungen, dass „die Staatsanwaltschaft Bonn (. . . ) bei den sichergestellten Unterlagen der Firma Friedrich Flick gewisse Hinweise darauf gefunden (hat), daß die Firma Flick im Zusammenhang mit der ihr gemäß Paragraph 6 b des Einkommenssteuergesetzes erteilten Bescheinigung für einen Steuerabzug aus der Veräußerung ihrer Daimler-Benz-Beteiligung Amtsträgern Zuwendungen versprochen oder gemacht hat“ (Der Spiegel, Nr. 52 / 1981, S. 23). Die öffentliche Wirkung derartiger Beurteilungen kann auch nicht durch die relativierende Äußerung, dass „es (. . . ) zur Zeit völlig verfehlt (wäre), dabei

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Medienauskünfte über konkrete Ermittlungssachverhalte und -erkenntnisse und schließlich sogar in Bezug auf die Identität der Beschuldigten äußerst großzügig erteilt. Hierdurch entstand in der breiten Öffentlichkeit schon zu einem frühen Zeitpunkt der Eindruck, man habe die Schuldigen bereits gefasst.154 Die gravierendsten Auswüchse staatsanwaltschaftlicher Indiskretion wurden jedoch in dem damaligen Vorwurf offenbar, vertrauliche Ermittlungsergebnisse an Journalisten lanciert zu haben: So wurden beispielsweise „Zusatzvermerke“ der Kölner Generalstaatsanwaltschaft, staatsanwaltschaftliche Zeugenvernehmungsprotokolle und Eingaben der Strafverteidiger öffentlich bekannt.155 Insgesamt stellen sich die damaligen Umstände der Flick- und Parteispendenaffäre wie folgt dar: Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen waren von erheblichem medialen Interesse, existierte damals in der Bevölkerung doch eine tiefe Besorgnis angesichts des schwerwiegenden Verdachtes der organisierten Einflussnahme der freien Wirtschaft auf politische Entscheidungsprozesse. Ein derartiger Verdacht ist zweifelsfrei eine zutiefst besorgniserregende Vorstellung, denn er trifft das Wesen unseres freien und demokratischen Staatsganzen. Angesichts dieser öffentlichen Besorgnis verfolgte die Staatsanwaltschaft eine sehr großzügige Informationspolitik. Hierbei ist zunächst begrüßenswert, dass man die Öffentlichkeit vor allem über den Fortgang der Ermittlungen informieren wollte; gingen die Ermittlungen der Sache nach doch gewissermaßen „alle an“. Die Strafverfolgungsbehörden wollten daher vielleicht vermeiden, dass die Ermittlungen irgendwie ins Stocken geraten. Man wollte alles richtig machen und die Vorwürfe vollständig von bestimmten Sachverhalten oder Namen auszugehen“ (Der Spiegel, Nr. 52 / 1981, S. 23) abgemildert werden. Zudem gelangten Beurteilungen von Durchsuchungen an die Öffentlichkeit: Es wären Unterlagen „außergewöhnlichen Umfanges“ beschlagnahmt worden (Der Spiegel Nr. 3 / 1982, S. 33), die aufgefundenen Hinweise hätten die Ermittler „durch die Zähne pfeifen“ lassen (Der Spiegel, Nr. 29 / 1982, S. 21) und bei den Durchsuchungen hätte man ein „Pharaonengrab“ entdeckt (Der Spiegel, Nr. 48 / 1983, S. 25 [28]). 154 So titelte etwa das Nachrichtenmagazin stern am 2. Dezember 1982: „Für die Bonner Staatsanwaltschaft steht fest: Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff und sein Vorgänger Hans Friderichs müssen sich wegen Korruptionsvorwurfs verantworten.“ Vgl. weiterhin instruktiv Ziegler, StrFO 1995, S. 68 (69), zur Pressekonferenz der Bonner Staatsanwaltschaft anlässlich der Anklageerhebung gegen den damaligen Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff: „Vielen von uns werden noch die Bilder gegenwärtig sein, die damals vom Fernsehen übertragen wurden: Der Auftritt der sechs Herren im Saal der Bundespressekonferenz, auf der Bank, wo sonst Bonner Politiker den Journalisten Rede und Antwort stehen. Der Eindruck jedenfalls war tribunalähnlich.“ Eine Abbildung, die diese Eindrücke bestätigt, findet sich beispielsweise in: Der Spiegel, Nr. 50 / 1983, S. 19 [25]). 155 Siehe z. B. die Veröffentlichungen in: Der Spiegel, Nr. 52 / 1981, S. 23 f.; Nr. 53 / 1981, S. 17 (20); Nr. 2 / 1982, S. 23 ff.; Nr. 3 / 1982, S. 31 f. (33, 35 ff.). Weiterhin die ausführlichen Veröffentlichungen der staatsanwaltschaftlichen Zeugenvernehmungsprotokolle in: Der Spiegel Nr. 48 / 1982, S. 17 ff.; Nr. 4 / 1983, S. 17 (20, 27). Vgl. schließlich die frühzeitige Veröffentlichung von Eingaben der Verteidigung (Der Spiegel, Nr. 12 / 1983, S. 17 f.) und die Veröffentlichung der Anklageschrift gegen Graf Lambsdorff, Hans Friderichs, Eberhard von Brauchitsch (ehemaliger Flick-Manager) u. a. in: Der Spiegel, Nr. 50 / 1983, S. 19 (21 ff.).

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aufklären. Der Schleier mutmaßlichen „Politfilzes“ sollte vollständig beseitigt werden. Bei alledem blieb indessen unberücksichtigt, dass eine derartig offensive Öffentlichkeitsarbeit viel eher dazu geeignet ist, die öffentliche Verdachtsschöpfung gegenüber den Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren kräftig anzufachen. Angesicht der Schwere der strafrechtlichen Vorwürfe war die Vorstellung, „die Schuldigen“ bereits ermittelt zu haben, nur allzu beruhigend. Wird öffentliche Empörung durch die Medien transportiert und durch eine äußerst offensive Informationspolitik der Staatsanwaltschaft verstärkt, ist die faire Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen ernsthaft in Gefahr. Eine so geführte Untersuchung, die – vielleicht sogar von dem aufrichtigen Willen zur restlosen Erforschung und Aufklärung strafrechtlicher Anschuldigungen getragen – maßgeblich von ergebnisorientierten Motiven geprägt wird, läuft Gefahr, die Grenzen zulässiger Strafverfolgung im liberalen Rechtsstaat zu überschreiten. In dem Moment, in welchem die Staatsanwaltschaft als federführende Ermittlungsbehörde sodann der Wille zu liberal-rechtsstaatlicher Selbstbeschränkung und der Mut zu unpopulären Entscheidungen verlassen, gerät das Ermittlungsverfahren „außer sich“ und wird zur einseitigöffentlichen „Inquisition“156. Derartige Ermittlungen, die vornehmlich darauf abzielen, einen von den Medien und der breiten Öffentlichkeit als „Schuldigen“ ausgemachten Beschuldigten um jeden Preis „dingfest“ zu machen, sind im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Überzeugung untragbar.

b) Naphtali-Spendenaffäre Im Jahre 1986 wurde der SPD vorgeworfen, Geldbeträge in zweistelliger Millionenhöhe „gewaschen“ zu haben. Spenden an die gemeinnützige Friedrich-EbertStiftung der SPD sollen über Scheinadressen einer israelischen Partnerorganisation – der israelischen Fritz-Naphtali-Stiftung – und Konten in der Schweiz an die SPD überwiesen worden sein. Im Zusammenhang mit der durch die Flick- und Parteispendenaffäre angestoßenen öffentlichen Diskussion über den zulässigen Rahmen von Parteispenden und der Parteienfinanzierung überhaupt, erregten diese Vorwürfe in besonderem Maße öffentliches Aufsehen. Schon während der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden konkrete Erkenntnisse öffentlich kommentiert, so dass zwangsläufig der Eindruck entstehen musste, die strafgerichtliche Feststellung der individuellen Schuld der Beschuldigten sei lediglich reine Formsache. So äußerte ein sachbefasster Ermittler, man stehe „kurz vor dem Ziel“157. Im Zusammenhang mit einem von der Bonner Staatsanwaltschaft gestellten und durch die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt gewährten Rechtshilfeersuchen stellte der Staatsanwalt Walter Rothenfluh fest, dass Rechtshilfe gewährt worden sei, weil es 156 157

Dazu schon oben: 1. Kap. A., C., E. Der Spiegel, Nr. 28 / 1986, S. 17 (19).

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

um „ganz gewöhnlichen Betrug“158 gehe. Darüber hinaus ließen sich die ermittelnden Staatsanwälte medienwirksam abbilden.159 Schließlich kam es – wie auch schon in der Flick- und Parteispendenaffäre160 – zur Veröffentlichung konkreter Inhalte staatsanwaltschaftlicher Vernehmungsprotokolle.161

c) „Waterkantgate“-Affäre Im Jahre 1987 wurde gegen den damaligen CDU-Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein Uwe Barschel und dessen Berater Reiner Pfeiffer der schwerwiegende Vorwurf erhoben, Barschels damaligen Gegenkandidaten im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf, den SPD-Spitzenkandidaten Björn Engholm – entsprechend „Watergate“ – ausspioniert zu haben. Es sei beabsichtigt gewesen, durch eine gezielte berufliche und persönliche Diffamierung Engholms einen Vorsprung in der Wählergunst des bevorstehenden Landtagswahlkampfes zu erreichen. Durch diese öffentlichen Vorwürfe spitzte sich der öffentliche Druck auf Barschel schließlich so massiv zu, dass sich dieser im September 1987 zu einer „Ehrenwort-Erklärung“ veranlasst sah. Hierin versicherte Barschel, von derartigen Wahlkampfaktionen nichts gewusst und mit diesen auch nichts zu tun gehabt zu haben. Dennoch trat Barschel eine Woche später vom Amt des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten zurück. Danach wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt. Im Oktober 1987 wurde Uwe Barschel sodann in einem Genfer Hotelzimmer tot aufgefunden. In der sog. „Waterkantgate“-Affäre162 hatte unter anderem die Staatsanwaltschaft Lübeck ermittelt. Hierdurch erfuhr die Affäre eine „dramatische Wende“163. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen richteten sich schließlich gegen Uwe Barschel selbst. Die Staatsanwaltschaft Lübeck beantragte daraufhin beim Schleswig-Holsteinischen Landtag, die Immunität Barschels aufzuheben. Schließlich hegte sie den Verdacht, Barschel habe bei einer Anzeige mitgewirkt, welche den SPD-Spitzen-kandidaten Björn Engholm fälschlicherweise der Steuerhinterziehung beschuldigt hatte.164 Die Lübecker Staatsanwaltschaft beließ es aber nicht bei der Veröffentlichung der Tatsache ihrer Ermittlungen; vielmehr stellte sie öffentlich fest, dass die bisherigen Ermittlungserkenntnisse Barschels individuelle Schuld nahe legten.165 Ein derartiges Vorpreschen in Gestalt der frühzeitigen öfDer Spiegel, Nr. 39 / 1987, S. 83. Vgl. die Abbildung in: Der Spiegel, Nr. 28 / 1986, S. 17 (19). 160 Siehe gerade: 5. Kap. B. II. 1. a). 161 So veröffentlichte Der Spiegel, Nr. 28 / 1986, S. 17 (21 f.), Inhalte einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung des sog. „SPD-Bankiers“ Walter Hesselbach. 162 Der Spiegel, Nr. 42 / 1987, S. 22. 163 Der Spiegel, Nr. 42 / 1987, S. 22 (23). 164 Dazu Der Spiegel, Nr. 42 / 1987, S. 22 (23). 158 159

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fentlichen Beurteilung konkreter Ermittlungserkenntnisse ist in besonderem Maße geeignet, ein Stimmungsklima der öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren herbeizuführen und zu fördern. Gerade in öffentlichkeitsbedeutsamen Ermittlungsverfahren bringt die Bevölkerung derartigen Verlautbarungen seitens der federführenden Ermittlungsbehörde eine besondere Aufmerksamkeit entgegen. Als amtlichen Medienauskünften wird ihrem Inhalt ein besonderes öffentliches Vertrauen – gewissermaßen im Sinne eines „nun ist es offiziell“ – entgegengebracht.166

d) U-Boot-Affäre Vom 18. Dezember 1986 bis zum 16. Februar 1987 und vom 20. Mai 1987 bis zum 23. Oktober 1990 tagte der U-Boot-Pläne-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages.167 Dieser sollte unter anderem untersuchen, inwiefern Mitglieder der damaligen Bundesregierung politische und juristische Verantwortung im Zusammenhang mit möglicherweise rechtswidrigen Lieferungen von Unterseebooten oder Konstruktionsplänen für den Unterseebootsbau an die Republik Südafrika, insbesondere seitens der Howaldtswerke Deutsche Werft AG und des Lübecker Ingenieurkontors, getragen haben. Im Zuge dieser parlamentarischen Untersuchung wurden staatsanwaltschaftliche Ermittlungen durchgeführt.168 Diese Ermittlungen wurden von der öffentlichen Diskussion und Bewertung gewonnener Ermittlungserkenntnisse begleitet. So kommentierte beispielsweise der damalige Leitende Oberstaatsanwalt Lothar von Raab-Straube, der sich im Rahmen der Kriminalberichterstattung auch abbilden ließ169, zahlreiche Durchsuchungen mit den Worten, diese hätten „den Anfangsverdacht gegen Vertreter und ehemalige Angehörige (der verdächtigten Firmen) bestärkt“170. Zudem bemerkten die Kieler Staatsanwälte in Bezug auf die beschlagnahmten Materialien, dass sie mittlerweile davon ausgingen, dass „insgesamt mehr geliefert wurde, als nur unfertige Pläne“171.

165 Die Lübecker Staatsanwaltschaft stellte öffentlich fest, dass Barschel eine Kopie der besagten Anzeige „entgegen seiner Darstellung ( . . . ) auch erhalten hat“ und dass hierfür eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ spreche (Der Spiegel, Nr. 42 / 1987, S. 22 [23]). 166 Vgl. zur Wirkung „amtlicher“ Medienauskünfte auf die öffentliche Meinungsbildung über öffentlichkeitsbedeutsame Ermittlungsverfahren auch schon einleitend: 5. Kap. B. I. 167 Einsetzungsantrag: BT-Drs. 10 / 6659, 10 / 6709, 11 / 50, 11 / 84; Schlussbericht: BTDrs. 11 / 8109, 11 / 8176. 168 Siehe auch die Übersicht im Schlussbericht: BT-Drs. 11 / 8109, S. 7 f., 9. 169 Vgl. Der Spiegel, Nr. 13 / 1990, S. 127 (128). 170 Der Spiegel, Nr. 13 / 1990, S. 127 (128). 171 Der Spiegel, Nr. 14 / 1990, S. 29.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

2. Die neunziger Jahre bis heute Nunmehr sollen einzelne Beispiele politischer Sachverhalte aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis heute erörtert werden. Ausgewählt wurden der CDU-„Parteispenden-Skandal“172 und der SPD-„Müll- und Spenden-Skandal“173.

a) CDU-„Parteispenden-Skandal“ aa) Komplex: Fuchs-Spürpanzer Im September 1999 wurde Karlheinz Schreiber in Toronto (Kanada) verhaftet. Ihm wurde von der Augsburger Staatsanwaltschaft vorgeworfen, zu Beginn der neunziger Jahre durch die Zahlung von Schmiergeldern in Millionenhöhe an hochrangige deutsche Politiker – insbesondere im Verteidigungsministerium – und Industrielle ermöglicht zu haben, dass von der Firma Thyssen Hentschel hergestellte „Fuchs-Spürpanzer“ nach Saudi-Arabien geliefert werden konnten. Die hieraus resultierenden Provisionen in Millionenhöhe, so die Vorwürfe, habe sich Schreiber hinterher mit Spitzenpolitikern von CDU / CSU – z. B. dem ehemaligen CDUSchatzmeister Walter Leisler Kiep und dem damaligen Staatssekretär im Verteidigungsministerium Holger Pfahls – geteilt. Vor dem Hintergrund dieser Vorwürfe wurde wegen der vorgeblichen Provisionsgelder, die steuerlich nicht erklärt worden sein sollen, wegen des Verdachtes der Steuerhinterziehung ermittelt. Sehr früh gab der Chef der Augsburger Staatsanwaltschaft Reinhard Nemetz öffentliche Erklärungen ab: „Wir haben nun die zentrale Figur des gesamten Komplexes. Deshalb könnte jetzt ganz schön Bewegung in die Sache kommen.“174 Durch derartige Äußerungen wird der Beschuldigte – gewissermaßen als „Pate“ – öffentlich angeprangert. Eine solche Öffentlichkeitsarbeit reduziert den Ermittlungssachverhalt auf die Person der mutmaßlichen Zentralgestalt eines behaupteten kriminellen Geschehens. Insoweit kann auch von einem „Pate-Effekt“ gesprochen werden. Hierdurch wird zumindest leichtfertig eine vereinfacht-kanalisierte Wahrnehmung in der Bevölkerung verursacht und insofern die Gefahr einer Aufheizung der öffentlichen Stimmungslage bzw. das Umschlagen der Ermittlungen in eine einseitig-öffentliche „Inquisition“175 signifikant erhöht.

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Sogleich: 5. Kap. B. II. 2. a). Danach: 5. Kap. B. II. 2. b). Der Spiegel, Nr. 36 / 1999, S. 112. Dazu schon oben: 1. Kap. A. C. E.

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bb) Komplex: Leuna / Elf-Aquitaine Weiterhin wurde Dieter Holzer beschuldigt, als Vermittler für den französischen Ölkonzern Elf-Aquitaine bei dem Neubau einer Raffinerie im ostdeutschen Leuna und dem Kauf des ostdeutschen Tankstellennetzes Minol Provisionen in Millionenhöhe erhalten zu haben. Diese soll Holzer, nach Einbehalt der eigenen Provision, an Elf-Manager und Berater sowie an französische und deutsche Spitzenpolitiker ausbezahlt haben.176 Obwohl die Saarbrücker Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen Dieter Holzer im Jahre 2002 eingestellt hatte, wurden die staatsanwaltschaftlichen Bemerkungen zu dieser Einstellung öffentlich diskutiert. Hierin heißt es177: Holzers Einlassung, in der er im Mai 2001 erklärt hatte, dass ausschließlich er und niemand sonst ein Honorar erhalten hätte, sei „nicht überzeugend“. Transaktionen seien „überwiegend nicht nachvollziehbar“ und „ohne erkennbaren Hintergrund“ getätigt worden. Holzer habe vielmehr ein kompliziertes System geschaffen, welches „deutlich dafür“ spreche, dass es „allein dem Zweck dient, Zahlungsflüsse zu verschleiern beziehungsweise den Endverbleib der Gelder zu verdecken“. Der Saarbrücker Oberstaatsanwalt Raimund Weyand ging sogar so weit, Folgendes abschließend festzuhalten: „Es sei offensichtlich, dass die gewählte Unternehmens- beziehungsweise Kontenstruktur den Charakter einer ,Geldwaschanlage‘ hat.“178 Der Spiegel kommentierte die Ermittlungen schließlich mit der Beurteilung: „Die Justiz hat offensichtlich versagt.“179

176 Nachdem sich ein Konsortium unter Führung von Elf-Aquitaine im Jahre 1992 verpflichtet hatte, eine neue Raffinerie in Leuna zu bauen, prüfte die Generalbundesanwaltschaft die Akten der Genfer Strafverfolger in Sachen Dieter Holzer und Leuna / Elf-Aquitaine im Sommer 2001. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass man nicht zuständig sei. Nichtsdestotrotz diskutierte der Bundesanwalt Bruno Jost die vorliegenden Ermittlungserkenntnisse öffentlich und gab entsprechende Bewertung ab: Die Aussagen der ehemaligen Elf-Manager seien „sowohl in sich als auch im Verhältnis zueinander teilweise unklar, widersprüchlich oder sogar falsch“. Der Vorgang stelle ein „Labyrinth“ dar und die Provisionen Holzers seien „in ein außerordentlich komplexes und verzweigtes System von Konten verschiedener Firmen, Stiftungen und Privatpersonen eingespeist (worden), flossen teilweise – ohne erkennbaren wirtschaftlichen Grund – an ihre Ausgangspunkte zurück, wurden umgewechselt oder hin und her überwiesen, ehe zum Teil erhebliche Beträge durch Überweisungen oder Barabhebungen abflossen“. Diese „zum Teil nicht nachvollziehbaren Transaktionen“, so Jost, „lassen eine strafrechtlich relevante Finanzierung Dritter im Zusammenhang mit dem Leuna-Geschäft ebenso wenig ausgeschlossen erscheinen, wie sie eine solche belegen“ (vgl. zum Ganzen: Der Spiegel, Nr. 52 / 2001, S. 34.). 177 Vgl. Der Spiegel, Nr. 27 / 2002, S. 28. 178 Der Spiegel, Nr. 27 / 2002, S. 28. 179 Nr. 27 / 2002, S. 28.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

cc) Ausweitung der „Schmiergeldaffäre“ zum CDU-„Parteispenden-Skandal“ Die Vorgänge um die „Fuchs-Spürpanzer“ und der Komplex „Leuna / Elf-Aquitaine“ wurden von den Medien und der bundesdeutschen Öffentlichkeit zunächst als „Schmiergeldaffäre“180 wahrgenommen. Zum CDU-„Parteispenden-Skandal“181 wurde die Schmiergeldaffäre erst, als der ehemalige CDU-Schatzmeister Walter Leisler Kiep im November 1999 behauptete, nicht er persönlich, sondern die CDU habe Gelder von Karlheinz Schreiber erhalten. Er habe die fraglichen Millionen im August 1991 von Schreiber in bar und im Beisein des Frankfurter Wirtschaftsprüfers Horst Weyrauch erhalten. Danach rückte sehr schnell der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung dieser Affäre. Er gab zu, dass es unter ihm als CDU-Parteivorsitzenden eine rechtswidrige Parteikontenführung gegeben hat. Nunmehr wurde gemutmaßt, Kohl habe von entsprechenden Geldbewegungen nicht nur gewusst, sondern diese sogar organisiert. Im Dezember 1999 gestand Kohl, zwischen 1993 und 1998 eineinhalb bis zwei Millionen DM als Spenden in bar erhalten zu haben. Man vermutete dahinter die Absicht, finanziell notleidenden CDU-Landesverbänden und Parteifreunden helfen zu können. Die Spendernamen wollte Kohl allerdings nicht nennen – er habe auf seine Verschwiegenheit sein „Ehrenwort“ gegeben.182 dd) Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen Die Bonner Staatsanwaltschaft leitete zu Beginn des Jahres 2000 ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Helmut Kohl wegen des Verdachtes der Untreue zum Nachteil der CDU-Bundespartei ein. In diesem Zusammenhang kam es wiederum zu einer Vielzahl öffentlicher Bewertungen strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungserkenntnisse183 und sogar zu persönlichen Beurteilungen des VerfahDer Spiegel, Nr. 45 / 1999, S. 22. Der Spiegel, Nr. 45 / 1999, S. 22; 30 / 2000, S. 32 ff. 182 Im Zusammenhang mit diesem Ereignis kam es zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der vom 02. Dezember 1999 bis zum 13. Juni 2002 getagt hat (vgl. Einsetzungsantrag: BT-Drs. 14 / 2139; Schlussbericht: BT-Drs. 14 / 9300) und der klären sollte, inwieweit Spenden, Provisionen, andere finanzielle Zuwendungen oder Vorteile direkt oder indirekt im Zusammenhang mit konkreten Sachverhalten an Mitglieder und Amtsträger der zu diesem damaligen Zeitpunkt die Bundesregierung stellenden CDU / CSUund FDP-Fraktion sowie deren nachrangigen Behörden bezahlt wurden und somit möglicherweise ihre Entscheidungen beeinflusst haben und inwieweit dadurch möglicherweise gegen das Parteiengesetz, Amts- und Dienstpflichten, internationales Recht oder internationale Verträge verstoßen wurde. 183 So erklärte der ermittelnde Staatsanwalt Winfried Maier: „Wenn ein Konto nicht offiziell ist, muß man das wohl verdeckte Parteienfinanzierung nennen.“ (Der Spiegel, Nr. 30 / 2000, S. 32 [33]). 180 181

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rens184. Es fällt der Begriff des „Systems Kohl“185 und der sachbefasste Bonner Staatsanwalt Dieter Irsfeld kommentierte öffentlich, dass „das Verfahren gegen Helmut Kohl ( . . . ) in der ganzen Welt Interesse“186 finde. Im März 2000 gab Kohl schließlich bekannt, er habe insgesamt 6,3 Millionen DM gesammelt, die er der CDU zur Verfügung stellen wolle. Das Ermittlungsverfahren wurde später gemäß § 153a StPO eingestellt. Daneben gerieten vor allem auch Vertreter der hessischen Landes-CDU, insbesondere der ehemalige hessische CDU-Landesvorsitzende Manfred Kanther und der damalige CDU-Landesvorsitzende und heutige hessische Ministerpräsident Roland Koch, in die öffentliche Kritik. Im Oktober 2000 gestand Manfred Kanther vor dem Wiesbadener CDU-Parteispenden-Untersuchungsausschuss, in den achtziger Jahren Vermögenswerte seiner Partei in die Schweiz transferiert haben zu lassen. Vor diesem Hintergrund ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft gegen Manfred Kanther wegen des Verdachtes der Untreue. Die Ermittlungen richteten sich auch gegen den früheren hessischen CDU-Schatzmeister Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein und den Frankfurter Wirtschaftsprüfer Horst Weyrauch. Auch hier beließ es die ermittelnde (Frankfurter) Staatsanwaltschaft nicht bei schlicht-informativer Öffentlichkeitsarbeit, sondern kommentierte ihre Ermittlungsergebnisse vielmehr öffentlich. So äußerte beispielsweise die Leitende Oberstaatsanwältin Hildegard Becker-Toussaint: „Der Sack ist von unserer Seite rechtlich zu“ und die Gegenseite müsse nunmehr „genauso fundiert etwas dagegenhalten“187.

b) SPD-„Müll- und Spenden-Skandal“ aa) „Kölscher Klüngel“ Der SPD-„Müll- und Spenden-Skandal“188 begann im Frühjahr 2002 in Köln. Damals wurde der Vorwurf erhoben, im Zusammenhang mit dem Bau einer Müllverbrennungsanlage im Kölner Stadtteil Niehl wären hohe, unversteuerte Geldbeträge von ausländischen Bankkonten an die Kölner SPD gezahlt worden. Die Kölner SPD habe diese Beträge sodann aufgeteilt und – als Spenden deklariert – in der Parteikasse vereinnahmt. Dieser Vorgang soll nur ein Beispiel für eine Mehrzahl weiterer ebenfalls verdeckter Zahlungen an die Kölner SPD gewesen sein, mittels derer die Kölner SPD ihre finanzielle Situation über Jahre hinweg verbessert haben soll. Konkret wurde gemutmaßt, dass die Schweizer Firma Stenna AG 184 Staatsanwalt Winfried Maier weiterhin kämpferisch: „Bei Wirtschaftsstrafsachen mußt du forsch rangehen, sonst nehmen die dich nicht ernst.“ (Der Spiegel, Nr. 30 / 2000, S. 32 [33]). 185 Der Spiegel, Nr. 30 / 2000, S. 32 (33). 186 Der Spiegel, Nr. 30 / 2000, S. 32 (36). 187 Der Spiegel, Nr. 45 / 2000, S. 35. 188 Der Spiegel, Nr. 11 / 2002, S. 22.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Scheinaufträge für Überwachungs- und Koordinierungsaufgaben zum Bau der Müllverbrennungsanlage in Köln-Niehl erhalten habe. Die Rechnungen für diese vorgeblichen Scheinaufträge seien jedoch tatsächlich bezahlt worden. Auf diese Weise seien bei der Stenna AG Geldbeträge aufgelaufen, welche dann an die Kölner SPD gezahlt worden seien. Diese behaupteten Zahlungen sollten Widerstände gegen den Bau der Müllverbrennungsanlage in Köln-Niehl „beseitigen“. Als maßgebliche wirtschaftliche Profiteure wurden die folgenden Personen ausgemacht: Sigfrid Michelfelder, Chef des Gummersbacher Anlagenbauers Steinmüller, einer mehrheitlichen Tochter der Firma Babcock-Borsig, welche die Müllverbrennungsanlage gebaut hat, und Hellmut Trienekens, Chef des Viersener Müllentsorgungsunternehmens Trienekens, welches an der Betreibergesellschaft der Müllverbrennungsanlage beteiligt war. Zu diesem Kreis der maßgeblichen wirtschaftlichen Profiteure soll darüber hinaus auch Ulrich Eisermann, Geschäftsführer der kommunalen Kölner Abfall-, Entsorgungs- und Verwertungsgesellschaft (AVG), gehört haben. Zudem wurde dem Hamburger Ingenieur Hans Reimer, laut Wiesbadener Bundeskriminalamt „eine der zentralen Figuren“189, vorgeworfen, sich in erheblichem Umfang für Bauunternehmen, wie ABB, Steinmüller oder Babcock-Borsig, bei den Ausschreibungen staatlicher Auftraggeber eingesetzt, hierfür rechtswidrige Zahlungen erhalten und diese steuerlich nicht erklärt zu haben. Ihre politische Dimension erhielt die Affäre dadurch, dass auch gegen den Vorsitzenden der Kölner SPD-Ratsfraktion Norbert Rüther und den ehemaligen Schatzmeister der Kölner SPD Manfred Biciste schwere Vorwürfe erhoben wurden. Zusätzlich wurde der ehemalige Parlamentarische Geschäftsführer der SPDBundestagsfraktion Karl Wienand beschuldigt, als Berater der Unternehmen Steinmüller und Trienekens rechtswidrig verdeckte Zahlungen in Millionenhöhe erhalten zu haben. Er soll den Bau der Müllverbrennungsanlage gegenüber der Kölner SPD, gewissermaßen als „alter SPD-Grande“, durchgebracht haben. Schon kurze Zeit nach Bekannt werden der Ermittlungen wurden entsprechende Erkenntnisse von der Staatsanwaltschaft öffentlich diskutiert und auch bewertet. So beispielsweise durch den Mannheimer Oberstaatsanwalt Hubert Jobski, der im Rahmen von Ermittlungen gegen Manager der Firma ABB wegen des Verdachtes der Bestechung, Bestechlichkeit sowie „Geldwäsche großen Umfangs“190 unter anderem mit den Schweizer Strafverfolgungsbehörden und den Ermittlern im SPD„Müll- und Spenden-Skandal“ zusammengearbeitet hat. Jobski191 berichtete, dass aus der Schweiz „sehr gute Hinweise“ gekommen seien – „auch, dass im Kölner Raum einiges im Argen liegt“. Weiterhin erzählte ein Ermittler nach einer Verneh189 Der Spiegel, Nr. 12 / 2002, S. 22 (32). Dieses Beispiel kriminalpolizeilicher Öffentlichkeitsarbeit spricht – sicherlich nur beispielhaft, aber gleichwohl deutlich – gegen eine Verbesserung der oben kritisierten polizeilichen Informationspolitik (5. Kap. B. I.). 190 Der Spiegel, Nr. 11 / 2002, S. 22 (24). 191 Der Spiegel, Nr. 11 / 2002, S. 22 (24).

B. Wirklichkeit des Rechts

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mung Norbert Rüthers – einem der Beschuldigten des „Kölschen Klüngels“192: „Eigentlich wollte ich nicht glauben, was der Mann berichtete.“ 193 Zusätzlich beteiligte sich auch ein Münchner Staatsanwalt, der Leitende Oberstaatsanwalt Manfred Wick, an diesen öffentlichen Diskussionen, indem er über seine Erfahrungen mit Beschuldigten in Wirtschaftsstrafverfahren berichtete. Wick schilderte, wie viele Beschuldigte „aus allen Wolken fielen“194, wenn man ihnen ihre Tätigkeiten als rechtswidrig vorhielte. Er beurteilte: „Wer (in der Baubranche) nicht im Kartell sitzt, hat eigentlich keine Chance.“195 Auch der Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner führte diesbezüglich bereitwillig aus: „Wir kommen kaum nach, die bestehenden Akten abzuarbeiten, da landen schon wieder neue Fälle bei uns.“196 Korruption sei „Teil des normalen geschäftlichen Gebarens der Wirtschaftsunternehmen in Deutschland geworden“197. Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen ein weiteres Merkmal staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit: Im Rahmen von Medienauskünften werden nebulöse Mutmaßungen über weitreichende kriminelle Machenschaften in Bezug auf einzelne Regionen oder konkrete Branchen öffentlich diskutiert. Hierdurch wird zumindest leichtfertig in Kauf genommen, dass die ohnehin besorgte Öffentlichkeit zusätzlich alarmiert wird. Eine derartige Aufheizung der öffentlichen Stimmungslage kann schließlich leicht dazu führen, dass ein Ermittlungsverfahren in eine einseitig-öffentliche „Inquisition“198 gegen die Beschuldigten ausartet.

bb) Ausweitung des „Kölschen Klüngels“ zum SPD-„Müll- und Spenden-Skandal“ Bald sollte sich der „Kölsche Klüngel“199 zu einer Affäre der Bundes-SPD ausweiten. Im Frühjahr 2002 wurden plötzlich gegen sozialdemokratische Politiker auch in anderen deutschen Städten Korruptionsvorwürfe erhoben. So wurde dem Wuppertaler Oberbürgermeister Hans Kremendahl vorgeworfen, er habe von dem Bauunternehmer Uwe Clees eine halbe Million DM für seinen Wahlkampf 1999 erhalten. Ein Ermittler, der Oberstaatsanwalt Alfons Grevener, legte damals im Rahmen von Medienauskünften seine Interpretation und anschließende Beurteilung der bisherigen Ermittlungserkenntnisse dar. Grevener200 führte in Bezug auf 192 193 194 195 196 197 198 199 200

Der Spiegel, Nr. 11 / 2002, S. 22. Der Spiegel, Nr. 12 / 2002, S. 22 (27). Der Spiegel, Nr. 12 / 2002, S. 22 (32). Der Spiegel, Nr. 12 / 2002, S. 22 (36). Der Spiegel, Nr. 12 / 2002, S. 22 (35). Der Spiegel, Nr. 13 / 2002, S. 88 (89). Dazu bereits oben: 1. Kap. A., C., E. Siehe oben Fn. 192. Der Spiegel, Nr. 13 / 2002, S. 88 (93).

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

die mutmaßlich an Kremendahl bezahlten Gelder, die immer dann bezahlt worden seien, wenn Kosten wegen Krehmendahls Wahlkampf anfielen, was folgt aus: Nach „vorliegenden Unterlagen und Zeugenaussagen“ habe Kremendahl die „Verwendung der Gelder weitgehend kontrolliert“. Weiterhin wurde der Recklinghausener SPD-Politiker Peter Rausch der Bestechlichkeit und der Untreue beschuldigt: Er soll als Geschäftsführer der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Aufträge exklusiv an solche Baufirmen vergeben haben, die als Gegenleistung an seinem Privathaus kostenlose Arbeiten vorgenommen hätten. Auch gegen den sachsen-anhaltinischen SPD-Bundestagsabgeordneten Eckhart Lewering wurden Korruptionsvorwürfe erhoben: Lewering soll das Haus seiner Frau durch einen Klinikbetreiber zu Sonderkonditionen gebaut haben lassen. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse sollten dem nordrhein-westfälischen SPD-Landesvorstand schlichte Zweifel an dessen Ehrenerklärung ausreichen, um dem Kölner SPD-Bundestagskandidaten Werner Jung das Vertrauen endgültig zu entziehen. Nachdem bereits Ulrich Eisermann und Sigfrid Michelfelder verhaftet worden waren, wurden im Juni 2002 schließlich auch Norbert Rüther, Hellmut Trienekens und Karl Wienand wegen des Verdachtes der Bestechung, Bestechlichkeit bzw. Steuerhinterziehung verhaftet. Zuvor war bei Norbert Rüther eine erneute Durchsuchung seiner privaten Räumlichkeiten erfolgt, deren Ausgang darauffolgend seitens der Staatsanwaltschaft öffentlich kommentiert wurde201: Rüthers Wohnung sei „absolut sauber und geordnet“ gewesen; er sei „erkennbar vorbereitet“ gewesen. Daneben gelangte der Inhalt der Haftbefehle in der Folgezeit an die Öffentlichkeit202: Man sei auf „mafiöse Strukturen“ bzw. „deutliche Strukturen der Organisierten Kriminalität“ gestoßen und es existiere ein „enges Beziehungsgeflecht von Tätern, die in einem System von Vorteilsgewährungen eingebettet waren“. Zudem bestünden „Anhaltspunkte“ dafür, dass das „installierte Korruptionssystem“ auch „für den Fall der Strafverfolgung fortgesetzt werden sollte“ und dass es „allen Beteiligten“ darum gegangen sei, „Profit zu erzielen“. Im April 2003 schloss die Kölner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ab und erhob Anklage gegen Karl Wienand, Ulrich Eisermann, Sigfrid Michelfelder, Hellmut Trienekens und Norbert Rüther. Die Anklagen lauteten auf Bestechlichkeit, Bestechung bzw. diesbezügliche Anstiftung und Beihilfe. Sie wurden wiederum öffentlich erörtert. Die entsprechende Medienberichterstattung gipfelte schließlich darin, dass etwa mit dem Titel „Wienand war Schlüsselfigur“203 aufgemacht wurde.

201 202 203

Der Spiegel, Nr. 25 / 2002, S. 22 (23). Vgl. dazu insgesamt Der Spiegel, Nr. 26 / 2002, S. 72. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 04. 2003, S. 6.

B. Wirklichkeit des Rechts

187

3. Zusammenfassung Nach dieser beispielhaften Darstellung der Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit in politischen Ermittlungsverfahren seit den achtziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts können folgende Erkenntnisse festgehalten werden: a) Politischen Ermittlungsverfahren liegt ein Sachverhalt zugrunde, der unmittelbar dem politischen Leben in unserem Land entspringt und an politische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anknüpft.204 b) Die staatsanwaltschaftliche Informationspolitik geht in politischen Ermittlungsverfahren oftmals über die Erteilung neutral-informativer Medienauskünfte hinaus. In vielen Fällen verstärkt sie eine medial transportierte öffentliche Empörung, indem sie die öffentliche Verdachtsschöpfung gegenüber dem / den Beschuldigten durch ihre offensive Öffentlichkeitsarbeit zusätzlich anfacht. Dadurch können die strafjustiziellen Ermittlungen – im Zusammenwirken mit medialer Kriminalberichterstattung – in eine einseitig-öffentliche „Inquisition“ ausarten. Diese Entwicklung ist im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Überzeugung untragbar, denn: Geht es doch in solchen verfolgerperspektivisch angeleiteten, inquisitorisch geprägten Ermittlungen offenbar nur darum, den als „Schuldigen“ ausgemachten Beschuldigten um jeden Preis „dingfest“ zu machen. c) Eine derartige Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft wird neben der konkreten Individualisierung des Beschuldigten durch folgende allgemein-vorverurteilende Merkmale geprägt: aa) Die frühzeitige Präsentation und Beurteilung konkreter Ermittlungshandlungen und hieraus resultierender -erkenntnisse205, die eine öffentliche Anprangerung und Vorverurteilung des Beschuldigten als „Krimineller“ zumindest leichtfertig verursachen oder fördern; denn derartige Veröffentlichungen der federführenden Ermittlungsbehörde werden von der Bevölkerung mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Dem Inhalt dieser amtlichen Medienauskünfte wird schließlich

5. Kap. B. II. Vor 1. So z. B. die Bewertung einer Einlassung als „nicht überzeugend“ [5. Kap. B. II. 2. a)] oder Aussagen seien „sowohl in sich als auch im Verhältnis zueinander teilweise unklar, widersprüchlich oder sogar falsch“ [5. Kap. B. II. 2. a)]. Sodann die Kommentierung einer Vernehmung mit den Worten: „Eigentlich wollte ich nicht glauben, was der Mann berichtete“ [5. Kap. B. II. 2. b)] oder die Kommentierung einer Durchsuchung mit den Worten: „Die Staatsanwaltschaft hat bei den sichergestellten Unterlagen ( . . . ) gewisse Hinweise ( . . . ) gefunden“ [5. Kap. B. II. 1. a)]. Aber auch die Beurteilung, man habe Unterlagen „außergewöhnlichen Umfanges“ beschlagnahmt und die entdeckten Hinweise ließen die Ermittler „durch die Zähne pfeifen“ [5. Kap. B. II. 1. a)]. Durch derart eingefärbte Feststellungen wird die öffentliche Betrachtung einer solchen Ermittlungshandlung beeinflusst und dessen eigentliche strafprozessuale Bedeutung als zunächst einmal „ergebnisneutraler Ermittlungsschritt“ (Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 118) verdeckt. 204 205

188

5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

ein besonderes öffentliches Vertrauen im Sinne eines „Nun ist es offiziell!“ entgegengebracht. bb) Die öffentliche Diskussion nebulöser Mutmaßungen über weitreichende kriminelle Machenschaften in Bezug auf einzelne Regionen206 oder konkrete Branchen207, deren Kundmachungen ein gesteigertes Alarmierungspotential innewohnt, welches die öffentliche Stimmungslage zusätzlich aufheizen kann. cc) Die öffentliche Anprangerung des Beschuldigten als Zentralgestalt 208 eines mutmaßlich kriminellen Geschehens – gewissermaßen als „Pate“. Durch die öffentliche Verwendung assoziativer Schlagworte209 wird zumindest leichtfertig der „Pate-Effekt“ verursacht, indem der Ermittlungssachverhalt auf die Person des Beschuldigten als vorgeblichem „Paten“ reduziert wird. Diese Öffentlichkeitsarbeit kann zu einer intuitiv-vereinfachten Wahrnehmung in der Bevölkerung führen.

III. Durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägte Ermittlungsverfahren Wenden wir uns nunmehr der Erörterung staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit in Ermittlungsverfahren zu, die durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägt werden. Solche Sachverhalte sind nicht aufgrund ihrer politischen Prägung, sondern primär wegen ihrer speziellen Deliktsvorwürfe im Einzelfall geprägt, die ihrerseits besonderes Aufsehen in der breiten Öffentlichkeit zu begründen geeignet sind.

1. Die achtziger Jahre Wie schon im Rahmen politischer Ermittlungsverfahren, werden im Folgenden zunächst einzelne Beispiele aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dargestellt. Zunächst wird dabei der Deliktsbereich sog. „Wirtschaftskriminalität“210 206 Etwa die Feststellung, dass „im Kölner Raum einiges im Argen liegt“ [5. Kap. B. II. 2. b)] oder auch die öffentliche Behauptung, Korruption sei „Teil des normalen geschäftlichen Gebarens der Wirtschaftsunternehmen in Deutschland geworden“ [5. Kap. B. II. 2. b)]. 207 So beispielsweise die öffentliche Beurteilung: „Wer (in der Baubranche) nicht im Kartell sitzt, hat eigentlich keine Chance“ [5. Kap. B. II. 2. b)]. 208 Etwa durch die Bezeichnung des Beschuldigten als „zentrale Figur des gesamten Komplexes“ [5. Kap. B. II. 2. a)] oder „eine der zentralen Figuren“ [5. Kap. B. II. 2. b)]. 209 Wie auch die Begriffe der „Spendensammelbank“ [5. Kap. B. II. 1. a)], die Bezeichnung als „mafiöse Strukturen“ oder als „Korruptionssystem“ [5. Kap. B. II. 2. b)]. 210 Bisher fehlt eine überwiegend anerkannte Definition der Begriffe „Wirtschaftskriminalität“ und „Wirtschaftsstrafrecht“. Dies liegt sicherlich vor allem an der Vielschichtigkeit der in Frage kommenden Lebenssachverhalte, aber auch am steten Wandel der betreffenden Erscheinungsformen (ähnlich Krekeler, Verteidigung in Wirtschaftsstrafsachen, S. 11 f. m. w. N.

B. Wirklichkeit des Rechts

189

untersucht. Diesbezügliche Beispiele staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit werden der Hobbymaler-“Korruptionsskandal“, der Iduna-“Immobilienskandal“, die Frankfurter Bestechungsaffäre, der „Transnuklear-Skandal“ und schließlich der „Fall co op“ sein.211 Hiernach werden im Deliktsbereich „Gesundheit und Medizin“ das Beispiel des „Weinpanscher“-Skandals 212 und sodann, im Kontext mutmaßlicher „Mordfälle“, der Mordfall Monika Weimar213 erörtert. Vgl. weiterhin zu den Begriffen „Kriminalität“ und „Kriminologie“ als Kriminalitätsforschung: Albrecht, Kriminologie, § 1, III, Vor 1; Eisenberg, Kriminologie, § 1, Rndnr. 4; Göppinger, Kriminologie, 1. Kap.; Kaiser, Kriminologie, § 1, Rndnr. 1, § 38, Rndnr. 1; Siegel, Criminology, S. 4, 6; Schmalleger, Criminology, S. 13 f.). Als einer der ersten hat sich Edwin Sutherland dem Thema wirtschaftskriminellen Verhaltens in soziologischer Hinsicht genähert und den Begriff des „white-collar-crime“ geprägt (vgl. White-Collar-Crime [1949]. Zu dessen Einfluss auf die US-amerikanische Kriminologie, aber auch in Deutschland: Schneider, Kriminologie, S. 120 ff. m. w. N. Weiterführend: Geis / Meier [ed.], White-Collar Crime [1977]; Geis / Stotland [ed.], White-Collar Crime [1980]). Sutherland stellt insbesondere die Frage nach dem wirtschaftlichen „standing“ und der gesellschaftlichen Reputation der Persönlichkeit des Straftäters in den Mittelpunkt seiner soziokriminologischen Betrachtung. In Fortentwicklung dieses Ansatzes wird auch von „occupational crime“ (Berufstat) oder „corporate crime“ (Unternehmenskriminalität) gesprochen (Nachweise bei Heinz, ZStW 96 [1984], S. 417 [421]; Kaiser, Kriminologie, § 72, Rndnrn. 15 ff. m. w. N.). Diesem Ansatz wird teilweise entgegengehalten, dass eine verlässliche Definition des „Wirtschaftskriminellen“ nicht existiere (dazu eingehender Richter in: Müller-Gugenberger / Bieneck [Hrsg.], Wirtschaftsstrafrecht, § 7, Rndnr. 6). Demgegenüber sprach sich Klaus Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 1. Bd., S. 50 f. m. w. N., in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Rahmen eines eher rechtsgutorientierten Ansatzes dafür aus, dass durch die Straftat ein überindividuelles Interesse – eben das „Rechtsgut“ – verletzt werden müsse. Einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt liefert zunächst § 74c Abs. 1 GVG. Gemäß § 74c Abs. 1 Nr. 6 a.E. GVG handelt es sich dann um eine Wirtschaftsstraftat, wenn „zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“. Daneben werden in der „Polizeilichen Kriminalitätsstatistik“ des Bundeskriminalamtes seit 1986 folgende Delikte als „Wirtschaftsdelikte“ bezeichnet: Delikte i.S.v. § 74c Abs. 1 Ziff. 1 – 6 (ohne Computerbetrug) bzw. Delikte, die im Rahmen einer tatsächlichen oder vorgetäuschten wirtschaftlichen Tätigkeit begangen werden und über eine individuelle Schädigung hinaus das Wirtschaftsleben beeinträchtigen oder die Allgemeinheit schädigen können und / oder für deren Aufklärung besondere kaufmännische Kenntnisse erforderlich sind (vgl. auch Krekeler, Verteidigung in Wirtschaftsstrafsachen, S. 12 f. m. w. N.). Demgemäß kommen insbesondere Delikte gegen die staatliche Finanzwirtschaft (scil. Steuer-, Zoll- und Subventionsdelikte), Delikte gegen die Volkswirtschaft und ihre einzelnen Bereiche (bspw. gegen die Wettbewerbsordnung oder das Bank- und Börsenwesen), Delikte gegen die Betriebswirtschaft und ihre einzelnen Bereiche (scil. Insolvenzkriminalität und Geheimnisverrat) oder Delikte gegen die Allgemeinheit und die Verbraucher (etwa Delikte gegen den Umweltschutz, Schneeballsysteme, unlautere Werbung, Kapitalanlagebetrug) in Betracht (ähnlich auch Heinz, wistra 1983, S. 128 [129]; Eisenberg, § 47, Rndnrn. 24 ff. m. w. N.; Krekeler, Verteidigung in Wirtschaftsstrafsachen, S. 13 f. m. w. N.). Die in der Bundesrepublik Deutschland jährlich durch „Wirtschaftskriminalität“ verursachten Schäden werden mittlerweile auf jährlich ca. 75 Milliarden Euro geschätzt (Krekeler, Verteidigung in Wirtschaftsstrafsachen, S. 11 m. w. N.: 150 Milliarden DM). 211 Dazu sogleich: 5. Kap. B. III. 1. a) aa) – ee). 212 Vgl. unten: 5. Kap. B. III. 1. b).

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

a) Deliktsbereich „Wirtschaftskriminalität“ aa) Hobbymaler-„Korruptionsskandal“ Im Jahre 1983 ermittelte die Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen der Staatsanwaltschaft Koblenz im Rahmen des sog. Hobbymaler-„Korruptionsskandals“214 unter anderem gegen den damaligen Leitenden Baudirektor im Staatsbauamt Koblenz-Nord wegen des Verdachtes der Vorteilsnahme. Außerdem wurde gegen acht andere Angestellte des Staatsbauamtes und sechs Bedienstete des Staatsbauamtes Idar-Oberstein ermittelt. Dem Hobbymaler wurde damals vorgeworfen, in seiner Funktion Bauunternehmer, die sich um die Vergabe öffentlicher Aufträge beworben hatten, immer dann bevorzugt zu haben, wenn sich diese dazu bereit erklärt hätten, von ihm gemalte Bilder zu erwerben. Der Staatsanwalt Jürgen Hennerkes215 kommentierte damals die Ermittlungen mit den Worten: „Wir decken einen Korruptionsfall nach dem anderen auf“ und „das hat es in diesem Umfang bei staatlichen Behörden in Rheinland-Pfalz noch nicht gegeben.“ Der beschuldigte Leitende Baudirektor wurde hierbei gleichzeitig auch abgebildet.216 Diese Art und Weise staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit folgt einem bereits bekannten Muster: Während der laufenden Ermittlungen werden im Rahmen einer öffentlichen Diskussion nebulöse Mutmaßungen über weitreichende kriminelle Machenschaften – vorliegend in Bezug auf eine bestimmte Region – kundgetan. Derartigen Äußerungen wohnt ein erhebliches Alarmierungspotential inne, welches eine ohnehin bereits aufgeregte öffentliche Stimmungslage zusätzlich aufheizen kann.217 bb) Iduna-„Immobilienskandal“ Im Jahre 1984 ermittelte die Düsselsdorfer Staatsanwaltschaft im sog. Iduna„Immobilienskandal“ 218 gegen Iduna-Vertreter, Immobilienbesitzer, sachverständige Immobilienschätzer und einen Notar wegen des Verdachtes betrügerischer Geschäftspraktiken bei Immobiliengeschäften. Während der laufenden Ermittlungen bewertete der Düsseldorfer Staatsanwalt Manfred Lieber bestimmte Geschäftshandlungen öffentlich als „windige Finanzierungen“219. Zudem formulierte er öffentlich eine konkrete persönliche Einschätzung in Bezug auf den Stand der Ermittlungen und diesbezügliche Erkenntnisse: 213 214 215 216 217 218 219

Siehe später: 5. Kap. B. III. 1. c). Der Spiegel, Nr. 44 / 1983, S. 103. Der Spiegel, Nr. 44 / 1983, S. 103. Vgl. Abbildung in: Der Spiegel, Nr. 44 / 1983, S. 103. Hierzu erst gerade: 5. Kap. B. II. 3. a) bb). Der Spiegel, Nr. 29 / 1984, S. 27. Der Spiegel, Nr. 29 / 1984, S. 27 (28).

B. Wirklichkeit des Rechts

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Man sei erst auf die „Spitze des Eisbergs“220 gestoßen. Auch hier folgt die staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit wiederum einem bekannten Muster: Durch eine frühzeitige Präsentation und Beurteilung konkreter Ermittlungserkenntnisse wird zumindest leichtfertig eine öffentliche Anprangerung und Vorverurteilung des Beschuldigten als „Krimineller“ verursacht oder gefördert; muss die Staatsanwaltschaft als federführende Ermittlungsbehörde bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit doch berücksichtigen, dass ihre „Veröffentlichungen“ von der Bevölkerung mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Dem Inhalt dieser staatsanwaltschaftlichen (amtlichen) Medienauskünfte wird schließlich seitens der Öffentlichkeit ein besonderes öffentliches Vertrauen entgegengebracht.221

cc) Frankfurter Bestechungsaffäre Im Jahre 1987 ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft wegen Korruptionsverdachtes gegen Bedienstete der Frankfurter Baubehörden, aber auch in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes. Auch hier kam es wieder zu einer eingehenden öffentlichen Diskussion und Bewertung der Ermittlungserkenntnisse. So bemerkte beispielsweise der Frankfurter Staatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner in Bezug auf den Kreis mutmaßlicher Vorteilsempfänger: „Nur die Tippsen gingen leer aus.“222 Er kommentierte weiterhin, mittlerweile herrschten „sizilianische Verhältnisse“223. Schaupensteiner bewertete das Verhältnis zwischen den vorgeblichen Tätern als „familiäre Bindungen“224 und äußerte, dass „wir vermutlich erst an der Oberfläche kratzen“225. Schließlich gab er sogar zu bedenken, ob „die deutsche Beamtenschaft noch integer ist“226. Die Der Spiegel, Nr. 29 / 1984, S. 27 (28). Vgl. zuletzt oben: 5. Kap. B. II. 3. c) aa). 222 Der Spiegel, Nr. 28 / 1987, S. 83. 223 Der Spiegel, Nr. 28 / 1987, S. 83; Nr. 47 / 1988, S. 50. Weiterhin in diesem Sinne verwendete Bezeichnungen sind etwa „Neuland“ oder „italienische Verhältnisse“ (Der Spiegel, Nr. 50 / 1994, S. 114). 224 Zudem sprach er von „eingefahrenen Verhaltensweisen“ (Der Spiegel, Nr. 28 / 1987, S. 83 f.). 225 Und ihn „erstaunt trotz aller Routine, daß die Verflechtung so flächendeckend ist“ (Der Spiegel, Nr. 27 / 1988, S. 46). 226 Der Spiegel, Nr. 27 / 1988, S. 46. Ähnlich auch die viele Jahre später im Zusammenhang mit der Anklage des Bauunternehmers Roland Ernst von der Staatsanwältin Margit Lichtinghagen getroffene Äußerung: „Ohne Schmiergeld läuft bei großen Aufträgen kaum noch etwas“ (Der Spiegel, Nr. 49 / 2000, S. 44). In diese Richtung geht auch die Aussage des Frankfurter Oberstaatsanwaltes Reinhard Rochus in 1984: Im Kontext damaliger Vorwürfe gegen bundesdeutsche Banken, sie verhinderten die strafrechtliche Verfolgung mutmaßlich strafbarer Handlungen ihrer Mitarbeiter aus Sorge vor negativen Schlagzeilen, kommentierte er öffentlich: „Die vertrauensheischende Kreditbranche (hat) längst ein Problem in den eigenen Reihen ( . . . ). In welche Bank wir auch reingehen, wir finden immer was.“ (Der Spiegel, Nr. 25 / 1984, S. 56 [57]). Der damalige Frankfurter Staatsanwalt Tilman Huber sprach in 220 221

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Ermittlungen, so verkündete Oberstaatsanwalt Jochen Schroers, gingen „jetzt in alle Himmelsrichtungen“ 227. Ein Beschuldigter, der damalige Abteilungsleiter beim Frankfurter Garten- und Friedhofsamt, wurde von Oberstaatsanwalt Reinhard Rochus als jemand bezeichnet, „der alles nahm“228. Wieder erkennen wir in diesen Beispielen staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit ein schon bekanntes Schema: Durch die Verwendung bestimmter Schlagworte, wie beispielsweise „sizilianische Verhältnisse“, verursachen bzw. fördern solche öffentlichen Erklärungen zumindest leichtfertig den „Pate-Effekt“ 229.

dd) „Transnuklear-Skandal“ Im Jahre 1988 ermittelte die Hanauer Staatsanwaltschaft im sog. „TransnuklearSkandal“230 – dem „bisher größten Skandal der Atomindustrie“231 – gegen Mitarbeiter der Hanauer Firma Nukem und deren Tochterfirma Transnuklear. Die Vorwürfe lauteten damals auf den Verdacht der Untreue, des Betrugs, der Bestechung von Kernkraft-Managern und Strahlen-Kontrolleuren sowie der atomrechtswidrigen Verbringung von Plutonium nach Belgien.232 Der Hanauer Leitende Oberstaatsanwalt Albert Farwick, der sich im Übrigen auch bei der Kriminalberichterstattung abbilden ließ233, bezifferte den Kreis mutmaßlicher Empfänger von Bestechungsgeld – insbesondere Sicherheits- und Strahlenschutzbeauftragte – zunächst auf „rund 50 Personen“234. Der ebenfalls sachbefasste Staatsanwalt Wolfgang Popp erhöhte diese sodann auf „80 bis 100 Leute“235. diesem Zusammenhang davon, dass der „Aspekt der Wirtschaftsmoral keine Rolle (spielt)“ (Der Spiegel, Nr. 25 / 1984, S. 56). 227 Darüber hinaus schildert Schroers öffentlich, dass „(. . . ) wir neue Wege (haben) einschlagen müssen“, um die „ausufernde Selbstbedienungsmentalität in der (Frankfurter) Stadtverwaltung“ überhaupt aufarbeiten zu können (Der Spiegel, Nr. 28 / 1987, S. 83; Nr. 27 / 1988, S. 46 [51]). 228 Der Spiegel, Nr. 41 / 1988, S. 60. 229 Hierzu schon oben: 5. Kap. B. II. 3. c) cc). 230 Der Spiegel, Nr. 1 / 1988, S. 28. 231 Der Spiegel, Nr. 1 / 1988, S. 28. 232 Deswegen kam es sogar zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses durch den Deutschen Bundestag, der vom 22. Januar 1988 bis zum 12. September 1990 tagte und die Frage klären sollte, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang, durch wen und aus welchen Gründen gegen das Atomgesetz und andere, radioaktive Stoffe und kerntechnische Anlagen betreffende, atomrechtliche Vorschriften bei verschiedenen Hanauer Nuklearbetrieben verstoßen worden ist, und Vorschläge für eine gesetzliche Reform des Atomrechts entwickeln sollte (vgl. Einsetzungsantrag: BT-Drs. 11 / 1680, 11 / 1683, 11 / 1681; Schlussbericht: BT-Drs. 11 / 7800). 233 Der Spiegel, Nr. 1 / 1988, S. 28; Nr. 44 / 1989, S. 59. 234 Der Spiegel, Nr. 1 / 1988, S. 28 (29). 235 Der Spiegel, Nr. 44 / 1989, S. 59.

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Die Ermittler236 argwöhnten, dass die vorgeblichen Empfänger von Bestechungsgeldern ihre Sondereinnahmen „aus der Natur der Sache heraus“ nicht beim Finanzamt angegeben hätten; trotz der vielen Verdächtigen zweifelten sie daran, alle mutmaßlich Bestochenen zu kennen, denn „geschmiert wird im Untergrund und ohne Quittung und ohne Beleg“ und außerdem seien derartige Gelder etwa für den „Besuch von Bars und Bordellen“ ausgegeben worden. Farwick beurteilte sodann die Vernehmung eines Abteilungsleiters der Firma Transnuklear in Bezug auf den Vorwurf der atomrechtswidrigen Verbringung von Plutonium mit den Worten: „Daran kann es keinen Zweifel geben.“237 Diese öffentliche Bekanntgabe eigener Bewertungen von Ermittlungserkenntnissen ist besonders drastischen Charakters: Es handelt sich nicht „nur“ um eine vorurteilsvolle Informationspolitik, welcher seitens der Öffentlichkeit aufgrund ihrer Amtlichkeit eine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.238 Die Anschuldigungen werden in der Öffentlichkeit vielmehr unmissverständlich als zutreffend hingestellt. Hierin liegt eine vorgreifende Erörterung der Schuldfrage bereits im Ermittlungsverfahren.

ee) Fall co op Seit 1988 ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft gegen Verantwortliche der co op AG. Der damalige Vorwurf lautete auf Verdacht des Betrugs im Zusammenhang mit der Börseneinführung des Unternehmens im Jahre 1987. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konzentrierten sich zuerst ausschließlich auf den Bereich der co op AG, bevor dann ab 1989 auch im Bereich der gewerkschaftlichen Beteiligung an der co op AG – der BGAG – ermittelt wurde. Die Verantwortlichen der BGAG wurden damals beschuldigt, die BGAG-Beteiligung an der co op AG unrichtig dargestellt zu haben.239 Dieser Sachverhalt wurde von dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel240 als „einer der spektakulärsten Wirtschaftsprozesse der Nachkriegszeit“ und als „größter Wirtschaftskrimi der Nachkriegszeit“ bezeichnet; zudem wurden zwei der insgesamt sieben Beschuldigten abgebildet. Erneut wurden Ermittlungsmaßnahmen und -erkenntnisse öffentlich bewertet. So preschte die Staatsanwaltschaft immer wieder vor, indem sie beispielsweise eine Durchsuchung der BGAG-Räume im Herbst 1989 mit der öffentichen Erklärung241 „wir haben etwas mitgenommen, und es sieht so aus, als ob Der Spiegel, Nr. 44 / 1989, S. 59 f. Der Spiegel, Nr. 1 / 1988, S. 28. 238 Dazu bereits oben: 5. Kap. B. II. 3. c) aa). 239 Siehe zu diesem Fall die ausführliche Darstellung bei Herzog, Solidarität unter Verdacht. Zum zeitlichen Verlauf insbesondere die S. 116 ff. 240 Nr. 16 / 1991, S. 119. 241 Nachweis bei Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 117 f. Ähnlich kommentierte schon 1980 der damalige Frankfurter Oberstaatsanwalt Karl-Heinrich Hentschel eine Durchsuchung im Zusammenhang mit den damaligen Vorwürfen gegen Mitarbeiter des hessischen 236 237

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wir das brauchen können“ und „das ist eine ganze Menge, wird vielleicht noch mehr“ kommentierte. Auch diese Informationspraxis übersteigt zweifelsohne den Rahmen schlicht-informativer Medienauskünfte. Es handelt sich viel eher um die bereits bekannte zweckgefärbte Öffentlichkeitsarbeit, mittels derer die bisherigen Ermittlungen medienwirksam vorgeführt werden. Durch das besondere öffentliche Interesse an solchen amtlichen Veröffentlichungen wird eine öffentliche Verdachtsschöpfung gegenüber den Beschuldigten bzw. deren öffentliche Etikettierung mit dem Stigma des „Kriminellen“ zumindest leichtfertig verursacht oder gefördert.242 Hierdurch gerät der eigentliche (strafprozessuale) Umstand in den Hintergrund, dass es sich bei derartigen Ermittlungsmaßnahmen, wie beispielsweise einer Durchsuchung, um einen zunächst „ergebnisneutralen Ermittlungsschritt“243 handelt, der vorerst keine Beurteilung der individuellen Schuld der Beschuldigten zulässt. Weiterhin wurde öffentlich verkündet, dass „der Fall ( . . . ) eine ganz neue, geradezu gesellschaftspolitische Dimension bekommen (hat)“244. Im Jahre 1991 erklärte der ermittelnde Frankfurter Staatsanwalt Heinz-Ernst Klune im Zusammenhang mit der Anklageerhebung gegen sieben ehemalige co op-Manager sogar öffentlich, bei der co op-Spitze handele es sich um eine „kriminelle Vereinigung“245. Umweltministeriums, sie hätten gegenüber der Hoechst AG Dienstgeheimnisse preisgegeben und von der Hoechst AG Vorteile erhalten und angenommen. Zum damaligen Zeitpunkt stand der Vorwurf im Raum, die hessischen Behörden hätten über einen längeren Zeitraum geduldet, dass der Chemiekonzern Hoechst AG schadstoffbelastetes Abwasser in den Rhein ableite (vgl. hierzu Der Spiegel, Nr. 9 / 1980, S. 44 ff.). Hentschel kommentierte, dass in den Diensträumen der Beschuldigten „wichtige Papiere“ gefunden worden seien, die den Verdacht „strafbarer Handlungen“ erhärtet hätten (Der Spiegel, Nr. 13 / 1980, S. 130, 132). 242 Dazu schon oben: 5. Kap. B. II. 3. c) aa). 243 Nachweis bei Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 118. 244 Vgl. Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 121. Ähnlich preschte in einem späteren Fall der damals ermittelnde Frankfurter Oberstaatsanwalt Hubert Hardt vor: Im Jahre 1991 ermittelte er gegen 25 Personen im Umfeld der Frankfurter Börse – insbesondere gegen Wertpapierhändler – wegen des Verdachtes der persönlichen rechtswidrigen Bereicherung im Zusammenhang mit Wertpapiergeschäften. Die laufenden Ermittlungen kommentierte er wie folgt: „Einen Fall dieser Dimension hat es an der Börse noch nicht gegeben.“ (Der Spiegel, Nr. 30 / 1991, S. 68.). 245 Der Spiegel, Nr. 16 / 1991, S. 119; Nachweis auch bei Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 126 ff. Vorsorglich wies man in diesem Zusammenhang vor allem darauf hin, dass diese Anklage lediglich einen „Zwischenschritt“ darstelle, da „derzeit gegen etwa 40 bis 50 Personen“ ermittelt werde (Der Spiegel, Nr. 16 / 1991, S. 119 [122]). Ein ähnliches Schema prägte auch schon einen anderen Fall aus dem Jahre 1981. In diesem ging es um den Vorwurf gegen mehrere Angestellte verschiedener Banken, sich auf Kosten ihrer Banken im Rahmen von Wertpapiergeschäften durch illegale Kursmanipulationen persönlich bereichert zu haben. In diesem Zusammenhang sprach der damals ermittelnde Oberstaatsanwalt Heinrich Hentschel öffentlich von einem „Ring von Wertpapierhändlern“ und Staatsanwalt Totila-Tillmann Huber von einer „kriminellen Vereinigung“ (Der Spiegel Nr. 15 / 1981, S. 64 [66]; Nr. 36 / 1981, S. 79 f.). Ein weiteres Beispiel aus dem Jahre 1981 stellt die Bewertung der Dortmun-

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Durch eine derartig vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit werden die Betroffenen als Zentralgestalten – gewissermaßen als „Paten“ – in Bezug auf mutmaßlich kriminelle Vorgänge angeprangert. Derartige assoziative Schlagworte reduzieren den Ermittlungssachverhalt demgemäß im Sinne einer zumindest leichtfertigen Verursachung des „Pate-Effekts“ ausschließlich auf die Betroffenen und führen zu einer intuitiv-vereinfachten Wahrnehmung der Ermittlungen in der breiten Öffentlichkeit.246

b) Deliktsbereich „Gesundheit und Medizin“: „Weinpanscher“-Skandal Im Juli des Jahres 1985 wurde öffentlich bekannt, dass österreichische Weine mit Diethylenglykol gesüßt worden waren. Hierbei handelt es sich um eine giftige Substanz, die sich im Organismus in der Körperflüssigkeit anreichert und osmotische Störungen verursachen kann; sie wird vom Organismus in Oxalsäure umgewandelt, wodurch es weiterhin zu Schädigungen der Nieren und des Zentralnervensystems kommen kann.247 Nachdem Diethylenglykol auch in einigen deutschen Weinen festgestellt wurde, kam es zu Ermittlungen gegen deutsche Winzer – sog. „Weinpanscher“248 – wegen des Verdachtes auf Betrug und Verstoß gegen das Weingesetz. Auch während dieser staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen kam es zu persönlichen Kommentierungen der Ermittlungserkenntnisse durch die sachbefassten Ermittler. So bemerkte etwa der Mainzer Leitende Oberstaatsanwalt Werner Hempler, der sich auch im Rahmen der Medienberichterstattung über diesen Fall abbilden ließ249: „Auch bei uns beginnt wohl jetzt das Schwarze-PeterSpiel. Das kann ja interessant werden.“250 Weiterhin traf er subjektive Einschätzungen251 wie beispielsweise „da kommt noch mehr“ oder es sei „hochinteressant, wie das Diethylenglykol plötzlich die Handelswege sichtbar macht“.

der Staatsanwaltschaft dar, die damals wegen des Verdachtes des strafbaren Handelns mit rechtswidrig kopierten Spielfilmen ermittelte. Der Dortmunder Staatsanwalt Hartmut Oeser sprach bezüglich der mutmaßlichen Händler von einer Organisation mit „mafiaähnlichem Zuschnitt“ (Der Spiegel, Nr. 47 / 1981, S. 87 [90]). 246 Hierzu bereits oben: 5. Kap. B. II. 3. c) cc). 247 Vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, S. 321 f. 248 Der Spiegel, Nr. 31 / 1985, S. 68 f., verwendet daneben auch die Bezeichnung „Panscher“ (vgl. auch Der Spiegel, Nr. 32 / 1985, S. 68). 249 Siehe die Abbildung in: Der Spiegel, Nr. 32 / 1985, S. 68 (69). In ähnlichem Zusammenhang auch schon in Nr. 45 / 1980, S. 84 (85). 250 Der Spiegel, Nr. 31 / 1985, S. 68 (71). 251 Der Spiegel, Nr. 32 / 1985, S. 68. Ähnliche Äußerungen machte Hempler auch schon 1980. Damals ermittelte er in ähnlichem Zusammenhang gegen deutsche Winzer wegen des Vorwurfs, sie hätten ihre Weine mit Flüssigzucker gesüßt und äußerte, man habe einen „ersten groben Überblick“ und es handele sich um eine „in dieser Dimension beispiellose Affäre“ (Der Spiegel, Nr. 45 / 1980, S. 84). 13*

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Besonders drastischen Charakters ist daneben Hemplers öffentliche Bemerkung, Diethylenglykol mache die Weine „schön rund und ölig“252. An dieser Stelle fragt sich, welchen informativen Mehrwert eine derartig spöttische Äußerung überhaupt haben kann. Oder soll sie die ohnehin schon aufgebrachte Öffentlichkeit „nur“ zusätzlich verunsichern?

c) Deliktsbereich „Mordfälle“: Mordfall Monika Weimar Im August des Jahres 1986 wurden die beiden Schwestern Melanie und Carola Weimar aus der nordhessischen Gemeinde Phillipsthal unweit ihres Elternhauses – beide waren damals noch im Kindesalter – tot aufgefunden. Die fünfjährige Carola war erwürgt und die zwei Jahre ältere Melanie erstickt worden. Die eigens für diesen Fall eingesetzte Sonderkommission der Kriminalpolizei verdächtigte zunächst den rechtskräftig verurteilten Straftäter Karl-Wilhelm Dettmer, der nicht von seinem Hafturlaub zurückgekehrt war.253 Kurze Zeit später verdächtigten die Ermittler die Eltern der beiden Schwestern, Reinhard und Monika Weimar. Von Beginn an erteilten die sachbefassten Ermittler öffentlichkeitswirksame Medienauskünfte. So wurde der Fall beispielsweise früh als eine der „ungewöhnlichsten Konstellationen der Kriminalgeschichte“ 254 bezeichnet. Daneben war die staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit durch eine drastische Einseitigkeit geprägt: So beurteilte etwa der Fuldaer Oberstaatsanwalt Rudolf Ferdinand Matzke255, dass der Fall doch „kriminalistisch gelaufen“ sei und lediglich noch der „justizförmige Nachweis“ fehle. Nachdem die Eltern zunächst wegen Mordverdachtes festgenommen worden waren, dann jedoch kurze Zeit später wieder frei gelassen wurden, kommentierte Matzke – wiederum öffentlich –, dass man sich einen „Zickzackkurs in dieser Art natürlich leisten (kann), das ist der Preis, den wir gerne für den Rechtsstaat zahlen“256. Diese vorurteilsvolle Informationspolitik wurde selbst von anderen Staatsanwälten257 als „laut“ kritisiert, und man riet Matzke schließlich, doch „endlich stille Wege (zu) gehen“.258

Der Spiegel, Nr. 31 / 1985, S. 68 (71). Diesen Ermittlungen steuerte die Bild-Zeitung eine Meldung über den „gefährlichen Trieb-Mörder Karl-Wilhelm Dettmer“ bei (Der Spiegel, Nr. 37 / 1986, S. 134). 254 Der Spiegel, Nr. 37 / 1986, S. 134. 255 Der Spiegel, Nr. 37 / 1986, S. 134. 256 Der Spiegel, Nr. 37 / 1986, S. 134 (135). 257 Der Spiegel, Nr. 37 / 1986, S. 134 (135), zitiert so einen Oberstaatsanwalt aus Frankfurt am Main. 258 Vgl. ferner Braun, Medienberichterstattung, S. 48 m. w. N., zur späteren Medienberichterstattung im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme des Verfahrens – insbesondere zur Ausstrahlung eines Interviews mit Monika Weimars Lebensgefährten durch Spiegel TV im Jahre 1996. 252 253

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Eine so einseitig gefärbte Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft hat nichts mehr mit neutralschlichter Information der Öffentlichkeit über Vorgänge auf dem Gebiet der staatlichen Strafverfolgung zu tun. Vielmehr wird die Möglichkeit zu Medienauskünften dazu benutzt, die Beschuldigten noch im Ermittlungsverfahren als überführte Täter hinzustellen. Ein solches staatsanwaltschaftliches „Urteil“ erregt als amtliche Bekanntmachung öffentliches Aufsehen und verursacht oder fördert eine öffentliche Verdachtsschöpfung gegenüber den Beschuldigten. Durch das Zusammenwirken von vorurteilsvoller Ermittlungsführung und öffentlicher Vorverurteilung entsteht so ein aufgeheiztes Stimmungsklima, in welchem es nur noch darum geht, die „Schuldigen“ um jeden Preis „dingfest“ zu machen. Diese einseitig-öffentliche „Inquisition“259 ist im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Überzeugung strikt abzulehnen, denn sie setzt sich über die Beschuldigtenrechte hinweg und ist im Hinblick auf ihre einseitige Prägung grob unfair. Schließlich zeichnet den liberalen Rechtsstaat gerade die Fähigkeit seiner Institution „Staatsgewalt“ in Gestalt der Strafverfolgungsbehörden zur fairen Selbstbeschränkung aus. Dagegen wird ein vorurteilsvoller „Marschbefehl“ sicherlich nicht gewährleisten können, dass die staatsanwaltschaftliche Abschlussentscheidung (§ 170 StPO) auf einer differenzierten Sachverhaltserforschung und -aufklärung beruht.

2. Die neunziger Jahre bis heute Wenden wir uns nunmehr dem Zeitraum der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bis heute zu. Hierbei werden zunächst Ermittlungsverfahren in dem Deliktsbereich „Wirtschaftskriminalität“ 260 erörtert. Entsprechende Beispiele sind die „Münchner Korruptionsaffäre“, die „Waffen-Affäre“, der FAG-“Korruptionsfall“, die VW-“Netzwerk-Affäre“, die WestLB-Steuerhinterziehungs-Affäre und die „Affäre Mannesmann“.261 Sodann wird erneut der Deliktsbereich „Gesundheit und Medizin“, d. h. konkret die „Herzklappen-Affäre“ und der Kardiologen-Betrugsskandal, Untersuchungsgegestand sein.262 Beispielsfälle im Deliktsbereich „Mordfälle“ werden die „Mörder von Mölln“, der „Brandanschlag von Solingen“ und der „Flammentod von Lübeck“ sein.263 Die Besprechung der beiden Komplexe der Aufarbeitung sog. „DDR-Staatsunrechts“ und des „Ermittlungsfalles Terroranschlag“264 (11. September 2001) werden die Untersuchung der Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren beschließen.

259 260 261 262 263 264

Dazu bereits eingangs: 1. Kap. A. C. E. Zum Begriff der „Wirtschaftskriminalität“ bereits oben: 5. Kap. B. III. 1. Vor a). Vgl. unten: 5. Kap. B. III. 2. a) aa) – ff). Siehe unten: 5. Kap. B. III. 2. b) aa), bb). Dazu später: 5. Kap. B. III. 2. c) aa) – cc). Vgl. später: 5. Kap. B. III. 2. d), e).

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

a) Deliktsbereich „Wirtschaftskriminalität“ aa) „Münchner Korruptionsaffäre“ Im Jahre 1991 ermittelte die Münchner Staatsanwaltschaft in der sog. „Münchner Korruptionsaffäre“265 unter anderem gegen einen Angestellten des städtischen Baurefererats und gegen einen ehemaligen Siemens-Vertriebsingenieur. Beiden wurde damals vorgeworfen, ein konspiratives Firmenkartell gesteuert zu haben, welches durch Bestechung und illegale Absprachen an Großaufträge kommunaler und staatlicher Behörden gelangt sein soll. Im Verlaufe der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erklärte die sachbefasste Oberstaatsanwältin Ursula Lewenton266, die im Rahmen der Medienberichterstattung als „Mafia-Ermittlerin“267 abgebildet wurde, dass in dieser Affäre „bei weitem noch nicht das Ende“ erreicht sei und dass man dennoch bereits feststellen könne, dass es sich hierbei um „organisierte Wirtschaftskriminalität in Reinkultur“ handele. In gleichem Zusammenhang gab Lewenton damals öffentlich zu bedenken: „Wenn wir jetzt nicht gründlich arbeiten, haben wir in München bald Verhältnisse wie in Kolumbien.“268

bb) „Waffen-Affäre“ Im Zusammenhang mit dem ersten Irak-Krieg ermittelte die Darmstädter Staatsanwaltschaft in der sog. „Waffen-Affäre“269 des Jahres 1992 gegen die Frankfurter Degussa AG, die Hanauer Leybold AG und die Arthur Pfeiffer Vakuumtechnik Wetzlar GmbH, d. h. insgesamt gegen neun Manager und mehrere Techniker, wegen des Verdachtes illegaler Waffengeschäfte mit dem Irak.270 Die damaligen Vorwürfe bezogen sich hauptsächlich auf mutmaßlich illegalen Rüstungsexport und auf eine vorgebliche deutsche Beteiligung am Bau einer Atombombe. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen waren durch Erkenntnisse der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) ausgelöst worden. In diesem Zusammenhang Der Spiegel, Nr. 20 / 1991, S. 75. Der Spiegel, Nr. 20 / 1991, S. 75. 267 So Der Spiegel, Nr. 20 / 1991, S. 75. 268 Der Spiegel, Nr. 25 / 1991, S. 96 (97 f.). 269 Der Spiegel, Nr. 29 / 1992, S. 60. 270 Über diese sog. „Waffen-Affäre“ hinaus war und ist der Vorwurf illegalen Waffenhandels mit dem Irak immer wieder Gegenstand öffentlich kommentierter Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden. So wird in einem aktuelleren Beispiel aus dem Jahr 2003 einem arabischen Geschäftsmann vorgeworfen, im Ausland für den Irak Waffen eingekauft zu haben und immer noch einzukaufen. In diesem Zusammenhang soll er auch mit deutschen Kaufleuten in Kontakt gestanden haben. Der Mannheimer Oberstaatsanwalt Hubertus Jobski, der gegen einen dieser mutmaßlichen Waffenlieferanten Anklage erhoben hat, wird mit den Worten „(Name) hat enge und durchschlagende Kontakte zu allen möglichen irakischen Regierungsstellen“ und „(Name) ist seit eh und je im Geschäft“ zitiert (Der Spiegel, Nr. 3 / 2003, S. 44). 265 266

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wurden auch gegen die Maschinenfabrik H+H Metallform aus dem münsterländischen Drensteinfurt Ermittlungen eingeleitet und im Februar des Jahres 1992 Durchsuchungen durchgeführt. Diese Durchsuchungen kommentierte ein Staatsanwalt öffentlich mit der Äußerung, man sei auf ein „Pharaonengrab“271 gestoßen. Wie auch schon im Rahmen der Erörterungen des „Falles co op“272 festgestellt, manipuliert eine derartige öffentliche Kommentierung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsmaßnahmen die öffentliche Wahrnehmung einer Durchsuchung als einen anfangs „ergebnisneutralen Ermittlungsschritt“273, da hierdurch der Öffentlichkeit suggeriert wird, man sei auf ermittlungsrechtlich brisante „Schätze“ gestoßen, welche die Ermittlungen gegen die Beschuldigten entscheidend voranbrächten. cc) FAG-„Korruptionsfall“ Im Jahre 1996 ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft in einem der „größten Korruptionsfälle der letzten Jahre“274 gegen 60 Beschuldigte (darunter 10 Flughafenangestellte) wegen des Verdachtes der Bestechung und Bestechlichkeit. Unter anderem sollten die Beschuldigten mehrere Angestellte der Flughafen Frankfurt am Main AG (FAG) bei der Auftragsvergabe für die milliardenschweren Baumaßnahmen zur Fertigstellung des Flughafenterminals 2 im Jahre 1994 bestochen haben. Dementsprechend warf man den FAG-Angestellten Bestechlichkeit vor. Der damals sachbefasste Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner, der sich in der diesbezüglichen Kriminalberichterstattung abbilden ließ275, erörterte öffentlich das „mafiose System, das nur einen Geschäftszweck hatte: die Milchkuh FAG zu melken.“276 Weiterhin stellte er öffentlich dar: „Wo wir hingreifen, packen wir in ein neues Geflecht.“277 Den mutmaßlichen Hauptbeschuldigten 271 Der Spiegel, Nr. 29 / 1992, S. 60 (61). Ähnlich wurden auch die Durchsuchungen im Rahmen eines späteren Falles mutmaßlich illegaler Rüstungsexporte in den Irak öffentlich bewertet. So beurteilte der ermittelnde Oberstaatsanwalt Hubertus Jobski, der sich im Übrigen im Rahmen der massenmedialen Kriminalberichterstattung abbilden ließ (Der Spiegel, Nr. 9 / 2002, S. 52), dass „(wir) bei jeder Durchsuchung ( . . . ) Hinweise auf neue Verbindungen (finden).“ (Der Spiegel, Nr. 9 / 2002, S. 52.). 272 Dazu schon oben: 5. Kap. B. III. 1. a) ee). 273 Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 118. 274 Der Spiegel, Nr. 27 / 1996, S. 75. 275 Vgl. Abbildung in: Der Spiegel, Nr. 27 / 1996, S. 75 (76). 276 Der Spiegel, Nr. 27 / 1996, S. 75. Ähnlich bewertete der Frankfurter Oberstaatsanwalt Reinhard Rochus die Ermittlungen in einem anderen Fall aus dem Jahre 1984. Er bewertete die seiner Auffassung nach maßgeblichen Motive eines Rechtsanwaltes, gegen welchen unter anderem wegen des Verdachtes des Parteiverrats mit der Absicht der privaten Vorteilsnahme ermittelt und schließlich auch Anklage erhoben wurde: „Die Mehrung seines privaten Besitzes war ihm wohl wichtiger als das Wohlergehen seiner Mandanten.“ (Der Spiegel, Nr. 3 / 1984, S. 45; ähnlich Nr. 48 / 1987, S. 75 [77]). 277 Der Spiegel, Nr. 27 / 1996, S. 75 (76). Später äußerte er dann noch, dass in der Abteilung Kommunikationstechnik „fast jeder korrupt“ gewesen sei (Der Spiegel, Nr. 1 / 1999, S. 58 [59]).

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prangerte die Staatsanwaltschaft öffentlich als „Machiavelli der Manipulation“278 an.

dd) VW-„Netzwerk-Affäre“ Aufgrund einer Strafanzeige des Anlagenbauers ABB aus dem Jahre 1997 ermittelte die Braunschweiger Staatsanwaltschaft in der sog. VW-“Netzwerk-Affäre“279 gegen ehemalige VW-Manager wegen des Verdachtes der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Ihnen wurde damals vorgeworfen, Teil einer internationalen Organisation gewesen zu sein, die von Zulieferern großer Autohersteller Bestechungsgelder kassiert haben soll. Die Strafverfolger erläuterten damals, dass man es mit einem „Netzwerk“280 zu tun habe. Daneben kommentierten die sachbefassten Ermittler281: „Wir folgen der Spur des Geldes. ( . . . ) Da fließt Bares, da tränen einem die Augen“ und „es müffelt“.

ee) WestLB-Steuerhinterziehungs-Affäre Seit 1998 ermittelte die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Chef der Westdeutschen Landesbank (WestLB) Friedel Neuber unter anderem wegen des Verdachtes der Untreue und der Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Über die WestLB sollen, so die damaligen Vorwürfe, seit Einführung der Zinsabschlagsteuer im Jahre 1993 milliardenhohe Geldbeträge rechtswidrig nach Luxemburg und in die Schweiz transferiert worden sein. Dem deutschen Fiskus soll deswegen ein Schaden von mehreren hundert Millionen DM entstanden sein. Im Verlaufe ihrer Ermittlungen verkündete die sachbefasste Staatsanwaltschaft öffentlichkeitswirksam282: Der WestLB-“Führungsebene“ könne eine „funktionsfähig installierte Transferorganisation“ nachgewiesen werden; „Verdachtsmomente“ gebe es „auf jeder Organisationsebene der Bank“ – „sowohl horizontal als auch vertikal“. Insbesondere auch der damalige Zeitpunkt dieser vorurteilsvollen Öffentlichkeitsarbeit gibt Anlass zum Nachdenken: Während der öffentlichen Bekanntmachungen diskutierte die Medienöffentlichkeit die Frage der Anklageerhebung gegen Friedel Neuber, die angeblich unmittelbar bevorstand.283 Angesichts dieser zeitlichen Nähe fragt sich, warum sich die Staatsanwaltschaft angesichts dieser hitzigen Kontroverse in der Medienöffentlichkeit284 mit eigenen Medienauskünften nicht viel Der Spiegel, Nr. 27 / 1996, S. 75 (76). Der Spiegel, Nr. 35 / 1999, S. 84. 280 Der Spiegel, Nr. 35 / 1999, S. 84 (85). 281 Der Spiegel, Nr. 35 / 1999, S. 84 (85, 89). 282 Der Spiegel, Nr. 7 / 2001, S. 122. 283 Der Spiegel, Nr. 7 / 2001, S. 122, titelte selbst: „ . . . die Staatsanwaltschaft erwägt eine Anklage“ und zitiert einen „Justizkenner“, der mit einer Anklage „in Bälde“ rechnet. 278 279

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deutlicher zurückgehalten hat, um den fairen Verlauf der eigenen Ermittlungen besser zu schützen. Gerade in einer solchen Situation wäre „Fingerspitzengefühl“ im Sinne einer restriktiveren Informationspolitik angezeigt gewesen.285 Stattdessen wurde in die öffentliche Kontroverse mit eingestimmt. Wesentliches Motiv dieser Aufrechterhaltung der einseitigen Öffentlichkeitsarbeit könnte gewesen sein, die Entwicklung eines einer Anklage zugeneigten öffentlichen Diskurses zu verstärken. In welcher Form die vorurteilsvolle Informationspolitik der Staatsanwaltschaft während der Ermittlungen in der WestLB-Steuerhinterziehungs-Affäre geeignet war, eine öffentliche Etikettierung des Beschuldigten Friedel Neuber mit dem Stigma des „Kriminellen“ auszulösen, zeigt sich besonders anschaulich am aktuelleren Fall des Unternehmens Babcock Borsig. Das Oberhausener Traditionsunternehmen Babcock Borsig war insolvent geworden und die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Vorstandsmitglieder wegen des Verdachtes der Insolvenzverschleppung und der Untreue. Zu den insgesamt acht Beschuldigten gehörte auch der Babcock Borsig-Aufsichtsratschef Friedel Neuber.286 Zwar wurde während der medialen Kriminalberichterstattung berücksichtigt, dass Neuber keiner der „fünf Hauptbeschuldigten“287 sei, dennoch wurde weiterhin berichtet, dass „die Ermittlungen (noch) ganz am Anfang (stehen). Eine Anklage auch nur gegen einen der Hauptverdächtigen liegt in weiter Ferne. Ohnehin ist den Ermittlern klar: Vor allem Neuber ist nicht leicht zu Fall zu bringen. Skandalerprobt und oft der Trickserei verdächtigt, so hat sich das ,System Neuber‘ in Nordrhein-Westfalen lange genug präsentiert“288.

Sodann heißt es: „An Rhein und Ruhr nennen sie ihn den ,Paten‘, weil er in sein dichtes Netz von Beziehungen viele Machthaber eingebunden hat. Der Sozialdemokrat Neuber ist längst Symbolfigur für den Filz im größten deutschen Bundesland, das seit 1966 von der SPD regiert wird. ( . . . ) Neuber selbst blieb unbeschädigt. Auch ein Steuerstrafverfahren zum Ende sei-

284 Der Spiegel, Nr. 7 / 2001, S. 122, berichtete weiterhin: „Soll heißen: Alle Spitzenkräfte der WestLB haben nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft von den anonymen Geldverschiebungen gewußt.“ Ähnlich auch die Sprachregelung der Ermittler in einem anderen Fall: Gegen die Dresdner Bank wurde im Jahre 1996 ebenfalls aufgrund des Vorwurfs, sie habe Anfang der neunziger Jahre Kundengelder nach Luxemburg transferiert, um diese der Zinsabschlagsteuer zu entziehen, ermittelt. Der damals ermittelnde Berliner Staatsanwalt Ulf Hagemann wurde – noch zum Zeitpunkt andauernden Ermittlungen – mit folgender Festlegung zitiert:„Wir haben Hinweise, daß ganze Depots bei Einführung der Zinsabschlagsteuer transferiert wurden“ (Der Spiegel, Nr. 4 / 1996, S. 79). 285 Zur neuen Herausforderung der Staatsanwaltschaft bei der Selektion ihrer Auskunftsinhalte und Durchführung ihrer Öffentlichkeitsarbeit schon oben: 1. Kap. C. 286 Siehe auch die ausführlichere Darstellung der konkreten Vorwürfe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 14. Januar 2003, S. 14. 287 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2003, S. 20. 288 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2003, S. 20.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

ner WestLB-Amtszeit konnte ihn nicht zu Fall bringen. Neuber zahlte eine Geldstrafe, das Verfahren wurde eingestellt. Und nun Babcock Borsig. Es ist ein weiterer Skandal, der mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird. Spätestens wenn es zur Anklage kommt, hat das ,System Neuber‘ ausgedient.“289

An dieser Stelle zeigt sich nunmehr deutlich das ganze Ausmaß der Gefahr, die in einem Zusammenwirken von Staatsanwaltschaft und Medien liegt: In der Vergangenheit hat die offensive und vorurteilsvolle Informationspolitik der Staatsanwaltschaft in der WestLB-Steuerhinterziehungs-Affäre die mediale Diskussion der Vorwürfe und die öffentliche Stigmatisierung Neubers als „Krimineller“ maßgeblich begünstigt. Nunmehr zeigt sich im Fall des Unternehmens Babcock Borsig deutlich das ganze Ausmaß einer derart unerbittlichen Kriminalberichterstattung durch die Medien: Vergangene Beschuldigungen werden zu einem endgültigen Makel, der zukünftig eine mediale Schuldvermutung zu rechtfertigen scheint.

ff) „Affäre Mannesmann“ Seit 2001 untersucht die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft die sog. „Affäre Mannesmann“290 und prüft, ob die Übernahme der deutschen Mannesmann AG durch die britische Firma Vodafone – die „größte Fusion der Wirtschaftsgeschichte“291 – von Vodafone durch Zuwendungen an ehemalige Mannesmann-Manager erkauft wurde. Insbesondere wird der Vorwurf erhoben, dass im Zuge der Übernahme durch Abfindungszahlungen an ehemalige Mannesmann-Manager Gelder in Millionenhöhe zu Lasten der Mannesmann-Aktionäre veruntreut worden seien. Die unter anderem wegen des Verdachts der Untreue eingeleiteten Ermittlungen richteten sich vor allem gegen den ehemaligen Mannesmann-Vorstandsvorsitzenden Klaus Esser sowie andere Vorstands und Aufsichtsratsmitglieder der Mannesmann AG: den ehemaligen Aufsichtsrat und heutigen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank AG Josef Ackermann292 und den ehemaligen Aufsichtsrat und ehemaligen Vorsitzenden der IG-Metall Klaus Zwickel. Auch diese Ermittlungen wurden von einer offensiven und vorurteilsvollen Öffentlichkeitsarbeit der sachbefassten Staatsanwaltschaft begleitet: Medienwirksam wurde öffentlich beurteilt, dass „die Manager die Verhandlungen zielstrebig zum eigenen Vorteil genutzt hätten“293. Es wird nachträglich bewertet, dass die Beschuldigten während der Übernahmeverhandlungen doch hätten „sensibilisiert“294 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2003, S. 20. Der Spiegel, Nr. 34 / 2001, S. 90. 291 Der Spiegel, Nr. 11 / 2001, S. 122. 292 In der Person Josef Ackermanns stehe gleichzeitig die sog. „Managerelite“ am Pranger (Der Spiegel, Nr. 09 / 2003, S. 82 (83). 293 Der Spiegel, Nr. 11 / 2001, S. 122 (123). 294 Der Spiegel, Nr. 34 / 2001, S. 90 (91). 289 290

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sein müssen. Hiernach kommentierte der Leitende Oberstaatsanwalt Hans-Reinhard Henke im Februar des Jahres 2003, die Abfindungszahlungen dienten „allein den Bereicherten ( . . . ) Die Vorschläge zu den unrechtmäßigen Zahlungen wurden entweder einzeln oder gemeinsam von Esser und (Joachim) Funke (dem mitbeschuldigten ehemaligen Mannesmann-Aufsichtsratsvorsitzenden) eingebracht, von dem jeweils anderen befürwortet und letztlich auch gemeinsam durchgesetzt ( . . . ) Die Angeschuldigten Zwickel und Ackermann verhalfen den Beschlüssen, deren Rechtswidrigkeit sie erkannt hatten, durch ihr Abstimmungsverhalten ( . . . ) zur Umsetzung“295.

Unter Berufung auf „Verfahrenskreise“ hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung296 unter Bezugnahme auf die nicht veröffentlichte Anklageschrift bereits getitelt „Staatsanwaltschaft: Esser war käuflich“. Klaus Esser trat dieser Darstellung sodann entgegen. Er bezeichnete diese Erklärungen als „Phantasiegeschichte“297 und sprach davon, dass die Staatsanwaltschaft selbst um die Unhaltbarkeit dieser Anschuldigungen gewusst habe. Ein Düsseldorfer Staatsanwalt beantwortete diese öffentlichen Äußerungen mit der Feststellung, dass man in Bezug auf Essers Verhalten während der Übernahme durchaus von „Käuflichkeit“298 sprechen könne. Diese offensive und vorurteilsvolle Informationspolitik der Staatsanwaltschaft blieb nicht ohne Wirkung auf die Intensität der Medienberichterstattung: Es wurde sogar öffentlich prophezeit, das Mannesmann-Verfahren werde „mit einem Scherbengericht über die Führungsqualität der deutschen Wirtschaft“299 enden.300 In diesem Stimmungsklima der öffentlichen Vorverurteilung der ehemaligen Mannesmann-Manager als „Kriminelle“ sah sich schließlich sogar die Bundesregierung in der Pflicht, auf diese Entwicklung der öffentlichen Meinung zu reagieren. Ihr Sprecher Béla Anda zeigte zwar einerseits Verständnis für das erhebliche öffentliche 295 Handelsblatt, 25. Februar 2003. Ähnlich detailliert die öffentlichen Bewertungen der Mannheimer Staatsanwaltschaft in Bezug auf ihre Ermittlungen gegen Vorstände des Versicherungskonzerns Mannheimer im Jahre 2003: Die Vorstände hätten „riskante Kapitalanlagegeschäfte, vorwiegend in aktiendominierten Spezialfonds, vorgenommen und bei fallenden Kursen noch ausgeweitet (. . . ) ohne entsprechende Absicherungsmaßnahmen zu treffen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2003, S. 14). Der Konzern sei Mitte des Jahres in eine „existenzbedrohende Schieflage“ geraten, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2003, S. 14. Die Zeitung kommentierte weiterhin: “,Endlich!‘ ist man versucht auszurufen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche der Mannheimer Holding, die Abermillionen von Versichertengeldern an der Börse verzockt und ihre Lebensversicherung beinahe in die Pleite getrieben hatten. (. . . ) Ganz nebenbei dürfte sich aber in der Branche eine klammheimliche Schadenfreude breit machen, daß sich die Staatsanwaltschaft ausgerechnet den vormaligen Mannheimer-Chef (. . . ) vorknöpft, der wegen seines Feudalherrengehabes in der Versicherungswirtschaft nicht überall wohl gelitten war“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2003, S. 20). 296 22. Februar 2003, Titelseite. Vgl. auch S. 11: „Staatsanwälte: Esser war käuflich“. 297 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Februar 2003, S. 31. 298 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Februar 2003, Titelseite. 299 Der Spiegel, Nr. 09 / 2003, S. 82 (83). 300 Vgl. weiterhin Der Spiegel, Nr. 34 / 2003, S. 54 ff., zur Medienberichterstattung über die Frage der Zulassung der Anklagen durch das zuständige Strafgericht.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

Interesse, gab andererseits jedoch zu bedenken, dass die Bundesregierung nicht befugt sei, sich zu einem laufenden Strafverfahren zu äußern. Allerdings wies Anda gleichwohl darauf hin, dass im Rahmen der medienöffentlichen Erörterung dieses Falles die Unschuldsvermutung berücksichtigt werden müsse: „Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit namentlich mit Klaus Zwickel und Josef Ackermann gut zusammengearbeitet. Es gibt wegen der Unschuldsvermutung keinen Grund, daran etwas zu ändern.“301

Dieser Beistand ist gewiss begrüßenswert – allerdings fragt sich, ob weniger prominente Beschuldigte in anderen Fällen einen ähnlich öffentlichkeitswirksamen Zuspruch erfahren hätten. Daneben entschloss sich Klaus Esser, vor dem Landgericht Düsseldorf Amtshaftungsklage gegen das Land Nordrhein-Westfalen zu erheben. Esser warf der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft vor, ohne Anfangsverdacht Ermittlungen aufgenommen, diese sodann verschleppt und schließlich durch ihre offensive und einseitige Öffentlichkeitsarbeit sein Persönlichkeitsrecht verletzt zu haben.302 Esser begehrte die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld. Im April 2003 sprach das Landgericht Düsseldorf Esser ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro zu; im Übrigen wies das Gericht die Klage ab. Es gründete seine Entscheidung auf die Annahme einer Verletzung von Essers persönlichkeitsrechtlichen Interessen: Noch vor Esser selbst waren die Medien über die Einleitung der strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis gesetzt und bevorstehende Ermittlungsmaßnahmen öffentlich angekündigt worden. Zudem wurde über die Internetseite des nordrheinwestfälischen Justizministeriums ein Presseartikel mit dem Titel „Gangster in Nadelstreifen“ verbreitet und schließlich während der Pressekonferenz zur Anklageerhebung öffentlichkeitswirksam die „Käuflichkeit“ Essers verkündet.303 Im September 2003 wurde die Anklage schließlich zugelassen.304

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01. März 2003, S. 11. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. März 2003, S. 35; 27. März 2003, S. 13. 303 Vgl. Pressemitteilung Nr. 5 / 2003 – „Urteil im Zivilverfahren Dr. Esser . / . Land NRW verkündet“ – der Pressestelle des Landgerichtes Düsseldorf (http://www.lg-duesseldorf. nrw.de) in dem Rechtsstreit „Dr. Esser . / . Land NRW“ (Az. 2b O 182 / 02). Zur diesbezüglichen Medienberichterstattung: Handelsblatt, 30. April 2003; Der Tagesspiegel, 02. Mai 2003, S. 18; die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02. Mai 2003, S. 13. Zur Bedeutung dieser Entscheidung für den Rechtsschutz des Beschuldigten vor vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren später noch eingehender (6. Kap. B. III. 2.). 304 Vgl. die diesbezügliche Medienberichterstattung: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. September 2003, Titelseite, S. 11; 21. September 2003, Titelseite, S. 43; 22. September 2003, Titelseite, S. 11; 23. September 2003, Titelseite, S. 13. Vgl. auch Der Tagesspiegel, 21. September 2003, S. 22. Wenige Tage später veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 2003, S. 18 f., unter dem Titel „Aus dem Börsensaal in den Gerichtssaal – der Fall Mannesmann“ ein Porträt über die zuständige Vorsitzende Richterin. 305 So die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. September 2003, Titelseite. 301 302

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In diesem Zusammenhang warnte Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement vor einer „Vorverurteilung der Beschuldigten“305. Zugleich titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung306 über einer jeweiligen Abbildung des Angeklagten Zwickel „Der Lügner“ und des Angeklagten Esser „Der Helfer“. Weiterhin wurde Bundesfinanzminister Hans Eichel mit dem Hinweis auf die Unschuldsvermutung, welche bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens zu berücksichtigen sei, zitiert.307 Einige Tage später ging die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Zusammenhang mit der Zulassung der Anklage noch einen Schritt weiter, indem sie zwei unterschiedliche Stellungnahmen Ekkehard Wengers und Wolfgang Gerkes zu der Frage „Haben Esser und Ackermann die Aktionäre geschädigt?“308 veröffentlichte.

b) Deliktsbereich „Gesundheit und Medizin“ aa) „Herzklappen-Affäre“ Im Jahre 1994 ermittelte die Staatsanwaltschaft im Rahmen der sog. „Herzklappen-Affäre“309 unter anderem gegen die Unternehmen St. Jude, Medtronic und Sorin. Den Unternehmen wurde vorgeworfen, einigen Kliniken regelmäßig überhöhte Preise für Implantate berechnet zu haben. Die Unternehmen sollen einigen Klinikärzten hierfür Geschenke und großzügige Geldspenden gemacht haben. Während der Ermittlungen verkündete der ermittelnde Oberstaatsanwalt Horst Rosenbaum öffentlich, man habe es mit „einem der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit“310 zu tun. Weiterhin kommentierte der ebenfalls sachbefasste Wuppertaler Leitende Oberstaatsanwalt Friedhelm Gabriel damalige Durchsuchungen wie folgt: „Wenn man richtig nachguckt, findet man immer noch was.“311

21. September 2003, S. 43. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. September 2003, S. 11. 308 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2003, S. 37. 309 Der Spiegel, Nr. 34 / 1994, S. 66. 310 Der Spiegel, Nr. 34 / 1994, S. 66. Mit ähnlichen Superlativen arbeitete der Berliner Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen im Jahre 1997. Noch während der Ermittlungen verkündete er im Zusammenhang mit der sog. „WBB-Affäre“ (Der Spiegel, Nr. 4 / 1997, S. 86): „Es ist vielleicht unser größter Fall von Vereinigungskriminalität“, bezeichnete das Verhalten der Beschuldigten als „zielstrebig“ und bewertete es als „Ausplünderung“. Ein Beschuldigter wurde weiterhin im Rahmen der medialen Kriminalberichterstattung abgebildet (vgl. hierzu insgesamt Der Spiegel, Nr. 4 / 1997, S. 86 und 50 / 1997, S. 129). 311 Der Spiegel, Nr. 34 / 1994, S. 66 (68). Ähnlich auch ein Ermittler während der Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Autoherstellers Opel wegen des Verdachtes der Bestechlichkeit im Jahre 1995. Er kommentierte die bisherigen Ermittlungserkenntnisse mit den Worten: „Es ist wie eine Lawine“ (Der Spiegel, 28 / 1995, S. 22 [23]). 306 307

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

In dieser öffentlichen Beurteilung liegt wieder eine Irreführung der Öffentlichkeit über den ermittlungsrechtlichen Sinn und Zweck einer Durchsuchung als Zwangsmaßnahme: Gabriel erweckt zumindest leichtfertig den öffentlichen Eindruck, bei einer Durchsuchung ginge es lediglich um die Untermauerung der strafrechtlichen Vorwürfe durch die Sicherstellung und Beschlagnahme ohnehin belastenden Beweismaterials. Hierdurch wird die öffentliche Wahrnehmung derartiger Ermittlungshandlungen fehlgeleitet, indem ihre eigentliche strafprozessuale Bedeutung als zunächst „ergebnisneutraler Ermittlungsschritt“312 verdeckt wird.

bb) Kardiologen-Betrugsskandal Von 1996 an wurden nahezu alle in Deutschland niedergelassenen Kardiologen von einer durch die Krankenkassen eingesetzten „ad hoc-Arbeitsgruppe Kardiologie“313 überprüft. Die Krankenkassen hegten damals den Verdacht betrügerischen Handelns, und zwar unter anderem durch die mutmaßliche Fälschung von Abrechnungen zur Erlangung einer rechtswidrigen persönlichen Bereicherung. Im Zuge dieser Überprüfung schöpften die Ermittler der Krankenkassen im Sommer des Jahres 1996 einen ersten Verdacht gegen einen hannoverschen Kardiologen, der sich wie folgt dargestellt hat: Die Auslagen für die Untersuchungsgeräte, die ein Kardiologe für seine komplizierten Untersuchungen am Herzen des Patienten benötigt, werden den behandelnden Ärzten von den Krankenkassen grundsätzlich als Sachkosten gegen Vorlage der Rechnung in voller Höhe erstattet. Nun soll die Firma CardioMed, zu deren Gunsten der hannoversche Kardiologe gegenüber den Krankenkassen schon im Jahre 1995 erklärt haben soll, seinerseits benötigtes Untersuchungsgerät über diese Firma beziehen zu wollen, überhöhte Rechnungen geltend gemacht haben. Die Krankenkassenermittler vermuteten nunmehr, dass der hannoversche Kardiologe seine Untersuchungsgeräte von üblichen Herstellern bezogen, allerdings CardioMed vorgeschoben hätte, um eine über den tatsächlichen Sachkosten liegende Kostenerstattung von den Krankenkassen zu erhalten. Daraufhin wurde die Staatsanwaltschaft Hannover eingeschaltet, die anschließend sofort strafrechtliche Ermittlungen einleitete. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Mahnkopf314 erklärte öffentlich, man habe es mit einem „kriminellen Geflecht“ zu tun, dem nur durch „konzentriertes Vorgehen“ beizukommen sei.

312 Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 118. Zu diesem Aspekt staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit auch oben: 5. Kap. B. III. 1. a) ee). 313 Der Spiegel, Nr. 48 / 1997, S. 114. 314 Der Spiegel, Nr. 48 / 1997, S. 114 (117).

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c) Deliktsbereich „Mordfälle“ aa) „Mörder von Mölln“ Im November des Jahres 1992 steckten unbekannte Täter zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser im schleswig-holsteinischen Mölln in Brand. Hierbei kamen drei Menschen ums Leben und neun weitere Personen wurden schwer verletzt. Im Rahmen der Suche nach den „Mördern von Mölln“315 nahm der damalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl die Ermittlungen auf und ließ kurze Zeit später neun Tatverdächtige aus Mecklenburg-Vorpommern wegen des Verdachtes der „Gründung beziehungsweise Mitgliedschaft einer rechtsterroristischen Vereinigung“316 festnehmen. Während der darauffolgenden Ermittlungen wurden ein Foto, das Alter und schließlich auch der Wohnort eines festgenommenen Tatverdächtigen im Rahmen der medialen Kriminalberichterstattung veröffentlicht317, obgleich darauf hingewiesen wurde, dass unklar sei, ob der Beschuldigte bei dem Brandanschlag von Mölln überhaupt beteiligt gewesen war.318 Unter welchen gesellschaftlichen Umständen kam es damals zu diesem Brandanschlag? Die noch junge gesamtdeutsche Öffentlichkeit wurde immer häufiger von Übergriffen auf ausländische Mitbürger heimgesucht. Diese brutalen und menschenverachtenden Attacken endeten für die Opfer oftmals tödlich. In dieser Lage wurde jeder Vorfall, der Ansätze einer ausländerfeindlichen Motivation aufwies, von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mit besonderen Befürchtungen wahrgenommen. Dementsprechend stark war das mediale Echo auf derartige Geschehnisse. In unserer Mediengesellschaft ist diese Reaktion der Medien vollkommen verständlich und grundsätzlich positiv zu bewerten: Den Medien kommt in unserer modernen Gesellschaft auch die Verantwortung zu, gesellschaftliche Unsicherheiten und Diskussionsbedürfnisse zu artikulieren. Daneben müssen die Medien öffentlich mahnen, derartigen Entwicklungen, welche unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden, gemeinsam entgegenzutreten: „Wehret den Anfängen!“. Der Strafjustiz obliegt in solchen Zeiten, die wirksame Strafverfolgung dieses rechten Terrors unter dauerhafter Achtung ihrer liberal-rechtsstaatlichen Eingriffsgrenzen durchzusetzen, um den allgemeinen Rechtsfrieden wiederherzustellen. Grundsätzlich gilt: Umso aufgebrachter das (medien)öffentliche Stimmungsklima in unserer Gesellschaft ist, desto ernsthafter steht auch das freie und liberale Wesen unserer Gesellschaft bzw. die faire Prägung des modernen Rechtsstaates auf der Probe.319 Gerade weil der liberalrechtsstaatliche Gehalt unseres Strafjustizsystems

315 316 317 318

Der Spiegel, Nr. 49 / 1992, S. 14. Der Spiegel, Nr. 49 / 1992, S. 14 (19). Vgl. Der Spiegel, Nr. 49 / 1992, S. 14 (18 f.). Dazu Der Spiegel, Nr. 49 / 1992, S. 14 (19).

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in diesem Szenario großer sozialer Besorgnis in Gefahr geraten kann, müssen seine selbstbeschränkenden Eingriffsgrenzen gewahrt werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass unser Strafjustizsystem nicht im Sinne einer Verfolgerjustiz zur Umsetzung eines tagespolitisch-opportunen Marschbefehls instrumentalisiert wird. Strafrecht und Strafverfahrensrecht dürfen nicht zur politischen Dispositionsmasse verkümmern. Zwar mag eine politisch geprägte Strafjustiz zunächst als wehrhaft wahrgenommen werden. Über kurz oder lang wird sie jedoch außer Kontrolle geraten, sich in ihrer ganzen Unvorhersehbarkeit entfalten und somit systematisch ihr Vertrauen in der Bevölkerung einbüßen, d. h. im Ergebnis, ihre elementare gesellschaftliche Legitimationsgrundlage verlieren.320 In diesem Sinne darf es nicht ausschließliches Ziel staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sein, alsbald „den Schuldigen“ – beispielsweise durch dessen öffentliche Individualisierung – medienwirksam präsentieren zu können, d. h. dem Leid alsbald „einen Namen zu geben“321, und den Beschuldigten demgemäß als Exempel strafjustizieller Wehrhaftigkeit in Zeiten großer gesellschaftlicher Besorgnis zu instrumentalisieren. 322

bb) „Mordbuben“ von Solingen Im Mai des Jahres 1993 wurde das Haus in der Solinger Wernerstraße 81 in Brand gesteckt. Fünf Türkinnen verloren bei diesem Brandanschlag ihr Leben. Kurze Zeit später wurden vier junge Leute festgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, den Solinger Brandanschlag verübt zu haben. Wie bereits im Fall des Möllner Brandanschlags wurden im Rahmen der medialen Kriminalberichterstattung über die Ermittlungen323 die Fotos der vier Beschuldigten unter Angabe des vollen Vornamens veröffentlicht.324 Die Nachnamen wurden mit dem jeweiligen Anfangsbuchstaben abgekürzt. In diesem Fall wurde wiederum versucht, die öffentliche Wirkung dieser Medienberichterstattung abzumildern. 319 Ähnlich kritisch in diesem Kontext Herzog, Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts, S. 3 ff., gegenüber den damaligen Spontanforderungen nach einem schärferen Vorgehen gegen den „Terror des rechtsradikalen Mobs“. 320 Vgl. auch Herzog, Grenzen und Wirksamkeit des Strafrechts, S. 10. f., zur Gefahr einer „Entgrenzung“ des Strafrechts durch dessen präventive Ausrichtung und der Anfälligkeit generalpräventiver Strafzumessung für „politische Willkür“. 321 Siehe schon oben: 1. Kap. B. II. 322 Auch Herzog, Grenzen und Wirksamkeit des Strafrechts, S. 11., zur Ablehnung einer generalpräventiven Strafzumessung, welche den Straftäter – über dessen Schuld hinaus – zu Abschreckungszwecken instrumentalisiert; ders., Gesellschaftliche Unsicherheit, grundsätzlicher zur Frage der Begegnung „gesellschaftlicher Unsicherheit“ mit „strafrechtlicher Daseinsvorsorge“ am Beispiel der Gefährdungsstrafbarkeit. 323 Den massiven Druck auf die Ermittlungsbehörden, welchen diese intensive Medienberichterstattung verursachte, legt Schulz, Medienberichterstattung, S. 13 f. m. w. N., dar. 324 Siehe Der Spiegel, Nr. 52 / 1993, S. 61 (65).

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„Längst steht nicht fest, ob sie wirklich die Mordbuben sind. Es gibt Zweifel, ernsthafte Zweifel, ob das vom Bundeskriminalamt zusammengetragene Beweismaterial für eine Verurteilung ausreichen könnte. Vielleicht sitzen sogar die Falschen ein.“325

Der Vater eines damals Beschuldigten schrieb an den Bundesgerichtshof: „Wir können uns des beängstigenden Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein Puzzle, dessen Teile nicht zusammenpassen, aus welchen Motiven auch immer passend gemacht wird.“326

Der Spiegel, der selbst über diesen Fall berichtet hatte, resümierte schließlich: „Der Staat klagt die Kinder an, die Eltern den Staat, und das Publikum senkt den Daumen. Das Urteil über solche Typen, denen man es zumindest zugetraut hätte, ist längst gefällt.“327

Diese Beurteilung bringt das ganze Ausmaß der privaten und sozialen Folgebelastungen für die Beschuldigten auf den Punkt: Wird in öffentlich bedeutsamen Strafverfahren die Schuldfrage noch im Zeitpunkt andauernder Ermittlungen zum alleinbestimmenden Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse, dann ist die gesellschaftliche (Vor)Verurteilung der Beschuldigten, „denen man es zumindest zugetraut hätte“328, unabwendbar. Die zutreffende Kritik dieses Aspektes zeichnet Den Spiegel in dieser Situation aus – nur leider hat Der Spiegel selbst hierzu durch seine Kriminalberichterstattung beigetragen.329

cc) „Lübecker Asylheim-Katastrophe“ Im Januar des Jahres 1996 stand das Asylbewerberheim in der Lübecker Hafenstraße 52 in Flammen. Mehrere Menschen starben, viele wurden schwer verletzt. Ungewiss war zunächst, ob dieser tragische Vorfall ein erneuter ausländerfeindlicher und menschenverachtender Anschlag war oder ob ein technischer Defekt den Brand verursacht hatte. Am darauffolgenden Tag wurden vier tatverdächtige Personen festgenommen. Diese Festnahme wurde sofort öffentlich bekannt gegeben, wodurch der Presse die öffentliche Individualisierung der vier jungen Männer mittels Foto und (abgekürzten) Namen ermöglicht wurde.330 Nachdem Generalbundesanwalt Kay Nehm erwogen hatte, die Ermittlungen wegen des Vorwurfs ausländerfeindlich motivierter, besonders schwerer Brandstiftung an sich zu ziehen, kamen alle vier Personen frei und die Ermittlungen wurden eingestellt. Es stellte sich heraus, dass der Brand durch fahrlässige Brandstiftung – vielleicht eine fallen325 326 327 328 329 330

Der Spiegel, Nr. 52 / 1993, S. 61 (65). Der Spiegel, Nr. 52 / 1993, S. 61 (65). Nr. 52 / 1993, S. 61 (65). Siehe eben Fn. 327. Vgl. Fn. 325 – 328. Eingehender dazu: Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 7 m. w. N.

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gelassene Zigarette – verursacht worden sein musste. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft nahm daraufhin einen weiteren Tatverdächtigen – einen libanesischen Hausbewohner – fest. Wieder wurden dessen Name und Foto veröffentlicht.331 Obwohl der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz öffentlich zu bedenken gab, dass man sich in einer „schwierigen Beweislage“332 befände und dass ein eventueller Freispruch nach seinem Dafürhalten „für uns keine Niederlage“333 darstellte, sollte dennoch Anklage wegen des Vorwurfs schwerer Brandstiftung erhoben werden. Die Entwicklung dieses Strafverfahrens wirkt vom liberal-rechtsstaatlichen Standpunkt her in höchstem Maße beängstigend. Deutlich treten die gefährlichen Konsequenzen des Übergriffs einer emotional aufgewühlten Medienöffentlichkeit auf die Strafjustiz zu Tage: Zuerst sollte das Sicherheitsgefühl der Menschen durch eine schnelle Festnahme im Sinne einer staatlichen „zero tolerance“334 respektive einer strafjustiziellen Handlungsfähigkeit in Gestalt des „Nicht-lange-Fackelns“335 gestärkt werden. Nachdem sich diese Festnahme jedoch als nicht haltbarer „Schnellschuss“ entpuppt hatte und sich der Sachverhalt plötzlich völlig anders darstellte, sollte am Ende schließlich – trotz öffentlicher Zweifel des sachbefassten Ermittlers – Anklage erhoben werden. Dieser Überblick über die Entwicklung der strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen im Fall der sog. „Lübecker Asylheim-Katastrophe“336 hinterlässt einen beängstigenden Eindruck: Unter gewissen Umständen besonderer gesellschaftlicher Besorgnis scheint nicht ausgeschlossen, dass vorrangig politische und medienöffentliche Straflust die Entwicklung der strafrechtlichen Ermittlungen bestimmten. Dadurch gerät das Strafverfahren jedoch außer Kontrolle und wird in seinen belastenden Konsequenzen für den Betroffenen kaum berechenbar. Hierdurch wird die faire Strafverfahrensstruktur im liberalen Rechtsstaat deformiert.

d) Aufarbeitung und Bewältigung von „DDR-Staatsunrecht“: „Honecker-“ und „Politbüro-Prozeß“ Nachdem sich die anfängliche Einheitseuphorie nach der deutschen Wiedervereinigung 1989 / 1990 allmählich gelegt hatte, rückte zusehends das Bedürfnis der Menschen nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Vergangenheit in den Mittelpunkt der medienöffentlichen Diskussion. In der gesamtdeutschen Öffentlichkeit wurde eine umfassende Aufarbeitung geschehenen „DDR331 332 333 334 335 336

Der Spiegel, Nr. 23 / 1996, S. 84 (85). Der Spiegel, Nr. 23 / 1996, S. 84. Der Spiegel, Nr. 23 / 1996, S. 84 (91). Herzog, Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts, S. 11. Vgl. Fn. 334. Der Spiegel, Nr. 23 / 1996, S. 84.

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Staatsunrechts“337 gefordert.338 Dabei wurde vornehmlich die Frage diskutiert, inwieweit die Todesschüsse an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze nach bundesdeutschem Strafrecht verfolgt werden könnten.339 Diese äußerst emotional geführte Kontroverse lag in der historischen Bedeutsamkeit des zugrunde liegenden Lebenssachverhaltes begründet: Während der jahrzehntelangen Existenz der deutsch-deutschen Grenze war es zu vielen grausamen Fluchtverhinderungen durch das DDR-Grenzregime gekommen, wodurch mehrere hundert Menschen zu Tode gekommen waren.340 Diese oftmals dramatisch verlaufenen Zwischenfälle hatten in den vergangenen Jahrzehnten teilweise weltweite Erschütterung hervorgerufen.341 Insoweit ist verständlich, dass der Schmerz über den Verlust der Angehörigen bei vielen Deutschen tief saß und die Erinnerungen an den skrupellosen und menschenverachtenden Umgang des DDR-Grenzregimes mit sog. „Republikflüchtlingen“ nur allzu frisch waren. Nach dem Niedergang dieses Regimes wollten viele Menschen nunmehr endlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wissen. Dabei prallten grundlegend verschiedene politische Standpunkte aufeinander: Einerseits wurde die konsequente Verfolgung geschehenen DDR337 Zum Begriff des „DDR-Staatsunrechts“: Herzog in: Müller-Heidelberg u. a. (Hrsg.), Grundrechte-Report, S. 205. Vgl. weiterführend Schroeder in: Eckart u. a. (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands, S. 399 (400 f.), zu dessen verschiedenartigen Ausprägungen. 338 Vgl. die äußerst detaillierte Darstellung der strafrechtlichen Aufarbeitung und Bewältigung von „DDR-Unrecht“ bei Marxen / Werle, DDR-Unrecht. Vgl. zu diesem Thema auch Schroeder in: Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts, S. 211 ff.; ders. in: Klussmann / Hoffmann (Hrsg.), Opfer der SED-Diktatur, S. 55 ff. 339 Vgl. zu den diesbezüglichen Rechtsfragen Herzog (Hrsg.), Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen, S. 10, 71; ders., NJ 1993, S. 1 ff.; ders. in: Müller-Heidelberg u. a. (Hrsg.), Grundrechte-Report, S. 205 ff.; Marxen / Werle, DDR-Unrecht, S. 3 ff. m. w. N.; dies. in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien, Bd. II / 2, S. 1064 (1074 ff. m. w. N.); Rosenau, Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, S. 80 ff. Auch zu weiteren Deliksfeldern: Marxen / Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, 3. Bd.; Schroeder in: Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts, S. 211 ff.; ders. in: Klussmann / Hoffmann (Hrsg.), Opfer der SED-Diktatur, S. 55 ff. 340 Davon alleine 78 Menschen an der Berliner Mauer. Vgl. hierzu wieder Herzog (Hrsg.), Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Todesschützen, S. 10, 71; ders., NJ 1993, S. 1 ff.; ders. in: Müller-Heidelberg u. a. (Hrsg.), Grundrechte-Report, S. 205 ff.; Marxen / Werle, DDR-Unrecht, S. 8 ff. m. w. N.; dies. in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien, Bd. II / 2, S. 1064 (1123 ff. m. w. N.). 341 So z. B. der Fluchtversuch der Ost-Berliner Betonarbeiter Peter Fechter und Helmut Kulbeik am 17. August 1962. Während Kulbeiks Fluchtversuch gelang, wurde Fechter noch im sog. „Sperrstreifen“ (d. h. in dem Bereich zwischen der Mauer und dem einige Meter vorgelagerten Stacheldrahtverhau) nahe des Grenzübergangs Friedrichstraße – genannt „Checkpoint Charly“ – durch Schüsse von DDR-Grenzsoldaten tödlich getroffen. Er verblutete aufgrund schwerster Schussverletzungen. Viele Berliner, die die Schüsse gehört hatten und herbeigeeilt waren, wurden Zeugen dieses Vorgangs, denn Fechter wurde erst 50 Minuten später durch Angehörige der Grenzbrigaden abtransportiert (vgl. die äußerst detaillierte Aufarbeitung des „Falles Fechter“ bei Marxen / Werle [Hrsg.], Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2 / 1, lfd. Nr. 5, S. 239 ff.). Diesen Fall und andere Zwischenfälle an der deutsch-deutschen Grenze arbeiten Marxen / Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2 / 1, Teil 1, lfd. Nrn. 1 – 11, als „Strafverfahren gegen Grenzsoldaten“ auf.

14*

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Staatsunrechts vehement mit dem Argument befürwortet, der deutsche Rechtsstaat respektive seine Strafverfolger müssten sich dieses Mal bewähren, nachdem sie bei der Aufarbeitung geschehenen NS-Unrechts versagt hätten. In Sorge um befürchtete Tendenzen siegerjustiziellen Gehabes wurde andererseits wiederum die gebräuchliche Behauptung reaktiviert, unsere Strafjustiz lege herausragenden Ehrgeiz bei der Verfolgung von Kommunisten an den Tag, während sie „auf dem rechten Auge blind“ sei. Konkreter rechtlicher Anknüpfungspunkt dieser Kontroverse war das verfassungsunmittelbare Rückwirkungsverbot (vgl. Art. 103 Abs. 2 GG) respektive dessen Auslegung.342 Das geschilderte Bedürfnis vieler Menschen wurde durch die Medienberichterstattung angefeuert, die die Lösung dieser Rechtsfrage zur Nagelprobe für den bundesdeutschen Rechtsstaat hochstilisierte.343 Hierzu leistete allerdings auch die Politik ihren Beitrag: So erklärte die damalige Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach344 öffentlich, sie lehne eine milde Haltung gegenüber der ehemaligen SEDFührung strikt ab. Keinesfalls dürfe DDR-Staatsunrecht mit einer verklärenden Geisteshaltung im Sinne eines „Mein Gott, diese Greise“ begegnet werden: „So darf man nicht denken.“ Vielmehr müsste an „all die kleinen Leuten“ gedacht werden, „die 40 Jahre ihres Lebens hergeben mußten“. Gerade als Berlinerin musste Limbach mit derartigen öffentlichen Erklärungen zwangsläufig eine besondere mediale Aufmerksamkeit erreichen: Berlin war in den Jahrzehnten deutscher Teilung immer von herausragender, weltpolitischer Bedeutung, denn dort standen sich die Weltmächte des Kalten Krieges unmittelbar gegenüber. Diese brisante Gemengelage aus gesellschaftlichem Zorn, medialer Stimmungsaufheizung und politischer Aufregung stellte den freien und liberalen Charakter unserer Gesellschaft und die faire Prägung des liberalen Rechtsstaates auf eine harte Probe. Dabei richteten sich die (medien)öffentlichen Erwartungen vor allem auf den „Honecker-Prozeß“345 und den „Politbüro-Prozeß“346. In den Jahren 1991 / 1992 342 Vgl. Herzog in: Müller-Heidelberg u. a. (Hrsg.), Grundrechte-Report, S. 205, zum politischen Klima der damaligen Debatte um die strafrechtliche Bewertung geschehenen DDR-Systemunrechts, aber auch zu den rechtlichen Fragen. Weiterhin Schroeder in: Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts, S. 211 (212), der bilanziert, dass die deutsche Öffentlichkeit hinsichtlich der strafrechtlichen Bewertung dieser Fragen „in ungewöhnlicher Weise gespalten“ gewesen sei. Ders. in: Eckart u. a. (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands, S. 399 (402 f.), rückt trotz alledem die Legalitätsmaxime in den Mittelpunkt. 343 So klagte Der Spiegel, Nr. 33 / 1990, S. 34, schon im Sommer des Jahres 1990: „Entgehen die Täter am Ende jeder Bestrafung?“. Zudem wurde ein leitender Beamter aus dem hannoverschen Justizministerium mit der Kommentierung zitiert, es handele sich um „Rechtsprobleme, die es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat“ (Der Spiegel, Nr. 33 / 1990, S. 34 [44]). 344 Der Spiegel, Nr. 22 / 1991, S. 22. 345 Schroeder in: Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts, S. 211 (227). 346 Vgl. die äußerst detaillierte Aufarbeitung des sog. „Politbüro-Prozesses“ als „Strafverfahren gegen die politische und militärische Führung (der DDR)“ bei Marxen / Werle (Hrsg.),

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ermittelte die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Erich Honecker wegen des Verdachtes des mehrfachen Totschlags. Währendessen praktizierte die Berliner Justiz eine äußerst emotionale, geradezu „politische“ Informationspolitik, indem etwa der ehemalige Berliner Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen die Ermittlungen mit Hilfe der Akten der ehemaligen DDR-Generalstaatsanwaltschaft mit den Worten „Wir suchen die Unterschrift (unter dem Schießbefehl)“347 kommentierte. Schaefgen348 verkündete damals medienöffentlich seine Einschätzung, dass eine Anklage gegen Erich Honecker die „historische Chance“ darstelle aufzuklären, „wie weit ein Staatschef gehen darf“. Weiterhin gelangten Protokolle staatsanwaltschaftlicher Vernehmungen – dieses Mal von Erich Honecker – an die Öffentlichkeit.349 Im Ergebnis verwundert daher nicht wirklich, dass Erich Honecker im Jahre 1992 schließlich auch angeklagt wurde.350 Diese Anklage löste teilweise heftige Reaktionen aus: So kommentierte Erich Samson: „Das ist die Dogmatik der kochenden Volksseele“351. Günther Jakobs352 bemerkte: „Hier schwappt die Politik über die Rechtsdogmatik hinweg“ und es finde ein „nachträgliches Revolutionstribunal im Gerichtssaal“ statt. Wegen Honeckers schlechten Gesundheitszustandes wurde das Strafverfahren gegen ihn schließlich im Jahre 1993 eingestellt. Dieser Umstand stieß erneut auf heftige öffentliche Empörung. So kritisierte Rudolf Wassermann353: „Im Verfahren gegen den Ex-Diktator hat der Rechtsstaat mehr als eine Bataille verloren. Und niemand fragt, wie den Opfern des Regimes zumute ist.“

Im Jahre 1995 wurden dann ehemalige Mitglieder des SED-Politbüros – unter anderem Egon Krenz – wegen des Vorwurfs des mehrfachen Totschlags an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze angeklagt. In diesem Zusammenhang verstieg sich Christoph Schaefgen354 in die öffentlichkeitswirksame Beurteilung, die „juristische Lösung“ der Todesfälle an der deutsch-deutschen Grenze stellten einen „Akt politischer Hygiene“ dar: Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 2 / 2, Teil 3, lfd. Nrn. 16 f., S. 643 ff., 939 ff. Siehe auch die umfangreiche Dokumentation der Redaktion „Neue Justiz“ (Hrsg.), Der Politbüro-Prozeß (2001). 347 Der Spiegel, Nr. 49 / 1990, S. 18. 348 Der Spiegel, Nr. 32 / 1992, S. 23. So ähnlich auch der damalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, der im Jahre 1991 gegen den ehemaligen Chef der Spionageabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Markus Wolf, ermittelte und der sich im Rahmen der medialen Kriminalberichterstattung auch abbilden ließ. Er sei sich ganz sicher: „Wolf ist Mittäter.“ (Der Spiegel, Nr. 40 / 1991, S. 23 f.). 349 Abdruck im Spiegel, Nr. 9 / 1990, S. 22 (26 ff.). So geschehen auch schon in der Flickund Parteispendenaffäre (vgl. oben: [5. Kap. B. II. 1. a) bb)]. 350 Dazu Marxen / Werle, DDR-Unrecht, S. 16 m. w. N. 351 Der Spiegel, Nr. 25 / 1992, S. 24 (25). 352 Der Spiegel, Nr. 25 / 1992, S. 24 (25). 353 Der Spiegel, Nr. 52 / 1993, S. 52. 354 Der Spiegel, Nr. 3 / 1995, S. 18.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

„Sollten wir mit dieser Anklage nicht durchkommen, ist die gesamte juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hinfällig.“

Im Ganzen erscheint nachvollziehbar, dass die Entwicklung dieser beiden Strafverfahren im Zusammenhang mit der Sorge der Menschen um die Aufarbeitung und Bewältigung vergangenen DDR-Systemunrechts die „gesamtdeutsche Volksseele“ tief bewegte. Die tiefen Wunden der jahrzehntelangen Teilung – insbesondere zugefügt durch todbringende Konsequenzen der Teilung – waren eine schlimme psychische Belastung für die vielen betroffenen Menschen in „Ost“ und „West“. Aus menschlicher Hinsicht ist das Bedürfnis, die noch greifbaren Verantwortlichen dieses Unrechtsregimes endlich zur Verantwortung zu ziehen, sicherlich verständlich. Gleichermaßen ist nachvollziehbar, dass dieser Wunsch der Menschen zu einem bestimmenden Politikum wurde. Ließe man allerdings zu, dass diese Gemengelage aus gesellschaftlichem Zorn, medialer Stimmungsaufheizung und politischem Kalkül auf die gesetzmäßige Tätigkeit unseres Strafjustizsystems Einfluss nimmt, nähme man eine dauerhaft irreparable Beschädigung des freien Charakters unserer Gesellschaft und der fairen Prägung des liberalen Rechtsstaates in Kauf. In dem Moment, in dem man unser Strafjustizsystem zu politischen Heilungsprozessen instrumentalisiert, wird mehr zerstört, als Aufklärung erreicht wird. Einmal abgesehen davon, dass bereits fraglich erscheint, ob jahrzehntelanges DDR-Systemunrecht durch einige Strafverfahren strafrechtlich wirklich zufrieden stellend aufgearbeitet und bewältigt werden kann, führt der Weg einer politischen Instrumentalisierung des Strafjustizsystems aus liberal-rechtsstaatlicher Perspektive in die falsche Richtung: Wäre die staatsgewaltliche Institution der Strafjustiz als strafrechtliche „Waffe“ politisch einsetzbar, um aktuellen gesellschaftlichen Konfliktpotentialen zu begegnen, verlöre sie über kurz oder lang ihr klar definiertes, liberal-rechtsstaatliches Profil, denn: Nichts ist in unserer modernen Mediengesellschaft so wechselhaft und unvorhersehbar wie das politische Tagesklima. Demzufolge würde eine erhoffte flexible Heilungsfähigkeit in Bezug auf gesellschaftliche Konfliktherde alsbald von einer öffentlichen Vertrauenserosion und Sorge um die staatsgewaltliche Unabhängigkeit unseres Strafjustizsystems überlagert werden.

e) „Ermittlungsfall Terroranschlag“ aa) Vorgeschichte: Der 11. September 2001 Es ging alles sehr schnell und der Anblick überstieg jegliche menschliche Vorstellungskraft: Am Vormittag des 11. September 2001 rammte die vollbesetzte Passagiermaschine einer US-amerikanischen Fluglinie einen der beiden Türme des World Trade Centers in New York. Nur kurze Zeit später schlug eine zweite Linienmaschine in dem anderen Turm ein. Beide Türme standen sofort in Flammen und der Rauch war noch mehrere Kilometer weit entfernt zu sehen. Polizei und

B. Wirklichkeit des Rechts

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Feuerwehr waren sofort zur Stelle, um Ordnung zu schaffen, Überlebende zu versorgen und Verletzte zu behandeln. Zu diesem Zweck stiegen Feuerwehrleute in den Treppenhäusern der brennenden Türme hinauf und die menschliche Tragödie nahm ihren schicksalhaften Lauf: Menschen, die in den Büroräumen oberhalb der Einschlagstellen gefangen waren, sprangen in ihrer Verzweiflung aus großen Höhen aus den Fenstern in den sicheren Tod. Wenig später fiel erst der eine und kurze Zeit danach auch der zweite Turm in sich zusammen. Parallel zu dieser Katastrophe ereignete sich eine zweite in Washington: Eine dritte, ebenfalls vollbesetzte Passagiermaschine rammte das Pentagon. Die schockierte Weltöffentlichkeit wurde erst langsam gewahr, dass innerhalb weniger Stunden über dreitausend Menschen ihr Leben verloren hatten. Schnell wurde allerorts vermutet: Die Terrorgruppe „Al-Quaida“ um ihren Anführer Osama Bin Laden hatte der US-amerikanischen Nation, ihrer Gesellschaft, ihren Werten und schließlich auch ihrer (Außen)Politik den Krieg erklärt. Von nun an wurden und werden Mitglieder und Sympathisanten Al-Quaidas, vor allem aber Bin Laden, überall auf der Welt gejagt.

bb) Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen Alsbald rückte auch die Bundesrepublik Deutschland in den Mittelpunkt des sog. „Ermittlungsfalles Terroranschlag“355, einer maßgeblich durch die US-Justizbehörden vorangetriebenen und in dieser weltweiten Durchführung bislang singulären Fahndung nach terroristischen Straftätern. Die mutmaßlichen Piloten der Linienmaschinen, welche in die Türme des World Trade Centers gelenkt worden waren, Mohammed Atta und Marwan al-Shehhi, sollen in Hamburg gelebt und dort die terroristische „Hamburger Zelle“356 unterhalten haben. Im Zuge der anschließenden bundesweiten Ermittlungen der deutschen Strafjustiz wurde ein erster Beschuldigter festgenommen, der im Rahmen der medialen Kriminalberichterstattung auch abgebildet wurde.357 Generalbundesanwalt Kay Nehm358 warf ihm „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ und „Anleitung zu schweren Straftaten wie Mord und Totschlag“ vor. Die Festnahme des Beschuldigten kommentierten die sachbefassten Ermittler öffentlich mit den Worten, dieser sei „der dickste Fisch, den wir je gefangen haben“359. Weiterhin wurden im Rahmen der bundesweiten Terroristenjagd fünf Personen angeklagt, denen ebenfalls die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und zudem die Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags vorgeworfen wurde. Die355 356 357 358 359

Der Spiegel, Nr. 33 / 2003, S. 38. Der Spiegel, Nr. 41 / 2001, S. 34 ff. Vgl. die Abbildung in: Der Spiegel, Nr. 44 / 2001, S. 71. Der Spiegel, Nr. 44 / 2001, S. 71. Der Spiegel, Nr. 44 / 2001, S. 71.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

ser Anschlag sei im französischen Straßburg vorbereitet und erst „in letzter Minute“360 vereitelt worden. Das Strafverfahren galt als Novum, weil erstmals vorgeblich in Afghanistan ausgebildete Terroristen angeklagt wurden.361 Vor Beginn des Hauptverfahrens wurden die Angeklagten von den sachbefassten Ermittlern öffentlich als „non-aligned Mudschahidin“362 bezeichnet. Im Jahre 2002 wurde schließlich – wiederum erstmals – eine Person angeklagt, die in unmittelbarem Kontakt zu den Attentätern vom 11. September 2001 gestanden haben soll.363 Der aus Marokko stammende Hamburger Student Mounir alMotassadeq soll in Hamburg als Verbindungsmann für die Attentäter Atta und Shehhi fungiert haben, indem er sich um deren Angelegenheiten gekümmert habe, während beide in Afghanistan auf den Anschlag vorbereitet worden wären. So soll al-Motassadeq beispielsweise im Jahre 1996 Attas Testament als Zeuge unterschrieben und von Shehhi eine notarielle Generalvollmacht zur Regelung seiner – Shehhis – Angelegenheiten erhalten haben.364 Mounir al-Motassadeq wurde vorgeworfen, „schon frühzeitig von der Existenz der terroristischen Vereinigung und deren Anschlagsplanungen gewusst zu haben, wenngleich er möglicherweise in Einzelheiten nicht eingeweiht war“365. Schließlich soll al-Motassadeq gegenüber Zeugen davon gesprochen haben, dass „sie ( . . . ) wieder etwas machen (wollen), und es wird etwas Größeres sein“366. Den Ermittlern wurde im „Ermittlungsfall Terroranschlag“ schließlich sogar vorgeworfen, Aussagen eines in Pakistan festgenommenen und mutmaßlichen Vertrauten Attas – Ramzi Binalshibh – gezielt in die Medien lanciert zu haben. Diesbezüglich forderte al-Motassadeqs Verteidigung die Generalbundesanwaltschaft öffentlich auf darzulegen, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel an Aussagen Binalshibhs gelangen konnte: „Diese Informationen können nur von den Ermittlern gekommen sein.“367

Bundesinnenminister Otto Schily in: Der Spiegel, Nr. 50 / 2001, S. 32. Vgl. auch Der Spiegel, Nr. 50 / 2001, S. 32. 362 Der Spiegel, Nr. 50 / 2001, S. 32. 363 Den „Fall 11. September“ bezeichnete Der Spiegel (Nr. 21 / 2002, S. 80), als „eine der größten deutschen Kriminalermittlungen“. 364 Detaillierter Der Spiegel, 21 / 2002, S. 80 f. 365 Darüber hinaus soll er „enge Kontakte zu sämtlichen Mitgliedern der Vereinigung“ unterhalten haben (Der Spiegel, Nr. 21 / 2002, S. 80). Verdächtig soll al-Motassadeq insbesondere eine Reise nach Pakistan zwischen Mai und August 2000 gemacht haben. In diesem Zusammenhang wird der zuständige BGH-Haftrichter mit den Worten, die Dauer von al-Motassadeqs Aufenthalt – zehn Wochen – entspreche in etwa „einer Grundausbildung in Ausbildungscamps in Afghanistan“, zitiert (Der Spiegel, Nr. 21 / 2002, S. 80 [81]). 366 Der Spiegel, Nr. 21 / 2002, S. 80. Der Libanese Ziad Jarrah, der eine Maschine gesteuert haben soll, die am 11. September 2001 in Pennsylvania abgestürzt ist, soll nach einer Reise seiner damaligen Freundin auf die Frage hin, wo er gewesen sei, geantwortet haben: „Frag mich nicht, es ist besser für dich“ (Der Spiegel, Nr. 21 / 2002, S. 80 [81]). 367 So die Verteidigung in: Die Welt, 30. Oktober 2002. Dieser Vorwurf der mutmaßlichen Indiskretion gegenüber den Medien ist bereits aus der Flick- und Parteispendenaffäre [vgl. 360 361

C. Zwischenergebnis zum Fünften Kapitel

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Bei der Analyse der staatsanwaltschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der Ermittlungen nach dem 11. September 2001 ist sicherlich zu berücksichtigen, dass die New Yorker Katastrophe durch ein bisher beispielloses Attentat verursacht worden ist. Man musste zunächst einmal begreifen, wozu Selbstmordattentäter selbst in unserer „westlichen Welt“ fähig sind. Nun aber schlug die hierdurch hervorgerufene gesellschaftliche Angst vor einem neuartigen globalen Bedrohungsszenario relativ schnell in ein weltöffentliches Stimmungsklima um, in welchem Einigkeit darüber bestand, dass man gegen diese neue Form des internationalen Terrorismus schnell, hart und ebenfalls unerbittlich vorgehen müsse. Infolgedessen wurde eine bisher einmalige weltweite Strafverfolgung durchgeführt. Dabei geriet insbesondere die Bundesrepublik Deutschland unter massiven Zugzwang – schienen doch maßgebliche Vorbereitungshandlungen für den 11. September 2001 von der sog. „Hamburger Zelle“ ausgegangen zu sein. Auch diese Konstellation stellte wiederum eine neuartige Bewährungsprobe für den freien Charakter unserer Gesellschaft und den modernen, liberalen Rechtsstaat dar: Wieder fällt allerdings auf, dass die ermittelnden Strafverfolger vorrangig bemüht waren, medienwirksam kundzutun, dass man in solidarischer Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika nicht lange fackeln dürfe und gegen mutmaßlich tatverdächtige Personen unter Anwendung der vollen Härte des Gesetzes vorgehen müsse. Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, der deutsche (Rechts)Staat schwächele angesichts des weltweiten Strafverfolgungsszenarios und des Betretens von strafverfolgungsrechtlichem Neuland. Diese politisch angetriebene, opportune Ausweitung staatlicher Strafverfolgungsbemühungen bringt den Kernbestand des modernen, liberalen Rechtsstaates jedoch in höchste Gefahr, denn eine strafverfolgungsrechtliche Zweckorientierung droht, den ereignisunabhängigen Maßstab maßvoller, fairer Gewaltausübung durch das Strafjustizsystem preiszugeben.

C. Zwischenergebnis zum Fünften Kapitel I. 1. Die Rechtmäßigkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren orientiert sich zuvorderst an der Reichweite des § 4 Abs. 2 LPG. Diesem Abhängigkeitsverhältnis liegt die konsequente Anerkennung einer Beschränkung medienöffentlicher Strafrechtspflege zugrunde, welche das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägt. 2. Ungeachtet dessen sind schwerwiegende Gefahren für die privaten und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten und die faire Prägung des Ermittlungsverfahoben: 5. Kap. B. II. 1. a) bb)] und dem „Honecker-Prozeß“ [vgl. oben: 5. Kap. B. III. 2. d)] bekannt.

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

rens zu berücksichtigen: Medienauskünfte können das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) in dessen speziellen Ausprägungen als „Recht auf Anonymität“ im Sinne einer Bild- und Namensanonymität (vgl. §§ 22 ff. KUG) und als „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“ verletzen. Weiterhin kann eine offensive, einseitige Informationspolitik der Staatsanwaltschaft mit den Fundamentalprinzipien der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) und des „fair trial“ (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) kollidieren.368

II. 1. Politischen Ermittlungsverfahren liegt ein Sachverhalt zugrunde, der unmittelbar dem politischen Leben in unserem Land entspringt und an politische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anknüpft. Demgegenüber sind Ermittlungsverfahren, die durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägt werden, nicht aufgrund ihres politischen Wesens, sondern primär wegen ihrer speziellen Deliktsvorwürfe im Einzelfall charakterisierbar, die ihrerseits besonderes Aufsehen in der breiten Öffentlichkeit zu begründen geeignet sind. Insgesamt hat die beispielhafte Untersuchung der Rechtswirklichkeit staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren in beiden Fallgruppen ähnliche Ergebnisse zu Tage gefördert: 2. In vielen Fällen greifen gesellschaftliche Unsicherheiten, eine stimmungsaufheizende Medienberichterstattung oder politisches Kalkül auf die Informationspolitik der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren über. Hierdurch kann eine vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft bewirkt werden, die – über die schlichte Information der breiten Öffentlichkeit hinaus – eine medial transportierte öffentliche Empörung oder sogar Besorgnis zusätzlich anfacht. Mithin existiert bei derartig sachwidrigen „Übergriffen“ die Gefahr einer Instrumentalisierung unserer Strafjustiz als „Verfolgerjustiz“, denn: Beim Zusammenwirken von einseitiger Informationspolitik der Staatsanwaltschaft und vorurteilsvoller Medienberichterstattung kann das Ermittlungsverfahren in eine einseitig-öffentlichen „Inquisition“ ausarten. 3. Eine vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren kann neben der konkreten öffentlichen Individualisierung des Beschuldigten durch folgende Merkmale geprägt sein: a) Die einseitige Präsentation und Beurteilung konkreter Ermittlungshandlungen und Erkenntnisse zu einem frühen Zeitpunkt des Ermittlungsverfahrens369, die eine Vgl. oben: 5. Kap. A. III. Siehe diesbezügliche Beispiele aus politischen Sachverhalten bereits oben (5. Kap. B. II. 3.). Beispiele aus durch ihren jeweiligen Deliktsvorwurf geprägten Sachverhalten sind 368 369

C. Zwischenergebnis zum Fünften Kapitel

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öffentliche Anprangerung und Vorverurteilung des Beschuldigten als „Krimineller“ zumindest leichtfertig verursachen oder fördern können, denn: Solche Veröffentlichungen der federführenden Ermittlungsbehörde werden von der Bevölkerung mit besonderer Aufmerksamkeit als „amtlich“ respektive „offiziell“ wahrgenommen. b) Die öffentliche Diskussion nebulöser Vermutungen über weitreichende kriminelle Machenschaften in Bezug auf einzelne Regionen oder konkrete Branchen370, denn: Solchen amtlichen Bekundungen wohnt ein gesteigertes Alarmierungspotential inne, welches die öffentliche Stimmungslage zusätzlich aufheizen kann. c) Die öffentliche Anprangerung des Beschuldigten als Zentralgestalt 371 eines mutmaßlich kriminellen Geschehens: So kann es aufgrund der öffentlichen Verwendung assoziativer Schlagworte372 zu einer zumindest leichtfertig verursachten Reduzierung des Ermittlungssachverhaltes auf die Person des Beschuldigten – gewissermaßen als vorgeblichem „Paten“ („Pate-Effekt“) – und demzufolge zu einer intuitiv-vereinfachten Wahrnehmung der Öffentlichkeitsarbeit in der Bevölkerung kommen. etwa die Bewertungen, es handele sich um „windige Finanzierungen“ [5. Kap. B. III. 1. a) bb)], „nur die Tippsen gingen leer aus“ [5. Kap. B. III. 1. a) cc)] oder „Diethylenglykol“ mache die Weine „schön rund und ölig“ [5. Kap. B. III. 1. b)]. Weiterhin etwa die Beurteilungen, der Fall sei zweifelsohne „kriminalistisch gelaufen“ und es fehle lediglich noch der „justizförmige Nachweis“ [5. Kap. B. III. 1. c)], es handele sich um „organisierte Wirtschaftskriminalität in Reinkultur“ [5. Kap. B. III. 2. a) aa)] oder „wir folgen der Spur des Geldes ( . . . ) da fließt Bares, da tränen einem die Augen“ [5. Kap. B. III. 2. a) dd)]. Aber auch die Kommentierung, das Verhalten des Beschuldigten könne durchaus als „Käuflichkeit“ bezeichnet werden [5. Kap. B. III. 2. a) ff)] oder die Beurteilung, ein konkretes Strafverfahren stelle einen „Akt politischer Hygiene“ dar beziehungsweise die Mahnung, „die gesamte juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit (wäre) hinfällig“, oder man würde „mit dieser Anklage nicht durchkommen“ [5. Kap. B. III. 2. d)]. 370 Siehe diesbezügliche Beispiele aus politischen Ermittlungsverfahren schon oben (5. Kap. B. II. 3.). Daneben sind Beispiele aus durch ihren jeweiligen Deliktsvorwurf geprägten Ermittlungsverfahren Kommentierungen wie: „das hat es in diesem Umfang bei staatlichen Behörden in Rheinland-Pfalz noch nicht gegeben“ [5. Kap. B. III. 1. a) aa)], man habe es erst mit der „Spitze des Eisbergs“ zu tun [5. Kap. B. III. 1. a) bb)], „der Fall hat eine ganz neue, geradezu gesellschaftspolitische Dimension bekommen“ [5. Kap. B. III. 1. a) ee)], der Strafprozess werde „mit einem Scherbengericht über die Führungsqualität der deutschen Wirtschaft“ enden [5. Kap. B. III. 2. a) ff)], die Bezeichnung als „einen der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit“ [5. Kap. B. III. 2. b) aa)] oder aber auch die Zweifelsbekundung, inwieweit „die deutsche Beamtenschaft noch integer ist“ [5. Kap. B. III. 1. a) cc)]. 371 Vgl. Beispiele aus politischen Ermittlungsverfahren schon oben (5. Kap. B. II. 3.). Hierneben sind Beispiele aus durch ihren jeweiligen Deliktsvorwurf geprägten Ermittlungsverfahren die Verwendung konkreter Begrifflichkeiten, wie „sizilianische Verhältnisse“ [5. Kap. B. III. 1. a) cc)], „kriminelle Vereinigung“ [5. Kap. B. III. 1. a) ee)], „mafioses System“ respektive „Machiavelli der Manipulation“ [5. Kap. B. III. 2. a) cc)], „Netzwerk“ [5. Kap. B. III. 2. a) dd)], „kriminelles Geflecht“ [5. Kap. B. III. 2. b) bb)] oder auch die Bezeichnung als „dicksten Fisch, den wir jemals gefangen haben“ [5. Kap. B. III. 2. e) bb)]. 372 Siehe hierzu Beispiele aus politischen Ermittlungsverfahren: „Spendensammelbank“ [5. Kap. B. II. 1. a)], „mafiöse Strukturen“ oder „Korruptionssystem“ [5. Kap. B. II. 2. b)].

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5. Kap.: Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren

4. Je stärker derartige zweckorientierte Übergriffe auf die staatsanwaltschaftliche Informationspolitik im Ermittlungsverfahren ausfallen, desto ernsthafter werden der freie Charakter unserer Gesellschaft und die faire Prägung des modernen, liberalen Rechtsstaates auf die Probe gestellt. Im Falle einer vorverurteilenden Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren drohen die strafjustiziellen Ermittlungen außer Kontrolle zu geraten. Die strafverfolgungsrechtlichen Grenzen maßvoller, fairer Selbstbeschränkungen drohen überschritten zu werden, um schnell und medienwirksam „den Schuldigen“ präsentieren zu können. Dies führt u. U. zu einer medienöffentlichen Schuldvermutung oder sogar Schuldfeststellung zu Lasten des Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren, die zukünftig zu einem endgültigen persönlichen Makel zu werden droht. Eine so verfolgerperspektivisch angeleitete Strafverfolgung durch die Staatsgewalt ist im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Überzeugung untragbar.

Sechstes Kapitel

Rechtsschutz des Beschuldigten vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren Die einzelnen Beispiele rechtswirklicher Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren verdeutlichen eindringlich: Die in abstrakt-rechtlicher Hinsicht feinsinnige Modifikation der medienöffentlichen Strafrechtspflege im Sinne einer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung bleibt in der rechtswirklichen Informationspraxis vielfach wirkungslos. Die Grenzen des § 4 Abs. 2 LPG für zulässige schlicht-informative Medienauskünfte überschreitend entwickelt sich in vielen Fällen eine vorurteilsvolle Informationspolitik der Staatsanwaltschaft, die eine medial transportierte öffentliche Empörung oder sogar Besorgnis zusätzlich anfacht. Im Zusammenwirken einer derartig einseitigen Öffentlichkeitsarbeit und einer rücksichtslosen Medienberichterstattung liegt die gravierende Gefahr begründet, dass sich ein Ermittlungsverfahren zur einseitigöffentlichen „Inquisition“ entwickelt. Angesichts dieses Befundes ist nunmehr zu fragen, ob dem Beschuldigten in dieser Situation Rechtsschutz zukommt, um sich gegenüber einer Kriminalisierung im Ernstfall zur Wehr setzen zu können. Wir wollen uns deshalb zunächst mit der Frage der Strafbarkeit vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren befassen (A.). Die tatsächliche Möglichkeit einer strafrechtlichen Pönalisierung vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit würde zweifelsohne das schärfste Schwert darstellen und zugleich den effektivsten Rechtsschutz bieten.1 Grundsätzlich soll zwischen konkret-individualisierender und allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit unterschieden werden.2 Wie 1 Die Frage des Rechtsschutzes des Beschuldigten vor Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren war bisher lediglich vereinzelt Gegenstand einer vertieften Diskussion (vgl. von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 137 m. w. N.; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 51 ff., 161 ff. m. w. N.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 18 ff., 56 ff. m. w. N.; Ostendorf, GA 1980, S. 445 ff. m. w. N.). 2 Diese Differenzierung hat sich als sinnvoll erwiesen (vgl. Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 2, passim). Teilweise wurde in der Vergangenheit jedoch auch ausschließlich konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit untersucht (vgl. von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 137 m. w. N.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 1; Ostendorf, GA 1980, S. 445 ff. m. w. N.). Weiterhin Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz, S. 326 ff. m. w. N., zur rechtlichen Bewertung identifizierender Gerichtsberichterstattung.

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

wir feststellen werden, ist letztere strafrechtlich nicht pönalisierbar. Daher wird anschließend zu erörtern sein, wie gleichwohl versucht wird, den Beschuldigten vor allgemein-vorverurteilenden Tendenzen im Strafverfahren zu schützen (B.).

A. Strafbarkeit von konkret-individualisierender und allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit I. Tatbestandsmäßigkeit 1. Verletzung von Privatgeheimnissen Als Geheimhaltungsvorschriften, die ggf. einer ermittlungsbehördlichen Medienauskunft entgegenstehen könnten3, kommen insbesondere solche Regelungen in Betracht, welche den Schutz öffentlicher Geheimnisse bezwecken und auskunftsverpflichtete Behörden zumindest auch zum Adressaten haben (vgl. etwa §§ 203, 353b StGB).4 Gemäß § 203 Abs. 2 S. 1 Ziff. 1 StGB macht sich ein Amtsträger strafbar, wenn er unbefugt ein fremdes Geheimnis veröffentlicht. Diesem Geheimnis sind Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse eines anderen gleichgestellt (vgl. § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StGB). Schutzzweck des § 203 StGB ist die individuelle Sicherheit des Einzelnen vor Indiskretionen staatlicher Stellen, die mit den Angelegenheiten der Menschen befasst sind.5 Angesichts dieses wichtigen Schutzzweckes ist merkwürdig, dass § 203 Abs. 2 StGB in der praktischen Rechtsanwendung bisher nur äußerst selten zum Zuge gekommen ist.6 Es ist einerseits denkbar, dass der gemäß § 205 StGB notwendige Strafantrag für den Einzelnen eine erhebliche Hemmschwelle darstellt. Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass gerade seitens der staatlichen Stellen mit keinem besonderen Engagement zur Siehe oben: 5. Kap. A. I. 1. Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnr. 100 m. w. N. 5 Die Frage der Schutzrichtung des § 203 StGB ist umstritten: Nach einer Auffassung schütze § 203 StGB den „persönlichen Lebens- und Geheimbereich“, der im individuellen Interesse des Einzelnen insbesondere von solchen Trägern sozial relevanter Tätigkeiten nicht beeinträchtigt werden soll, denen sich der Betroffene weitreichend anvertrauen muss (T / F, StGB, § 203, Rndnr. 2 m. w. N.). A.A. bspw. Lenckner in: S / S, StGB, § 203, Rndnr. 3 m. w. N., der § 203 StGB eine „vorrangige sozialrechtliche Funktion“ zuschreibt und als primäres Schutzgut das „allgemeine Vertrauen in die Verschwiegenheit der Angehörigen bestimmter Berufe“ annimmt. Wohl vermittelnd: Cierniak in: MüKo, StGB, § 203, Rndnr. 5. 6 So stellt Rogall, NStZ 1983, S. 1 m. w. N. (insbesondere Fn. 8), fest, dass § 203 Abs. 2 StGB einerseits zwar „völlig neue Anforderungen an das Informationsverhalten von Amtsträgern und Behörden stellt“, die Strafverfolgungsstatistik 1975 bis 1980 andererseits jedoch durchschnittlich nur vier Verurteilungen aufweise. Ähnlich neuerdings auch Cierniak in: MüKo, StGB, § 203, Rndnr. 7 m. w. N., der darstellt, dass die Strafverfolgungstatistik für das Jahr 2000 lediglich zehn und für das Jahr 1999 lediglich sieben Verurteilungen ausweise. 3 4

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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Vergrößerung des allgemeinen Bekanntheitsgrades des § 203 Abs. 2 StGB gerechnet werden darf.7 Dementsprechend selten wurde bisher der Frage nachgegangen, ob Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB strafbar sein kann.8 Hierzu müsste etwa die Beschuldigtenidentität ein „Geheimnis“ i.S.v. § 203 Abs. 2 S. 1 StGB respektive eine „Einzelangabe über persönliche oder sachliche Verhältnisse“ gemäß § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StGB darstellen. Grundsätzlich ist eine konkrete Tatsache geheim, wenn sie nicht schon einem unbestimmten Personenkreis zugänglich ist.9 Nun wird es im Einzelfall schwierig sein, exakt zu bestimmen, welche Personen im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens von den Personalien des Beschuldigten Kenntnis erlangen. Es kann jedoch festgestellt werden, dass vor allem der Name des Beschuldigten, zudem aber auch andere persönliche Merkmale, welche den Schluss auf die Beschuldigtenidentität ermöglichen (scil. Alter, Wohnort oder Beruf), „Einzelangaben“ i. S. d. § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StGB darstellen.10 Die Einzelangaben müssten ferner für „Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ erfasst worden sein (vgl. § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StGB). Insofern müssten die Strafverfolgungsbehörden also Verwaltungsbehörden sein. Wie schon oben festgestellt11, sind sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft Organe der exekutiven Staatsgewalt. Die strafverfolgungsbehördliche Ermittlung der persönlichen Daten des Beschuldigten stellt mithin die Erfassung von Informationen zum Zwecke der Erfüllung öffentlicher, verwaltungsbehördlicher Aufgaben gemäß § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StGB dar. Schließlich müsste die Beschuldigtenidentität im Wege konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren „unbefugt“ veröffentlicht worden sein (vgl. § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 StGB). Fraglich ist an dieser Stelle, in welchen Fällen eine konkrete Befugnis zur Veröffentlichung der Beschul-

7 So auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 54 f. Diesbezüglich spricht Rogall, NStZ 1983, S. 1 m. w. N. – unter Berufung auf Dreher –, von der „Sphinx des § 203 StGB“. Vgl. auch Schulz, Medienberichterstattung, S. 54 m. w. N., der zusätzlich auf die ermittlungsrechtlichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem journalistischen Zeugnisverweigerungsrecht hinweist (dazu auch später: 7. Kap. B. III. 2.). 8 Vgl. bisher Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 55 ff. m. w. N.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 18 ff. m. w. N.; Ostendorf, GA 1980, S. 445 ff. m. w. N.; Schulz, Medienberichterstattung, S. 53 f. m. w. N. 9 Siehe Lenckner in: S / S, StGB, § 203, Rndnr. 5 m. w. N.; ähnlich T / F, StGB, § 203, Rndnr. 5 m. w. N. 10 Dabei kommt § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StGB nicht zur Anwendung: Zwar erfüllen die Medien eine „öffentliche Aufgabe“ (vgl. § 3 Abs. 1 LPG), allerdings betrifft § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StGB den zwischenbehördlichen Übermittlungsvorgang und die Medien gehören zweifelsohne nicht zur öffentlichen Verwaltung (vgl. oben 3. Kap. C., D., E.). 11 4. Kap. C. I. 1. 4., II.

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

digtenidentität vorliegt. Eine solche Befugnis ergibt sich nur aus der ausdrücklichen Zustimmung des verfügungsberechtigten Beschuldigten.12 Mithin kann konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB strafbar sein.13 Neben konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit – das hat die vorstehende Untersuchung einzelner Beispiele deutlich gezeigt14 – kommt es im Ermittlungsverfahren oftmals auch zu allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit. Letztere ist weniger durch die medienwirksame Veröffentlichung konkreter, d. h. „greifbarer“ Informationen, sondern vielmehr durch eine pauschale, vorurteilsvolle Präsentation und durch eine subjektive Bewertung von Ermittlungshandlungen und -erkenntnissen geprägt. In Bezug auf die drohenden persönlichen und sozialen Konsequenzen für den Beschuldigten beziehungsweise auf die faire Prägung des liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren daher aufgrund des „Wie“ der Informationsveröffentlichung relevant. Indessen betrifft § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB das „Ob“ einer öffentlichen Bekanntgabe. Somit kommt eine Strafbarkeit allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB von vornherein nicht in Betracht.

2. Verletzung des Dienstgeheimnisses Weiterhin könnte vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB strafbar sein. Hiernach macht sich ein Amtsträger strafbar, wenn er ein Geheimnis unbefugt offenbart und dadurch „wichtige öffentliche Interessen“ gefährdet. Im Unterschied zu § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB ist für eine Strafbarkeit gemäß § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB die Gefährdung „wichtiger öffentlicher Interessen“ erforderlich.

12 Während allgemein anerkannt ist, dass eine Identitätsveröffentlichung bei Vorliegen einer Veröffentlichungsbefugnis gerechtfertigt ist, d. h. dem Merkmal „unbefugt“ die Funktion eines Rechtswidrigkeitsmerkmals zukommt (vgl. BGHSt 1, S. 366 [368]; T / F, StGB, § 203, Rndnr. 31 m. w. N.), ist darüber hinaus strittig, ob die Zustimmung des verfügungsberechtigten Beschuldigten auch schon tatbestandsausschließend wirkt (dazu Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 60 m. w. N.; Lenckner in: S / S, StGB, § 203, Rndnr. 21 m. w. N.). Da eine Zustimmung des Beschuldigten zur Identitätsveröffentlichung jedenfalls ausdrücklich erfolgen muss, darf z. B. im Falle der Ablegung eines Geständnisses nicht zugleich – gewissermaßen konkludenterweise – die Zustimmung zur Identitätsveröffentlichung angenommen werden (vgl. eingehender Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 61 f. m. w. N.). 13 Vgl. auch Schulz, Medienberichterstattung, S. 53 f. m. w. N., der gleichwohl auf ermittlungsrechtliche Schwierigkeiten hinweist, weil die Medien ihre Informanten regelmäßig unter Zuhilfenahme des journalistischen Schutzmechanismus unserer Strafprozessordnung schützen werden (dazu später noch eingehender: 7. Kap. B. III. 2.). 14 Hierzu gerade oben: 5. Kap. C.

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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Dementsprechend bezweckt § 353b StGB – im Gegensatz zu § 203 StGB – nicht allein schon den Schutz des „Geheimnisses“ (vgl. § 353b Abs. 1 S. 1 StGB) respektive des allgemeinen Vertrauens in die Amtsverschwiegenheit.15 Vielmehr schützt § 353b StGB im Regelungskontext mit § 203 Abs. 2 StGB gerade die bezeichneten „wichtigen öffentlichen Interessen“ (vgl. § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB) vor einer Verletzung durch den pflichtwidrigen Verstoß gegen die Amtsverschwiegenheit.16 Dieser strafrechtliche Schutz greift, sobald eine konkrete und gewichtige Gefährdung vorliegt, wobei jedoch deren Bejahung grundsätzlich Tatfrage des konkreten Einzelfalles ist.17 Kann zunächst durch konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren eine derartige konkrete Gefährdung gewichtiger öffentlicher Interessen drohen? Der Bundesgerichtshof hat den gesetzmäßigen Ablauf des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als ein „wichtiges öffentliches Interesse“ i. S. d. § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB eingestuft.18 Wird der justizförmige Verlauf des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens durch die medienwirksame Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität konkret gefährdet? Dies trifft jedenfalls in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse zu: Oftmals ist in solchen Ermittlungsverfahren gerade die Tatsache der Prominenz des Beschuldigten die Ursache für eine äußerst intensive Medienberichterstattung, wodurch nicht selten ein Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung entsteht.19 Hierdurch kann sich gegenüber den Ermittlungsbehörden ein massives Druckszenario – etwa im Sinn einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“20 – aufbauen. In diesen Fällen droht der fairen Prägung des liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahrens konkret Gefahr. Generell bedeutet eine öffentlichkeitswirksame Bekanntgabe der Beschuldigtenidentität jedoch eher eine Gefährdung der individuellen persönlichen und sozialen Belange des betroffenen Beschuldigten.21 Überdies reicht allein die abstrakte Behauptung einer Gefährdung der justizförmigen Durchführung der strafrechtlichen Ermittlungen nicht aus, um eine Strafbarkeit i. S. d. § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 Anderer Auffassung: T / F, StGB, § 353b, Rndnr. 1 m. w. N. So auch Lenckner / Perron in: S / S, StGB, § 353b, Rndnr. 1 m. w. N. 17 Vgl. schon BGHSt 20, S. 342 (348 m. w. N.); weiterhin Träger in: LK, StGB, § 353b, Rndnrn. 24 ff., 27 m. w. N. 18 BGHSt 10, S. 276 (277). Dort ging es um die Frage der Anwendbarkeit des § 353b StGB im Falle der Veröffentlichung eines vertraulichen, fernschriftlich übermittelten Fahndungsgesuches im Rahmen eines Staatsschutzverfahrens. Ein Beamter der Kriminalpolizei hatte dieses gegenüber dem Fahndungsbetroffenen offenbart. Der Bundesgerichtshof urteilte, dass eine Gefährdung „erheblicher öffentlicher Interessen“ schon darin erblickt werden müsse, „daß durch die Preisgabe des Inhaltes des vertraulichen Fernschreibens fremde Einwirkungen auf den Gang der Ermittlungen ermöglicht und damit die Grundlagen für eine ordnungsgemäße Erfüllung der der Kriminalpolizei übertragenen Aufgaben in starkem Maße erschüttert wurden“. 19 Vgl. nur oben den „Fall Friedman“ (1. Kap. A.). 20 Siehe hierzu einleitend bereits oben: 1. Kap. A. 21 Dazu Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 63 m. w. N. 15 16

15 Neuling

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

StGB zu begründen.22 Selbst wenn man die Qualifikation der individuellen Schutzbelange des Beschuldigten als „wichtige öffentliche Interessen“ i.S.v. § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB bejahte, müsste stets noch der konkrete Nachweis einer solchen Gefährdung des Verfahrens geführt werden. Dies wird regelmäßig nicht möglich sein.23 Mithin kommt eine Strafbarkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß § 353b Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB nicht in Betracht. Gleiches gilt für allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit. 24

3. Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen Gemäß § 353d Ziff. 3 StGB25 macht sich derjenige strafbar, der „die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist“.

§ 353d StGB bezweckt in institutioneller Hinsicht den Schutz der Strafverfahrensbeteiligten, d. h. vor allem der Laienrichter, Zeugen und Sachverständigen, vor einer Beeinträchtigung ihrer für die faire Prägung des Strafverfahrens konstitutiven Unvoreingenommenheit – insbesondere durch eine frühzeitige Veröffentlichung der Anklageschrift oder anderer amtlicher Schriftstücke (vgl. § 353d Ziff. 3 StGB).26 Mit dieser Vorschrift soll verhindert werden, dass es aufgrund einer vorzeitigen medienöffentlichen Diskussion amtlicher Erkenntnisse in einem Strafverfahren zur Befangenheit der Strafverfahrensbeteiligten kommt, die ihrerseits die gerichtliche Wahrheitsfindung und Urteilskraft gefährdet.27 Hierneben wird die individuelle Persönlichkeit des Betroffenen vor öffentlicher Anprangerung durch die Veröffentlichung konkreter Informationen über das gegen ihn gerichtete Strafverfahren geschützt.28

Vgl. Träger in: LK, StGB, § 353d, Rndnr. 27 m. w. N. So bereits Schulz, Medienberichterstattung, S. 55 m. w. N. 24 Siehe oben: 6. Kap. A. I. 1. 25 Vgl. Braun, Medienberichterstattung, S. 61 ff. m. w. N., zu § 353d Ziff. 3 StGB als „einziger Strafnorm, die unmittelbar einen ein Strafverfahren betreffenden Medienbericht verbietet“. 26 Ausführlicher Lenckner / Perron, S / S, StGB, Rndnrn. 1, 40 m. w. N.; Träger in: LK, StGB, § 353d, Rndnrn. 38 f. m. w. N. Ferner auch T / F, StGB, § 353d, Rndnr. 1 m. w. N. 27 Ähnlich Träger in: LK, StGB, § 353d, Rndnr. 38 m. w. N. 28 Vgl. BVerfGE 71, S. 206 (216 f.); Braun, Medienberichterstattung, S. 62 f. m. w. N.; Träger in: LK, StGB, § 353d, Rndnr. 39 m. w. N.; T / F, StGB, § 353d, Rndnr. 1 m. w. N. A.A. Lenckner / Perron, S / S, StGB, § 353d, Rndnr. 40 m. w. N. 22 23

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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Wiederum könnte konkret-individualisierende respektive allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren von § 353d Ziff. 3 StGB erfasst sein.29 Grundsätzlich gilt die Vorschrift jedoch aufgrund ihrer tatbestandlichen Beschränkung auf Veröffentlichungen im Wortlaut gemeinhin als verfehlt.30 Zwar ist nachvollziehbar, gerade den Missbrauch der „authentifizierenden Wirkung der Amtlichkeit“31 offizieller Verlautbarungen strafrechtlich verhindern zu wollen. Gleichwohl darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch eine „nur“ sinngemäße Wiedergabe oder sogar eine verzerrte Veröffentlichung amtlicher Informationen ähnlich schädliche Konsequenzen für den Beschuldigten haben können. Insoweit beschneidet diese tatbestandliche Einschränkung den praxisrelevanten Anwendungsbereich des § 353d Ziff. 3 StGB derart restriktiv, dass die Vorschrift als Strafnorm zur „stumpfen Waffe“32 wird. Die praktischen Umgehungsmöglichkeiten sind offensichtlich: Bereits die nur graduell vom exakten Wortlaut eines amtlichen Schriftstückes abweichende Veröffentlichung lässt den Tatbestand des § 353d Ziff. 3 StGB entfallen.33 Der Vorschrift können keinerlei Anforderungen für die Zulässigkeit einer öffentlichen Individualisierung des Beschuldigten entnommen werden. Gleichzeitig wird auch allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren regelmäßig nicht die wortgetreue Wiedergabe eines amtlichen Schriftstückes darstellen. Im Ergebnis vermag die Strafnorm des § 353d Ziff. 3 StGB mithin keinerlei wirksamen Schutz zu Gunsten des Beschuldigten zu entfalten.34

4. Strafbewährte Veröffentlichung von Bildnissen Weiterhin kommt eine nebenstrafrechtliche Pönalisierung von vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren in Betracht. So könnte konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit gegen die Vorschriften des Kunsturheberge-

Vgl. zu dieser Frage auch Schulz, Medienberichterstattung, S. 55 ff. m. w. N. Dazu Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 221 m. w. N.; Bottke, JR 1980, S. 474 (476 m. w. N.); Braun, Medienberichterstattung, S. 66 ff. m. w. N. Lenckner / Perron, in: S / S, StGB, Rndnr. 41 m. w. N., stimmen dieser Kritik zu und bewerten die Vorschrift in Bezug auf ihren praktischen Wert als „Schlag ins Wasser“. Zudem kritisieren sie die Norm als Einladung zu „mühelosen Umgehungen“. Vorsichtiger hingegen T / F, StGB, § 353d, Rndnr. 6 m. w. N., die diese Norm vielsagend als „nicht schlechthin ungeeignet“ bezeichnen. 31 Lenckner / Perron in: S / S, StGB, § 353d, Rndnr. 41 m. w. N. 32 Lenckner / Perron in: S / S, StGB, § 353d, Rndnr. 41. 33 Auch Lenckner / Perron in: S / S, StGB, § 353d, Rndnrn. 41, 49 m. w. N.; a.A. Träger in: LK, StGB, § 353d, Rndnr. 58 m. w. N.; T / F, StGB, § 353d, Rndnr. 6. Vgl. daneben Braun, Medienberichterstattung, S. 63 ff. m. w. N., zur speziellen Frage der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „ganz oder in wesentlichen Teilen“ bei Vorveröffentlichungen allein des Anklagesatzes. 34 So im Ergebnis z. B. Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzung, S. 77. 29 30

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

setzes (KUG) verstoßen.35 Durch die §§ 22 ff. KUG wird das Recht am eigenen Bild geschützt (vgl. § 22 KUG).36 Ein „Bildnis“ i. S. d. § 22 S. 1 KUG stellt die Abbildung eines Menschen dar und kennzeichnet diesen dadurch als Individuum.37 Die §§ 23, 24 KUG stellen Ausnahmevorschriften dar und können im Einzelfall eine Bildnisveröffentlichung unter bestimmten Voraussetzungen entgegen § 22 KUG erlauben. Hierneben pönalisiert § 33 Abs. 1 KUG den Verstoß gegen die §§ 22, 23 KUG. Für die Strafbarkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG spricht zunächst, dass der Beschuldigte regelmäßig nicht in eine Bildnisveröffentlichung einwilligen wird. Demzufolge kommt ein Verstoß gegen § 22 S. 1 KUG in Betracht. Somit verbleibt es beim Maßstab des § 23 KUG. § 23 Abs. 1 Ziff. 1 KUG normiert die Entbehrlichkeit einer Einwilligung in Veröffentlichungen von Bildnissen aus dem Bereich der „Zeitgeschichte“. Wäre das Bildnis des Beschuldigten infolgedessen diesem Bereich zuzuordnen, läge eine Ausnahme von § 22 S. 1 KUG vor und eine Strafbarkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG entfiele.

a) Ist der Beschuldigte eine „Person der Zeitgeschichte“? Die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren wäre nach den Maßstäben des KUG zulässig, falls das Bildnis des Beschuldigten ein „Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte“ wäre (vgl. § 23 Abs. 1 Ziff. 1 KUG). Um den praktischen Umgang mit dem umständlichen Wortlaut des § 23 Abs. 1 Ziff. 1 KUG zu vereinfachen38, könnten wir auch fragen: Handelt es sich bei dem Beschuldigten um eine „Person der Zeitgeschichte“? Mit Horst NeumannDuesberg39 ist dabei zwischen „absoluten“ und „relativen“ Personen der Zeitgeschichte zu unterscheiden40: Absolute Personen der Zeitgeschichte sind demSiehe auch Braun, Medienberichterstattung, S. 71 ff. m. w. N. Hierbei handelt es sich um eine konkrete Ausformung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 BGB), vgl. auch oben: 5. Kap. A. II. 1. a). 37 Dabei kommt jede konkret-individualisierende Abbildungsweise in Betracht – egal, ob mittels Photo, Zeichnung oder Karikatur (von Gamm, Urheberrechtsgesetz, Einf., Rndnr. 104 m. w. N.). Ausführlicher Engau, Personen der Zeitgeschichte, S. 48 ff. m. w. N., zur Bedeutung des Bildes. 38 Ähnlich Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 25 f. m. w. N. 39 JZ 1960, S. 114 ff. m. w. N.; ders., JZ 1970, S. 564 (566 m. w. N.). Verwendung z. B. bei Rixecker in: MüKo, BGB, § 12 Anh., Rndnrn. 46 f. m. w. N. Vgl. eingehender auch Gronau, Personen der Zeitgeschichte. 40 Dazu eingehender Braun, Medienberichterstattung, S. 73 f. m. w. N.; Stapper, Namensnennung, S. 113 ff. m. w. N. 35 36

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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nach Personen des öffentlichen Lebens, die sich durch ihre exponierte gesellschaftliche Stellung (z. B. prominente Landes- und Bundespolitiker) oder aufgrund ihrer herausragenden Leistungen beziehungsweise Verdienste (etwa Wissenschaftler, Künstler oder Spitzensportler) regelmäßig willentlich der Medienberichterstattung, d. h. gleichermaßen der Medienöffentlichkeit, aussetzen.41 Diese Personen haben die Veröffentlichung ihres Bildnisses grundsätzlich zu dulden. Hierneben sind relative Personen der Zeitgeschichte solche Menschen, denen ein öffentliches Interesse ausschließlich aufgrund ihrer Beziehung zu einem zeitgeschichtlichen Ereignis entgegengebracht wird (beispielsweise den Überlebenden einer Katastrophe).42 Ein Ereignis wird wiederum nicht aufgrund des überdurchschnittlichen Medieninteresses, sondern wegen der sozialen Reaktionen hierauf zu einem zeitgeschichtlichen Geschehen.43 Nehmen wir infolgedessen die Gegenreaktionen als Indikator für die zeitgeschichtliche Qualität eines Ereignisses, so erscheint die Einstufung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens – gerade in Kriminalfällen von besonderem öffentlichen Interesse – als zeitgeschichtliches Ereignis nahe liegend.44 Gleichwohl soll die entscheidende Frage, ob schon die Betroffenheit des Beschuldigten durch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren ausreicht, um dessen relative Zeitgeschichtlichkeit anzunehmen, im Folgenden einer eingehenderen Prüfung unterzogen werden.45

b) Pauschal-automatisierte Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten in Rechtsprechung und Lehre Nach überwiegender Auffassung sei die relative Zeitgeschichtlichkeit zu bejahen, falls das öffentliche Informationsinteresse das individuelle Anonymitätsinteresse des Betroffenen überwiege.46 Allerdings dürfe das öffentliche Informations41 So von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 155; ausführlicher auch Gronau, Personen der Zeitgeschichte, S. 40 ff., 42 m. w. N. 42 Vgl. Neumann-Duesberg, JZ 1971, S. 305 (306 m. w. N.); Rixecker in: MüKo, BGB, § 12 Anh., Rndnr. 47 m. w. N. Detaillierter auch Brink, Die „Relative Person der Zeitgeschichte“, S. 4 ff. m. w. N. 43 Andernfalls läge es ausschließlich in den Händen der Medien, aus einer Person eine relative Person der Zeitgeschichte zu machen. Dies wiederum hieße, der Schutz der §§ 22 ff. KUG liefe leer (dazu Franke, Bildberichterstattung, S. 102 m. w. N.; Gronau, Personen der Zeitgeschichte, S. 41; Eb. Schmidt in: Recht und Staat, S. 26). 44 Siehe zu den erheblichen sozialen Reaktionen, die eine Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen im Einzelfall verursachen kann, bereits das Vorwort. Vgl. auch Rixecker in: MüKo, BGB, § 12 Anh., Rndnr. 52, der dabei der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK im Rahmen der Abwägungsentscheidung des § 23 Abs. 2 KUG erhebliche Bedeutung beimisst. 45 Diese Frage wirft auch Braun, Medienberichterstattung, S. 74, auf. 46 So schon OLG Oldenburg, NJW 1963, S. 920 (922 m. w. N.); OLG Frankfurt am Main, NJW 1971, S. 47 (48 m. w. N.). Weiterhin bereits Koebel, JZ 1966, S. 389 (390 m. w. N.); Neumann-Duesberg, JZ 1971, S. 305 (306 m. w. N.). Vgl. darüber hinaus Helle, Persönlich-

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

interesse nicht ausschließlich durch Sensationslust oder Neugier geprägt sein.47 Indikator einer zulässigen öffentlichen Individualisierung wäre zudem der schwerwiegende und aufsehenerregende Charakter der strafrechtlichen Vorwürfe, der über das alltägliche Maß eines „normalen“ Strafverfahrens hinausgehe.48 Handele es sich um alltägliche Vorwürfe, müsse das Strafverfahren als solches – z. B. aufgrund der Persönlichkeit des Beschuldigten, der Besonderheit des Angriffsobjektes, der Art und Weise der Begehung oder der Schwere der Tatfolgen – über das gewöhnliche Maß alltäglicher Kriminalität hinausgehen.49 Diese pauschal-automatisierte Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten verstößt gegen die gesetzlich vorgeschriebene Prüfungsreihenfolge, indem sie diese umkehrt: Nicht schon allein das Überwiegen des öffentlichen Informationsinteresses konstituiert die relative Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten in Bezug auf die ihm vorgeworfene Straftat. Vielmehr ist zunächst das Merkmal der relativen Zeitgeschichtlichkeit eigenständig zu prüfen, bevor hiernach dessen Informationsgehalt und demgemäß der Stellenwert des öffentlichen Informationsinteresses bestimmt werden kann.50 Diese Prüfungsreihenfolge wird durch die Regelung des § 23 KUG gesetzlich festgelegt: Erst nach der Prüfung der Zeitgeschichtlichkeit (vgl. § 23 Abs. 1 Ziff. 1 KUG) kann die Frage einer ausnahmsweise einwilligungsunabhängigen Veröffentlichungsbefugnis durch eine Interessenabwägung des öffentlichen Informationsinteresses und des „berechtigten Interesses des Abgebildeten“ anschließend entschieden werden (vgl. § 23 Abs. 2 KUG).51 Ansonsten würde man aufgrund einer vorschnellen Interessenabwägung52 keitsrechte, S. 151 ff. m. w. N., zur umfassenden Kasuistik in Bezug auf die Zeitgeschichtlichkeit einer Person. 47 Dazu OLG München, NJW 1963, S. 658 (659 m. w. N.); Rixecker in: MüKo, BGB, § 12 Anh., Rndnr. 47; Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, § 6 / II. / 2. 48 Vgl. OLG Stuttgart, JZ 1960, S. 126 (129), wonach zur Zeitgeschichte Ereignisse gehören, „die in ihrer Bedeutung über das Alltägliche hinausragen und für die fragliche Zeit ,etwas bedeuten‘“. Weiterhin hierzu auch Franke, Bildberichterstattung, S. 102, der meint, derartige Ereignisse dürften nicht lediglich den Einzelnen tangieren, sondern müssten darüber hinaus die „Gesellschaft als Ganzes“ betreffen. 49 Vgl. eingehender OLG München, NJW 1963, S. 658 (659); OLG Nürnberg, MDR 1963, S. 412 f.; OLG Oldenburg, NJW 1963, S. 920 (922); OLG Frankfurt am Main, NJW 1971, S. 47 (48); OLG Koblenz, NJW 1973, S. 251 (253). BVerfGE 35, S. 202 (232 m. w. N.), zur diesbezüglichen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Vgl. weiterhin von Gamm, Urheberrechtsgesetz, Einf., Rndnr. 118 m. w. N.; Lampe, NJW 1973, S. 217 (219 m. w. N.); Neumann-Duesberg, JZ 1971, S. 305 (306 m. w. N.); ders., JZ 1973, S. 261 (262 m. w. N.). 50 So auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 158 ff. m. w. N.; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 70 m. w. N.; Franke, Bildberichterstattung, S. 95 f. m. w. N. 51 Siehe Neumann-Duesberg, JZ 1971, S. 305 (307). 52 Ähnlich Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 28, der einen Dreischritt fordert: Prüfung des § 22 KUG, der Ausnahme (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG) und der weiteren Ausnahme (§ 23 Abs. 2 KUG). In diese Richtung auch Neumann-Duesberg, JZ 1971, S. 305 (307 m. w. N.). Allerdings versucht Neumann-Duesberg, die Notwendigkeit einer Interessen-

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die primär bedeutsame definitorische Frage der relativen Zeitgeschichtlichkeit pauschal-automatisiert übergehen.53 Dieses Abgrenzungskriterium der relativen Zeitgeschichtlichkeit stünde somit zur Disposition von Abwägungsüberlegungen.54 Daher schlägt Birgit Dalbkermeyer55 folgenden – grundsätzlich zustimmungswürdigen – Prüfungsansatz vor, der eine formal deutliche Abgrenzung des Merkmals der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten von einer späteren Interessenabwägung bezweckt: Zunächst sei festzustellen, ob einem konkreten Ereignis zeitgeschichtlicher Charakter zukomme. Sodann sei zu klären, ob der Betroffene mit diesem zeitgeschichtlichen Ereignis auch dergestalt in Verbindung stehe, dass die Annahme einer relativen Zeitgeschichtlichkeit gerechtfertigt erscheint (vgl. § 23 Abs. 1 Ziff. 1 KUG). Anschließend sei zu prüfen, ob durch die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten „berechtigte Interessen“ verletzt würden (vgl. § 23 Abs. 2 KUG). In Bezug auf unsere Konstellation bejaht Dalbkermeyer56 grundsätzlich die Zeitgeschichtlichkeit einer konkreten Straftat respektive eines Ermittlungsverfahrens mit dem „legitimen demokratischen Bedürfnis nach Kontrolle der für die Sicherheit und Ordnung zuständigen Organe“ und des „Interesses an der Wiederherstellung der durch die Straftat aus dem Gleichgewicht gebrachten Rechtsordnung durch Ermittlung und Verurteilung des Täters“. Schließlich nimmt Dalbkermeyer57 die relative Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten in dem Zeitpunkt an, in welchem die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt (vgl. § 170 Abs. 1 StPO), da dieser Zeitpunkt eine „gewisse Endgültigkeit der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit“ begründe und die notwendige Verknüpfung zwischen Beschuldigtem und Strafverfahren herstelle. abwägung im Rahmen von § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG dadurch zu begründen, indem er den Regelgehalt des § 23 Abs. 2 KUG verändert auslegt. § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG erlaube die Beurteilung der „besonderen Art und Weise“ einer Veröffentlichung. Eine solche Auslegung widerspricht jedoch der ratio legis der §§ 22 ff. KUG, welche den grundlegenden Schutz des individuellen Anonymitätsinteresses bezweckt (ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 70 f.). 53 Besonders problematisch erscheint vor diesem Hintergrund das Vorgehen des OLG Hamburg, UFITA 1975, S. 334 (341), wonach es auf die Einstufung gemäß § 23 Abs. 1 KUG schon gar nicht ankommen könne, da im Rahmen von § 23 Abs. 2 KUG ohnehin die widerstreitenden Interessen abgewogen werden müssten. Ähnlich pauschal die Abwägung des OLG Frankfurt am Main, NJW 1971, S. 47 (48 f.), welches das öffentliche Aufklärungsinteresse mit dem individuellen Interesse einer „in der Zeitgeschichte irgendwie hervortretenden Person“ andererseits abwägt – schließlich komme es doch lediglich auf das Vorliegen des „Verdachts eines schweren Verbrechens“ an. 54 Ähnlich kritisch auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 169 f. m. w. N.; Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 104 ff. m. w. N. Ferner Gronau, Personen der Zeitgeschichte, S. 34 ff., 36 m. w. N. 55 Schutz des Beschuldigten, S. 72 ff. m. w. N. Dazu auch Gronau, Personen der Zeitgeschichte, S. 36 m. w. N. 56 Schutz des Beschuldigten, S. 73. 57 Schutz des Beschuldigten, S. 76 f. m. w. N.

232

6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

c) Vorschlag zur Konkretisierung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten Dalbkermeyers Prüfungsansatz verdient zunächst grundsätzliche Zustimmung, denn er gewährleistet die Einhaltung einer formalrechtlich korrekten Prüfung des § 23 KUG. Ebenso begegnet die grundsätzliche Annahme der Zeitgeschichtlichkeit einer Straftat keinen gravierenden Bedenken. Gleichwohl muss Dalbkermeyer in der Frage der Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten widersprochen werden. Diese Frage ist ohnehin höchst umstritten58: Obgleich sich ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren in den meisten Fällen (einmal abgesehen von Ermittlungen gegen „Unbekannt“) gegen eine tatverdächtige Person als Beschuldigten richtet, kann die relative Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten sicherlich nicht schon aus der schlichten Tatsache der Existenz des Ermittlungsverfahrens allein folgen.59 Die Annahme eines Anfangsverdachtes stellt keine ausreichend solide Verknüpfung des Beschuldigten mit einer begangenen Straftat dar: Oftmals bestehen zunächst nur unsichere Ansatzpunkte und die Ermittler haben erst ein unscharfes Bild von der begangenen Straftat. Vielfach sind Erkenntnisse über lange Zeit nur vorläufigen Charakters. Zudem richten sich die Ermittlungen in vielen Fällen zuerst gegen mehrere Beschuldigte und außerdem wird eine Vielzahl strafrechtlicher Ermittlungsverfahren später eingestellt: Erledigung60

Einstellung61

Anklage62

Strafbefehl63

199064

2.876.090

774.712

413.924

473.766

1995

65

4.204.153

1.101.242

525.443

668.545

1999

66

4.495.556

1.189.695

547.564

620.081

Abb. 1

58 Vgl. detailliert Braun, Medienberichterstattung, S. 74 ff. m. w. N.; Stapper, Namensnennung, S. 128 ff. m. w. N. 59 Anderer Auffassung Helle, Persönlichkeitsrechte, S. 160. 60 Erledigte Ermittlungsverfahren, die von den Polizeibehörden, den Amts- bzw. Staatsanwaltschaften und den Steuer- respektive Zollfahndungsstellen eingeleitet wurden. 61 Einstellung durch Zurückweisung – § 170 Abs. 2 StPO. 62 Anklagen vor den Amts- und Landgerichten. 63 Strafbefehle, deren Erlass beantragt wurde. 64 Statistisches Bundesamt, 1990, S. 94 (für das frühere Bundesgebiet; für Hamburg geschätzt). 65 Statistisches Bundesamt, 1995, S. 118 (für das gesamte Bundesgebiet). 66 Statistisches Bundesamt, 1999 / 2000, S. 9 (für das gesamte Bundesgebiet; für Schleswig-Holstein: Ergebnisse aus 1997).

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

233

Wegen dieser Umstände darf eine öffentliche Individualisierung des Beschuldigten nicht schon gleich zu Beginn des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zulässig sein. Ansonsten forderte man schlimmstenfalls eine planmäßige Anprangerung mittels der Erhebung strafrechtlicher Vorwürfe nahezu heraus.67 Daneben wird eine Verknüpfung des Beschuldigten mit einer Straftat erst im Zeitpunkt des Vorliegens eines dringenden Tatverdachts (vgl. § 112 Abs. 1 StPO) bejaht.68 Dieser Zeitpunkt erscheint für die Bejahung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten allerdings ebenfalls ungeeignet, denn schon bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts (vgl. §§ 170 Abs. 1, 203 StPO)69 kann es nach Anklageerhebung und Zulassung zum öffentlichen Strafprozess (vgl. §§ 169 ff. GVG) kommen. Hierbei ist eine öffentliche Individualisierung des Angeklagten ohnehin wahrscheinlich.70 Außerdem besteht die Möglichkeit des späteren Wegfalls des dringenden Tatverdachts, da sich dieser – im Gegensatz zum hinreichenden Tatverdacht (vgl. §§ 170 Abs. 1, 203 StPO) – gerade nicht auf das Ermittlungsergebnis, sondern auf die Ermittlungen bis zum Antrag auf Anordnung eines Haftbefehls (vgl. § 114 Abs. 1 StPO) bezieht.71 Dagegen kann frühestens der Zeitpunkt der Zulassung der Anklage respektive der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das zuständige Strafgericht (vgl. §§ 199 Abs. 1, 203 StPO) die Annahme einer zureichend festen Verbindung des Angeklagten zur vorgeworfenen Straftat, d. h. die Bejahung der relativen Zeitgeschichtlichkeit, rechtfertigen.72 Zugegebenermaßen kann bereits in der Anklageerhebung eine vorherige Zäsur gesehen werden73: Nach der Entscheidung, ein strafrechtliches ErÄhnlich Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 191. Dabei stellt von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 214 ff. m. w. N., auf den Zeitpunkt des Erlasses eines Haft- oder Unterbringungsbefehls ab. Lampe, NJW 1973, S. 217 f., will wiederum erst die tatsächliche Verhaftung genügen lassen. Vgl. detaillierter zu den verschiedenen Auffassungen: Braun, Medienberichterstattung, S. 75 f. m. w. N.; Stapper, Namensnennung, S. 129 f. m. w. N. 69 Der hinreichende Tatverdacht ist Voraussetzung für die Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 1 i.V.m. § 203 StPO). Er liegt vor, soweit die Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte eine strafbare Handlung vorgenommen hat und auch verurteilt wird (Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 114, 357 m. w. N.; M-G, StPO, Rndnr. 1 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 37, Rndnr. 13 m. w. N.). Vgl. schon oben zu dem Streit, ob es in diesem Zusammenhang auf die Wahrscheinlichkeit einer gerichtlichen Verurteilung oder aber auf die staatsanwaltschaftliche Prognose ankommt (4. Kap. / B. / IV.; weiterhin M-G, StPO, § 170, Rndnr. 2 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 38, Rndnr. 6 m. w. N.). 70 Auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 212 f. m. w. N.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 192 m. w. N. 71 Vgl. auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 75 f.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 191 f. m. w. N. 72 So auch OLG Köln, AfP 1972, S. 277; OLG München, NJW 1963, S. 658 (569); Marxen, GA 1980, S. 365 (378 m. w. N.). A.A. Stapper, Namensnennung, S. 131, der u. a. auf die Möglichkeit einer nichtöffentlichen Hauptverhandlung hinweist (vgl. etwa § 48 Abs. 1 JGG, §§ 171a, 171b GVG). 73 In diese Richtung Simitis, zit. bei Koch, ZRP 1989, S. 401 (402). 67 68

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

mittlungsverfahren einzuleiten, stellt die Entscheidung der Anklageerhebung Abschluss der vorgerichtlichen Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden Gleichwohl bleibt für den tatsächlichen Übergang des Strafverfahrens in Hauptverfahren die Entscheidung des zuständigen Strafgerichts gemäß §§ Abs. 1, 203 StPO notwendig.

den dar. das 199

Zudem sprechen für diesen Zeitpunkt auch inhaltliche Erwägungen: Eine zureichend feste Verbindung zwischen dem Betroffenen und einem Strafverfahren kann frühestens in dem Moment entstehen, in welchem eine zureichend objektive und somit verlässliche Entscheidung über diese Verknüpfung getroffen wurde. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen74 erscheint jedoch äußerst zweifelhaft, inwieweit die staatsanwaltschaftliche Abschlussentscheidung (vgl. § 170 StPO) diesem Erfordernis tatsächlich genügt. Wie gezeigt75, zwingt die Objektivitätsmaxime des § 160 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft in einen nahezu unlösbaren Pflichtenkonflikt. Vor allem soll die Staatsanwaltschaft zwar die gesetzmäßige Durchsetzung einer effizienten Strafverfolgung gewährleisten; gleichwohl ist sie gerade in öffentlichkeitsbedeutsamen Strafverfahren den Medien „ausgesetzt“, die oftmals einen erheblichen Druck auf die federführende Strafverfolgungsbehörde ausüben. Außerdem sieht sich unser Strafjustizsystem zunehmend instrumentalisierenden Übergriffen ausgesetzt, wodurch es in die Lage gerät, für die Beseitigung „gesellschaftlicher Großstörungen“76 verantwortlich gemacht zu werden. Angesichts dieses vielschichtigen Konfliktszenarios gelingt es der Staatsanwaltschaft in vielen Fällen nicht, dem Objektivitätspostulat des § 160 Abs. 2 StPO nachzukommen. Dieses scheint eher strafprozessuales Ideal denn rechtswirklicher Befund zu sein. Dementsprechend darf die häufig vorurteilsvoll geprägte Informationspolitik der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren77 nicht verwundern. Dies bedeutet allerdings gleichzeitig auch, dass die staatsanwaltschaftliche Entscheidung zur Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 1 StPO) gerade nicht die vorliegend notwendige Objektivität und Verlässlichkeit besitzt. In Anbetracht dieser Umstände kann erstmals im Zeitpunkt der Zulassung der Anklage respektive der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das zuständige Strafgericht (vgl. §§ 199 Abs. 1, 203 StPO) eine zureichend feste Verbindung zwischen dem Angeklagten und der ihm vorgeworfenen Straftat entstehen. Sinn und Zweck dieses sog. „Zwischenverfahrens“ liegen in der nichtöffentlichen Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Anklage durch eine „von der Anklagebehörde unabhängige Instanz“78 begründet. Insbesondere vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen erscheint es sinnvoll, das Strafverfahren nach erhobener Anklage nicht unmittelbar in das Verfahrensstadium des öffentlichen Strafprozesses münden 74 75 76 77 78

Insbesondere oben: 5. Kap. B. C. Zu den folgenden Ausführungen insgesamt zuletzt oben: 4. Kap. E. Zu diesem Begriff bereits oben: 1. Kap. B. II. Dazu zuletzt oben: 5. Kap. C. Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 352.

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

235

zu lassen. Sicherlich ist zuzugeben, dass das strafgerichtliche Hauptverfahren in der Rechtspraxis überwiegend eröffnet wird: Erledigte Verfahren79 Eröffnungsablehnung Eröffnungsablehnung AG80 LG81 199082

428.259 / 10.949

4.924

193

1995

83

551.362 / 12.549

5.156

258

2000

84

608.552 / 12.004

6.373

216

Abb. 2

Unabhängig davon, dass die Zulassung der Anklage respektive die Eröffnung des Hauptverfahrens gerade auch in Strafverfahren von besonderem öffentlichen Interesse teilweise abgelehnt wird85, hat der Angeschuldigte im Zwischenverfahren insbesondere die Möglichkeit, sich gegen den konkreten Inhalt der Anklageschrift mittels Einwendungen und Beweisanträgen zur Wehr zu setzen und somit den Strafverfahrensablauf zu beeinflussen.86 Festzuhalten bleibt schließlich, dass der Beschuldigte also erst nach Zulassung der Anklage respektive Eröffnung des Hauptverfahrens zur „relativen Person der Zeitgeschichte“ (vgl. §§ 23 Abs. 1 Ziff. 1 i.V.m. 22 S. 1 KUG) wird, denn frühestens in diesem Zeitpunkt kann eine zureichend feste Verknüpfung seiner Person mit einer Straftat beziehungsweise einem Strafverfahren als zeitgeschichtlichem 79 Von den Amtsgerichten (erste Zahl) und von den Landgerichten (zweite Zahl) erstinstanzlich erledigte Anklagen. 80 Für 1990: Amtsgerichte des früheren Bundesgebietes; ab 1995: Amtsgerichte des gesamten Bundesgebietes. 81 Für 1990: Landgerichte des früheren Bundesgebietes; ab 1995: Landgerichte des gesamten Bundesgebietes. 82 Statistisches Bundesamt, 1990, S. 74, 80. 83 Statistisches Bundesamt, 1995, S. 84, 94. 84 Statistisches Bundesamt, 2000, S. 104, 114. 85 Dazu auch Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 40, Rndnr. 3 m. w. N., in Bezug auf den sog. „Spiegel-Prozeß“. 86 Vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 352. Im Ergebnis überzeugt daher auch der Einwand nicht, das Zwischenverfahren führe zur Voreingenommenheit des zuständigen Gerichtes, falls dieses die Anklage zulasse und die Hauptverhandlung eröffne. Eine Abschaffung des Zwischenverfahrens hätte im Hinblick auf das vorliegende Untersuchungsthema vielmehr die Folge, dass der Betroffene einem ggf. ungerechtfertigten – öffentlichen – Strafprozess nahezu schutzlos gegenüberstünde (dazu Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 352 m. w. N.). Daneben verweist Rieß in: L-R, StPO, Vor § 198, Rndnrn. 15 ff. m. w. N., darauf, dass ein überzeugender Beweis dieses Vorwurfes der Voreingenommenheit bisher nicht erbracht werden konnte. Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 40, Rndnr. 3 m. w. N., plädiert dagegen für ein „Eröffnungsgericht“ resp. einen „Eröffnungsrichter“.

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

Ereignis angenommen werden. Vorher ist eine öffentliche Individualisierung durch Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gemäß §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG strafbar.

5. Zusammenfassung Konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren kann die Straftatbestände des § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB und der §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG erfüllen.87 Hingegen ist allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit von vornherein nicht straftatbestandsmäßig.

II. Rechtswidrigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit In Anknüpfung an dieses Zwischenergebnis zur strafrechtlichen Tatbestandsmäßigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren gilt es nunmehr, deren Rechtswidrigkeit zu überprüfen.88

1. Vorbemerkungen Erfolgt konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren nicht „unbefugt“ i. S. d. § 203 Abs. 2 S. 1 StGB, so entfällt im Ergebnis auch deren Strafbarkeit. Eine Veröffentlichungsbefugnis könnte sich aus dem Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes ergeben.89 Zunächst kommen gesetzliche Offenbarungsrechte oder sogar -pflichten nicht in Betracht.90 Dabei haben die vorstehenden Erörterungen91 insbesondere ergeben, 87 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 225 m. w. N., und Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 169 ff. m. w. N., zur Relevanz beamtenrechtlicher Amtsverschwiegenheitspflicht (vgl. §§ 39 BRRG, 61 Abs. 1 S. 1 BBG bzw. § 26 Abs. 1 S. 1 BerlBG). 88 Hierbei stellt sich zunächst das Problem der Bestimmung eines einheitlichen Prüfungsmaßstabs. Angesichts der ähnlichen Individualisierungswirkung von Namens- und Bildnisveröffentlichung (a.A. Ostendorf, GA 1980, S. 445 [454], der einer Namensveröffentlichung die größere Individualisierungswirkung zuschreibt) ist die Anlegung unterschiedlicher Maßstäbe, d. h. einerseits ausschließlich § 24 KUG und andererseits sämtliche „allgemeinen“ Rechtfertigungsgründe, abzulehnen (vgl. auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 81 f. m. w. N.). 89 Vgl. T / F, StGB, § 203, Rndnr. 31 m. w. N. Ausführlicher Ciernak in: MüKo, StGB, § 203, Rndnrn. 103 ff. m. w. N.; Lenckner in: S / S, StGB, § 203, Rndnrn. 21 ff., 26 ff. m. w. N. Vgl. aber auch bereits oben: 6. Kap. I. 1. 1.1.

A. Strafbarkeit von vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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dass § 4 Abs. 1 LPG konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren nicht legitimieren kann. Mithin kommen nunmehr allgemeinstrafrechtliche Rechtfertigungsgründe in Betracht. Vorliegend könnte speziell ein rechtfertigender Notstand (vgl. § 34 StGB) zu bejahen sein.92 Gleichwohl wird kontrovers über die Frage diskutiert, ob die Grundsätze des rechtfertigenden Notstandes überhaupt zur Rechtfertigung staatsgewaltlicher Eingriffe in Individualrechtspositionen des Staatsbürgers herangezogen werden dürfen.93 Die vertretenen Auffassungen reichen dabei von der Bejahung einer grundsätzlichen Anwendbarkeit94 über die Annahme einer nachrangigen Anwendbarkeit im Falle des Fehlens spezieller öffentlich-rechtlicher Sondervorschriften95 und die Bejahung der Einschlägigkeit in „nicht durch Spezialgesetze kodifizierbare Extremsituationen“ 96; ferner in gewissen „Ausnahmefällen“97, in welchen der Staat sehr hochwertige Rechtsgüter retten müsse oder in undenkbaren „Ausnahmesituationen“98, bis hin zur vollständigen Ablehnung einer Anwendbarkeit99. Gravierende Bedenken ergeben sich gegenüber einer Anwendbarkeit des rechtfertigenden Notstandes (vgl. § 34 StGB) als allgemeiner Rechtfertigungsgrund für staatsgewaltliche Eingriffe in Individualrechtspositionen des Bürgers insbesondere 90 Siehe hierzu T / F, StGB, § 203, Rndnrn. 37 ff. m. w. N. Detaillierter Ciernak in: MüKo, StGB, § 203, Rndnrn. 88 ff. m. w. N.; Lenckner in: S / S, StGB, § 203, Rndnrn. 29, 52 ff. m. w. N. 91 Vgl. oben: 5. Kap. A. I. 1. b). 92 Zum allgemeinstrafrechtlichen Erfordernis einer notstandstauglichen Kollisionslage: Erb in: MüKo, StGB, § 34, Rndnrn. 51 ff. m. w. N.; Lenckner / Perron, S / S, StGB, § 34, Rndnr. 8 m. w. N.; T / F, StGB, § 34, Rndnrn. 7 ff. m. w. N. Vorliegend kollidiert das individuelle Anonymitätsinteresse des Beschuldigten mit dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch „Rechtsgüter der Allgemeinheit“ notstandsfähig sein können (Erb in: MüKo, StGB, § 34, Rndnr. 57 m. w. N.; Lenckner / Perron, StGB, § 34 Rndnr. 10 m. w. N.). Ausführlicher zur vorliegenden speziellen Interessenkollision Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 113 ff. m. w. N., 120 f., der allerdings die Anerkennung des allgemeinen Informationsinteresses als notstandsfähiges Rechtsgut der Allgemeinheit mit der Begründung ablehnt, dass dieses nicht als „elementares Lebensinteresse der Allgemeinheit“ angesehen werden könne. 93 Instruktiv zu dieser Frage bspw. Roxin, Strafrecht, § 15, Rndnrn. 89 f. m. w. N. i.V.m. § 15, Rndnrn. 91 ff. m. w. N. 94 Vgl. BGHSt 27, S. 260 ff. m. w. N. („Kontaktsperre“); Gössel, JuS 1979, S. 162 ff. m. w. N.; Lange, NJW 1978, S. 784 ff. m. w. N. 95 Siehe etwa BGHSt 31, S. 304 (307); Lenckner / Perron in: S / S, StGB, § 34, Rndnr. 7 m. w. N.; T / F, StGB, § 34, Rndnr. 24 m. w. N. 96 Bottke, JA 1980, S. 93 (95). 97 Franzheim, NJW 1979, S. 2014 (2017 m. w. N.). 98 Maurach / Zipf, Strafrecht, § 27, Rndnr. 33. 99 Vgl. etwa Amelung, NJW 1977, S. 833 ff. m. w. N.; Ostendorf, RuP 1978, S. 137 (140), der in diesem Kontext von einer „Superermächtigungsnorm gegen den Bürger“ spricht. Dazu auch Grebing, GA 1979, S. 79 (83, 105 f.), der allerdings eine Ausnahme im Falle der Rettung eines Menschenlebens zulassen will.

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

wegen rechtsstaatlicher Erwägungen: Es entstünde die erhebliche Gefahr einer Umgehung gesetzlich umgrenzter staatlicher Eingriffsbefugnisse; wäre doch ernsthaft zu bedenken, dass sich der Staat unter diesen Umständen zur Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgaben regelmäßig auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund berufen würde. Demzufolge stünde zu befürchten, dass das ausbalancierte System öffentlich-rechtlicher Eingriffsbefugnisse aufgrund einer Entwicklung des rechtfertigenden Notstandes (vgl. § 34 StGB) zu einer Art Universalermächtigung aus den Angeln gehoben werden könnte.100 Die Gefahr einer solchen Entwicklung liegt insbesondere im Regelungszweck des rechtfertigenden Notstandes (vgl. § 34 StGB), der den normativ umgrenzten Handlungsfreiraum des Einzelnen gerade ausnahmsweise vergrößert.101 Zudem begegnet der rechtfertigende Notstand (vgl. § 34 StGB) als öffentlich-rechtliche Eingriffsgrundlage grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken: Gemäß den Bestimmtheitsanforderungen an Gesetzesvorbehalte für belastende Eingriffe der staatlichen Gewalt sind die konkrete persönliche Bezeichnung des hierdurch berechtigten Trägers hoheitlicher Gewalt und die spezifische sachliche Umgrenzung der zulässigen Eingriffsmodi zwingend erforderlich.102 Jedenfalls können wir feststellen, dass unsere vorliegende Konstellation noch nicht einmal eine außerordentliche existenzielle Extremlage darstellt, welche „die Zulässigkeit auch außergewöhnlicher hoheitlicher Reaktionen erfordert, obgleich diese von vorhandenen Eingriffsermächtigungen nicht gedeckt ist“103.

Zur Rechtfertigung konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren darf also nicht auf den rechtfertigenden Notstand (vgl. § 34 StGB) zurückgegriffen werden. Eine gesetzliche Rechtfertigung ist demgemäß ausgeschlossen. Hieraus folgt allerdings noch nicht die abschließende Feststellung, dass konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren grundsätzlich „unbefugt“ (vgl. § 203 Abs. 2 S. 1 StGB) ist. Ansonsten schöbe man ermittlungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit einen grundlegenden Riegel vor, was wiederum ihrer verfassungsunmittelbaren Dimension104 widerspräche, die ihrerseits dem Spannungsfeld zwischen allgemeinem öffentlichen Informationsrecht einerseits und individuellem Anonymitätsinteresse Ähnlich Amelung, NJW 1977, S. 833 (837). Ostendorf, RuP 1978, S. 137 (139 m. w. N.), spricht in diesem Zusammenhang sogar von „Pervertierung“. 102 Dazu Hirsch, LK, StGB, § 34, Rndnrn. 6 ff. m. w. N. 103 Hirsch in: LK, StGB, § 34, Rndnr. 17, der beispielhaft das Szenario der Drohung einer Privatperson mit ihr zur Verfügung stehenden atomaren Massenvernichtungswaffen und der hieraus resultierenden Bedrohung der gesellschaftlichen und staatlichen Existenz wählt. 104 Vgl. oben: 3. Kap. C. D. E., 5. Kap. A. I. 1. 100 101

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des Beschuldigten andererseits entspringt.105 Demzufolge ist zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren zusätzlich im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eine Interessenabwägung durchzuführen.106 Entsprechender Anknüpfungspunkt ist hierbei sowohl die Formulierung „unbefugt“ (vgl. § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB) als auch der Wortlaut „berechtigtes Interesse“ (vgl. § 23 Abs. 2 KUG). Insofern liegen „allgemeine Gesetze“ i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG107 vor, die nicht übermäßig beschneidend wirken dürfen und daher ihrerseits wiederum im Lichte der Verfassung auszulegen und ggf. einzuschränken sind.108 Daneben ist gleichfalls zu bedenken, dass eine öffentliche Individualisierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren zu Informationszwecken mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Verankerung des individuellen Persönlichkeitsschutzes nur so lange zulässig sein kann, wie deren belastenden individuellen Konsequenzen zur Notwendigkeit einer Identitätsveröffentlichung außer Verhältnis stehen.109

105 BVerfGE 35, S. 202 (219). Dabei deutet die ausdrückliche Gesetzessystematik der §§ 203 StGB, 22 ff. KUG zunächst auf einen möglichen Abwägungsvorrang des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten hin. M.a.W.: ggf. soll eine Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität nur in besonderen Sonderfällen rechtmäßig sein (so Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 90). Dagegen darf keinesfalls ein absolutes Rangverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlichen Schutz der Persönlichkeit und der verfassungsrechtlichen Garantie der Pressefreiheit angenommen werden (so aber Schüle / Huber, Persönlichkeitsschutz, S. 36 ff., 38 ff.). Vielmehr ist die Pressefreiheit einerseits in ihrer für das demokratische Staatswesen „schlechthin konstituierenden“ Relevanz zu berücksichtigen (BVerfGE 12, S. 205 [259 ff.]; 35, S. 202 [221 f. m. w. N.]) und fungiert das ebenfalls verfassungsunmittelbare Schutzgebot der Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG andererseits als entgegengesetztes „Korrektiv“ (BVerfGE 35, S. 202 [221]). 106 Schon von Gamm, Urheberrechtsgesetz, Einf., Rndnr. 113 m. w. N. Weiterhin Ciernak in: MüKo, StGB, § 203, Rndnr. 105 m. w. N.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 161 ff. m. w. N.; T / F, StGB, § 203, Rndnr. 44 m. w. N. 107 BVerfGE 35, S. 202 (224); Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 162 f. m. w. N. Allgemeiner zur „Wechselwirkung“ zwischen den begrenzenden „allgemeinen Gesetzen“ (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG) und der erneuten Begrenzung wiederum dieser Grenzen im Wege der verfassungskonformen Auslegung: BVerfGE 7, S. 198 (208 f.) – „Lüth“; Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 38 f. m. w. N. 108 Dabei ist zu beachten, dass diese einfachgesetzlichen Beschränkungen ihrerseits wiederum verfassungsunmittelbare Ausprägungen des gleichfalls verfassungsrechtlich verankerten Persönlichkeitsschutzes sind (BVerfGE 35, S. 202 [225]). 109 Grundsätzlich weiterhin BVerfGE 7, S. 377 (405), und 13, S. 97 (105), zur Zulässigkeit grundrechtlicher Abwägung.

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2. Öffentliches Informationsinteresse gerade an der Beschuldigtenidentität? Der repräsentativ-demokratischen Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 1, 2 GG) entspringt, gewissermaßen im Sinne einer fundamentalen demokratischen Öffentlichkeitsmaxime, die konstitutive Notwendigkeit zur kontinuierlichen und manipulationsresistenten Kommunikation zwischen dem Staatsvolk und den verschiedenen Organen der Staatsgewalt. Insoweit wird durch die umfassende Publizität staatlicher Gewaltausübung die stete und umfangreiche Information des Staatsvolkes als vitales Fundament der Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt gewährleistet. Der Stellung des Staatsvolkes als oberstem plebiszitären Kontrolleur folgt die Notwendigkeit einer möglichst umfassenden Information der Öffentlichkeit.110 Dieser elementare Richtungsentscheid unserer Verfassungsväter liegt insbesondere in den leidvollen Erfahrungen mit massiven Informationsbeschränkungen, staatlicher Meinungsdiktatur, Empfangsverboten für Rundfunksender oder Literatur- und Kunstverboten während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft111 begründet. Demzufolge kommt den Medien als zentralen Informationsübermittlern in der modernen Mediengesellschaft eine Schlüsselrolle zu. Ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge schützt die verfassungsrechtlich verbürgte Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), die eine ungehinderte Entfaltung des für die Funktionstüchtigkeit des freien, demokratischen Rechtsstaates unabdingbaren öffentlichen Meinungsdiskurses bezweckt. Die Ausübung des Individualfreiheitsrechts des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG wird durch die Herstellung „allgemein zugänglicher Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ermöglicht. Da der einzelne Staatsbürger auf diese allgemeinen Quellen beschränkt bleibt, obliegt es den Medien, medial zugängliche Quellen zu schaffen. Angesichts ihrer zahlreichen Auskunfts- und Informationsmöglichkeiten bilden die Medien daher ein elementares Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft.112 Dessen ungeachtet verbleibt es bei der Frage, ob vor diesem Hintergrund sogar der Veröffentlichung der Identität des Beschuldigten – gewiss eine besonders weitgehende Belastung des Betroffenen – ein solcher essentieller Informationsgehalt zukommt, der dem Schutz des allgemeinen Informationsinteresses der Öffentlichkeit unterfallen muss.113 Teilweise wird hierbei vertreten, dass eine öffentliche Individualisierung des Beschuldigten vor allem dann zulässig sei, wenn es sich um einen schwerwiegenden strafrechtlichen Vorwurf handele, erhebliche Verdachtsmomente bestünden und der Individualisierung ein bedeutsamer ÖffentlichkeitsVgl. dazu insgesamt zuletzt: 3. Kap. E. Siehe ebenfalls oben: 2. Kap. C. IV. D. 112 Vgl. bereits oben: 3. Kap. E., 5. Kap. A. I. Anschaulich auch Stammler, Presse, S. 359. 113 Detailliert Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 172 ff. m. w. N., zur Frage des Informationswertes gerade auch der Beschuldigtenidentität. 110 111

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wert innewohne.114 Diese Kriterien seien insofern schon deswegen höchst problematisch, als im Falle ihres tatsächlichen Vorliegens ein gleichermaßen gesteigertes Anonymitätsschutzinteresse seitens des potentiell Betroffenen bestünde.115 Weiterhin hat das Bundesverfassungsgericht in seiner „Lebach-Entscheidung“116 festgestellt, dass die Begehung einer Straftat die gesamte Rechtsordnung verunsichere und insbesondere die Rechtsgüter des Betroffenen beeinträchtige. Hieraus resultiere die allgemeine „Furcht vor Wiederholungen solcher Straftaten und das Bestreben, dem vorzubeugen“117 und demzufolge ein legitimes Bedürfnis „nach Kontrolle der für die Sicherheit und Ordnung zuständigen Staatsorgane und Behörden, der Strafverfolgungsbehörden und der Strafgerichte“118. Vor diesem Hintergrund werde das allgemeine Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer konkreten Straftat – und eben auch an dem mutmaßlichen Straftäter – umso stärker, „je mehr die Straftat sich durch die Besonderheit des Angriffsobjekts, die Art der Begehung oder die Schwere der Folgen über die gewöhnliche Kriminalität heraushebt“119. Nicht vergessen werden darf hierbei jedoch, dass das Gericht mit der Konstellation eines bereits rechtskräftig verurteilten Straftäters befasst war120, wohingegen wir uns vorliegend mit der Frage des öffentlichen Umgangs mit einer zunächst erst beschuldigten Person auseinandersetzen. Folglich müssen an die Zulässigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren strengere Anforderungen gestellt werden: Bereits die Begründung einer Verunsicherung der Rechtsordnung kann eine öffentliche Individualisierung des Beschuldigten nicht rechtfertigen, denn gegen den tatverdächtigen Beschuldigten wird zunächst erst einmal ermittelt.121 Sodann ist jeglichen präventiven Bestrebungen eine klare Absage zu erteilen; eine Instrumentalisierung des Beschuldigten verstieße gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG) und das Schutzprinzip der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK).122 Noch am ehesten könnte der Aspekt des Kontrollbedürfnisses eine öffentliche Individualisierung des 114 Eingehender zu diesen Kriterien: OLG Frankfurt, NJW 1971, S. 47 ff.; OLG Braunschweig, NJW 1975, S. 651 ff. 115 Umfassender Bornkamm, NStZ 1982, S. 102 (105 m. w. N.), zu diesem Aspekt im Rahmen der Abwägung. 116 Näher – auch zu „Lebach II“ – schon oben: 5. Kap. A. II. 1. c). 117 BVerfGE 35, S. 202 (231). 118 BVerfGE 35, S. 202 (231). 119 BVerfGE 35, S. 202 (231). 120 Entwickelt das Bundesverfassungsgericht doch selbst den Gedanken einer gesteigerten Zumutbarkeit zu Lasten desjenigen, der „den Rechtsfrieden bricht“ (BVerfGE 35, S. 202 [231]). 121 So auch Bornkamm, NStZ 1983, S. 102 (105). Ausführlicher hierzu weiterhin Gronau, Personen der Zeitgeschichte, S. 190 ff. m. w. N.; Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 95 f. 122 Vgl. oben: 5. Kap. A. II.

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Beschuldigten rechtfertigen. Gleichwohl stellt sich folgende Frage: Fehlten der Öffentlichkeit, d. h. dem Staatsvolk als oberstem plebiszitären Wächter, wirklich unentbehrliche Informationsinhalte, wenn die Ermittlungsbehörden die Identität des Beschuldigten vorenthielten? Änderte sich tatsächlich die Qualität der Kontrolle der strafverfolgenden Staatsgewalt, falls die Öffentlichkeit erfahren würde, dass strafrechtliche Ermittlungen nicht gegen diesen, sondern jenen Beschuldigten geführt worden sind?123 Obgleich das allgemeine Informationsinteresse der breiten Öffentlichkeit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG) vor dem Hintergrund der Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) umfassenden, verfassungsunmittelbaren Schutz genießen muss, bleibt zweifelhaft, ob dieses Informationsinteresse auch in seiner vorliegenden spezifischen Ausprägung als Identitätsinteresse gegenüber dem individuellen Anonymitätsinteresse des Beschuldigten im Rahmen einer Abwägung bestehen wird.

3. Individuelles Anonymitätsinteresse des Beschuldigten a) Grundsatz der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren Der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren könnte in der Abwägung zu Gunsten des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten wirken. Er wurzelt sowohl in strafprozessrechtlichen, institutionellen (scil. Schutz der Ermittlungen, Sicherung der Grundlagen eines fairen Verfahrensablaufs) als auch in individualrechtlichen, personellen (scil. Schutz der privaten und sozialen Beschuldigtenbelange) Motiven.124 Die medienöffentliche Strafrechtspflege unterliegt demzufolge einer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung125. Folgt daraus die prinzipielle Pflicht zur vertraulichen Behandlung der Identität des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren?

aa) Öffentlicher Strafprozess als legislative Grundsatzentscheidung Die aktuellen Verhältnisse auf dem Gebiet der Medienberichterstattung in unserer Mediengesellschaft126 lassen auf eindringliche Art und Weise erahnen, welche gravierenden persönlichen und sozialen Belastungen dem Betroffenen u. U. im öffentlichen Strafprozess (vgl. § 169 S. 1 GVG) drohen. Gleichwohl wird die öffentliche Individualisierung des Angeklagten in Kauf genommen.127 Mithin manifes-

123 124 125 126 127

Ähnlich Eb. Schmidt in: Walter Schmidt-FS, S. 338 (351). Siehe oben: 4. Kap. A., E. Siehe oben: 4. Kap. E., 5. Kap. Vor A. Siehe oben: 1. Kap. A., E. Vgl. auch M-G, StPO, § 169 GVG, Rndnrn. 1 ff. m. w. N.; siehe auch oben: 3. Kap. D. I.

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tiert die gerichtsverfassungsrechtliche Regelung des § 169 S. 1 GVG die Durchbrechung des individuellen Anonymitätsschutzes des Betroffenen während des Strafprozesses.128 In Anbetracht der hierdurch in Kauf genommenen Konsequenzen kann zweifelsfrei von einer folgenreichen Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers in der Frage des Verhältnisses des allgemeinen Bedürfnisses nach medienöffentlicher Strafrechtspflege und dem individuellen Schutzbedürfnis nach Anonymität im Strafverfahren gesprochen werden.129 Daher liegt der Schluss nahe, in Bezug auf das nichtöffentliche Ermittlungsverfahren kehrseitig eine grundlegende Entscheidung zu Gunsten des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten anzunehmen.130

bb) Gefahr der Aushöhlung des individuellen Anonymitätsschutzes Ausnahmen von der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren bilden einerseits das Recht des Beschuldigten, für sich selbst Schutz durch Öffentlichkeit zu suchen131 und andererseits der Auskunftsanspruch gemäß § 4 Abs. 1 LPG132. Hierdurch soll die strafverfolgungsbehördliche Ermittlungs-, Einstellungs- und Anklagepraxis daraufhin kontrollierbar sein, ob sie sich an einem justizförmigen Verfahren orientiert, d. h. neutral erfolgt, ausschließlich von den Normen der Strafprozessordnung bestimmt und insoweit nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst wird.133 Gleichwohl bleibt fraglich, inwieweit dieser Aspekt der effektiven Durchsetzung einer transparenten Strafrechtspflege ausgerechnet im Zusammenhang mit der Frage der Bedeutung des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten relevant sein soll.134 Es ist nicht ersichtlich, warum gerade die Veröffentlichung 128 Ähnlich Hamm in: Lamnek / Tinnefeld (Hrsg.), Zeit und kommunikative Rechtskultur, S. 244.; Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (257). Diesen Ausführungen hält Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 70 ff. m. w. N., unter Verweis auf BGHSt 16, S. 111 (116) entgegen, dass die Auffassung vertreten werde, die öffentliche Konzeption des Hauptverfahrens beschränke sich ausschließlich auf die unmittelbare Öffentlichkeit, während es sich demgegenüber bei der Entstehung der mittelbaren Öffentlichkeit nur um „eine vom Gesetzgeber mitgewollte Reflexwirkung der unmittelbaren Öffentlichkeit“ handele. Zur Beschränkung auf die unmittelbare Öffentlichkeit auch schon Bockelmann, NJW 1960, S. 217 ff. m. w. N.; Erdsieck, NJW 1960, S. 1048 ff. m. w. N.; Lampe, NJW 1973, S. 217 (218). Folgte man dieser Auffassung, könnte dem Grundsatz prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit keine präjudizierende Wertung darüber entnommen werden, ob dem Angeklagten ein Geheimhaltungsinteresse über den Bereich unmittelbarer (Saal)Öffentlichkeit hinaus anzuerkennen sei. 129 Vgl. ähnlich Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (257). 130 Im Ergebnis auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 128 f. 131 Siehe oben: 4. Kap. A. II. III., E. 132 Siehe oben: 3. Kap. D. II. 3. III. E., 4. Kap. A. II. III. E., 5. Kap. A. I. 1. III. C. 133 Auch von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 179 m. w. N.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 177.

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der Beschuldigtenidentität konkrete Anhaltspunkte für eine realistische Beurteilung der Gesetzmäßigkeit strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungen erbringen soll. Richtig ist vielmehr, dass die vertrauliche Behandlung der Identität des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren eher dazu beitragen kann, eine öffentliche Diskussion zu versachlichen.135 Außerdem muss berücksichtigt werden, dass eine Aufhebung der Beschuldigtenidentität u. U. die sofortige, vollständige Auflösung des Wesenskerns des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten verursachen kann136, wohingegen die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden zunächst ganz wesentlich untersuchenden – vorübergehenden – Charakters sind.137 Wie steht es demgegenüber mit Ermittlungsverfahren, die sich gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens richten?138 In dieser Konstellation sei, so wird teilweise argumentiert, eine Veröffentlichung der Identität des prominenten Beschuldigten zwingend notwendig, um ein unsachgemäßes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden von vornherein auszuschließen.139 Dieser Auffassung ist entschieden zu widersprechen. Sie lässt außer Acht, dass gerade in Ermittlungsverfahren gegen prominente Beschuldigte das Strafverfahren an sich und die persönlichen beziehungsweise sozialen Beschuldigtenbelange gerade im Falle einer Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität durch unkontrollierbare Medienberichterstattung bedroht sein können140; aktuelles, instruktives Beispiel in diesem Zusammenhang ist der „Fall 134 Anders Bornkamm, NStZ 1983, S. 102 (107 m. w. N.); Marxen, GA 1980, S. 365 (379 m. w. N.), der von einer „notstandsähnlichen Situation“ spricht. Beide votieren vor dem Hintergrund dieses Aspekts der Gefahr einer unsachgemäßen Praxis der Strafverfolgungsbehörden für das allgemeine Informationsinteresse der Öffentlichkeit. 135 Vgl. auch Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 180 f. m. w. N. 136 Ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 140 f. m. w. N. 137 Siehe auch Berka, Kriminalberichterstattung, S. 33, zu dem Aspekt, dass das Ermittlungsverfahren „erst der Gewinnung entsprechender Verdachtsmomente dient, die zur Erhebung einer Anklage entweder ausreichen oder auch nicht“. 138 Daneben stellt sich auch im Ermittlungsverfahren gegen einen Amtsträger eine besondere Abwägungssituation: Der Amtsträger ist Repräsentant der plebiszitären Staatsgewalt. Daher sind dessen individuelle Verfehlungen für das Staatsvolk von außerordentlichem Interesse. Teilweise wird daher ein Überwiegen des allgemeinen Informationsinteresses der Öffentlichkeit angenommen (vgl. von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 177 f., 221 m. w. N.; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 267 m. w. N.; ders., NStZ 1983, S. 102 [106 f. m. w. N.]; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 185 ff. m. w. N.; Ostendorf, GA 1980, S. 445 [464 m. w. N.]; Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 109 m. w. N.). A.A. Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 149 ff. m. w. N. Hierzu eingehender auch Braun, Medienberichterstattung, S. 82 ff. m. w. N. 139 Vgl. bspw. von Becker, Straftäter und Tatverdächtige in den Massenmedien, S. 179 ff. m. w. N. 140 Dennoch hält Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 181 f. m. w. N., es in dem Fall, in welchem sich „die Straftat durch die Art der Begehung oder die Folgen der Straftat aus der gewöhnlichen Kriminalität heraushebt“ für erforderlich, die Öffentlichkeit über die

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Friedman“141. Darüber hinaus ist diese Auffassung vor allem deswegen abzulehnen, weil sie den Beschuldigten in der Bekämpfung von Vorfällen mutmaßlich sachwidriger Strafverfolgungspraxis instrumentalisiert.142 Diese Auffassung zieht folglich die öffentliche Statuierung eines Prominenten als Exempel in Betracht. Ein solches Vorgehen kann allenfalls einen äußerst oberflächlichen Nachweis sachgemäßer Ermittlungspraxis der Strafjustiz erbringen. Die Erbringung dieses ohnehin schwachen Nachweises ist zusätzlich mit einem schweren verfassungsrechtlichen Makel behaftet, denn die Instrumentalisierung des Beschuldigten – ob nun prominent oder nicht – stellt eine verfassungswidrige Herabwürdigung des betroffenen Beschuldigten zum bloßen Objekt dieses Nachweisverfahrens dar und verstößt mithin gegen das fundamentale Gebot der Achtung der Würde des Menschen (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG). cc) Zusammenfassung Die Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren beschränkt die medienöffentliche Strafrechtspflege im Sinne einer das Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung. Dagegen stellt das strafgerichtliche Hauptverfahren als eigentlicher „Strafprozess“ den Öffentlichkeitshöhepunkt dar (vgl. § 169 S. 1 GVG).143 Die Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität im Ermittlungsverfahren vermag – ob nun prominent oder nicht – keine effektive Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Strafverfolgungspraxis durch die Öffentlichkeit zu gewährleisten. Dieser mittels der öffentlichen Statuierung eines Prominenten als Exempel erbrachte „Nachweis“ ist übersteigert vordergründig. Zudem birgt die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten unmittelbar die Gefahr der vollständigen Auflösung des Wesenskerns des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten in sich.144 Hingegen sind die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden zunächst ganz wesentlich untersuchenden – vorübergehenden – Charakters. Demgemäß folgt aus dem Grundsatz der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren die Pflicht zur uneingeschränkten Berücksichtigung des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten. hiermit im Zusammenhang stehenden Personen zu informieren. Diese seien schließlich „durch diese Besonderheiten ins Licht des öffentlichen Interesses gerückt“ und die „ihnen vorgeworfene Tat (stelle) eine außergewöhnliche Beeinträchtigung des Rechtsfriedens“ dar. Beispielhaft verweist Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 182 m. w. N., in diesem Kontext auf die „Terroristengruppe Baader-Meinhof“. 141 Dazu schon oben: 1. Kap. A. 142 So auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 133 m. w. N. 143 Beachte aber die §§ 170 ff. GVG (dazu, und auch zur Umgehungsproblematik, ausführlicher: Schroeder in: Eser / Kaiser [Hrsg.], Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 [144 ff.]). 144 Vgl. weiterhin Hamm in: Lamnek / Tinnefeld (Hrsg.), Zeit und kommunikative Rechtskultur, S. 244 ff. m. w. N., zu aktuellen Fragen des Anonymitätsanspruchs angesichts der Forderungen nach modernen Strafverfolgungsmethoden.

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b) Das Recht auf „Nicht-Entsozialisierung“ Wie bereits erörtert, kann der sog. „Lebach-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts145 der folgende Grundsatz entnommen werden: Das Interesse eines rechtskräftig verurteilten Straftäters an einer ungestörten Resozialisierung innerhalb seines gewohnten persönlichen und sozialen Umfeldes genießt als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verfassungsunmittelbaren Schutz. Wir haben sodann nachvollzogen, dass mit diesem „Recht auf Resozialisierung“ im Rahmen eines übergeordneten Rechts auf Sozialisation das Recht des Beschuldigten auf „Nicht-Entsozialisierung“ korrespondiert.146 Diese Annahmen haben im vorliegenden Zusammenhang Konsequenzen in Bezug auf das zulässige Ausmaß der Durchsetzung des allgemeinen Informationsinteresses der Öffentlichkeit. Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, dass die Medien die erfolgreiche Resozialisierung eines rechtskräftig verurteilten Straftäters gefährden können: Da die Resozialisierung einerseits zwar von staatlicher Unterstützung und andererseits aber hauptsächlich von der Intensität solidarischer Mithilfe durch die Gesellschaft abhängt147, kann eine mediale Aufbereitung der „kriminellen Vergangenheit“ einer Person destruktive Wirkung entfalten.148 Demzufolge muss der „für die soziale Existenz des Täters lebenswichtigen Chance, sich in die freie Gesellschaft wieder einzugliedern, und dem Interesse der Gemeinschaft an seiner Resozialisierung“149

gegenüber dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer eingehenden Aufbereitung seiner Vergangenheit durch die Medien Vorrang gewährt werden. Konsequenterweise entfaltet dieser Vorrang der Resozialisierung eines bereits rechtskräftig verurteilten Straftäters gleichzeitig erst recht konkrete Auswirkungen auf die entsprechende Situation des Beschuldigten. Zum Wohl unserer Gesellschaft muss die Bemühung, einer Entsozialisierung des Einzelnen entgegenzuwirken, im Hinblick auf ihre sowohl für den Betroffenen als auch für die Gesellschaft gravierend nachteiligen Konsequenzen an vorderster Stelle stehen.150 145 BVerfGE 35, S. 202 ff. m. w. N. Weiterführend: BVerfG, NJW 2000, S. 1859 ff. – „Lebach II“; Besprechung bei Cole, NJW 2001, S. 795 f. 146 Vgl. hierzu insgesamt oben: 5. Kap. A. II. 1. c). 147 Dazu BVerfGE 35, S. 202 (236 f. m. w. N.). 148 Ähnlich Scholderer, ZRP 1991, S. 298 (300 m. w. N.), der auf die Gefahren einer gesellschaftlichen Stigmatisierung verweist. 149 BVerfGE 35, S. 202 (237). 150 Insofern gebietet schon die „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) eine Interpretation der Strafprozessordnung, welche das Strafverfahren möglichst „justizförmig, pfleglich und zweckvoll“ gestaltet (M-G, StPO, Einl., Rndnr. 156. Zur „fair trial“-Maxime auch schon oben: 4. Kap. B. III. 2. d), 5. Kap. A. II. 3.). Sie kommt insoweit dem Gedanken der „prozessualen Fürsorgepflicht“ nahe, der den verfahrensrechtlichen Schutz des Beschuldigten bezweckt (eingehend Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 115 ff. m. w. N., zur hieraus folgenden Pflicht der Verhinderung einer „Vorabverurteilung“; vgl. auch M-G, StPO, Einl., Rndnrn. 155 ff. m. w. N.). Zur „staatsanwaltschaftlichen Fürsorgepflicht“ oben:

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Diesen solidarischen Bemühungen liefe jedoch eine frühe öffentliche Individualisierung des Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren zuwider. c) Die Unschuldsvermutung Wir konnten bereits feststellen, dass das Schutzprinzip der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren insofern beschränkt, als ein Beschuldigter nicht öffentlich als bereits überführter Straftäter angeprangert werden darf.151 Darüber hinaus wird vertreten, dass sich diese Beschränkung auch auf konkretindividualisierende Öffentlichkeitsarbeit erstrecken müsse. Schließlich sei die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten in besonderem Maße geeignet, den Beschuldigten zu kriminalisieren. Deswegen liefe der mittels der Unschuldsvermutung bezweckte Schutz des Beschuldigten vor dessen öffentlicher Vorverurteilung leer, würde sich ihr Schutzgehalt ausschließlich auf allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit beschränken.152 Zwar begründe die Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität nicht zwangsläufig eine öffentlich vorweggenommene Beurteilung der Schuldfrage im Sinne einer Anprangerung des Beschuldigten als „Krimineller“. Gleichwohl erblickt Klaus-Dieter Höh153 hierin die primäre Ursache dafür, dass der Beschuldigte aufgrund einer „nicht ausreichend objektivierten Kriminalberichterstattung“ von „ ,gesellschaftlichen Nebengerichten‘“ vorschnell schuldig gesprochen werde. Zuzugeben ist dieser Auffassung, dass sie die oftmals schwerwiegenden persönlichen und sozialen Konsequenzen, die einer öffentlichen Etikettierung des Beschuldigten mit dem Stigma des „Kriminellen“ bereits im Ermittlungsverfahren innewohnen, zutreffend erkennt.154 Dessen ungeachtet ist ihr aufgrund folgender Erwägungen entgegenzutreten: Das Schutzprinzip der Unschuldsvermutung schreibt ausdrücklich vor, dass eine 4. Kap. B. III. 2. e) V. Hiergegen wenden sich u. a.: Dahs, Das rechtliche Gehör, S. 43 ff. m. w. N., von Löbbecke, GA 1973, S. 200 ff. m.w. N., in Sorge um die allgemeine Rechtssicherheit. Kritisch auch Maiwald in: Lange-FS, S. 745 ff. m. w. N. Im Ergebnis spricht der Fürsorgegedanke für ein Überwiegen des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten mithin gegen die Zulässigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren. 151 Vgl. oben: 5. Kap. A. II. 2. 152 Siehe Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, S. 352 f.; Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 13 f. m. w. N.; Kühl in: Hubmann-FS, S. 241 (252 f. m. w. N.); Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 11 f. m. w. N. Hierzu weiterhin Ostendorf, GA 1980, S. 445 (455 f. m. w. N.). Lampe, NJW 1973, S. 217 (218) spricht sich für eine Sperrwirkung der Unschuldsvermutung bis zur Verhaftung des Beschuldigten aus, weil dieser bis dahin keine Person der Zeitgeschichte sei (hierzu weiterführend Engau, Personen der Zeitgeschichte, S. 221 ff. m. w. N.; Zielemann, Der Tatverdächtige als Person der Zeitgeschichte, S. 79 ff., 81 m. w. N.). 153 Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 13. 154 Vgl. nur die oben erörterten Beispiele: 1. Kap. A., 5. Kap. B. C.

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Person „bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“ zu gelten hat (vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK).155 Mithin verbietet sie die Behandlung eines „nicht rechtskräftig verurteilten Bürgers als schuldig“156, d. h. wendet sich gegen eine schuldantizipierende öffentliche Anprangerung des Betroffenen. Wie soll die Schutzgewähr der Unschuldsvermutung vor dem Hintergrund dieses Anwendungsbereichs auch eine – an sich sachliche und objektive – öffentliche Individualisierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren erfassen? Zur Begründung wird teilweise vorgetragen, das Schutzprinzip der Unschuldsvermutung begründe weiterhin die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden, auf eine „verfahrensmäßige Schuldfeststellung hinzuwirken“157.158 Dieser Versuch einer Erweiterung des Anwendungsbereichs der Schutzgewähr der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) ist im Ergebnis abzulehnen. Der Beschuldigte soll sicherlich nicht in umfassender Weise vor jeder Form strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungstätigkeit geschützt werden. So vermag das Schutzprinzip der Unschuldsvermutung beispielsweise keinerlei Einfluss auf die Zulässigkeit belastender Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren zu nehmen.159 Sinn und Zweck der Unschuldsvermutung richten sich in einem solchen Ermittlungsverfahren, in dem Zwangsmaßnahmen durchgeführt und von strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden, ausschließlich auf die Verhinderung der Entstehung eines Stimmungsklimas öffentlicher Vorverurteilung. Demzufolge ist der Fall, in welchem sich die Strafverfolgungsbehörden im Zuge der Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität dem Grunde nach an eine faire und ausgewogene Informationspolitik halten, von dem Anwendungsbereich der Unschuldsvermutung nicht umfasst.160 Kommt es dennoch zu einer medial verursachten respektive geförderten Vorverurteilung des Beschuldigten als „Krimineller“, so bestehen solche „gesellschaftlichen Nebenfolgen“ außerhalb des Anwendungsbereichs des Schutzprinzips der Unschuldsvermutung.

155 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 47, spricht in diesem Zusammenhang von „Bonitätsvermutung“. 156 BVerfGE 22, S. 254 (265 m. w. N.). 157 Demgemäß seien die Strafverfolgungsbehörden auch dazu verpflichtet, „alle diejenigen Maßnahmen zu vermeiden, die neben einer verfahrensmäßigen Schuldfeststellung auch zu einer voreiligen ,gesellschaftlichen Schuldfeststellung‘ führen können“ (vgl. Höh, Strafrechtlicher Anonymitätsschutz, S. 14). 158 Zu dem Aspekt des erweiterten Anwendungsbereichs des Schutzprinzips der Unschuldsvermutung weiterhin Kühl in: Hubmann-FS, S. 241 (253); Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 12. 159 Vgl. M-G, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnr. 14 m. w. N.: etwa die „rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung“ (Art. 5 Abs. 1 c EMRK), Maßnahmen nach § 119 Abs. 3 StPO oder die Erhebung der öffentlichen Klage (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK). 160 Nahe legen diese Schlussfolgerung die Ausführungen der Kommission in: „Petra Krause v / Switzerland“ (Decisions and Reports, No. 13 [1979], S. 73 [74]). Ferner M-G, StPO, Art. 6 EMRK, Rndnr. 14 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 2. Kap., § 11, Rndnrn. 4 f. m. w. N.

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Mithin entfaltet die Schutzgewähr der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) im Rahmen der Interessenabwägung zwischen dem allgemeinen Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem individuellen Anonymitätsinteresse des Beschuldigten keinerlei Wirkung zu Gunsten des Anonymitätsinteresses.

III. Zusammenfassung Gleichwohl halten wir im Ergebnis fest: Überzeugende Argumente sprechen für ein Überwiegen des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten, d. h. für einen umfassenden Schutz der Persönlichkeit des Beschuldigten. Mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Ausgangslage161 ist letzten Endes entscheidend, welcher Interessenposition im konkreten Einzelfall im Sinne einer Gesamtbetrachtung die Bevorrechtigung zu gewähren ist; die Annahme einer prinzipiellen Bevorrechtigung des Anonymitätsinteresses wäre verfassungswidrig. Die Bevorrechtigung im konkreten Einzelfall orientiert sich am Maßstab der Verhältnismäßigkeit, d. h. Beeinträchtigungen des individuellen Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten können nur so lange zulässig sein, wie die belastenden Konsequenzen gegenüber der Notwendigkeit einer Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität nicht unverhältnismäßig erscheinen. Vom u. U. hohen Sensationswert der Identität des betroffenen Beschuldigten für die Medien abgesehen, ist ihr echter Informationswert denkbar gering.162 Gleichzeitig kann die Veröffentlichung der Identität des Beschuldigten allerdings eine schwerwiegende Verletzung seines individuellen Persönlichkeitsrechts darstellen, indem sie den Wesenskern des Anonymitätsinteresses auflösende Konsequenzen verursacht, obwohl die strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungserkenntnisse oftmals erst vorübergehenden Charakters sind. Hinzu tritt der grundlegende Umstand, dass die medienöffentliche Strafrechtspflege im Hinblick auf die Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens einer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung unterliegt. Darüber hinaus vermag die Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität im Ermittlungsverfahren – prominent oder nicht – ohnehin keine effektivere öffentliche Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Strafverfolgungspraxis zu gewährleisten; der mittels öffentlicher Statuierung eines Prominenten als Exempel erbrachte „Nachweis“ ist vielmehr übersteigert vordergründig.163 Gleichwohl können die desozialisierenden Reaktionen auf eine Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität gravierenden Ausmaßes sein.164

161 162 163 164

Vgl. dazu eingehender oben: 6. Kap. A. II. 1. Siehe oben: 6. Kap. A. II. 2. Vgl. oben: 6. Kap. A. II. 3. a) cc). Vgl. oben: 6. Kap. A. II. 3. b).

250

6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

Mithin ist abschließend festzustellen, dass konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren eine – im Verhältnis zum öffentlichen Informationsinteresse – übermäßige Beeinträchtigung des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten darstellt. Die Veröffentlichung der Beschuldigtenidentität im Ermittlungsverfahren stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in das individuelle Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten zu Gunsten der Befriedigung des allgemeinen Informationsinteresses der Öffentlichkeit dar. Schließlich gilt: Konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren erfüllt die Straftatbestände des § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB und der §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG.165 Im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung war eine Interessenabwägung zwischen dem individuellen Anonymitätsinteresse des Beschuldigten und dem öffentlichen Informationsinteresse notwendig. Diese hat vorliegend eine Bevorrechtigung des Anonymitätsinteresses ergeben. Mithin ist die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren unzulässig. Hingegen ist allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren von vornherein schon nicht tatbestandsmäßig.

B. Rechtsschutz des Beschuldigten vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren I. Vorbemerkungen Die Untersuchung hat bisher ergeben, dass dem Beschuldigten vor allgemeinvorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren keinerlei materiell-strafrechtlicher Rechtsschutz zukommt. Sie ist noch nicht einmal straftatbestandsmäßig. Dementsprechend bestehen erhebliche Bedenken, denn allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren kann sowohl in persönlicher und sozialer als auch in institutioneller Hinsicht schwerwiegende Konsequenzen für das Strafverfahren haben: Sie kann eine öffentliche Anprangerung und Vorverurteilung des Beschuldigten als „Krimineller“ verursachen166 und demzufolge auch die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens und schließlich des gesamten Strafverfahrens gefährden – beispielsweise durch die Beeinflussung der Unvoreingenommenheit von Richtern, Zeugen und Sachverständigen.167 Dieses bedenkliche Gefahrenpotential wurde schon vor vielen Jahren erkannt. Die durch die Flick- und Parteispendenaffäre168 ausgelöste gesellschaftsübergrei165 166 167 168

Vgl. oben: 6. Kap. A. I. 1., 4., 5. Vgl. nur die Beispiele oben: 5. Kap. B. II. III., C. Vgl. oben: 5. Kap. A. II. 3. Vgl. oben: 5. Kap. B. II. 1. a).

B. Rechtsschutz vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

251

fende Diskussion war im Jahre 1984 dafür ursächlich, dass der Deutsche Bundestag beschloss, die Bundesregierung mit einem Prüfauftrag auszustatten. Sie sollte prüfen, „ob der Grundgedanke des angelsächsischen Prozeßrechtes, daß öffentliche Vorverurteilungen ein faires Verfahren nicht erschweren dürfen, in das deutsche Strafprozeßrecht übernommen werden kann“169.

Die vom Bundesjustizministerium daraufhin beim Freiburger Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht in Auftrag gegebene Untersuchung170 wurde dem Deutschen Bundestag im Jahre 1985 zugeleitet. 171 Diese Untersuchung erörterte im Wesentlichen drei Aspekte: Möglichkeiten, schon der Entstehung öffentlicher Vorverurteilung entgegenzuwirken, Maßnahmen gegen das Übergreifen einer öffentlichen Vorverurteilung auf die Strafverfahrensbeteiligten und schließlich die Konsequenzen einer Beeinflussung der Strafverfahrensbeteiligten durch öffentliche Vorverurteilung.172 Hingegen fehlt eine eingehende Befassung mit den rechtswirklichen Ursachen der Entstehung und Verfestigung einer öffentlichen Vorverurteilung.173 Insbesondere wurde die praktische Bedeutung der Strafverfolgungsbehörden als originäre Auskunftsquellen und die der Medien als zentrale Informationsübermittler nur unzureichend erfasst.174 Wie wir bereits festgestellt haben, sind oftmals gerade die Medienberichterstattung über Ermittlungsverfahren175, aber auch strafverfolgungsbehördliche Informationspolitik176 für die Entstehung und Verfestigung einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten verantwortlich.177

169 Eser / Meyer, Öffentliche Vorverurteilung, Vorwort. Dazu auch bereits oben: 5. Kap. B. II. 1. a) Vor. aa). 170 Eser / Meyer, Öffentliche Vorverurteilung. 171 Zugeleitet mit Schreiben des Bundesministers der Justiz vom 20. Dezember 1985 gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages vom 24. Mai 1984: „Unterrichtung durch die Bundesregierung – Bericht der Bundesregierung zum Thema: ,Öffentliche Vorverurteilung‘ und ,faires Verfahren‘“ (BT-Drs. 10 / 4608). 172 BT-Drs. 10 / 4608, C. / D. / E. bzw. lfd. Nr. 20 (S. 7). 173 Obwohl die tatsächlichen „Erscheinungsformen“ öffentlicher Vorverurteilung instruktiv dargelegt werden (BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Nrn. 10 ff. (S. 5 f.). 174 Dagegen wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen sehr anschaulich dargestellt (BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Nrn. 23 ff. [S. 8 ff.], 34 ff. [S. 11 ff.], 129 ff. [S. 28 ff.]). 175 Den Medien kommt es weniger auf eine „getreuliche“ als vielmehr auf eine aufsehenerregende Berichterstattung an, wodurch die ohnehin „störungsanfällige“ Wahrheitssuche im Ermittlungsverfahren zusätzlich gestört wird (Hassemer, NJW 1985, S. 1921 [1927]). Vgl. aber insbesondere auch oben: 1. Kap. A., E. 176 Vgl. Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 241 f. m. w. N.; Jahn in: Oehler u. a., Einfluß der Medien, S. 5 (8 f. m. w. N.); Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 192 ff. m. w. N. Vgl. aber vor allem auch oben: 1. Kap. A., 5. Kap. B. C. 177 Hierzu insgesamt eingehend Wagner, Strafprozeßführung über Medien (1987); auch schon oben: 5. Kap. B. I.

252

6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

In Anknüpfung an das vorstehend gefundene Zwischenergebnis, dass allgemeinvorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren schon von vornherein nicht straftatbestandsmäßig sein kann178, wollen wir nunmehr erörtern, inwieweit seither präventive wie repressive Ansätze bestehen, die persönlichen und sozialen Schutzbelange des Beschuldigten und die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens respektive des gesamten Strafverfahrens besser vor einer Schädigung durch die vorurteilsvolle Einflussnahme auf die öffentliche Meinung zu schützen.

II. Ansätze zur Verbesserung des präventiven Rechtsschutzes 1. Strafrechtlicher Ansatz Die bisherigen Bemühungen, die persönlichen und sozialen Schutzbelange des Betroffenen und die faire Prägung des modernen Strafverfahrens vor einer Schädigung durch die vorurteilsvolle Einwirkung auf die öffentliche Meinung vor allem durch Medienberichterstattung besser zu schützen, führten schon vor Jahrzehnten zum Vorschlag der Schaffung einer entsprechenden Strafnorm.179 Nach mehreren gescheiterten Reformversuchen sollte die erstrebte strafgesetzliche Regelung zum Schutz der Strafrechtspflege schließlich mit dem Regierungsentwurf § 452 E 1962 erreicht werden.180 Vorbild dieser Bemühungen war das anglo-amerikanische Rechtsinstitut des „(criminal) contempt of court“: „Words spoken or otherwise published, or acts done, outside court which are intended or likely to interfere with or obstruct the fair administration of justice are punishable as criminal contempts of court.“181

§ 452 E 1962 lautete wie folgt:

Vgl. oben: 6. Kap. A. III. Der erste Vorschlag zur Einführung einer neuen Strafnorm zum Schutz der Strafrechtspflege vor einer einseitigen Einwirkung der Medien auf die öffentliche Meinung stammt aus dem Jahre 1934 (vgl. zu den bisherigen Reformversuchen: BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Ziffn. 44 ff., S. 13 ff.; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 228 ff. m. w. N.; Braun, Medienberichterstattung, S. 177 m. w. N.; Roxin, NStZ 1991, S. 153 [154 f. m. w. N.]; Schulz, Medienberichterstattung, S. 33 f. m. w. N.). 180 Eingehender zu § 452 E 1962: Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 227 f.; Braun, Medienberichterstattung, S. 176 ff. m. w. N.; Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 33 ff. m. w. N.; Schulz, Medienberichterstattung, S. 35 f. m. w. N.; Stürner, JZ 1978, S. 161 (163 f. m. w. N.). 181 Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 23 ff. m. w. N. Weiterhin Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 76 ff. m. w. N.; Scherer, JuS 1979, S. 470 ff. m. w. N. Das Konzept des „contempt of court“ stellt grundsätzlich einen „Sammeltatbestand für verschiedene Formen der Beeinträchtigung justizförmiger Rechtsverwirklichung“ dar (Jahn, Konfliktverteidigung, S. 280, im Kontext „obstruktiven Verteidigerverhaltens“). 178 179

B. Rechtsschutz vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

253

[Störung der Strafrechtspflege] „Wer öffentlich während eines Strafverfahrens vor dem Urteil des ersten Rechtszuges in Druckschriften, in einer Versammlung oder in Darstellungen des Ton- oder Fernseh-Rundfunks oder des Films 1. den künftigen Ausgang des Strafverfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise erörtert, die der amtlichen Entscheidung in dieser Sache vorgreift, oder 2. über das Ergebnis nichtamtlicher Ermittlungen, die sich auf die Sache beziehen, eine Mitteilung macht, die geeignet ist, die Unbefangenheit der Mitglieder des Gerichts, der Zeugen oder der Sachverständigen oder sonst die Findung der Wahrheit oder einer gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen, wird (. . . ) bestraft. Dies gilt nicht für eine Erörterung, die sich auf Fragen des anzuwendenden Rechts beschränkt.“182

§ 452 E 1962 war als strafrechtlicher Ansatz zum Schutz der Strafrechtspflege heftig umstritten183 und ist nie Gesetz geworden184. Entsprechende Bedenken waren vornehmlich verfassungsrechtlicher Natur: Zum einen beschränke eine solche Strafvorschrift die Freiheit der Meinungsäußerung und die Pressefreiheit in unverhältnismäßiger Art und Weise. Zum anderen genüge sie dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht185, weil eine vorurteilsvolle Beeinflussung nicht mit ausreichender Klarheit von einer berechtig182 Abdruck auch bei Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 229, Fn. 49; Braun, Medienberichterstattung, S. 177; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 176 f., Fn. 56. 183 Ausführliche Darstellung der Kontroverse bei Schulz, Medienberichterstattung, S. 36 ff. m. w. N. Dagegen BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Ziff. 57; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 231 ff. m. w. N.; Braun, Medienberichterstattung, S. 184; Hassemer, NJW 1985, S. 1921 (1929); Kohl, AfP 1985, S. 102 ff.; ders., NJW 1985, S. 1945 f.; Roxin, NStZ 1991, S. 153 (155). Vermittelnd etwa Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 191 f. m. w. N. Kritisch gegenüber der Ablehnung im Wege einer „grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Argumentation“: Stürner, Gutachten A, 58. DJT, A 27, mit dem Hinweis, dass es sich z. B. bei der „klassischen Demokratie“ der USA, wo eine ähnliche Regelung gilt, wahrlich nicht um ein System „richterlich gegängelter Pressefreiheit“ handele. Eb. Schmidt, DRiZ 1963, S. 376 (383 f.), hielt § 452 E 1962 sogar für „maßvoll“ und „zurückhaltend“ – ja für eine „dringende Notwendigkeit“; ders. ähnlich in: Recht und Staat, S. 62 ff. 184 Vgl. BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Ziffn. 51 f., S. 15.; Braun, Medienberichterstattung, S. 182. Ferner Schulz, Medienberichterstattung, S. 41 ff., 47 ff. m. w. N. zu späteren Reformansätzen, die allesamt an einer Abänderung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ansetzten. So z. B. zum Vorschlag eines nichtöffentlichen Strafverfahrens im Rahmen des Alternativentwurfs zur Novelle der Strafprozessordnung von 1980 (dazu Schulz, Medienberichterstattung, S. 41 ff. m. w. N.). In Anknüpfung an diesen Vorschlag entwickelten Dahs und Zipf auf dem 54. DJT verschiedene Alternativmodelle: ein grundsätzlich nichtöffentliches Strafverfahren (Dahs) und eine Zweiteilung der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Zipf) in öffentliche „Schuldfeststellung“ und nichtöffentliche „Sanktionsverhandlung“ (vgl. hierzu insgesamt: Schulz, Medienberichterstattung, S. 47 ff. m. w. N.; Kaiser in: Rehberg-FS, S. 171 [182 m. w. N.]). 185 Kritisch gegenüber diesem Argument: Braun, Medienberichterstattung, S. 184.

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

ten Einflussnahme abgegrenzt werden könne.186 Durch Ziff. 2 des Entwurfs sollte den Medien untersagt werden, die Öffentlichkeit in bestimmten Fällen über eigene „nichtamtliche“ Ermittlungen zu informieren. Daher wurde kritisiert, dass der Entwurf den Medien die Wahrnehmung ihrer Verantwortung zur kritischen Beobachtung der staatlichen Strafrechtspflege unmöglich mache. Die kritische Medienberichterstattung z. B. über rechtswidrige Vernehmungsmethoden der Polizei, versäumte Ermittlungen oder eine vorschnelle Anklage durch die Staatsanwaltschaft187 setze gerade die öffentliche Erörterung eigener „nichtamtlicher“ Recherchen voraus. Die Glaubwürdigkeit einer ernsthaften Kontrolle staatlicher Gewaltausübung durch die Medien hänge in besonderem Maße von der Möglichkeit zur Veröffentlichung eigener abweichender Standpunkte ab.188 So wurde im Ergebnis befürchtet, dass eine solche Strafvorschrift die differenzierte Medienberichterstattung und somit auch die öffentliche Diskussion über Strafverfahren vollkommen lahm legen würde.189 Obgleich die vorstehend dargestellte Kritik an den möglichen Konsequenzen einer solchen Strafvorschrift grundsätzlich nachvollziehbar erscheint, wollen wir den Regelungsgehalt des damaligen Entwurfs sorgfältiger untersuchen. Hierbei fällt auf, dass der Entwurf vor allem an einem praktischen Makel litt: Abgesehen von der Tatsache, dass die Beschränkung auf „nichtamtliche Ermittlungen“ den Eindruck eines Schlages gegen die Pressefreiheit erwecken musste, wurde zudem außer Acht gelassen, dass auch amtliche Veröffentlichungen der Ermittlungsbehörden geeignet sind, „der amtlichen Entscheidung vor(zugreifen)“, vgl. Ziff. 1 des Entwurfs.190 Demzufolge stellt sich die folgende Frage: Ist eine Strafbarkeit der Strafverfolgungsbehörden im Sinne dieses Entwurfs denkbar und sinnvoll? Mit Einführung des § 203 Abs. 2 StGB191 hat der Gesetzgeber schon 1974 zu erkennen gegeben, dass der individuelle Schutz des Einzelnen vor staatlicher Indiskretion durch eine Strafvorschrift in geeigneter Form gefördert werden kann.192 Zwar ist der Gedanke einer Strafbarkeit der Strafverfolgungsbehörden zweifelsohne gewöhnungsbedürftig, allerdings vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen193 186 Dazu BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Ziffn. 61 f., S. 16; Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 231 ff. m. w. N.; Nothelle, AfP 1985, S. 18 (21 f. m. w. N.); Roxin, NStZ 1991, S. 153 (155 m. w. N.); Scherer, JuS 1979, S. 470 (475). Vgl. hierzu auch die Darstellung von Braun, Medienberichterstattung, S. 183. 187 Siehe Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 70 f. m. w. N., zu den drohenden Einschränkungen in Bezug auf die kritische Kontrolle der Tätigkeit der Ermittlungsbehörden. 188 Vgl. hierzu insgesamt Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 232 m. w. N.; Braun, Medienberichterstattung, S. 183. 189 Braun, Medienberichterstattung, S. 187; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 178. 190 Dazu auch Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 66 m. w. N. 191 Durch das „Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch“ (EGStGB) vom 2. März 1974 (BGBl. I, S. 469 [487]). 192 Samson in: SK, StGB, Vor § 201, Rndnr. 5. 193 Vgl. oben: 6. Kap. A. III.

B. Rechtsschutz vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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nur konsequent. Hierdurch könnte vor allem die Strafbarkeitslücke geschlossen werden, welche durch die Beschränkung der Strafbarkeit gemäß § 353d Ziff. 3 StGB auf Veröffentlichungen amtlicher Schriftstücke „im Wortlaut“ entstanden ist.194 Von eindeutig schuldantizipierender Öffentlichkeitsarbeit abgesehen verbleibt dennoch das Problem einer griffigen Bestimmung allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit. Im Falle einer drohenden Strafbarkeit zwänge man die Strafverfolgungsbehörden bei der Gestaltung ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf völlig ungewisses Terrain.195 Im Zweifelsfall würden sich diese auf ein nahezu risikoloses Mindestmaß generell gehaltener Medienauskünfte beschränken. Auf lange Sicht überließe man auf diese Weise die Umsetzung einer medienöffentlichen Strafrechtspflege im Ermittlungsverfahren den absatzorientierten Medien. Die Folgen dieser Entscheidung wären unkalkulierbar.

2. Verschärfung der staatsanwaltschaftlichen Richtlinien für Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren und Verstärkung der medialen Selbstkontrolle Neben der Einführung einer Strafvorschrift kommt weiterhin eine Verschärfung der Ziff. 4a, 23 RiStBV in Betracht.196 Hierbei handelt es sich allerdings um einen völlig ungeeigneten Ansatz zur Verbesserung des Schutzes vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren. Wie bereits festgestellt197, besitzen die RiStBV als schlichte Verwaltungsvorschriften keinerlei effektive Bindungswirkung und können daher bedenkenlos übertreten werden. Wie wenig sich die Staatsanwaltschaft deswegen in vielen Fällen in ihrer Informationspraxis gebunden fühlt, zeigen die oben198 erörterten Einzelfallbeispiele. Die gleichen bescheidenen Erfolgsaussichten können dem Ansatz vorausgesagt werden, der eine Verstärkung der medialen Selbstkontrolle befürwortet.199 Zwar soll der Pressekodex vor allem auch die Medienberichterstattung über Strafverfahren beschränken; gleichwohl konnten wir bereits feststellen, dass die Grenzen zulässiger Kriminalberichterstattung ungeachtet selbst auferlegter Beschränkungen in vielen Fällen zügellos überschritten werden und mediale Rücksichtslosigkeit in weiten Teilen mittlerweile prägendes Merkmal alltäglicher Kriminalberichterstattung ist.200 Hierzu bereits oben: 6. Kap. A. I. 3. Ähnlich Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 181. 196 Siehe Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 244 f. m. w. N., der diese Richtlinien als Grundlage für eine detailliertere Begrenzung strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit auffasst. Ähnlich ders., NStZ 1983, S. 102 (108). 197 Dazu schon oben: 5. Kap. A. I. 3. 198 5. Kap. B. II. III., C. 199 Diesen Ansatz halten für erfolgsversprechend: Koch, ZRP 1989, S. 401 (404); Krekeler, AnwBl. 1985, S. 426 (431).; Ricker, NJW 1990, S. 2097 (2103). 200 Vgl. zuletzt oben: 1. Kap. E. 194 195

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

3. Gerichtsverfassungsrechtlicher Ansatz Birgit Dalbkermeyer201 geht daher einen Mittelweg, indem sie zuerst den strafrechtlichen Ansatz ablehnt, allerdings zugleich die Aussichtslosigkeit einer Verschärfung der staatsanwaltschaftlichen Richtlinien für Öffentlichkeitsarbeit feststellt. Sie empfiehlt demgegenüber, die gerichtsverfassungsrechtlichen Vorschriften über die unmittelbare (Saal)Öffentlichkeit (vgl. §§ 169 ff. GVG) um eine neue Regelung der mittelbaren (Medien)Öffentlichkeit zu ergänzen („§ 169a GVG“).202 Unter Rückgriff auf den Wortlaut des § 452 E 1962 und die Ziff. 23 RiStBV befürwortet sie einen flexiblen Maßstab zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden203, der durch eine „beschuldigtenfreundliche“ 204 Ausschöpfung des Ermessensspielraums flankiert werden solle. Zudem befürwortet Dalbkermeyer205 die Schaffung gesetzlicher Teilnahme- und Mitwirkungsrechte des Beschuldigten, d. h. dessen Möglichkeit zur Teilnahme an ermittlungsbehördlichen Pressekonferenzen.

4. Eigenes Votum Die bisherigen Ansätze zur Verbesserung des Beschuldigtenschutzes und des Schutzes der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens bzw. des Strafverfahrens insgesamt vor einer vorurteilsvollen Beeinflussung der öffentlichen Meinung überzeugen allesamt nicht.206 Allein Dalbkermeyers gerichtsverfassungsrechtlicher Ansatz stellt als Mittelweg zwischen der „scharfen Klinge“ der Einführung einer Strafnorm und dem aussicht-

Schutz des Beschuldigten, S. 176 ff., 182 f. Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 183, 185 f., 191. „§ 169a Abs. 1 GVG“ soll ein Verbot generell-vorverurteilender und „§ 169a Abs. 2 GVG“ ein Verbot konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden beinhalten. Darüber hinaus soll „§ 169a Abs. 3 GVG“ die Verpflichtung zur Einbindung des Beschuldigten und seines Strafverteidigers in Auskunftsvorgänge (scil.: Pressekonferenzen) regeln. 203 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 185. 204 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 186 f. m. w. N. 205 Schutz des Beschuldigten, S. 189 f., 191. Sie zieht hierbei die Garantie der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. Art. 103 Abs. 1 GG, § 163a Abs. 1 S. 1 StPO) zu Rate und schlägt eine Normierung im Rahmen von „§ 169a Abs. 3 GVG“ vor. 206 Insbesondere in Bezug auf die Gefahren einer vorurteilsvollen Medienöffentlichkeit für die öffentliche Hauptverhandlung – den eigentlichen „Strafprozess“ – werden weiterhin die Annahme eines Verfahrenshindernisses (vgl. Schulz, Medienberichterstattung, S. 11 ff. m. w. N.), die Auswechslung der Entscheidungsträger bzw. Selbstablehnung (§§ 24, 30 StPO), die örtliche resp. zeitliche Verschiebung des Strafverfahrens (§§ 15, 205 StPO) und schließlich die Annahme eines Strafmilderungsgrundes diskutiert (vgl. dazu eingehender Braun, Medienberichterstattung, S. 190 ff. m. w. N.; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 216 ff. m. w. N.; Roxin, NStZ 1991, S. 153 ff. m. w. N.). 201 202

B. Rechtsschutz vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

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losen Ansinnen einer Verschärfung staatsanwaltschaftlicher Richtlinien beziehungsweise einer Verstärkung der medialen Selbstkontrolle einen grundsätzlichen überlegenswerten Vorschlag dar. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den Anwendungsbereich (das Ermittlungsverfahren) und den Normadressaten (die Ermittlungsbehörden) des „§ 169a GVG“. Gerade in Aufsehen erregenden Strafverfahren besteht wegen einer intensiven Medienberichterstattung in unserer modernen Mediengesellschaft oftmals schon während des Ermittlungsverfahrens die Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten. Insoweit kann eine Vorverlagerung der Vorverurteilungsproblematik innerhalb der gewandelten Rahmenbedingungen des modernen Medienzeitalters festgestellt werden. Kommt es mithin schon auf das Ausmaß medialer Kriminalberichterstattung über Ermittlungsverfahren an, erscheint nur konsequent, weiterhin die Strafverfolgungsbehörden im Hinblick auf ihre Stellung als zentrale Auskunfts- und Informationsquellen im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren als Normadressaten aufzufassen. Hielten die Ermittlungsbehörden bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit (gesetzlich geregelte) faire Standards ein, so bestünde eine tatsächliche Chance, einer drohenden tendenziösen Kriminalberichterstattung der Medien ihre wesentlichen Grundlagen zu entziehen. Dennoch erscheint bereits der gewählte Regelungsstandort im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ungeeignet. Das GVG gilt für die „ordentliche streitige Gerichtsbarkeit“ (vgl. § 2 EGGVG). Hierzu zählt zwar auch die Strafgerichtsbarkeit, wenngleich es sich beim Strafprozess nicht um ein Parteiverfahren handelt.207 Gleichwohl gilt das GVG darüber hinaus auch für den Zivilprozess (vgl. §§ 2 EGGVG, 12 f. GVG) und – entsprechend verschiedener Verweisungsnormen wie z. B. § 173 S. 1 VwGO – für andere Verfahrensarten.208 Nun handelt es sich bei dem Problem vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren um eine wesensmäßig strafprozessrechtlich geprägte Angelegenheit. Demzufolge stellen die strafprozessualen Vorschriften über die „Vorbereitung der öffentlichen Klage“ (§§ 158 – 170 StPO) und dort insbesondere § 160 StPO einen geeigneteren Regelungsstandort dar.209 Diese grundlegende Entscheidung zu Gunsten der StPO als geeigneterem Regelungsstandort wird zu einem späteren Zeitpunkt210 den Entwurf eines „§ 160a StPO“ maßgeblich beeinflussen. Daneben bestehen gleichzeitig auch eine Reihe inhaltlicher Bedenken. Zunächst ist der Wortlaut des „§ 169a Abs. 1 GVG“ zu offen formuliert: „Das Ermittlungsverfahren ist nichtöffentlich. Bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit ist mit Presse, Hörfunk und Fernsehen unter Berücksichtigung ihrer besonderen Aufgaben

207 So M-G, StPO, § 2 EGGVG, Rndnr. 1 m. w. N.; § 13 GVG, Rndnr. 1 m. w. N.; vgl. auch oben: 4. Kap. B. III. 2. a). 208 Ähnlich Kuß, Öffentlichkeitspflicht der Judikative, S. 89 f. 209 Dagegen hält Schroeder in: Eser / Kaiser (Hrsg.), Öffentlichkeit des Strafverfahrens, S. 141 (142), das GVG aus vornehmlich praktischen Gründen für einen geeigneten Standort zur Regelung der Verfahrensöffentlichkeit, um „unnötige Doppelregelungen“ zu vermeiden. 210 7. Kap. B. II.

17 Neuling

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

und ihrer Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung zusammenzuarbeiten. Diese Unterrichtung darf weder den Untersuchungszweck gefährden, noch dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorgreifen. Sie soll sich orientieren an dem Grundsatz der Unschuldsvermutung und dem Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren. Zu unterlassen sind daher einseitige, präjudizierende Äußerungen, die geeignet sind, die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten oder sonst die Findung der Wahrheit oder einer gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen. Insbesondere darf nicht durch den Inhalt oder die sprachliche Darstellung einer Mitteilung der Eindruck erweckt werden, daß der Beschuldigte schuldig oder bereits als Täter überführt sei.“211

In Anbetracht der Schwere der drohenden persönlichen, sozialen und beruflichen Konsequenzen für den Beschuldigten respektive der drohenden Gefahren für die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens212 ist eine nähere Konkretisierung der fairen Standards ermittlungsbehördlicher Informationspolitik notwendig, um die erforderliche Selektion auch tatsächlich effektiv gewährleisten zu können. Sicherlich kann bei einem detaillierten Wortlaut einer Vorschrift über strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren eher die Gefahr der mangelnden Praktikabilität entstehen, falls der konkrete Regelungssachverhalt nur mittels eines „unübersichtlichen Regelungswirrwarrs“213 oder eines „unübersichtlichen Paragraphengestrüpps“214 in den Griff zu bekommen ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall, denn vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren folgt – wie gezeigt215 – näher konkretisierbaren Fallgruppen.216 Außerdem spricht für diesen Weg, dass eine nähere Bezeichnung unzulässiger Auskunftsinhalte gleichzeitig eine in höherem Maße bestimmte Umgrenzung ermittlungsbehördlicher Informationspolitik darstellt. Die das Ermittlungsverfahren prägende Begrenzung217 medialer Strafrechtspflege lässt eine solche Beschränkung grundsätzlich zu; dennoch ist bei dieser Einschränkung der öffentlichen Strafrechtspflege vor dem Hintergrund ihrer Relevanz für die freie Existenz des modernen, demokratischen Rechtsstaates besonders sorgsam zu verfahren. Weiterhin ist der Wortlaut des „§ 169a Abs. 2 GVG“ unzutreffend: „Die Veröffentlichung der Identität des Beschuldigten hat ohne dessen Zustimmung bis zur Anklageerhebung zu unterbleiben, soweit dies nicht im Interesse der Aufklärung von Abdruck bei Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 185. Vgl. dazu schon oben: 1. Kap. A. E., 4. Kap. D. E., 5. Kap. A. II. III. 213 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 184. 214 Stürner, Gutachten A, 58 DJT, A 8. 215 Vgl. oben: 5. Kap. B. II. III. C. Zu dieser Alternative auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 184 m. w. N.; Stürner, Gutachten A, 58. DJT, A 48 m. w. N. 216 Auch Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (262 f.), stellt drei konkrete (mediale) Mitteilungsinhalte im Rahmen der Diskussion der Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten vor einer öffentlichen Vorverurteilung heraus: die Mitteilung von „Tatsachen, um die es in dem Strafverfahren geht, sowie der auf sie bezogenen Ermittlungsergebnisse“, die „Identifizierung des Beschuldigten“ und schließlich die „Äußerung von Meinungen hinsichtlich des Charakters, der Handlungsweise und der (rechtlichen oder moralischen) Schuld des Betroffenen“. 217 Vgl. dazu eingehender zuletzt oben: 4. Kap. E. 211 212

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Straftaten geboten ist. Dasselbe gilt für Angaben, die die Identifizierung des Beschuldigten nahe legen.“218

Wie wir oben219 bereits festgestellt haben, kommt eine öffentliche Individualisierung des Beschuldigten erst nach dem Zwischenverfahren (§§ 199 – 211 StPO), d. h. nach Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens, in Betracht. Schließlich begegnet auch „§ 169a Abs. 3 GVG“, der dem Beschuldigten im Rahmen strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit gewisse Teilnahmeund Mitwirkungsrechte gewährleisten soll, erheblichen Bedenken: „Werden schriftliche Auskünfte oder Presseerklärungen erteilt, so ist dem von ihnen Betroffenen, insbesondere dem Beschuldigten, soweit er anwaltlich vertreten wird, auch seinem Rechtsanwalt, vorab, spätestens aber gleichzeitig eine Abschrift zu übermitteln. Zu Pressekonferenzen ist der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger rechtzeitig einzuladen. Im Verlauf der Pressekonferenz ist ihnen die Möglichkeit zu gewähren, Stellungnahmen / Erklärungen abzugeben.“220

Die Möglichkeit des Beschuldigten beziehungsweise seines Strafverteidigers, an Pressekonferenzen teilzunehmen, vermag den Beschuldigten nur scheinbar vor einer öffentlichen Vorverurteilung zu schützen, denn regelmäßig wird bei frühen Pressekonferenzen noch keine Akteneinsicht gewährt worden sein (vgl. § 147 Abs. 2 StPO). Damit der Beschuldigte in der Medienöffentlichkeit jedoch nicht zu einem unwissenden Ermittlungsobjekt wird, ist ihm gerade vor einer medienöffentlichen Konfrontation mit den erhobenen Vorwürfen ein gewisser Kernbereich vertraulicher und vorwurfbezogener Verteidigungsarbeit221 zuzugestehen. Wird die Akteneinsicht dennoch etwa aufgrund einer drohenden Gefährdung des Untersuchungszwecks abgelehnt, so werden wohl weder der Beschuldigte noch sein Strafverteidiger an einer Pressekonferenz teilnehmen. Zudem verbleibt es bezüglich des Beschuldigten bei der Frage, wie dieser die ihm eingeräumten Teilnahme- und Mitwirkungsrechte realisieren soll, wenn er sich in Untersuchungshaft befindet.222

III. Repressiver Rechtsschutz Im Rahmen der Erörterung des Rechtsschutzes des Beschuldigten vor einer Verletzung seiner persönlichen und sozialen Schutzbelange – aber auch des Schutzes der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens beziehungsweise des Strafverfahrens

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Abdruck bei Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 185. 6. Kap. A. I. 4. c). Abdruck bei Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 191. Zu diesem Aspekt auch später noch einmal: 7. Kap. B. I. 1. b). Vgl. zu diesem Einwand auch Schulz, Medienberichterstattung, S. 94 m. w. N.

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insgesamt – gegenüber allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit soll nunmehr der repressive Aspekt der nachträglichen Ahndung respektive der Kompensation im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen.223 Wir wollen im Besonderen zwischen persönlichkeitsrechtsschützenden und sodann verletzungskompensierenden Maßnahmeoptionen des Beschuldigten unterscheiden.

1. Persönlichkeitsrechtsschützende Maßnahmeoptionen des Beschuldigten a) Gerichtliche Entscheidung über Rechtmäßigkeit, Aufhebung und Widerruf einer öffentlichen Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung strafverfolgungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren ist schon der Rechtsweg umstritten.224 Vor allem die Verwaltungsgerichte vertreten die Auffassung, derartige öffentliche Mitteilungen wären „sonstige Maßnahmen“ auf dem Gebiet der Strafrechtspflege i.S.v. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG. Demzufolge sei der Verwaltungsrechtsweg (vgl. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO) versperrt und die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit solcher öffentlichen Mitteilungen begründet.225 Dieser Auffassung widersprechen insbesondere die ordentlichen Gerichte. Medienauskünfte seien als reine Wissenserklärungen und nicht als Willenserklärungen aufzufassen.226 Somit komme Medienauskünften kein Regelungscharakter zu, d. h. sie könnten keinesfalls Justizverwaltungsakte i.S.v. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG sein.227 Insoweit scheide eine Rechtswegeröffnung über § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG 223 Dieser Aspekt ist in Bezug auf konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit von nachrangiger Bedeutung, weil sich dort gerade die präventive Wirkung einer eventuellen Strafbarkeit entfalten sollte. 224 Hierzu eingehender Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 214 ff. m. w. N., im Kontext konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft. 225 Siehe VGH Mannheim, NJW 1969, S. 1319 f. m. w. N.; NJW 1973, S. 214 m. w. N.; OVG Münster, NJW 1977, S. 1790 m. w. N. Im Schrifttum: Kissel, GVG, § 23 EGGVG, Rndnr. 36 m. w. N.; Schoreit in: KK, StPO, § 23 EGGVG, Rndnr. 28 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 3. Kap., § 18, Rndnr. 15 m. w. N. 226 Vgl. OLG Hamburg, NJW 1965, S. 776 f. m. w. N.; OLG Hamm, NJW 1972, S. 2145 f. m. w. N. Im Schrifttum auch Strubel / Sprenger, NJW 1972, S. 1734 (1738 f.). A.A. OLG Koblenz, StV 1987, S. 430 f. m. w. N. „Nicht zweifelhaft“ sei demgegenüber, dass die Staatsanwaltschaft als „Justizbehörde“ i. S. d. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG tätig werde, wenn sie in ihrer hoheitlichen Eigenschaft als Ermittlungsbehörde öffentlich über Ermittlungsergebnisse berichtet (BVerwG, NJW 1989, S. 412 [413]). Wegen der funktionellen Interpretation des Begriffs der „Justizbehörde“ gilt dies auch für die Polizei, obgleich diese grundsätzlich dem Innenressort zugehörig ist (Langer, JA 1989, S. 465 [466 m. w. N.]; vgl. auch schon oben: 4. Kap. C. II.). 227 Dagegen wird eingewendet, die „Maßnahme“ i. S. d. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG setzte gerade keine VA-Qualität gemäß § 35 S. 1 VwVfG voraus und es reichten bereits schlicht-

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aus – vielmehr sei demgegenüber der Verwaltungsrechtsweg (vgl. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO) eröffnet. Als erstes Bundesgericht hat schließlich das Bundesverwaltungsgericht228 in Bezug auf diese Kontroverse Stellung bezogen. Nach dessen Auffassung sei für solche Rechtsstreitigkeiten der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet. Das Gericht229 begründet seine Auffassung damit, dass eine öffentliche Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden nicht dem eigentlichen – strafverfolgungsrechtlichen – Zweck der Erfüllung einer ihr zugewiesenen spezifisch strafrechtlichen Aufgabe diene und insofern keine Maßnahme auf dem Gebiet der „Strafrechtspflege“ i. S. d. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG darstelle.230 Es trifft sicherlich zu, dass Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren auch dazu dient, der landespressegesetzlichen Auskunftspflicht gemäß § 4 Abs. 1 LPG nachzukommen. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass der eigentliche Inhalt der Medienauskünfte wiederum strafrechtlichen respektive strafprozessrechtlichen Charakters ist. Die Ermittlungsbehörde wird bei der Entscheidung über die Erteilung einer Medienauskunft vornehmlich bedenken, welche wünschenswerten oder nachteiligen Konsequenzen eine Auskunft ggf. haben kann.231 Demzufolge muss auf den „Schwerpunkt“232 der ermittlungsbehördlichen Informationspolitik abgestellt und deren ausschlaggebende Prägung ermittelt werden. Es spricht einiges dafür, Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren als Annex der ermittlungsbehördlichen Kernverantwortung – der Strafverfolgung – aufzufassen; demgegenüber gerät der landespressegesetzliche Gesichtspunkt der Durchführung von Öffentlichkeitsarbeit in den Hintergrund.233 Im Rahmen der staatlichen Strafrechtspflege prägt die Verantwortung für die Strafverfolgung den Kern ermittlungsbehördlicher Tätigkeit. Dieser Verantwortung folgt sachnah die Kompetenz zur Information der Öffentlichkeit über die Geschehnisse auf dem Gebiet staatlicher Strafverfolgung.234 Demgemäß ist nicht einzusehen, warum ermittlungsbehördliche Informationsarbeit wegen der landespressegesetzlichen Auskunftspflicht für Behörden nicht mehr hoheitliche Handlungen mit Außenwirkung aus (BVerwG, NJW 1989, S. 412 [413 m. w. N.]; M-G, StPO, § 23 EGGVG, Rndnr. 6 m. w. N.; Kissel, GVG, § 23 EGGVG, Rndnr. 29 m. w. N.). 228 NJW 1989, S. 412 ff. m. w. N. 229 BVerwG, NJW 1989, S. 412 (413). Dagegen etwa Stürner, Gutachten A, 58. DJT, A 52 m. w. N.; Wasmuth, NStZ 1990, S. 138 f. m. w. N.; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 198 ff. m. w. N. 230 Dazu auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 203 f. m. w. N. 231 Ähnlich Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 219 f., der vor allem den „Wegfall des Überraschungsmoments“ im Falle eines geplanten Zugriffs oder mögliche Auswirkungen auf die persönlichkeitsrechtlichen Belange des Beschuldigten im Auge hat. 232 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 200 m. w. N. 233 In diese Richtung auch Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 220 m. w. N. 234 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 202, spricht in diesem Kontext von einem „zwingenden Nebenprodukt staatlicher Strafverfolgung“. Vgl. dazu weiterhin auch Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 219 m. w. N. 235 So im Ergebnis auch Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 220 f. m. w. N.

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zum Bereich der Strafrechtspflege i.S.v. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG gehören soll. Schon aus Gründen einer geeigneten Beurteilung zu Gunsten der Rechtspraxis soll der sachnähere Richter für Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf öffentliche Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren zuständig sein. Folglich ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet (vgl. § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG).235 Dem Bundesverwaltungsgericht ist insoweit zu widersprechen. Das Klagebegehren des betroffenen Beschuldigten wird sich regelmäßig auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit und Aufhebung der öffentlichen Mitteilung richten (vgl. §§ 23 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG). Wurde die Maßnahme schon vollzogen, kann das Gericht auf Antrag auch die Verpflichtung der Behörde zur Rückgängigmachung des Vollzugs der Maßnahme aussprechen (vgl. §§ 23 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 28 Abs. 1 S. 2, 3 EGGVG), soweit der Behörde die Folgenbeseitigung tatsächlich und rechtlich möglich und die Sache spruchreif ist.236 Daher wird der Antrag des betroffenen Beschuldigten auch darauf gerichtet sein, die Strafverfolgungsbehörde zum Widerruf der veröffentlichten Mitteilung zu verpflichten.237 Dieses Vorgehen ist besonders im Hinblick auf den Versuch der Bekämpfung eines durch öffentliche Vorverurteilung geprägten Stimmungsklimas sinnvoll.238 Aufgrund der Tatsache, dass eine gerichtliche Entscheidung gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1, 2,3 EGGVG oftmals nicht vor Ablauf des Ermittlungs- und Hauptverfahrens ergehen wird, gewinnt der Aspekt des einstweiligen Rechtsschutzes herausragende Bedeutung. Indes sehen die §§ 23 ff. EGGVG – im Gegensatz zu § 123 VwGO – den Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich nicht vor. Daher wird teilweise geschlussfolgert, dass einstweiliger Rechtsschutz nicht gewährt werden könne.239 Zwar spricht der Gesetzeswortlaut für diese ablehnende Auffassung, wenngleich ihr Ansatz übermäßig formalistisch erscheint. Demgegenüber ist vielmehr notwendig, dass einstweiliger Rechtsschutz

236 Vgl. Kissel, GVG, § 28 EGGVG, Rndnr. 15 m. w. N.; M-G, StPO, § 28 EGGVG, Rndnr. 4 m. w. N. 237 Dazu BVerwG, NJW 1989, S. 412. Dabei ist die Rechtsgrundlage dieses Widerrufsanspruchs umstritten (instruktiver Überblick bei Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 7. Teil, II / 1 – 4 m. w. N.). Im Ergebnis bleibt der Streit allerdings ohne „entscheidungserhebliche Konsequenzen“ (Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 7. Teil, II / 4). Zu den konkreten Anspruchsvoraussetzungen: Löffler / Ricker, Handbuch, 44. Kap., Rndnrn. 19 f. m. w. N. 238 Wird das Strafverfahren abgeschlossen, scheidet ein Aufhebungs- bzw. Widerrufsantrag aus (vgl. § 23 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG). Sodann kommt lediglich ein Antrag auf nachträgliche Feststellung in Betracht, dass die öffentliche Mitteilung rechtswidrig war (Kissel, GVG, § 28 EGGVG, Rndnr. 16 m. w. N.; M-G, StPO, § 28 EGGVG, Rndnr. 5 m. w. N.). Das erforderliche „berechtigte Interesse“ (vgl. § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG) liegt – als Rehabilitierungsinteresse – bei fortwirkender, „chronischer“ Stigmatisierung des Beschuldigten vor (vgl. Kissel, GVG, § 28 EGGVG, Rndnr. 18 m. w. N.; M-G, StPO, § 28 EGGVG, Rndnr. 6 m. w. N.). 239 So bspw. OLG Hamm, GA 1975, S. 150 (151 m. w. N.); Altenhain, DRiZ 1966, S. 361 (365 m. w. N.).

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in besonderen Einzelfällen auch im Verfahren gemäß §§ 23 ff. EGGVG verfügbar sein muss, wenn ansonsten schwerwiegende, unzumutbare und nicht anders abwendbare Nachteile entstünden, deren nachträgliche Beseitigung auch durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht erreicht werden könnte (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG).240 Zudem bedeutete eine derart gravierende Ungleichbehandlung ähnlicher Fallszenarien in prozessualer Hinsicht eine „sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung“241. Mithin kann der Beschuldigte die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer öffentlichen Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren, die Aufhebung einer für rechtswidrig erklärten Mitteilung und ggf. auch den Widerruf einer für rechtswidrig erklärten und aufgehobenen Mitteilung gerichtlich durchsetzen (vgl. § 23 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1, 2, 3 EGGVG). In besonderen Ausnahmefällen kann der Beschuldigte außerdem den Erlass einer einstweiligen Anordnung erwirken: In schwerwiegenden Fällen evident unrichtiger Auskünfte – z. B. der öffentlichen Anprangerung des Beschuldigten als überführter Täter – kann der Betroffene zusätzlich einen „eingeschränkten“ beziehungsweise „vorläufigen“ Widerruf242 begehren. Nach Abschluss des Strafverfahrens kann der Beschuldigte die Rechtswidrigkeit einer öffentlichen Mitteilung nachträglich feststellen lassen (vgl. § 23 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG). Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass dem Beschuldigten nur scheinbar ein umfangreicher Rechtsschutz gegen öffentliche Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren zukommt; gerade der zeitnahe Rechtsschutz ist äußerst stark eingeschränkt. Im Übrigen wird die tatsächliche 240 Schoreit in: KK, StPO, § 28 EGGVG, Rndnr. 24 m. w. N.; Kissel, GVG, § 28 EGGVG, Rndnr. 24 m. w. N. 241 Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 207. 242 Bei Bejahung der Möglichkeit des Beschuldigten, im einstweiligen Rechtsschutz vorzugehen, verbleibt das Problem, dass ein „eiliges“ Vorgehen gegen eine öffentliche Mitteilung im Falle einer positiven Entscheidung zu Gunsten eines (uneingeschränkten) Widerrufs endgültig wirken und deswegen als Vorwegnahme der Hauptsache unzulässig sein könnte (BGH, NJW 1987, S. 1400 ff. m. w. N.; Löffler / Ricker, Handbuch, 44. Kap., Rndnr. 33 m. w. N.; Ricker, NJW 1990, S. 2097 [2098 m. w. N.]). Gleichwohl gilt wiederum, dass in besonderen Ausnahmesituationen einstweiliger Rechtsschutz in Gestalt eines sog. „eingeschränkten“ bzw. „vorläufigen“ Widerrufs geboten – mithin zulässig – sein muss (Schneider, AfP 1984, S. 127 ff. m. w. N.; Nachweise weiterhin bei Löffler / Ricker, Handbuch, 44. Kap., Rndnr. 31). Dieser beinhaltet keine endgültige Feststellung, sondern vielmehr die Erklärung, dass eine bestrittene Mitteilung „vorläufig“ nicht aufrechterhalten werden kann (Schneider, AfP 1984, S. 127 [130 m. w. N.]). Er kommt bei gravierenden Vorwürfen in Betracht, für deren Unrichtigkeit gewichtige Anhaltspunkte sprechen, ohne dass jedoch der umfassende Beweis hierfür erbracht werden kann (OLG Hamburg, AfP 1971, S. 35 f. m. w. N.). Nicht ausreichend sind dagegen „nur“ allgemein-vorverurteilende Mitteilungen, wie z. B. die ausschließliche Veröffentlichung belastender Indizien (vgl. eingehender zu den spezifischen Voraussetzung: OLG Hamburg, AfP 1971, S. 35 f. m. w. N.; Schneider, AfP 1984, S. 127 ff. [129 f. m. w. N.]).

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Wirksamkeit bescheiden ausfallen, denn nachträgliche Maßnahmen des Beschuldigten erfolgen in zeitlicher Hinsicht immer erst, nachdem die Öffentlichkeit durch Medienauskünfte beeindruckt worden ist. Unter Umständen haftet dem Betroffenen daher bereits das Etikett des „Kriminellen“ an. Diesbezüglich gilt der bereits eingangs243 erwähnte Erfahrungssatz: Semper aliquid haeret. Hinzu treten noch weitere Probleme: Die eigenständige Durchsetzung repressiven Rechtsschutzes stellt für den betroffenen Beschuldigten – neben dem Strafverfahren – stets eine erhebliche psychische und physische Zusatzbelastung244 dar. Außerdem kann diese Zusatzbelastung ein erhebliches finanzielles Risiko245 bedeuten. Mithin kann im Einzelfall sowohl die entsprechende objektive Fähigkeit als auch die subjektive Bereitschaft des Betroffenen zur Durchsetzung von Rechtsschutz außerordentlich reduziert sein.246

b) Vorbeugender Unterlassungsanspruch Weiterhin ist für den Beschuldigten die Möglichkeit bedeutsam, sich mit Hilfe der gerichtlichen Durchsetzung eines vorbeugenden Unterlassungsanspruchs vor einer wiederholten Beeinträchtigung durch die ermittlungsbehördliche Auskunftspraxis im Einzelfall zu schützen.247 Hierdurch soll nicht die Beseitigung einer erfolgten Beeinträchtigung, sondern die Verhinderung einer zukünftigen Belastung Siehe oben Vorwort. Ohnehin kann der Beschuldigte bereits von persönlichen, sozialen und beruflichen Folgen des Ermittlungsverfahrens belastet sein (vgl. oben: 4. Kap. D., E.). 245 Dazu Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 270; Scholderer, ZRP 1991, S. 298 (301) im Hinblick auf die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegenüber den Medien – allerdings im Falle des bereits rechtskräftig verurteilten Straftäters. Weiterhin Schulz, Medienberichterstattung, S. 73 m. w. N., der vor allem auf diesbezüglich schwierige Umstände bei einer Inhaftierung des Beschuldigten aufmerksam macht. 246 Ähnlich Gross in: Hanack-FS, S. 39 (40 m. w. N.), der auf die „Furcht vor Publizität“ abstellt. Vgl. weiterhin Scholderer, ZRP 1991, S. 298 (301), der – allerdings in dem Szenario des bereits rechtskräftig verurteilten Straftäters – vor allem die „psychische Hemmung“ des Betroffenen anführt, welche auf die Hafterfahrung bzw. die „Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls“ zurückzuführen sei. Auch kritisch gegenüber der Effektivität des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes: Stürner, Gutachten A, 58. DJT, A 82 f. m. w. N. 247 Dazu Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 209 f. m. w. N.; Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 221 ff. m. w. N. Dieser Anspruch wird insbesondere auf eine analoge Anwendung des § 1004 BGB gestützt (Burkhardt in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 12. Kap., Rndnr. 1 m. w. N.; Helle, Persönlichkeitsrechte, S. 213 f. m. w. N.; Ricker, NJW 1990, S. 2097 [2098 m. w. N.]; Scholderer, ZRP 1991, S. 298 [301]). Bei Mitteilungen staatlicher Stellen wird der Unterlassungsanspruch als Abwehranspruch direkt aus den Grundrechten abgeleitet (so Löffler / Ricker, Handbuch, 44. Kap., Rndnr. 1 m. w. N.). Sein Anwendungsbereich erstreckt sich – anders als dieser des Widerrufsanspruchs – nicht „lediglich“ auf unwahre Tatsachenbehauptungen, sondern auch auf ehrverletzende Meinungsäußerungen (Burkhardt in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 12. Kap., Rndnr. 5 m. w. N.; Löffler / Ricker, Handbuch, 44. Kap., Rndnr. 1 m. w. N.). Er erfasst somit auch „nur“ inhaltlich vorverurteilende Mitteilungen. 243 244

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erreicht werden.248 Die erforderliche Wiederholungsgefahr kann vorliegend bejaht werden, da regelmäßig vermutet werden darf, dass die Ermittlungsbehörden nach einer öffentlichen Mitteilung neuer Informationsinhalte auch bereits veröffentlichte Informationsinhalte erneut bekannt geben werden.249 c) Gegendarstellung Neben dem unmittelbaren Vorgehen gegen die öffentliche Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden kann der Beschuldigte versuchen, eine Gegendarstellung zu erwirken (vgl. § 11 LPG250).251 § 11 Abs. 1 S. 1 LPG normiert die Verpflichtung „eine Gegendarstellung der Person oder Stelle zum Abdruck zu bringen, die durch eine in dem Druckwerk aufgestellte Tatsachenbehauptung betroffen ist“.252

Zwar soll die Gegendarstellung ihrem Sinn und Zweck gemäß auch die wahrheitsgetreue Information der breiten Öffentlichkeit gewährleisten.253 Vorrangig dient sie indes dem Schutz der persönlichkeitsrechtlichen Betroffenenbelange und dessen Selbstverteidigung gegenüber schwerwiegenden Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre durch die Medien.254 Hierzu gewährt die Gegendarstellung dem Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 7. Teil, III / 1, S. 300 f. m. w. N. Sehr detailliert zur Anspruchsvoraussetzung der Wiederholungsgefahr: BGHZ 14, S. 163 (167 m. w. N.); Löffler / Ricker, Handbuch, Rndnr. 5 m. w. N.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 7. Teil, III / 1, S. 301 m. w. N. Das Unterlassungsbegehren kann vom Beschuldigten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemacht werden (Löffler / Ricker, Handbuch, 44. Kap., Rndnr. 15 m. w. N.; Ricker, NJW 1990, S. 2097 [2098 m. w. N.]). Vgl. oben: 6. Kap. B. III. Vor 1. 250 § 11 LPG in Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen; § 10 LPG in Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt; § 12 LPG in Brandenburg (vgl. Sedelmeier in: Löffler, Presserecht, § 11 LPG). 251 Diese Parallelität beschreiben Löffler / Ricker, Handbuch, 29. Kap., Rndnr. 1 m. w. N. wie folgt: „hier sofortiges Eingreifen durch andere Tatsachendarstellung ohne Wahrheitsvermutung (Gegendarstellung) – dort nachgewiesene Unrichtigkeit einer Presseveröffentlichung mit Bekanntgabe des objektiv richtigen Sachverhalts.“ Weiterführend zum Gegendarstellungsanspruch: Burkhardt in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 11. Kap., Rndnrn. 26 ff. m. w. N. 252 Diese Pflicht trifft in manchen Bundesländern auch den Rundfunk, d. h. den Hörfunk und das Fernsehen, in entsprechender Weise (vgl. § 10 Abs. 6 PresseG Bln; §§ 25 Abs. 2 i.V.m. 11 PresseG Bremen; §§ 25 Abs. 2 i.V.m. 11 PresseG Nds; §§ 26 Abs. 2 i.V.m. 11 PresseG NW; §§ 24 Abs. 1 i.V.m. 11 PresseG Rh-Pf), vgl. Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 25 LPG. 253 Eingehender zur Gegendarstellung auch Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 231 f. m. w. N.; Schulz, Medienberichterstattung, S. 76 ff. m. w. N.; Treffer, ZUM 1989, S. 433 (435). 254 Wie ist die Rechtslage im Hinblick auf den Gegendarstellungsanspruch nun aber zu beurteilen, wenn die Medien sich primär darauf beschränken, eine behördliche Mitteilung wiederzugeben? In diesem Fall trägt grundsätzlich die mitteilende Behörde die 248 249

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

Betroffenen die Befugnis, „an gleicher Stelle und mit entsprechendem Publizitätsgrad die ihn betreffende Darstellung durch seine Wortmeldung, seine Sicht des mitgeteilten Sachverhalts zu vervollständigen“.255 Solange ein von den Medien veröffentlichter Sachverhalt der breiten Öffentlichkeit noch in Erinnerung, d. h. die öffentliche Meinung hierüber noch korrigierbar sei, solle sich der Betroffene zeitnah zur Wehr setzen können.256 Eine Durchsetzung des Anspruchs auf Abdruck einer Gegendarstellung erfolgt im Eilverfahren vor den ordentlichen Gerichten (vgl. § 10 Abs. 4 LPG257).258 Ob es sich hierbei wirklich um ein effektives Mittel zur Verhinderung der Entstehung und Verfestigung einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren handelt, ist ernsthaft zu bezweifeln.259

äußerungsrechtliche Verantwortung. Demgemäß bestimmt z. B. § 10 Abs. 5 BerlPresseG (vgl. zu den Regelungen der anderen Bundesländer Sedelmeier in: Löffler, Presserecht, § 11 LPG), dass der Gegendarstellungsanspruch bei „wahrheitsgetreuen Berichten über öffentliche Sitzungen der gesetzgebenden oder beschließenden Organe des Bundes, der Länder, der Gemeinden (Gemeindeverbände), der Bezirke sowie der Gerichte“ ausgeschlossen ist. Hierdurch sollen die Medien in ihrer redlich umgesetzten Mittlertätigkeit zur informationellen Daseinsvorsorge geschützt werden (vgl. hierzu auch BGH, NJW 1967, S. 562; OLG Hamburg, AfP 1977, S. 240 ff. m. w. N.; Sedelmeier in: Löffler, Presserecht, § 11 LPG, Rndnr. 74 m. w. N.). Wie ist nun aber die wahrheitsgetreue Veröffentlichung behördlicher Mitteilungen über nichtöffentliche Vorgänge – wie bspw. strafverfolgungsbehördliche Ermittlungsarbeit – zu beurteilen? Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass sich ein Journalist auf die Veröffentlichungsentscheidungen der Strafverfolgungsbehörden verlassen darf, d. h. seiner Sorgfaltspflicht schon durch die schlichte Übernahme der amtlichen Mitteilung nachkommt (vgl. hierzu BGH, NJW 1971, S. 698 ff. m. w. N.; OLG Braunschweig, AfP 1975, S. 913 ff. m. w. N.; OLG Hamburg, AfP 1980, S. 842; Löffler / Ricker, Handbuch, 39. Kap., Rndnr. 15 m. w. N.). Hiernach wäre ein Gegendarstellungsanspruch im Falle der schlichten Wiedergabe strafverfolgungsbehördlicher Mitteilungen ausgeschlossen. A.A. bspw. Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 213 f. m. w. N., die insbesondere auf die Beschränkung der presserechtlichen Privilegierung auf „öffentliche“ Sitzungen verweist: Während der „Meinungskampf“ in öffentlichen Sitzungen entscheidungsbefugter Gremien nicht in den Medien fortgeführt werden solle, entstünde durch die strafverfolgungsbehördliche Mitteilung über ihre Ermittlungsarbeit ein Diskussionsdefizit zu Lasten des Beschuldigten. Da diesem der gleichberechtigte Zugang zum medialen Diskussionsforum ermöglicht werden müsse, könne § 10 Abs. 5 BerlPresseG bzw. die entsprechenden pressegesetzlichen Regelungen der anderen Bundesländer nicht anwendbar sein. 255 BGHZ 66, S. 182 (195). 256 Löffler / Ricker, 29. Kap., Rndnr. 1 m. w. N., zur diesbezüglichen Chance des „sofortigen Eingreifens“; ähnlich Burkhardt in: Wenzel, Wort- und Bildberichterstattung, 11. Kap., Rndnr. 28. 257 Siehe Sedelmeier in: Löffler, Presserecht, § 11 LPG, zu den verschiedenen landespressegesetzlichen Regelungen. 258 Ausführlich Löffler / Ricker, Handbuch, 28. Kap., Rndnrn. 2 ff. m. w. N. 259 Kritisch auch Ionescu, Kriminalberichterstattung, S. 64 ff. m. w. N. Dagegen optimistisch: Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 212 m. w. N., die von einem „effektiven Mittel“ spricht. 260 Ähnlich Schulz, Medienberichterstattung, S. 73 ff. m. w. N.

B. Rechtsschutz vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

267

Infolge der vielfältigen und intensiven Medienberichterstattung über Kriminalfälle in unserer modernen Mediengesellschaft besteht vielmehr die ernste Gefahr, dass sich Schlagzeilen im öffentlichen Bewusstsein festsetzen. Angesichts der demgemäßen Aussichtslosigkeit des Versuchs, mit Hilfe einzelner Gegendarstellungen gegen die öffentliche Meinungsbildung durch die Medien vorzugehen, wird sich der Beschuldigte in vielen Fällen als Sysiphos fühlen.

d) Zusammenfassung Die vorstehenden Ausführungen haben verdeutlicht, dass die persönlichkeitsschützenden Maßnahmeoptionen des Beschuldigten gegen allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren nur scheinbar umfangreich sind.260 Hinzu kommt, dass deren tatsächliche Wirksamkeit bescheiden ausfallen wird, da nachträglicher Rechtsschutz grundsätzlich nicht mehr verhindern kann, dass die breite Öffentlichkeit durch ermittlungsbehördliche Mitteilungen beeindruckt worden ist und der Beschuldigte demzufolge bereits durch das Stigma des „Kriminellen“ gezeichnet ist – semper aliquid haeret. Außerdem wird die eigenständige Durchsetzung repressiven Rechtsschutzes für den betroffenen Beschuldigten – neben dem Strafverfahren – regelmäßig eine erhebliche psychische und physische Zusatzbelastung darstellen. Diese Zusatzbelastung kann zudem im erheblichen finanziellen Risiko liegen. Demgemäß kann sowohl die entsprechende objektive Fähigkeit als auch die subjektive Bereitschaft des Betroffenen beträchtlich reduziert sein.261

2. Verletzungskompensierende Maßnahmeoption des Beschuldigten: Amtshaftung Haben die Ermittlungsbehörden während eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens rechtswidrige Medienauskünfte erteilt, welche den Beschuldigten nachweislich in dessen persönlichkeitsrechtlichen Belangen verletzt haben, so kann der Beschuldigte Amtshaftungsansprüche geltend machen (vgl. § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG).262 Diese Möglichkeit des Beschuldigten hat sich über die Jahre hinweg verbessert, nachdem die Gerichte diese Frage der Durchsetzung von Amts-

261 Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (271 f.), folgert aus der Annahme, dass für die Bekämpfung u. a. medialer Eingriffe in Strafverfahren respektive Interessenpositionen der Verfahrensbeteiligten gegenwärtig kein effektives Mittel zur Verfügung stehe, dass die Justizbehörden die Öffentlichkeit intensiver einbeziehen sollten. 262 Siehe BGHZ 27, S. 338 ff. m. w. N.; 78, S. 274 ff. m. w. N.; BGH, NStZ 1986, S. 562 f. m. w. N. Umfassend weiterhin Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft.

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6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

haftungsansprüchen in der vorliegenden Konstellation lange Zeit äußerst restriktiv gehandhabt haben. Zwar wird beispielsweise in einer unnötigen öffentlichen Individualisierung des Beschuldigten durch den Staatsanwalt stets eine Amtspflichtsverletzung gesehen263, allerdings war gleichzeitig schon die Frage des Verschuldens des Staatsanwaltes umstritten.264 Dieses wurde vom Bundesgerichtshof265 bereits in dem Fall verneint, in welchem ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht das Verhalten des Amtsträgers für objektiv zulässig befand. Demzufolge waren entsprechende Amtshaftungsklagen bereits dann ohne Aussicht auf Erfolg, wenn ein Instanzengericht die betreffende Medienauskunft für rechtmäßig gehalten hatte.266 Von einem Staatsanwalt, der sich bei seiner Amtsausübung für eine Medienauskunft entscheide, könne schließlich keine bessere Rechtseinsicht gefordert werden als von einem Kollegialgericht.267 Dieses Prinzip soll nach neuerer Rechtsprechung jedoch nur noch als „allgemeine Richtlinie“ 268 aufgefasst werden. Eine Abweichung kann dabei in solchen Fällen angezeigt sein, in denen die Ermittlungsbehörde als zentrale Dienststelle über eine umfassende Sach- und Rechtskunde verfügt, die auch von einem Gericht nicht mehr übertroffen werden kann – mithin selbst zur Durchführung einer umfassenden Interessenabwägung befähigt ist.269 Ein solcher Fall wird bei staatsanwaltschaftlichen Pressestellen regelmäßig vorliegen.270 Daneben stellte der Haftungsausschluss gemäß § 839 Abs. 3 BGB eine zweite, wesentliche Hürde dar.271 Hiernach kommt eine Ersatzpflicht dann nicht in Betracht, falls es der Betroffene vorsätzlich oder fahrlässig unterlässt, den Schaden durch Rechtsmittel abzuwenden. Als „Rechtsmittel“ in diesem Sinne sollten auch 263 Vgl. BGHZ 27, S. 338 (342 f.); BGH, NStZ 1986, S. 562 (563); BGH, NJW 1994, S. 1950 (1951). 264 Detaillierter auch Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 156 ff. m. w. N. 265 BGHZ 17, S. 153 (158); 27, S. 338 (343); 73, S. 161 (164 m. w. N.); 97, S. 97 (107 m. w. N.); 117, S. 240 (250 m. w. N.); NJW 1989, S. 96 (98 f. m. w. N.); NJW 1992, S. 3229 (3232 m. w. N.). 266 Siehe dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 2. Teil, III. 5. c. m. w. N. 267 Ähnlich BGH, NJW 1984, S. 168 (169); NJW 1998, S. 751 (752 m. w. N.). 268 BGH, NStZ 1986, S. 562 f. m. w. N.; Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 156 ff. m. w. N. Dahs, NStZ 1986, S. 563 (564), nimmt an, dass den Strafverfolgungsbehörden durch diese Aufwertung des individuellen Anonymitätsinteresses des Beschuldigten eine Exkulpation künftig regelmäßig nicht mehr gelingen werde. Vgl. weiterhin Papier in: MüKo, BGB, § 839, Rndnr. 286 m. w. N.; Thomas in: Palandt, BGB, § 839, Rndnr. 53 m. w. N. 269 Vgl. auch BGH, NJW 1984, S. 168 (169). 270 So bereits Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 234. 271 Siehe hierzu detaillierter Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 177 ff. m. w. N.

B. Rechtsschutz vor allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit

269

formlose Rechtsbehelfe, wie z. B. die Dienstaufsichtsbeschwerde, gelten.272 Somit konnte schon die Nichteinlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen eine rechtswidrige Medienauskunft einen umfassenden Haftungsausschluss bedeuten, falls ein Kausalzusammenhang mit dem Schadenseintritt bestand. Es galt zu beachten, dass sich im Rahmen der Feststellung der Kausalität die Beurteilung der Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs grundsätzlich danach richtete, wie nach Auffassung des erkennenden Gerichts richtigerweise hätte entschieden werden müssen.273 Weil die Einlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde im Falle einer rechtswidrigen Medienauskunft immer Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wurde ihre Nichteinlegung somit als kausal für den Schadenseintritt aufgefasst.274 So war die Einlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde grundsätzlich erforderlich, um dem Beschuldigten seinen Amtshaftungsanspruch zu erhalten, obschon in der Praxis oftmals von einer Einlegung abgesehen wurde – sind Dienstaufsichtsbeschwerden in der Rechtswirklichkeit doch äußerst selten erfolgreich.275 Diesem Grundsatz ist der Bundesgerichtshof276 allerdings mit einem Urteil aus dem Jahre 1986 entgegengetreten, indem er entschied, dass dieser Grundsatz, nach welchem allein auf die sachlich richtige – nicht aber auf die tatsächliche – Entscheidung abzustellen sei, im Falle des § 839 Abs. 3 BGB nicht uneingeschränkt gelte. Falls dagegen auch möglich sei, dass sich die Rechtsauffassung des pflichtwidrig handelnden Staatsanwaltes respektive seines Dienstvorgesetzten in Bezug auf die rechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Medienauskunft selbst bei Einlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde nicht änderte, dann sei die Kausalität zu verneinen.277 Somit wird der Beschuldigte zwar nicht von seiner Pflicht zur Einlegung einer Dienstaufsichtsbeschwerde frei; gleichwohl könnte er ggf. nachweisen, dass diese ohnehin erfolglos geblieben wäre.278 Im Falle einer Persönlichkeitsrechtsverletzung kann der Beschuldigte im Wege der Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs auch Geldentschädigung für immaterielle Nachteile begehren.279 Hierfür ist erforderlich, dass eine schwerwie272 Vgl. Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 179 m. w. N. Dazu sehr krit. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 2. Teil, IV. 2. b. cc. m. w. N. 273 Siehe dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 2. Teil, IV. 2. b. dd. m. w. N. 274 Eingehender Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 180. 275 Ähnlich zur Gefahr, dass der Beschuldigte aufgrund praktischer Erwägungen gleichzeitig seinen Amtshaftungsanspruch verliert: Dahs, NStZ 1986, S. 563 (564). Zur weitgehenden Wirkungslosigkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde in der Rechtswirklichkeit auch noch später im Zusammenhang mit der Ablösung eines mutmaßlich befangenen Staatsanwaltes (7. Kap. A. IV. 4.). 276 NStZ 1986, S. 562 f. Dazu eingehender Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 180 m. w. N. 277 BGH, NStZ 1986, S. 562 (563). 278 So auch Dahs, NStZ 1986, S. 563 (564); Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 236 m. w. N. Krit. dagegen Gross in: Hanack-FS, S. 39 (45 m. w. N.).

270

6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

gende Beeinträchtigung gerügt wird, die nicht auf andere Weise ausgeglichen werden kann.280 Eine solche Beeinträchtigung durch die öffentliche Bekanntgabe eines Tatverdachts wird in solchen Fallkonstellationen angenommen, in welchen das Ermittlungsverfahren später eingestellt wird oder ein Freispruch erfolgt.281 Sie ist daneben auch im Falle einer späteren Verurteilung des Betroffenen anzunehmen, denn eine (medien)öffentliche Anprangerung muss grundsätzlich eine kompensationsfähige Persönlichkeitsrechtsverletzung gemäß § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG darstellen – unabhängig davon, ob es zu einem späteren Zeitpunkt zur Feststellung der individuellen Schuld des Betroffenen kommt.282 In diesem Zusammenhang ist die bereits oben283 angesprochene Entscheidung der 2b. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf im Zivilverfahren „Dr. Esser . / . Land NRW“ von besonderer aktueller Bedeutung. Das Gericht hat Klaus Esser ein Schmerzensgeld wegen Amtspflichtsverletzung zugesprochen, u. a. weil – erstens – die Medien noch vor Esser selbst über die Einleitung des Ermittlungsverfahrens informiert worden waren und weil – zweitens – die Ermittlungsbehörden bevorstehende Ermittlungshandlungen angekündigt und die Bezeichnungen des „Gangsters in Nadelstreifen“ und der „Käuflichkeit“ öffentlich verbreitet hatten.284 Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist die Tatsache, dass konkrete Kriterien für eine schmerzensgeldrelevante Persönlichkeitsrechtsverletzung des Beschuldigten durch öffentliche Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden herausgearbeitet wurden. 279 Siehe BGH, NJW 1981, S. 675 (676 m. w. N.); NJW 1994, S. 1950 (1952 m. w. N.). Vgl. auch Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 167 ff. m. w. N. 280 Vgl. etwa BGH, NJW 1981, S. 675 (676); NJW 1989, S. 2941 (2943 m. w. N.); NJW 1994, S. 1950 (1952 m. w. N.). Dabei gilt es zu beachten, dass ein paralleler Widerrufsanspruch einen Anspruch auf geldwerte Entschädigung nicht ausschließt, weil er regelmäßig keinen ausreichenden Ausgleich für die gerügte Rechtsbeeinträchtigung darstellt (vgl. BGH, JZ 1995, S. 360 [361 m. w. N.]). Im Übrigen zu den Kriterien des Bundesgerichtshofs für die Annahme einer „schweren Beeinträchtigung“: Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 168 m. w. N. 281 BGH, NJW 1963, S. 904 f. m. w. N.; NJW 1977, S. 1288 ff. m. w. N.; NJW 1994, S. 1950 (1953). Weiterhin im Schrifttum: Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 270 m. w. N.; ders., NStZ 1983, S. 102 (107 m. w. N.). 282 Es mag in menschlicher Hinsicht nur schwer einleuchten, dass einem rechtskräftig verurteilten Straftäter ggf. nachträglich ein Schmerzensgeld zugesprochen wird. Gleichwohl darf es zur Beurteilung der Schwere einer persönlichkeitsrechtlichen Beeinträchtigung nicht auf das spätere Ende des Strafverfahrens ankommen. Lediglich in Bezug auf die Schadensbemessung kann ein niedriger bemessenes Schmerzensgeld angezeigt sein (vgl. auch Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 270; ders., NStZ 1983, S. 102 [107 m. w. N.]; Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 235). A.A. bspw. Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 237 f. m. w. N. Vgl. auch die Darstellung dieses Streits bei Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 168 ff. m. w. N. 283 5. Kap. B. III. 2. 2.1. 2.1.6. 284 Vgl. Landgericht Düsseldorf, Pressemitteilung Nr. 5 / 2003, S. 2 (2.) zum Urteil der 2b. Zivilkammer im Rechtsstreit „Dr. Esser . / . Land NRW“ (Az. 2b O 182 / 02), http://www.lgduesseldorf.nrw.de“ .

C. Zwischenergebnis zum Sechsten Kapitel

271

Die Bedeutung dieser Entscheidung wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass das Gericht die Klage „überwiegend abgewiesen“285 hat. Esser hatte nämlich neben der Zahlung eines Schmerzensgeldes auch die Zahlung eines Schadensersatzes begehrt, da er der Auffassung war, die Einleitung der Ermittlungen gegen ihn wäre amtspflichtswidrig gewesen. Insoweit ist nicht verwunderlich, dass die erkennende Zivilkammer davon abgesehen hat, sich zu einer (zivil)gerichtlichen Beurteilungsinstanz für strafverfolgungsbehördliche Ermittlungsentscheidungen „aufzuschwingen“ und den Ermessensspielraum286 der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft in Bezug auf ihre Einleitungsentscheidung dagegen respektiert hat. „Die Vertretbarkeit dürfe nur dann verneint werden, wenn bei Würdigung aller entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte eine Einleitung der Ermittlungen gegen den Beschuldigten nicht mehr verständlich sei.“287

Schließlich steht dem Beschuldigten ebenfalls offen, neben der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen auf Schmerzensgeld (wegen immaterieller Schädigung) ggf. auch einen tatsächlich erlittenen (materiellen) Vermögensschaden gerichtlich geltend zu machen.288 Hierbei kommt vor allem die Geltendmachung von behaupteten Gewinneinbußen in Betracht, welche dem Beschuldigten durch Rufschädigung entstanden sind.289 Gleichwohl obliegt der Schadensnachweis dem Beschuldigten.290

C. Zwischenergebnis zum Sechsten Kapitel I. 1. Konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren erfüllt die Straftatbestände des § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB und der §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG. Im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung war eine Interessenabwägung zwischen dem individuellen Anonymitätsinteresse des Beschuldigten und dem öffentlichen InformationsLandgericht Düsseldorf, Pressemitteilung Nr. 5 / 2003, S. 1 (Vor 1.). Siehe schon oben: 4. Kap. B. II. 2. 287 Landgericht Düsseldorf, Pressemitteilung Nr. 5 / 2003, S. 1 (1.). Vgl. dazu auch oben: 4. Kap. B. II. 2. 288 Vgl. dazu Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 166 f. m. w. N. 289 Siehe eingehender Ludwig, Persönlichkeitsrechtsverletzungen, S. 238, der auch diesbezügliche Beispiele nennt: das Wegbleiben von Kunden, die Verweigerung und Sperrung von Bankkrediten oder Umsatzeinbuße bis hin zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz (hierzu auch bereits oben: 4. Kap. D.). 290 Siehe BGH, NJW 1994, 1950 (1953); Krieger, Haftung des Staates für Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft, S. 166 m. w. N. 285 286

272

6. Kap.: Rechtsschutz vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit

interesse notwendig. Diese hat vorliegend eine Bevorrechtigung des Anonymitätsinteresses ergeben. Mithin ist die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten unzulässig. 2. Demgegenüber ist allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren schon von vornherein nicht tatbestandsmäßig.291

II. 1. Die präventiven und repressiven Ansätze zur Verbesserung des Rechtsschutzes der persönlichen und sozialen Beschuldigtenbelange, der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens und auch des gesamten Strafverfahrens vor einer Schädigung durch die allgemein-vorverurteilenden Einflussnahmen auf die öffentliche Meinung überzeugen im Ergebnis nicht. 2. Im Rahmen der präventiven Ansätze überzeugt vom grundsätzlichen Konzept her nur der gerichtsverfassungsrechtliche Ansatz. Gleichwohl bestehen gegen diesen Ansatz gleichzeitig erhebliche formalrechtliche und inhaltliche Bedenken, weswegen ihm im Ergebnis nicht gefolgt werden kann. 3. Ähnlich stellt sich die Situation in Bezug auf den repressiven Rechtsschutz dar: Die persönlichkeitsrechtsschützenden Maßnahmeoptionen des Beschuldigten gegen allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren sind bloß scheinbar umfangreich. Ihre tatsächliche Wirksamkeit wird regelmäßig äußerst bescheiden ausfallen, da nicht mehr verhindert werden kann, dass die Öffentlichkeit durch strafverfolgungsbehördliche Mitteilungen beeindruckt worden ist und der Beschuldigte demzufolge bereits durch das Stigma des „Kriminellen“ gekennzeichnet wird – semper aliquid haeret. Außerdem wird die eigenständige Durchsetzung repressiven Rechtsschutzes für den betroffenen Beschuldigten – neben dem Strafverfahren – regelmäßig eine erhebliche psychische und physische Zusatzbelastung darstellen. Diese Zusatzbelastung kann zudem ein erhebliches finanzielles Risiko bedeuten. Demgemäß kann sowohl die entsprechende objektive Fähigkeit als auch die subjektive Bereitschaft des Betroffenen beträchtlich reduziert sein. 4. Gleichsam gilt zwar hinsichtlich der verletzungskompensierenden Maßnahmemöglichkeit im Sinne der gerichtlichen Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs (vgl. § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG), dass sich dessen Erfolgsaussichten für den Beschuldigten, der durch öffentliche Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren in seinen persönlichkeitsrechtlichen Belangen beeinträchtigt wurde, mittlerweile verbessert haben. Indes ist auch hier höchst zweifelhaft, inwieweit der Beschuldigte diese Zusatzbelastung in Kauf

291

Siehe oben: 6. Kap. A. III.

C. Zwischenergebnis zum Sechsten Kapitel

273

nehmen wird und ob er dadurch besser vor einer gesellschaftlichen „Verurteilung“ geschützt werden kann. Die öffentliche Meinung wird ihr Urteil maßgeblich auf Grundlage der strafverfolgungsbehördlichen Informationspolitik und der Medienberichterstattung fällen.

III. Im Ergebnis ist die Gesamtsituation vorliegend wie folgt zu beurteilen: Die persönlichen respektive sozialen Belange des Beschuldigten und die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens – aber auch der Institution „Strafverfahren“ insgesamt – sind vor einer Schädigung durch die vorurteilsvolle Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nur unzureichend geschützt; mithin ist der liberal-rechtsstaatliche Charakter des modernen Strafverfahrens ernsthaft gefährdet.

18 Neuling

Siebtes Kapitel

Überlegungen zum effektiveren Schutz des Beschuldigten und zur Stärkung des fairen Ermittlungsverfahrens in der modernen Mediengesellschaft Der Beschuldigte ist in unserer modernen Mediengesellschaft nur unzureichend vor einer vorurteilsvollen Informationspolitik der Strafverfolgungsbehörden im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geschützt. Dieses Rechtsschutzdefizit bleibt nicht ohne Konsequenzen auf die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens respektive der Institution des modernen Strafverfahrens im liberalen Rechtsstaat: Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass ein Ermittlungsverfahren – besonders in Kriminalfällen von besonderem öffentlichen Interesse – zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“1 ausartet. Dies vorausgeschickt, wollen wir im letzten Kapitel nunmehr Überlegungen zu einer individuellen Verbesserung des Beschuldigtenschutzes und zur institutionellen Stärkung des liberal-rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens darlegen. Dieser übergeordnete Rahmen ist deswegen von Bedeutung, weil der Schutz des Beschuldigten eng mit der Achtung seiner strafprozessrechtlichen Subjektstellung im Ermittlungsverfahren zusammenhängt. Demzufolge kommen Bemühungen, den fairen Charakter des Ermittlungsverfahrens zu bewahren und zu stärken, auch der Stellung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt zugute. So formuliert Felix Herzog: „Ein Modell des Strafverfahrens, das auch dem Beschuldigten gegenüber Respekt vor seiner Freiheit wahrt, ihm eine Subjektstellung im Verfahren einräumt, ist Konsequenz der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag. Nur diejenige staatliche Ordnung ist wirksam und legitim zugleich, die die Freiheiten der sich in dieser Ordnung zusammenschließenden Menschen anerkennt, die ihre eigene Macht zügelt und sich an die Gesetze bindet. Mit diesen Postulaten verträgt sich kein Prozeß, der den Beschuldigten zum bloßen Untersuchungsobjekt macht, in dem der Inquirent mit größter Machtfülle ausgestattet ist ( . . . ).“2

Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Bemerkungen wollen wir in einem ersten Schritt die „kräftemäßige“ Struktur des Ermittlungsverfahrens analysieren (A.). Es wird sich herausstellen, dass sich gegenwärtig ein übermäßig ungleiches strafverfahrensrechtliches „Kräfteverhältnis“ zwischen der „Definitionsmacht des Kri1 2

Siehe oben: 1. Kap. A. E., 5. Kap. C. Herzog, (Hrsg.) Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (23).

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“

275

minaljustizsystems“3 und dem Beschuldigten manifestieren kann, welches über die für eine wirksame Strafverfolgung notwendige Ermittlungsgewalt der Strafverfolgungsbehörden hinausgeht. Insbesondere wird auch deutlich werden, dass allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit in dieser Konstellation geeignet sein kann, die schon überlegene Ermittlungsherrschaft der Strafverfolgungsbehörden noch zusätzlich zu verstärken. Deshalb wird sodann zu überlegen sein, wie die betreffenden Strafverfahrensstrukturen reformiert werden könnten, um die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens zu stärken und somit auch den Beschuldigtenschutz zu verbessern (B.).

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“ als Ursache einer statusgeminderten Objektrolle des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren Wenden wir uns zunächst der „kräftemäßigen“ Struktur des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu. Die Darstellung der strafprozessrechtlichen Rahmenbedingungen wird die folgende Arbeitshypothese erbringen: Die schlichte Umsetzung dieser Rahmenbedingungen wird zeigen, in welcher Form sich eine unverhältnismäßige Machtfülle der „Definitionsmacht des Kriminaljustizsystems“4 im Ermittlungsverfahren offenbaren kann, die den Beschuldigten möglicherweise schnell in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjektes drängt. Hierbei kann eine allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft dazu dienen, die Rollenverteilung zwischen der Staatsanwaltschaft als „Aufklärerin“ und dem Beschuldigten als „Kriminellem“ 5 im Rahmen ihrer Bemühungen zur strafrechtlichen Beseitigung „gesellschaftlicher Großstörungen“6 öffentlich zu verankern. Die sogleich folgenden Gliederungspunkte wollen im Sinne einer verknüpften Darstellung als möglicher Ablauf eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens verstanden werden.

I. Niedrige Einleitungsschwelle für strafrechtliche Ermittlungen Die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist untrennbar mit dem Vorliegen eines Anfangsverdachtes verknüpft. Dabei liegt die Entscheidung, Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 207. Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 207. 5 Ähnlich Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 174, in Bezug auf den „Fall co op“ [detaillierter zum „Fall co op“ auch oben: 5. Kap. B. III. 1. a) ee)]. 6 Dazu bereits oben: 1. Kap. B. II. E. 3 4

18*

276

7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

ob „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ (vgl. § 152 Abs. 2 StPO) vorliegen, ob mithin ein aufgrund konkreter Tatsachen belegter und in kriminalistischer Erfahrung begründeter Hinweis für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat besteht, im Ermessen der Staatsanwaltschaft. Dieses staatsanwaltschaftliche Ermessen wird erst in dem Moment überschritten, in welchem die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bei insgesamter, verständiger Würdigung des zugrunde liegenden Sachverhaltes und mit Rücksicht auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege nicht mehr verständlich ist.7 Eigentlich soll diese zugegebenermaßen großzügige Beschränkung strafrechtlicher Ermittlungen den willkürlichen Eintritt staatlicher Gewalt in die private Lebensführung mit der Absicht, vermutete Straftaten strafrechtlich zu verfolgen, verhindern.8 Insoweit kommt der Schwelle des Anfangsverdachtes zwar eine sehr wichtige Begrenzungsfunktion zu, als dass sie verhindern soll, dass der Einzelne zu Unrecht durch Ermittlungsmaßnahmen beschwert wird.9 Gleichzeitig stellt diese Schwelle aber ein äußerst unbestimmtes Erfordernis dar, dessen Beurteilung doch weitgehend dem staatsanwaltschaftlichen Ermessen unterworfen ist. In der Strafverfolgungspraxis führt diese großzügige Konzeption denn auch oftmals zu einer tendenziellen Bejahung des Anfangsverdachtes.10 Insbesondere können z. B. schon schlüssige, aber ersichtlich bösartige private (anonyme) Strafanzeigen, Zeitungsartikel oder etwa Bemerkungen von Zeugen während einer Vernehmung ausreichen, um ein Einschreiten der Ermittlungsbehörden hervorzurufen.11 Natürlich können solche Ereignisse grundsätzlich geeignet sein, die Strafverfolgungsbehörden zu veranlassen, den betreffenden Sachverhalt genauer zu überprüfen. Gleichwohl erscheint hierbei die sich in der Strafverfolgungspraxis verstärkende Tendenz sehr bedenklich, ohne substantielle Ermittlungen und allein wegen als zureichend bewerteter Verdachtsmomente Ermittlungsmaßnahmen zu veranlassen.12 Sicherlich kann eine solche niedrige Schwelle zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen unter dem Gesichtspunkt einer funktionsfähigen und effektiven Strafverfolgung eine förderliche Wirkung entfalten. Gleichwohl haben derartige kriminalpolitische Erwägungen einen sehr hohen Preis: Kehrseitig können diese niedrigen Anforderungen dazu führen, dass die individuelle Beschwer des Einzelnen in persönlicher, sozialer und beruflicher Hinsicht, die bereits mit der schlichten Existenz eines Ermittlungsverfahrens verbunden sein kann, äußerst schnell eintritt.

Vgl. auch oben: 4. Kap. B. II. 2. Dazu Schoreit in: KK, StPO, § 152, Rndnrn. 18b f. m. w. N.; Rieß in: L-R, StPO, § 152, Rndnrn. 22 ff., 33 m. w. N. 9 Vgl. Wölfl, JuS 2001, S. 478 (479 m. w. N.). 10 Ähnlich Eisenberg / Conen, NJW 1998, S. 2241 (2249). 11 Zu diesen Beispielen schon Dahs, NJW 1985, S. 1113 (1114). 12 So bereits Dahs, NJW 1985, S. 1113 (1114). 7 8

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“

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II. Gefährdung der inhaltlich-objektiven und zeitlich-stringenten Ermittlungsführung Wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, sollen insbesondere das Objektivitätspostulat des § 160 Abs. 2 StPO und die Beschleunigungsmaxime (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) eine faire Ermittlungsführung garantieren. Die Konzeption des Strafverfahrens im liberalen Rechtsstaat ist auch dadurch geprägt, dass der Staatsanwaltschaft als gegenüber dem Richter unabhängige Anklagebehörde die gesetzmäßige Durchführung einer effizienten Strafverfolgung obliegt. Demgemäß soll ihre strafverfahrensrechtliche Verpflichtung zu objektiver Ermittlungsführung garantieren, dass ein weitgehend wahrheitsgetreues und gerechtes Ergebnis im Strafverfahren erreicht wird.13 Daneben soll der Beschuldigte über die erhobenen Vorwürfe innerhalb eines angemessenen Zeitraums (Rechts)Sicherheit erlangen, stellt ein Strafverfahren doch eine empfindliche Beeinträchtigung des Rechtskreises des – möglicherweise zu Unrecht – Betroffenen dar.14 Eine persönliche, soziale und berufliche Beeinträchtigung kann mittlerweile schon aus der schlichten Existenz eines Ermittlungsverfahrens resultieren.15 Hinzu kommt, dass die Durchführung von ermittlungsrechtlichen Zwangsmaßnahmen insbesondere in Aufsehen erregenden Strafverfahren oftmals von massiver Medienberichterstattung begleitet wird.16 Dies gilt in besonders schwerwiegendem Maße für die Fälle, in denen die Ermittlungsbehörden die Medien auf die bevorstehende Durchführung solcher Zwangsmaßnahmen im Wege gezielter Indiskretionen „vorbereiten“.17 Eine massive Kriminalberichterstattung der Medien kann das Ermittlungsverfahren bedrohen, indem es den Beschuldigten, der sich um seine persönliche, soziale und berufliche Integrität sorgt, zuweilen erheblich unter Druck zu setzen und nachhaltig zu schädigen vermag: Je länger ein Ermittlungsverfahren andauert, desto größer ist in unserer Mediengesellschaft mittlerweile die Wahrscheinlichkeit, dass die Gesellschaft den Betroffenen als „Kriminellen“ (vor)verurteilt und dass selbst im Falle einer späteren Einstellung der Ermittlungen oder eines Freispruchs „etwas hängen bleibt“. Der Beschuldigte ist in diesem Fall selbst davor nicht geschützt, noch Jahre später erneut mit den Vorwürfen im Sinne eines „Da war doch was!“ konfrontiert zu werden. Darüber hinaus bringt die Objektivitätsmaxime des § 160 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft – wie bereits dargelegt18 – in der Rechtswirklichkeit schon Zur Objektivitätsmaxime des § 160 Abs. 2 StPO schon oben: 4. Kap. C. I. 2., 4. Zur Beschleunigungsmaxime bereits oben: 4. Kap. B. III. 1. 15 Dazu auch oben: 4. Kap. D., E. 16 So bspw. im „Fall Friedman“ (vgl. oben: 1. Kap. A.), aber auch in einigen der oben dargestellten Einzelfallbeispiele staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit (vgl. oben: 5. Kap. B. II. III., C.). 17 Dazu Ulsamer in: Jauch-FS, S. 221 (226). 18 Vgl. oben: 4. Kap. C. I. 2. 4. E. 13 14

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

während ihrer Ermittlungen in einen schwerwiegenden Pflichtenkonflikt: Die ehrenwerte Zielvorstellung einer objektiv-umfassenden Ermittlungsführung kollidiert sowohl mit der strafverfolgungsrechtlich-typischen Ausgangssituation im Ermittlungsverfahren im Sinne eines Verdachtsvorbehaltes gegenüber dem Beschuldigten als auch mit den Folgen des oftmals gewaltigen Medieninteresses und den instrumentalisierenden Übergriffen auf die Strafjustiz zur Beseitigung „gesellschaftlicher Großstörungen“19. Dadurch gerät die Staatsanwaltschaft als federführende Ermittlungsbehörde in ein strafverfolgungsrechtliches Dilemma, in welchem dem einzelnen Staatsanwalt etwas in menschlicher Hinsicht nahezu Unmögliches abverlangt wird. Angesichts dieses elementaren Zwiespaltes liegt die Annahme nahe, dass die Objektivitätspflicht des § 160 Abs. 2 StPO eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund ist.

III. „Gesetzmäßiger“ informatorischer Verfahrensausschluss des Beschuldigten durch Verweigerung der Vernehmung und Ablehnung der Akteneinsicht Vor dem Hintergrund einer niedrigen Einleitungsschwelle für strafrechtliche Ermittlungen und einer Gefährdung der inhaltlich-objektiven respektive zeitlichstringenten Ermittlungsführung fragt sich nunmehr, welche strafprozessrechtlichen Vorschriften eine faire Ermittlungsführung gewährleisten und dem Beschuldigten eine Einwirkung auf den Verlauf der strafrechtlichen Ermittlungen ermöglichen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem die Vernehmung des Beschuldigten in Betracht (vgl. § 163a StPO). Die Vernehmung des Beschuldigten ermöglicht den Ermittlungsbehörden einerseits, wichtige Erkenntnisse für den Fortgang ihrer Ermittlungen zu erlangen und andererseits, dass der Beschuldigte Gelegenheit erhält, die zu seinen Gunsten sprechenden Sachverhaltsumstände geltend zu machen. Durch die Vernehmung des Beschuldigten kann ein Ermittlungsverfahren insoweit effektiver gestaltet werden – immer vorausgesetzt, der Beschuldigte bezweckt eine kooperative Verteidigung. Läge dagegen ein konfrontatives Verteidigungsverhalten des Beschuldigten vor, fielen die nachteiligen Konsequenzen einer von ihm verweigerten Vernehmung zuvorderst auf ihn selbst zurück. Während der kooperative Beschuldigte seiner Vernehmung eher aufgeschlossen gegenüberstünde, ließe der konfrontativ handelnde Beschuldigte die Möglichkeit höchstwahrscheinlich verstreichen, das Ermittlungsverfahren selbst mitzugestalten und zu beschleunigen.20

Dazu bereits eingangs: 1. Kap. B. II. Eine derartige konzeptionelle Differenzierung in „kooperatives“ und „konfrontatives“ Strafverfahren führt im Zusammenhang strafverfahrensrechtlicher Reformüberlegungen auch Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (31 f. m. w. N.) – wiederum unter Verweis auf Roxin – durch. Zum Aspekt der „Kooperation im Ermittlungsverfahren“ weiterhin Hild in: Simon-FS, S. 167 (179 f.). 19 20

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“

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Dessen ungeachtet tritt in der Ermittlungspraxis oftmals die weitere Konstellation ein, dass sich die Ermittlungsbehörden ihrerseits dieser ggf. äußerst ergiebigen Erkenntnisquelle dauerhaft verschließen.21 Dieses Verhalten wird durch die Strafprozessordnung in § 163a Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich legitimiert: „Der Beschuldigte ist spätestens vor Abschluß der Ermittlungen zu vernehmen, es sei denn, daß das Verfahren zur Einstellung führt.“

Wenngleich § 163a Abs. 1 S. 1 StPO den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör im Ermittlungsverfahren gewährleisten soll22, fragt sich, wie sich dieser faire Zweck des § 163a StPO tatsächlich entfalten soll, wenn den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit gegeben wird, über weite Strecken einseitig „durchzuermitteln“, bevor schließlich dem Beschuldigten ggf. ganz zum Schluss des Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit zur Vernehmung gegeben wird. Bei umfangreichen Vorwürfen können sich die strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen über viele Monate hinziehen, ohne dass dem Beschuldigten die Möglichkeit zur Einflussnahme gegeben wird. Dieses Szenario kommt einem „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschluss des Beschuldigten vom strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gleich. Hans Dahs23 schildert in diesem Zusammenhang Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft vernommenen Zeugen sogar „Schweigegebote“ auferlegt hat, deren Verletzung zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen wegen des Vorwurfs der Strafvereitelung (vgl. § 258 StGB) führen sollte; der Beschuldigte werde später – am „ ,endlichen Rechtstag‘ i.S. des § 163a I 1 StPO“ – mit größtenteils „ ,wasserdichten‘“ Ermittlungsergebnissen konfrontiert, die aus staatsanwaltschaftlicher Perspektive ohnehin für eine Anklageerhebung ausreichten. Im Ergebnis stellt sich uns ein ähnliches Bild auch im Hinblick auf das Akteneinsichtsrecht (vgl. § 147 StPO) dar. Das Akteneinsichtsrecht ist für den Beschuldigten respektive dessen Strafverteidiger das herausragende Verteidigungsrecht im Ermittlungsverfahren, können hierdurch doch die erhobenen Vorwürfe näher konkretisiert und eine erste Orientierung im Ermittlungsverfahren erreicht werden. Demzufolge wird das Akteneinsichtsrecht zu den „Kernstücken der Verteidigung“24 gezählt. Der Strafverteidiger des Beschuldigten ist hierbei befugt, Ermittlungsakten einzusehen und Asservate zu besichtigen (§ 147 Abs. 1 StPO). Allerdings bestimmt § 147 Abs. 2 StPO: „Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke sowie die Besichtigung der amt-

So geschehen bspw. im „Fall co op“ (vgl. Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 169). Vgl. BVerfGE 18, S. 399 (405 m. w. N.); Rieß in: L-R, StPO, § 163a, Rndnrn. 1, 27 m. w. N.; Wache in: KK, StPO, § 163a, Rndnr. 1 m. w. N. 23 NJW 1985, S. 1113 (1114). 24 Stern in: AK, StPO, § 147, Rndnr. 1 m. w. N. Dahs, Handbuch, Rndnr. 233, spricht vom „wichtigsten Privileg“. 21 22

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

lich verwahrten Beweisstücke versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann.“25

Dabei ist umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine solche Gefährdung des Untersuchungszwecks angenommen werden darf.26 Bisher wird überwiegend vertreten, dass die Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft (vgl. § 147 Abs. 2 StPO) nur mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde anfechtbar sei.27 Dementsprechend einfach wird dem sachbefassten Staatsanwalt die Verweigerung der Akteneinsicht wegen sehr pauschaler Gründe gemacht.28 Die einfache Möglichkeit zur Verweigerung dieses Kernrechts im Ermittlungsverfahren stellt einen weiteren Anknüpfungspunkt für einen drohenden „gesetzmäßigen“ Ausschluss des Beschuldigten vom strafrechtlichen Ermittlungsverfahren dar, wird er doch u. U. schon von vornherein über den Gegenstand der erhobenen Vorwürfe im Unklaren gelassen. Hierzu bemerkt Hans Christoph Schaefer zutreffend:

25 Auf diesem Weg soll eine notwendige Prüfungsverpflichtung des Strafverteidigers, welche Aktenbestandteile „er – im wahrsten Sinne des Wortes – ,ungestraft‘“ an den eigenen Mandanten weitergeben darf, vermieden werden (Mehle, NStZ 1983, S. 557 [558]). 26 BGHSt 29, S. 99 (103), meint hierzu: „Die Frage kann jeweils nur anhand des Einzelfalls beurteilt werden.“ Dazu ferner Laufhütte in: KK, StPO, § 147, Rndnr. 13 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 3. Kap., § 19, Rndnr. 64. Nachweise zu einzelnen Beispielen, die wohl die Bejahung einer Gefährdung im Sinne des § 147 Abs. 2 StPO zulassen, bei Dedy, Reform des Ermittlungsverfahrens, S. 159 m. w. N. Nach einer Auffassung soll erst das Vorliegen einer konkreten Gefahr die Versagung der Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 2 StPO zulassen (Dahs, Handbuch, Rndnrn. 238 ff., der hierzu sehr anschauliche praktische Erwägungen anstellt; weiterhin Keller, GA 1983, S. 497 [511 m. w. N.], der auf den Wortlaut „gefährden kann“ hinweist und diesbezüglich argumentiert, dass der Gesetzgeber andernfalls auch hätte „gefährden könnte“ normieren können; Lüderssen in: L-R, StPO, § 147, Rndnrn. 136 f. m. w. N.). Dagegen wird vorgebracht, dass für eine Versagung der Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 2 StPO nur nicht jedes noch so vage und entfernte Gefährdungspotential ausreichen soll (M-G, StPO, § 147, Rndnrn. 24 f. m. w. N.; Müller in: KMR, StPO, § 147, Rndnr. 5). Nach Laufhütte in: KK, StPO, § 147, Rndnr. 13, und Pfeiffer, StPO, § 147, Rndnr. 8, ist „eine konkrete Gefahr (. . . ) nicht erforderlich“. 27 Nachweise zu dieser Auffassung, aber auch zu der widersprechenden Auffassung, die hierin einen anfechtbaren Justizverwaltungsakt (vgl. §§ 23 ff. EGGVG) erblickt, bei Hellmann, Strafprozeßrecht, II, § 6, Rndnr. 15. Weitere Nachweise bei Roxin, Strafverfahrensrecht, 3. Kap., § 19, Rndnr. 64, der formuliert, dass eine Beschränkung auf die Dienstaufsichtsbeschwerde jedenfalls in solchen Fällen, in welchen der Beschuldigte in Untersuchungshaft verbracht worden ist, „bedenklich erscheint“. 28 Vgl. auch Dahs, NJW 1985, S. 1113 (1115 m. w. N.); Dedy, Reform des Ermittlungsverfahrens, S. 160 f. m. w. N., die beschreibt, dass „auf den Antrag auf Akteneinsicht entweder gar nicht oder nur mit der Zusendung eines Formulars reagiert wird, auf dem der Gesetzestext abgedruckt und angekreuzt ist: ,Akteneinsicht kann zur Zeit nicht gewährt werden wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks‘“. Hierzu weiterhin Kehr, Neuregelung des Ermittlungsverfahrens, S. 207 f. m. w. N.; Stern in: AK, StPO, § 147, Rndnr. 1 m. w. N., der meint, dass „in der Praxis (. . . ) in erheblichem Umfang Rechtsmißbräuche durch Verzögerung oder Verweigerung von Akteneinsicht zu beklagen (sind); rund der Anwälte berichteten (. . . ) von ,bedenklichen‘ Rechtsbeschneidungen durch die StA“.

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“

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„Es entspricht nicht dem Gebot der Fairness, wenn – ohne prozessuale Notwendigkeit – mit formelhafter Begründung die Gewährung von Akteneinsicht abgelehnt wird.“29

Schließlich bleibt festzustellen, dass dem Beschuldigten durch die Verweigerung seiner Vernehmung (§ 163a Abs. 1 S. 1 StPO) respektive die Ablehnung der Akteneinsicht (§ 147 Abs. 2 StPO) der dauerhafte „gesetzmäßige“ informatorische Ausschluss vom strafrechtlichen Ermittlungsverfahren drohen kann. Somit besteht die Gefahr, dass sich das strafrechtliche Ermittlungsverfahren – insbesondere unter dem Einfluss von Medienberichterstattung in Aufsehen erregenden Strafverfahren – zu einer öffentlich-einseitigen „Inquisition“30 entwickelt.31

IV. Ablösung eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes? Tritt eine solche Situation ein, stellt sich für den Beschuldigten die Frage nach den rechtlichen Möglichkeiten zur Ablösung des für befangen gehaltenen Staatsanwaltes.

1. Aktuelle Rechtslage Im geltenden Strafprozess- und Gerichtsverfassungsrecht existiert keine Regelung, welche die Ablösung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes regelt. Dass auch ein Staatsanwalt in die Gefahr geraten kann, sich im Einzelfall von sachfremden Erwägungen leiten zu lassen, hat der Gesetzgeber bereits zum Zeitpunkt der Verfassung der Strafprozessordnung beziehungsweise des Gerichtsverfassungsgesetzes32 erkannt. Dessen ungeachtet verzichtete er damals auf die formelle Regelung dieses Problems, vertraute er doch auf die staatsanwaltschaftlichen Organisationsstrukturen und das eigene Interesse an einer wirksamen Verhinderung jedweder voreingenommenen Amtsverrichtung.33 Wie selbstverständlich Schaefer in: Riess-FS, S. 491 (495). Vgl. schon oben: 1. Kap. A., C., E. 31 Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 170, spricht im „Fall co op“ [vgl. auch oben: 5. Kap. B. III. 1. a) ee)] vom ausschließlich aus der “,Verfolgerperspektive‘“ geführten Ermittlungsverfahren, welches den Beschuldigten als „potentiellen Saboteur des Ermittlungsverfahrens“ betrachte und bei dem Beschuldigten „den Eindruck hinterlassen (muß), er habe es mit einem Staatsanwalt zu tun, der sein Amt befangen ausübt“. Zur Frage nach der Möglichkeit der Ablösung eines mutmaßlich befangenen Staatsanwaltes sogleich: 7. Kap. A. IV. 32 Vgl. zu den rechtshistorischen Hintergründen bereits oben: 1. Kap. C. II. 2. 33 Siehe hierzu die Motive zur StPO bei Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 91 f. Bereits die Gesetzesvorlage zur Reichs-Strafprozessordnung sah nicht vor, die Regelungen der „Ausschließung und Ablehnung von Schöffen oder Gerichtsschreibern“ (vgl. den damals vorgesehenen § 25) bzw. der „Ausschließung von Geschworenen“ (vgl. den damals vorgesehenen § 26) auch auf die Beamten der Staatsanwaltschaft zu erstrecken: 29 30

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

ging man davon aus, dass der unmittelbare Dienstvorgesetzte – jedenfalls aber das Ministerium – auf die korrekte Pflichterfüllung der Staatsanwälte achten und stets für eine u. U. notwendige Abhilfe sorgen würde.34 2. Zum Vergleich: Die Rechtslage nach österreichischem Strafprozessrecht Anders stellt sich die Rechtslage in Österreich dar. Während die Vorschriften bezüglich der staatsanwaltschaftlichen Organisationsstrukturen im Wesentlichen deutschem Strafprozessrecht entsprechen35, ging der österreichische Gesetzgeber bei der Verfassung der österreichischen Strafprozessordnung vom 23. Mai 1873 einen Schritt weiter: Trotz bestehenden Devolutions- und Substitutionsrechts36 des jeweils Dienstvorgesetzten wurde weiterhin die Ablösung eines Staatsanwaltes aufgrund der Besorgnis seiner Befangenheit gesetzlich geregelt.37 3. Beurteilung dieses Problems in Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichem Schrifttum Schon bei Inkrafttreten der deutschen Reichs-Strafprozessordnung wurde vor allem seitens des Schrifttums deutliche Kritik hinsichtlich des Fehlens einer gesetzlichen Regelung zur gerichtlichen Kontrolle einer vorgetragenen Besorgnis staatsanwaltschaftlicher Befangenheit geäußert.38 Diese kritischen Stimmen verstummten auch in den darauffolgenden Jahren nicht.39 „Schließlich bleibt zu diesem Abschnitt (Zweiter Abschnitt – Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen [siehe Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 81 ff.]) noch zu bemerken, daß es überflüssig erschien, besondere Vorschriften hinsichtlich der Beamten der Staatsanwaltschaft zu geben. Zwar ist die letztere keineswegs bloß Partei; sie hat vielmehr auch eine Reihe von Amtsverrichtungen wahrzunehmen, welche zweifellos keine Parteihandlungen darstellen. Allein die Organisation der Staatsanwaltschaft gestattet, daß in den Fällen, wo die Ersetzung eines staatsanwaltschaftlichen Beamten durch einen anderen geboten oder wünschenswert erscheint, dieselbe auf Antrag des Beschuldigten oder jenes Beamten selbst oder auch von Amtswegen durch die vorgesetzte Behörde bewirkt werden kann, ohne daß es eines förmlichen Verfahrens bedarf.“ (Hahn, Materialien, 3. Bd., 1. Abt., S. 92.). 34 Die Problematik staatsanwaltschaftlicher Voreingenommenheit hat offenbar auch in den Beratungen während des Gesetzgebungsverfahrens keine Rolle gespielt. Weder im Entwurf der Reichs-Strafprozessordnung noch in den Lesungen der Reichsjustizkommission und in den Reichstagsberatungen wurde hierauf detaillierter eingegangen (Schedel, Ausschließung und Ablehnung, S. 12 m. w. N.). 35 Vgl. die ausführliche Darstellung über die österreichische Staatsanwaltschaft bei Roeder, Lehrbuch, S. 67 ff. m. w. N. 36 Hierzu sogleich detaillierter: 7. Kap. C. I. 2. b) aa). 37 §§ 75 f. i.V.m. 65 der österreichischen Strafprozessordnung (abgedruckt bei Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 57). 38 So bspw. Geyer, Lehrbuch (1880), S. 419 ff.

A. Arbeitshypothese: Unfaires „Kräfteverhältnis“

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In der Rechtsprechung des Reichsgerichtes40 und des Bundesgerichtshofes41 finden sich zunächst lediglich Entscheidungen zur Frage des Handlungsverbotes eines im Hauptverfahren zeugenschaftlich vernommenen Staatsanwaltes. Im Jahre 1969 verneinte das OLG Hamm42 einen Anspruch auf Ablösung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes im Ermittlungsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher auf die Feststellung beschränkt, dass der Untersuchungsrichter „anders als der Staatsanwalt, den Vorschriften über Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen“43 unterliege und „für Richter und Staatsanwälte wegen ihrer verschiedenen verfahrensrechtlichen Stellung nicht die gleichen Maßstäbe für die Beurteilung ihrer Befangenheit gelten können“44. In den darauffolgenden Jahren kam es zu einer intensiveren gerichtlichen Befassung mit der Frage der Zulässigkeit der Ablösung eines Staatsanwaltes wegen der Besorgnis der Befangenheit.45 Vor nicht allzu langer Zeit stellte das Bundesverfassungsgericht46 schließlich – wie oben47 bereits erwähnt – fest, dass Polizei und Staatsanwaltschaft grundsätzlich keine strafverfolgungsrechtliche Unabhängigkeit genießen. Im Gegensatz zum Richter dürfe von ihnen vor dem Hintergrund ihrer Aufgabe, im Falle des Vorliegens des Verdachtes von Straftaten den zugrunde liegenden Sachverhalt zu erforschen und aufzuklären, keine „strikte Neutralität“ erwartet werden. 39 Es wurde gerade davor gewarnt, dass sich die in den Motiven widerspiegelnde Auffassung – Vorschriften über Ausschluss- oder Ablehnungsgründe für Staatsanwälte seien überflüssig, weil ein für befangen gehaltener Staatsanwalt jederzeit ersetzt werden könne – einseitig zu Lasten des Beschuldigten auswirken könnte, indem dieser von einer entsprechenden behördlichen Ablösungsentscheidung abhängig wäre (Gerland, Der deutsche Strafprozeß [1927], S. 111 f.). Teilweise wurde aber auch mit dem Argument des Vertrauensschutzes der Strafverfahrensbeteiligten für die ausdrückliche strafprozessuale Normierung staatsanwaltschaftlicher Ausschlussgründe plädiert (von Hippel, Der deutsche Strafprozess [1941], S. 239 m. w. N.). Vgl. Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 49 ff. m. w. N., zu dem Entwurf einer Strafverfahrensordnung vom 27. Februar 1936 und dem Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Rechts der Staatsanwaltschaft“ (StAÄG) aus dem Jahre 1976, die beide beabsichtigten, das Problem zu erfassen. 40 RGSt 29, S. 236 ff. Das Reichsgericht hatte bereits vorher die Entscheidung, ob ein Staatsanwalt seine Funktion auch als „Verletzter“ ausüben kann, dem Ermessen der Staatsanwaltschaft überlassen (RGSt 4, S. 264 [266]). 41 BGHSt 14, S. 265 ff. m. w. N.; 21, S. 85 (88 ff. m. w. N.). Vgl. weiterhin BGH, StV 1983, S. 53 m. w. N. 42 NJW 1969, S. 808 f. m. w. N. 43 BVerfGE 25, S. 336 (345). 44 In dieser Entscheidung ging es unter anderem um die Frage, inwieweit das Recht auf ein faires Verfahren auch das Recht einschließt, einen für befangen gehaltenen Staatsanwalt ablehnen zu können (BVerfG, JR 1979, S. 28). 45 BGH, NJW 1980, S. 845 f. m. w. N.; NJW 1984, S. 1907 ff. m. w. N.; StV 1989, S. 240 m. w. N.; StV 1991, S. 546 f. m. w. N. Vgl. auch den Überblick bei M-G, StPO, Vor § 22, Rndnrn. 5 ff. m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, § 22, Rndnr. 16 m. w. N. 46 BVerfGE 103, S. 142 (154). 47 Siehe oben: 4. Kap. C. I. 2.

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

Obgleich im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ein Ablehnungsrecht nach geltendem Recht überwiegend abgelehnt wird48, plädiert man dennoch für eine gesetzliche Regelung der Ablösung eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes.49 Zudem wird kontrovers über die Frage gestritten, wie ein Mitwirkungsverbot eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes nach geltendem Recht durchgesetzt werden kann.50 Nach überwiegender Auffassung treffe den jeweils Dienstvorgesetzten grundsätzlich die Rechtspflicht zur Ablösung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes.51 Es bestehe das Recht, sich formlos und zeitlich unbefristet an den Dienstvorgesetzten zu wenden, um die Ablösung des für befangen gehaltenen Staatsanwaltes zu erreichen. Sollte der Dienstvorgesetzte diesem Ersuchen nicht nachkommen, könne der Betroffene hiergegen mit einer form- und fristlosen Dienstaufsichtsbeschwerde vorgehen.52 Gleichzeitig wird ein weitergehender Rechtsschutz des Betroffenen im Falle einer negativen Abhilfeentscheidung des Dienstvorgesetzten vorwiegend abgelehnt.53 Dies gilt z. B. für den Vorschlag, dem zuständigen Gericht der Hauptverhandlung die Möglichkeit einzuräumen, sich mit einer Ablösungsanordnung an den Dienstvorgesetzten wenden zu können54, wie auch für die Vorschläge eines gerichtlichen Ablehnungsverfahrens im Ermittlungsverfahren55 und der Zulässigkeit einer Anfechtung (vgl. §§ 23 ff. EGGVG)56.57 Vgl. die Nachweise bei Tolksdorf, Mitwirkungsverbot, S. 22. Bspw. Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 59. Schließlich zum anderen die – in jüngerer Zeit in das Zentrum der Diskussion gerückte – Frage der prozessualen Durchsetzung eines staatsanwaltschaftlichen Handlungsverbots. 50 Dieser Aspekt der Diskussion über staatsanwaltschaftliche Befangenheit ist in den vergangenen Jahren in den Vordergrund gelangt. Daneben wird darüber diskutiert, ob die Mitwirkung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes bestimmte Konsequenzen für dessen Entscheidungen resp. die Entscheidungen des Gerichts hat; vor allem, ob das gerichtliche Urteil aufgrund dieser Mitwirkung erfolgreich mittels Revision angefochten werden kann (dazu Tolksdorf, Mitwirkungsverbot, S. 20 ff., 27 ff. m. w. N.; Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 59, 61 f.). 51 Bockemühl in: KMR, StPO, Vor § 22, Rndnr. 5 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 13 m. w. N.; Schlüchter, Strafverfahren, Rndnrn. 66.2 f. m. w. N. Weitere Nachweise bei Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 60, Fn. 59. 52 Dahs, Handbuch, Rndnr. 171 m. w. N.; Kissel, GVG, § 145, Rndnr. 9 m. w. N.; M-G, StPO, Vor § 22, Rndnrn. 3 f. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 13 m. w. N.; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rndnrn. 66.1 ff. m. w. N. Weitere Nachweise bei Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 60, Fn. 60. 53 OLG Hamm, NJW 1969, S. 808 f.; BGH, NJW 1980, S. 845 (846), NJW 1984, S. 1907 ff. m. w. N.; M-G, StPO, Vor § 22, Rndnrn. 3 ff. m. w. N. und § 23 EGGVG, Rndnr. 15 m. w. N.; Pfeiffer in: KK, StPO, § 22, Rndnr. 16 m. w. N. und § 24, Rndnr. 13 m. w. N.; Wendisch in: L-R, StPO, Vor § 22, Rndnrn. 8 ff. m. w. N. 54 Dazu M-G, StPO, Vor § 22, Rndnr. 4 m. w. N. 55 So Frisch in: Bruns-FS, S. 385 (409 ff. m. w. N.). Zustimmend Bruns, JR 1980, S. 397 (400 m. w. N.). 56 Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 13 m. w. N. 57 Vgl. zu diesen Vorschlägen die sehr detaillierte Zusammenstellung von Hackner, Der befangene Staatsanwalt, S. 60 f. m. w. N.; Tolksdorf, Mitwirkungsverbot, S. 116 ff. m. w. N. 48 49

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4. Zusammenfassung Im deutschen Strafverfahrensrecht existiert kein Ablösungsrecht zur Durchsetzung der Ersetzung eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes. Zwar kann die Ablösung beim Dienstvorgesetzen beantragt werden, allerdings ist die darauf folgende Möglichkeit des Beschuldigten, Dienstaufsichtsbeschwerde gegen eine negative Ablösungsentscheidung des Dienstvorgesetzten einzulegen, ungenügend. Sie ist in der Praxis nicht nur form- und frist-, sondern in der Regel auch fruchtlos.58 Erschwerend tritt hinzu, dass ein solches Vorgehen des Beschuldigten in der Öffentlichkeit vor allem in Fällen von ohnehin erheblichem öffentlichen Interesse leicht als unzulässiger Einflussnahmeversuch auf die Justizförmigkeit des Strafverfahrens wahrgenommen werden kann.59

V. Fehlender Rechtsschutz vor nachteiligen Verfahrensentscheidungen der Staatsanwaltschaft Hat der Beschuldigte mithin keine wirksame Handhabe gegenüber einem für befangen gehaltenen Staatsanwalt, stellt sich nunmehr die Frage, ob sich der Beschuldigte vor dem Ermittlungsverfahren als solches schützen, d. h. nachteilige Verfahrensentscheidungen abwenden kann. Als wesentliche Verfahrensentscheidungen der Staatsanwaltschaft kommen insbesondere die Einleitung, Aufrechterhaltung und der Abschluss eines Ermittlungsverfahrens in Betracht. Dabei wird indes überwiegend die Auffassung vertreten, dass staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidungen, welche die Einleitung60, Fortführung61 und Einstellung62 des Ermittlungsverfahrens betreffen, nicht im Wege der §§ 23 ff. EGGVG anfechtbar und somit der gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen seien.63 Solche Handlungen stellten lediglich sog. „Prozesshandlungen“ dar, gegenüber welchen die Strafprozessordnung keinen Rechtsschutz vorsehe – die im Übrigen wegen ihrer fehlenden Regelungswirkung noch nicht einmal Justizverwaltungsakte i.S.v. § 23 EGGVG darstellten.64 Derartige Verfahrensentscheidungen ähnelten ihrem Cha58 Insoweit schlägt Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 172 f., vor, hierzu an § 160 Abs. 2 StPO anzuknüpfen. Anders Tolksdorf, Mitwirkungsverbote, S. 52 f. m. w. N. 59 Vgl. Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 173 f., in Bezug auf den „Fall co op“ [zum „Fall co op“ eingehender auch oben: 5. Kap. B. III. 1. a) ee)]. 60 OLG Karlsruhe, NStZ 1982, S. 434 f. m. w. N. 61 OLG Karlsruhe, NStZ 1982, S. 434 f. m. w. N.; OLG Hamm, NStZ 1983, S. 38 f. m. w. N., zur „verzögerlichen Bearbeitung“. 62 OLG Hamm, NStZ 1983, S. 38 f. m. w. N., NStZ 1985, S. 472 m. w. N. 63 Vgl. M-G, StPO, § 23 EGGVG, Rndnr. 9 m. w. N., Kissel, GVG, § 23 EGGVG, Rndnr. 40 m. w. N.; Schoreit in: KK, StPO, § 23 EGGVG, Rndnrn. 31 f. m. w. N. 64 Dazu Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 321 m. w. N.; Böttcher in: Schlüchter-GS, S. 435 (440 m. w. N.); Kissel, GVG, § 23 EGGVG, Rndnr. 40 m. w. N.; M-G, StPO, § 23 EGGVG,

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rakter nach den „Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen“ (vgl. § 305 S. 1 StPO) und seien daher wie diese gerichtlichen Entscheidungen, die nicht der Beschwerde unterlägen (vgl. § 305 S. 1 StPO), unanfechtbar. Zwar wird eingeräumt, dass die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in der Tat einen Grundrechtseingriff darstellen könne; gleichwohl garantiere Art. 19 Abs. 4 GG „nicht stets sofortigen Rechtsschutz (. . . ), sondern Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit (. . . ). Rechtsschutz gegen das bloße Betreiben des Ermittlungsverfahrens schon vor seinem Abschluß für grundsätzlich geboten zu halten, wäre systemwidrig und nicht Rechtsschutz ,zur rechten Zeit‘. Ein Zuwarten ist dem Beschuldigten deshalb in aller Regel bis zur Entschließung der StA (§ 170 StPO) zuzumuten“65.

VI. Zusammenfassung Vorstehend wurde die „kräftemäßige“ Struktur des Ermittlungsverfahrens anhand einer Anwendung der strafprozessrechtlichen Rahmenbedingungen dargestellt. Als Arbeitshypothese können wir festhalten: In ihrer Zusammenschau fügen sich die verschiedenen strafprozessrechtlichen Bausteine einer niedrigen Einleitungsschwelle für strafrechtliche Ermittlungen, einer Gefährdung der inhaltlich-objektiven und zeitlich-stringenten Ermittlungsführung, der Gefahr eines „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschlusses des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren, des Fehlens eines gesetzlichen Ablösungsrechts für mutmaßlich befangene Staatsanwälte und schließlich des Fehlens von Rechtsschutz gegen nachteilige Verfahrensmaßnahmen zu einem besorgniserregenden Bild zusammen: Der Institution „Strafjustiz“ wird durch geltendes Strafprozessrecht eine übermäßige, unfaire Machtfülle66 zugebilligt, wodurch der Beschuldigte in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjekts gedrängt werden kann. Es besteht vor allem in Aufsehen erregenden Strafverfahren die Gefahr, dass sich das Ermittlungsverfahren zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“67 entwickelt, in dem die herrschende Verfahrensstellung der Staatsanwaltschaft durch allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit verstärkt wird; in Betracht kommt die (medien)Rndnrn. 9 f. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 6. Kap., § 29, Rndnr. 9 m. w. N.; Schoreit in: KK, StPO, § 23 EGGVG, Rndnr. 31 m. w. N. Grundsätzlicher Schöch in: AK, StPO, § 152, Rndnr. 25 m. w. N. 65 BVerfG, NStZ 1984, S. 228 (229 m. w. N.); zustimmend OLG Karlsruhe, NStZ 1998, S. 315 (316 m. w. N.). BVerfG, NStZ 1985, S. 228 (229 m. w. N.), hierzu weiter: Ein Zuwarten „ist ihm (dem Beschuldigten) indessen im Blick auf die Erfordernisse einer wirksamen und funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden kann (. . . ), in aller Regel zuzumuten“. 66 Dahs, NJW 1985, S. 1113, spricht von einer „Unausgewogenheit“ im Ermittlungsverfahren. 67 1. Kap. A., C., E.

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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öffentliche Verankerung der Rollenverteilung zwischen der Staatsanwaltschaft als „Aufklärerin“ und dem Beschuldigten als „Kriminellem“ 68 im Rahmen ihrer Bemühungen zur strafrechtlichen Beseitigung „gesellschaftlicher Großstörungen“69. Jedenfalls ist der Beschuldigte hiervor ungeschützt und die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens respektive der Institution des liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahrens wird hierdurch gefährdet, denn es offenbart sich „eine Tragweite des Begriffs der Staatsanwaltschaft als ,Herrin des Ermittlungsverfahrens‘, die in der rechtspolitischen und -wissenschaftlichen Situation über Verdachtsschöpfung und Vorverurteilung noch nicht hinreichend behandelt worden ist: Gelingt es der Staatsanwaltschaft, sich in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Institution darzustellen, die objektiv und unbeeindruckt von Versuchen politischer Einflußnahme gesellschaftliche ,Reinigungsaufgaben‘ wahrnimmt, dann sind die Rollen zwischen Gut und Böse klar verteilt – jeder geschöpfte Verdacht berechtigt zur Verurteilung, jede Gegenwehr des Betroffenen wird als Fortsetzung der Verschwörung gedeutet“70.

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“ im Ermittlungsverfahren An diese Arbeitshypothese einer gegen den liberal-rechtstaatlichen Grundkonsens verstoßenden – unfairen – Machtfülle der Institution „Strafjustiz“ im Ermittlungsverfahren anknüpfend, wollen wir nunmehr überlegen, wie die faire Prägung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gestärkt und hierdurch gleichzeitig der Beschuldigtenschutz verbessert werden kann.71 Es gilt, den Beschuldigten davor zu schützen, in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjektes gedrängt und – vor allem in öffentlichkeitswirksamen Strafverfahren – mit einer einseitigöffentlichen „Inquisition“72 konfrontiert zu werden. Eine öffentliche Rollenverteilung zwischen der Staatsanwaltschaft als „Aufklärerin“ und dem Beschuldigten als „Kriminellem“ kann oftmals auf allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit bereits im Ermittlungsverfahren zurückgeführt werden. Gleichfalls soll im Rahmen der folgenden Überlegungen berücksichtigt werden, dass die Institution „Strafjustiz“ im liberalen Rechtsstaat weitgehend davor geschützt werden muss, 68 Dazu schon Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 174, im „Fall co op“ [zum „Fall co op“ eingehender auch oben: 5. Kap. B. III. 1. a) ee)]. 69 1. Kap. B. II., E. 70 Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 174. 71 Instruktiv ferner Lambacher in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 103 ff. m. w. N., zur Kontrolle der „Macht des Staatsanwaltes“ im österreichischen Vorverfahren. 72 1. Kap. A., C., E.

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

für die Beseitigung sozialer Strukturdefizite in die Verantwortung genommen zu werden.

I. Die Beteiligten im Ermittlungsverfahren 1. Der Beschuldigte: Stärkung seiner strafprozessualen Rechtsposition a) Rechtsschutz gegen staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidungen Knüpfen wir zunächst an den zuletzt diskutierten Baustein des fehlenden Rechtsschutzes vor nachteiligen Verfahrensentscheidungen der Staatsanwaltschaft an.73 Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht vor einigen Jahren ausgeführt: „Die Führung eines Ermittlungsverfahrens beschwert als solche einen Beschuldigten nicht im Rechtssinne (vgl. § 90 Abs. 1 BVerfGG). Sie dient lediglich der Sachverhaltsaufklärung – der Ermittlung belastender sowie entlastender Umstände – und bereitet die Entschließung der Staatsanwaltschaft darüber vor, ob sie Anklage erhebt oder das Verfahren einstellt (vgl. §§ 160 Abs. 1 u. 2, 170 StPO). Dadurch möglicherweise bedingte faktische Beeinträchtigungen hat der Einzelne grundsätzlich hinzunehmen.“74

Diese grundsätzliche Festlegung kann angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen, die dem Beschuldigten in persönlicher, sozialer und beruflicher Hinsicht u. U. bereits wegen der schlichten Existenz eines Ermittlungsverfahrens drohen75, nicht mehr aufrechterhalten werden. Erschwerend tritt in Aufsehen erregenden Strafverfahren die oftmals rücksichtslose Kriminalberichterstattung in unserer modernen Mediengesellschaft76 hinzu. In Anbetracht ihrer oftmals übermäßigen Intensität sind solche belastenden Beeinträchtigungen gerade nicht mehr hinzunehmen. Im Hinblick auf seine potentiellen Konsequenzen stellt das Ermittlungsverfahren mittlerweile – unabhängig von seinem Ausgang – einen „eigenständigen Körper öffentlicher Gewalt“77 dar. Für die Stärkung des Rechtsschutzes des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren durch die Bejahung der gerichtlichen Überprüfbarkeit staatsanwaltschaftlicher Verfahrensentscheidungen sprechen zudem formalrechtliche Erwägungen. Wie bereits erörtert78, wird hiergegen insbesondere vorgebracht, dass staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidungen keine anfechtbaren Justizverwaltungsakte (vgl. §§ 23 ff. Vgl. gerade oben: 7. Kap. A. V. BVerfG, Beschluss vom 4. April 1985, Az. 2 BvR 1627 / 84, zit. bei Richter II, StV 1985, S. 382 (383 m. w. N.). Ähnlich bereits oben: 7. Kap. A. V. 75 Dazu bereits oben: 4. Kap. D., E. 76 Vgl. schon oben: 1. Kap. A., B. I., C., E. 77 Hamm, AnwBl. 1986, S. 66. 78 Vgl. gerade oben: 7. Kap. A. V. 73 74

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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EGGVG), sondern lediglich „Prozesshandlungen“ darstellten. Diesem Einwand ist zu widersprechen. Er verengt die strafverfahrensrechtliche Würdigung staatsanwaltschaftlicher Verfahrensentscheidungen über die Einleitung und Fortführung strafrechtlicher Ermittlungen auf den Aspekt der Vorbereitung einer Abschlussentscheidung (vgl. § 170 StPO).79 In diesem Sinne muss sich ein solcher abstrakter und äußerst formaler Ansatz entgegenhalten lassen, dass er das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren als ein ausschließlich internes Verfahren mit bloß vorbereitendem Charakter auffasst. Dieses Verständnis mag vielleicht im Hinblick auf außergewöhnlich kurze Ermittlungen nachvollziehbar sein; hingegen lässt ein solcher Ansatz außer Acht, dass sich ein Ermittlungsverfahren in unserer modernen Mediengesellschaft insbesondere im Falle eines Zusammenwirkens von staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit und medialer Kriminalberichterstattung schnell zu einem Medienspektakel entwickeln kann. Neben dem „Fall Friedman“80 verdeutlichen auch Öffentlichkeitsarbeit und Medienberichterstattung in der „Affäre Mannesmann“81, wie strafrechtliche Ermittlungen in vielen Fällen über Monate hinweg von einer öffentlichen Diskussion begleitet werden. Die einschneidenden Konsequenzen, die hieraus im Einzelfall für den Beschuldigten in persönlicher, sozialer und beruflicher Hinsicht folgen können, geben dem Ermittlungsverfahren einen grundrechtsrelevanten Charakter, welcher im Falle seiner Betroffenheit ein sofortiges, berechtigtes Rechtsschutzbedürfnis des Beschuldigten auslösen muss.82 Dabei war es das Bundesverfassungsgericht selbst, das den Anforderungen an grundrechtsrelevante Eingriffe im Rahmen grundlegender dogmatischer Erwägungen eine „wesentliche“ Bedeutung beigemessen hat.83 Würde demgegenüber die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. GG) ausschließlich an „klassische“ Grundrechtseingriffe geknüpft, bliebe die vielfältige Grundrechtsrelevanz strafverfolgungsbehördlicher Ermittlungen in unserer modernen Mediengesellschaft unberücksichtigt. Soll Strafverfahrensrecht tatsächlich wirksam als „Seismograph des Verfassungsrechts“84 bestehen, darf an der Bewertung staatsanwaltschaftlicher Verfahrensentscheidungen als bloße „Prozesshandlungen“ daher nicht festgehalten werden. Andernfalls entstünde in Bezug auf die grundrechtlichen Belange des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren ein „ ,prozessinterner Raum‘“85, welcher der gerichtlichen Kontrolle entzogen wäre. In Siehe auch Weßlau in: SK, StPO, § 152, Rndnr. 55 m. w. N. 1. Kap. A. 81 5. Kap. B. III. 2. b) ff). 82 Ähnlich Nagel, StV 2001, S. 185 (187 m. w. N.). 83 BVerfGE 83, S. 130 (142, 151 ff. m. w. N.), zur grundsätzlichen Verpflichtung des Gesetzgebers, „die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen“, und zu den strengen Bestimmtheitsanforderungen an gesetzgeberische Grundrechtseinschränkungen. 84 Roxin, Strafverfahrensrecht, Einleitung, § 2, A.; Hamm, AnwBl. 1986, S. 66, nennt Strafverfahrensrecht „konkretisiertes Verfassungsrecht“. 85 Nagel, StV 2001, S. 185 (189 f. m. w. N.). 79 80

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

diesem Falle träte die Staatsgewalt dem Bürger regelmäßig autoritär, d. h. mit der „vollen Legitimation des staatlichen Strafanspruchs“86 gegenüber, ohne hierfür auch verantwortlich zu sein.87 Demzufolge ist der Bewertung von Peter Rieß88, die individuelle Beschwer mit strafrechtlichen Ermittlungen stelle lediglich eine Verwirklichung des „allgemeinen Lebensrisikos“ dar, mit Bedacht auf die veränderten Verhältnisse in unserer modernen Mediengesellschaft entgegenzutreten.89 Vielmehr ist eine weitergehende „Verrechtlichung“90 des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens dringend angezeigt.91 Weiterhin wird inhaltlich vorgebracht, eine gerichtliche Kontrolle staatsanwaltschaftlicher Verfahrensentscheidungen während des Ermittlungsverfahrens habe eine partielle Revidierung der Trennung von Strafverfolgung und Rechtsprechung zur Folge, mit deren Hilfe der geheime Inquisitionsprozess überwunden worden sei.92 Darüber hinaus wird vorgetragen, dass hierdurch der ungestörte Fortgang strafrechtlicher Ermittlungen gestört und ggf. sogar gelähmt werden könnte.93 Diesen Erwägungen ist zu entgegnen, dass es ohnehin bereits zur grundsätzlichen Abkehr von dieser ursprünglich trennscharfen konzipierten Differenzierung gekommen ist. Vor dem Hintergrund der Verhältnisse in unserer heutigen Massengesellschaft und den hiermit verknüpften strafrechtlichen Entwicklungen ist aus Gründen einer Verbesserung der Verfahrensökonomie eine zunehmende Verschränkung strafverfahrensrechtlicher Kompetenzen erfolgt. So besitzt die Staatsanwaltschaft mittlerweile richterähnliche, opportune Erledigungsbefugnisse (§§ 153 ff. StPO)94; so ermittelt die Polizei in den Bereichen „kleiner“ und „mittlerer“ Krimi-

Hamm, AnwBl. 1986, S. 66 m. w. N. Beachte allerdings § 172 Abs. 1 S. 1 StPO bzgl. der staatsanwaltschaftlichen Abschlussverfügung. 88 In: Schreiber (Hrsg.), Strafprozeß und Reform, S. 150 (157). 89 Gleichwohl vertritt Rieß in: Roxin-FS, S. 1319 (1331), allerdings die Auffassung, dass für den speziellen Fall des einstellungsreifen Ermittlungsverfahrens ein Rechtsschutzdefizit zu Ungunsten des Beschuldigten bestehe, welches durch die Schaffung eines gerichtlichen Einstellungserzwingungsverfahrens beseitigt werden könne. Dazu auch Böttcher in: Schlüchter-GS, S. 435 (443 ff. m. w. N.). 90 Richter II, StV 1985, S. 382 (389), für die Fälle der Einleitung und Aufrechterhaltung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. 91 Vgl. auch Eisenberg / Conen, NJW 1998, S. 2241 (2249); Hamm, AnwBl. 1986, S. 66 (68); Müller, AnwBl. 1986, S. 49 (54 m. w. N.); Weßlau in: SK, StPO, § 152, Rndnr. 55 m. w. N. Ähnlich instruktiv Beckemper, NStZ 1999, S. 221 ff. m. w. N.; Nagel, StV 2001, S. 185 (191 f. m. w. N.). Heinrich, NStZ 1996, S. 110 (115), einschränkend für den Fall „objektiv willkürlicher“ Entscheidungen. 92 Dazu Rieß, NStZ 1982, S. 435; Jorzig / Kunze, Jura 1990, S. 294 (295 m. w. N.). 93 Vgl. OLG Karlsruhe, DÖV 1976, S. 170 (172); BGH, NStZ 1994, S. 142 (143). 94 Zwar besteht ein grundsätzliches Zustimmungserfordernis des zuständigen Gerichtes des Hauptverfahrens (vgl. aber die Ausnahme des § 153 Abs. 1 S. 2 StPO); gleichwohl wird eine erbetene Zustimmung in der Strafverfolgungspraxis nur äußerst selten verweigert (vgl. Blankenburg / Sessar / Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 110 ff. m. w. N.). 86 87

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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nalität zumeist vollständig allein und leitet ihre Ermittlungserkenntnisse – entgegen § 163 Abs. 2 S. 1 StPO – vielfach erst nach Abschluss ihrer Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft weiter.95 Ohnedies ist die staatsanwaltschaftliche Abschlussentscheidung – im Falle der Entscheidung zur Verfahrenseinstellung – durch das Klageerzwingungsverfahren der gerichtlichen Kontrolle unterworfen (vgl. §§ 170 Abs. 2, 171, 172 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO). Dies gilt im Hinblick auf das „Zwischenverfahren“ (vgl. §§ 170 Abs. 1, 199 Abs. 1, 203 StPO) ferner auch für die staatsanwaltschaftliche Abschlussentscheidung in Gestalt der Anklageerhebung. Demzufolge leuchtet nicht ein, warum nicht auch die staatsanwaltschaftliche Einleitungsentscheidung – hier im Wege der Anfechtung gemäß §§ 23 ff. EGGVG – gerichtlich überprüfbar sein sollte.96 Grundsätzlich gilt, dass strafrechtliche Ermittlungen durch ihre gerichtliche Kontrolle keineswegs ihrer institutionellen Unabhängigkeit beraubt werden. Bereits in einer Mehrzahl belastender Ermittlungsmaßnahmen existiert die Möglichkeit ihrer gerichtlichen Überprüfung. Im Kontext mit der vorstehend dargelegten Besorgnis um den ungestörten Fortgang der strafrechtlichen Ermittlungen im Falle der gerichtlichen Überprüfbarkeit staatsanwaltschaftlicher Verfahrensentscheidungen ist schließlich § 100d Abs. 3 S. 5 StPO von besonderer Bedeutung.97 Neben dem Richtervorbehalt für Abhörmaßnahmen (vgl. § 100d Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO) regelt § 100d Abs. 3 S. 5 StPO: „Über die Verwertbarkeit entscheidet im vorbereitenden Verfahren das in Absatz 2 Satz 1 bezeichnete Gericht.“

Hiernach teilt nicht einmal der Gesetzgeber selbst die Sorge um den ungestörten Fortgang strafrechtlicher Ermittlungen. Vielmehr soll (ermittlungs)verfahrensrechtlicher Grundrechtsschutz – der ratio legis des § 100d Abs. 3 S. 5 StPO folgend – gerade erst durch eine gerichtliche Überprüfbarkeit im Ermittlungsverfahren gewährleistet werden.98 Außerdem müsste eine Anfechtung gemäß §§ 23 ff. EGGVG nicht zwangsläufig eine suspensive Wirkung entfalten, d. h. die strafrechtlichen Ermittlungen könnten zunächst ungehindert fortgesetzt werden.99 Zudem hat die 95 Hierzu eingehender bereits oben: 1. Kap. C., 4. Kap. C. I. 1. II.; auch Nagel, StV 2001, S. 185 m. w. N. Sehr instruktiv schließlich Eisenberg / Conen, NJW 1998, S. 2241 (2245 f. m. w. N.), die äußerst detailliert darstellen, dass die Polizei in den Bereichen „kleinerer“ und „mittlerer“ Kriminalität – entgegen § 152 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StPO – mittlerweile auch schon den Anfangsverdacht untersuche. Dabei erfolge zunächst eine Erstselektion durch die Schutzpolizei bevor sich hieran ggf. ein Einschreiten der Kriminalpolizei anschließe. Eisenberg / Conen mahnen weiterhin eine defizitäre strafrechtliche Ausbildung der Polizeibeamten und die Gefahr der Verlagerung des „Prozesses des Verdächtigens“ auf „institutionalisierte polizeiliche Verdachtsstrategien und -taktiken“ im Sinne „behördeninterner Handlungsnormen“ an (siehe Eisenberg / Conen, NJW 1998, S. 2241 [2245], am Beispiel der Berliner Geschäftsanweisung LPolDir Nr. 5, 1994, über die Entgegennahme von Strafanzeigen). 96 Vgl. Weßlau in: SK, StPO, § 152, Rndnr. 55. 97 So Nagel, StV 2001, S. 185 (189 m. w. N., 192). 98 In diese Richtung auch Nagel, StV 2001, S. 185 (189 m. w. N.).

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

Entscheidung des Landgerichtes Düsseldorf in der Sache „Dr. Esser . / . Land NRW“100 gezeigt, dass ein Gericht gerade auch in Aufsehen erregenden Strafverfahren sehr hohe Anforderungen an die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit strafrechtlicher Ermittlungen stellt – sicherlich mit dem Motiv, diese nicht zu einem frühen Zeitpunkt zu stören. Der Rechtsschutz des Beschuldigten gegen staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidungen soll insofern keineswegs den effektiven Ermittlungsprimat der Staatsanwaltschaft durchkreuzen, sondern vielmehr der veränderten Bedeutung derartiger Entscheidungen im Ermittlungsverfahren in der modernen Mediengesellschaft Rechnung tragen. Daneben liegt es im Hinblick auf das Fairnessgebot ohnehin in der Verantwortung des sachbefassten Staatsanwaltes, ein Ermittlungsverfahren von sich aus einzustellen, falls Einstellungsreife vorliegt.101 b) Frühe Vernehmung und erweitertes Akteneinsichtsrecht? Weiterhin haben wir die Gefahr des „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschlusses des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren festgestellt.102 In diesem Zusammenhang formulierte bereits Egon Müller103: „Aus der Teilhabefunktion der Unschuldsvermutung folgt die Pflicht, den Beschuldigten von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens frühzeitig in Kenntnis zu setzen. Es geht nicht an, daß ein Vorverfahren von Anfang bis zum Ende gegen einen unwissenden Beschuldigten geführt wird. Ein Ermittlungsverfahren ist immer auch eine Angelegenheit des vom Verdacht betroffenen Bürgers. Von ihm Kenntnis zu haben, ist sein gutes Recht.“

Dementsprechend könnte man überlegen, an § 163a Abs. 1 S. 1 StPO anzuknüpfen und die Pflicht der Staatsanwaltschaft zu normieren, den Beschuldigten unverzüglich nach Einleitung der strafrechtlichen Ermittlungen von diesen zu unterrichten respektive ihn anschließend zu vernehmen.104 Gleichzeitig wäre darauf zu achten, dass hierdurch der Untersuchungszweck nicht gefährdet wird. Demzufolge könnte ein „§ 163a Abs. 1 S. 1 StPO n.F.“ wie folgt lauten: „Der Beschuldigte ist unverzüglich von der Einleitung der Ermittlungen zu unterrichten und anschließend zu vernehmen, es sei denn, dass dadurch der Untersuchungszweck unverhältnismäßig erschwert oder vereitelt werden kann.“ 99 Weßlau in: SK, StPO, § 152, Rndnr. 56 m. w. N., zur Frage der näheren Ausgestaltung einer gerichtlichen Überprüfung und zur Möglichkeit einer richterlichen Kontrolle des unbestimmten Rechtsbegriffes „Anfangsverdacht“. Vgl. weiterhin auch Heinrich, NStZ 1996, S. 110 (113 m. w. N.). 100 Siehe eingehender oben: 6. Kap. B. III. 2. 101 Ähnlich Schaefer in: Riess-FS, S. 491 (496). 102 Vgl. schon oben: 7. Kap. A. III. 103 NJW 1976, S. 1063 (1067). 104 Dahs, NJW 1985, S. 1113 (1115), plädiert im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des § 137 Abs. 1 S. 1 StPO für eine „ehestmögliche“ Vernehmung.

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Daneben wäre darüber nachzudenken, das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO zu erweitern. Mit Rücksicht auf den Schutz der Effektivität strafrechtlicher Ermittlungen käme eine solche Erweiterung jedoch nur bei einer gleichzeitigen Verstärkung der strafverfahrensrechtlichen Verantwortung des Strafverteidigers – insbesondere im Hinblick auf § 258 StGB – in Betracht. Diesen Überlegungen folgend, könnte ein „§ 147 Abs. 2 StPO n. F.“ wie folgt lauten: „Solange der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt ist, ist der Verteidiger zur Geheimhaltung gegenüber dem Beschuldigten verpflichtet, wenn andernfalls der Untersuchungszweck gefährdet werden kann.“

Im Interesse eines fairen „Kräfteverhältnisses“ im Ermittlungsverfahren könnte man auf diese Weise dem „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschluss des Beschuldigten entgegenwirken, ohne gleichzeitig den Schutz ungestörter Ermittlungen preiszugeben. Der Machtabfluss bei der Staatsanwaltschaft beziehungsweise der Machtzufluss zu Gunsten des Strafverteidigers des Beschuldigten würde durch eine gesteigerte – ggf. strafbewährte – Verantwortung kompensiert. Dieser wäre gesetzlich verpflichtet, sensible Akteninhalte, wie z. B. Informationen über eine bevorstehende Ermittlungsmaßnahme, geheim zu halten, um die strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen zu schützen. Er müsste mithin im Sinne eines „Gegengeschäfts“105 versprechen, von diesem umfassenden Akteneinsichtsrecht keinen ungezügelten Gebrauch zu machen. Im „Ernstfall“ würde sich diese Geheimhaltungspflicht allerdings gegen den eigenen Mandanten richten. Eine derartige Konstellation wäre indes nur im Falle der Bejahung einer Stellung des Strafverteidigers im Ermittlungsverfahren akzeptabel, die mit den Aufgaben der Strafjustiz korrespondiert.106 In diesem Rahmen dürfte der Strafverteidiger nicht als Widerpart gegenüber den Ermittlungsbehörden, sondern vielmehr als strafverfahrensrechtlicher Garant aufgefasst werden, der gewährleistet, dass die strafrechtlichen Ermittlungen nicht außer sich geraten und über den Lebensbereich hinausgreifen, welcher dem staatlichen Strafanspruch legitimerweise zufällt. Mithin würde der Strafverteidiger gemeinsam mit der Institution „Strafjustiz“ die justizförmige Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs sicherstellen.107 Die Überlegung, neben der Stärkung des Rechtsschutzes des Beschuldigten weiterhin dessen frühe Vernehmung und ein erweitertes Akteneinsichtsrecht gesetzlich zu normieren, erscheint unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung eines „gesetzBeulke, Der Verteidiger, S. 92 m. w. N. Dazu etwa Beulke, Der Verteidiger, S. 90 ff. m. w. N.; Gatzweiler, Stra.F.o 2001, S. 187 ff. m. w. N.; Mörsch, Die Rechtsstellung des Beschuldigten und seines Verteidigers, S. 82 f. m. w. N.; Schmidt-Leichner, NJW 1965, S. 1309 (1310 m. w. N.). Dazu ferner Kehr, Neuregelung des Ermittlungsverfahrens, S. 209 f. m. w. N. Schließlich weiterführend zur Stellung des Strafverteidigers in jüngerer Zeit: Günther, Die Rechtsstellung des Strafverteidigers (2002); Jahn, Konfliktverteidigung (1998). 107 Vgl. auch Mörsch, Die Rechtsstellung des Beschuldigten und seines Verteidigers, S. 82 f. 105 106

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

mäßigen“ informatorischen Ausschlusses des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren grundsätzlich diskussionswürdig. Ein derartiger Ausschluss trägt schließlich seinen Teil dazu bei, dass sich im Ermittlungsverfahren eine übermäßige Machtfülle der Institution „Strafjustiz“ offenbaren kann, welche den Beschuldigten u. U. in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjektes drängt.108 Im Sinne einer zeitlichen Abfolge wird dabei grundsätzlich das Akteneinsichtsrecht zuerst relevant werden. Vor dem Hintergrund des Maßstabes einer fairen Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen muss dem Beschuldigten die Chance zugebilligt werden, sich auf eine Vernehmung gemeinsam mit dem fachlich hierzu berufenen Strafverteidiger vorzubereiten. Sowohl der kooperative als auch der konfrontative Beschuldigte muss sich im Rahmen seiner strafrechtlichen Verfolgung auf das (physische) Zusammentreffen mit der „Definitionsmacht des Kriminaljustizsystems“109 (psychisch) vorbereiten können.110 Um nicht zum bloßen Ermittlungsobjekt zu werden, ist dem Beschuldigten ein gewisser Kernbereich vertraulicher und vorwurfbezogener Verteidigungsarbeit zu gewähren. Gleichwohl ist jedenfalls der vorstehend erörterte Vorschlag der Neufassung des § 147 Abs. 2 StPO nicht zu empfehlen. Abgesehen von dem Einwand, dass es sich bei dem Akteneinsichtsrecht seinem Zweck nach um ein Beschuldigtenrecht handele111, wäre der Preis einer damit verbundenen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Beschuldigten und seinem Strafverteidiger unbezahlbar. Wie Wilhelm Krekeler112 zutreffend feststellt, würde die gegen den eigenen Mandanten gerichtete „Filterfunktion“ beziehungsweise der privilegierte Kenntnisstand den Strafverteidiger schlussendlich zum „Sachwalter staatlicher Interessen“ machen.113 Daneben wären gleichfalls besorgniserregende Missbrauchsszenarien denkbar: So könnten etwa „schwarze Schafe“, die in jedem Lebensbereich existieren, versuchen, entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung Geschäfte mit der widerrechtlichen Weitergabe sensibler Akteninhalte zu machen. Hingegen ist der Ansatz zu befürworten, die Anforderungen an die Verweigerung der Akteneinsicht vom Ausreichen jedweder abstrakter GefährdungsgesichtsHierzu bereits oben: 7. Kap. A. Vor I. Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 207. 110 Vgl. auch schon Dahs, NJW 1985, S. 1113 (1117, 1118, Fn. 26), zu den Kategorien „Kooperation“ und „Konfrontation“. Dazu weiterhin Schaefer in: Riess-FS, S. 491 (496 m. w. N.). 111 Vgl. hierzu OLG Zweibrücken, NJW 1977, S. 1699 m. w. N.; Frohn, GA 1984, S. 554 (564 m. w. N.); Lüderssen in: L-R, StPO, § 147, Rndnr. 9 m. w. N.; Mehle, NStZ 1983, S. 557 ff.; Wasserburg, NJW 1980, S. 2440 ff. m. w. N. In diesem Kontext Krekeler, NStZ 1989, S. 146 (148 f. m. w. N.), zu den „strafrechtlichen Grenzen der Verteidigung“. 112 wistra 1983, S. 43 (47). 113 Auch Kehr, Neuregelung des Ermittlungsverfahrens, S. 214, kommt zu dem Ergebnis, dass der Strafverteidiger befugt sein müsse, seinen Mandanten „in vollem Umfange über den von ihm in Erfahrung gebrachten Akteninhalt zu informieren“. 108 109

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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punkte zu verstärken, indem das Vorliegen eines konkreten Gefährdungsszenarios gefordert wird114. Auf diesem Weg könnte eine faire „Parteiöffentlichkeit des (Ermittlungs)Verfahrens“115 erreicht werden.

2. Die Staatsanwaltschaft: Akzeptanz ihrer Parteistellung im Ermittlungsverfahren a) Irrweg der Ablösung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes Wie gerade erörtert116, existiert im deutschen Strafprozessrecht kein Recht auf Ablösung eines befangenen Staatsanwaltes. Ganz im Gegenteil: Von der Öffentlichkeit können entsprechende Bemühungen des Beschuldigten sogar als unfairer, rechtsstaatswidriger Einflussnahmeversuch auf das Strafverfahren interpretiert werden. Stellt man dennoch Überlegungen hierzu an, ist zunächst zwischen materiellen Befangenheitsgründen und prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten zu unterscheiden. Die Strafprozessordnung enthält lediglich Vorschriften über die „Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen“ (vgl. §§ 22 ff. StPO). Ferner lehnen sowohl Bundesverfassungsgericht117 als auch Bundesgerichtshof118 eine analoge Anwendung dieser Vorschriften auf Staatsanwälte ab. Daneben ist bisher ungeklärt, inwieweit ein Grund staatsanwaltschaftlicher Befangenheit aus der „fair trial“-Maxime119, der Struktur des Strafprozesses oder der Stellung der Staatsanwaltschaft folgen könnte. Weiterhin wird angeregt, eine Anknüpfung an § 160 Abs. 2 StPO zu erwägen.120 Man stelle sich hierzu etwa ein Szenario vor, in welchem die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen insofern einseitig geprägt sind, als nur vorgeblich belastendes Beweismaterial zusammengetragen und der Beschuldigte durch die Verweigerung seiner Vernehmung beziehungsweise der Ablehnung der Akteneinsicht vom Ermittlungsverfahren ausgeschlossen wird. Dieses Szenario kann sicherlich einen offensichtlichen Fall voreingenommenen staatsanwaltschaft114 Zu diesem Aspekt Ignor / Matt, StV 2002, S. 102 (105 m. w. N.); Keller, GA 1983, S. 497 (511 m. w. N.); Krekeler, wistra 1983, S. 43 (47 m. w. N.); Lüderssen in: L-R, StPO, § 147, Rndnr. 136 m. w. N.; Wolter, Strafprozessreform, S. 88 m. w. N. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, eine Gefährdung des Untersuchungszweckes in Anlehnung an § 33 Abs. 4 StPO ausschließlich in solchen Fällen anzunehmen, in denen Zwangsmaßnahmen unmittelbar bevorstehen (vgl. Thomas, AnwBl. 1986, S. 56 [59 m. w. N.]). 115 Thomas, AnwBl. 1986, S. 56 (59). 116 Siehe oben: 7. Kap. A. IV. 4., VI. 117 BVerfGE 25, S. 336 (345). 118 BGH, NStZ 1991, S. 595 m. w. N. Weiterhin dazu oben: 7. Kap. A. IV. 1., 3., 4. 119 Dazu Nachweise bei Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 94; weiterhin Hellmann, Strafprozeßrecht, II., § 3, Rndnr. 24. 120 So Herzog, Solidarität unter Verdacht, S. 172 f. Vgl. auch schon oben: 7. Kap. A. IV. 4.

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

lichen Handelns, mithin einen staatsanwaltschaftlichen Befangenheitsgrund, darstellen. Der Grund dafür, dass man sich dennoch mit der Begründung der Befangenheit eines Staatsanwaltes und der Durchsetzung seiner Ablösung so schwer tut, kann etwa einer Andeutung des Bundesverfassungsgerichtes121 entnommen werden, das in jüngerer Zeit – wie auch schon oben122 erwähnt – ausgeführt hat, dass Polizei und Staatsanwaltschaft grundsätzlich keine strafverfolgungsrechtliche Unabhängigkeit genießen würden. Vor dem Hintergrund ihrer Aufgabe, im Falle eines Vorliegens des Verdachtes von Straftaten den Sachverhalt zu erforschen und aufzuklären, könne von den Strafverfolgungsbehörden – im Gegensatz zum Richter – keine „strikte Neutralität“ erwartet werden. Die Feststellung, dass der Staatsanwaltschaft eine gewisse – Voreingenommenheit zustehe, führt konsequent zu Ende gedacht zu der bereits oben dargelegten Erkenntnis123: Der Zwiespalt zwischen der typischen strafverfolgungsrechtlichen Ausgangslage des staatsanwaltschaftlichen Verdachtsvorbehaltes im Ermittlungsverfahren respektive ihrer Verantwortung zur Durchsetzung einer effizienten Strafverfolgung einerseits und der ehrenwerten Zielvorstellung einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Ermittlungs- und Aufklärungspflicht andererseits zwingt die Staatsanwaltschaft in einen nahezu unlösbaren Pflichtenkonflikt. Die Staatsanwaltschaft befindet sich hierbei als federführende Ermittlungsbehörde in einem strafprozessrechtlichen Dilemma, in welchem dem einzelnen Staatsanwalt etwas in menschlich-psychologischer Hinsicht nahezu Unmögliches abverlangt wird. Demzufolge ist konsequenterweise anzunehmen, dass das Objektivitätspostulat des § 160 Abs. 2 StPO eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund ist.124 Dies vorausgesetzt, stellt die Akzeptanz der Parteistellung der Staatsanwaltschaft die aus den vorstehenden Erörterungen zwingend folgende Konsequenz dar.125 Hiervon unberührt bleibt demgegenüber die rechtsstaatliche Pflicht der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde, ihre Ermittlungen am BVerfGE 103, S. 142 (154). 4. Kap. C. I. 2., 7. Kap. A. IV. 3. 123 Siehe oben: 4. Kap. C. I. 2. 4., E. 124 Anderer Auffassung ist im vorliegenden Zusammenhang mit der Frage nach Rechtsschutz gegen befangene Ermittler Böttcher in: Roxin-FS, S. 1333 (1344): „Objektivität und Unparteilichkeit stehen im Pflichtenkanon der deutschen Strafverfolgungsbehörden ganz oben. Dem entspricht die alltägliche Praxis.“ 125 So stellt bspw. Krekeler, Stra.F.o 2001, S. 329 (336 m. w. N.), fest, dass „auch heute noch das angloamerikanische Prinzip des Parteienprozesses unser Strafverfahren“ in gewisser Weise beherrscht. Gleichwohl bezieht er diese Feststellung vornehmlich auf die Hauptverhandlung (vgl. Krekeler, Stra.F.o 2001, S. 329). Dagegen Rieß in: L-R, StPO, Einl., Abschn. I, Rndnr. 54 m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 1. Dagegen ausdrücklich jüngst auch Heghmanns, GA 2003, S. 433 (447 f.), der zwar eine Verbesserung der Stellung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren „als Kompensation der systembedingt geringeren Neigung des Staatsanwalts zur Ermittlung entlastender Umstände (. . . )“ für 121 122

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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Maßstab der Gesetzmäßigkeit zu orientieren (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO).126

b) Konsequenzen der Akzeptanz der Parteistellung der Staatsanwaltschaft Daher wollen wir nunmehr überlegen, ob sich aus der Akzeptanz der Parteistellung der Staatsanwaltschaft im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren im Hinblick auf unsere übergeordneten Bemühungen zur Stärkung der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens und zur Verbesserung des Beschuldigtenschutzes Konsequenzen für die bestehenden staatsanwaltschaftlichen Organisationsstrukturen ergeben.

aa) Organisationsstrukturen der Staatsanwaltschaft Die Staatsanwaltschaften bestehen bei jedem Gericht (vgl. § 141 GVG).127 Während sich der Aufbau der Staatsanwaltschaft und ihre sachliche Zuständigkeit aus den §§ 142, 142a GVG ergeben, wird ihre örtliche Zuständigkeit durch dasjenige Gericht bestimmt, für welches sie bestellt ist (vgl. § 143 Abs. 1 GVG). Jede Staatsanwaltschaft wird von einem Behördenleiter geführt und besteht daneben aus weisungsgebundenen Staats- beziehungsweise Amtsanwälten und ihrer Geschäftsstelle (vgl. §§ 142, 153 GVG). Das Amt der Staatsanwaltschaft wird beim Bundesgerichtshof und den Oberlandesgerichten128 im Rahmen ihrer erstinstanzlichen Zuständigkeit durch den Generalbundesanwalt129 und die Bundesanwälte ausgeübt (vgl. §§ 142 Abs. 1 Ziff. 1, 142a GVG).130 Daneben werden die Staatsanwaltschaften auf Länderebene zunächst durch die bei den Oberlandesgerichten bestehenden Generalstaatsanwaltschaften gebildet (vgl. § 142 Abs. 1 Ziff. 2 GVG). Zudem besteht eine Zuständigkeit für eingelegte Rechtsmittel, d. h. insbesondere für die „erforderlich“ hält, sodann jedoch die „ ,Verpflichtung zur Schizophrenie‘ in § 160 II StPO“ als „wesentlich (. . . ) für eine zugleich funktionierende und rechtsstaatliche Sachaufklärung im Vorverfahren (. . . )“ einstuft. Weiterführend Moos in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 59 (62 ff., 66 ff. m. w. N.), zur Parteistellung der Staatsanwaltschaft im österreichischen Strafverfahren. 126 Dazu zuletzt oben: 4. Kap. E. 127 Vgl. Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 45 ff. m. w. N., ausführlich zum Aufbau und zur Organisation der Staatsanwaltschaft. 128 In Berlin: dem „Kammergericht“. 129 Weiterhin existiert die Bezeichnung „Oberbundesanwalt“ (Boll in: L-R, StPO, § 142 GVG). Die Strafprozessordnung selbst kennt weder die Bezeichnung „Generalstaatsanwalt“ noch „Oberstaatsanwalt“. Diese entstammen dem Landesrecht (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 2, Fn. 1). Weiterhin Hauptmann in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 149 ff. m. w. N., und Soyer in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 267 (279 ff. m. w. N.), instruktiv zur österreichischen „Generalprokuratur“. 130 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 2.

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Revision. Im Übrigen soll der Generalstaatsanwalt die Verbindung zwischen den örtlichen Staatsanwaltschaften und der jeweiligen Landesjustizverwaltung darstellen, der wiederum der jeweilige Landesjustizminister vorsteht.131 Auch bei den Landgerichten bestehen Staatsanwaltschaften (vgl. § 142 Abs. 1 Ziff. 2 GVG). Diese werden von den Leitenden Oberstaatsanwälten geführt. Daneben werden die einzelnen Abteilungen von den Oberstaatsanwälten132 geleitet. Diesen einzelnen Abteilungen gehören wiederum Staatsanwälte an.133 Den Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten kommt in quantitativer Hinsicht die größte Bedeutung bei der Durchführung der Strafrechtspflege zu.134 Die Staatsanwaltschaft funktioniert als „hierarchisch aufgebaute Behörde“135. Die den Generalstaatsanwälten oder Leitenden Oberstaatsanwälten als Behördenleiter unterstehenden Staatsanwälte handeln grundsätzlich als deren Vertreter (vgl. § 144 GVG). Kraft ihres Devolutionsrechts sind die Behördenleiter befugt, sämtliche Amtsverrichtungen bei den Gerichten ihres Bezirkes selbst vorzunehmen (vgl. § 145 Abs. 1 Alt. 1 GVG). Zudem sind die jeweiligen Behördenleiter aufgrund ihres Substitutionsrechts berechtigt, einen anderen als den zunächst zuständigen Staatsanwalt mit der Vornahme einer Amtshandlung zu beauftragen (vgl. § 145 Abs. 1 Alt. 2 GVG).136

bb) Die interne Weisungsstruktur Weiterhin haben die Beamten der Staatsanwaltschaften den dienstlichen Weisungen ihres jeweils Dienstvorgesetzten Folge zu leisten (vgl. § 146 GVG). Diese Weisungsberechtigung ergibt sich aus der gerichtsverfassungsgesetzlichen Zuweisung der Dienstaufsicht in § 147 GVG. Demgemäß hat zunächst der Generalstaatsanwalt beziehungsweise der Leitende Oberstaatsanwalt ein „internes Weisungsrecht“137 gegenüber den Staatsanwälten ihres Bezirkes (vgl. §§ 146, 147 Ziff. 3 Siehe Hellebrand, Staatsanwaltschaft, Rndnr. 85. Die Bezeichnung „Oberstaatsanwaltschaft“ entstammt dem Landesrecht (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 2, Fn. 1). 133 Ausführlich Hellebrand, Staatsanwaltschaft, Rndnrn. 87 ff. Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 2 m. w. N., zu den Amtsanwaltschaften (§§ 142 Abs. 1 Ziff. 3, Abs. 2, 145 Abs. 2 GVG). 134 Diese „ermittelt in fast allen Strafsachen, entscheidet über die Anklageerhebung, wirkt in der Hauptverhandlung vor den erstinstanzlichen Gerichten und Berufungskammern mit und vollstreckt die Urteile“ (Hellebrand, Staatsanwaltschaft, Rndnr. 85). 135 Kühne, Strafprozessrecht, Rndnr. 140. Ähnlich M-G, StPO, § 147 GVG, Rndnr. 2 m. w. N., bezeichnet einen „hierarchischen Aufbau“; Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 1, spricht von einer „hierarchisch aufgebauten Justizbehörde“. 136 Ähnlich Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 54 ff. m. w. N. 137 Vgl. zu der Begrifflichkeit des „internen“ und „externen“ Weisungsrechts: Beulke, Strafprozessrecht, Rndnr. 84; Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 47 ff. m. w. N.; Krey / Pföhler, NStZ 1985, S. 145 ff. m. w. N. Vgl. Soyer in: Pilgermair (Hrsg.), 131 132

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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GVG).138 Diese interne Weisungsstruktur ist im Hinblick auf die vorstehend angenommene Parteistellung der Staatsanwaltschaft im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht zu beanstanden. Sie dient lediglich der effektiven Organisation der Strukturen der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde.

cc) Die externe Weisungsstruktur Dagegen ist von größerer Bedeutung, dass dem Bundesjustizminister gegenüber Generalbundesanwalt und den Bundesanwälten ein „externes Weisungsrecht“139 zusteht (vgl. §§ 146, 147 Ziff. 1 GVG). Weiterhin ist bedeutsam, dass dies auch zu Gunsten der Justizminister der einzelnen Bundesländer gegenüber den Staatsanwälten des entsprechenden Bundeslandes gilt (vgl. §§ 146, 147 Ziff. 2 GVG). Diese politische Weisungsgebundenheit muss zusammen mit der Tatsache beurteilt werden, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht den Status eines „politischen Beamten“140 besitzen (vgl. § 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. § 36 Abs. 1 Ziff. 5 BBG).141 Dies gilt gleichermaßen für die Generalstaatsanwälte in Brandenburg142, MecklenburgVorpommern143, Schleswig-Holstein144 und Thüringen145 (vgl. 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. LBG146). Demgegenüber sind die Generalstaatsanwälte in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen und Hamburg traditionell keine politischen Beamten; auch die neuen Bundesländer Sachsen und Sachsen-Anhalt haben sich von vornherein für einen „geStaatsanwaltschaft, S. 267 (272 ff., 276 ff. m. w. N.), zur Situation im österreichischen Recht. Weiterhin Moos in: Pilgermair (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 59 (82 ff. m. w. N.), instruktiv zur staatsanwaltschaftlichen Weisungsabhängigkeit im österreichischen Vorverfahren. 138 Zu den Grenzen des „internen Weisungsrechts“: Beulke, Strafprozessrecht, Rndnrn. 85 ff. m. w. N.; Boll in: L-R, StPO, § 146 GVG, Rndnrn. 18 ff. m. w. N.; Krey / Pföhler, NStZ 1985, S. 145 ff. m. w. N.; Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 65 ff. m. w. N.; Kühne, Strafprozessrecht, Rndnr. 140 m. w. N.; M-G, StPO, § 146 GVG, Rndnrn. 3 ff. m. w. N.; Roxin, Strafverfahrensrecht, 1. Kap., § 10, Rndnr. 11 m. w. N.; Schoreit in: KK, StPO, § 146 GVG, Rndnrn. 7 ff. m. w. N. 139 Vgl. ausführlich Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 49 f. m. w. N. 140 Detaillierter zur historischen Entstehungsgeschichte, Bedeutung und Funktionen des “politischen Beamten“: Kugele, Der politische Beamte, S. 7 f.; Schunke, Die politischen Beamten, S. 101 ff. m. w. N. 141 Hierzu auch Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 152 f. m. w. N. 142 Vgl. § 105 Abs. 1 lit. c LBG Bbg (vgl. von Brünneck [Hrsg.], Landesrecht Brandenburg, Februar 2002). 143 Siehe § 40 Abs. 1 S. 1 Ziff. 4 LBG M-V (siehe Knöll / Lambrecht [Hrsg.], Gesetze des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dezember 2002). 144 Vgl. § 48 Abs. 1 LBG S-H. 145 § 41 Abs. 1 Ziff. 4 ThürBG (Knöll [Hrsg.], Gesetze des Freistaats Thüringen, November 2002). 146 Landesbeamtengesetz.

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wöhnlichen“ Beamtenstatus entschieden.147 Dagegen normiert § 31 Abs. 1 BRRG den Status des politischen Beamten wie folgt: „Durch Gesetz kann bestimmt werden, daß der Beamte auf Lebenszeit jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden kann, wenn er ein Amt bekleidet, bei dessen Ausübung er in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen muß.“

Mithin sind der Generalbundesanwalt und die Staatsanwaltschaften einzelner Bundesländer einer externen –politischen – Weisungsgebundenheit unterworfen (vgl. §§ 146, 147 Ziffn. 1, 2 GVG). Diese politischen Weisungen erfolgen mittelbar, d. h. durch Anweisung des betreffenden Generalstaatsanwaltes. Dadurch soll gewährleistet werden, dass der im Einzelfall innerbehördlich Weisungsberechtigte nicht übergangen wird.148 Gleichzeitig besitzen einige Generalstaatsanwälte den Status eines politischen Beamten, wodurch sie jederzeit abberufen werden können (vgl. §§ 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. 36 Abs. 1 Ziff. 5 BBG oder LBG). Insoweit tritt neben die politische Weisungsgebundenheit in fachlichen Angelegenheiten, die für sich genommen schon geeignet ist, die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft „in starkem Maße“149 zu beeinflussen, weiterhin eine persönliche Abhängigkeit. Wie wahrscheinlich ist nun, dass ein Generalstaatsanwalt als oberster Strafverfolger seines Amtes enthoben wird, falls er respektive seine Behörde einer politischen Weisung nicht nachkommt? Vor dem Hintergrund der Akzeptanz der Parteistellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren verursacht dieses Zusammentreffen schwere Bedenken, die im Folgenden näher erörtert werden. (1) Unabhängige Justiz trotz politischen Generalstaatsanwaltes? In der politischen Abhängigkeit des Generalstaatsanwaltes wird eine erhebliche Gefahr der „Politisierung der Justiz“150 gesehen. Entsprechende Befürchtungen 147 Vgl. eingehender Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 152 m. w. N.; Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 m. w. N. Weiterhin haben die Bundesländer Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland den Generalstaatsanwalt bereits vor einigen Jahren mittels einer entsprechenden Änderung ihrer Landesbeamtengesetze umqualifiziert (GVBl. für das Land Hessen 1993, S. 470; Niedersächsisches GVBl. 1989, S. 55; GVBl. Rheinland-Pfalz 1993, S. 647; ABl. des Saarlandes 1989, S. 977). Auch Nordrhein-Westfalen hat den Generalstaatsanwalt vor nicht allzu langer Zeit aus dem Kreis der politischen Beamten herausgenommen (vgl. GVBl. des Landes Nordrhein-Westfalen 2000, S. 746). Ferner Pestalozza, NVwZ 2002, S. 1337 ff. m. w. N., zur Sondersituation in Berlin. Dort müssen Generalstaatsanwälte nach dem „Gesetz über die Wahl der Präsidenten der oberen Landesgerichte und der Generalstaatsanwälte“ aus dem Jahre 1957 auf Vorschlag des Berliner Senats vom Abgeordnetenhaus mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt bzw. abberufen werden. 148 Dazu Hellebrand, Staatsanwaltschaft, Rndnr. 101. 149 Hellebrand, Staatsanwaltschaft, Rndnr. 101. 150 Froschauer in: Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141. Dazu auch Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 155.

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bringt Eberhard Schmidt151 auf den Punkt, der zu bedenken gibt, dass die Staatsanwaltschaft zum „Vollstrecker des politischen Machtwillens der Regierung“ werden könne, anstatt den „Rechtswillen des Staates“ zu repräsentieren. Hiergegen wird gerne vorgebracht, eine derartige Sorge sei „außerordentlich weit hergeholt; mir ist es immer so vorgekommen, als würden derart starke Worte weniger um der Sache Willen, als wegen der persönlichen Folgen des beamtenrechtlichen Status für den Betroffenen ins völlig Irreale übersteigert. ( . . . ) Bei der Genauigkeit, mit der die obersten Ankläger ihre Kompetenzen (. . . ) wahren, (. . . ) ist es kein Wunder, dass die beredt heraufbeschworenen Gefahren für den Rechtsstaat nur abstrakt behauptet, aber durch keinerlei konkretes Beispiel belegt werden können“152.

Die Ereignisse der vergangenen Jahre vermitteln indes einen gegenteiligen Eindruck. Im August des Jahres 1999 versetzte der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern Harald Ringsdorff den Generalstaatsanwalt Alexander Prechtel völlig unerwartet und mit sofortiger Wirkung in den einstweiligen Ruhestand, nachdem Prechtel aus seinem Urlaub zurückgekehrt war. Er wurde aufgefordert, seine Diensträume innerhalb kürzester Zeit und unter Aufsicht zu räumen. Prechtel erhielt keine konkrete Begründung für seine Entlassung – Ringsdorff sprach lediglich von einem „gestörten Vertrauensverhältnis“153. Ursache dieser plötzlichen Entlassung Prechtels soll – so wurde vermutet – der vorhergehende Regierungswechsel in Schwerin gewesen sein. Das CDU-Mitglied Alexander Prechtel wurde im Dezember 1990 von der damaligen CDU / FDP-Regierung als Generalstaatsanwalt eingesetzt und soll bei der SPD / PDS-Regierung insbesondere dadurch in Ungnade gefallen sein, weil er gegen vier PDS-Abgeordnete ermitteln ließ.154 Am Tag nach Prechtels Entlassung äußerte der Münchner Generalstaatsanwalt Hermann Froschauer155 in einer Presseerklärung, in welchem Maße die deutschen Generalstaatsanwälte über die „Art und Weise“ dieser Entlassung „auf das Äußerste betroffen“ seien. Dieser Vorgang sei indiskutabel und zeige, „dass mit den gesetzlich festgelegten Aufgaben eines Generalstaatsanwalts die Stellung als politischer Beamter, der jederzeit entlassen werden kann, unvereinbar ist. Diese Stellung bietet – wie der Vorfall in Schwerin zeigt – eine bedenkliche Möglichkeit der Politisierung der Justiz“.

151 Zitiert schon von Ulrich, DRiZ 1988, S. 369 (371 m. w. N.). Ähnlich auch Schaefer, NJW 1997, S. 1753 (1754). 152 Faupel, DRiZ 2000, S. 313 (315). Vgl. weiterhin die detaillierte Schilderung dieser Kontroverse bei Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 155 ff., 161 ff. m. w. N. 153 Vgl. den Nachweis bei Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 153 m. w. N., der diesen Fall eingehender schildert. Siehe dazu auch Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 m. w. N. 154 Vgl. Der Spiegel, Nr. 33 / 2003, S. 38 (39); eingehender zu den damaligen Umständen weiterhin Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 280 ff. m. w. N. 155 Zitiert von Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141.

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Rainer Voss156, damaliger Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, bezeichnete den Vorgang als Beispiel dafür, wie die Justiz unter den gegebenen Umständen zum „Spielball der Politik“ werden könne und in welcher Form der Vollzug der Entlassung eine gewisse „Selbstherrlichkeit“ der „auf Zeit gewählten Vertreter der Zweiten Gewalt“ gegenüber der Justiz widerspiegele. „Der Vorgang beweist, wie gefährlich es für den Rechtsstaat ist, den Status eines politischen Beamten für den Generalstaatsanwalt beizubehalten (. . . ).“

Sogar Thüringens Justizminister Otto Kretschmer157 – selbst Mitglied der Exekutivgewalt – forderte damals eine entsprechende Änderung des geltenden Rechts in Thüringen; er halte es für „sinnvoll“, den Generalstaatsanwalt von jedweder Anfälligkeit für „politische Beeinflussungen“ auszunehmen. Ferner kam es im Jahre 1997 zum Zerwürfnis zwischen dem Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein Heribert Ostendorf und Justizminister Gerd Walter, in deren Folge Ostendorf schließlich sein Amt mit der Begründung niederlegte, er sei politisch motivierten Übergriffen ausgesetzt.158 Diesem Ereignis war eine Kontroverse zwischen Ostendorf und dem Lübecker Leitenden Oberstaatsanwalt Heinrich Wille in Bezug auf die Ermittlungen im Todesfall Uwe Barschel159 vorausgegangen. Während Ostendorf zehn Jahre nach Barschels Tod keine Erfolg versprechenden Ermittlungsansatzpunkte mehr sah, wollte Wille weiteren Gesichtspunkten bezüglich einer Mordtheorie nachgehen. Der Streit eskalierte und Ostendorf beabsichtigte, Wille die Ermittlungen zu entziehen. Nach entsprechenden Protesten der schleswig-holsteinischen CDU und aus dem Umkreis der Familie Barschels forderte der damalige Justizminister Gerd Walter, die Ermittlungen durch Wille weiterführen zu lassen. Hierdurch geriet Walter wiederum in die Kritik, politischen Einfluss ausgeübt zu haben.160 Diese beiden Fälle aus jüngerer Zeit161 belegen die Existenz einer erheblichen latenten Gefahr der Politisierung unserer Justiz, die der Aufrechterhaltung des politischen Status des Generalstaatsanwaltes innewohnt. Im Ergebnis darf es jedoch nicht erst auf das Vorliegen einer konkreten Einflussnahme ankommen; vielmehr ist bereits die öffentliche Sorge um die politische Unabhängigkeit des Generalstaatsanwaltes geeignet, das öffentliche Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der staatlichen Strafverfolgung schwerwiegend zu beeinträchtigen. 162 Auch der Berliner DRiZ 1999, S. 435 (439). Focus, Nr. 33 / 1999, S. 39. 158 Detaillierter Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 282 ff. m. w. N., zu diesem Ereignis im „Fall ,Barschel‘“. 159 Dazu schon oben im Rahmen der „Waterkantgate“-Affäre [5. Kap. B. II. 1. c)]. 160 Detailliertere Darstellung bei Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 283 m. w. N. 161 Weitere Beispiele bei Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 269 ff. m. w. N. 162 Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 122 ff., spricht von der „Gefahr der politischen Einflußnahme und (der) Verhinderung des bösen Scheins“. 156 157

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Innensenator Erhart Körting äußerte im Rahmen der Diskussion um die Änderung des Status des Generalstaatsanwaltes in Berlin163, dass die Staatsanwaltschaft von parteipolitischem Einfluss freigehalten werden müsse. Schließlich sei sie nicht dem politischen Willen der Exekutive, sondern vielmehr ausschließlich der Wahrung von Recht und Gesetz verpflichtet. Vor diesem Hintergrund müsse zur Wahrung des Vertrauens der Bevölkerung in die Integrität der Staatsanwaltschaft „jeder Anschein, sie sei von politischen Überlegungen abhängig, vermieden werden“164. Körting, Mitglied des Berliner Senates und somit Teil der exekutiven Staatsgewalt, anerkennt ebenfalls die beträchtliche Gefahr, dass einem politisch abhängigen Generalstaatsanwalt im Rahmen seiner öffentlichen Präsenz grundsätzlich der „böse Anschein der politischen Beeinflussbarkeit staatsanwaltschaftlicher Sachentscheidungen“165 entgegenschlage. Die Tatsache, dass diese Gefahr sowohl von Vertretern der Exekutive als auch seitens der Generalstaatsanwaltschaft166 selbst gesehen wird, spricht deutlich gegen die Annahme, eine derartige Bewertung des Verhältnisses zwischen Exekutivgewalt und Staatsanwaltschaft sei „arg verzeichnet“167 und solche Verdächtigungen seien im Übrigen hinzunehmen, ermittle die Staatsanwaltschaft doch oftmals auch in politisch gefärbten Angelegenheiten oder sonst wie brisanten Sachverhalten. Richtiger ist doch vielmehr, dass die Perspektive einer jederzeit denkbaren Entlassung ein „Damoklesschwert“ darstellt, welches die persönliche und berufliche Situation des jeweiligen Generalstaatsanwaltes unmittelbar bedroht und diesen hierdurch in eine „gefährliche Abhängigkeit“168 zwingt.169 Eindrucksvoller Beleg dafür ist die Tatsache, dass wesentliches Motiv

Vgl. zur Berliner „Sondersituation“ bereits oben Fn. 147. Körting zit. in: DRiZ 1998, S. 420. 165 Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 (146). Ähnlich schon Frank, DRiZ 1987, S. 449, der es in der Flick- und Parteispendenaffäre [vgl. oben: 5. Kap. B. II. 1. a)] für „verständlich“ hält, dass der damalige Kölner Generalstaatsanwalt Bereslaw Schmitz in den Verdacht geriet, „in einigen Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre, die sich auch gegen Bundeskanzler Kohl richtete, auf höhere Weisung gehandelt zu haben“. Ferner Ulrich, DRiZ 1988, S. 368 (373), der im Jahre 1988 im Rahmen der Entlassung des damaligen schleswig-holsteinischen Generalstaatsanwaltes Gerhard Teschke davor warnte, dass „das Vertrauen unserer Bürger in die Unabhängigkeit der Rechtspflege erschüttert“ werde; damals ähnlich Prantl, DRiZ 1988, S. 349. Vgl. daneben Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (117 ff. m. w. N.). 166 So z. B. vom Brandenburger Generalstaatsanwalt Erardo Cristoforo Rautenberg (vgl. DRiZ 2000, S. 141 [146]). 167 Faupel, DRiZ 2000, S. 312 (316 f.). 168 Krey / Pföhler, NStZ 1985, S. 145 (148). 169 Schaefer, NJW 1997, S. 1753 (1754), spricht zwar auch von einem „Stück Freiheit (. . . ), das bei Bedarf eingelöst werden kann“, kritisiert allerdings in grundsätzlicher Hinsicht, dass der Generalstaatsanwalt „in einem rechtsstaatlichen Verfahrenssystem nicht ein politischer Befehlsempfänger, ein Vollstrecker des politischen Willens oder, wie es in den dunklen Zeiten unserer Geschichte hieß, ,ein verlängerter Arm der politischen Führung‘“ sein dürfe. In diese Richtung schon Kintzi, DRiZ 1987, S. 457 (460 m. w. N.), der in der „beunruhigenden Diskussion“ um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den damaligen Bun163 164

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für die Abschaffung der politischen Abhängigkeit des Generalstaatsanwaltes in Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und im Saarland170 die Verhinderung eines latenten Anscheins politischer Beeinflussbarkeit war.171 Welches Motiv verbirgt sich nun aber hinter dem politischen Status der Generalstaatsanwälte? Hier ist die grundlegende Funktion des „politischen Beamten“ besonders aufschlussreich: Der politische Beamte befindet sich an der „Nahtstelle zwischen politischer Führung und Verwaltung“172 und muss daher neben der Pflicht zu loyalem Verhalten gegenüber der Regierung auch das Vertrauen der politischen Führung genießen und hierzu mit ihren grundlegenden Auffassungen übereinstimmen.173 Der politische Beamte gewährleiste – gewissermaßen als „Transformator“174 – an den „Schlüsselstellen das reibungslose Funktionieren des Übergangs von der politischen Spitze in die Beamtenhierarchie“ 175.

Unverständlich bleibt dennoch, warum dieser Status in einigen Bundesländern auch für die Staatsanwaltschaft beibehalten wurde. De facto wird der Generalstaatsanwalt so in eine derart feste Loyalitätsstruktur eingebunden, dass der politischen Führung grundsätzlich jederzeit die Möglichkeit offen steht, den Generalstaatsanwalt im Falle unterschiedlicher (politischer) Auffassungen unkompliziert „feuern“ zu können. Letztlich sind daher ausschließlich machtpolitische Motive für die Erhaltung des politischen Status des Generalstaatsanwaltes ursächlich, wobei der Justizminister als zuständiger Vertreter der Exekutivgewalt den Generalstaatsanwalt im Rahmen seiner politischen Verantwortung nicht nur fachlich anweisen, sondern im Zweifelsfall auch entlassen dürfen soll, falls es bei der strafverfolgungsrechtlichen Umsetzung exekutiver Kriminalpolitik zu Differenzen kommt.176 Im Ergebnis wirkt diese staatsanwaltschaftliche Loyalitätsstruktur jedoch wie eine politische Gleichschaltung. Daneben wird der Staatsanwaltschaft hierdurch in letzter Konsequenz der notwendige institutionelle Schutz ihrer eledeskanzler Helmut Kohl im Rahmen der Flick- und Parteispendenaffäre (vgl. oben, 5. Kap. B. II. 1. 1.1.) „aktuelle Bezüge“ für die dringende Notwendigkeit einer Reform der Stellung des Generalstaatsanwaltes ausgemacht hat. Diese Diskussion sei durch die „offene oder verdeckte Suggestion, die Staatsanwaltschaft sei ein ,im politischen Machtkampf einsetzbares Instrument‘“ geprägt gewesen. Er zitiert damalige Vorwürfe der „ ,Politik per Staatsanwaltschaft‘“ und des „ ,politischen Komplotts‘“. 170 Vgl. dazu bereits oben: 7. Kap. B. I. 2. b) cc). 171 So Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 (146). 172 Zitat bei Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 (143 m. w. N.). 173 Vgl. dazu Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 161 f. m. w. N. 174 Zur „Transformationsfunktion“: BVerwGE 52, S. 33 (35 m. w. N.); Battis, BBG, § 36, Rndnr. 2. m. w. N. 175 Battis, BBG, § 36, Rndnr. 2 m. w. N. Ähnlich BVerwGE 52, S. 33 (34 f. m. w. N.); Maunz in: M / D, GG, Art. 33, Rndnr. 73, Fn. 7. 176 Vgl. zu diesem Bedürfnis auch Faupel, DRiZ 2000, S. 312 (315).

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mentaren Verpflichtung zur rechtschaffenen Wahrung des strafverfolgungsrechtlichen Legalitätsprinzips verwehrt. Schließlich besteht auch im Hinblick auf die Situation in den Bundesländern, wo der Generalstaatsanwalt „gewöhnlicher“ Beamter ist, keinerlei Anlass zur Sorge, dass der verantwortliche Minister respektive die jeweilige Landesregierung durch planmäßige Konfrontationshandlungen der Staatsanwaltschaft leicht in Bedrängnis gebracht werden kann.177 Mithin steht der Preis für eine Aufrechterhaltung der politischen Loyalität des Generalstaatsanwaltes – scil. das Schüren der öffentlichen Besorgnis über drohende, nachteilige Folgen seiner persönlichen politischen Abhängigkeit für den Rechtsstaat – im Vergleich zu den behaupteten riskanten Folgen seiner konsequenten, endgültigen Entpolitisierung zweifelsohne nicht im Verhältnis. Dabei betrifft die öffentliche Besorgnis unter dem Aspekt der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens und dem entsprechenden Schutz des Beschuldigten in besonderem Maße die Konstellation der politischen Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft als Partei im Ermittlungsverfahren. (2) Politische Weisungsgebundenheit Ferner ist das „externe Weisungsrecht“178 des Bundesjustizministers und der Landesjustizminister (vgl. §§ 146, 147 Ziff. 1, 2 GVG) zu erörtern. Dieses ist, formal gesehen, von dem vorstehend erörterten Gesichtspunkt des politischen Status des Generalbundesanwaltes beziehungsweise einiger Generalstaatsanwälte (vgl. §§ 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. 36 Abs. 1 Ziff. 5 BBG oder LBG) zu unterscheiden.179 Gleichwohl besteht – wie oben180 bereits angedeutet – ein enger inhaltlicher Zusammenhang, wodurch eine Befassung mit diesem Aspekt notwendig wird.181 Zunächst entspricht das externe Weisungsrecht verfassungsrechtlichen Vorgaben182, da die Staatsanwaltschaft kein Organ der unabhängigen Judikativgewalt (vgl. Art. 92, 97 GG) ist. Vielmehr ist sie, wie bereits oben183 dargestellt, ein Ähnlich Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 (145 m. w. N.). Zum Begriff Beulke, Strafprozessrecht, Rndnr. 84; Krey / Pföhler, NStZ 1985, S. 145 ff. m. w. N.; Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (118 f. m. w. N.). Die externe Weisungsstruktur kommt – rechtshistorisch gesehen – dem französischen Konzept der „Prokuratur“ sehr nahe, der unmittelbar dem Justizressort zugeordnet war und nach napoleonischem Vorbild als „Auge der Regierung“ fungieren sollte (Wagner, JZ 1974, S. 212 [216 m. w. N.]). Vgl. auch bereits oben: 7. Kap. B. I. 2. b) cc) Vor (1). 179 So auch Schaefer, NJW 1997, S. 1753 (1754). Teilweise wird vertreten, dass es sich hierbei insgesamt um einen einheitlichen Themenkomplex handele (vgl. Nachweise bei Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 151). 180 7. Kap. B. I. 2. b) cc) Vor. (1). 181 Auch Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 151. 182 So in dieser umstrittenen Frage auch Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 103 ff. m. w. N.; Paeffgen in: Schlüchter-GS, S. 563 (568 ff. m. w. N.). 183 4. Kap. C. I. 1. 4., E. 177 178

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rechtspflegendes Exekutivorgan, dem die Träger- und Leitfunktion im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren obliegt. Als Partei im Ermittlungsverfahren unterliegt die Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde der rechtsstaatlichen Pflicht, ihre Ermittlungen am Maßstab der Gesetzmäßigkeit zu orientieren (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO).184 Indem sie die strafrechtlichen Ermittlungen als „Herrin“185 des Ermittlungsverfahrens bis zu deren Abschluss federführend leitet (vgl. § 170 StPO)186, wird gewährleistet, dass das Gericht, welches im Falle einer Anklageerhebung (vgl. § 170 Abs. 1 StPO) zuständig ist, bis dahin seine Unabhängigkeit wahren kann. Hierin liegt gerade der rechtsstaatliche Mehrwert des reformierten Strafverfahrens gegenüber dem geheimen Inquisitionsverfahren.187 An dieser Grundentscheidung sollen auch neuere Tendenzen nichts ändern, strafverfahrensrechtliche Kompetenzen vor dem Hintergrund der sozialen Verhältnisse in der modernen Massengesellschaft und den hiermit zusammenhängenden Kriminalitätsentwicklungen zu Gunsten einer Verbesserung der Verfahrensökonomie zunehmend zu verschränken (vgl. §§ 153 ff. StPO).188 Im Hinblick auf das demokratieprinzipielle Gebot der plebiszitären Legitimation staatsgewaltlicher Machtausübung (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG)189 kann das externe Weisungsrecht darüber hinaus sogar als verfassungsrechtliches Erfordernis aufgefasst werden. Schließlich sollte das Staatsvolk auch auf die staatsgewaltliche Machtausübung in Gestalt staatlicher Strafverfolgung Einfluss haben. Demgemäß wäre im Rahmen der „parlamentarischen Verantwortung der Regierung“190 ein durch die Exekutivgewalt unkontrollierbarer Bereich staatlicher Strafrechtspflege nur schwer vorstellbar. Die §§ 146, 147 GVG könnten hierbei als gesetzliche Ausprägung dieses Erfordernisses für den Bereich staatlicher Strafverfolgung aufgefasst werden.191 Zur Begründung der externen (politischen) Weisungsgebundenheit könnte wiederum der Gesichtspunkt der Wahrung einer einheitlichen Strafverfolgungspraxis vorgebracht werden.192 Zudem könnte das Justizministerium ein berechtigtes Interesse an der Einbringung eigener Vorstellungen haben, denn schlussendlich trägt der jeweilige Justizminister die politische Verantwortung für die staatsanwaltVgl. schon oben: 4. Kap. E., 7. Kap. B. I. 2. a). Siehe bereits oben: 4. Kap. C. I. 1. 4., E. 186 Dazu oben: 4. Kap. B. IV. 187 Vgl. bereits oben: 2. Kap. C. I. II., D. 188 Dazu zuletzt oben: 7. Kap. B. I. 1. a). 189 Vgl. hierzu oben: 3. Kap. C. II., IV. 190 Paeffgen in: Schlüchter-GS, S. 563 (570 m. w. N.). 191 Eingehender hierzu Krey / Pföhler, NStZ 1985, S. 145 (147 m. w. N.); Salditt, StV 2001, S. 311; Schlüchter, Strafverfahren, Rndnr. 55 m. w. N. 192 Ob dieser Einwand wirklich durchgreift, ist fraglich: Die personelle Zusammensetzung der verschiedenen Landesregierungen wechselt häufig. Auch die Tatsache regelmäßiger Justizministerkonferenzen vermag nicht vollständig zu überzeugen, denn zwischen den einzelnen Bundesländern herrschen oftmals deutlich unterschiedliche politische Vorstellungen. 184 185

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schaftliche Strafverfolgungspraxis.193 Erneut ist indes darauf hinzuweisen, dass die politische Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft die öffentliche Befürchtung einer machtpolitisch instrumentalisierbaren Staatsanwaltschaft schürt.194 Diesbezüglich stellt Hans-Ullrich Paeffgen zwar heraus, dass derartige Fälle machtpolitischer Einflussnahme einerseits oft publik werden und der betreffende Minister in vielen Fällen sogar sein Amt niederlegt beziehungsweise seines Amtes enthoben wird. „Andererseits ist nicht zu verkennen, daß es ( . . . ) eine erhebliche Grauzone gibt: beiläufige Bemerkungen beim Cocktail-Empfang oder in der Sitzungs- oder Theaterpause, der undokumentierte Telefonanruf aus dem Ministerbüro – eben Äußerungen, die der Angesprochene durchaus als Weisungen verstehen darf und soll, die aber kryptisch genug – oder in ihrer Autorisierung so undeutlich sind, daß der Minister im Nachhinein mit Nichtwissen seine Kenntnis oder gar Urheberschaft bestreiten kann.“195

Die aktuelle Relevanz dieser sog. „Grauzonen“ wird unter anderem durch einen neueren Beitrag des Nachrichtenmagazins Der Spiegel belegt, worin die ehemalige Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin auf die Frage hin, ob sie Generalbundesanwalt Kay Nehm – insbesondere im Rahmen der Ermittlungen wegen des Terroranschlages vom 11. September 2001196 – förmlich anzuweisen pflege, wie folgt zitiert wird: „Sie wissen doch, wir haben da andere Möglichkeiten.“197

Dennoch stellen sich die Rahmenbedingungen der politischen Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft anders als beim persönlich abhängigen „politischen Generalstaatsanwalt“ dar: Zunächst besteht keinerlei Zwang zur Vornahme einer für strafbar erachteten Weisung.198 Insoweit wird die politische Weisungsgebundenheit vor allem durch die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1

193 Ähnlich Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 (145 m. w. N.); Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (119 m. w. N.). Dagegen spricht wiederum, dass die Justizministerien auch die parlamentarische Verantwortung für die Tätigkeit der Richter tragen, allerdings unterliegen diese wiederum keiner exekutiven Kontrolle, vgl. Art. 92, 97 GG (so bereits Wagner, JZ 1974, S. 212 [217 m. w. N.]). 194 Vgl. dazu schon oben im Zusammenhang mit den Erörterungen des „politischen Generalstaatsanwaltes“: 7. Kap. B. I. 2. b) cc) (1). 195 Paeffgen in: Schlüchter-GS, S. 563 (573 m. w. N.). Ähnlich weiterhin Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 123 m. w. N., der in diesem Zusammenhang vor allem auf die Funktion der Medien verweist. 196 Siehe zu den Hintergründen des „Ermittlungsfalles Terroranschlag“ auch die obigen Ausführungen: 5. Kap. B. III. 2. e). 197 Der Spiegel, Nr. 33 / 2003, S. 38, im Kontext mit der Berichterstattung über einen Gesetzesentwurf des Deutschen Richterbundes zur Neuregelung der politischen Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft. Im Kontext dieser Weisungsgebundenheit spricht Heghmanns, GA 2003, S. 433 (441), von einem „Imageproblem der Staatsanwälte“. 198 Vgl. auch Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (119).

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StPO)199 eingeschränkt.200 In diesem Sinne wäre eine externe Weisung rechtswidrig, nach welcher etwa ein Ermittlungsverfahren im Wege der §§ 153 ff. StPO entgegen der regelmäßigen Praxis eingestellt werden soll, weil sich die strafrechtlichen Ermittlungen etwa gegen einen prominenten Politiker richten oder die Interessen lokaler Wirtschaftskreise beeinträchtigen. 201 In einem solchen Fall könnte sich der angewiesene Staatsanwalt wegen Strafvereitelung im Amt (vgl. § 258a StGB) strafbar machen; umgekehrt würde möglicherweise eine Strafbarkeit wegen Verfolgung Unschuldiger drohen (vgl. § 344 StGB). Den Staatsanwalt trifft grundsätzlich die persönliche Verantwortung für die Rechtmäßigkeit seiner dienstlichen Handlungen (vgl. §§ 38 Abs. 1 BRRG i.V.m. 56 Abs. 1 BBG oder LBG), d. h. er müsste seinen rechtlichen Bedenken gegenüber der Rechtmäßigkeit derartiger Weisungen Gehör verschaffen. Hierbei trifft ihn eine doppelte Remonstrationspflicht gegenüber seinem Dienstvorgesetzten und – im Falle einer Aufrechterhaltung der Weisung – gegenüber dem nächsthöheren Dienstvorgesetzten (vgl. §§ 38 Abs. 2 BRRG i.V.m. 56 Abs. 2 S. 1, 2 BBG oder LBG). Würde die Weisung insgesamt aufrechterhalten bleiben, dürfte der angewiesene Staatsanwalt sie dennoch nicht ausführen.202 Dabei erscheint es unbillig, dem angewiesenen Staatsanwalt die Inkaufnahme eines Disziplinarverfahrens aufzubürden, in dessen Rahmen die Rechtmäßigkeit der externen Weisung überprüft werden würde.203 Ansonsten bestrafte man die gewissenhafte Wahrnehmung der Dienstpflicht mit der persönlichen und beruflichen Beschwer des betroffenen Staatsanwaltes durch ein Disziplinarverfahren. Daneben bietet § 145 Abs. 1 Alt. 2 GVG eine interessengerechte Lösung: die Substitution des angewiesenen Staatsanwaltes.204

c) Zusammenfassung Die Diskussion um die Ablösung eines für befangen gehaltenen Staatsanwaltes stellt einen Irrweg in der Kontroverse über die Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren dar. Das Objektivitätspostulat des § 160 Abs. 2 StPO ist eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund. Es gilt, die Parteistel199 M-G, StPO, § 146, Rndnr. 3; Boll in: L-R, StPO, § 146 GVG, Rndnr. 18 m. w. N. Zur sog. „Legalitätsmaxime“ auch bereits oben: 4. Kap. B. II. 2., V. 200 Dazu Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 85 m. w. N.; Kintzi, DRiZ 1987, S. 457 (462 m. w. N.); Schoreit in: KK, StPO, § 146 GVG, Rndnr. 11 m. w. N. Beachte weiterhin die Bindung an Recht und Gesetz (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) und die beamtenrechtliche Verantwortung für rechtmäßiges Handeln (vgl. § 38 BRRG i.V.m. § 56 BBG oder LBG). 201 Hierzu Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (118 m. w. N.). 202 Eingehender zu diesem „Mechanismus“ Paeffgen, Schlüchter-GS, S. 563 (575 m. w. N.); Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (118 m. w. N.). 203 Nachweise zur widersprechenden Auffassung bei Paeffgen, Schlüchter-GS, S. 563 (575). 204 So auch Roxin, DRiZ 1997, S. 109 (118 m. w. N.), unter dem gleichzeitigen Hinweis, dass so in der Praxis auch vielfach verfahren werde. Dazu schon oben: 7. Kap. B. I. 2. b) aa).

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lung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zu akzeptieren, wobei ihr als Strafverfolgungsbehörde weiterhin die rechtsstaatliche Pflicht zukommt, ihre strafrechtlichen Ermittlungen am Maßstab der Gesetzmäßigkeit zu orientieren (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO). Im Hinblick auf die übergeordneten Bemühungen zur Stärkung der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens respektive zur entsprechenden Verbesserung des Beschuldigtenschutzes folgt aus diesen Überlegungen für die existierenden staatsanwaltschaftlichen Organisationsstrukturen: Gewiss würde eine vollständige Abschaffung des externen – politischen – Weisungsrechts (vgl. §§ 146, 147 Ziffn. 1, 2 GVG) der exekutiven Staatsgewalt gegenüber der Staatsanwaltschaft deren öffentliches Ansehen nachhaltig stärken. Dagegen existiert momentan eher die grundlegende Besorgnis, die Staatsanwaltschaft könnte als Strafverfolgungsorgan zum machtpolitischen Instrument werden. Gleichwohl überzeugen letztendlich die klare Umgrenzung der politischen Weisungsgebundenheit vor allem durch die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) und die interessengerechte Lösungsmöglichkeit für Weisungskonflikte im Rahmen des § 145 Abs. 1 Alt. 2 GVG. Schließlich wird hierdurch außerdem die indirekte plebiszitäre Kontrolle des Bereiches staatlicher Strafverfolgung gewährleistet.205 Anders ist hingegen der politische Status des Generalbundesanwaltes beim Bundesgerichtshof oder auch einiger Generalstaatsanwälte in verschiedenen Bundesländern zu beurteilen (vgl. §§ 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. 36 Abs. 1 Ziff. 5 BBG oder LBG). Hier ist eine Abschaffung des politischen Status dringend angezeigt. Schließlich werden sich politische Weisungen regelmäßig zunächst an diese Behördenleiter richten, wobei sie gleichzeitig in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung vom Wohlwollen des betreffenden Justizministers abhängen. Diese staatsanwaltschaftliche Loyalitätsstruktur wirkt eher wie eine politische Gleichschaltung und verwehrt der Staatsanwaltschaft als Institution staatlicher Strafverfolgung den konsequenten institutionellen Schutz ihrer grundlegenden Aufgabe zur rechtschaffenen Wahrung des strafverfolgungsrechtlichen Legalitätsprinzips.

3. Der Ermittlungsrichter: Einführung einer richterlichen Medienzuständigkeit im Ermittlungsverfahren? Möglicherweise könnte die Einführung einer ermittlungsrichterlichen Medienzuständigkeit im Ermittlungsverfahren die faire Prägung des Ermittlungsver205 Im Ergebnis auch Paeffgen, Schlüchter-GS, S. 563 (583 m. w. N.), der darauf verweist, dass eher mit dem „Risiko verantwortungsloser Minister“ als mit „fehlender parlamentarischer Verantwortlichkeit“ gelebt werden könne. Schließlich könne das Wahlvolk selbst – soweit es von dem Machtmissbrauch Kenntnis erlangt – den betreffenden Minister abstrafen. Kritisch dazu Krebs, Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts, S. 149 f. m. w. N.

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

fahrens stärken und den entsprechenden Schutz des Beschuldigten verbessern. Insbesondere könnten die Parteistellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren206 und die oben207 dargestellten Beispiele vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft dagegen sprechen, die Zuständigkeit für Medienauskünfte bei den Strafverfolgungsbehörden zu belassen. Überdies greifen vielfach gesellschaftliche Unsicherheiten, eine stimmungsaufheizende Medienberichterstattung und politisches Kalkül auf die staatsanwaltschaftliche Informationspolitik über.208 So geraten die Ermittlungsbehörden zusehends in Gefahr, zum Instrument zur Lösung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und moralischer „Brandherde“ zu werden.209 Hingegen sollte der Ermittlungsrichter wegen seiner unterschiedlichen Stellung im Ermittlungsverfahren unabhängig handeln und dem Beschuldigten neutral gegenüberstehen. Ferner sind oftmals gerade ermittlungsrichterlich angeordnete Ermittlungsmaßnahmen, wie z. B. die Durchsuchung von Geschäfts- und Privaträumen des Beschuldigten, der Auslöser für eine intensive Kriminalberichterstattung der Medien. Dennoch sprechen gegen eine ermittlungsrichterliche Medienzuständigkeit grundlegende strafverfahrensrechtliche Erwägungen. Aus praktischer Sicht spricht schon die ermittlungsrechtliche Sachnähe der Strafverfolgungsbehörden dafür, die Zuständigkeit für Medienauskünfte bei ihnen zu belassen. Zwar befasst sich auch der Ermittlungsrichter im Rahmen der Beantragung von Ermittlungsmaßnahmen mit dem Ermittlungssachverhalt (vgl. § 162 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 StPO), allerdings obliegt die eigentliche Durchführung der Ermittlungen, die das Medieninteresse u. U. über eine längere Zeit hinweg nährt, den Ermittlungsbehörden. Diese leiten strafrechtliche Ermittlungen ein, setzen Zwangsmaßnahmen durch, werten Ermittlungserkenntnisse aus und schließen die Ermittlungen ab. Zudem – und hierbei handelt es sich um das gewichtigere Argument – gilt es, die Integrität der Stellung des Ermittlungsrichters als rechtsstaatlicher Wächter im Ermittlungsverfahren zu schützen.210 Der Richtervorbehalt211 bezweckt die unabVgl. gerade oben: 7. Kap. B. I. 2. 5. Kap. B., C. 208 Dazu bereits oben: 5. Kap. C. 209 Vgl. auch schon oben: 1. Kap. E. 210 Sehr kritisch zur rechtstatsächlichen Wirksamkeit dieser Funktion des Richtervorbehaltes im Ermittlungsverfahren z. B. Heghmanns, GA 2003, S. 433 (438 ff. m. w. N.), der von einem „Versagen der präventiven richterlichen Kontrolle“ spricht. Als Gründe hierfür führt er bspw. den Zeitdruck, die fehlende Fähigkeit des Richters, den voraussichtlichen Erfolg einer Maßnahme einzuschätzen, die geringe Relevanz dieser „Nebentätigkeit“ für seine sonstige Tätigkeit oder fehlendes „feedback“ an. Eine Ausnahme macht Heghmanns, GA 2003, S. 433 (440), allerdings für den Fall der Untersuchungshaft. Drastisch auch Lilie, ZStW 111 (1999), S. 807 (814 f. m. w. N.): Der Richtervorbehalt denaturiere zu einem „schlichten Feigenblatt“ angesichts rechtswirklicher Umstände, in deren Rahmen „zwischen 90 – 95% aller Durchsuchungen allein auf die Eilanordnungskompetenz gestützt werden“. Mithin sei die ermittlungsrichterliche Kontrollfunktion mittlerweile „bis an eine Nullinie“ zurückgewichen. 206 207

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hängige Kontrolle der strafrechtlichen Ermittlungen. Hierdurch wird die Herrschaft der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren im grundrechtssensiblen Bereich beschränkt.212 Möchte also die Staatsanwaltschaft beispielsweise die Wohn- und Geschäftsräume des Beschuldigten durchsuchen, d. h. in dessen grundrechtlich garantierten Schutz der Unverletzlichkeit seiner Wohnung (vgl. Art. 13 Abs. 1 GG) eingreifen, so steht dieses Vorhaben unter dem Vorbehalt der richterlichen Anordnung (vgl. Art. 13 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 102, 105 Abs. 1 S. 1 StPO). Im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren soll der Ermittlungsrichter auf diese Weise die gesetzmäßige Durchführung der strafrechtlichen Ermittlungen kontrollieren, sobald diese in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Beschuldigten eingreifen. Hierin liegt eine große Verantwortung, deren Grenzen unbedingt eindeutig festgelegt sein müssen.213 Die praktische Durchführung der beantragten Maßnahme und die anschließende Auskunftserteilung gegenüber den Medien unterfällt – anders als die Prüfung ihrer Zulässigkeit – nicht mehr dieser Verantwortung als rechtsstaatlicher Wächter. Da der Ermittlungsrichter als Auskunftsperson gegenüber den Medien nicht in Betracht kommt, verbleibt es mithin bei der Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden für Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren.

II. Der Ablauf des Ermittlungsverfahrens: Schaffung einer gesetzlichen Pflicht zu fairer Öffentlichkeitsarbeit 1. Vorbemerkungen Nachdem wir zunächst an die Beteiligten des Ermittlungsverfahrens angeknüpft haben, wollen wir nunmehr im Rahmen unserer Überlegungen über eine institutionelle Stärkung der fairen Prägung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und eine individuelle Verbesserung des Beschuldigtenschutzes am Ablauf des Verfahrens ansetzen. Hierbei soll es primär, den vorstehenden Ausführungen zur Frage einer richterlichen Medienzuständigkeit folgend, um die strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit gehen, die in vielen Fällen den Fortgang der strafrechtlichen Ermittlungen begleitet.

211 Eingehender Bachmann, Rechtsschutz im Ermittlungsverfahren, S. 69 ff. m. w. N., zu verschiedenen Begründungen der Funktion des Richtervorbehaltes. 212 Vgl. etwa §§ 81a Abs. 2 , 81 f. Abs. 1 S. 1, 98 Abs. 1 S. 1, 100 Abs. 1, 100b Abs. 1 S. 1, 100d Abs. 1 S. 1, 100d Abs. 2 S. 1, 105 Abs. 1 S. 1, 110b Abs. 2 S. 1 StPO. 213 Dazu auch Prechtel, Verhältnis der Staatsanwaltschaft zum Ermittlungsrichter. Prechtel beleuchtet dieses Verhältnis insbesondere im Hinblick auf die richterliche Mitwirkung im Ermittlungsverfahren (vgl. § 162 StPO) sehr kritisch.

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Dabei spricht zunächst viel dafür, dass die Ermittlungsbehörden angesichts der Entwicklungen in unserer modernen Mediengesellschaft schon aus eigenem Interesse um die konsequente Begrenzung ihrer Öffentlichkeitsarbeit gerade im frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens bemüht sein sollten. Nicht nur bedrängt eine oftmals rücksichtslose Medienberichterstattung 214 die ungestörte Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden. Daneben kommt es zunehmend zu zweckorientierten „Übergriffen“ auf das Strafjustizsystem, um strukturelle Probleme, d. h. politische, wirtschaftliche, soziale und moralische Konfliktfelder, zu befrieden.215 Eine restriktivere Öffentlichkeitsarbeit käme daher zuvorderst den Ermittlungsbehörden selbst zu Gute, denn sie könnten auf diesem Wege dem von den Medien in vielen Fällen provozierten Erfolgsdruck, der breiten Öffentlichkeit schnell „den Schuldigen“ zu präsentieren, entgegenwirken. Daneben könnten sich die Strafverfolgungsbehörden zudem um den fairen Charakter des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens verdient machen, indem sie den Beschuldigten in ihrer Eigenschaft als primäre Auskunfts- und Informationsquelle im Ermittlungsverfahren vor den drohenden schwerwiegenden Folgen einer oftmals rücksichtslosen Medienberichterstattung schützen würden. Ein sachlicher und differenzierter Umgang mit den Ereignissen auf dem Gebiet staatlicher Strafrechtspflege ist im Sinne aller – ein fairer Umgang mit dem Beschuldigten von grundlegender Bedeutung für den liberalen Rechtsstaat. Entgegen dieser idealtypischen Perspektive stellen sich die tatsächlichen Verhältnisse völlig anders dar: Seit Jahren ist staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit in vielen Fällen allgemein-vorverurteilenden Charakters.216 Der Beschuldigte ist hiervor217 und vor der unfairen Machtfülle218 der Institution „Strafjustiz“ im Ermittlungsverfahren, wodurch der Beschuldigte in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjekts gedrängt zu werden droht, nur unzureichend geschützt. Der liberal-rechtsstaatliche Charakter des Ermittlungsverfahrens respektive des modernen Strafverfahrens insgesamt ist somit ernsthaft gefährdet, denn es besteht – vor allem in Aufsehen erregenden Kriminalfällen – die besondere Gefahr, dass sich das Strafverfahren bereits zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Ermittlungen zur einseitig-öffentlichen „Inquisition“219 entwickelt. Ziehen wir alle diese Umstände in Betracht, wird auf eindringliche Art und Weise die Notwendigkeit einer gesetzgeberischen Intervention offenbar.220 WähHierzu bereits eingangs: 1. Kap. A., E. Dazu schon oben: 1. Kap. B. II., E. 216 Siehe zuletzt: 5. Kap. C. 217 Dazu oben: 6. Kap. C. 218 Siehe oben: 7. Kap. A. VI. 219 Vgl. schon oben: 1. Kap. A., C., E. 220 So auch Dalbkermeyer, Schutz des Beschuldigten, S. 171 ff. m. w. N., die ebenfalls einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf annimmt. A.A. dagegen etwa Gross in: HanackFS, S. 39 (43), der die Einführung „abstrakt materieller Normen“ im vorliegenden Kontext 214 215

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rend konkret-individualisierende Medienauskünfte im Ermittlungsverfahren präzise bestimmt werden können, besteht bei jedem präventiven Ansatz zur Verhinderung einer allgemein-vorverurteilenden Informationspolitik der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren die große Gefahr, die das Ermittlungsverfahren prägende Begrenzung einer öffentlichen Strafrechtspflege im freien, demokratischen Rechtsstaat zu überdehnen, d. h. den gesetzlichen Auskunftsanspruch (vgl. § 4 Abs. 1 LPG) übermäßig zu beschränken. Deshalb sind weder eine grundsätzliche Auskunftsverweigerung221 noch eine unter Richtervorbehalt stehende und zeitlich befristete Auskunftssperre222 empfehlenswert. Andernfalls bestünde sogar die Gefahr der Verursachung kontraproduktiver Effekte, wenn beispielsweise eine Auskunftssperre ein unkontrollierbares Ausufern medialer „Ermittlungen“ verursacht. Allerdings war es uns möglich, im Rahmen der vorstehenden Untersuchung staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gewisse wiederkehrende Merkmale allgemein-vorverurteilender Informationspolitik festzustellen.223 Mithin empfiehlt sich, im Rahmen der Einführung einer gesetzlichen Regelung über faire Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren an die Fallgruppen des § 4 Abs. 2 LPG anzuknüpfen224, welche ihrerseits den Umfang und die Grenzen der ablehnt und eine mögliche Lösung „nur durch die Praxis selbst“ anerkennt. A.A. auch Ulsamer in: Jauch-FS, S. 221 (228 f. m. w. N.), obwohl er in Bezug auf die vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden von einem „kläglichen Versagen unseres demokratischen Rechtsstaates“ spricht. Auch in der Vergangenheit stand man einer entsprechenden gesetzgeberischen Initiative überwiegend ablehnend gegenüber: Noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sprach die damalige Bundesregierung im Zusammenhang mit der Flick- und Parteispendenaffäre (vgl. oben: 5. Kap. B. II. 1.) umständlich von einem „komplexen System von strukturellen und normativen Bedingungen, mit denen insgesamt in nicht unerheblicher Weise dem Entstehen ,öffentlicher Vorverurteilung‘ begegnet werden kann“ und stufte „legislatorischen Handlungsbedarf“ als lediglich prüfenswert ein (BT-Drs. 10 / 4608, lfd. Ziffn. 74 [S. 18], 78 [S. 19]). Noch anders wiederum in jüngerer Zeit Roxin, NStZ 1991, S. 153 (158 ff. m. w. N.), der es bei einem der Rechtsprechung zu überlassenden Ausbau des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes und einer stärkeren Präzisierung der die Öffentlichkeitsarbeit betreffenden Richtlinien bewenden lassen will. 221 Dazu Koch, ZRP 1989, S. 401 (403 m. w. N.). 222 Vgl. Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 182 ff., 243 ff. m. w. N., mit Verweis auf die Möglichkeit der Verhängung von Auskunftssperren in den USA und in England. Bornkamm befürwortet diesen Weg, hält ihn allein allerdings gleichzeitig auch für nicht ausreichend (S. 246). 223 Vgl. oben: 5. Kap. B. II. III., C. Außerdem Weigend in: Rolinski-FS, S. 253 (262 f.), der bezüglich der Frage der Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten vor einer öffentlichen Vorverurteilung drei konkrete Aspekte möglicher Mitteilungsinhalte benennt: „Tatsachen, um die es in dem Strafverfahren geht sowie der auf sie bezogenen Ermittlungsergebnisse“, die „Identifizierung des Beschuldigten“ und schließlich die „Äußerung von Meinungen hinsichtlich des Charakters, der Handlungsweise und der (rechtlichen oder moralischen Schuld) des Betroffenen“. 224 Für eine Anknüpfung an die Auskunftsverweigerungsgründe zur Verhinderung allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden plädiert auch Koch, ZRP 1989, S. 401 (403 m. w. N.).

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7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung öffentlicher Strafrechtspflege, d. h. des Auskunftsanspruchs gemäß § 4 Abs. 1 LPG, näher konkretisieren.225 So können z. B. gemäß § 4 Abs. 2 PresseG Bln226 Auskünfte nur verweigert werden, soweit „1. Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen 2. Maßnahmen ihrem Wesen nach dauernd oder zeitweise geheimgehalten werden müssen, weil ihre Bekanntgabe oder ihre vorzeitige Bekanntgabe die öffentlichen Interessen schädigen oder gefährden würde oder hierdurch die sachgerechte Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte oder 3. hierdurch die sachgerechte Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte oder 4. ein schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde.“

Die Ausnahme im Falle einer Vereitelung, Erschwerung, Verzögerung oder Gefährdung eines „schwebenden Verfahrens“ wird aufgrund ihres weiten Wortlauts im Hinblick auf die zentrale Funktion der Medien kritisiert, durch informationelle Daseinsvorsorge einen überindividuellen Kommunikations- und Meinungsbildungsprozess zu ermöglichen.227 Demzufolge bietet sich vorliegend an, den Anwendungsbereich dieser Ausnahme – über die Annahme einer restriktiven Auslegungsvorgabe hinaus – für den Fall des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens näher zu konkretisieren. Dadurch könnte zugleich die Handhabung der ermittlungsbehördlichen Auskunftspraxis – orientiert am strafprozessualen Fairnessgedanken228 – von der individuellen Entscheidungsfindung des einzelnen Staatsanwaltes abgekoppelt werden.229 So könnte eine differenzierte strafprozessZu dieser Funktion des § 4 Abs. 2 LPG bereits oben: 5. Kap. A. I. 1. b). Vgl. zum Wortlaut des § 4 Abs. 1 bzw. 2 der Pressegesetze der anderen Bundesländer, der überwiegend ähnlich konzipiert ist, den Abdruck bei Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG. 227 Hierzu sehr detailliert Löffler / Ricker, 20. Kap., Rndnrn. 1 ff., 6 m. w. N.; Wenzel in: Löffler, Presserecht, § 4 LPG, Rndnr. 97 m. w. N. Weiterhin auch Stürner, Gutachten A, 58. DJT, A 49, der von dem Bedürfnis einer „Verfeinerung der Abwägung der Pressegesetze“ spricht. 228 Zur Notwendigkeit, die „fair trial“-Maxime mittels konkreter Ge- und Verbote näher zu bestimmen, bereits oben: 4. Kap. B. III. 2. d). Weiterführend und instruktiv Bottke in: Roxin-FS, S. 1243 ff. m. w. N., zum Versuch der Entwicklung eines Leitprinzips strafprozessualer Fairness. 229 Vgl. Schulz, Medienberichterstattung, S. 86 m. w. N., zum Problem der „Grauzone der unkontrollierbaren Entscheidung der jeweiligen Amtsperson“ im Zusammenhang mit der „Handhabung der Behördenauskünfte“. Zwar wurde bereits versucht, diesem Problem durch eine Verschärfung der entsprechenden Verwaltungsrichtlinien zu begegnen; allerdings schlug dieser Ansatz wegen der fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit dieser Richtlinien bisher fehl (dazu Schulz, Medienberichterstattung, S. 87; vgl. zum grundsätzlichen Problem der fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit von Verwaltungsrichtlinien im Kontext mit Überlegungen zur Verbesserung des Beschuldigtenschutzes auch schon oben: 5. Kap. A. I. 3.). 225 226

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rechtliche Regelung zulässiger / unzulässiger Auskunftsinhalte den konkreten Gehalt der „fair trial“-Maxime (vgl. Art. 20 Abs. 3, 6 Abs. 1 EMRK) in Gestalt einer Regelung der fairen Öffentlichkeitsarbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren näher bestimmen.230

2. Faire Öffentlichkeitsarbeit: Einführung eines „§ 160a StPO“ In Fortführung der vorstehenden231 Überlegungen bietet sich für die Einführung einer gesetzlichen Vorschrift über faire Öffentlichkeitsarbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren die Strafprozessordnung an. Dort ist das Ermittlungsverfahren im Wesentlichen in dem „Zweiten Abschnitt – Vorbereitung der öffentlichen Klage“ in den §§ 158 ff. StPO geregelt. Einen geeigneten Anknüpfungspunkt stellt dort § 160 StPO dar: § 160a StPO [Faire Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren] (1) Das Ermittlungsverfahren ist nichtöffentlich. Die Staatsanwaltschaft kann der Presse, dem Hörfunk und dem Fernsehen Auskünfte erteilen, wenn dadurch nicht der Ermittlungszweck gefährdet wird. Die Polizei erteilt Auskünfte nur in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft. (2) Die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten oder Auskünfte, die eine öffentliche Individualisierung ermöglichen, sind vor Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens unzulässig. Dies gilt nicht, wenn der Beschuldigte zugestimmt hat oder dies zur Aufklärung von Straftaten erforderlich ist. (3) Objektiv-deskriptive Auskünfte über den äußeren Hergang des Ermittlungsverfahrens, insbesondere über 1. 2. 3. 4.

die ermittelnde Behörde, den Inhalt des Vorwurfs, die Durchführung von Zwangsmaßnahmen, den Abschluss des Ermittlungsverfahrens,

können erteilt werden. (4) Subjektiv-bewertende Auskünfte über innere Umstände des Ermittlungsverfahrens, die geeignet sind, schutzwürdige Interessen des Beschuldigten zu verletzten, indem sie insbesondere 1. Ermittlungsmaßnahmen und -erkenntnisse einseitig bewerten, 2. den Beschuldigten als schuldig oder schon überführten Täter hinstellen und dadurch die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten oder sonst wie die sachgerechte Durchführung des Verfahrens beeinträchtigen, sind unzulässig.

Dieser Vorschlag eines „§ 160a StPO“ soll die Aufforderung an den Gesetzgeber, den Kern der „fair trial“-Maxime durch konkrete Ge- und Verbote näher zu 230 231

Zu diesem Erfordernis bereits oben: 4. Kap. B. III. 2. d). 6. Kap. B. II. 5. IV. C., 7. Kap. B. II. 1.

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bestimmen232, umsetzen. Daneben knüpft der Vorschlag an die verfassungsrechtlich geschützte Verantwortung der Medien zu informationeller Daseinsvorsorge an, die im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren durch den Auskunftsanspruch des § 4 Abs. 1 LPG verwirklicht wird.233 Hierzu wird das betreffende Spannungsfeld in „§ 160a Abs. 1 StPO“ vorangestellt. Dort wird sodann die praktisch wichtige Frage der Medienzuständigkeit festgelegt, die – mit Rücksicht auf ihre Träger- und Leitfunktion im Ermittlungsverfahren – grundsätzlich der Staatsanwaltschaft respektive ihrem Pressesprecher234 zukommen soll.235 „§ 160a Abs. 2 – 4 StPO“ grenzt den vorliegend angenommenen, gesetzlich zulässigen vom unzulässigen Inhalt staatsanwaltschaftlicher Medienauskünfte ab, indem zwischen den beiden hauptsächlichen Erscheinungsformen vorurteilsvoller Informationspolitik im Ermittlungsverfahren unterschieden wird, welche oben236 bereits herausgearbeitet wurden: konkret-individualisierende und allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit. In konsequenter Umsetzung der vorstehend237 gefundenen Ergebnisse, soll „§ 160a Abs. 2 StPO“ eine öffentliche Individualisierung des Beschuldigten verhindern, bevor die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wurde. Durch „§ 160a Abs. 3,4 StPO“ soll allgemein-vorverurteilender Öffentlichkeitsarbeit vorgebeugt werden, indem an deren wesentliche Merkmale angeknüpft wird, die im Rahmen der vorstehenden238 Darstellung einzelner Beispiele staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit in Ermittlungsverfahren seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts herausgearbeitet werden konnten.

Siehe oben: 4. Kap. B. III. 2. d), V. Dazu eingehender oben: 3. Kap. D. II. E., 4. Kap. A. II. E. 234 Zur möglichen Funktion von Justizpressestellen schon Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 244 m. w. N.; Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 196 f. m. w. N. 235 Dazu Bornkamm, Pressefreiheit und Fairneß des Strafverfahrens, S. 244 m. w. N.; Reiß, Störung der Strafrechtspflege, S. 192 ff. m. w. N.; Roxin, NStZ 1991, S. 153 (159). Erwägenswert könnte auch sein, der Polizei die Auskunft darüber zuzubilligen, aufgrund welchen Vorwurfs ermittelt wird (so Roxin, NStZ 1991, S. 153 [159]; vgl. auch schon oben: 5. Kap. B. Vor II.). Vgl. zur offensiven Informationspolitik der Polizei: Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 100; weiterhin auch oben: 5. Kap. / B. / I. Vgl. zum Ausnahmecharakter der Fahndung die „Richtlinien über die Inanspruchnahme von Publikationsorganen zur Fahndung nach Personen bei der Strafverfolgung“ (siehe Anl. B zur RiStBV in: M-G, StPO, Anh. Nr. 15 [S. 1926 ff.]; vgl. weiterhin instruktiv Ranft, StV 2002, S. 38 ff. m. w. N., zur Fahndung nach Beschuldigten und Zeugen nach dem „Strafverfahrensänderungsgesetz“ [StVÄG] 1999). 236 6. Kap. Vor A. 237 6. Kap. A. I. 4. c), 5. 238 5. Kap. B., C. 232 233

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III. Weitere Aspekte einer Gefährdung des fairen Ermittlungsverfahrens und einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten Unsere bisherigen Überlegungen zur strafverfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft und des Ermittlungsrichters und die Erörterung des Vorschlags einer gesetzlichen Regelung der Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit haben bereits einige Ansatzpunkte zur institutionellen Stärkung der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens respektive zur individuellen Verbesserung des Beschuldigtenschutzes erbracht. Indes erfasst die ausschließliche Betrachtung aus diesem Blickwinkel die vielschichtige Gemengelage hinsichtlich der Gefährdung der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens und des Problems der öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten nicht vollständig. Von besonderer Bedeutung sind ferner die Aspekte der medialen „Ermittlungen“, der Medienkontakte des Strafverteidigers und schließlich des journalistischen Schutzmechanismus der §§ 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5, S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 i.V.m. 97 Abs. 5 StPO, welche an dieser Stelle allerdings nur angesprochen werden sollen.

1. Mediale „Ermittlungen“ und Medienkontakte des Strafverteidigers Für den Informationsaustausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und den Medien respektive die mediale Kriminalberichterstattung über Strafverfahren kommen neben der strafverfolgungsbehördlichen Informationspolitik im Ermittlungsverfahren zusätzlich weitere Quellen in Betracht. Zwar birgt die vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Ermittlungsbehörden eine besondere Gefahr der Kriminalisierung des Beschuldigten, d. h. gleichzeitig eine Bedrohung des fairen Verlaufes der strafrechtlichen Ermittlungen in sich. Gleichwohl sind die denkbaren Informationswege im Ermittlungsverfahren hierdurch noch nicht vollständig erfasst. Vielmehr kommen zudem eigene „Ermittlungen“ der Medien und Medienkontakte des Strafverteidigers in Betracht.239 Wie bereits dargestellt240, können sich die Medien ohne Rücksicht auf den Stand der strafverfolgungsbehördlichen Ermittlungen einschalten und eigene „Ermittlungen“ anstellen, indem Journalisten beispielsweise den Beschuldigten oder Zeugen „vernehmen“. Diese medialen „Ermittlungen“ sind einer gesetzlichen Kontrolle im Hinblick auf ihre Rechtmäßigkeit vollständig entzogen, denn kein Journalist ist währenddessen an irgendein justizförmiges Verfahren gebunden. Ein Beispiel für solche parallelen „Ermittlungen“ der Medien haben wir bereits oben241 im Zusammenhang mit der Darstellung des Mordfalles Monika Weimar erörtert. Im Kontext mit der Wiederaufnahme des Verfahrens strahlte Spie239 240 241

Dazu auch Braun, Medienberichterstattung, S. 172 ff. m. w. N. 5. Kap. B. I. 5. Kap. B. III. 1. c).

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gel TV im Jahre 1996 ein in den USA geführtes Interview mit dem damaligen Lebensgefährten Monika Weimars, Kevin Pratt, aus.242 Bereits Eberhard Schmidt243 hat zutreffend erkannt, dass auf diesem Weg eine Art „Neben-,Justiz‘“ entstehen kann. Dessen ungeachtet sprechen die grundgesetzlich gewährleistete Medienfreiheit und die zentrale gesellschaftliche Funktion der Medien als Informationsübermittler respektive deren Verantwortung zu informationeller Daseinsvorsorge244 grundsätzlich gegen eine Beschränkung dieser journalistischen Recherche. Im repräsentativdemokratischen Staatsganzen sind die Menschen auf die Kontrollwirkung der Medienberichterstattung angewiesen. Zudem kann die Medienberichterstattung u. U. sogar der Wahrheitsfindung dienen.245 Trotzdem könnten jedoch – angesichts des gefährlichen Ausmaßes, welches die Medienberichterstattung über Strafverfahren in unserer modernen Mediengesellschaft oftmals erreicht246 – in den Fällen, in denen die Strafverfolgungsbehörden bereits ermitteln, engere Grenzen für die journalistische Recherche247 notwendig sein, um die faire Prägung des Strafverfahrens im modernen Rechtsstaat zu schützen.248 Eine vom Strafverteidiger des Beschuldigten initiierte Kooperation mit den Medien birgt erhebliche Risiken in sich.249 So stellte schon Joachim Wagner fest, dass „selbst für im Umgang mit den Medien erfahrene Anwälte ( . . . ) die Instrumentalisierung von Zeitungen und Zeitschriften, Funk und Fernsehen indes äußerst risikoreich (bleibt), weil die von ihnen ausgelösten Stimmungen schwer zu kalkulieren und noch schwerer zu steuern sind“250.

Trotzdem kommt es in unserer modernen Mediengesellschaft regelmäßig vor, dass Strafverteidiger versuchen, die Medien für ihre Zwecke einzuspannen; entweder, um so ihr Mandat zu finanzieren oder um hierdurch einen höheren öffentlichen Bekanntheitsgrad zu erreichen.251 Nun gilt jedoch für den Strafverteidiger, dass dieser günstigstenfalls einen öffentlichen „Vorfreispruch“ für den BeschuldigZu diesem Beispiel auch Braun, Medienberichterstattung, S. 48, 173. In: Recht und Staat, S. 48. 244 Dazu bereits oben: 3. Kap. D. E., 5. Kap. A. I. 1. 245 Ähnlich Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 109. 246 Vgl. schon eingangs: 1. Kap. A. E. 247 Ausführlich Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, passim. 248 Vgl. hierzu auch Dahs, Handbuch, Rndnrn. 199, 568; Hammerstein in: Dölling u. a. (Hrsg.), Kriminalberichterstattung, S. 359 (363 f.). Sehr anschaulich und detailliert weiterhin Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 67 ff. 249 Dass solche Veröffentlichungen in gewissen Konstellationen „gefährlich“ sein können, anerkennt Gerhard Mauz in: Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 21, langjähriger Gerichtsberichterstatter für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Hierzu weiterhin Dahs, Handbuch, Rndnrn. 198 ff. m. w. N. 250 Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 100. 251 Vgl. die zahlreichen Beispiele bei Wagner, Strafprozeßführung über Medien, S. 17 ff. 242 243

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ten erreichen kann, und schon Claus Roxin bemerkte hierzu, dass die Erwirkung eines öffentlichen „Vorfreispruchs“ viel weniger schlimm sei, „wie der Freispruch eines Schuldigen leichter zu ertragen ist als die Verurteilung eines Unschuldigen“252.

2. Der journalistische Schutzmechanismus im Strafprozessrecht: Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot a) Sinn und Zweck: Gewährleistung der freien Existenz des liberalen Rechtsstaates Zu Gunsten einer umfassenden institutionellen Unabhängigkeit der Medien schützt die grundgesetzliche Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)253 die journalistische Tätigkeit „von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung“254. Darüber hinaus werden die Journalisten vor der Pflicht zur Preisgabe ihrer vertraulichen Informationsquellen geschützt, die für das journalistische Tagesgeschäft von wesentlicher Bedeutung sind.255 Mithin dient der verfassungsrechtliche Schutz der Medien der Bewahrung ihrer Funktionsfähigkeit256, die wesentlich auch vom Zustand des Redaktionsgeheimnisses abhängt.257 Könnten Journalisten demgegenüber während ihrer Vernehmung als Zeugen mittels der Androhung der Verhängung einer Geld- oder gar Haftstrafe (vgl. § 70 Abs. 1 S. 2 StPO) zur Preisgabe ihrer Informationsquellen, d. h. in der Konsequenz zur Offenlegung ihres Berufsgeheimnisses gezwungen werden, würden eben diese „verratenen“ Informationsquellen versiegen.258 Demzufolge strahlt die grundgesetzlich gewährleistete Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) auf die 252 Roxin, NStZ 1991, S. 153 (159). Hinsichtlich einer Gefährdung der Unbefangenheit des Gerichtes führt Roxin weiterhin aus, dass ein solcher „Vorfreispruch“ wohl kaum durch die Weitergabe belastender Informationen erreicht werden kann. Auch entlastende Informationen wird der Strafverteidiger schon im eigenen Interesse einer erfolgreichen Strafprozessführung nicht an die Medien weitergeben; vielmehr wird er diese selbst in den Strafprozess einführen. 253 Dazu oben bereits detaillierter: 3. Kap. D. II., E. 254 BVerfGE 12, S. 205 (260 m. w. N.); 20, S. 162 (176 m. w. N.) – „Spiegel“; 66, S. 116 (133 m. w. N.), zur Pressefreiheit (zu dieser Entscheidung auch Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 121). BVerfGE 77, S. 65 (75 m. w. N.), zur Rundfunkfreiheit. 255 Zu den möglichen Informationsgegenständen eingehender Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 128 ff. m. w. N. 256 BVerfGE 20, S. 162 (174 ff. m. w. N.) – „Spiegel“, in Bezug auf die Pressefreiheit; Löffler / Ricker, Handbuch, 6. Abschn., 30. Kap., Rndnr. 3 m. w. N. 257 BVerfGE 20, S. 162 (176) – „Spiegel“, zur Pressefreiheit; Achenbach in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnr. 1 m.w.N; Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 121 m. w. N. 258 Ähnlich Löffler / Ricker, Handbuch, 6. Abschn., 30. Kap., Rndnr. 3.

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Gestaltung des (Straf)Verfahrensrechts aus.259 In diesem Rahmen hat der Gesetzgeber den Medien gewisse prozessuale Privilegien eingeräumt, welche ihrem Wesen nach die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge260 schützen. Hierbei stellt das journalistische Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 StPO) ein wichtiges strafprozessuales Privileg261 dar.262 § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 StPO lautet wie folgt: „Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt (. . . ) 5. Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken, Rundfunksendungen, Filmberichten oder der Unterrichtung oder Meinungsbildung dienenden Informations- und Kommunikationsdiensten berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben.“

Weiterhin heißt es in § 53 Abs. 1 S. 2,3 StPO: „Die in Satz 1 Nr. 5 genannten Personen dürfen das Zeugnis verweigern über die Person des Verfassers oder Einsenders von Beiträgen und Unterlagen oder des sonstigen Informanten sowie über die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachten Mitteilungen, über deren Inhalt sowie über den Inhalt selbst erarbeiteter Materialien. Dies gilt nur, soweit es sich um Beiträge, Unterlagen, Mitteilungen und Materialien für den redaktionellen Teil oder redaktionell aufbereitete Informations- und Kommunikationsdienste handelt.“

Damit die Schutzwirkung dieses journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts nicht ausgehebelt werden kann263, verbietet § 97 Abs. 5 S. 1 StPO die Beschlagnahme unter folgenden Voraussetzungen: „Soweit das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53 Abs. 1 Satz Nr. 5 genannten Personen reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken, Ton-, Bild- und Datenträgern, Abbildungen und anderen Darstellungen, die sich im Gewahrsam dieser Personen oder der Redaktion, des Verlages, der Druckerei oder der Rundfunkanstalt befinden, unzulässig.“

Sodann wird der Beschlagnahmeschutz allerdings durch § 97 Abs. 5 S. 2 Hs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 3 StPO beschränkt, indem dessen Schutzwirkung ausgeschlossen wird, falls

259 Vgl. BVerfGE 20, S. 162 (174 ff. m. w. N.) – „Spiegel“; 36, S. 193 (204 m. w. N.); 64, S. 108 (114 ff. m. w. N.); 77, S. 65 (74 ff. m. w. N.). 260 Vgl. hierzu schon oben: 1. Kap. A. E., 3. Kap. D. II. 2. 3., 5. Kap. A. 1. a). 261 Achenbach in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnr. 25 m. w. N. 262 Ausführlich etwa Baumann, Schutz der Presse im Ermittlungsverfahren (1989), und Mensching, Das Zeugnisverweigerungsrecht der Medien (2000), zum Inhalt und zur Reichweite dieses Zeugnisverweigerungsrechts respektive des hiermit korrespondierenden Beschlagnahme- und Durchsuchungsverbotes. Speziell zur Entstehungsgeschichte auch Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 121 ff. m. w. N. 263 Hierzu ähnlich M-G, StPO, § 97, Rndnr. 1 m. w. N.; Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 149.

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„die zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten einer Teilnahme oder einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig sind oder wenn es sich um Gegenstände handelt, die durch eine Straftat hervorgebracht oder zur Begehung einer Straftat gebraucht oder bestimmt sind oder die aus einer Straftat herrühren“.

Schließlich wird diese Beschränkung des Beschlagnahmeschutzes ihrerseits wiederum durch § 97 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 StPO eingeschränkt: „(. . . ) die Beschlagnahme ist jedoch auch in diesen Fällen (des § 97 Abs. 5 S. 2 Hs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 3 StPO) nur zulässig, wenn sie unter Berücksichtigung der Grundrechte aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht und die Erforschung des Sachverhaltes oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.“

Denn hätte der Staat die Möglichkeit, die Herkunft bestimmter Informationsinhalte zwar nicht im Wege des gerichtlichen Zeugniszwanges gegenüber dem betreffenden Journalisten, dagegen aber mit Hilfe einer Beschlagnahme aufzudecken, liefe der Schutzzweck des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts leer.264 Die Durchbrechung der publizistischen Anonymität zur Aufdeckung der Identität von Informanten, verfolgten Druckern und sonstigen Personen, die politisch „unerwünschte“ Veröffentlichungen verbreiteten, war – neben dem gerichtlichen Zeugniszwang – schon immer wesentliches Charakteristikum jahrhundertealter Konflikte zwischen einem autoritären Staat und der Presse als „Verfechterin neuer, freiheitlicher Ideen“265. Demgemäß stellt der journalistische Schutzmechanismus unserer Strafprozessordnung zunächst eine herausragende Errungenschaft dar, wel264 Achenbach in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnr. 91, spricht insoweit von einem „flankierenden“ Beschlagnahmeverbot und verweist in diesem Kontext auf die „Spiegel-Affäre“ aus dem Jahre 1962 als „größten Presse-Beschlagnahmefall der deutschen Geschichte“. 265 Achenbach in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnrn. 8 ff. m. w. N., der äußerst instruktiv die historische Entwicklung des Zeugnisverweigerungsrechts von Presse und Rundfunk erörtert. So legt er insbesondere dar, wie schon kurz nach Entwicklung des Gutenberg’schen Buchdruckverfahrens, welches die Massenverbreitung von Schriften möglich gemacht hat, die Reichspolizeiordnung von 1548 die Verhängung unbegrenzter Geld- bzw. Freiheitsstrafen und auch die sog. „peinliche Befragung“ für die Besitzer dieser Schriften vorsah (vgl. zur Folter als „Ermittlungsmaßnahme“ schon oben: 2. Kap. C. I.). Dadurch sollte die schnelle Ermittlung des Verfassers ermöglicht werden. Auch im „aufgeklärten“ Staat (vgl. dazu bereits oben: 2. Kap. C. II.) pflegte man zur Feststellung der Identität eines Verfassers zunächst ein Strafverfahren gegen „Unbekannt“ einzuleiten. Gegen die daraufhin im Prozess als Zeugen geladenen Presseangehörigen wurden im Falle ihrer Verweigerung der Preisgabe der Verfasseridentität empfindliche Geld- und Haftstrafen verhängt (hierzu insgesamt Achenbach in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnr. 8 m. w. N.). Sodann erörtert Achenbach, in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnr. 11, wie das in der Weimarer Republik geschaffene Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Ziff. 4 ReichsStrafprozessordnung (Abdruck bei Achenbach in: Löffler, Presserecht, § 23 LPG, Rndnr. 10) während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft durch das sog. „Schriftleitergesetz“ ausgehebelt wurde. Dieses sah in § 20 Abs. 3 lit. c eine spezielle Auskunftspflicht des Hauptschriftleiters vor (dazu auch Ionescu, Kriminalberichterstattung, S. 28 m. w. N.; Rose, Grenzen der journalistischen Recherche, S. 22 f. m. w. N.; weiterhin auch oben: 2. Kap. C. IV.).

21 Neuling

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che die freie Existenz des modernen und liberalen Rechtsstaates gegenüber vergangenen, dunklen Zeiten deutscher Zeitgeschichte wesentlich prägt. Gilt demzufolge, dass dessen elementare Schutzgarantie selbst im Falle eines geradezu organisierten Missbrauchs – wie er sogleich darzustellen sein wird – im Sinne eines wirksamen Schutzmechanismus unveränderlich gewährleistet bleiben muss? b) Journalistische Praxis: Missbrauch des Schutzmechanismus als „strafrechtsfreie Bresche“ Nachdem wir uns ein Bild von der rechtsstaatlichen Relevanz des journalistischen Schutzmechanismus (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 i.V.m. § 97 Abs. 5 StPO) gemacht haben, ist nunmehr dessen spezifische strafprozessuale Bedeutung für die Problematik der vorliegenden Untersuchung zu erörtern. Vor allem in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse veröffentlichen die Medien oftmals originale Inhalte staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten oder Bestandteile hiervon. Als Beispiel sei an dieser Stelle die – vielleicht sogar wortlautgetreue – Veröffentlichung staatsanwaltschaftlicher Vernehmungsprotokolle erwähnt.266 Aufgrund der Verwendung authentischer, amtlicher Quellen haben derartige Medienveröffentlichungen eine besondere Sensationswirkung267, wodurch ihnen gleichzeitig auch ein besonderes Anprangerungs- und Vorverurteilungspotential zu Lasten des betroffenen Beschuldigten innewohnt. Auf die anschließende Frage, wie Journalisten an diese originalen und zumeist streng vertraulichen Ermittlungsakten gelangen konnten, gibt es nur zwei denkbare Antworten: entweder im Wege der Auswertung ermittlungsbehördlicher Öffentlichkeitsarbeit oder durch strafbare Handlungen.268 In Betracht käme u. U. eine Strafbarkeit gemäß § 203, § 353b, § 353d, § 355 StGB oder vielleicht sogar gemäß §§ 331 ff. StGB. Rainer Hamm, der strafbare Handlungen erfahrungsgemäß für die statistisch gesehen häufigste Ursache solcher Medienveröffentlichungen hält, bemerkt dazu: „Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell die sog. Rechercheure des investigativen Journalismus es schaffen, Originaldokumente in die Hand zu bekommen, in ihrem Nachrichten- oder Fernsehmagazin oder auch in der Tageszeitung im Faksimile abzubilden, und wie oft eindeutig ist, daß sie aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft (oder gar sog. Beweismittelordner, die als Beiakten zu den Ermittlungsakten geführt werden und die selbst der Verteidiger nach § 147 Abs. 4 StPO nicht mit auf seine Kanzlei nehmen darf) stammen müssen.“269 266 So geschehen bspw. in der Flick- und Parteispendenaffäre [vgl. oben: 5. Kap. B. II. 1. a) bb)] und im „Honecker-Prozeß“ [vgl. oben: 5. Kap. B. III. 2. d)]. 267 So gründet sich eine Strafbarkeit gemäß § 353d Nr. 3 StGB gerade auf die besondere öffentliche Wirkung authentischer „amtlicher Schriftstücke“ (dazu schon oben: 6. Kap. A. I. 3.). 268 Ähnlich Hamm in: Friebertshäuser-FG, S. 267 (268). 269 Hamm, Große Strafprozesse, S. 32.

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In einem solchen Fall würde der Strafverteidiger des hiervon betroffenen Beschuldigten auf die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen den sachbefassten Staatsanwalt hinwirken, um aufzuklären, wer für diesen eventuell strafbewährten Vorfall verantwortlich ist. An diesem Punkt entfaltet dann jedoch der journalistische Schutzmechanismus unserer Strafprozessordnung seine praktische Wirkung: Vernähme man den für die Veröffentlichung verantwortlichen Journalisten zu der Frage, wie er an diese vertraulichen Ermittlungsakten gelangen konnte, beriefe sich dieser auf sein Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 StPO). Neben der Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, welches im Übrigen erst kürzlich erweitert wurde270, würden selbst im Falle einer ausnahmsweisen Zulässigkeit der Beschlagnahme (vgl. § 97 Abs. 5 S. 1,2 Hs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 3 StPO) die entsprechenden, erhöhten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen des § 97 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 StPO gelten. Mithin wäre den Ermittlungen hinsichtlich der Informantenidentität respektive der Praxis der Informationsweitergabe von vornherein das Wasser abgegraben. Rainer Hamm gab diesbezüglich bereits vor einigen Jahren zu bedenken: „Faktisch wird hier also dem investigativen Journalismus von der Strafprozeßordnung eine strafrechtsfreie Bresche geschlagen, durch die man ungefährdet gehen kann und die den Zweck der beruflichen Verschwiegenheitspflichten partiell aushöhlt.“271

c) Eigene Auffassung Der journalistische Schutzmechanismus unserer Strafprozessordnung (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 i.V.m. § 97 Abs. 5 StPO) ist einerseits als wichtige Prägung der Grundfeste des freien und liberalen Rechtsstaates aufzufassen, wird andererseits jedoch oftmals geradezu planmäßig missbraucht, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. Der entsprechende Vorwurf ist schwerwiegend: Aufgrund der vorstehenden Ausführungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass Journalisten in Kooperation mit Staatsanwälten – oder vielleicht sogar ohne deren Wissen272 – an originale und vertrauliche Ermittlungs270 Vgl. die Neuregelung des Zeugnisverweigerungsrechts der Medienmitarbeiter durch das „Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung“ (BGBl. 2002, Teil I, S. 682). Es erstreckt sich nunmehr explizit auch auf „selbst erarbeitete Materialien“ (z. B. Notizen oder Fotos), vgl. § 53 Abs. 1 S. 2 a.E. StPO. Gleichwohl gilt zudem eine neue Einschränkung zu Gunsten der staatlichen Strafverfolgung von besonders schweren Straftaten (vgl. § 53 Abs. 2 S. 2 StPO), die ihrerseits wiederum durch die erneute Ausnahme gemäß § 53 Abs. 2 S. 3 StPO eingeschränkt wird (vgl. M-G, StPO, § 53, Rndnrn. 39 ff. m. w. N., zur veränderten Rechtslage). Dazu auch sogleich: 7. Kap. B. III. 2. 2.3. 271 Hamm, Große Strafprozesse, S. 34. Er veranschaulicht seine Ausführungen durch die Darstellung eines konkreten Beispiels. 272 So schildert Hamm in: Friebertshäuser-FG, S. 267 (269), instruktiv den Fall, in welchem ein Journalist einem bei der Staatsanwaltschaft beschäftigten Wachtmeister Geld dafür anbietet, dass dieser ihm beim Fotokopieren bestimmter Ermittlungsakten für einen Staats-

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akten gelangen, die sodann der darauffolgenden Medienberichterstattung zugrunde gelegt werden. Nicht von der Hand zu weisen ist hierbei die Gefahr, dass durch die strafprozessuale Privilegierung von Journalisten geltendes Strafrecht systematisch unterlaufen wird, indem die Durchsetzung des entsprechenden staatlichen Strafanspruchs vereitelt wird. Muss der journalistische Schutzmechanismus unserer Strafprozessordnung aufgrund dieser Missbrauchsgefahr wesentlich abgebaut werden? Soll ein Journalist, der unter dem Verdacht steht, in die Veröffentlichung vertraulicher Ermittlungsdokumente verwickelt zu sein, den strafprozessualen Zeugnisverweigerungs- und Beschlagnahmeschutz vielleicht sogar vollständig verwirken können? Zunächst widerspricht ein Ausnutzen des journalistischen Schutzmechanismus, um ungestraft an vertrauliche Ermittlungsakten zu gelangen, dem Schutzzweck des strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts aus beruflichen Gründen (vgl. § 53 StPO), das zuvorderst die Wahrung bestimmter beruflicher Verschwiegenheitspflichten schützen soll. Solche Verschwiegenheitspflichten sind die Konsequenz des vollumfänglichen Schutzbedürfnisses von Vertrauensverhältnissen, die zwischen den Angehörigen bestimmter Berufsgruppen und dem Einzelnen bestehen. Der Einzelne wendet sich hierbei an diese Berufsangehörigen, um deren Hilfe im Sinne ihrer speziellen Sachkunde in Anspruch zu nehmen; die Menschen vertrauen sich diesen fachkundigen Personen an.273 Dementsprechend soll das Zeugnisverweigerungsrecht aus beruflichen Gründen diese Berufsgruppenangehörigen davor bewahren, in einen Interessenkonflikt zwischen der Bewahrung des individuellen Vertrauensverhältnisses einerseits und der Unterstützung des allgermeinen Interesses an der Aufklärung begangener Straftaten andererseits zu geraten.274 Zweifelsohne geschieht die Weitergabe vertraulicher Informationen an einen Journalisten, der seinen strafprozessualen „Wettbewerbsvorteil“ hierzu vielleicht sogar gezielt ausnutzt, regelmäßig unter geheimen Vorzeichen. Diejenige Person, welche die vertraulichen Ermittlungsdokumente an einen Journalisten weitergibt, wird regelmäßig Vertraulichkeit verlangen; schließlich drohen ihr strafrechtliche Sanktionen. Allerdings sollte diesem Bedürfnis nach Vertraulichkeit kein Schutz durch unsere Rechtsordnung gewährt werden, denn schließlich handelt es sich bei dem Sachverhalt, der vertraulich behandelt werden soll, um eine Unrechtsvereinbarung. Zudem kommt es dem Journalisten von Anfang an darauf an, geltendes Strafrecht mit Hilfe dieser strafprozessualen Privilegierung zu umgehen. Dabei stellt der hieraus resultierende Pflichtenwiderstreit zwischen der Aufrechterhaltung der individuellen Unrechtsvereinbarung und der Mithilfe zur Aufklärung der Umstände der Veröffentlichung bestimmter vertraulicher Ermittlungsdokumente schon seinem Wesen nach gar keinen schützenswerten Interessenkonflikt dar. anwalt ein zweites Exemplar Fotokopien erstellt. So könnte der Journalist sodann auf Grundlage der staatsanwaltschaftlichen „Originalakten“ berichten. 273 Detaillierter M-G, StPO, § 53, Rndnr. 1 m. w. N. 274 Vgl. auch BVerfGE 38, S. 312 (323); BGHSt 9, S. 59 (61); Dahs in: L-R, StPO, § 53, Rndnr. 1 m. w. N.; M-G, StPO, § 53, Rndnr. 1 m. w. N.

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Selbst wenn wir unterstellten, dass diese rechtsmissbräuchlichen Recherchemethoden mittlerweile regelmäßig im medialen Wettstreit275 um die sensationellste Veröffentlichung276 insbesondere in Ermittlungsverfahren von besonderem öffentlichen Interesse angewendet werden, um die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen, wäre ein wesentlicher Abbau des journalistischen Schutzmechanismus im Ergebnis dennoch abzulehnen. Grundsätzlich gilt, dass Bestrebungen, den journalistischen Schutzmechanismus im Hinblick auf die vorstehend277 dargestellte „strafrechtsfreie Bresche“ einzuschränken, angesichts der prinzipiellen Bedeutung dieses elementaren Funktionsmechanismus für die Grundfeste des freien und liberalen Rechtsstaates besonders engen Grenzen unterliegen müssen. Erst kürzlich hat sich der Gesetzgeber zur Erweiterung des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts entschlossen.278 Dieses gilt nunmehr auch für „selbst erarbeitete Materialien“, d. h. etwa Notizen oder Fotos (vgl. § 53 Abs. 1 S. 2 StPO). In der gängigen Kommentarliteratur 279 wird das neue Zeugnisverweigerungsrecht insoweit als „inhaltlich sehr weitgehend“ und „nahezu unumschränkt“ beschrieben. Selbst die Ausnahme zu dieser Neuregelung (vgl. § 53 Abs. 2 S. 2 StPO) unterliegt ihrerseits wiederum einer Rückausnahme zu Gunsten der Vertraulichkeit journalistischer Recherche (vgl. § 53 Abs. 2 S. 3 StPO). Im Hinblick auf das Beschlagnahmeverbot gemäß § 97 Abs. 5 S. 1 StPO gilt nunmehr, dass dieses aufgrund der uneingeschränkten Verweisung auf § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 StPO auch für „selbst recherchiertes Material“ gilt.280 Zudem kann eine Beschlagnahme im Einzelfall zwar ausnahmsweise zulässig sein (§ 97 Abs. 5 S. 2 Hs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 3 StPO) – allerdings muss diese Ausnahme ihrerseits wiederum im Lichte des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verhältnismäßig erscheinen (vgl. § 97 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 StPO).281 Mittels dieser ausdrücklichen Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes soll gerade verhindert werden, dass das staatliche Interesse an einer effektiven Strafverfolgung in den Grenzen des geltenden Strafprozessrechts in unverhältnismäßiger Art und Weise Überhand gewinnt.282 Einerseits kommt hierbei zum Ausdruck, dass Journalisten grundsätzlich nicht erwarten dürfen, von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen gänzlich unbeeinträchZu diesem Aspekt bereits oben: 1. Kap. A., B. I. Siehe nur die Veröffentlichungen von staatsanwaltschaftlichen Vernehmungsprotokollen in der Flick- und Parteispendenaffäre [5. Kap. B. II. 1. a) bb)] und im „Honecker-Prozeß“ [5. Kap. B. III. 2. d)]. 277 7. Kap. B. III. 2. b). 278 Vgl. das „Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung“ (BGBl. 2002, Teil I, S. 682), dazu auch gerade Fn. 270. 279 M-G, StPO, § 53, Rndnr. 39 m. w. N. 280 Vgl. M-G, StPO. § 97, Rndnr. 45. 281 Dagegen sei die Praktikabilität der darauffolgenden Subsidiaritätsklausel – „auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert (. . . )“ – mangels Bestimmtheit der verwendeten Begriffe zweifelhaft (M-G, StPO, § 53, Rndnr. 39a m. w. N.). 282 So bereits BT-Drs. 14 / 5166, S. 10; weiterhin M-G, StPO, § 97, Rndnr. 45 m. w. N. 275 276

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tigt zu bleiben. Die grundgesetzliche Medienfreiheit kann und darf im verfassungsrechtlichen Sinne keine „heilige Kuh“ darstellen, welche als unantastbar feststeht. Vielmehr gilt es, einen fairen und verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Medienfreiheit und dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege herzustellen. Warum soll dem Vertraulichkeitsinteresse des Journalisten hierbei ein grundsätzlicher, verfassungsrechtlicher Vorrang zukommen? Unserer Staatsverfassung kann gerade nicht entnommen werden, dass das staatliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege generell hinter das journalistische Rechercheinteresse zurückzutreten habe.283 Andererseits muss gleichzeitig verhindert werden, dass die Medienfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG im Zuge der Durchsetzung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses unverhältnismäßig stark eingeschränkt wird. In diesem Sinne stellt die gegenwärtige gesetzliche Gewährleistung des journalistischen Schutzmechanismus unserer Strafprozessordnung (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 i.V.m. § 97 Abs. 5 StPO) eine ausgewogene Regelung des Verhältnisses zwischen staatlichem Strafverfolgungsinteresse einerseits und journalistischem Rechercheinteresse andererseits dar. Ein weitergehender Abbau dieses elementaren Funktionsmechanismus würde eine übermäßige Bevorrechtigung der staatsgewaltlichen Strafverfolgung bedeuten; die Schleusentore für einen staatsgewaltlichen Zugriff auf das journalistische Recherchegeheimnis wären geöffnet. Dies vorausgeschickt, sollte sich unser Staat – selbst im Hinblick auf die vorstehend dargestellten Missbrauchsgefahren – selbstbeschränkend offenbaren. Daneben sind gleichzeitig auch die Journalisten aufgerufen, die grundlegende gesellschaftliche Verantwortlichkeit anzuerkennen, die ihrer Recherchefreiheit zugrunde liegt. Entsprechende strafprozessuale Privilegien sind gerade nicht dazu gedacht, die eigene Berichterstattung wettbewerbsfähig zu halten oder erst zu machen, sondern vielmehr die rechtschaffene Wahrnehmung der elementaren Gesellschaftsaufgabe zu informationeller Daseinsvorsorge zu schützen.

3. Staatsanwaltschaftliche „Vorermittlungen“ als medienwirksamer Ermittlungsauftakt: Der Fall Jürgen Möllemann Wie bereits ausgeführt284, obliegt der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) die gesetzliche Pflicht, im Falle des Bestehens eines entsprechenden Anfangsverdachtes strafrechtliche Ermittlungen aufzunehmen. Insoweit ist das Vorhandensein „zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte“ (vgl. § 152 Abs. 2 StPO) erforderlich, die das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat nahe legen.

283 Zu dieser grundlegenden Beurteilung in Bezug auf die vorliegende Interessenkollision: BVerfG, 1 BvR 330 / 96 vom 12. März 2003, C. III. 3. a. bb. (Besprechung dieses Urteils bei Gusy, NStZ 2003, S. 399 ff. m. w. N.). 284 Oben 4. Kap. B. II.

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In der alltäglichen Strafverfolgungspraxis kommt es mitunter vor, dass die Ermittlungsbehörden von einem Sachverhalt Kenntnis erlangen, der nicht unmittelbar die Annahme des Vorliegens eines Anfangsverdachtes gegen eine Person begründet. In solchen unklaren Sachverhalten wird den Strafverfolgungsbehörden im Hinblick auf eine wirksame Strafverfolgung teilweise285 die Kompetenz zur Durchführung sog. „Vor(feld)ermittlungen“286 zugebilligt. Hierdurch soll den Ermittlungsbehörden die Gelegenheit gegeben werden, den vorliegenden Sachverhalt so weitgehend zu erforschen, dass die Frage des Vorliegens eines Anfangsverdachtes gegen eine Person als Voraussetzung der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen beantwortet werden kann. Grundsätzlich nachvollziehbar erscheint dabei die Überlegung Nicole Langes287, die Notwendigkeit derartiger Vorermittlungen vor allem bei Abgeordneten, Politikern oder anderen Prominenten zu bejahen. Diese sind besonders gefährdet, öffentlich durch – möglicherweise haltlose – Vorwürfe im Rahmen einer rücksichtslosen Medienberichterstattung 288 betroffen zu werden. Vor dem Hintergrund der Bejahung der Notwendigkeit solcher Vorermittlungen und dem Vorschlag einer entsprechenden gesetzlichen Regelung führt Lange289 sodann was folgt aus: „Ist ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und erlangen die Medien hiervon Kenntnis, entsteht als Folge der Berichterstattung eine Rufschädigung beim Betroffenen. Aber nicht nur 285 Vgl. LG Offenburg, NStZ 1993, S. 506 m. w. N.; Lange, DRiZ 2002, S. 264 ff. m. w. N.; M-G, StPO, § 152, Rndnr. 4a m. w. N.; Schöch in: AK, StPO, § 159, Rndnr. 2 m. w. N., entnimmt die Notwendigkeit einer „Vorprüfung“ der ratio legis des § 159 Abs. 1 StPO; Pfeiffer, StPO, § 152, Rndnr. 1c m. w. N., begründet die Notwendigkeit einer „Vorermittlungspflicht“ mit der Realisierung einer „gleichmäßigen Strafrechtspflege“ und dem Bedürfnis von Abgeordneten, Politikern und Prominenten nach Schutz vor einer öffentlichen Vorverurteilung durch die Medien. Vermittelnd Lohner, Tatverdacht im Ermittlungsverfahren, S. 147 f. Kritisch dagegen Beulke, Strafprozeßrecht, Rndnr. 311, der diese „Vorermittlungen“ zunächst einmal als „der StPO fremd“ einstuft und sie auf gewisse Fallgruppen beschränkt wissen will; ähnlich Roxin, Strafverfahrensrecht, 7. Kap., § 37, Rndnr. 14 m. w. N. Kritisch weiterhin Kühne, Strafprozessrecht, Rndnr. 372 m. w. N.; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rndnrn. 83 ff. m. w. N.; Wölfl, JuS 2001, S. 478 ff. m. w. N. Den entsprechenden Vorschlag einer gesetzlichen Regelung macht Lange, Vorermittlungen, S. 13 ff.; vgl. auch den Vorschlag bei Wolter in: Brauneck-EG, S. 501 (512 ff. m. w. N.). Vgl. ferner Artzt, Vorfeldermittlungen, S. 181 ff. m. w. N., zur Rechtsstellung des Betroffenen; Hellmann, Strafprozeßrecht, II, § 1, Rndnr. 30 m. w. N.; Weßlau, Vorfeldermittlungen, zu den Anschlussfragen der Bejahung ihrer Zulässigkeit. 286 Neben den Begriffen „Vorermittlungen“, „Vorermittlungsverfahren“ (Lange, Vorermittlungen; Pfeiffer, StPO, § 152, Rndnr. 1c) und „Vorfeldermittlungen“ (Artzt, Vorfeldermittlungen [2000]; Lohner, Tatverdacht im Ermittlungsverfahren, S. 126 f. m. w. N.) werden weiterhin auch die Bezeichnungen der „Initiativermittlungen“ (M-G, StPO, Anh. Nr. 15, RiStBV, Anl. E, Nr. 6 [S. 1941]), der „Sondierung“ (Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, S. 186) oder der „Vorprüfung“ (Schöch in: AK, StPO, § 159, Rndnr. 2) verwendet. 287 Vorermittlungen, S. 13 f. Gleichwohl betont sie zutreffend, dass sich grundsätzlich jeder Bürger unbegründeten Vorwürfen ausgesetzt sehen kann, die u. U. als Druckmittel in einer persönlichen Auseinandersetzung eingesetzt werden könnten. 288 Zu diesem Aspekt oben: 1. Kap. A., E. 289 Vorermittlungen, S. 234 f. Ähnlich Pfeiffer, StPO, § 152, Rndnr. 1c.

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die Stigmatisierung, sondern auch weitergehende Beeinträchtigungen, wie z. B. wirtschaftlicher Art, können entstehen. Zu erwähnen bleibt, daß das Ermittlungsverfahren eine extrem negative Belastung für den Betroffenen bzw. Beschuldigten mit sich bringt. Dies wird noch verstärkt, wenn es sich um unbegründete und ungerechtfertigte Vorwürfe handelt. Das Vorermittlungsverfahren bezweckt darüber hinaus. daß solche Umstände, die die strafrechtliche Verfolgung eines Straftäters ausschließen würden, frühzeitig erkannt und berücksichtigt werden. Unnötige Ermittlungsverfahren werden hier ebenso vermieden wie bei der ungerechtfertigten Beschuldigung.“

Diesen Überlegungen wohnt sowohl der unterstützenswerte Aspekt eines fairen Umgangs mit strafrechtlichen Vorwürfen gegenüber Prominenten als auch der einleuchtende Gedanke einer effektiven Gestaltung der staatlichen Strafverfolgung inne. Wie ist dieser Ansatz nun jedoch in dem Fall zu beurteilen, in welchem die Staatsanwaltschaft diese Vorermittlungen instrumentalisiert, um – medienwirksam – die bevorstehende Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen kundzutun? Nach Medienberichten, ein Ermittlungsverfahren gegen Jürgen Möllemann sei „nicht auszuschließen“290 und „Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft prüft ein Ermittlungsverfahren wegen Spenden-Verschleierung“291, berichtete die bundesweit erscheinende Tageszeitung Die Welt am 31. Oktober 2002 im Zusammenhang mit dem FDP-Parteispendenskandal: „Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf hat gestern gegen den früheren nordrhein-westfälischen FDP-Chef Jürgen Möllemann ein Ermittlungsverfahren angekündigt. Weil Möllemann seit Juni 2000 ein Landtagsmandat besitzt und seit Oktober dieses Jahres auch Bundestagsabgeordneter ist, wurde dies gestern in gleich lautenden Schreiben Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) und Landtagspräsident Ulrich Schmidt (SPD) mitgeteilt.“292

Am gleichen Tag titelte Der Spiegel293 „Staatsanwalt will gegen Möllemann ermitteln“ und berichtete nach dem Untertitel „Jürgen Möllemann bekommt jetzt Ärger mit der Justiz. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf will gegen den FDP-Politiker offenbar im Zusammenhang mit der Spendenaffäre ermitteln.“

über die Bestätigung einer Sprecherin des nordrhein-westfälischen Landtages, dass eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft Düsseldorf an den Landtagspräsidenten eingegangen sei, in welcher diese ihre Absicht, gegen Möllemann wegen des Verdachtes des Verstoßes gegen das Parteiengesetz zu ermitteln, angekündigt habe. Der Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft Johannes Mocken wurde hierzu mit folgenden Worten zitiert: 290 Der Spiegel online, 18. Oktober 2002, über eine Auskunft des Staatsanwaltes Johannes Mocken. 291 Der Tagesspiegel online, 21. Oktober 2002; ähnlich schon am 19. Oktober 2002; danach am 29. Oktober 2002. 292 Ähnlich auch Der Tagesspiegel online, 31. Oktober 2002. 293 Der Spiegel online, 31. Oktober 2002.

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„Wir wollen dies nicht kommentieren, aber auch nicht dementieren.“294

Die spätere tatsächliche Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen Jürgen Möllemann wurde ebenfalls von einer breiten Medienberichterstattung begleitet.295 Im Zusammenhang mit den innerparteilichen Konflikten, die der FDP-Parteispendenskandal hervorrief, berichtete Der Tagesspiegel sogar von einer „Inquisition in Gelb“296. Die Besonderheit lag in Jürgen Möllemanns Fall darin begründet, dass der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zunächst verwehrt war, weil Möllemann als Bundestagsabgeordneter und Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtages zum damaligen Zeitpunkt parlamentarischen Immunitätsschutz (vgl. Art. 46 Abs. 2 – 4 GG) genoss. Insoweit sei auf folgende Umstände hingewiesen: Kraft seiner Parlamentsautonomie in Gestalt der Geschäftsordnungsautonomie gibt sich der Deutsche Bundestag seine eigene Geschäftsordnung (vgl. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG).297 Auf dieser Grundlage pflegt er in der parlamentarischen Praxis, am Anfang einer neuen Wahlperiode regelmäßig zu beschließen, die Geschäftsordnung des vorigen Deutschen Bundestages – ggf. unter Durchführung geringfügiger Änderungen – zu übernehmen. So erneut geschehen zu Beginn der 15. Wahlperiode während seiner konstituierenden Sitzung am 17. Oktober 2002298: Auf Antrag der Fraktionen der SPD, CDU / CSU, Bündnis 90 / Die Grünen und der FDP beschloss der Deutsche Bundestag die Weitergeltung des Geschäftsordnungsrechtes mit den Stimmen der Fraktionen bei Enthaltung der beiden PDS-Abgeordneten.299 Demgemäß wurde auch wieder § 107 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GoBT) übernommen, der die sog. „Immunitätsangelegenheiten“ regelt. Hierdurch wird dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung aufgegeben, „Grundsätze über die Behandlung von Ersuchen auf Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages aufzustellen (. . . )“, vgl. § 107 Abs. 1, 2 GoBT. In der parlamentarischen Praxis hat sich hier ebenfalls die Übung durchgesetzt, die „Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten“ (§ 107 Abs. 2 GoBT i.V.m. Anl. 6 GoBT) durch den Immunitätsausschuss jeweils zu Beginn einer neuen Wahlperiode zu übernehmen. Die Anl. 6 GoBT enthält ihrerseits wiederum den „Beschluß des Deutschen Bundestages betr. Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages“, der ebenfalls zu Beginn einer neuen Wahlperiode, allerdings durch In: Der Spiegel online, 31. Oktober 2002. Der Spiegel online, 4. November 2002: „Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Möllemann“; Der Tagesspiegel, 5. November 2002, Titelseite: „Ankläger gegen Möllemann“; Die Welt, 5. November 2002, Titelseite: „Staatsanwälte ermitteln gegen Möllemann“. 296 Der Tagesspiegel, 6. November 2002, S. 4. 297 BVerfGE 102, S. 224 (235 f.); 104, S. 310 (332). 298 Vgl. Plenarprot. 15 / 1, Tagesordnungspunkt 4, erster Spiegelstrich. 299 Siehe Plenarprot. 15 / 1, S. 7 (A) ff., S. 8 (A). 294 295

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den Deutschen Bundestag selbst, übernommen wird. Diese parlamentarische Praxis dient der vereinfachten Handhabung der grundgesetzlichen Immunitätsvorschriften.300 Der Beschluss lautet in Ziff. 1 S. 1, 2, 4 wie folgt: „Der Deutsche Bundestag genehmigt bis zum Ablauf dieser Wahlperiode die Durchführung von Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Bundestages wegen Straftaten, es sei denn, dass es sich um Beleidigungen (§§ 185, 186, 187a Abs. 1, § 188 Abs. 1 StGB) politischen Charakters handelt. Vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist dem Präsidenten des Deutschen Bundestages und, soweit nicht Gründe der Wahrheitsfindung entgegenstehen, dem betroffenen Mitglied Mitteilung zu machen; (. . . ) Das Ermittlungsverfahren darf im Einzelfall frühestens 48 Stunden nach Zugang der Mitteilung beim Präsidenten des Deutschen Bundestages eingeleitet werden.“301

Hierneben ist die Ziff. 2a S. 1 der „Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten“ (vgl. § 107 Abs. 2 i.V.m. Anl. 6 GoBT) zu lesen: „Hat der Bundestag für die Dauer einer Wahlperiode die Durchführung von Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Bundestages wegen Straftaten genehmigt, so ist vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens dem Präsidenten des Bundestages und, soweit nicht Gründe der Wahrheitsfindung entgegenstehen, dem betroffenen Mitglied des Bundestages Mitteilung zu machen (. . . ).“

Obgleich dieser parlamentarischen Immunitätspraxis ein redliches Motiv (scil. die Aufhebung der strafverfolgungsrechtlichen Privilegierung von Abgeordneten) zugrunde liegt, wird sie vehement kritisiert. Aus dem Immunitätsrecht gemäß Art. 46 Abs. 2 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG erwachse dem einzelnen Abgeordneten, wenngleich das Immunitätsrecht vornehmlich die Institution „Parlament“ schütze, auch ein subjektiver Schutzanspruch. In dieses individuelle Schutzrecht dürfe nicht mittels geschäftsordnungsrechtlicher „Ermächtigung“ des Immunitätsausschusses respektive einfacher Beschlussfassung des Deutschen Bundestages (vgl. § 107 Abs. 1,2 GoBT i.V.m. Anl. 6 GoBT) – im Ergebnis daher ohne gesetzliche Grundlage – eingegriffen werden.302 Für die Berücksichtigung des „freien“ Status des Abgeordneten (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) bei der Bestimmung des Schutzgehaltes der parlamentarischen Immunität (vgl. Art. 46 Abs. 2 – 4 GG) und die demgemäße Bejahung einer individualrechtlichen Abwehrkomponente des parlamentarischen Immunitätsschutzes So auch Lieber / Rautenberg, DRiZ 2003, S. 56. Abgedruckt in: Sartorius I, Ziff. 35. 302 So der Bundestagsabgeordnete und Justiziar der CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Ronald Pofalla in seiner Erklärung gemäß § 31 GoBT zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (vgl. Plenarprot. 15 / 1, Anlage 7 zu Tagesordnungspunkt 4, S. 26 [A]). Vgl. entsprechend kritische Bemerkungen u. a. bei Klein in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht, § 17, Rndnr. 53; Magiera in: BK, GG, Art. 46, Rndnr. 92 m. w. N.; ders. in: Sachs, GG, Art. 46, Rndnr. 20 m. w. N.; Schneider in: AK, GG, Art. 46, Rndnr. 17 m. w. N. 300 301

B. Überlegungen zur Herstellung eines fairen „Kräfteverhältnisses“

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spricht zuvorderst die spezifische Gefährdungslage von Abgeordneten in unserer modernen Mediengesellschaft: Medienöffentlich diskutierte Ermittlungen gegen Volksvertreter wegen – ggf. sogar haltloser – Vorwürfe bedeuten nicht selten das politische „Aus“ für den Betroffenen. Wie gerade gezeigt, führt die Sorge um diese spezifische Gefährdungslage des Abgeordneten sogar zur Bejahung strafverfolgungsbehördlicher Vorermittlungen. Entgegen dieser gewichtigen Kritik bleibt die Staatsanwaltschaft gleichwohl aufgrund der dargestellten gegenwärtigen Praxis zu einer vereinfachten strafrechtlichen Vorgehensweise gegen Abgeordnete des Deutschen Bundestages berechtigt (vgl. Ziffn. 191 ff. RiStBV303): Wegen der jeweils zu Beginn einer neuen Wahlperiode durch den Deutschen Bundestag erteilten Globalgenehmigung zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen besteht praktisch kein Immunitätsschutz mehr, und die Staatsanwaltschaft muss lediglich dem Präsidenten des Deutschen Bundestages die Absicht der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen anzeigen; nach Ablauf von 48 Stunden gilt die Genehmigung sodann als erteilt.304 Wir haben bereits feststellen können, dass die Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten in unserer modernen Mediengesellschaft schon im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bestehen kann: Schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Strafverfahrens kommt es insbesondere in Aufsehen erregenden Ermittlungsverfahren oftmals zu einer rücksichtslosen Medienberichterstattung 305 und einer vorurteilsvollen Informationspolitik der Staatsanwaltschaft306, welche die strafrechtlichen Ermittlungen in eine einseitig-öffentliche „Inquisition“307 umschlagen lassen. Die vorstehenden Ausführungen zum Fall Jürgen Möllemann haben eine noch schwerwiegendere Gefahr offenbart: Im Rahmen sog. „Vorermittlungen“ hatten die Ermittlungsbehörden ausreichend Gelegenheit zu medienwirksamer Öffentlichkeitsarbeit noch bevor ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Möllemann überhaupt zulässig war. Schließlich wurde die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen während der Vorermittlungen sogar angekündigt. Die Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung kann sich mithin nicht erst im Ermittlungs- sondern vielmehr schon im sog. „Vorermittlungsverfahren“ stellen, wenn hierin auf mutmaßlich bevorstehende Ermittlungen Bezug genommen wird. Demzufolge ist u. U. groteske Konsequenz dieser Vorermittlungen, dass sich ihr beabsichtigter Effekt des Schutzes prominenter Persönlichkeiten vor einer medienöffentlichen Konfrontation mit – ggf. haltlosen – Vorwürfen gerade ins Gegenteil verkehrt.

303 304 305 306 307

Vgl. M-G, StPO, Anh. Nr. 15, RiStBV, S. 1888 ff. So auch die Darstellung von Glauben, DRiZ 2003, S. 51 (53). Siehe vor allem: 1. Kap. A., B. I., E. Vgl. oben: 1. Kap. A. E., 5. Kap. B. C. Vgl. schon oben: 1. Kap. A., C., E.

332

7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

C. Zwischenergebnis zum Siebten Kapitel I. 1. Das gegenwärtige „Kräfteverhältnis“ im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist durch eine übermäßige, unfaire Machtfülle der Institution „Strafjustiz“ geprägt. 2. Diesen Befund ergibt eine Gesamtbetrachtung verschiedener strafprozessrechtlicher Bausteine: die niedrige Einleitungsschwelle für strafrechtliche Ermittlungen, die Gefährdung einer inhaltlich-objektiven und zeitlich-stringenten Ermittlungsführung, die Gefahr eines „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschlusses des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren, das Fehlen eines gesetzlichen Ablösungsrechts für vermutlich befangene Staatsanwälte und schließlich das Fehlen von Rechtsschutz gegen nachteilige Verfahrensentscheidungen der Staatsanwaltschaft. 3. Der Beschuldigte kann hierdurch in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjektes gedrängt werden. Besonders in öffentlichkeitswirksamen Ermittlungsverfahren existiert u. U. die Gefahr, dass sich die Ermittlungen zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“ entwickeln, wenn die herrschende Verfahrensstellung der Staatsanwaltschaft durch allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit verstärkt wird. Diese Gefahr wird insbesondere in Ermittlungsverfahren offenbar, in denen die staatsanwaltschaftliche Informationspolitik auf die medienöffentliche Verankerung einer Rollenverteilung zwischen ihr als „Aufklärerin“ und dem Beschuldigten als „Kriminellem“ hinausläuft.308

II. 1. Dieses derzeitige „Kräfteverhältnis“ im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist in höchstem Maße besorgniserregend. Ihm ist im Rahmen angemessener Reformüberlegungen entgegenzutreten. Zunächst gilt in Bezug auf den Rechtsschutz vor staatsanwaltschaftlichen Verfahrensentscheidungen: In unserer modernen Mediengesellschaft können dem Beschuldigten wegen strafrechtlicher Ermittlungen schwerwiegende persönliche, soziale und berufliche Konsequenzen drohen. Diese werden u. U. durch eine massive, rücksichtslose und ggf. durch vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft angestoßene Medienberichterstattung verursacht. Ihrem insoweit außenwirksamen Charakter Rechnung tragend, ist dem Beschuldigten Rechtsschutz gegen Einleitungs- und Aufrechterhaltungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft zu gewähren. Keinesfalls soll hierdurch der effektive Ermittlungsprimat der Staatsanwaltschaft durchkreuzt, son308

7. Kap. A. VI.

C. Zwischenergebnis zum Siebten Kapitel

333

dern vielmehr die gewandelte Bedeutung dieser Entscheidungen im Ermittlungsverfahren in der modernen Mediengesellschaft anerkannt werden.309 2. Dem „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschluss des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren könnte durch Neuregelung einer frühzeitigen Vernehmung (vgl. „§ 163a Abs. 1 S. 1 StPO n.F.“) und durch Erweiterung des Akteneinsichtsrechts (vgl. „§ 147 Abs. 2 StPO n.F.“) begegnet werden. Dabei gilt für das Verhältnis von Akteneinsicht zu Vernehmung, dass der Beschuldigte grundsätzlich vor seiner Vernehmung Akteneinsicht begehren wird. Sowohl dem kooperativen als auch dem konfrontativen Beschuldigten ist im Rahmen einer fairen Ermittlungsführung zu gestatten, sich gemeinsam mit seinem fachlich hierzu berufenen Strafverteidiger auf das Zusammentreffen mit der Institution „Strafjustiz“ inhaltlich und auch psychisch vorzubereiten, solange hierdurch der Untersuchungszweck nicht gefährdet wird. Ein gewisser Kernbereich vertraulicher und vorwurfbezogener Verteidigungsarbeit soll den Beschuldigten als Verfahrenssubjekt gerade davor bewahren, zum bloßen Ermittlungsobjekt zu werden. Im Hinblick auf den Schutz ermittlungsbehördlicher Strafverfolgung würde ein umfassendes Akteneinsichtsrecht gleichwohl voraussetzen, den Strafverteidiger im Gegenzug zum „Mitwisser“ in Bezug auf den Kenntnisstand der Ermittlungsbehörden zu machen. Die Zerstörung seines Vertrauensverhältnisses zum Mandanten wäre hierbei sichere Konsequenz. Dieser Preis für ein erweitertes Akteneinsichtsrecht ist unbezahlbar. Dennoch ist neben der Neuregelung einer frühzeitigen Vernehmung eine Erweiterung des Akteneinsichtsrechts dergestalt, dass für eine Verweigerung nur noch konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Ermittlungszwecks ausreichen sollen, dringend angezeigt.310 3. Die Diskussion um die Ablösung eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes stellt einen Irrweg in der Kontroverse über die Stellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren dar. Die Objektivitätsmaxime des § 160 Abs. 2 StPO ist eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund. Demzufolge gilt, die Parteistellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zu akzeptieren, wobei sie als Strafverfolgungsbehörde weiterhin an die rechtsstaatliche Pflicht gebunden bleibt, die Gesetzmäßigkeit ihrer strafrechtlichen Ermittlungen zu wahren (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO). Daraus folgt für die gegenwärtigen staatsanwaltschaftlichen Organisationsstrukturen: Sicherlich könnte eine vollständige Abschaffung des externen – politischen – Weisungsrechts (vgl. §§ 146, 147 Ziff. 1, 2 GVG) der exekutiven Staatsgewalt das öffentliche Ansehen einer integren Staatsanwaltschaft nachhaltig stärken; existiert augenblicklich doch eher die grundsätzliche Besorgnis, die Staatsanwaltschaft könnte als Strafverfolgungsorgan zum machtpolitischen Instrument werden.

309 310

7. Kap. B. I. 1. a). 7. Kap. B. I. 1. b).

334

7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

Gleichwohl sprechen im Ergebnis die klare Umgrenzung der politischen Weisungsgebundenheit vor allem durch die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1), die interessengerechte Lösungsmöglichkeit für Weisungskonflikte im Rahmen des § 145 Abs. 1 Alt. 2 GVG und schließlich der Aspekt der Gewährleistung einer indirekten plebiszitären Kontrolle des Bereichs staatlicher Strafverfolgung für eine Beibehaltung. Dagegen ist dringend erforderlich, den politische Status des Generalbundesanwaltes beim Bundesgerichtshof und der Generalstaatsanwälte in einigen Bundesländern (vgl. §§ 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. 36 Abs. 1 Ziff. 5 BBG oder LBG) endlich abzuschaffen. Ansonsten blieben diejenigen, die als Behördenleiter regelmäßig Adressaten politischer Weisungen wären, gleichzeitig in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung vom Wohlwollen der politischen Exekutivgewalt abhängig.311 4. Gegen eine ermittlungsrichterliche Medienzuständigkeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sprechen neben dem praktischen Einwand der ermittlungsrechtlichen Sachnähe der Strafverfolgungsbehörden die Notwendigkeit des Schutzes der Integrität der Stellung des Ermittlungsrichters als rechtsstaatlicher Wächter und das demgemäße Bedürfnis der Wahrung einer klaren Umgrenzung dieser Wächterfunktion im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren.312 5. Zur individuellen Verbesserung des Beschuldigtenschutzes und zur institutionellen Stärkung der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens in der modernen Mediengesellschaft empfiehlt sich die nähere Konkretisierung des Fairnessprinzips durch die Einführung einer Regelung fairer Öffentlichkeitsarbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (vgl. „§ 160a StPO“).313 6. Darüber hinaus ist eine Beschränkung medialer „Ermittlungen“, d. h. journalistischer Recherchen, grundsätzlich nicht empfehlenswert: Derartige Bemühungen stünden möglicherweise im Widerspruch zur Bedeutung der grundgesetzlich gewährleisteten Medienfreiheit und zur zentralen gesellschaftlichen Funktion der Medien als Informationsübermittler respektive zu ihrer Verantwortung für informationelle Daseinsvorsorge. Im repräsentativ-demokratischen Staatsganzen sind die Menschen zwar auf die Kontrollwirkung der Medienberichterstattung angewiesen, die zudem sogar der Wahrheitsfindung dienen kann. Gleichwohl könnten engere Recherchegrenzen für den Fall erforderlich werden, in welchem die Strafverfolgungsbehörden bereits ermitteln, um die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens zu schützen. Daneben begegnet eine redliche Kooperation des Strafverteidigers mit den Medien, die regelmäßig auf eine faire Berücksichtigung des Standpunktes des Beschuldigten gerichtet sein soll, keinen grundsätzlichen Bedenken.314 311 312 313 314

7. Kap. B. I. 2. c). 7. Kap. B. I. 3. 7. Kap. B. II. 7. Kap. B. III. 1.

C. Zwischenergebnis zum Siebten Kapitel

335

7. Der strafprozessuale Funktionsmechanismus des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts und des Beschlagnahmeschutzes (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 i.V.m. § 97 Abs. 5 StPO) stellt als Schutzgewähr einerseits ein elementares Wesensmerkmal der Grundfeste des freien und liberalen Rechtsstaates gegenüber vergangenen, dunklen Zeiten deutscher Zeitgeschichte dar. Andererseits wird diese Schutzgarantie oftmals geradezu planmäßig missbraucht, um einer strafrechtlichen Verfolgung wegen der Veröffentlichung originaler und vertraulicher Ermittlungsdokumente zu entgehen. Man spricht insoweit auch von einer „strafrechtsfreien Bresche“. Allerdings würde ein wesentlicher Abbau dieses grundlegenden Funktionsmechanismus zum Schutze der journalistischen Recherche im Gegensatz zur derzeitigen Rechtslage eine übermäßige Bevorrechtigung der staatsgewaltlichen Strafverfolgung bedeuten. Die Schleusentore für einen staatsgewaltlichen Zugriff auf das journalistische Recherchegeheimnis wären geöffnet. Hier sollte sich die Staatsgewalt – selbst im Hinblick auf drohende Missbrauchsgefahren – selbstbeschränkend offenbaren. Gleichwohl ist ein ernster Appell an die Journalisten zu richten, die fundamentale, gesellschaftliche Verantwortlichkeit anzuerkennen, die ihrer Recherchefreiheit zugrunde liegt. Entsprechende strafprozessuale Privilegierungen sollen nicht zu einer wettbewerbsfähigen Medienberichterstattung verhelfen, sondern vielmehr die rechtschaffene Wahrnehmung der elementaren Gesellschaftsaufgabe zu informationeller Daseinsvorsorge ermöglichen.315 8. Die Ermittlungsbehörden werden in ihrer alltäglichen Strafverfolgungspraxis regelmäßig mit Sachverhalten konfrontiert, die nicht unmittelbar die Annahme des Vorliegens eines strafbaren Verhaltens bzw. eines Anfangsverdachtes gegen eine Person nahe legen. Daher wird ihnen in solchen Fällen zu Gunsten einer wirksamen Strafverfolgung teilweise die Kompetenz für sog. „Vor(feld)ermittlungen“ zugebilligt. Die Notwendigkeit derartiger Vorermittlungen wird insbesondere bei strafrechtlichen Ermittlungen gegen Abgeordnete, Politiker oder andere Prominente bejaht, weil diese in besonderem Maße gefährdet sind, durch eine rücksichtslose Medienberichterstattung mit – ggf. haltlosen – Vorwürfen konfrontiert zu werden. Dessen ungeachtet, hat der FDP-Parteispendenskandal beziehungsweise der Fall Jürgen Möllemann in diesem Kontext gleichzeitig eine schwerwiegende Gefahr offenbart: Aufgrund Möllemanns Immunitätsschutz als Parlamentarier war den Ermittlungsbehörden die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zunächst verwehrt (vgl. § 107 Abs. 1,2 GoBT, Anl. 6 GoBT Ziff. 1 S. 1, 2, 4 – „Beschluß des Deutschen Bundestages betr. Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages“ – i.V.m. Ziffn. 191, 192, 192a Abs. 1 Hs. 1 RiStBV). Im Rahmen ihrer Vorermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft dennoch ausreichend Gelegenheit zu medienwirksamer Öffentlichkeitsarbeit und die Medien für eine intensive Kriminalberichterstattung. Schließlich wurde die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen während der Vorermittlungen sogar angekün315

7. Kap. B. III. 2. c).

336

7. Kap.: Überlegungen zum Schutz des Beschuldigten

digt. Im Hinblick auf die Grundproblematik der vorliegenden Untersuchung sind Vorermittlungen somit als höchst problematisch einzustufen. Schließlich kann ein sog. „Vorermittlungsverfahren“ Ursache für eine öffentliche Vorverurteilung des Beschuldigten sogar noch vor der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen sein. Der eigentlich beabsichtigte Effekt des Schutzes prominenter Persönlichkeiten vor einer medienöffentlichen Konfrontation mit – ggf. haltlosen – Vorwürfen verkehrt sich dann ins Gegenteil.316

316

7. Kap. B. III. 3.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Erstes Kapitel I. Oftmals prägt mediale Rücksichtslosigkeit die alltägliche Kriminalberichterstattung. Insbesondere in Aufsehen erregenden Ermittlungsverfahren wird sie durch eine offensive Informationspolitik der Staatsanwaltschaft in vielen Fällen zusätzlich angefacht. Hierdurch kann ein Stimmungsklima öffentlicher Vorverurteilung entstehen und das Ermittlungsverfahren droht zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“ auszuarten. II. Ursächlich hierfür sind insbesondere gesellschaftliche Faktoren: Die Medien stehen im modernen Informations- und Medienzeitalter – angesichts der harten Wettbewerbsbedingungen – unter starkem ökonomischen Druck. Sie orientieren sich im Rahmen ihrer informationellen Daseinsvorsorge an den Bedürfnissen der Menschen, die sich gegenwärtig angesichts eines Prozesses gesellschaftlicher Destabilisierung sorgen. Die Politik schafft es nicht, lähmende Reformblockaden zu überwinden und gesellschaftliche Strukturdefizite zu beheben. Gleichwohl soll Handlungsfähigkeit demonstriert werden, indem die Strafjustiz zweckorientiert zum Instrument der Sozialsteuerung – der gesellschaftlichen Stabilisierung – umfunktioniert wird, um so politische, ökonomische und moralische „Brandherde“ auf individuelle Verantwortung zu reduzieren. III. Aus entsprechend hohen Erwartungen der Menschen an die Strafjustiz, „den Schuldigen“ zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, resultiert im Ergebnis ein gesteigerter sozialer – mithin auch medialer – Stellenwert des Ermittlungsverfahrens. Demzufolge stehen die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren vor neuen Herausforderungen: Sie stellen als Auskunftsquelle die Nahtstelle zwischen nichtöffentlicher Strafverfolgung und Medienberichterstattung dar. Ihnen obliegt demgemäß die verantwortungsvolle Aufgabe, ihre Öffentlichkeitsarbeit – orientiert am staatlichen Strafverfolgungsinteresse und dem Beschuldigteninteresse der Wahrung seiner Rechte – sorgfältig vorzubereiten und kontrolliert durchzuführen, damit keine einseitig-öffentliche „Inquisition“ entsteht.1

1

1. Kap. E.

22 Neuling

338

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

Zweites Kapitel I. „Öffentlichkeit“ drückt zunächst die Möglichkeit des einzelnen Staatsbürgers zur umfassenden Wahrnehmung gesellschaftlicher und staatlicher Ereignisse durch deren freie Zugänglichkeit und allgemeine Kundbarmachung aus. Mithin umschreibt „Öffentlichkeit“ das Wechselverhältnis zwischen den Rechten des Individuums und dessen sozialem Umfeld respektive den staatlichen Handlungsebenen. II. Demgemäß existiert ein verfassungsunmittelbares Publizitätsgebot für Handlungen einzelner Staatsorgane, allerdings besteht in unserer bundesdeutschen Staatsverfassung kein wortlautmäßiger Anknüpfungspunkt für die Annahme einer prinzipiellen Öffentlichkeitsmaxime aller drei Staatsgewalten. Gleichwohl wohnt der prinzipiellen Gerichtsöffentlichkeit (vgl. § 169 S. 1 GVG, Art. 6 Abs. 1 S. 1, 2 EMRK) eine gesetzlich nicht näher ausgeführte Vorstellung über Bedeutung und Funktionen eines solchen elementaren Publizitätsgebotes inne. III. Die rechtshistorische Entwicklung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit als Wesensmerkmal des reformierten Strafverfahrens im liberalen Rechtsstaat ist durch tief greifende Veränderungen geprägt: An die jahrhundertelange Herrschaft des inquisitorischen Strafverfahrens schloss sich im Zuge der Ideenkonzepte der aufklärerischen Philosophie und der darauffolgenden politischen Forderungen nach umfassender Publizität hoheitlicher Machtausübung als Grundbedingung eines neuen Staatsganzen ein historischer Paradigmenwechsel an. Die aufgeklärt-idealisierende Anschauung vom bürgerlich-liberalen Rechtsstaat erhoffte sich durch die prinzipielle Gerichtsöffentlichkeit des reformierten Strafprozesses die wahre Garantie gerechten Urteilens. Bald sollten dieser weitgehenden Auffassung jedoch zunehmend kritische Überlegungen entgegengesetzt werden, und es vollzog sich eine „Wertungsumkehr“ zur Auffassung von Gerichtsöffentlichkeit als eine unter mehreren kollidierenden Rechtspositionen. Schließlich wurde Gerichtsöffentlichkeit im „volksöffentlichen“ Strafprozess während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft (1933 – 1945) dazu instrumentalisiert, die Aburteilung des Angeklagten vor einem größtmöglichen Publikum planmäßig zu exekutieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstarkte der rechtsstaatliche Kerngehalt prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl führte der technische Fortschritt der audiovisuellen Medien zu einer verstärkten Sensibilität für entsprechende Gefährdungen der gerichtlichen Wahrheitsfindung respektive der persönlichen, sozialen und beruflichen Integrität des Angeklagten durch eine drohende Vorverurteilung im Rahmen des medienöffentlichen Strafprozesses.2

2

2. Kap. D.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

339

Drittes Kapitel I. Die aufgeklärt-idealisierende Begründung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit im reformierten Strafprozess vermochte gleichwohl nicht den Anbruch eines gerechten Zeitalters zu bewirken; vielmehr verschwammen die liberal-rechtsstaatlichen Politikkonzepte in dem Maße, in welchem sich die bürgerliche Gesellschaft veränderte: Schon die sozialen Strukturen der deutschen Industrie- und Massengesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden nicht mehr durch den „bürgerlichen Menschentypus“ bestimmt. II. Dagegen offenbart eine kritische Bestimmung der Funktionen prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit im Sinne des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit, ihrer Kontrollfunktion, der Förderung der Strafzweckdurchsetzung und der Vermittlung von Rechtskenntnissen die verfassungsrechtliche Prägung dieser Öffentlichkeitsmaxime. Diese verfassungsrechtliche Prägung erschließt sich einerseits durch das demokratieprinzipielle Transparenzgebot staatlicher Entscheidungsprozesse: Die prinzipielle Transparenz staatlicher Entscheidungsprozesse stellt im Sinne einer elementaren demokratischen Öffentlichkeitsmaxime – auch in Bezug auf die judikative Staatsgewalt – ein vitales Fundament des freien, demokratischen Staatsganzen dar. Andererseits wurzelt die verfassungsrechtliche Prägung prinzipieller Gerichtsöffentlichkeit im rechtsstaatsprinzipiellen Transparenzgebot zur Kontrolle judikativer Praxis im gesellschaftlichen Raum: Die Berechenbarkeit staatlicher Machtausübung wird maßgeblich durch die Beobachtung der praktischen Umsetzung des „Rechts“ im gesellschaftlichen Raum gewährleistet. Zudem beschränkt sich das Konzept der Teilung der Staatsgewalten im modernen Rechtsstaat (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG) im Sinne eines çhecks and balances“ nicht etwa auf die Organe staatlicher Gewalt. Vielmehr stellt das Staatsvolk den obersten – plebiszitären – Kontrolleur dar. III. Neben diesen „klassischen“ Funktionen wird das Prinzip der Gerichtsöffentlichkeit in unserer modernen Mediengesellschaft mittlerweile maßgeblich – als mittelbare Medienöffentlichkeit – durch ihre Informationsfunktion geprägt. Als zentralen Informationsübermittlern kommt den Medien im Rahmen ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Unterstützung des Prozesses überindividueller Kommunikation eine gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion zu. Hiermit geht aufgrund der selektiven Übermittlung von Informationsinhalten ein großes Einwirkungspotential im Hinblick auf die öffentliche Meinung einher. Ohne demokratisch hierfür legitimiert zu sein, können die Medien zu dominierenden Impulsgebern in der öffentlichen Diskussion werden, wenn sie auf das Machtvakuum reagieren, welches dadurch entstehen kann, dass es die Politik versäumt, gemeinsam mit den Menschen Reformblockaden abzubauen und Visionen einer gesellschaftlichen Zukunft zu entwerfen. So entsteht die bedenkliche Konstellation, dass 22*

340

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

die Medien in parteipolitischen Krisen der parlamentarischen Demokratie – als „Vierte Gewalt“ – das politische Klima bestimmen. Als verfassungsrechtlicher Anker stellt Art. 5 Abs. 1 GG den rechtlichen Rahmen der Medienverantwortung für informationelle Daseinsvorsorge dar. Die grundgesetzliche Medienfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) ermöglicht den Medien die Herstellung „allgemein zugänglicher Quellen“ (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 3 GG), auf welche die Öffentlichkeit zur Information angewiesen ist. Die Möglichkeit zur Herstellung solcher medial zugänglichen Quellen kann im Einzelfall auf die Geltendmachung des Auskunfts- und Informationsanspruchs (vgl. §§ 4 Abs. 1, 23 Abs. 1 BerlPresseG) beschränkt sein.3

Viertes Kapitel I. Eine solche Beschränkung der Herstellung medial zugänglicher Quellen respektive der Befriedigung des öffentlichen Informationsinteresses auf behördliche Auskünfte oder Öffentlichkeitsarbeit existiert im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren. Diese Nichtöffentlichkeit wurzelt einerseits in institutionellen Erwägungen zum Schutze einer effektiven Strafverfolgung bzw. zur Unterstützung fairer Strafverfahrensstrukturen. Andererseits sollen die persönlichen Schutzbelange des Beschuldigten berücksichtigt werden. Daneben soll die Unbefangenheit derjeniger Personen geschützt werden, die als Richter, Zeugen oder Sachverständige am späteren Hauptverfahren beteiligt sein können. Um angesichts dieses „Einfalltores“ für Medienöffentlichkeit einer Erosion der Nichtöffentlichkeit im Ermittlungsverfahren vorzubeugen, sollen die Ermittlungsbehörden ihre Informationspolitik an eine sorgfältige Interessenabwägung im jeweiligen Einzelfall knüpfen. Mithin unterliegt die medienöffentliche Strafrechtspflege zur Manifestation plebiszitärer Staatsgewalt einer das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren verpflichtet die Legalitätsmaxime (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO) die Strafverfolgungsbehörden zu einer sachgerechten Sachverhaltsaufklärung ohne begünstigende Nachsicht oder benachteiligenden Übereifer. Ihr Ermittlungsprimat konkretisieren etwa die Inquisitionsmaxime (vgl. §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 1 und 2, 244 Abs. 2 StPO), der Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens (§ 161 StPO) und der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Gleichzeitig obliegt Staatsanwaltschaft und Polizei die Achtung individualrechtlicher – persönlicher und sozialer – Beschuldigtenbelange; diese Pflicht drückt sich etwa in der Beschleunigungsmaxime (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), der „fair trial“-Maxime (Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK) und dem Grundsatz staatsanwaltschaftlicher Fürsorgepflicht aus. Folglich beabsichtigt unsere Strafprozess3

3. Kap. E.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

341

ordnung eine gesetzliche Synthese zwischen der effektiven Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs einerseits und der fairen Würdigung der Beschuldigtenrechte andererseits. Hierin manifestiert sich ein grundlegendes liberal-rechtsstaatliches Anliegen strafjustizieller Selbstbeschränkung. II. In diesem Rahmen obliegt der Staatsanwaltschaft als rechtspflegendem Exekutivorgan die Träger- und Leitfunktion im Ermittlungsverfahren; sie wird als „Herrin“ des Ermittlungsverfahrens bezeichnet. Von entsprechend elementarer Relevanz für eine faire Ermittlungsführung ist die Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO), die den Staatsanwalt allerdings auch in einen nahezu unlösbaren Pflichtenkonflikt zwingt: Einerseits wiegen die (medien)öffentlichen Erwartungen an eine effektive Durchsetzung einer nachhaltigen Strafverfolgung vor dem Hintergrund einer gegenwärtigen Instrumentalisierung der Strafjustiz zur sozialen Stabilisierung besonders schwer. Andererseits wird der Staatsanwaltschaft gegenüber wiederum die ehrenwerte Zielvorstellung einer umfassenden und wahrheitsgetreuen Ermittlungspflicht erhoben (vgl. § 160 Abs. 2 StPO). Die rechtswirkliche Existenz dieses strafverfolgungsrechtlichen Dilemmas legt den Schluss nahe, dass die Objektivitätsmaxime (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund ist. III. Dabei können die Konsequenzen strafrechtlicher Ermittlungen schwerwiegenden Charakters sein: Für den Beschuldigten stellt die u. U. erstmalige Konfrontation mit der Institution „Staatsgewalt“ in persönlicher Hinsicht eine das soziale Vertrauen tief greifend verunsichernde Erfahrung dar. Wegen der zwangsweisen Unterwerfung unter die Staatsgewalt verspürt er den Verlust seines individuellen Status als souveräner Bürger. Darüber hinaus erfolgen ggf. heftige Reaktionen im gewohnten sozialen Umfeld: Insbesondere im Falle einer medialen Veröffentlichung der erhobenen Vorwürfe machen diese im Freundeskreis und im Kreise der Arbeitskollegen die Runde und üben vielleicht sogar Druck auf das familiäre Miteinander aus. Schließlich können strafrechtliche Ermittlungen in beruflicher Hinsicht gravierend nachteilige und möglicherweise sogar ruinöse Konsequenzen für den Beschuldigten verursachen: Viele Arbeitgeber sehen von einer Einstellung eines Arbeitsplatzbewerbers ab, sofern dieser von einem Ermittlungsverfahren betroffen ist. Unterhält der Beschuldigte Geschäftsbeziehungen, so könnten sich seine Geschäftspartner in Sorge um das eigene Renommee und um die ungewisse Zukunft dieser Geschäftsbeziehungen von ihm abwenden.4

Fünftes Kapitel I. Derartig schwerwiegende Konsequenzen für die Beschuldigtenbelange respektive für die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens können durch staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit verursacht werden, deren Rechtmäßigkeit 4

4. Kap. E.

342

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

sich in Folge der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägenden Begrenzung medienöffentlicher Strafrechtspflege an der Reichweite des § 4 Abs. 2 LPG orientiert. Möglicherweise konkret gefährdete Beschuldigtenbelange sind das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB) – und zwar in dessen speziellen Ausprägungen als „Recht auf Anonymität“ im Sinne einer Bild- und Namensanonymität (vgl. §§ 22 ff. KUG) und als „Recht auf Nicht-Entsozialisierung“ – respektive die beiden elementaren Prinzipien der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 2 EMRK) und des „fair trial“ (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK). II. Staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit ist besonders in politischen Ermittlungsverfahren zu beobachten, denen ein Sachverhalt zugrunde liegt, der unmittelbar dem politischen Leben in unserem Land entspringt und insofern an politische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anknüpft. Zudem kommt eine offensive Informationspolitik vor allem auch in durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägten Ermittlungsverfahren in Betracht. Diese Ermittlungsverfahren sind zwar nicht wegen einer politischen Prägung, so doch aber primär aufgrund der ihnen im Einzelfall zugrunde liegenden Deliktsvorwürfe charakterisierbar, die ihrerseits besonderes Aufsehen in der breiten Öffentlichkeit zu begründen geeignet sind. In diesen Ermittlungsverfahren kann oftmals beobachtet werden, dass gesellschaftliche Unsicherheiten, eine stimmungsaufheizende Medienberichterstattung oder politisches Kalkül auf die staatsanwaltschaftliche Informationspolitik übergreifen. Dann stehen der freie und liberale Charakter unserer Gesellschaft respektive die faire Prägung des modernen, liberalen Rechtsstaates auf der Probe: Die strafprozessualen Grenzen maßvoller Selbstbeschränkungen drohen überschritten zu werden, indem eine vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit durchgeführt wird, die – über die schlichte Information der breiten Öffentlichkeit hinaus – mithelfen soll, schnell und medienwirksam „den Schuldigen“ präsentieren zu können. Auf diese Weise kann ein Ermittlungsverfahren zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“ ausarten und zu einer medienöffentlichen Schuldvermutung oder sogar Schuldfeststellung zu Lasten des Beschuldigten führen, die zukünftig zu einem endgültigen, persönlichen Makel zu werden droht. III. Eine solche vorurteilsvolle Informationspolitik der Staatsanwaltschaft kann neben der konkreten medienöffentlichen Individualisierung des Beschuldigten durch folgende Merkmale geprägt sein: 1. Die einseitige Präsentation und frühe Beurteilung von Ermittlungserkenntnissen durch die federführende Ermittlungsbehörde, welche in der Bevölkerung als „amtlich“ bzw. „offiziell“ wahrgenommen werden. 2. Die medienöffentliche Erörterung nebulöser Mutmaßungen über weitreichende kriminelle Machenschaften in Bezug auf einzelne Regionen oder konkrete Branchen, welche eine ggf. ohnehin erregte Öffentlichkeit zusätzlich zu alarmieren geeignet sind.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

343

3. Die Anprangerung des Beschuldigten als Zentralgestalt eines mutmaßlich kriminellen Geschehens, beispielsweise durch die Verwendung assoziativer Schlagworte und die Reduzierung des Ermittlungssachverhaltes auf die Person des Beschuldigten als vorgeblichem „Paten“. 4. Im Ergebnis ist eine so verfolgerperspektivisch angeleitete Strafverfolgung durch die Staatsgewalt im Sinne einer liberal-rechtsstaatlichen Überzeugung untragbar.5

Sechstes Kapitel I. In Anbetracht dieser Gefährdungslage stellt sich die Frage nach dem Rechtsschutz des Beschuldigten vor vorurteilsvoller Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren. Konkret-individualisierende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren erfüllt die Straftatbestände des § 203 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 i.V.m. S. 1 Ziff. 1 StGB und der §§ 33 Abs. 1 i.V.m. 22 S. 1, 23 Abs. 1 Ziff. 1, Abs. 2 KUG. Im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung wurde eine Interessenabwägung zwischen dem individuellen Anonymitätsinteresse des Beschuldigten und dem öffentlichen Informationsinteresse notwendig. Diese hat vorliegend eine Bevorrechtigung des Anonymitätsinteresses ergeben. Mithin ist die öffentliche Individualisierung des Beschuldigten unzulässig. Hingegen ist allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren schon von vornherein nicht tatbestandsmäßig. II. Die präventiven und repressiven Ansätze zur Verbesserung des Rechtsschutzes der persönlichen bzw. sozialen Belange des Beschuldigten und der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens – aber auch des gesamten Strafverfahrens – vor einer Schädigung durch die allgemein-vorverurteilenden Einflussnahmen auf die öffentliche Meinung überzeugen im Ergebnis nicht. Dabei gilt vor allem im Hinblick auf den repressiven Rechtsschutz des Beschuldigten, dass dieser nur umfangreich erscheint. Dessen tatsächliche Wirksamkeit wird regelmäßig bescheiden ausfallen, da nicht mehr verhindert werden kann, dass die Öffentlichkeit durch ermittlungsbehördliche Medienauskünfte beeindruckt worden ist und der Beschuldigte demzufolge bereits durch das Stigma des „Kriminellen“ gekennzeichnet wird – semper aliquid haeret. Außerdem wird die eigenständige Durchsetzung repressiven Rechtsschutzes für den betroffenen Beschuldigten – neben dem Strafverfahren – regelmäßig eine erhebliche psychische und physische Zusatzbelastung darstellen. Diese Zusatzbelastung kann zudem ein erhebliches finanzielles Risiko bedeuten. Demgemäß kann sowohl die entsprechende objektive Fähigkeit als auch die subjektive Bereitschaft des Betroffenen beträchtlich reduziert sein. III. Gesamtbetrachtet stellt sich die Rechtsschutzsituation des Beschuldigten wie folgt dar: Die persönlichen respektive sozialen Belange des Beschuldigten und die faire Prägung des Ermittlungsverfahrens, aber auch der Institution „Strafverfah5

5. Kap. C.

344

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

ren“, sind vor einer Schädigung durch die vorurteilsvolle Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nur unzureichend geschützt. Mithin ist der liberal-rechtsstaatliche Charakter des modernen Strafverfahrens ernsthaft gefährdet.6

Siebtes Kapitel I. Entsprechende Überlegungen im Hinblick auf eine individuelle Verbesserung des Beschuldigtenschutzes und eine institutionelle Stärkung des fairen Ermittlungsverfahrens in unserer modernen Mediengesellschaft haben zunächst zur Feststellung einer übermäßigen, unfairen Machtfülle der Institution „Strafjustiz“ im Ermittlungsverfahren geführt. Dieser Befund erschließt sich durch die Gesamtbetrachtung verschiedener strafprozessrechtlicher Bausteine: die niedrige Einleitungsschwelle für strafrechtliche Ermittlungen, die Gefährdung einer inhaltlichobjektiven und zeitlich-stringenten Ermittlungsführung, die Gefahr eines „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschlusses des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren, das Fehlen eines gesetzlichen Ablösungsrechts für vermutlich befangene Staatsanwälte und schließlich das Fehlen von Rechtsschutz gegen nachteilige Verfahrensentscheidungen der Staatsanwaltschaft. Aufgrund dieser Machtfülle droht der Beschuldigte in die statusgeminderte Rolle eines Ermittlungsobjektes zu geraten. Zudem kann vor allem in Aufsehen erregenden Ermittlungsverfahren die Gefahr existieren, dass sich die Ermittlungen zu einer einseitig-öffentlichen „Inquisition“ entwickeln, wenn die herrschende Verfahrensstellung der Staatsanwaltschaft durch allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit verstärkt wird. Diese Gefahr wird insbesondere dann offenbar, wenn die staatsanwaltschaftliche Informationspolitik im Ermittlungsverfahren auf die medienöffentliche Verankerung einer Rollenverteilung zwischen ihr als „Aufklärerin“ – die bemüht ist, gesellschaftliche Konflikte zu beseitigen – und dem Beschuldigten als „Kriminellem“ gerichtet ist. II. Dieses unfaire „Kräfteverhältnis“ ist in höchstem Maße besorgniserregend. Dem ist im Rahmen angemessener Reformüberlegungen entgegenzutreten. Diese haben – in Bezug auf die Beteiligten des Ermittlungsverfahrens – was folgt ergeben: Dem Beschuldigten ist, im Hinblick auf den ggf. hohen medialen Stellenwert des Ermittlungsverfahrens, Rechtsschutz gegen Einleitungs- und Aufrechterhaltungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft zu gewähren. Im Hinblick auf die Gefahr eines „gesetzmäßigen“ informatorischen Ausschlusses des Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren ist die Einführung eines umfassenden Akteneinsichtsrechts nicht empfehlenswert. Gleichwohl ist neben der Neuregelung einer frühzeitigen Vernehmung eine Erweiterung dergestalt, dass für eine Verweigerung nur noch

6

6. Kap. C.

Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

345

konkrete Anhaltspunkte einer Gefährdung des Ermittlungszwecks ausreichen sollen, dringend angezeigt. Daneben stellt die Diskussion um die Ablösung eines vermutlich befangenen Staatsanwaltes einen Irrweg in der Kontroverse über die Stellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren dar. Die Objektivitätsmaxime des § 160 Abs. 2 StPO ist eher strafprozessrechtliches Postulat denn rechtswirklicher Befund. Demzufolge gilt, die Parteistellung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zu akzeptieren, wobei sie als Strafverfolgungsbehörde weiterhin an die rechtsstaatliche Pflicht gebunden bleibt, die Justizförmigkeit ihrer strafrechtlichen Ermittlungen zu wahren, d. h. diese am Maßstab der Gesetzmäßigkeit zu orientieren (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 170 Abs. 1 StPO). Aus diesen Feststellungen folgt für die gegenwärtigen Organisationsstrukturen der Staatsanwaltschaft: Das externe Weisungsrecht (vgl. §§ 146, 147 Ziff. 1, 2 GVG) der exekutiven Staatsgewalt sollte – insbesondere im Hinblick auf den Aspekt der Gewährleistung einer indirekten plebiszitären Kontrolle des Bereiches staatlicher Strafverfolgung – beibehalten werden. Dagegen ist der Status des Generalbundesanwaltes beim Bundesgerichtshof oder der Generalstaatsanwälte in einigen Bundesländern als „politische Beamte“ (vgl. §§ 31 Abs. 1 BRRG i.V.m. 36 Abs. 1 Ziff. 5 BBG oder LBG) endlich abzuschaffen. Schließlich sprechen gegen eine ermittlungsrichterliche Medienzuständigkeit neben dem praktischen Einwand der ermittlungsrechtlichen Sachnähe der Strafverfolgungsbehörden die Notwendigkeit des Schutzes der Integrität der Stellung des Ermittlungsrichters als rechtsstaatlicher Wächter im Ermittlungsverfahren und das demgemäße Bedürfnis der Wahrung einer klaren Umgrenzung dieser Wächterfunktion im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren. III. Im Hinblick auf den Ablauf des Ermittlungsverfahrens haben die vorstehenden Überlegungen zunächst ergeben, dass sich eine nähere Konkretisierung des Fairnessprinzips durch die Einführung einer Regelung fairer Öffentlichkeitsarbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (vgl. „§ 160a StPO“) empfiehlt. Darüber hinaus ist eine Beschränkung medialer „Ermittlungen“, d. h. journalistischer Recherchen, grundsätzlich nicht empfehlenswert, obgleich engere Recherchegrenzen zum Schutze der fairen Prägung des Ermittlungsverfahrens für den Fall erforderlich werden könnten, dass die Strafverfolgungsbehörden bereits ermitteln. Daneben begegnet eine redliche Kooperation des Strafverteidigers mit den Medien, welche regelmäßig auf eine faire Berücksichtigung des Standpunktes des Beschuldigten gerichtet sein soll, keinen grundsätzlichen Bedenken. Weiterhin ist ein wesentlicher Abbau des strafprozessualen Funktionsmechanismus des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts respektive des Beschlagnahmeschutzes (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Ziff. 5 S. 2,3 und Abs. 2 S. 2,3 i.V.m. § 97 Abs. 5 StPO) abzulehnen. Angesichts seiner elementaren Bedeutung für die Grundfeste des freien und liberalen Rechtsstaates sollte sich die Staatsgewalt an dieser Stelle – trotz drohender Missbrauchsgefahren – selbstbeschränkend offenbaren. Gleich-

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Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

wohl sind die Journalisten respektive die Medien insgesamt aufgerufen, die grundlegende, gesellschaftliche Verantwortlichkeit anzuerkennen, die ihrer Recherchefreiheit zugrunde liegt. Dementsprechend soll diese strafprozessuale Privilegierung nicht ihre ökonomische Wettbewerbsfähigkeit bei der Medienberichterstattung gewährleisten, sondern vielmehr die rechtschaffene Wahrnehmung der elementaren Gesellschaftsaufgabe zu informationeller Daseinsvorsorge unterstützen. Schließlich hat die Untersuchung in Bezug auf sog. „Vorermittlungen“ am Beispiel des FDP-Parteispendenskandals bzw. des Falles Jürgen Möllemann ergeben, dass Vorermittlungen als höchst problematisch einzustufen sind, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden dazu genutzt werden, im Rahmen einer Ankündigung strafrechtlicher Ermittlungen eine vorurteilsvolle Öffentlichkeitsarbeit sogar bereits im „Vorermittlungsverfahren“ zu betreiben. In diesem Fall verkehrt sich ein wesentlicher Sinn und Zweck solcher Vorermittlungen, prominente Persönlichkeiten vor einer öffentlichen Konfrontation mit – ggf. haltlosen – Vorwürfen zu schützen, ins Gegenteil.7

7

7. Kap. C.

Schlussbemerkungen Unsere Überlegungen zur Verbesserung des individuellen Schutzes des Beschuldigten vor einer öffentlichen Vorverurteilung durch ermittlungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit bereits im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren knüpfen an verschiedene strafverfahrensrechtlich-institutionelle Gesichtspunkte der gegenwärtigen Architektur des modernen Strafverfahrens an. Hinter diesem Ansatz verbirgt sich der unauflösbare Zusammenhang dieser Überlegungen in individualrechtlicher Hinsicht mit Aspekten der institutionellen Stärkung der fairen Prägung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Als liberal-rechtsstaatliche Schutzgewähr vor zweckorientierten Übergriffen zur Beseitigung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und moralischer „Großstörungen“1 beansprucht diese Prägung absolute Wirksamkeit. Gleichwohl ist sie im Hinblick auf gegenwärtige Einflüsse der modernen Mediengesellschaft ernsthaft gefährdet. Hierdurch ist wiederum der liberal-rechtsstaatliche Charakter des modernen Strafverfahrens insgesamt bedroht. Gleichzeitig gilt, dass ein freier – aber auch fairer – Informations- und Meinungsaustausch zur Wahrung individueller Freiheit unerlässlich ist. In unserer modernen Mediengesellschaft stehen die Medien in der gesellschaftlichen Funktion, zentrale Informationsübermittler zu sein. Durch ihre Berichterstattung über Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur leisten sie informationelle Daseinsvorsorge, ermöglichen transindividuelle Kommunikation und stellen schließlich „öffentliches Leben“ her. Die Medien führen die Menschen als Gemeinwesen zusammen und fungieren hierin als unentbehrliches Korrektiv gegenüber der staatlichen Macht. Hierdurch manifestiert sich die Kontrollfunktion der plebiszitären Staatsgewalt als Grundlage des freien und demokratischen Staatsganzen, dessen liberal-rechtsstaatlicher Gehalt sich in strafverfahrensrechtlicher Hinsicht u. a. durch eine das strafrechtliche Ermittlungsverfahren prägende Begrenzung medialer Justizöffentlichkeit offenbart. Versäumen nunmehr die Volksvertreter – versäumt es Politik insgesamt –, lähmende Reformblockaden zu überwinden und gesellschaftliche Strukturdefizite zu beheben, indem gemeinsam mit den Menschen Visionen einer gemeinsamen Zukunft entworfen werden, so entsteht ein Machtvakuum, in dessen Folge ein Prozess sozialer Verunsicherung und Destabilisierung einsetzt. In diesem Prozess werden die Medien, kraft ihrer zentralen gesellschaftlichen Informationsfunktion, zu dominierenden Impulsgebern des öffentlichen Diskurses, d. h. bestimmen die Medien 1

Herzog (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozeß?, S. 21 (29).

348

Schlussbemerkungen

als „Vierte Gewalt“ in parteipolitischen Schwächephasen das politische Klima – ohne hierfür demokratisch legitimiert zu sein. Wird in diesem Szenario nunmehr – handlungsentschlossen – auf unser Kriminaljustizsystem als vermeintlich schlagkräftiges respektive effizientes Instrument gesellschaftlicher Stabilisierung zurückgegriffen, um heraufziehenden Konflikten vorzubeugen oder bereits existierende Kontroversen zu beseitigen, werden die Strafverfolgungsbehörden bereits im Ermittlungsverfahren unter massiven Zugzwang gesetzt, „den Schuldigen“ möglichst schnell zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Strafverfahren, d. h. insbesondere bereits Ermittlungsverfahren, werden so zu einem zentralen Bestandteil der medialen Kriminalberichterstattung. Diese kann ihrerseits – etwa aufgrund ihrer kommerziellen Orientierung – darauf angelegt sein, entsprechende Erwartungen der Menschen mittels einer medienöffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten zu schüren. Angesichts dieser medialen „Eingriffe“ in Ermittlungsverfahren stehen die Strafverfolgungsbehörden als zentrale Auskunftsquellen in unserer Mediengesellschaft vor neuen Herausforderungen: Dem Beschuldigten drohen schwerwiegende persönliche, soziale und berufliche Belastungen, so dass den Ermittlungsbehörden die verantwortungsvolle Aufgabe zukommt, ihre Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren vor allem unter sorgfältiger Abwägung der widerstreitenden Interessen kontrolliert durchzuführen. Werden die Medien zukünftig bereit sein, von ihrer oftmals rücksichtslosen Kriminalberichterstattung abzulassen? Der massive ökonomische Druck und das damit korrespondierende Streben nach höheren Marktanteilen als prägende Merkmale der alltäglichen Medienberichterstattungspraxis im modernen Informationsund Medienzeitalter lassen äußerst skeptisch in die Zukunft blicken. Zudem bereitet die in den vergangenen Jahren oftmals vorurteilsvoll geprägte Informationspraxis der Staatsanwaltschaft große Sorge: Ihre Praxis spricht gerade nicht dafür, dass die Staatsanwaltschaft derzeit ihre gewandelte Verantwortung in der modernen Medienöffentlichkeit verinnerlicht hat: Immer wieder führt die Information der breiten Öffentlichkeit dazu, dass sich das Ermittlungsverfahren zur einseitigöffentlichen „Inquisition“ entwickelt. In Anbetracht dieser Analyse sind die vorstehenden Überlegungen als Vorschläge aufzufassen, um die in unserer Mediengesellschaft gewandelten Rahmenbedingungen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu berücksichtigen. Gleichwohl verbleibt die entsprechende individuelle Verantwortung jedes Einzelnen. Die Menschen bilden zusammen das Gemeinwesen. Ihnen kommt nach der Vorstellung unserer repräsentativ-demokratischen Staatsverfassung die originäre – plebiszitäre – Staatsgewalt zu. Hiermit geht gleichzeitig eine ebenso elementare wie gleichermaßen originäre Verantwortung einher: Nicht die Volksvertreter, nicht die Politik, sondern die Menschen selbst sind für ihre gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen verantwortlich. Verhältnisse und Entwicklungen einer Gemeinschaft werden, hoffnungsvoll, vor allem im gesellschaftsübergreifenden

Schlussbemerkungen

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Konsens aufrechterhalten oder verändert. Diesem Konsens geht eine individuelle Entscheidung jedes Einzelnen voraus, deren Qualität ihrerseits wiederum mit der Qualität der diese Entscheidungen veranlassenden Informationen korrespondiert. Nur derjenige, der Informationen sorgfältig aufnimmt, wird in der Lage sein, gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen zutreffend einzuschätzen und demgemäß beeinflussen zu können. Dabei ist eine selbstverschuldete Begrenzung der eigenen Ansprüche an die Qualität von Informationen mit dem zugrunde liegenden Verantwortungsmaßstab unvereinbar. Vielmehr handelt es sich um eine Form individueller Selbstentmündigung, in deren Vollzug Vernunft und Vorsicht als grundlegende Handlungsmaximen verloren zu gehen drohen. Derart kritiklose Verhältnisse begünstigen gesellschaftliche Reaktionen auf Strafverfahren, die einer sozialen Diskreditierung des Beschuldigten gleichkommen.

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Sachregister Akteneinsicht – vor staatsanwaltschaftlichen Pressekonferenzen im Ermittlungsverfahren 259 Akteneinsichtsrecht – Anfechtbarkeit einer Versagung 280 – des Rechtsanwaltes des Verletzten 115 – des Strafverteidigers 115, 333 – Erweiterung, siehe Ermittlungsverfahren 295 – Kernstück der Strafverteidigung 279 – 280 – nach Abschluss der Ermittlungen 126 – Voraussetzungen der Versagung 280 allgemeine Gesetze – §§ 203 StGB, 23 KUG (bei staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit) 239 Allgemeine Persönlichkeitsrecht 162, 168, 218, 246, 342 – Entstehungsgeschichte 159 – Recht auf Anonymität als Recht auf Bildund Namensanonymität 168, 218, 342, 160 – Recht auf Nicht-Entsozialisierung 162, 168, 218, 247, 342 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 52 amtliche Schriftstücke, Tatbestandsmerkmal (§ 353d StGB) 226 Amtsträger – Tatbestandsmerkmal – § 203 StGB 222 – § 353b StGB 224 Anfangsverdacht, siehe Ermittlungsverfahren 119 Anklageerhebung – als Zeitpunkt zur Begründung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten 231 Anklageschrift – Tatbestandsmerkmal (§ 353d StGB) 226

Anonymitätsinteresse – des Beschuldigten, siehe Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren 249 Aufgaben der öffentlichen Verwaltung – Tatbestandsmerkmal (§ 203 StGB) 223 Aufklärung – aufgeklärter Absolutismus 64 – bürgerliche Kernforderung nach Offenlegung hoheitlicher Entscheidungsprozesse 68, 73, 105, 133 – Forderung nach Gesamtreform des Strafrechts 62 – geistiges Fundament des reformierten Strafverfahrens 67 – Gesellschaftsvertrag 62 – Vernunft als Grundlage einer neuen politischen Staatsverfassung 60 Auskunftsanspruch – Beschränkungen 313 – Grundlage medialer Informationserlangung und -übermittlung 104, 108, 316, 340 – Konkretisierung 314 – Landespressegesetze 151 – normative Legitimationswirkung 151, 153 – Rechtsnatur 105 – Sinn und Zweck 150 – 151 – und grundgesetzliche Medienfreiheiten 151 – zur Informationserlangung im Ermittlungsverfahren 115, 116, 144 Befangenheit – des Staatsanwaltes, siehe Ermittlungsverfahren 285 Befreiungskriege 63 – 64 Berichterstattung, siehe Kriminalberichterstattung 289

Sachregister Beschlagnahmeschutz, medialer, siehe Medien 322 Beschleunigungsmaxime, siehe Ermittlungsverfahren 120 Beschuldigter 140 – Beschuldigteneigenschaft 140 – Verfahrenssubjekt 140 Bestimmtheitsgebot – und criminal contempt of court 253 Beweiserhebungsverbot 114 Beweisverwertungsverbot 114 Bildnis – im Sinne des KUG 228 Bundesrat 54 Bundestag 54 – Geschäftsordnung, siehe Immunität 329 checks and balances, siehe Gewaltenteilung 93 code d’instruction criminelle 62 – 63 criminal contempt of court 252 DDR-Staatsunrecht – Aufarbeitung und Bewältigung DDRStaatsunrecht 214 Demokratie – Minderheitenschutz 90 – parlamentarische 100 – plebiszitäre Delegation 88 – plebiszitäre Kontrolle 89, 93 – Informationsinteresse an Beschuldigtenidentität, siehe Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren 242 – plebiszitäre Staatsgewalt 150 – pluralistisches Gemeinwesen 90 – repräsentative 87, 89 Demokratiemaxime, siehe Gerichtsöffentlichkeit 87 Deutscher Bund 64 Deutscher Presserat – Beschwerdeausschuss 30 Deutsches Reich 66 Dispositionsmaxime – zivilrechtliche 121 Drittes Reich 68

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Durchsuchung 141, 170, 310 – 311 – ergebnisneutraler Ermittlungsschritt 194, 199, 206 effektiver Rechtsschutz, siehe Rechtsschutz 289 einstweiliger Rechtsschutz – bei strafverfolgungsbehördlichen Äußerungen 262 Einwilligung – in Bildnisveröffentlichung 228 Einzelangabe über persönliche und sachliche Verhältnisse – Tatbestandsmerkmal (§ 203 StGB) 223 Ermittlungsbehörden, siehe Strafverfolgungsbehörden 152 Ermittlungsrichter – Medienzuständigkeit im Ermittlungsverfahren, siehe Ermittlungsverfahren 310 – rechtsstaatlicher Wächter im Ermittlungsverfahren 310, 334, 345 Ermittlungsverfahren – Anfangsverdacht 119, 140, 145, 275 – 276 – Beschleunigungsmaxime 120, 145, 277, 340 – durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägte 188, 218, 217 – effektive Ermittlungsdurchführung und Wahrung der Beschuldigtenrechte 127 – Einschränkungen der Nichtöffentlichkeit 115 – Grundsatz der freien Gestaltung der Ermittlungen 122, 145, 340 – Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung 122, 145, 340 – Grundsatz staatsanwaltschaftlicher Fürsorgepflicht 126, 145, 340 – Inquisitionsmaxime 121, 145, 340 – inquisitorische Geheimjustiz 113 – Kräfteverhältnis – Herstellung eines fairen 331, 344 – Ablehnung eines Ablösungsrechtes für mutmaßlich befangene Staatsanwälte 333 – Abschaffung des politischen Status des Generalbundes- und Generalstaatsanwaltes 345

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Sachregister

– Einführung eines § 160a StPO 316, 334, 345 – ermittlungsrichterliche Medienzuständigkeit 311, 334, 345 – Stellung der Staatsanwaltschaft 309 – Ablehnung eines Ablösungsrechtes bei mutmaßlich befangenem Staatsanwalt 344 – 345 – Ablehnung eines Ablösungsrechtes für mutmaßlich befangene Staatsanwälte 297, 308 – Abschaffung des politischen Status des Generalbundes- und Generalstaatsanwaltes 305, 334 – Akzeptanz ihrer Parteistellung 308 – Stellung des Beschuldigten – erweitertes Aktieneinsichtsrecht und frühe Vernehmung 295 – Rechtsschutz gegen belastende Verfahrensentscheidungen 292 – 295, 344 – unfaires 332 – fehlender Rechtsschutz bei belastenden Verfahrensentscheidungen 286, 344 – fehlendes Ablösungsrecht bei mutmaßlich befangenem Staatsanwalt 285 – Gefährdung der objektiven Ermittlungsführung 278, 344 – informatorischer Ausschluss des Beschuldigten hinsichtlich Vernehmung und Akteneinsicht 281, 344 – niedrige Einleitungsschwelle 276, 344 – Legalitätsmaxime 119, 145 – 146, 305, 340 – Nichtöffentlichkeit 113, 144, 340 – Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten 144, 340 – Nichtöffentlichkeit und Anonymitätsinteresse des Beschuldigten 243 – Offizialmaxime 119 – Opportunitätsmaxime 119 – persönliche, soziale und berufliche Folgen 144, 147, 276 – 277, 288 – 289, 341 – politische 172, 187 – 188, 218 – Reformüberlegungen hinsichtlich der Beteiligten und des Ablaufs 336 – Schwerpunkt des heutigen Strafverfahrens 40, 143, 147 – Sinn und Zweck 117

– sozialer Stellenwert 41 – 44, 49, 337 – unfaires 287 fair trial-Maxime – Grundsatz der Waffengleicheit 114, 116, 144 – Herleitung, Sinn und Zweck 125, 340 – Konkretisierung durch gesetzliche Regelung fairer Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren 315 – Schutzrecht des Beschuldigten gegen staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren 169, 218, 342, 168 – und RiStBV 125 Frankfurter Bundesversammlung 65 Frankfurter Reichsverfassung 66 Französische Revolution 63 Geheimnis – Tatbestandsmerkmal (§ 203 StGB) 223 Generalbundesanwalt – politischer Beamter, siehe Ermittlungsverfahren 297 Generalstaatsanwalt – politischer Beamter, siehe Ermittlungsverfahren 299 Gerichtsöffentlichkeit – Bedeutungswandel 80 – Bedeutungszuwachs der mittelbaren Gerichtsöffentlichkeit 70, 96 – Demokratiemaxime 91, 106, 339 – Durchbrechung des individuellen Anonymitätsschutzes 243 – Durchsetzung der Strafzwecke 84, 339 – Einschränkungen 68, 74 – Element des liberalen Rechtsstaats 73, 338 – historische Entwicklung 72 – Kontrollfunktion 82, 106, 339 – Medienfreiheiten 105, 339 – Rechtsstaatsmaxime 94, 107, 339 – Schutz der richterlichen Unabhängigkeit 81, 106, 339 – Strukturwandel zu medialer Gerichtsöffentlichkeit 97 – Vermittlung von Rechtskenntnissen 84, 106, 339

Sachregister Gerichtsverfassungsgesetz – Einführung des § 169 S. 2 GVG 71, 73 – Kodifizierung 66 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, siehe Immunität 329 Gesellschaft – Entwicklung zur Mediengesellschaft 37, 312, 338 – Gesellschaftssystem und Machtstrukturen 99, 339 – industrielle Massengesellschaft, siehe Industrialisierung 306 – Kulturkonsum 80, 106 – Machtvakuum durch Reformblockaden 100, 107, 339 – Massengesellschaft und Kriminalitätsentwicklung 306 – Massenkultur 79 – modernes Informations- und Medienzeitalter 36, 96, 337 – Prozess gesellschaftlicher Destabilisierung 38, 49, 337 – Reformstau 38 Gesetz betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen (1846) 134 Gesetz zur Entlastung der Gerichte (1921) 135 Gewaltenteilung 93, 339 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nationen 63 Immunität – parlamentarische 331 – 335 – Anlage zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages 329 – Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung 329 – Eingriff 330 – Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages 329 – Geschäftsordnungsautonomie 329 – Globalermächtigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen Abgeordnete 331 – Parlamentsautonomie 329 25 Neuling

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– subjektives Schutzrecht 330 Industrialisierung 77 – industrielle Massengesellschaft 79 – 80, 106, 339 Information – Informationsinteresse an Beschuldigtenidentität, siehe Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren 242 – Informationssperre 148 – 149 – Informationstechnologien 36, 96, 98 – Wirtschaftsgut 37 Inquisition – durch strafrechtliche Ermittlungen und öffentliche Vorverurteilung 30, 33, 44, 50, 168, 187 – durch strafverfolgungsbehördliche Öffentlichkeitsarbeit 166, 197 – Entwicklung des Ermittlungsverfahrens zur 49, 149, 153, 172, 177, 185, 218, 221, 274, 281, 312, 331 – 332, 337, 342, 344 – inquisitorische Geheimjustiz 111 – 112 – inquisitorisches Strafverfahren des Mittelalters 58, 73, 290 Inquisitionsmaxime, siehe Ermittlungsverfahren 121 Karlsbader Beschlüsse 65 Klagebegehren – des Beschuldigten bei strafverfolgungsbehördlichen Äußerungen 262 Königlich Rheinische Immediat-Justizkommission 63 Kriminalberichterstattung – Fall Anna Lindh 31 – Fall Datenlöschung bei Regierungswechsel 30 – Fall der getöteten Geschwister von Eschweiler 31 – Fall Eisbären Berlin 31 – Fall Friedman 29, 148, 289 – Fall Möllemann 329 – rücksichtslose 34, 44, 48, 312, 331 – 332, 337 – über Parlamentarier 331 Kriminalpolitik 304 Kriminaltechnik 121, 138

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Sachregister

Landespressegesetze, siehe Auskunftsanspruch 151 Legalitätsmaxime, siehe Ermittlungsverfahren 118 Medien – eigene Ermittlungen 319, 345 – gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion 107 – gesellschaftliches Machtpotential 99 – 100 – grundsetzliche Medienfreiheiten, siehe Gerichtsöffentlichkeit 108 – grundgesetzlicher Schutz durch Medienfreiheiten 319, 326 – Informant 321 – informationelle Daseinsvorsorge 102, 105 – 108, 116, 151, 240, 314, 316, 320, 326, 337, 340, 346 – Kontakte mit Strafverteidigern, siehe Strafverteidiger 319 – massenmediale Kommunikation 101 – Medienermittlungen 334 – politische Kontroll- und Kritikfunktion 100 – Pressekodex 25 – Prozess überindividueller Kommunikation 98, 339 – Recherche- und Berichterstattungsmethoden 32, 325 – Redaktionsgeheimnis 319 – soziale Stabilisierungsfunktion 98, 339 – vierte Staatsgewalt 101, 108, 340 – wirtschaftlicher Druck aufgrund harten Wettbewerbs 34, 44, 49, 337 – zentrale Informationsübermittler 99, 100, 102, 107 – 108, 151, 240, 334, 339 – Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeschutz 345 – journalistische Praxis 323, 335 – kritische Beurteilung 326 – Sinn und Zweck 322, 335 Mittelalter – Entwicklung der Sanktionssysteme 57 – kirchliche Ketzerinquisition 59 – mittelalterliche Feudalgesellschaft 75

Nationalsozialismus – Abschaffung der richterlichen Unabhängigkeit 69 – Sondergerichte 69 – Überwachung des Pressewesens 69 – Volksgemeinschaftsprinzip 69 – volksöffentlicher Strafprozess 69, 73 Norddeutscher Bund 66 Notstand – rechtfertigender, siehe Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren 237 Objektivitätsmaxime, siehe Staatsanwaltschaft 234 Offenbarungsrechte und -pflichten – gesetzliche, siehe Rechtswidrigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit 236 öffentlich – Begriff 53 öffentliches Interesse – im Strafverfahrensrecht 55 – wichtiges (§ 353b StGB) 224 Öffentlichkeit – als verfassungsunmittelbare Maxime 55, 72, 339 – Begriff 54, 338 – bürgerliche 75 – 76, 78, 106 – gerichtsverfassungsrechtlicher Grundsatz (§ 169 S. 1 GVG, Art. 6 Abs. 1 S. 1, 2 EMRK) 56, 72 – literarische 76 – öffentliches Räsonnement 76 – politische 79, 80 – repräsentative 75 – Strukturwandel 80 Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren – betroffene Beschuldigtenrechte 169 – durch aufsehenerregende Deliktsvorwürfe geprägte Ermittlungsverfahren 188, 218, 342 – Affäre Mannesmann 39, 205, 289 – Ermittlungsfall Terroranschlag 217 – FAG-Korruptionsfall 199 – Fall co op 195 – Frankfurter Bestechungsaffäre 192

Sachregister – – – – – – – – – – – – – – –

Herzklappen-Affäre 206 Hobbymaler-Korruptionsskandal 190 Honecker- und Politbüro-Prozeß 214 Iduna-Immobilienskandal 191 Kardiologen-Betrugsskandal 206 Lübecker Asylheim Katastrophe 210 Mordbuben von Solingen 209 Mörder von Mölln 208 Mordfall Monika Weimar 197 Münchner Korruptionsaffäre 198 Transnuklear-Skandal 193 VW-Netzwerk-Affäre 200 Waffen-Affäre 199 Weinpanscher-Skandal 196 WestLB-Steuerhinterziehungs-Affäre 202 – Integration der Medien 172 – politische Ermittlungsverfahren 172, 187, 218, 342 – CDU-Parteispenden-Skandal 183 – Flick- und Parteispendenaffäre 177, 250 – Naphtali-Spendenaffäre 178 – SPD-Müll- und Spenden-Skandal 186 – U-Boot-Affäre 179 – Waterkantgate-Affäre 179 – Rechtsgrundlagen 156, 217 – Rechtswidrigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit 343 – Anonymitätsinteresse des Beschuldigten 249 – öffentliches Informationsinteresse an Beschuldigtenidentität 242, 250 – Strafbarkeit 250, 343 – Tatbestandsmäßigkeit – verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen (§ 353d StGB) 227 – Verletzung von Dienstgeheimnissen (§ 353b StGB) 226 – Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB) 224 – Veröffentlichung von Bildnissen (§§ 33 i.V.m. 22 f. KUG) 236 – vorurteilsvolle Merkmale 188, 219, 342 Offizialmaxime, siehe Ermittlungsverfahren 119 Opportunitätsmaxime, siehe Ermittlungsverfahren 119 25*

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parlamentarischer Untersuchungsausschuss 54 – Watergantgate-Affäre 178 Parlamentsöffentlichkeit 86 Parteien – gesellschaftspolitische Leitfunktion 100 Person der Zeitgeschichte 236 – absolute 228 – Anfangsverdacht und relative Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten 232 – bisherige Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten 231 – dringender Tatverdacht und relative Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten 233 – hinreichender Tatverdacht und relative Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten 233 – neuer Ansatz zur Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten 236 – relative 229 – strafrechtliches Ermittlungsverfahren als zeitgeschichtliches Ereignis 229 Pflichtverteidiger – Bestellung nach Abschluss der Ermittlungen 126 Polenaufstand (1846) 134 Polizei – erster Zugriff 139 – Rechtsstellung im Ermittlungsverfahren 139 Presse, siehe Medien 101 Recht am eigenen Bild, Schutzzweck der §§ 22 ff. KUG 228 rechtliches Gehör, und Vernehmung des Beschuldigten 279 Rechtsschutz – gegen allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren – kritische Beurteilung 259, 267, 273 – präventiver 259 – Einführung einer Regelung der mittelbaren (Medien) Öffentlichkeit im GVG 256

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Sachregister

– Verschärfung der RiStBV und der medialen Selbstkontrolle 255 – Verschärfung des geltenden Strafrechts 255 – repressiver 271 – Amtshaftung 204, 271 – Schmerzensgeld 270 – Aufhebung und Widerruf einer strafverfolgungsbehördlichen Äußerung 264 – Gegendarstellung 267 – Schadensersatz 204 – Schmerzensgeld 204 – Unterlassungsanspruch 265, 271 – gegen belastende Verfahrensentscheidungen im Ermittlungsverfahren, siehe Ermittlungsverfahren 286 Rechtsstaatsmaxime, siehe Gerichtsöffentlichkeit 91 Rechtswegeröffnung – bei strafverfolgungsbehördlichen Äußerungen 260 Rechtswidrigkeit konkret-individualisierender Öffentlichkeitsarbeit – gesetzliche Offenbarungsrechte und -pflichten 236 – rechtfertigender Notstand 238 Redaktionsgeheimnis, siehe Medien 319 Reichs-Strafprozessordnung – Legalitätsmaxime 135 – Objektivitätsmaxime 135 – Opportunitätsmaxime 135 Rheinbundstaaten 63 Richtervorbehalt – bei Abhörmaßnahmen 291 Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) – Rechtsgrundlage für Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren 156 – Verschärfung, siehe Rechtsschutz gegen allgemein-vorverurteilende Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren 255 Rückwirkungsverbot – Kontroverse um die Ahndung von DDRStaatsunrecht 212

Staatsanwaltschaft – Ablösungrecht bei mutmaßlich befangenem Staatsanwalt, siehe Ermittlungsverfahren 285 – Abschaffung des politischen Status des Generalbundes- und Generalstaatsanwaltes, siehe Ermittlungsverfahren 305 – Abschaffung des politischer Status, Generalbundesanwalt, Einfluss des Justizministers 309 – Auferlegung von Schweigegeboten ggü. Zeugen nach Vernehmung 279 – Bundesanwälte 297 – Devolutions- und Substitutionsrecht 282, 298, 308 – externes Weisungsrecht 299, 309, 333 – Demokratiemaxime 306 – doppelte Remonstrationspflicht 308 – Einfluss des Justizministers 306 – Legalitätsmaxime 307, 309 – politische Weisungsabhängigkeit 308 – Generalbundesanwalt 297, 299 – 300, 305, 307, 309 – Generalstaatsanwalt 298 – 299, 301 – 305, 309 – Herrin des Ermittlungsverfahrens 130, 137, 146, 172, 306, 341 – historische Fundierung der Objektivitätsmaxime 146, 136 – internes Weisungsrecht 299 – Leitender Oberstaatsanwalt 298, 302 – Notstaatsanwalt 118 – Oberbundesanwalt 299 – Objektivitätsmaxime 133, 146, 166, 234, 277 – 278, 308, 333, 341, 345 – als Befangenheitsgrund 296 – objektivste Behörde der Welt 133 – Partei des Strafverfahrens 131, 306, 309, 333, 345 – Konsequenzen der Akzeptanz ihrer Parteistellung, siehe Ermittlungsverfahren 308 – politischer Status – Generalbundesanwalt, Einfluss des Justizministerium – Generalstaatsanwalt, Einfluss des Justizministers 302

Sachregister – Rechtsstellung als rechtspflegendes Exekutivorgan 129, 136, 145, 306, 341 Staatsgewalt – exekutive 87, 89 – 90, 128, 303 – 304, 306 – judikative 87, 89 – 90, 93, 128 – 129, 305, 339 – legislative 87, 89 – 90, 93 – vierte, siehe Medien 108 Staatsvolk 87 – 90, 93, 306, 339 Stein-Hardenberg’sche Reformen 64 Stigmatisierung, siehe Vorverurteilung 142 Strafantrag 117 – im engen Sinn 117 – im weiten Sinn 117 Strafanzeige 117, 138 Strafbefehl 126 Strafjustiz – Instrument zur Sozialsteuerung 40, 44 – 45, 49, 337 Strafverfolgungsbehörden – Aufgaben und Funktionen im Ermittlungsverfahren 145 – Auskunftsquellen der Medien 43, 49, 149, 251, 312, 337 – Ermessen hinsichtlich Auskunftserteilung im Ermittlungsverfahren 152 – Ermittlungsprimat 154 – Vernehmung des Beschuldigten 279 – vor neuen Herausforderungen 44, 49 Strafverteidiger – Anwesenheitsrecht bei Vernehmungen 114 – Medienkontakte 319, 334, 345 Strafzweck – Generalprävention – negative 83 – positive 83 – relative Straftheorie 82 – Spezialprävention – negative 83 – positive 83 Tatverdacht – Bestimmung der relativen Zeitgeschichtlichkeit des Beschuldigten, siehe Person der Zeitgeschichte 233 – hinreichender 126

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Unbefangenheit – Schutzzweck des § 353d StGB 226 unbefugt – Tatbestandsmerkmal (§ 203 StGB) 223 Unschuldsvermutung 166 – 168, 218, 342 – Anonymitätsinteresse des Beschuldigten 249 – öffentliches Informationsinteresse an der Beschuldigtenidentität 241 Untersuchungsausschuss, siehe parlamentarischer Untersuchungsausschuss 54 Untersuchungshaft 120, 141 Vernehmung – des Beschuldigten 278, 333 Vernehmungsmethode – verbotene 114 Verordnung zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges (1944) 136 vierte Gewalt, siehe Medien 340 Vorermittlungen 119, 335, 346 – als medienwirksamer Ermittlungsauftakt, Fall Möllemann Vorermittl 331 – Anfangsverdacht 326 – 327 – Legalitätsmaxime 326 Vorfreispruch 318 – 319 Vormärz 65 Vorverurteilung – Aspekte des rechtswissenschaftlichen Diskurses 45 – durch staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren – Diskussionsstand 47 – Element staatsanwaltschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ermittlungsverfahren 188, 219 – Gefahr der Beeinflussung von Verfahrensbeteiligten 250 – gesetzgeberische Initiative zur Verhinderung von 251 – Phänomen der modernen Mediengesellschaft 25 – semper aliquid haeret 264, 343 – Stigmatisierung als Krimineller 142, 194, 247, 250, 277, 343

390

Sachregister

Wartburgfest 64 Weimarer Republik 68 Weisungsrecht – internes und externes, siehe Ermittlungsverfahren, Staatsanwaltschaft 299 Wiener Kongress 63 – 64 Wirtschaftskriminalität 138 – staatsanwaltschaftliche Öffentlichkeitsarbeit in solchen Ermittlungsverfahren 195, 205

Wirtschaftsstrafrecht 132 Zeitgeschichte – Person der, siehe Person der Zeitgeschichte 236 Zeugnisverweigerungsrecht – mediales, siehe Medien 322 Zwischenverfahren – Sinn und Zweck 234, 291