Informalisierung des Rechts: Empirische Untersuchungen zur Handhabung und zu den Grenzen der Opportunität im Jugendstrafrecht 9783110867763, 9783110127096


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German Pages 594 [596] Year 1990

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Table of contents :
Exekutivisches Recht — Eine Einführung in empirische Analysen zur staatsanwaltschaftlichen Diversion in Nordrhein-Westfalen —
1 Gegenstand der Untersuchungen
2 Ziele und Wirkungen von Diversion im Kontext eines Formenwandels strafrechtlicher Sozialkontrolle
2.1 Kriminologisch-kriminalpolitische Intentionen und Wirkungen der Diversionsbewegung
2.2 Formenwandel strafrechtlicher Sozialkontrolle: exekutivisches Recht
3 Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem: Implementation, Organisation, Wirkungen
3.1 Landesweite Aktenuntersuchung
3.1.1 Empirische Befunde
3.1.2 Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen
3.2 Landesweite Befragung der Staatsanwälte
3.2.1 Empirische Befunde
3.2.2 Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen
3.3 Vermittlung präventionsrelevanter Informationen durch die Polizei für die Diversionsentscheidung des Staatsanwalts
3.3.1 Empirische Befunde
3.3.2 Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen
3.4 Implementations- und Wirkungsanalyse bei der Staatsanwaltschaft
3.4.1 Empirische Befunde
3.4.2 Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen
4 Kriminalpolitische Schlußfolgerungen
4.2 Rechtliche Limitierung exekutivischen Rechts
4.2.1 Folgerungen für die Erledigung von Bagatellkriminalität
4.2.2 Folgerungen für die Erledigung von mittelschwerer Kriminalität
4.2.3 Folgerungen für die Erledigung von schwerer Kriminalität
1. Buch Die staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstraf recht — Eine landesweite Aktenuntersuchung in 19 Staatsanwaltschaften Nordrhein-Westfalens —
1 Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz
1.1 Zum Funktionswandel der Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle
1.2 Bedeutung und Problematik staatsanwaltlicher Verfahrenseinstellungen
1.3 Empirische Untersuchungen zur staatsanwaltlichen Informalisierung im Jugendstrafverfahren
1.4 Ziele und Gliederung der vorliegenden Untersuchung
2 Anlage und Methoden der Untersuchung
3 Informalisierende Verfahrenseinstellungen im Gesamtzusammenhang staatsanwaltlicher Entscheidungen
3.1 Die Entwicklung jugendstrafrechtlicher Verfahrenseinstellungen in Nordrhein-Westfalen
3.2 Das Erledigungsprogramm der nordrhein-westfälischen Jugendstaatsanwälte bei Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung
4 Entscheidungskriterien für staatsanwaltliche Informalisierungen: Bivariate Analysen
4.1 Entscheidungsrelevante Merkmale — eine Problemskizze
4.2 Zum weiteren Gang der Arbeit
4.3 Verfahrensvoraussetzungen für die “Informalisierungsalternativen”: Der Einfluß von Strafantrag des Geschädigten und Alter des Beschuldigten auf die Entscheidung bei Sachbeschädigung und Körperverletzung
4.4 Der Einfluß von Delikts- und Tatverdächtigenmerkmalen auf die staatsanwaltliche Informalisierungsentscheidung
4.5 Die Nachweisbarkeit des Delikts (Zeuge und Geständnis) und ihr Zusammenhang mit der staatsanwaltlichen Entscheidung
4.6 Die Berücksichtigung des Geschädigten bei der staatsanwaltlichen Entscheidung
4.7 Die anwaltliche Vertretung von Beschuldigtem und Geschädigtem
5 Multivariate Analysen der staatsanwaltlichen Informalisierungspraxis
5.1 Zur Methode des multivariaten Analyseverfahrens
5.2 Multivariate Analysen: Diebstahl
5.3 Multivariate Analysen: Sachbeschädigung
5.4 Multivariate Analysen: Körperverletzung
6 Rechtsanwendungs(un)gleichheit bei Bagatelldelikten
6.1 Die Definition von Bagatelldelikten bei Diebstahl und Sachbeschädigung
6.2 Die Unterschiedlichkeit der staatsanwaltlichen Informalisierungspraxis bei den Bagatelldelikten
7 Zusammenfassende Diskussion
7.1 Die Ergebnisse der Untersuchung im Überblick
7.2 Entkriminalisierung durch staatsanwaltliche Informalisierung? Kriminalpolitische Schlußfolgerungen
2. Buch Diversion: Selbsteinschätzung und Realität staatsanwaltlichen Entscheidens — Eine Befragung nordrhein-westfalischer Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte
1 Fragestellungen, Methoden und Gang der Darstellung
1.1 Forschungsfragestellungen
1.2 Methoden
1.3 Gang der Darstellung
2 Determinanten staatsanwaltlichen Entscheidens im Rahmen allgemeiner Diversionsorientierung
2.1 Normative Orientierungen
2.2 Bürokratiespezifische Tätigkeitsmerkmale
2.3 Organisationsbedingungen
2.4 Umweltbeziehungen
2.5 Staatsanwaltliche Überzeugungen
2.6 Berufs- und Sozialmerkmale
2.7 Multivariate Analyse aller Einflußfaktoren
3 Determinanten staatsanwaltlichen Entscheidens im Rahmen deliktsspezifischer Diversion (parallelisierter Ladendiebstahl)
3.1 Ungleichheit der Rechtsanwendung
3.2 Multivariate Analyse der einzelnen Einflußdimensionen
3.3 Multivariate Analyse aller Einflußfaktoren (Gesamtmodell)
4 Staatsanwaltsbefragungsbogen
3. Buch Polizei und Diversion - Das Bielefelder Modell der Informationsvermittlung -
1 Gegenstand, Ziele, theoretischer und normativer Kontext der Untersuchung
1.1 Gegenstand und Ziele der Untersuchung im Überblick
1.2 Theoretischer und normativer Kontext der Untersuchung
2 Das Bielefelder Informationsmodell
2.1 Innovationsinteresse von Staatsanwaltschaft und Polizei
2.2 Theoretische Grundannahmen und Konzeption
2.3 Anwendungsbereich
2.4 Inhalt und Genese des Informationsinstruments
2.5 Form des Informationsinstruments
2.6 Die Kooperationspartner
2.7 Implementation
3 Anlage und Methoden der Untersuchung
3.1 Anlage der Untersuchung
3.2 Beobachtungen bei der Polizei
3.3 Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Nacherhebungsbogen)
3.4 Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Informationsbogen)
3.5 Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Aktenerhebungsbogen)
4 Polizeiliche Informationsvermittlung: Umsetzung des jugendstrafrechtlichen Ermittlungsauftrags
4.1 Polizeiliche Ermittlungstätigkeit vor Einführung des Informationsmodells
4.2 Polizeiliche Ermittlungstätigkeit nach Einführung des Informationsmodells
5 Polizeilicher Verfahrensvorschlag: Jugendkriminalität in der Bewertung der Polizei
5.1 Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Vergleich
5.2 Determinanten polizeilicher Verfahrensvorschläge
6 Zusammenfassung der Ergebnisse und kriminalpolitische Schlußfolgerungen
6.1 Polizeiliche Ermittlungstätigkeit
6.2 Polizeiliche Vorschlagstätigkeit
4. Buch Staatsanwaltschaftliche Entscheidung — Beeinflussung durch systematische Informationserweiterung? — Die Umsetzung des Bielefelder Modellversuchs durch die Staatsanwaltschaft —
1 Deskriptivstatistische Darstellung der Untersuchungsbefunde
1.1 Informationsbasis für die staatsanwaltschaftliche Verfahrenswahl vor Einführung des Informationsmodells
1.2 Deskriptivstatistische Darstellung zu Tat-/Tätermerkmalen in der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe
1.3 Deskriptivstatistische Darstellung zur Verteilung der Erledigungsarten in der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe
2 Bivariate Analysen zu den Entscheidungskriterien der Staatsanwaltschaft
2.1 Bivariate Analysen auf der Grundlage der Gesamtstichprobe
2.2 Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Diebstahlsdelikte
2.3 Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Körperverletzungsdelikte
2.4 Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Sachbeschädigungsdelikte
2.5 Zusammenfassung
3 Multivariate Analysen zu den Entscheidungsbedingungen der Staatsanwaltschaft (Implementationsanalyse)
3.1 Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Diebstahl
3.2 Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Körperverletzung
3.3 Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Sachbeschädigung
3.4 Schlußfolgerungen aus den Zusammenhangsbefunden der multivariaten Analyse
4 Auswirkungen des Informationsmodells auf die quantitative Verteilung von Verfahrenseinstellung und Anklage (Impactanalyse)
4.1 Wirkungsanalyse in Untergruppen
4.2 Vergleich der Entscheidungsstrukturen zu verschiedenen Meßzeitpunkten für die häufigste Deliktskategorie: Diebstahl
5 Akzeptanz und Ablehnung des Modells durch die einzelnen Dezernenten der Staatsanwaltschaft
5.1 Analyse der Entscheidungsbedingungen der Dezernenten (Implementation)
5.2 Verhältnis von informeller und formeller Erledigung im Stadtbezirk und im Umland, bezogen auf die einzelnen Dezernenten (Impact)
6 Bewertung der Forschungsbefunde und kriminalpolitische Schlußfolgerungen
6.1 Einflüsse der Organisation auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung
6.2 Bewertung des Gesamtergebnisses und kriminalpolitische Schlußfolgerungen
Literatur
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 9783110867763, 9783110127096

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Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter 9

Sonderforschungsbereich 227 - Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter Ein interdisziplinäres

Projekt der Universität

Bielefeld

unter Leitung von Prof. Dr. Günter Albrecht, Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Prof. Dr. Otto Backes, Prof. Dr. Michael Brambring, Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Prof Dr. Franz-Xaver Kaufmann, Prof. Dr. Friedrich Lösel, Prof Dr. Hans-Uwe Otto, Prof. Dr. Helmut Skowronek

Informalisierung des Rechts Empirische Untersuchungen zur Handhabung und zu den Grenzen der Opportunität im Jugendstrafrecht Herausgegeben von Peter-Alexis Albrecht

w DE

G

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1990

Dr. Peter-Alexis Albrecht Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Bielefeld

Mit 24 Abbildungen und 209 Tabellen

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Informalisierung des Rechts : empirische Untersuchungen zur Handhabung und zu den Grenzen der Opportunität im Jugendstrafrecht / hrsg. von Peter-Alexis Albrecht. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter ; 9) ISBN 3-11-012709-1 NE: Albrecht, Peter-Alexis [Hrsg.]; G T

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

© Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt werden. Druck: WB-Druck G m b H + Co. Buchproduktions KG, Rieden am Forggensee. Buchbinderischc Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin 61. Umschlag-Entwurf: Hansbernd Lindemann, Berlin. Printed in Germany.

Vorwort

Die Planung, Organisation und Durchführung eines Sonderforschungsbereichs ist ein wissenschaftliches Abenteuer neuzeitlicher Art, zumal, wenn der SFB auf interdisziplinäre Kooperation angelegt ist. Ein Verbund von vier Teilprojekten im Bielefelder SFB 227 hat sich die Erforschung justitieller Diversion im Teilprojekt C3 mit soziologischem (Günter Albrecht), im Teilprojekt C2 mit pädagogischem (Hans-Uwe Otto) und in den Teilprojekten C4 und Cl mit juristisch-kriminologischem Erkenntnisinteresse (Otto Backes, Peter-Alexis Albrecht) zur Aufgabe gestellt. Das Teilprojekt Cl stellt mit diesem Band seine zentralen Befunde zur staatsanwaltschaftlichen Diversion aus der ersten Förderungsphase (1986 — 1988) vor. Dank ist Vielen zu sagen. Den Teilprojektleitern und ihren Mitarbeitern, die das wissenschaftliche und logistische universitäre Basislager kollegial gesichert haben. Den Nachstellungen diverser Datenschutzbeauftragter haben wir gemeinsam und halbkriminalisiert — jedenfalls bislang — widerstanden. Die ständigen — Kraft und Beweglichkeit erfordernden — Überprüfungen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben wir solidarisch, manchmal mit Blessuren, aber immer optimistisch und im Ergebnis erfolgreich überstanden. Gleichwohl und ohne jede Einschränkung: Der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt unser besonderer Dank für die komplexe Förderung. Ein Sonderforschungsbereich ist für jede Universitätsverwaltung eine besondere Herausforderung. Die Universität Bielefeld hat sie - nunmehr in fünf parallelen Fällen — angenommen und bewältigt; die zahlreichen Mitarbeiter der Zentralverwaltung wie auch der SFB-Geschäftsstelle verdienen unsere ausdrückliche Anerkennung. Das Teilprojekt Cl wäre ohne die umfassende und langjährige Unterstützung der Justiz in Nordrhein-Westfalen nicht ansatzweise zu realisieren gewesen. Justizminister Rolf Krumsiek, die drei Generalstaatsanwälte, insbesondere der 1988 verstorbene Hammer 'General' Wolfgang Geißel, und alle 19 Behördenleiter haben uns ein Ausmaß an Unterstützung gewährt, das bislang vermutlich einmalig ist. Unbestritten einzigartig ist der Einsatz aller 19 Geschäftsstellen gewesen, deren Beamtinnen und Beamte die umfangreichen Erhebungsarbeiten in fast 18.000 Akten selbst durchgeführt haben. Ohne diesen justizeigenen Einsatz wären keine tragenden Erkenntnisse zu gewinnen gewesen. Dank gebührt schließlich den Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälten, die sich an der landesweiten Befragung beteiligt haben.

VI

Im lokalen Bielefelder Bereich danken wir dem Behördenleiter der Staatsanwaltschaft, Heinrich Potthoff, seinen Dezernentinnen und Dezernenten sowie den Geschäftsstellenbeamten in besonderer Weise. In dem dreijährigen Forschungszeitraum hat sich eine beispielgebende Kooperation entwickelt, die beiderseitiges Verstehen und gegenseitige Achtung nachdrücklich geprägt hat. Das gilt in gleichem Maße für die Bielefelder Polizei. Polizeipräsident Helmut Schirrmacher und seine Mitarbeiter haben das Teilprojekt ohne jeden Vorbehalt unterstützt und damit das "Bielefelder Informationsmodell" für wissenschaftliche Erkenntnisinteressen transparent gemacht. Mein persönlicher Dank gilt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Ursula Herbort, die als Projektkoordinatorin insbesondere die Last der landesweiten Erhebungsarbeiten mit großem Erfolg getragen hat; Dorothea Rzepka und Silvia Voß, die mit unglaublichem Einsatz und Geschick das Informationsmodell begleitet und evaluiert haben; Astrid Libuda-Köster und Thomas Niediek, die unverzichtbare Stützen bei der Datenverarbeitung und Auswertung waren; Monika Sünkler und Susanne Nerger, auf deren Schultern Organisation, Stress und Schreibzumutungen am Bildschirm lagen. Wolfgang Ludwig-Mayerhofer hat wertvolle Konzeptions- sowie Auswertungshilfe geleistet und — wie immer — kritisch-kooperative Solidarität gezeigt. Ich danke Michael Voß für seinen wissenschaftlichen Einsatz in Phasen turbulenter nächtlicher Schlußbewertungen. Ohne "La Clairière" wäre vieles mühevoller, vielleicht nie beendet worden. Die erste Forschungsphase jedenfalls ist beendet! Das stelle ich dankbar, aber auch definitiv fest.

Bielefeld, im August 1990

Peter-Alexis Albrecht

Inhalt

Exekutivisches Recht — Eine Einführung in empirische Analysen zur staatsanwaltschaftlichen Diversion in Nordrhein-Westfalen —

1

(Peter-Alexis Albrecht) 1

Gegenstand der Untersuchungen

1

2

Ziele und Wirkungen von Diversion im Kontext eines Formenwandels strafrechtlicher Sozialkontrolle

2

Kriminologisch-kriminalpolitische Intentionen und Wirkungen der Diversionsbewegung

2

Formenwandel strafrechtlicher Sozialkontrolle: exekutivisches Recht

7

2.1 2.2

3

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem: Implementation, Organisation, Wirkungen

10

3.1 3.1.1 3.1.2

Landesweite Aktenuntersuchung Empirische Befunde Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

10 11 17

3.2 3.2.1 3.2.2

Landes weite Befragung der Staatsanwälte Empirische Befunde Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

18 19 22

3.3 3.3.1 3.3.2

Vermittlung präventionsrelevanter Informationen durch die Polizei für die Diversionsentscheidung des Staatsanwalts Empirische Befunde Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

23 24 28

3.4 3.4.1 3.4.2

Implementations- und Wirkungsanalyse bei der Staatsanwaltschaft . . 28 Empirische Befunde 29 Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen 33

4

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

34

Vili 4.2

Rechtliche Limitierung exekutivischen Rechts

36

4.2.1

Folgerungen für die Erledigung von Bagatellkriminalität

39

4.2.2

Folgerungen für die Erledigung von mittelschwerer Kriminalität . . . 40

4.2.3

Folgerungen für die Erledigung von schwerer Kriminalität

43

1. Buch Die staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht — Eine landesweite Aktenuntersuchung in 19 Staatsanwaltschaften Nordrhein-Westfalens —

47

(Wolfgang Ludwig-Mayerhofer) 1

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

47

1.1

Zum Funktionswandel der Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle

47

Bedeutung und Problematik staatsanwaltlicher Verfahrenseinstellungen

50

Empirische Untersuchungen zur staatsanwaltlichen Informalisierung im Jugendstrafverfahren

54

1.4

Ziele und Gliederung der vorliegenden Untersuchung

65

2

Anlage und Methoden der Untersuchung

66

3

Informalisierende Verfahrenseinstellungen im Gesamtzusammenhang staatsanwaltlicher Entscheidungen

74

1.2 1.3

3.1 3.2

4 4.1 4.2 4.3

4.4

Die Entwicklung jugendstrafrechtlicher Verfahrenseinstellungen in Nordrhein-Westfalen Das Erledigungsprogramm der nordrhein-westfälischen Jugendstaatsanwälte bei Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung

82

Entscheidungskriterien für staatsanwaltliche Informalisierungen: Bivariate Analysen Entscheidungsrelevante Merkmale — eine Problemskizze Zum weiteren Gang der Arbeit

103 103 106

Verfahrensvoraussetzungen für die "Informalisierungsalternativen": Der Einfluß von Strafantrag des Geschädigten und Alter des Beschuldigten auf die Entscheidung bei Sachbeschädigung und Körperverletzung

108

Der Einfluß von Delikts- und Tatverdächtigenmerkmalen auf die staatsanwaltliche Informalisierungsentscheidung

113

74

IX

4.5 4.6

Die Nachweisbarkeit des Delikts (Zeuge und Geständnis) und ihr Zusammenhang mit der staatsanwaltlichen Entscheidung

149

Die Berücksichtigung des Geschädigten bei der staatsanwaltlichen Entscheidung

157

4.7

Die anwaltliche Vertretung von Beschuldigtem und Geschädigtem . 164

5

Multivariate Analysen der staatsanwaltlichen Informalisierungspraxis

170

5.1

Zur Methode des multivariaten Analyseverfahrens

171

5.2

Multivariate Analysen: Diebstahl

177

5.3

Multivariate Analysen: Sachbeschädigung

186

5.4

Multivariate Analysen: Körperverletzung

198

6

Rechtsanwendungs(un)gleichheit bei Bagatelldelikten

209

6.1

Die Definition von Bagatelldelikten bei Diebstahl und Sachbeschädigung

209

Die Unterschiedlichkeit der staatsanwaltlichen Informalisierungspraxis bei den Bagatelldelikten

212

7

Zusammenfassende Diskussion

219

7.1

Die Ergebnisse der Untersuchung im Überblick

219

7.2

Entkriminalisierung durch staatsanwaltliche Informalisierung? Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

223

2. Buch Diversion: Selbsteinschätzung und Realität staatsanwaltlichen Entscheidens — Eine Befragung nordrhein-westfalischer Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte

229

6.2

(Astrid

Libuda-Köster)

1

Fragestellungen, Methoden und Gang der Darstellung

229

1.1

Forschungsfragestellungen

229

1.2

Methoden

237

1.3

Gang der Darstellung

239

2

Determinanten staatsanwaltlichen Entscheidens im Rahmen allgemeiner Diversionsorientierung

243

2.1

Normative Orientierungen

243

2.2

Bürokratiespezifische Tätigkeitsmerkmale

266

χ 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Organisationsbedingungen Umweltbeziehungen Staatsanwaltliche Überzeugungen Berufs- und Sozialmerkmale Multivariate Analyse aller Einflußfaktoren

273 278 283 299 301

3

Determinanten staatsanwaltlichen Entscheidens im Rahmen deliktsspezifischer Diversion (parallelisierter Ladendiebstahl) . . . .

307

3.1

Ungleichheit der Rechtsanwendung

307

3.2

Multivariate Analyse der einzelnen Einflußdimensionen

310

3.3

Multivariate Analyse aller Einflußfaktoren (Gesamtmodell)

316

4

Staatsanwaltsbefragungsbogen

318

3. Buch Polizei und Diversion — Das Bielefelder Modell der Infonnationsvennittlung —

341

(Dorothea Rzepka) 1

Gegenstand, Ziele, theoretischer und normativer Kontext der Untersuchung

341

1.1

Gegenstand und Ziele der Untersuchung im Überblick

341

1.2

Theoretischer und normativer Kontext der Untersuchung

342

2

Das Bielefelder Informationsmodell

349

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Innovationsinteresse von Staatsanwaltschaft und Polizei Theoretische Grundannahmen und Konzeption Anwendungsbereich Inhalt und Genese des Informationsinstruments Form des Informationsinstruments

349 355 359 362 363

2.6 2.7

Die Kooperationspartner Implementation

363 365

3

Anlage und Methoden der Untersuchung

365

3.1

Anlage der Untersuchung

365

3.2

Beobachtungen bei der Polizei

366

3.3

Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Nacherhebungsbogen)

370

XI

3.4

Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Informationsbogen)

370

Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Aktenerhebungsbogen)

371

Polizeiliche Informationsvermittlung: Umsetzung des jugendstrafrechtlichen Ermittlungsauftrags

372

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit vor Einführung des Informationsmodells

372

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit nach Einführung des Informationsmodells

380

Polizeilicher Verfahrens Vorschlag: Jugendkriminalität in der Bewertung der Polizei

414

Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Vergleich

415

5.2

Determinanten polizeilicher Verfahrensvorschläge

426

6

Zusammenfassung der Ergebnisse und kriminalpolitische Schlußfolgerungen

452

6.1

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit

452

6.2

Polizeiliche Vorschlagstätigkeit

455

3.5

4

4.1 4.2

5

5.1

4. Buch Staatsanwaltschaftliche Entscheidung — Beeinflussung durch systematische Informationserweiterung? — Die Umsetzung des Bielefelder Modellversuchs durch die Staatsanwaltschaft —

461

(Silvia Voß) 1

Deskriptivstatistische Darstellung der Untersuchungsbefunde

462

1.1

Informationsbasis für die staatsanwaltschaftliche Verfahrenswahl vor Einführung des Informationsmodells

462

Deskriptivstatistische Darstellung zu Tat-/Tätermerkmalen in der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe

464

Deskriptivstatistische Darstellung zur Verteilung der Erledigungsarten in der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe

468

Bivariate Analysen zu den Entscheidungskriterien der Staatsanwaltschaft

470

1.2 1.3

2

XII

2.1

Bivariate Analysen auf der Grundlage der Gesamtstichprobe

472

2.2

Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Diebstahlsdelikte

477

Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Körperverletzungsdelikte

488

Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Sachbeschädigungsdelikte

495

2.5

Zusammenfassung

502

3

Multivariate Analysen zu den Entscheidungsbedingungen der Staatsanwaltschaft (Implementationsanalyse)

502

Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Diebstahl

504

3.2

Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Körperverletzung . . .

513

3.3

Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Sachbeschädigung . . . 516

3.4

Schlußfolgerungen aus den Zusammenhangsbefunden der multivariaten Analyse

518

Auswirkungen des Informationsmodells auf die quantitative Verteilung von Verfahrenseinstellung und Anklage (Impactanalyse) . . . .

520

4.1

Wirkungsanalyse in Untergruppen

521

4.2

Vergleich der Entscheidungsstrukturen zu verschiedenen Meßzeitpunkten für die häufigste Deliktskategorie: Diebstahl

526

Akzeptanz und Ablehnung des Modells durch die einzelnen Dezernenten der Staatsanwaltschaft

532

Analyse der Entscheidungsbedingungen der Dezernenten (Implementation)

532

Verhältnis von informeller und formeller Erledigung im Stadtbezirk und im Umland, bezogen auf die einzelnen Dezernenten (Impact)

545

Bewertung der Forschungsbefunde und kriminalpolitische Schlußfolgerungen

551

Einflüsse der Organisation auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung

551

Bewertung des Gesamtergebnisses und kriminalpolitische Schlußfolgerungen

557

Literatur

567

2.3 2.4

3.1

4

5 5.1 5.2

6 6.1 6.2

Exekutivisches Recht — Eine Einführung in empirische Analysen zur staatsanwaltschaftlichen Diversion in Nondrhein-Westfalen Peter Alexis

1

Albrecht

Gegenstand der Untersuchungen

Die in diesem Band präsentierten empirischen Beiträge zur Diversionspraxis der nordrhein-westfälischen Staatsanwaltschaften sind die zentralen Forschungsergebnisse des Teilprojekts Cl aus dem Bielefelder Sonderforschungsbereich 227: Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter. In einer dreijährigen Forschungsphase (1986 bis 1988) wurde in den 19 Staatsanwaltschaften des bevölkerungsstärksten Bundeslandes unter dem Leitthema 'Diversion' -

eine Aktenerhebung von nahezu 18.000 Einzelfällen vorgenommen (Erstes Buch), eine daran gekoppelte Befragung aller Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte durchgeführt (Zweites Buch)

und im Bereich der Staatsanwaltschaft Bielefeld -

-

ein polizeiliches Informationsmodell zur verbesserten Vermittlung präventionsrelevanter Entscheidungsgrundlagen für das Diversions-Normprogramm (Drittes Buch) evaluiert sowie die Implementation des Informationsmodells und dessen Wirkung (Impact) auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung untersucht (Viertes Buch).

Aufgabe dieser Einführung soll es sein, die empirischen Befunde der Diversionsforschung als Ausdruck eines selbstregulatorischen Prozesses der Exekutive kenntlich zu machen. Die durch Diversionsstrategien produzierte Informalisierung des Rechts, also die flexible und opportune, zur Auflösung tendierende Anwendung des materiellen Strafrechts, wird zunächst auf ihre kriminalpolitische Zielverwirklichung und auf den Typus des Formenwandels strafrechtlicher Sozialkontrolle hin überprüft (Kapitel 2). Es folgt die interpretierende Beschreibung der empirischen Befunde über das sich entwickelnde exekutivische Recht (Kapitel 3), wobei abschließend kriminalpolitische Konsequenzen gezogen werden (Kapitel 4).

2

Exekutivisches Recht

2

Ziele und Wirkungen von Diversion im Kontext eines Formenwandels strafrechtlicher Sozialkontrolle

Der Begriff Diversion hat seit Anfang der 80er Jahre die deutsche jugendkriminalpolitische Diskussion beherrscht. Dahinter steht die jugendkriminologische Intention, die Stufenfolge von Strafverfolgung, Strafprozeß und Strafvollzug zum frühestmöglichen Zeitpunkt abzubrechen, um die kumulativen negativen Effekte dieser Eingriffe vermeiden zu können, wo immer dies generalpräventiv möglich erscheint und wo spezialpräventiv wirksamere Maßnahmen vorhanden sind. Dazu kann auch ein Verzicht auf weitere Maßnahmen gehören (Non-intervention). Veränderungen im Umgang mit strafrechtlich auffalligen Jugendlichen und Heranwachsenden sind im Zuge der Diversionsbewegung neben kriminologischen Hypothesen (Stigmatisierung) mit fiskalisch-verfahrensökonomischen Argumenten (Überlastthese) und mit kriminalpolitischen Programmatiken (Informalisierung/Opportunität versus Legalität) begründet worden (vgl. für das Zusammenspiel der unterschiedlichen Begründungsebenen Geißel 1986, 8). Was läßt sich nun nach gut lOjähriger, immer umfassenderer Diversionspraxis vorläufig bilanzieren? Das soll zum einen in bezug auf die kriminologisch-kriminalpolitischen Intentionen bzw. die Wirkungen und Folgen für die Tatverdächtigen (2.1), zum anderen auf einen sich deutlich abzeichnenden Formenwandel strafrechtlicher Sozialkontrolle (2.2) hin überprüft werden.

2.1

Kriminologisch-kriminalpolitische Intentionen und Wirkungen der Diversionsbewegung

Die kriminalpolitische Diskussion, die an die dargestellte spezialpräventive Problematik anknüpft, behandelt Diversion vor allem unter dem Aspekt der Rechtsfolgen und ihrer Wirkungen auf die betroffenen Jugendlichen. Sie fordert, die stigmatisierenden Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes entweder — wo spezialpräventiv überflüssig - entfallen zu lassen (Non-intervention) oder durch mehr erzieherisch intendierte, also in spezialpräventiver Hinsicht überlegene Rechtsfolgen zu ersetzen (Interventions-Diversion). Gerade mit der zuletzt angeführten Intention haben in den letzten Jahren verschiedene Modellprojekte auf sich aufmerksam gemacht, die eine "innere" Reform des Jugendgerichtsgesetzes anstreben, die hauptsächlich darin besteht, den Rechtsanwendern bisher nicht oder in zu geringem Umfang vorhandene, sozialpädagogisch orientierte Sanktionen zur Verfügung zu stellen. Der Abbruch des Strafverfahrens schon im Vorverfahren, auf jeden Fall vor einem förmlichen Urteil, wird hier ebenfalls völlig unter die spezialpräventive Problematik subsumiert und mit der stigmatisierenden Wirkung eines förmlichen Urteils bzw. eines langwierigen Strafverfahrens begründet.

Ziele und Wirkungen von Diversion

3

Zwei zentrale kriminalpolitische Ansätze kennzeichen mithin die Diversionsbewegung: Es ist einmal die Vermeidung förmlicher Verfahren, insbesondere öffentlicher Hauptverhandlungen, und dadurch die Vermeidung und der Abbau stationärer Sanktionen. Zum anderen ist es die Etablierung informeller, rasch abzuschließender, wenig belastender Verfahrenswege und pädagogisch wirksamer Maßnahmen als ambulante Sanktionsangebote (S. Voß 1990, 14). Eine empirische Überprüfung des Vermeidungsaspekts bezüglich förmlicher Verfahren und stationärer Sanktionen ist schnell abgehandelt: Im Zeitraum von 1955 bis 1980 ist die Verurteiltenquote nach den Befunden der Strafverfolgungsstatistik (gemessen an den Abgeurteilten) deutlich von 77,6 % auf 57,4 % gesunken. Der Rückgang ist diesbezüglich auf eine vermehrte Anwendung des § 45 Abs. 1 und des § 47 JGG* zurückzuführen. Statistische Informationen über die staatsanwaltschaftliche Einstellungspraxis stehen auf Bundesebene für diese Jahre nicht zur Verfügung. Stationäre Sanktionen gingen im gleichen Zeitraum - ohne moderne Diversionsprogrammatik — von 49,6 % (1955) auf 25,7 % (1980) zurück (Heinz 1989, 19). Soweit der Zeitraum vor Beginn der eigentlichen Diversionspolitik, die erst ab ungefähr 1980 eine verstärkte kriminalpolitische Aufmerksamkeit erfuhr. Orientiert man sich in der Zeit ab 1980 an den absoluten Zahlen der Strafverfolgungsstatistik, so kommt man bei einem oberflächlichen Blick zu dem Ergebnis eines weiteren beträchtlichen Rückgangs formeller Verfahren. Stützen wir uns auf ein Zahlenwerk, das die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen über ihren Vorsitzenden der Öffentlichkeit bei einem Symposium in Konstanz — und erneut auf dem Jugendgerichtstag 1989 in Göttingen — präsentierte, so scheinen die vorgetragenen Prozentsatzdifferenzen der absoluten Zahlen den kriminalpolitischen Anspruch der Diversionspolitik einzulösen. Anklagen einschließlich der Verfahren nach § 76 gingen danach um 26,8 % zurück, Verfahrenseinstellungen gemäß § 45 nahmen um 22,4 % zu. Diese prozentualen Steigerungsraten absoluter Zahlen sind allerdings irreführend und führen zu völlig falschen Bewertungen. Zum einen muß bezüglich der absoluten Zahlen berücksichtigt werden, daß auch die Bevölkerung in den entsprechenden Altersklassen im selben Zeitraum um knapp 10 % abnahm, worauf auch Pfeiffer hinweist. Die Kriminalitätsbelastungsziffer der betroffenen Altersgruppen hat sich ebenfalls in diesem Zeitraum verringert. Für die Bewertung der Entwicklung von Erledigungsstrategien sind indes einzig die relativen Anteile der staatsanwaltschaft-

*

In der gesamten Untersuchung sind Paragraphen ohne Gesetzesbezeichnung solche des Jugendgerichtsgesetzes in der Fassung vor dem 1. JGG-Änderungsgesetz (1990). Die Bezugnahme auf die Fassung des 1. JGG-Änderungsgesetzes erfolgt mit dem Zusatz "n.F".

4

Exekutivisches Recht

liehen Reaktionsformen an den anklagefähigen Verfahren aussagekräftig.

Dem-

nach ist die Anklagequote im angegebenen Zeitraum lediglich um 8 , 8 % verringert worden.

Tab. 2.1:

Staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidungen gegenüber 14 bis 20jährigen Beschuldigten, 1981 bis 1986, Bundesrepublik ohne Hessen, Schleswig-Holstein und Berlin, Quelle: Pfeiffer 1989, 78, Tabelle 4

Anklagefähige Verfahren n. dem JGG Ν Anklag, ein- Ν schl. Verf. n. § 76 JGG %

1981

1982

1983

1984

1985

1986

Differenz % 1981 zu 1986

258744

266944

262760

243969

228244

212379

-17,9

212172

217712

210004

187116

169248

155353

82,0

81,6

79,9

76,7

74,7

73,2

-26,8

Anklagen J.kammer

Ν %

1139 0,4

1166 0,4

1112 0,4

1026 0,4

1056 0,5

978 0,5

-14,1

JschöffenG

Ν %

29007 11,2

30332 11,4

29929 11,4

28035 11,5

26842 11,8

25485 12,0

-12,1

Einzelrichter

Ν %

135392 52,3

139386 52,2

133893 51,0

119393 48,9

109514 48,0

103372 48,7

-22,8

Vereinf. Verfahren

Ν %

46634 18,0

46828 17,5

45070 17,2

38662 15,9

31836 14,0

25518 12,0

-45,2

Einstellungen nach § 45 JGG gesamt

Ν %

46572 18,0

49232 18,4

52756 20,1

56853 23,3

58996 25,9

57026 26,9

+ 22,4

Abs. 1

Ν %

20383 7,9

17822 6,7

17306 6,6

15340 6,3

12895 5,7

11554 5,5

-43,3

Abs. 2

Ν %

26189 10,1

31410 11,7

35450 13,5

41513 17,0

46101 20,2

45472 21,4

+ 73,6

Zieht man v o n den präsentierten formellen Anklagen überdies die in ihren Auswirkungen eher informellen, vereinfachten Verfahren ab (denn primär sollte eine stigmatisierende Hauptverhandlung vermieden werden), dann zeigt sich der Befund, daß 1981 64 % der anklagefahigen Verfahren zu formellen Gerichtsverfah-

Ziele and Wirkungen von Diversion

5

ren führten, im Jahr 1986 waren dies 61 %; bezieht man sich auf die Zahlen von 1987, so beträgt der Rückgang nur mehr 0,7 Prozentpunkte! Die starke Zunahme der Verfahrenseinstellungen nach § 45 Abs. 2 wird aus zwei Quellen gespeist: aus dem Rückgang der Anträge auf ein vereinfachtes Jugendverfahren (§ 76) und aus den zurückgehenden Einstellungsentscheidungen nach § 45 Abs. 1. Die durch Diversion herbeigeführte Veränderung ist nur eine prozedurale: Der Richter wird durch den Staatsanwalt* ersetzt. Die beabsichtigte Vermeidung förmlicher Verfahren ist damit nicht eingelöst worden. Für den jugendlichen Beschuldigten macht es keinen Unterschied, ob das nach § 45 Abs. 3 n.F. erstellte Ermahnungsschreiben auch noch durch die Hand des Richters geht oder gemäß § 45 Abs. 2 direkt vom Staatsanwalt kommt. Auch für das vereinfachte Jugendverfahren ist eine strukturelle Ähnlichkeit mit den selbständigen Entscheidungen des Staatsanwalts gemäß § 45 Abs. 2 zu vermuten. Wie die Auswertung der landesweit erhobenen Aktenstichprobe und erste Richterbefragungen in der laufenden zweiten Förderungsphase des Sonderforschungsbereichs zeigen, gibt es Anhaltspunkte dafür, daß vereinfachte Jugendverfahren häufig gemäß § 47 eingestellt werden. Die rechtlich gegebene Möglichkeit, stationäre Zuchtmittel im Wege des vereinfachten Verfahrens zu verhängen, dürfte selten ausgeschöpft werden. Auch für die registerrechtliche Behandlung hat die Unterscheidung dieser Informalisierungsstrategien keine Bedeutung: Sowohl die staatsanwaltlichen als auch die richterlichen Verfahrensbeendigungen finden ihren Niederschlag im Erziehungsregister. In anderer Hinsicht kommen den diversionsförmigen Informalisierungsstrategien gegenüber der zuvor dominierenden Erledigungspraxis nun aber spezifische Effekte zu, nämlich — die Bereitstellung einer "inneren Entlastungsreserve des Strafprozeßrechts" (Geißel), also die Erhöhung der Steuerungsfähigkeit der Justizverwaltung, die damit die knappen materiellen und personellen Verfahrensressourcen besser lenken und ausschöpfen kann, — die Beschleunigung der Verfahren mit erheblichem Entlastungseffekt für die Gerichte. Das Hauptziel der Diversionsbewegung, der Abbau stationärer Sanktionen, wurde ebenfalls nicht erreicht. Auch hier mag als Beleg bereits die von Pfeiffer präsentierte Datenbasis hinreichen.

*

Funktionsbezeichnungen gelten in der gesamten Untersuchung für Frauen in der weiblichen Form.

6

Exekutivisches Recht

Tab. 2.2:

Die Verfahrens- und Sanktionspraxis gegenüber 14 bis 20jährigen in der Bundesrepublik Deutschland, 1980 bis 1986, Quelle: Pfeiffer 1989, 84, Tabelle 6 1980

1981

1982

1983

1984

1985

1986

Differenz 1986 zu 1982 in % v. 1982

HZ

252612 3529

267146 3645

277146 3762

276034 3766

255229 3545

229243 3311

210530 3178

-24,0 -15,7

Verurtl.

Ν HZ %

179269 2499 71,0

187877 2563 70,3

194296 2632 70,0

190296 2598 69,0

171722 2386 67,3

153312 2215 66,9

140518 2121 66,6

-27,7 -19,4

U-Haft

Ν HZ %

6695 93 2,7

8100 111 3,0

8594 116 3,1

7852 107 2,8

6487 90 2,5

5661 81 2,5

5013 75 2,4

-41,7 -35,3

Ν HZ insg. %

27183 379 10,8

29072 397 10,9

31529 427 11,4

31456 429 11,4

27657 384 10,8

23990 347 10,5

22038 332 10,5

-30,1 -22,2

Jstr/Frstr. insg. Ν HZ %

21233 296 8,4

23247 317 8,7

25368 344 9,1

24786 338 9,0

22438 312 8,8

20045 290 8,7

18238 277 8,7

-28,2 -19,5

Abgeurt.

JA

m. Bew.

Ν HZ %

13725 191 5,4

14950 204 5,6

16066 218 5,8

15279 215 5,7

14017 195 5,5

12847 186 5,6

12079 182 5,7

-24,8 -16,5

o. Bew.

Ν HZ %

7508 105 3,0

8297 113 3,1

9302 126 3,4

9057 124 3,3

8421 117 3,3

7198 104 3,1

6313 95 3,0

-32,1 -24,6

Richtig ist wieder, daß zwischen 1980 und 1986 ein Rückgang der absoluten Zahlen innerhalb der stationären Sanktionsformen zu registrieren ist. Indikator für die Veränderung von Sanktionsverschiebungen kann aber allein der prozentuale Anteil der einzelnen Sanktionstypen an der Gesamtheit der Abgeurteilten sein. Hier zeigen sich keinerlei Veränderungen. Von 100 Abgeurteilten wurden 1980 ebenso drei Personen zur unbedingten Jugendstrafe verurteilt wie 1986. Auch bei der Verhängung von Jugendarrest haben sich die Strafzumessungsstrategien der Jugendrichter unter dem Eindruck der Diversionskampagnen in keiner aussagekräftigen Weise verändert (1980: 10,8 %; 1986: 10,5 %). Diese Konstellation nimmt der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen gleichwohl zum Anlaß, in der Schlußspalte der zitierten Tabelle Rückgänge bei den stationären Sanktionen zwischen 30,1 % und 32,1 % auszuweisen. Abgesehen von der manipulativen Wahl der Bezugsjahre (1980 — 1982!) sind die prozentualen negativen Steigerungsraten ohne jeden Aussagewert. Ent-

Ziele und Wirkungen von Diversion

7

scheidend für die Bewertung der Zielorientierungen der Diversionspolitik ist allein das identische Gefüge der prozentualen Anteile stationärer Sanktionen an der Zahl aller Abgeurteilten. Die jugendrichterlichen Sanktionierungsstrategien zeigen sich unbeeindruckt von der Diversionseuphorie in Teilen des jugendkriminalrechtlichen Schrifttums. Schon dieser jedermann aus offiziellen Zahlenwerken mögliche quantitative Überblick über Verfahrens- und Sanktionsentscheidungen zeigt, daß es der Diversionsbewegung nicht gelungen ist, die selbst proklamierten Ziele der Vermeidung förmlicher Verfahren und des Abbaus stationärer Sanktionen zu erreichen. Wie es mit der Etablierung informeller Verfahrenswege und pädagogisch wirksamer Maßnahmen aussieht, wird ein Blick auf die weiter unten präsentierten Forschungsdaten zeigen.

2.2

Formenwandel strafrechtlicher Sozialkontrolle: exekutivisches Recht

Einer anderen Perspektive, die in der jugendstrafrechtlichen bzw. jugendkriminalpolitischen Debatte weniger beachtet wird, geht es nicht um die materialen, auf die Rechtsfolgen bezogenen Veränderungen, sondern um einen Formenwandel strafrechtlicher Sozialkontrolle. Aus dieser rechtssoziologischen Sicht wird das zunehmende Gewicht der Staatsanwaltschaft bei der Verfahrensentscheidung und der Rechtsfolgenwahl als wesentliches Charakteristikum einer neuen Rechtsentwicklung im Jugendstrafrecht thematisiert (vgl. M. Voß 1989b). In den theoretischen Überlegungen zur Rechtsentwicklung wird die Entstehung bzw. Ausweitung eines exekutivischen Rechts als Ausdruck der Steuerungskrise des regulatorischen Strafrechts verstanden. Das materielle Strafrecht leidet an evidenter Widersprüchlichkeit. Einerseits wird ihm die Aufgabe zugewiesen, Steuerungsansprüche systemischer Art durchzusetzen, die das Strafrecht zunehmend zu einem sozialpolitischen Präventionsinstrument aufrüsten. Andererseits sieht sich die Gesellschaft trotz des angeblichen Strafrechtsschutzes durch systembedingt auftretende Rechtsgutsverletzungen gefährdet. Exekutivische Rechtsfiguren und exekutivische Rechtsanwendung harmonisieren diese Sollbruchstellen zwischen dem symbolischen Steuerungsanspruch des Strafrechts und der instrumenteilen Steuerungsunfähigkeit des Kriminaljustizsystems. So dient z.B. das Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht mehr und mehr als Mittel symbolischer Politik und arbeitet mit dem Mechanismus der Vorverlagerung der Eingriffsvoraussetzungen und der administrativen Ausformung der Tatbestandsmerkmale (z.B. verwaltungsförmige Grenzwertbestimmung im Bereich des Umweltstrafrechts). Wir beobachten eine Zunahme abstrakter Gefährdungsdelikte,

8

Exekutivisches Recht

eine Zunahme vielfaltiger Pflichtnormierungen im Zuge von Unterlassungsdelikten, schlechthin eine tendenzielle Ausdehnung des strafrechtlichen Steuerungsanspruchs. Parallel zu dieser symbolischen Ausweitung des strafrechtlichen Steuerungsanspruchs zeichnet sich ein eindeutiges Vollzugsdefizit bei der Rechtsdurchsetzung dieser Normenbereiche ab. Diese Vollzugsdefizite sind indes nicht instrumenteil behebbar, sondern belegen die strukturelle Untauglichkeit des Strafrechts, ökonomische und ökologische Systembrüche und -problemlagen mit den Mitteln individueller Tatschuldzuschreibung zu steuern. Vor dem Hintergrund der Durchsetzungsprobleme des materiellen Strafrechts vermeidet der Gesetzgeber den drohenden Konkurs der Geltungsgrundlage des Strafrechts mit einer verfahrensförmigen Suspendierung der Norm qua Verfolgungs- oder Interventionsverzicht. Hierbei wird der Anwendungsbereich des Rechts partikularisiert, statt universalistische, allgemeine und gleiche Eingriffsvoraussetzungen zu formulieren. Damit wird das Recht, wie es Teubner ausdrückt - "instrumentalisierbar für die Zwecke des politischen Systems" (1982, 25). Das Strafrecht verlagert also seine Steuerungsansprüche vom materiellen Recht ins Prozeßrecht und kann ihm dort flexibel "Leine geben". Das Strafrecht entläßt das ehemals strikt regulative Recht in die Informalisierung, die Flexibilisierung oder steuerungstheoretisch ausgedrückt, in das prozedurale Recht. Naucke nennt diese Entwicklung die "Auflösung der Positivität des aktuellen Rechts" und empfindet "das als ein Hauptkennzeichen heutigen juristischen Arbeitens: An die Regeln gebunden zu sein und doch zu wissen, daß man sie nur anzuwenden braucht, wenn man sie für richtig hält, daß man ihnen entkommen kann, wenn man will" (1986, 201 ff.). Gesetzestechnische Mittel hierfür sind Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder Ermessensbegriffe. Allerdings spiegelt sich in der Entwicklung zum exekutivischen Recht nicht lediglich eine Laune oder eine besondere Interessenlage der Exekutive. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Verselbständigung ihrer Teilbereiche wird offenbar die Kapazität staatlich-administrativer Zentralsteuerung überschritten; neue Formen indirekter Regulierung, dezentraler Entscheidungsfindung werden gebraucht. Diese Entwicklung drückt sich nicht zuletzt aus in der konservativen Forderung nach "neuer Subsidiarität" oder — in der Sicht der politischen Linken — in der Forderung nach Selbstregelung der gesellschaftlichen Subsysteme, nach Dezentralisierung staatlicher Macht. Diese Umorientierung in exekutivisches Recht liefert prozedurale Programme, verteilt Steuerungsrechte und Entscheidungskompetenzen, so "daß die prozedurale Orientierung des Rechts indirektere, abstraktere Mittel sozialer Kontrolle bevorzugt: reflexive Mechanismen, die anstelle einer inhaltlichen Entscheidung selbst nur über die organisationalen und prozeduralen Entscheidungsprämissen entscheiden" (Teubner 1982, 26). Merkmale der "Normrationalität" dieses Rechtstypus zielen auf "regulierte Auto-

9

Ziele und Wirkungen von Diversion nomie" und fördern zugleich "sich selbst regulierende Sozialsysteme".

Wenn

Teubner formuliert, das Recht zieht sich "aus der vollen Verantwortung für konkrete soziale Ergebnisse zugunsten einer abstrakteren Steuerung zurück" (ebd., 25), so ähnelt das sehr der Beschreibung Nauckes über den aktuellen Stil des Rechts; insofern kann man wohl davon ausgehen, daß der Trend zum "exekutivischen Recht" in der Strafjustiz als eine Ausprägung dieser Rechtsentwicklung angesehen werden kann. Kann man in der Schaffung umfassender Opportunitätsnormen in der Strafprozeßordnung einen originären Akt legislativer Selbstentmachtung des Gesetzgebers des Jahres 1975 erblicken, so liegt die Besonderheit der "Ermächtigungsnorm" des § 45 darin, daß diese schon lange im Jugendgerichtsgesetz enthalten war. Allerdings ist erst mit Beginn der 80er Jahre das Opportunitäts- und Erziehungsermessen deutlich reaktiviert worden. Die Selbststeuerungskompetenz der Staatsanwaltschaft im Bereich des Jugendstrafrechts erlebt eine Renaissance, die jedenfalls nicht allein aufgrund kriminalpolitischer Aktivierung des Erziehungsgedankens erklärbar ist, sondern — wie insgesamt im Rechtssystem — in der Steuerungskrise des regulatorischen Strafrechts ihren Ausgang findet. Nicht nur die instrumenteile Überlast des Kriminaljustizsystems, sondern auch das Versagen des Gesetzgebers im Hinblick auf eine normative Entkriminalisierung des Bagatellstrafrechts angesichts massenhaft registrierter und von der Kriminologie als sozialisationsbedingt ausgewiesener Normüberschreitungen führt unweigerlich zu instrumenteilen und symbolischen Steuerungskrisen. Insofern findet die Konjunktur der Diversion ihre Erklärung in dem zunehmenden Bedarf nach informeller, offener, flexibler und politisch

instrumentalisierbarer

Aktivierung

prozeduraler

Normbereiche,

den

Entstehungsbedingungen und Anforderungen exekutivischen Rechts. Diese Entwicklung geht einher mit einer sozialstaatlich-zweckrational ausgerichteten Präventionsorientierung, deren kriminologische Bezüge mehr im Sinne einer Rationalisierung verstehbar sind; steuerungstheoretisch indes wird die Lösung von Systemkonflikten mit Hilfe der Funktionalisierung exekutivischen Rechts angestrebt. Das exekutivische Recht beschränkt sich dabei nicht auf die prozeduralen Aspekte seiner Ausformung. Parallel dazu sind auch Merkmale einer exekutivischen Interventionsorientierung erkennbar, z.B. in Form originärer staatsanwaltlicher Sanktionsäquivalente nach § 153a StPO oder § 45 Abs. 2. Diese rechtlich problematischen Flexibilisierungsmedien erinnern zugleich daran, daß das Jugendstrafverfahren auch unter dem Gesichtspunkt seiner Rechtsförmigkeit gesehen werden muß und keineswegs ausschließlich unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet werden darf. Seine Legitimation bezieht das Verfahren auch aus der Verwirklichung von prozessualer und materieller Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens.

10

Exekutivisches Recht

Die Entwicklung des exekutivischen Rechts soll hier nicht weiter theoretisch verfolgt, sondern vorerst mit Hilfe der Empirie ausgelotet werden. Die in diesem Band präsentierten Forschungsergebnisse zielen auf den Erwerb von Wissen und von Erkenntnissen über die selbstregulatorischen Prozesse des exekutivischen Rechts innerhalb eines Subsystems der Kriminaljustiz, nämlich der Staatsanwaltschaften. Es wird konkret zu prüfen sein, wie sich die Selbststeuerungskonzepte entwickeln und ausformen. Zentrale Fragestellungen lauten: — Welcher Steuerungsmodi bedient sich das exekutivische Recht im Zuge der Informalisierungen? Sind die Selbststeuerungskonzepte eher prozedural oder eher interventionistisch geprägt? — Erhält der Rechtsanwender administrative Vorgaben in Form von Weisungen, Richtlinien und Anordnungen, oder werden die Informalisierungen durch andere Determinanten gesteuert? — Formiert sich exekutivisches Recht eher material-inhaltlich oder eher formal-bürokratisch? — Welche Selektionsmuster sind erkennbar? — Welche Faktoren determinieren den Rechtsanwender bei der Handhabung von Informalisierungen? Ist der Rechtsanwender eher von normativen, eher von bürokratischen, eher von administrativen, eher von sozial-biographischen Vorgaben oder eher von Attitüden geleitet? All das sind Fragen, die im empirischen Detail in steuerungstheoretischen Arbeiten bislang kaum nachgezeichnet sind und in der Analyse der vier Forschungsschritte entsprechende Aufmerksamkeit erfahren sollen.

3

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem: Implementation, Organisation, Wirkungen

Im folgenden werden zentrale Befunde der vier Untersuchungsschritte zur Diversionspraxis zusammenfassend dargestellt und vor dem Hintergrund der aufgezeigten exekutivischen Rechtsentwicklung kommentiert.

3.1

Landesweite Aktenuntersuchung

Der Aktenanalyse ging eine Auswertung unveröffentlichter Staatsanwaltschaftsstatistiken des Statistischen Landesamts Nordrhein-Westfalen voraus. Diese bestätigt

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

11

die bereits erwähnte Verdrängungs- bzw. Verschiebungsthese. Verfahrenseinstellungen nach § 45 Abs. 2 (Diversion) nehmen zwar beträchtlich zu, indes vorwiegend aufgrund einer Reduktion der vereinfachten Verfahren (§ 76) sowie einer Reduktion der Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 (Einstellung mit richterlicher Beteiligung). Auch der mit dem Abbau der vereinfachten Jugend verfahren einhergehende Rückgang der Einstellungen nach § 47 (Einstellung durch den Richter) fließt in den Anstieg der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellungen nach § 45 Abs. 2 ein (1. Buch, Abschnitt 3.1). Zwischen 1982 und 1988 hat sich das Verhältnis von gerichtlichen zu staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen praktisch umgekehrt. Dieser Untersuchungsschritt zeigt: Bei den informellen Verfahrensformen löst der Staatsanwalt den Richter ab; der Staatsanwalt übernimmt richterähnliche Funktionen.

3.1.1 (1)

Empirische Befunde Hohe Informalisierungsrate

Auf der Basis der ca. halbjährigen — repräsentative Schlüsse ermöglichenden — Überprüfung (1987/88) der Verfahrensentscheidungen aller Jugenddezernenten in 19 Staatsanwaltschaften ergibt sich für alle Erledigungen in den Deliktsbereichen Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung eine Anklagequote von 47 %. Verfahrenseinstellungen i.w.S. (§§ 45 JGG, 153, 153a StPO sowie die Informalisierungsalternativen "Verweis auf den Privatklageweg" und "Einstellung wegen fehlender Verfahrensvoraussetzung") erfolgten zu 28,2 %. Bezieht man den Vergleich nur auf Anklagen und Informalisierungen i.w.S. (inbesondere ohne Einstellungen mangels Tatverdachts; anklagefähige Verfahren), dann lautet das Verhältnis 62,5 % zu 37,5 %; auf eine Einstellung kommen im Schnitt 1,7 Anklagen. Wir können festhalten: Die staatsanwaltschaftliche Erledigungspraxis ist in großem Umfang von Informalisierungen geprägt (1. Buch, Abschnitt 3.2).

(2)

Deliktsspezifische Analysen

Die Betrachtung der einzelnen Deliktstypen zeigt unterschiedliche Prozeduren. Dominieren beim Diebstahl die Einstellungen gemäß §§ 45 Abs. 2 JGG und 153, 153a StPO (33,3 % der anklagefähigen Verfahren), so weicht die Staatsanwaltschaft bei der Sachbeschädigung zu einem beträchtlichen Teil (17,3 %) auf die Einstellung wegen fehlender Verfahrensvoraussetzungen (zumeist fehlender Strafantrag, bei Verneinung eines besonderen öffentlichen Verfolgungsinteresses, §

12

Exekutivisches Recht

303c StGB) aus. Bei der Körperverletzung dominieren andere normative Einstellungsgrundlagen: fehlende Verfahrensvoraussetzungen (§ 232 StGB) sowie der Verweis auf den Privatklageweg (§ 374 StPO). Beide Einstellungsalternativen zusammen betrachtet erfassen 22,2 % der Körperverletzungsverfahren gegenüber 16,1 % Einstellungen gemäß §§ 45 JGG, 153, 153a StPO. Würde man bei diesen Delikten allein die herkömmlichen Informalisierungsnormen im Blick haben, käme man zu einer Fehleinschätzung der Verfahrenserledigungen. Rechtsanwender nutzen mithin die Verfahrenseinstellungsmöglichkeiten je nach Deliktstypen in hoch differenzierter Form, unter Einbeziehung spezifischer Informalisierungsalternativen (1. Buch, Abschnitt 3.2).

(3)

Einstellungen nach Strafprozeßrecht (§§ 153, 153a StPO)

Gegenüber den jugendstrafrechtlichen Diversionsnormen spielen die StPO-Einstellungsnormen eine untergeordnete Rolle. Verfahrenseinstellungen gemäß § 45 erfolgen in 25,2 % der anklagefahigen Verfahren. Einstellungen nach der Strafprozeßordnung treten dahinter mit insgesamt 4,3 % der anklagefähigen Fälle deutlich zurück. § 153 StPO (3 %) überwiegt gegenüber § 153a StPO (1,3 %). Die häufigsten Einstellungen nach der Strafprozeßordnung erfolgen im Bereich der Sachbeschädigung (5,8 %), die zweithäufigsten im Bereich des Diebstahls (4,4 %) und die wenigsten im Bereich der Körperverletzung (2,7 %). Gleichwohl sind die Einstellungen nach Erwachsenenstrafrecht keine zu vernachlässigende Größe. Gegenüber der Nichtberücksichtigung dieses Einstellungstypus im Schrifttum dürften die empirischen Befunde Anlaß genug sein, in Zukunft auch diesen — weniger stigmatisierenden — Einstellungsnormen mehr Aufmerksamkeit zu widmen (1. Buch, Abschnitt 3.2.2).

(4)

Interventionistische versus non-interventionistische Diversion

Rechtsanwender präferieren bei den JGG-Diversionsnormen ganz überwiegend die non-interventionistische Variante des § 45 Abs. 2 Nr. 2. Landesweit stehen hier 1.405 (16,2 %) Verfahrenseinstellungen 709 (8,2 %) Einstellungen nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 gegenüber. Allerdings trügt diese Relation insofern, als der Rechtsanwender in zahlreichen Fällen als "Intervention" im Sinne der Nr. 1 des § 45 Abs. 2 auch schon ein schriftliches Mahnschreiben ansieht. Von den 709 Fällen des § 45 Abs. 2 Nr. 1 sind lediglich 15 %, also etwas mehr als 100 Fälle, auf Interventionsmaßnahmen wie Arbeitsweisung (11,3 %), Erziehungs- und Trainingskurse (2,3 %) sowie Schadenswiedergutmachung (1,3 %) entfallen. Den

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

13

Hauptteil der "Interventionen" stellen auch hier die von den Staatsanwälten verfaßten Mahnschreiben dar, wogegen das persönliche Ermahnungsgespräch lediglich in 4,7 % der Fälle praktiziert wird. Wir können also festhalten, daß die Interventionsvariante im exekutivischen Recht ausgesprochen selten vorzufinden ist, ganz überwiegend hingegen die Non-Interventionsdiversion praktiziert wird. Nach Maßgabe dieser Befunde kann von einem flächendeckenden Net-wideningProzeß im Zuge exekutivischer Rechtsanwendung in Nordrhein-Westfalen in keiner Weise die Rede sein (1. Buch, Abschnitt 3.2 sowie 2. Buch, Abschnitt 2.1.1.3).

(5)

Keine Substitutionseffekte zwischen Diversion und Einstellungen mangels Tatverdachts

Die Vermutung, daß eine sich ausweitende Diversionspraxis einen Abbau von Einstellungen mangels Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) zur Folge haben könnte, wird durch die Analysen nicht bestätigt. Staatsanwälte pflegen nach den vorliegenden Erkenntnissen präzise zu differenzieren, ob aus 'erzieherischen' Gründen oder ob aus normativ-rechtsstaatlichen Gründen eine Verfahrenseinstellung zu erfolgen hat (1. Buch, Abschnitt 3.2.4).

(6)

Multivariate Kriterienanalyse beim Diebstahl

Die Entscheidung zwischen Anklage und informalisierender Einstellung ist größtenteils auf einige wenige Merkmale der Tatschwere sowie der strafrechtlichen Vorbelastung des Beschuldigten zurückzuführen. Es dominiert die Schadenshöhe, gefolgt von der Anzahl strafrechtlicher Vorbelastungen und der Anzahl der vorgeworfenen Delikte. Sozialmerkmale wie Arbeitslosigkeit, auffalliger Wohnund Aufenthaltsort oder Nationalität des Beschuldigten, Merkmale der Stellung zur Tat sowie Einflüsse des Geschädigten spielen beim Diebstahl zwar eine gewisse Rolle, diese ist aber im Vergleich zu den erstgenannten Merkmalen ziemlich gering. Wir können festhalten: Der Staatsanwalt orientiert sich bei seiner Einstellung von Diebstahlsdelikten primär an formal-quantifizierbaren Kriterien (1. Buch, Abschnitt 5.2).

(7)

Multivariate Kriterienanalyse bei der Körperverletzung und der Sachbeschädigung

Zumindest der Tendenz nach ist dies auch bei den Sachbeschädigungs- und den Körperverletzungsdelikten der Fall. Allerdings lassen sich die Determinanten der

14

Exekutivisches Recht

staatsanwaltlichen Entscheidung hier nicht auf einen so einfachen Nenner bringen wie beim Diebstahl. Es spielen verschiedenartige Gesichtspunkte gemeinsam eine Rolle. Zwar stehen auch hier Deliktsmerkmale und Vorbelastung im Vordergrund; es schlagen allerdings auch traditionelle Tätermerkmale wie soziale Auffälligkeit und Nationalität durch. Der Rechtsanwender differenziert bei diesen Delikten stärker nach rechtlichen Voraussetzungen, die an die Einstellungsmöglichkeiten wegen fehlender Verfahrensvoraussetzungen bzw. unter Verweis auf den Privatklageweg anknüpfen. Auch spielt hier die Wiedergutmachung des entstandenen Schadens eine signifikante Rolle, wobei noch ein indirekter Einfluß hinzukommt, weil die Schadenswiedergutmachung sich entscheidend auf die Neigung des Geschädigten auswirkt, keinen Strafantrag zu stellen. Bei den Körperverletzungsdelikten sind auch Merkmale der Beziehung zwischen Täter und Opfer für die Einstellungsentscheidung von Bedeutung, ob eine Tat als "Privatangelegenheit" einzustufen ist oder nicht. Hier eröffnet sich bei problematischer Beweislage die Möglichkeit, auf Informalisierungsalternativen (Einstellung wegen fehlender Verfahrensvoraussetzungen, unter Verweis auf den Privatklageweg) auszuweichen (1. Buch, Abschnitte 5.3 und 5.4). Wir halten fest: Beim Diebstahl läßt sich der Staatsanwalt eher in eine binäre Entweder-Oder-Entscheidung einbinden und zwar primär orientiert an traditionell-strafrechtlichen Kriterien. Bei der Sachbeschädigung und der Körperverletzung liegt das anders. Die größere normative Bandbreite an Entscheidungsmöglichkeiten im Rahmen dieser Deliktstypen schlägt sich in einem deutlich höheren Gewicht derjenigen Variablen nieder, welche nicht auf Deliktsschwere und Vorbelastung bezogen sind.

(8)

Soziale Selektivitätseffekte

Zwar existieren in der multivariaten Analyse soziale Selektivitätseffekte; diese bleiben allerdings deutlich hinter der juristischen Orientierung an Tatschwere und der strafrechtlichen Vorbelastung zurück. Die häufigere Anklagequote bei sozial benachteiligten Beschuldigten läßt sich zum Teil dadurch erklären, daß sozial auffällige Jugendliche/Heranwachsende mit schwereren Delikten registriert werden und bereits häufiger strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Allerdings läßt sich in der multivariaten Betrachtungsweise auch ein selbständiger Einfluß der Sozialvariablen feststellen. Arbeitslose Beschuldigte werden bei Diebstahl und Sachbeschädigung statistisch signifikant häufiger angeklagt als nicht arbeitslose. Hier ist zudem eine häufigere Anklageerhebung bei ausländischen, vor allem türkischen Beschuldigten zu beobachten. Bemerkenswert ist ebenfalls, daß bei Sachbeschädigungen und Körperverletzungen Heranwachsende einer geringeren Anklagewahrscheinlichkeit unterliegen als Jugendliche. Dies ist eine unmittelbare

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

15

Folge des rechtlichen Handlungsprogramms (kein Privatklageweg bei Jugendlichen), was der Staatsanwalt im Rahmen seiner Informalisierungsentscheidungen offensichtlich nicht kompensatorisch berücksichtigt. Damit ist eine Benachteiligung jüngerer Beschuldigter gegeben (1. Buch, 5. Kapitel)

(9)

Ungleichheit der Rechtsanwendung auf der Ebene der verschiedenen Staatsanwaltschaften

Schon bei der undifferenzierten Analyse der Summe aller Deliktstypen lassen sich ganz unterschiedliche Informalisierungsraten in den verschiedenen Bezirken zeigen. Dieser Befund vermag allerdings die Ungleichheitsthese noch nicht zu tragen, bleiben doch die den Entscheidungen zugrundeliegenden Fallkonstellationen im Hinblick auf tat-/täterbezogene Schwerebemessungen ungeprüft. Aber auch in deliktsspezifischen Stichproben ist die große Heterogenität in den Entscheidungsstrukturen nachweisbar. Bezogen auf klar definierte Bagatelldelikte konnte der Nachweis geführt werden, daß die Erledigungsunterschiede sich nicht durch Fallmerkmale erklären lassen. Vielmehr bleibt auch nach statistischer Kontrolle bzw. nach Parallelisierung von — Deliktstyp (Ladendiebstahl), — Deliktshäufigkeit (nicht mehr als ein Delikt), — Schadenshöhe (maximal 50 DM), — Geständnis und — Vorbelastung (weder lokaler Zentralkartei- noch Bundeszentralregistereintrag) bei den Bagatelldelikten die Unterschiedlichkeit in der Häufigkeit von Anklagen bzw. Informalisierungsentscheidungen zwischen den verschiedenen Staatsanwaltschaften erhalten. Bei den Bagatelldiebstählen verbergen sich hinter der durchschnittlichen landesweiten Informalisierungsquote von knapp 75 % ganz erhebliche Differenzen in der Erledigungsstruktur der verschiedenen Staatsanwaltschaften. Auf der einen Seite finden sich fünf Behörden, welche die Bagatelldiebstähle in weniger als 10 % der Fälle zur Anklage bringen, also Informalisierungsquoten von 90 % oder mehr aufweisen. Auf der anderen Seite gibt es drei Staatsanwaltschaften, welche solche Delikte in etwa der Hälfte bzw. sogar über 60 % der Fälle anklagen (1. Buch, 6. Kapitel). Bezogen auf den Umstand, daß der Staatsanwalt bei einem präzise definierten Bagatelldelikt in aller Regel keinerlei unterschiedliche Informationen für unterschiedliche Sachentscheidungen zur Verfügung hat, er nach Lage der Akten lediglich die vier Formalkriterien zur Entscheidung heranziehen kann, erscheint es in derartigen Fällen unvertretbar, daß die Zufälligkeit des Wohn- bzw. Tatorts über

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Exekutivisches Recht

Kriminalisierung oder Informalisierung entscheidet. Auch wenn je spezifische Fall- und Täterinformationen bei Bagatelldelikten vorliegen würden — was nach Aktenlage regelmäßig nicht der Fall ist —, erscheint vor dem Hintergrund des rechtlich die Verfahrenseinstellung erzwingenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Ungleichbehandlung unvertretbar.

(10)

Ungleichheit der Rechtsanwendung bezüglich einzelner Staatsanwälte beim Bagatelldiebstahl

Untersucht man die Rechtsanwendung im Vergleich der einzelnen Staatsanwälte, beeindruckt deren enorme Spannbreite im Informalisierungsverhalten — wiederum bezogen auf klar definierbare Bagatelldiebstähle: Die Quoten reichen von 0 % bis 100 %. Es ist festzustellen, daß teilweise — wenn auch keineswegs durchgehend — sogar innerhalb einer Behörde ein Nebeneinander von äußerst umfassender oder weitgehender Informalisierungsbereitschaft und ebenso extremer Informalisierungsverweigerung beobachtet werden kann. Allerdings ist auch festzustellen, daß es zumindest stellenweise Tendenzen einer Vereinheitlichung der Entscheidungspraxis gibt. Nicht in allen Staatsanwaltschaften zeigt das individuelle Informalisierungsverhalten eine derartig ausgeprägte Bandbreite. So finden sich Behörden, in denen relativ einheitlich ein recht hohes, aber auch mittleres oder ziemlich niedriges Niveau bei eher geringer Abweichung herrscht (2. Buch, 3. Kapitel).

(11)

Unterschiedliches Ausmaß von Ungleichheit in verschiedenen Oberlandesgerichtsbezirken

Das Ausmaß der Ungleichheit zeigt sich selbst innerhalb der untersuchten Oberlandesgerichtsbezirke, obwohl man vermuten könnte, daß hier im Zuge der Dienst- und Fachaufsicht ein höheres Maß an Rechtsgleichheit erreicht werden müßte. Während der Oberlandesgerichtsbezirk Hamm mit insgesamt 10 Staatsanwaltschaften im Rahmen jener klar definierten Bagatelldelinquenz die höchste Heterogenität aufweist (durchschnittliche Informalisierungsquote von 72 %), zeigt der kleinste Oberlandesgerichtsbezirk Köln (mit drei Staatsanwaltschaften) trotz höchst unterschiedlicher Fallbelastung der drei Landgerichtsbezirke Köln, Bonn und Aachen die einheitlichste und auch höchste Informalisierungsquote. Durchschnittlich 95 % beim Diebstahl und 90 % bei Bagatell-Sachbeschädigungen (mit einer erstaunlichen Gleichmäßigkeit innerhalb der drei Staatsanwaltschaften des Bezirks) kontrastieren auffällig gegenüber den tendenziell niedrigsten Einstel-

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

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lungsquoten (Diebstahl 61 %, Sachbeschädigung 59 %) im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf (sechs Staatsanwaltschaften). Auffallig ist in diesem Bezirk die sehr hohe Varianz der Einstellungsquoten (von 42 % bis 71 % bei der Bagatell-Sachbeschädigung und 46 % bis 80 % bei den Bagatelldiebstählen). Eindeutig ergibt sich hier keine lineare Abhängigkeit zwischen der Größe eines Oberlandesgerichtsbezirks und der Höhe bzw. der Varianz der Einstellungsquoten (1. Buch, Abschnitt 6.2). Allerdings kann man festhalten, daß bei dem kleinsten Bezirk die informellen Steuerungsmöglichkeiten bezüglich der Informalisierungsquoten anscheinend die günstigsten Voraussetzungen aufweisen.

3.1.2

Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

Unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten läßt sich aufgrund der Analyse der landesweiten Aktenerhebung und der aufgeführten sekundärstatistischen Daten feststellen, daß exekutivisches Recht im Rahmen jugendstaatsanwaltlicher Praxis geprägt ist durch — eine primäre Funktionsentfaltung im Bereich massenbagatellarischer Kriminalität; hier zeigt sich eine prinzipielle Orientierung der Entscheidungsfindung an schematischen Kriterien der Deliktsschwere und der strafrechtlichen Vorbelastung des Beschuldigten, mithin eine eher schematisch-formale gegenüber einer material-inhaltlichen Orientierung; — bei den Delikten der Körperverletzung und der Sachbeschädigung eine eher material-inhaltliche Orientierung an täterbezogenen Merkmalen, die angesichts der vergleichsweise geringen Fallzahlen noch verfahrensökonomisch vertretbar erscheint. In der Grundgesamtheit der staatsanwaltlichen Erledigungen beträgt das Verhältnis der Delikte Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung in etwa 8 : 1 : 1 ; — eine deliktsunspezifisch auftretende non-interventionistische Einstellungspraxis, die sowohl den bürokratisch-administrativen Kapazitätsgrenzen der Strafjustiz als auch den Steuerungsgrenzen des Individualstrafrechts folgt; — eine daraus zu belegende hohe systemische Resistenz gegenüber kriminologisch-kriminalpolitisch fundierten spezialpräventiven Anforderungen an die Verfahrens- und Sanktionswahl; — eine deutliche Entscheidungsflexibilität, wie sie in der lokalen Ungleichheit der Rechtsanwendung zum Ausdruck kommt, die sich selbst bezogen auf klar abgrenzbare, parallelisierte Bagatelldelikte zeigt; selbst vor dem Hintergrund

18

Exekutivisches Recht

schematischer Entscheidungskriterien verbleiben erhebliche behördliche und individuelle Varianzen; -

eine nur — in wenigen Fällen - lokal auftretende Homogenität der Rechtsanwendung, hervorgerufen durch eine vermutlich eher informelle Aussteuerung von Rechtsgleichheit;

— eine ausschließlich im kleinsten Oberlandesgerichtsbezirk (Köln) auftretende Homogenität der Rechtsanwendung, die offenbar nur in überschaubaren regionalen Einheiten mit informellen Vereinheitlichungsstrategien zu verwirklichen ist.

3.2

Landesweite Befragung der Staatsanwälte

Hat die Analyse auf der Basis der landesweiten Aktenerhebung die Unterschiedlichkeit der Rechtsanwendung nur konstatieren können, können wir in einer Befragung, die an die real entschiedenen Sachverhalte statistisch gekoppelt werden kann, versuchen, eine Erklärung für die Unterschiede der Rechtsanwendung zu finden. Hiermit wird die Entscheidungspraxis des einzelnen Rechtsanwenders in den Blick genommen. Befragt wurden 158 Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte aus allen 19 nordrhein-westfälischen Staatsanwaltschaften. Der Rücklauf der Fragebögen erfolgte bis Juli 1988 und erbrachte mit 112 Beantwortungen eine Rücklaufquote von 71 %. Für die Koppelung mit der Aktenanalyse verblieben insgesamt 79 Dezernate mit 10.491 Falluntersuchungen (Aktenerhebungen, 1. Buch). Das staatsanwaltliche Erledigungsverhalten wurde in bivariater und multivariater Analyse — unterschieden nach allgemeiner und deliktsspezifischer (Bagatelldiebstahl) Diversionsorientierung — untersucht. Dabei wurden die folgenden Bedingungsfelder in den Blick genommen: — normative Orientierungen, — bürokratiespezifische Tätigkeitsmerkmale, — Organisationsbedingungen, — Umweltbeziehungen, — staatsanwaltliche Überzeugungen/Attitüden und — Berufs- und Sozialmerkmale. Mit der multivariaten Analyse (multiple Regression) kann erfaßt werden, welche unabhängigen Variablen bei simultaner Berücksichtigung einen Einfluß auf die abhängige Erledigungsvariable (Verfahrenseinstellung) entfalten.

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

3.2.1 (1)

19

Empirische Befunde Dominanz der Orientierung an normativen Formalkriterien

Die multivariate Analyse der Determinanten allgemeiner Diversionsbereitschaft (bezogen auf die untersuchten Deliktstypen Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung) bestätigt deutlich die Befunde aus der Aktenanalyse. Befragt man Staatsanwälte nach den Gründen ihrer Verfahrenseinstellungen und korreliert das Ergebnis mit dem realen Entscheidungsverhalten (Koppelung von Befragung und Aktenerhebung), so erklärt sich die allgemeine Diversionsbereitschaft des Staatsanwalts primär aus seiner Orientierung an formalen Normkriterien, während täterstrafrechtliche und interventionistische Faktoren in den Hintergrund treten. Der Staatsanwalt berücksichtigt bei seiner Entscheidung leicht klassifizierbare Formalkriterien wie Deliktsschwere und Anzahl der Delikte, strafrechtliche Vorbelastung und Schadenshöhe. Dieser Befund bestätigt sich auch bei der Analyse in der Untergruppe homogenisierter Fallmerkmale des Ladendiebstahls. Dabei zeigt sich lediglich eine Präferenz für eine moderate Erziehungsorientierung. Der Staatsanwalt akzeptiert im Prinzip das Diversionsroutineprogramm, d.h. er präferiert bei Ersttätern und geringer Schadenshöhe die Verfahrenseinstellung nach schriftlicher Ermahnung. Zwei Drittel aller Befragten stimmen mit dieser Programmatik überein. Interventionistische Diversionsorientierung (§ 45 Abs. 2 Nr. 1) tritt deutlich zurück, Interventionsdelegation an externe Träger von erzieherischen Maßnahmen wird als nahezu irrelevant ausgewiesen (2. Buch, Abschnitt 2.1).

(2)

Bürokratiespezifische Steuerungseinflüsse

Die allgemeine Diversionsbereitschaft wird neben der schematischen Normausrichtung insbesondere durch Bürokratiebedingungen gesteuert. Ein zentrales administratives Steuerungsinstrument ist die Führung einer sogenannten Resteliste. Diese Restelisten werden in bestimmten Behörden geführt, um Verfahren festzuhalten, bei denen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums noch keine Abschlußverfügung getroffen wurde. Dadurch hat die Behördenleitung die Möglichkeit, die Arbeitseffizienz der Dezernenten zu kontrollieren. Gerade bei (externen) interventionistischen Maßnahmen verbleibt das Verfahren zwangsläufig längere Zeit in der Resteliste. Diejenigen Entscheider, die die interventionistische Diversion (§ 45 Abs. 2 Nr. 1) bevorzugen, werden signifikant seltener (57 %) als die "Non-Interventionisten" (83 %) durch eine Resteliste kontrolliert. Die Existenz einer Resteliste wirkt mithin in signifikantem Maße der Interventionsdiversion entgegen.

20

Exekutivisches Recht

Neben der Resteliste beeinflußt auch das sogenannte staatsanwaltliche Pensum die Verfahrenswahl und die Interventionsform. Das Pensum wird u.a. durch die Zahl der von jedem Staatsanwalt in einem bestimmten Zeitraum zu erledigenden Ermittlungsverfahren bestimmt. Ganz eindeutig wirkt sich der Zeitaufwand, der mit den einzelnen Erledigungsarten verbunden ist, auf die Diversionspraxis aus. So äußern zwei Drittel aller Befragten, daß sie viel häufiger ein persönliches Ermahnungsgespräch führen würden, wenn sich das pensenmäßig auf ihre Arbeitsbelastung positiv auswirken würde. Fast die Hälfte nähme auch häufiger Verfahrenseinstellungen vor, wenn der damit verbundene Arbeitsaufwand durch Verringerung der sonstigen Arbeitsbelastung honoriert würde. Insgesamt wirkt sich die dem Zeitaufwand nicht angemessene Pensenberücksichtigung staatsanwaltlicher Maßnahmen, die vom formalen Routineprogramm abweichen, hemmend auf die allgemeine Einstellungsbereitschaft aus. Dabei würde eine entsprechende Berücksichtigung eher die ohnehin einstellungsbereiten Rechtsanwender zu erhöhter Diversion führen. Die arbeitsökonomischen Hemmnisse betreffen vor allem interventionistische Diversionsformen. Es kann deshalb erwartet werden, daß deren Abbau eine Zunahme eingriffsintensiver Reaktionen zur Folge hätte (2. Buch, Abschnitt 2.2).

(3)

Nachrangigkeit normübergreifender Überzeugungen/Attitüden

Normübergreifende Überzeugungen/Attitüden sind von geringer Bedeutung für die allgemeine Diversionsorientierung. Mit minimalem Einfluß steuern sie die Einstellungsbereitschaft — sowohl in der Selbsteinschätzung als auch in der Realität staatsanwaltlichen Entscheidens. Die strikte Orientierung am restriktiv interpretierten Legalitätsprinzip hat sich in den Gesamtmodellen als einzige Einflußvariable für die allgemeine und deliktsspezifische Diversionsbereitschaft herausgestellt. Diejenigen Staatsanwälte, die in einer extensiven Auslegung von Opportunitätsbzw. Erziehungsvorschriften eine "Aufweichung des Legalitätsprinzips" sehen (21 %), zeigen ganz eindeutig die geringste Einstellungsbereitschaft (zwei Drittel dieser Staatsanwälte stellen weniger als 10 % ihrer Verfahren ein). Diese traditionelle Ausrichtung an einem eng interpretierten strafverfolgenden Rollenverständnis ist die zentrale Begründung ex negativo für nicht bzw. kaum praktizierte Diversion. Ebenso ist eine punitive Orientierung des Rechtsanwenders diversionshemmend. Jene Staatsanwälte, die in der Strafe ein effizientes Mittel zur Steuerung des Legalverhaltens erblicken, sind gegenüber Informalisierungsentscheidungen zurückhaltender. Gleichwohl ist auch im Realverhalten diese Überzeugung eingebettet in die Dominanz normorientierter Formalkriterien. Staatsanwälte, die

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

21

umfassende Diversion betreiben, tun dies weitgehend ohne jugendstrafrechtlich explizit legitimierte Konzepte. In Anbetracht des Ausfalls übriger Begründungszusammenhänge bleibt die Schlußfolgerung, daß die Diversionsbereitschaft durch schematische Normorientierungen und durch bürokratische Rahmenbedingungen gesteuert wird (2. Buch, Abschnitt 2.5).

(4)

Keine wirksamen Vereinheitlichungsansätze

Derzeit gibt es nur quantitativ unbedeutende Ansätze zu einer administrativ angeleiteten Vereinheitlichung der Diversionspraxis. Die Antworten spiegeln jeweils den Konflikt zwischen Einzelfallentscheidungen und einheitlicher Rechtsanwendungspraxis wider. Sowohl Absprachen und Empfehlungen als auch die individuelle Beurteilung eines jeden Falls werden in ungefähr gleichem Umfang befürwortet. 13 % der Befragten gaben an, daß es für die Anwendung des § 45 offizielle hausinterne Verfügungen gebe; ein Viertel bejahte mündliche oder schriftliche Empfehlungen von Vorgesetzten. Im gleichen Ausmaß wurde die Frage nach inoffiziellen kollegialen Absprachen bejaht. Im Ergebnis treffen gleichwohl 55 % der Staatsanwälte ihre Diversionsentscheidung ohne jede Richtlinie, Empfehlung oder kollegiale Absprache. Auffällig ist zudem der hohe Grad an Unverbindlichkeit der Empfehlungspraxis. Nur vier Staatsanwälte sehen die Empfehlung ihrer Vorgesetzten als verbindlich an, bei den kollegialen Absprachen ist der Verbindlichkeitsgrad nur wenig höher. Staatsanwälte versuchen, ihre eigene Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit so weit wie möglich zu wahren. Der autonomen Einzelfallentscheidung messen alle Rechtsanwender einen hohen Stellenwert bei. Die formalen Kriterien und ihre höchst unterschiedlichen Ausprägungen, die in Vereinheitlichungsempfehlungen enthalten sind, stellen sich als so heterogen dar, daß von ihnen, wie die multivariate Überprüfung zeigt, kein Einfluß auf die Einstellungshäufigkeit und die Gleichheit der Rechtsanwendung ausgehen kann (2. Buch, Abschnitt 2.3).

(5)

Hohe Entscheidungsvarianz auch bei homogener Fallkonstellation

Bei der Überprüfung der allgemeinen Diversionsbereitschaft könnte der berechtigte Einwand vorgebracht werden, daß etwaige Unterschiede in der subjektiven Einschätzung und in der Entscheidungspraxis auf Unterschiede in den zugrundeliegenden Sachverhalten zurückgeführt werden können. Allerdings zeigt sich bei einer deliktsspezifischen multivariaten Analyse homogenisierter Sachverhalte (Ladendiebstahl, maximal 100 DM Schaden, ein Delikt, keine Vorbelastung, volles Geständnis), daß die bei der allgemeinen Diversionsbereitschaft ermittelten

22

Exekutivisches Recht

Determinanten in gleicher Weise die reale Bagatellisierungsbereitschaft prägen: Normative Formalkriterien und bürokratische Einflüsse steuern hier wie dort die Entscheidung, ob ein Verfahren eingestellt wird oder nicht. Alle anderen Variablen, insbesondere alle JGG-spezifischen Erziehungsorientierungen, behördeninterne Vereinheitlichungsbemühungen sowie sozial-biographische Merkmale treten hinter den formalen und Bürokratieeinflüssen mehr oder weniger zurück. Dies führt gleichwohl zu erstaunlichen Entscheidungsvarianzen. 20 % der befragten Staatsanwälte stellen höchstens 14 % der Ermittlungsverfahren, die gleich gelagerte Bagatelldiebstähle zum Gegenstand haben, ein, gegenüber einem Drittel ihrer Kollegen, die hier in mehr als 80 % der Fälle so verfahren. Diese Ungleichheit in der Rechtsanwendung wird primär von individuellen normativen Interpretationsvarianzen und lokal-bürokratischen Rahmenbedingungen gesteuert. Explizite jugendstrafrechtliche, beispielsweise spezialpräventive Erwägungen treten demgegenüber deutlich zurück.

3.2.2

Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

Unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten läßt sich nach den Befunden der landesweiten Staatsanwältebefragung feststellen, daß exekutivisches Recht geprägt ist durch — ein breites Bewußtsein der Rechtsanwender für einen

— bereits auf der

Grundlage der Aktenanalyse als funktional ausgewiesenen — Bedarf an Beurteilungsspielräumen; — ein damit einhergehendes Streben nach Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf autonome Einzelfallentscheidung, die einhergeht mit der Abwehr gegenüber externen und — für die Steuerbarkeit staatsanwaltlichen Handelns besonders relevant — aus der Behördenhierarchie kommenden Vereinheitlichungsbemühungen; — ein Bewußtsein auf seiten der Rechtsanwender, das weitgehend als subjektive Entsprechung der auf der Basis der Aktenanalyse ermittelten objektiven Entscheidungsdeterminanten gelten kann. Er favorisiert Formalkriterien wie Schadenshöhe, Deliktshäufigkeit, Vorbelastung etc.; — eine Orientierung der Rechtsanwender an formal-schematischen und bürokratiespezifischen Entscheidungskriterien auch jenseits der Bagatelldelikte; — die Nichtberücksichtigung material-inhaltlicher, am spezialpräventiven Normprogramm

des

Jugendgerichtsgesetzes

orientierter

Entscheidungskriterien,

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

23

soweit die durch das Delikt des Diebstahls dominierte Summe aller Delikte Untersuchungsgegenstand ist; — einen bemerkenswerten, zu ungleicher Rechtsanwendung führenden Beurteilungsspielraum des Staatsanwalts bei der Wahl der Verfahrensart auch im Bereich homogener Bagatelldelikte, trotz der hier dominanten Orientierung an formalen Schwerekriterien; — ein ausgeprägtes Bewußtsein der Staatsanwälte von der allgemeinen Bedeutung arbeitsökonomischer Rahmenbedingungen, die sich auch auf die Erledigungsvarianz bei Bagatelldelikten auswirken; — eine ausgeprägte Zufriedenheit der Rechtsanwender mit dem normativen Status quo; 18 % der Staatsanwälte sprechen sich sogar für eine Erweiterung exekutivischer Entscheidungsbefugnisse aus, nur 2 % votieren für eine Einschränkung.

3.3

Vermittlung präventionsrelevanter Informationen durch die Polizei für die Diversionsentscheidung des Staatsanwalts

Nach den bisherigen Erkenntnissen über staatsanwaltlich-bürokratische Entscheidungsroutinen und nach den Befunden der vorangegangenen Untersuchungsschritte besteht ein ausgeprägtes Defizit an präventionsrelevanten Informationen für die sachgerechte Anwendung des Normprogramms der Diversion. Das betrifft insbesondere die in § 45 Abs. 2 n.F. (§ 45 Abs. 2 Nr. 1 a.F.) normierte Einstellungsvoraussetzung einer durch das soziale Umfeld bereits durchgeführten oder eingeleiteten "erzieherischen Maßnahme". Dieser zentrale Begriff des Normprogramms steht zugleich für eine Vielzahl weiterer einstellungsrelevanter spezialpräventiver Aspekte. Der Gesetzgeber hat mit dieser Einstellungsvoraussetzung das jugendstrafrechtliche Subsidiaritätsprinzip und das verfassungsrechtlich garantierte originäre elterliche Erziehungsrecht explizit berücksichtigt. § 45 Abs. 2 n.F. postuliert ausdrücklich: Der Staatsanwalt "sieht von der Verfolgung ab", wenn er von einer erzieherischen Maßnahme weiß und er weder die Einschaltung des Richters noch eine Anklage "für erforderlich hält". Aus der Begründung zum Entwurf des 1. JGG-Änderungsgesetzes ergibt sich, daß der Gesetzgeber davon ausgeht, es werde sich "regelmäßig aus Niederschriften oder Vermerken der Polizei ergeben, die bei ihren Vernehmungen auf die persönliche und soziale Situation des Jugendlichen eingehen", welche erzieherischen Maßnahmen bisher erfolgt sind (BT-Dr. 11/5829, 24). Die Prüfung einer solchen Funktionszuschreibung war zentraler Gegenstand des nachfolgend thematisierten Untersuchungsschritts, der einen entsprechenden Modellversuch von Polizei und Staatsanwaltschaft in Bielefeld evaluiert hat.

24 3.3.1 (1)

Exekutivisches Recht

Empirische Befunde Ziel der Informationsverbesserung

Das "Bielefelder Informationsmodell" ist ein administrativ implementiertes Projekt, das mittels der Erprobung einer verbesserten Informationskooperation zwischen Jugendstaatsanwaltschaft und Polizei Lösungswege aus dem staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsdilemma aufzeigen will. Polizeiliche Aufklärungsressourcen und polizeiliches Erfahrungswissen aus dem direkten Kontakt mit dem Beschuldigten sollen gezielt zur Ermittlung der nach den §§ 45 JGG, 153, 153a StPO relevanten Tatbestände als Voraussetzungen der Verfahrenseinstellung genutzt werden. Das kriminalpolitische Ziel ist es, durch den Modellversuch die Staatsanwaltschaft in die Lage zu versetzen, nicht nur Bagatellkriminalität in Diversion einzubeziehen (3. Buch, 2. Kapitel).

(2)

Instrument der Informationsvermittlung

Das Instrument zur Informationsvermittlung präventionsrelevanter Sachverhalte ist ein zwischen den Instanzen von Polizei und Staatsanwaltschaft entwickelter Informationsbogen. Der Informationsbogen enthält neun — überwiegend standardisierte — Fragestellungen, die der normativen Präventionsprogrammatik der § § 4 5 JGG, 153, 153a StPO entnommen sind. Es handelt sich um die Informations Vermittlung zu folgenden rechtsprogrammatischen Anforderungen: — mitursächliches Tatmotiv, — subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat, — Schadens Wiedergutmachung, — Erziehungsmaßnahmen/informelle Sanktionen anderer Personen und Institutionen, — mögliche erzieherische Wirkungen des Ermittlungsverfahrens, — Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt und während der Vernehmung, — eigener Schaden des Beschuldigten, — tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, — zu erwartende Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen. Diese Kategorien des Informationsbogens entstammen sämtlich der normativen Programmatik des § 45 in Verbindung mit Strafzumessungsnormen des allgemeinen Strafgesetzbuchs (3. Buch, Abschnitt 2.3).

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

(3)

25

Ergebnis der Informationsvermittlung

Die Gesamtanalyse der Informationsvermittlung führt auf der Grundlage von 1.056 ausgefertigten Informationsbögen zu dem Ergebnis, daß durch die Einführung des Informationsbogens zu allen expliziten Fragestellungen des Instruments ein deutlicher Informationszuwachs bei der Staatsanwaltschaft festzustellen ist. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, einzelfallgemäße Entscheidungen zu treffen und andere als Bagatellbereiche in Diversion einzubeziehen. Die Informationslage vor Einführung des Informationsbogens war für die Staatsanwaltschaft hoch defizitär und selektiv. Nach Einführung des Modells stellt sie sich wie folgt dar: — In fast der Hälfte aller Fälle geht der Polizeibeamte aufgrund seiner Eindrücke aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Beschuldigten nunmehr von einer die Tat "bereuenden/einsichtigen" Person aus. — In rund 30 % der Fälle erfahrt der Staatsanwalt jetzt von einer bereits erfolgten oder bevorstehenden Schadens Wiedergutmachung. — Bei 50 % der Tatverdächtigen konnte eine erzieherische Reaktion des sozialen Umfeldes festgestellt werden bzw. war dies zu erwarten. — In 51 % der Fälle wurde angenommen, daß eine erzieherische Wirkung polizeilicher Ermittlungshandlungen gegeben ist. — In zahlreichen Fällen wurden Eigenschaftszuschreibungen und Anmerkungen zur Kooperationsbereitschaft der Beschuldigten gemacht. — In jedem 10. Fall wird ein Eigenschaden des Tatverdächtigen festgestellt. — In jedem 5. Fall hat der Geschädigte nach der Feststellung von Polizeibeamten ein tatbegünstigendes Verhalten gezeigt. — Negative Auswirkungen von zu erwartenden strafrechtlichen Sanktionen konnten von den Polizeibeamten in jedem 10. Fall der Staatsanwaltschaft vermittelt werden. Damit sind der Staatsanwaltschaft differenzierte Informationen für die Prüfung der einstellungsrelevanten normativen Voraussetzungen vermittelt worden, die ihr in diesem Umfang und dieser qualitativen Dichte vor der Einrichtung des Informationsmodells nicht zur Verfügung standen (3. Buch, Abschnitt 4.2.3).

(4)

Rechtsstaatliche Problemfelder

Die Polizeibeamten nutzen bei der konkreten Umsetzung des Informationsmodells diejenigen Erkenntnisquellen, die sich ihnen im Rahmen der regulären Sachverhaltserforschung ohnehin bieten. Eine unverhältnismäßige, Freiheitsrechte tangierende Ausforschung persönlicher Lebensverhältnisse konnte nicht beobachtet werden. Die gewonnenen Informationen werden anläßlich der ohnehin durchzufüh-

26

Exekutivisches Recht

renden Ermittlungstätigkeiten — quasi nebenbei — erfaßt, ohne daß diese Recherche als Persönlichkeitserforschung im Sinne des JGH-Auftrags zu gelten hat. Da Polizeibeamte derartige Informationen bislang schon im sogenannten Abschlußvermerk — wenn auch nur selektiv — vermitteln, besteht qualitativ zum Normalfall polizeilicher Vernehmung kein Unterschied: Der Unterschied nach Einführung des Informationsinstruments ist vielmehr ein quantitativer und systematischer. Mit Hilfe des Informationsbogens wird dem Staatsanwalt ein umfassendes Informationsangebot systematisch unterbreitet, das er im Zuge seines gesetzlichen Ermittlungsauftrags nutzen kann. Nicht übersehen werden sollte, daß mit dem Informationsinstrument nicht nur objektive Fakten übermittelt werden, sondern zugleich ein problematisches Feld neuer Zuschreibungsmöglichkeiten eröffnet wird.

(5)

Polizeiliches Toleranzpotential

Mit der Formulierung "Es wird empfohlen, in Erwägung zu ziehen", konnten Polizeibeamte im Rahmen des Informationsmodells einen Vorschlag zur staatsanwaltlichen Verfahrensentschließung abgeben. Eine Gegenüberstellung von formellen/informellen Erledigungskontingenten der Staatsanwaltschaft und den entsprechenden Vorschlägen der Polizei läßt deutlich erkennen, daß sich die Vorschlagspraxis der Polizei hoch signifikant von der Entscheidungspraxis der Staatsanwaltschaft unterscheidet: Jeder zweite Fall, den die Staatsanwaltschaft zur Anklage brachte, wurde von der Polizei für eine informelle Erledigung vorgeschlagen. Von dieser Informalisierungsbereitschaft werden Bagatellverfahren, überprüft am Beispiel der Ladendiebstähle, zu fast 100 % erfaßt. Das zusätzliche Potential muß — da auch die in die Überprüfung einbezogene Bielefelder Staatsanwaltschaft in diesem Bereich fast alle Verfahren einstellt — aus dem Bereich mittelschwerer bzw. schwerer Kriminalität kommen (3. Buch, 5. Kapitel).

(6)

Keine Ausweitung der Entscheidungskompetenz auf die Polizei

Trotz des höheren Toleranzpotentials, das Polizeibeamte an den Tag legen, ist unter Berücksichtigung der empirischen Befunde dieser Untersuchung und der dadurch gewonnenen Einsichten eine institutionalisierte polizeiliche Diversionsentscheidung nicht zu empfehlen. Polizeibeamte — so zeigen multivariate Analysen - lassen sich primär von täterstrafrechtlichen Aspekten und Überlegungen (Tätermerkmale, Verhalten nach der Tat) leiten. Zwar orientieren sich Polizeibeamte

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

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wesentlich zurückhaltender als Staatsanwälte an der Vorbelastung, dem Umfang der Tatbeteiligung etc., also mithin weniger an formalen Kriterien. Große Bedeutung kommt hingegen dem Merkmal des "Verhaltens in der polizeilichen Interaktion" zu. Die Variable "Reue/erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens/Schadenswiedergutmachungsbereitschaft" ist eine der wichtigsten Einflußfaktoren in allen multivariaten Regressions- und Logit-Modellen (3. Buch, Abschnitt 5.2.4). Die dominante Berücksichtigung des Beschuldigtenverhaltens in der Vernehmung zeigt nach den empirischen Überprüfungen, daß dahinter ein erhebliches Diskriminierungspotential verborgen ist. Betroffen sind insbesondere Arbeitslose, Sonderschüler, Heimbewohner etc. Der soziale Status ist zwar nicht der unmittelbare Anknüpfungspunkt, aber er vermittelt jene Verhaltensweisen, an denen Polizeibeamte ihre (negative) Entscheidung festmachen. Die umfassendere Orientierung an spezialpräventiv relevanten Merkmalen vermag einer strukturell bedingten Schlechterstellung von sozial Benachteiligten mithin nicht entgegenzuwirken. Darüber hinaus sind problematische Bewertungsprozesse zu beobachten. Aufgrund unterschiedlicher Handlungskompetenz werden Verdächtige, die z.B. Sprachschwierigkeiten oder intellektuelle Probleme aufweisen, benachteiligt. Dies wirkt sich auf den polizeilichen Verfahrensvorschlag aus, da dieser entscheidend von Verhaltensmerkmalen getragen wird. Im übrigen wird "unkooperatives Verhalten" in der Vernehmung — das juristisch zum Teil als Wahrnehmung strafprozessualer Rechte zu werten ist — negativ sanktioniert (3. Buch, Abschnitt 6.2). Diese empirischen Befunde lassen es geboten erscheinen, die seinerzeit aus Gruppendiskussionen gewonnenen Einsichten (vgl. Albrecht 1983) zu reformulieren: Nicht polizeiliche Diversionsentscheidungen, sondern die systematische Berücksichtigung präventionsrelevanter Sachverhalte durch polizeiliche Ermittlungen im Rahmen rechtlich strukturierter und kontrollierbarer Entscheidungsprozesse der Staatsanwaltschaft gilt es zu gewährleisten. Festzuhalten sind die verschiedenen positiven Funktionen, die sich aus den Befunden des Bielefelder Informationsmodells ableiten lassen. Nicht zuletzt die Erkenntnis, daß gerade Ermittlungsbeamte, die den sozial engsten Kontakt zum Tatverdächtigen — und damit eine quasi natürliche Kompetenz der Beurteilung von Tat und Lebenssachverhalt — haben, in hohem Maße Informalisierungen empfehlen, zeugt von der Angemessenheit einer Kriminalpolitik, die jedenfalls im Bagatellbereich und im Bereich mittelschwerer Kriminalität konsequent auf Entkriminalisierung setzt.

28 3.3.2

Exekutivisches Recht

Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

Unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten läßt sich nach den Befunden der Evaluation des Informationsmodells bei der Polizei feststellen, daß als Ausprägungen exekutivischen Rechts angesehen werden können — die durch Vorverlagerung von Steuerungskompetenzen ermöglichte Erweiterung der Informationserfassung. Diese erzeugt erst die Voraussetzung für die Anwendung präventiver Normprogramme, die bei zentraler Abwicklung des Entscheidungsprogramms zu einer Überforderung des Rechtsanwenders führt und daher leer laufen muß; — die bereitwillige Annahme von entscheidungsvorbereitenden Steuerungskompetenzen durch die Polizei, womit für den einzelnen Polizeibeamten eine größere Transparenz des Strafverfolgungsprozesses verbunden und damit eine größere Rationalität der eigenen Benifsrolle möglich ist; — der Bedeutungszuwachs lebensweltlicher Sachverhalte im Entscheidungsprozeß und der damit einhergehende Zuwachs an inhaltlich-materialen, täterorientierten Betrachtungen und Wertungen, wodurch die Entscheidungserheblichkeit formaler Schwerekriterien zurücktritt und die formalen Grenzen für Verfahrenseinstellungen (Delikt, Schadenshöhe, Deliktsanzahl, Vorbelastungen), die auch für Polizeibeamte Relevanz haben, wesentlich hinausgeschoben werden; — eine spezifische rechtsstaatliche Ambivalenz der Informationserweiterung, die spiegelbildlich durch den negativen Aspekt konterkariert wird, daß nunmehr auch eine Erweiterung von Zuschreibungen, subjektiven Bewertungen und Vorurteilen eintritt, die durch Rechtsanwender nicht mehr validierbar sind, sondern unkontrollierbar in dessen Entscheidungsprogramm einfließen. Dieser Sachverhalt ist aus einer rechtsstaatlich-prozessualen Sicht besonders bedenklich, weil infolge von Dezentralisierung und Vorverlagerung der Prozeß der Informationsermittlung nicht durch verfahrensförmige Schutzrechte hinreichend gesichert ist. Die strafprozessualen Abwehr- und Schutzrechte werden traditionell gerade zu Beginn des Ermittlungsverfahrens nicht wirksam bereitgestellt. Das geschieht erst auf den später folgenden Stufen zentraler justizförmiger Entscheidungsfindung, kommt dann aber in seiner schützenden Wirkung auch dort häufig zu spät.

3.4

Implementations- und Wirkungsanalyse bei der Staatsanwaltschañ

Aufgabe des letzten Untersuchungsschritts ist die Prüfung der Verarbeitung des durch die Polizei vermittelten Informationsangebots seitens der Staatsanwaltschaft.

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

29

Ändern sich die Voraussetzungen für die Verfahrensentscheidung? Ändern sich die Einstellungsquoten? Ändert sich das Verfahren der Entscheidungsfindung? Es geht also um die Untersuchungsebenen der Implementation und der Modellwirkung (Impact) auf der Seite des Informationsadressaten - der Staatsanwaltschaft. Durch die Beschränkung der Analyse des Modelleffekts auf einen Experimentalbezirk (Stadt Bielefeld, η = 1.056 Verfahren) und die Erfassung eines Kontrollbezirks, nämlich den verbleibenden Teil des Landgerichtsbezirks Bielefeld (Umland, η = 1309), war die Entwicklung eines Parallelgruppenvergleichs möglich. Jeder Staatsanwalt ist zugleich Entscheider im Experimental- wie im Kontrollbezirk. Hierdurch konnten Veränderungen im Entscheidungsverhalten der Staatsanwälte zuverlässig auf den Modelleffekt des Informationsbogens hin überprüft werden.

3.4.1 (1)

Empirische Befunde Implementation

Die Analyse der Implementation und die Effektivitätsprüfung setzen beim Diebstahl mit einer dreifach differenzierten Deliktsausprägung ein. Der Einfluß des Informationsmodells wird im Hinblick auf -

-

Bagatellfälle des Diebstahls (Ladendiebstahl, Schaden bis 100 DM, Geständnis, keine Vorbelastung), die Gruppe der sogenannten mittelschweren Diebstahlsdelikte (alle Diebstähle mit Ausnahme des Einbruchsdiebstahls und der Bagatellfälle, Schaden bis 500 DM, Geständnis, Tatverdacht bis zu zwei Taten, bis zu zwei Vorbelastungen) und bezüglich der sogenannten schweren Fälle des Diebstahls (verbleibende Restgruppe) geprüft.

Die Informalisierungsquoten für die Bagatellen liegen im Stadtbezirk sowie im Umland um 95 %, bei den mittelschweren Fällen schwanken sie zwischen 56 % (Stadt) und 43 % (Umland), von den schweren Fällen werden ein Fünftel eingestellt. In Anbetracht der geringen Varianz der Informalisierungsquoten bei den Bagatellen wird die Entscheidungserheblichkeit des Informationsmodells im Rahmen des Diebstahls lediglich bei den mittelschweren und bei den schweren Delikten untersucht. Der empirische Befund bezüglich der drei Deliktsbereiche stellt sich auf der Implementationsebene wie folgt dar: Im Bereich mittelschwerer Diebstahlskriminalität, bei Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsdelikten konnten die ver-

30

Exekutivisches Recht

mittelten Informationen aus dem Informationsbogen einen Einfluß auf die Entscheidung der Staatsanwälte entfalten. Bei diesen Deliktstypen nahmen die Dezernenten die entsprechenden Informationen aus dem Instrument in ihre Fallbewertung auf. Allerdings zeigen die Befunde auch, daß der Informationsbogen die Dominanz der vorherrschenden pauschalen Entscheidungskriterien (Vorbelastung, Schadenshöhe, Anzahl der Taten, Geständnis) nicht beseitigen konnte. Die Informationsbogenvariablen haben allenfalls einen gewissen Einfluß auf die Entscheidung der Staatsanwälte, was zu der Bewertung einer erfolgreichen Teilimplementation des Informationsmodells fuhrt. Die Befunde zeigen demnach, daß sich die Staatsanwaltschaft bereits in einem Umdenkungsprozeß befindet. Die präventionsrelevanten Faktoren gewinnen im Bereich der mittleren Deliktsschwere zunehmend an Bedeutung, wenngleich die herkömmlichen Schwerekriterien noch nicht hinreichend zurücktreten. Demgegenüber werden bei den sogenannten schweren Diebstahlsfallen lediglich formale Schwerekriterien berücksichtigt, hier schlagen sich präventionsrelevante Informationen bei der Entscheidungsfindung nicht nieder. (4. Buch, 3. Kapitel).

(2)

Modelleffektivität (Impact)

Welche Auswirkungen hat das Informationsmodell auf die quantitative Verteilung von Verfahrenseinstellungen und Anklagen? Wieder unter Ausblendung der Bagatelldelikte, die sowohl im Stadtbezirk als auch im Umland eine nahezu 100%ige Informalisierung erfahren, zeigt sich bei den mittelschweren Diebstahlsdelikten in der multivariaten Analyse ein signifikanter Unterschied zwischen Stadt- und Umlandbezirk in Gestalt einer erhöhten Informalisierung im Stadtbezirk. Werden im Stadtbezirk 56 % der mittelschweren Diebstahlsverfahren informell erledigt, sind es im Umlandbezirk lediglich 43 % (4. Buch, Abschnitte 4.1.2 und 4.2). Beim schweren Diebstahl ist der Unterschied zwischen den Informalisierungsquoten in den Bezirken nicht signifikant, während sich bei der Körperverletzung ein höherer Informalisierungstrend im Stadtbezirk feststellen läßt (4. Buch, Abschnitt 4.1.4). Bei der Sachbeschädigung ist der Unterschied zugunsten des Stadtbezirks sogar hoch signifikant (4. Buch, Abschnitt 4.1.5). In diesen Bereichen gibt es keine gesicherten Pauschalkriterien, so daß die Informationsbogenvariablen für die Rechtsanwender hier sehr willkommen sind. Betrachtet man die quantitative Verteilung zwischen Anklagen und Informalisierungen im Vorher-Nachher-Design, so zeigt sich bezogen auf die mittelschweren Diebstahlsdelikte ein eindeutiger Einfluß des Modellversuchs. Vor der Einführung des Informationsbogens wurden 74 % der mittelschweren Diebstahlsfälle formell erledigt, nach Einführung des Modells waren es nur noch 44 %. Dieses auf den

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljusüzsystem

31

ersten Blick für das Informationsmodell sehr erfolgreiche Ergebnis ändert sich jedoch dann, wenn man die Informalisierungsquoten im Stadt- und Umlandbezirk zu verschiedenen Meßzeitpunkten im Verlauf des Modellversuchs vergleicht. Es zeigt sich, daß nach einer halbjährigen Anfangsphase des Modells ein ausgeprägter Unterschied in der Erledigungsstruktur zwischen Stadtbezirk und Umland wohl vorhanden war. Zum Abschluß der Modellevaluation haben sich allerdings die Einstellungsquoten des Umlands an die Höhe des Stadtbezirkswerts angeglichen. Das Einstellungsniveau aus dem Umland hat sich dem modellbeeinflußten Niveau des Stadtbezirks angenähert, obwohl im Umland kein Informationsbogen als einstellungsstimulierendes Entscheidungskriterium zur Verfügung stand. Der Einfluß des Modells ist nach diesen Analysen mithin nur noch ein mittelbarer. Offenbar haben sich unter dem Einfluß des Informationsmodells beim Rechtsanwender Schweregrenzen der Entscheidungsfindung verändert und zu anderen Entscheidungsroutinen geführt. Im Einzelfall werden nun höhere Schäden und mehr Vorbelastungen als Einstellungsvoraussetzungen bei einer Tat bzw. einem Tatverdächtigen akzeptiert. Nach einer Anpassungsphase entwickelte sich hieraus ein neues, an pauschalen Kriterien orientiertes Entscheidungsmuster, jedoch mit veränderten Obergrenzen bei der Schwerebestimmung. Die differenzierten Informationen des Informationsbogens werden lediglich für einen legitimatorischen Entscheidungsschritt, nämlich für die Verschiebung der weiterhin gebrauchten Schwerekriterien herangezogen. Sie dienen der positiven Begründung der Einstellungsentscheidung bei Fällen, die nach der Negativauslese der Anklagen als Zweifelsfalle jenseits der schematisch einzustellenden Bagatellen verbleiben. Auch bezüglich der Effektivitätsprüfung (Impact-Analyse) zeigt sich somit, daß die quantitativen Auswirkungen bei den Informalisierungen infolge des Modells nur als bedingt erfolgreich anzusehen sind. Zwar steigt die Einstellungsquote nach Einführung des Modells im Bereich der mittelschweren Diebstahlsfälle deutlich an; dahinter verbirgt sich auf Dauer gesehen allerdings nur ein mittelbarer, ein Initialeffekt des Informationsmodells.

(3)

Akzeptanz und Ablehnung des Modells bei den individuellen Rechtsanwendern

Die spezifische Untersuchung jedes einzelnen Dezernenten im Hinblick auf seine Entscheidungsstruktur in Stadt- und Umlandfällen führt nach der multivariaten Analyse beim Delikt des Diebstahls zu folgendem Ergebnis (4. Buch, 5. Kapitel): - Drei Dezernenten lehnen das Informationsmodell eher ab: Bei ihnen gehen präventionsbezogene Informationen nicht oder nur am Rande in die Entscheidung ein.

32

Exekutivisches Recht

-

Ein Dezernent akzeptiert das Modell zumindest teilweise. Seine Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, daß er die Hinweise aus dem Informationsmodell nutzt, ohne allerdings seine eher an pauschalen Schwerekategorien orientierten Entscheidungsmuster aufzugeben. — Lediglich zwei Dezernenten akzeptieren das Modell weitgehend: In ihren Entscheidungen dominieren präventionsbezogene Informationen. Sie haben das übliche formale Entscheidungsmuster bei der Bearbeitung der Verfahren aus dem Stadtbezirk aufgegeben. Bei ihrer Entscheidungsfindung konnten die sonst dominierenden Variablen Vorbelastung und Schadenshöhe zugunsten der Informationen über die Beschuldigtenpersönlichkeit und sein Umfeld verdrängt werden. Aus dem Informationsbogen haben sie sich überwiegend den polizeilichen Vorschlag als summarischen Indikator über das Vorliegen von Einstellungsbedingungen zu eigen gemacht. Die unterschiedlichen Begründungsmuster für die Entscheidung haben — und das ist das bemerkenswerteste Ergebnis — keine wesentlichen Differenzen für die Wirkung des Modells auf die Entscheidungsverteilung zwischen Anklage und Einstellung zur Folge. Bis auf einen Dezernenten haben die übrigen fünf nahezu gleiche quantitative Informalisierungsquoten im Bereich des mittelschweren Diebstahls aufzuweisen. Lediglich ein Dezernent weicht deutlich von der Entscheidungsstruktur der übrigen Dezernenten ab. Da er aber bei der Erledigung der Verfahren aus dem Stadtbezirk wie auch bei der Erledigung der Umlandfälle von den anderen Dezernenten abweicht, ist dieser Unterschied nicht auf die Einführung des Modells zurückzuführen. Jene Staatsanwälte, die sich ausschließlich an pauschalen Einstellungskriterien orientieren, erreichen durch die Verschiebung der für eine Informalisierung noch akzeptablen Obergrenzen bei den klassischen Schwerekriterien wie Schadenshöhe und Vorbelastung, daß sich bei ihrer Erledigungsverteilung keine wesentlichen Unterschiede zu den Dezernenten ergeben, die bei ihrer Entscheidung eher präventionsrelevante Gesichtspunkte berücksichtigen (4. Buch, Abschnitt 5.2.2). Diesen Befund kann man so interpretieren, daß die an präventionsrelevanten Kriterien orientierten Dezernenten das Informationsmodell zurückhaltend praktizieren, weil sie Präventionsüberlegungen nur im Rahmen pauschaler Schwerekriterien, wenn auch auf etwas höherem Niveau, in ihre Entscheidung einfließen lassen. Im Ergebnis stellen sich die unterschiedlichen Legitimationsfiguren der Rechtsanwender als Beleg ihrer geringen Beeinflußbarkeit durch inhaltliche Vorgaben dar. Zwar werden sie im Hinblick auf die Informalisierungskontingente durch Vorgaben der Behördenleitung beeinflußt; die inhaltliche Begründung des Handelns und die Orientierung an inhaltlichen Kriterien bleibt jedem Rechtsanwender indes uneingeschränkt selbst überlassen. Signifikante Unterschiede einzelner Rechtsanwender im Hinblick auf die Häufigkeit von Verfahrenseinstellungen sind - jeden-

Veränderte Entscheidungsstrukturen im Kriminaljustizsystem

33

falls in der untersuchten Staatsanwaltschaft Bielefeld - eher die Ausnahme, wenngleich nach Stadt- und Umlandbezirk durchaus differenziert. Man kann also festhalten: Es gibt Rechtsanwender, denen ein Zuwachs an differenzierten Informationen als Legitimation ihrer Entscheidung gelegen kommt. Haben sie diese Informationen — wie im Umland — nicht, orientieren sie sich ausschließlich an pauschalen Kriterien. Andere Rechtsanwender lehnen jede Beeinflussung durch zusätzliche Informationen ab, sie orientieren sich ausschließlich an pauschalen Einstellungskriterien. Eine dritte Gruppe schließlich begrüßt und verwendet in hohem Maße die von der Polizei vermittelten Informationen und zeigt damit eine hohe Sensibilisierung für präventionsrelevante Erwägungen — zum Teil allerdings unabhängig von der Vorgabe durch das Informationsmodell.

3.4.2

Steuerungstheoretische Schlußfolgerungen

Unter steuerungstheoretischen Gesichtspunkten stellen wir nach den Befunden der Evaluation des Informationsmodells auf der Ebene der Staatsanwaltschaft als Indikatoren für exekutivisches Recht fest: — die grundsätzlich fortbestehende Dominanz formaler, schematisches Entscheiden ermöglichender Kriterien bei der Verfahrenswahl durch den Staatsanwalt, unter weitgehender Nichtberücksichtigung der durch das Informationsmodell angebotenen inhaltlich-materialen Fallinformationen; — eine deliktsspezifisch variierende Entscheidungserheblichkeit präventionsrelevanter, materialer Kriterien: bei den Massendelikten des Diebstahls beherrschen herkömmliche Formalkriterien die Entscheidungsfindung; — die Entfaltung spezialpräventiv-individualisierender Variablen des Informationsbogens erst jenseits der schematisch entschiedenen Bagatellen, dies betrifft die mittelschweren Begehungsformen des Diebstahls, die Körperverletzung und die Sachbeschädigung, nicht jedoch den schweren Diebstahl; — die in der anhaltenden Entscheidungserheblichkeit der formalen Schwerekriterien offenkundig werdenden Kapazitätsgrenzen für die zentrale Verarbeitung der durch das Modell bereitgestellten präventionsrelevanten Daten. Die zeitliche Entwicklung der Modellwirkung zeigt, daß sich auf Dauer differenzierte Informationssysteme abschleifen und Formalkriterien ihre Entscheidungserheblichkeit langfristig durchsetzen;

Exekutivisches Recht

34

— die Steuerungsfahigkeit der Behördenleitung gegenüber den einzelnen Rechtsanwendern, die an der administrativ initiierten und eingetretenen Erhöhung der Einstellungsquoten ablesbar ist. Diese kann sowohl durch eine Aktivierung der Selbststeuerungskompetenz der Staatsanwälte mittels des zur Verfügung gestellten Informationsbogens als auch durch informelle Vorgaben in Dienstbesprechungen, Einzelgesprächen und Fortbildungsveranstaltungen eingetreten sein; — die Abhängigkeit differenzierter Steuerungsmittel von Ressourcen der Fallbearbeitung. Bei Massendelikten wie dem Diebstahl ist das Steuerungsmittel weniger das komplexe Informationsinstrument, sondern eher die durch die Modelleinrichtung zum Ausdruck gebrachte staatsanwaltschaftsinterne Zielvorgabe erhöhter Einstellungskontingente. Die Bedeutung des Informationsbogens ist in der Sensibilisierung des Rechtsanwenders für die Akzeptanz neuer Schweregrenzen für die Verfahrenseinstellung zu sehen. Der Informationsbogen vermittelt dem Rechtsanwender Rationalitäts- und Plausibilitätskriterien für die administrative Vorgabe erhöhter Einstellungsquoten. Bei Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsdelikten, die sich gegenüber quantifizierbarer Schwerebemessung eher sperren, verringert sich die behördliche Steuerungsmöglichkeit durch Formalkriterien. Das differenzierte Informationsinstrument entfaltet hier seine Wirkung, allerdings nur, weil die geringen Fallzahlen die Grenzen der Fallbearbeitungsressourcen des Rechtsanwenders nicht überschreiten; — die in der Bielefelder Staatsanwaltschaft vorherrschende hohe Steuerbarkeit der einzelnen Rechtsanwender, die durch deren homogene, an der Behördenvorgabe orientierte Einstellungsquoten ausgewiesen wird. Auch nach der Modelleinrichtung verbleibt hingegen Begründungsflexibilität. Jeder Rechtsanwender legitimiert seine an der Behördenvorgabe orientierte Entscheidung — jedenfalls im Bereich des Diebstahls — nach eigenem Gutdünken. Die auffällige Begründungsvarianz unterstreicht das offensichtliche Autonomiestreben der Rechtsanwender.

4

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

Bevor man aus den Erkenntnissen zur exekutivischen Rechtspraxis konkrete kriminalpolitische Schlußfolgerungen zieht, muß der Frage nachgegangen werden, ob vom Gesetzgeber zu fordernde zentrale gesetzliche Steuerungen angesichts der offenbar funktionsgerechten Dezentralisierung von materiellen Regelungskompetenzen überhaupt greifen können. Mit anderen Worten: Es muß bedacht werden, ob kriminalpolitische Forderungen an den Gesetzgeber nach Gleichheit und Be-

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

35

rechenbarkeit des Strafrechts angesichts der hohen funktionalen Adäquanz des exekutivischen Rechts nicht hinter die steuerungstheoretischen Erkenntnisse und deren empirische Korrelate zurückfallen.

4.1

Gesetzliche Nachbesserung prozeduralen Rechts?

Exekutivisches Recht stellt im Kriminaljustizsystem eine Reaktion auf das Zusammentreffen von — systembedingt produzierten ubiquitären Normbrüchen und der — systembedingt postulierten Unverbrüchlichkeit der Normgeltung dar. Kriminologisch gesehen ist abweichendes Verhalten im Jugendalter "normal". Es ist Voraussetzung natürlicher Normfindungsprozesse, ist schlicht Bestandteil von Sozialisation. Am Beispiel des Ladendiebstahls oder der Beförderungserschleichung (knapp die Hälfte der registrierten Jugendkriminalität) läßt sich kenntlich machen, daß hier Prozesse sozialen Wandels und ökonomischen Kalküls zu massenhafter Kriminalisierung führen. Das strafrechtliche Instrument individuell-schuldhafter Handlungsbewertung ist für die Steuerung derartiger Prozesse in jeder Hinsicht untauglich. Die strafrechtliche individualpräventive Logik ist gegenüber den Erfordernissen struktureller Prävention dysfunktional. Statt hieraus die Konsequenz eines adäquaten Normwandels zu ziehen, hält der Gesetzgeber kontrafaktisch an der universellen Geltung der Norm fest. Er folgt damit mächtigen Interessengruppen, die den Schutz durch das Strafrecht für ihre partikularen Interessen reklamieren. Als Konsequenz aus der offensichtlichen Nichtbefolgung der Normen bleibt nur ein Rückzug auf symbolische Normgeltung. Die Erkenntnis, daß eine universelle Durchsetzung der Norm nicht mehr möglich ist, ist auch am Gesetzgeber nicht vorbeigegangen. Sein Lösungsversuch ist die verfahrensrechtliche Flexibilisierung der Verfolgung von Normverstößen. Der Gesetzgeber delegiert damit seine Verantwortung und Verpflichtung, die Grenzen der Strafbarkeit eindeutig, konsensorientiert, den sozialen Wandel berücksichtigend und für alle Rechtsunterworfenen allgemein, berechenbar und universell festzulegen, auf die Exekutive. Damit ist das Problem allerdings nicht gelöst, sondern nur verlagert. Das Kriminaljustizsystem reagiert auf die systemisch produzierte massenhafte Delinquenz mit der Freigabe des Strafverfolgungszwangs. Dies stellt die einzig verbleibende Möglichkeit dar, den instrumenteilen Konkurs des Kriminaljustizsystems abzuwen-

36

Exekutivisches Recht

den: durch den Rückzug auf symbolische Normgeltung einerseits und massiven Interventionsverzicht andererseits. Das Medium für die Harmonisierung dieses Grundwiderspruchs ist das exekutivische Recht. Materiellrechtlich gesteuerte Strafverfolgung wird damit prozeduralisiert: Der Exekutive, im Kriminaljustizsystem also der Staatsanwaltschaft, wird massive Selbststeuerungskompetenz verliehen (vgl. §§ 153, 153a StPO) bzw. reaktiviert (vgl. § 45 n.F.). Die Legalität weicht der Opportunität. Wer glaubt, schlicht die Umkehr dieses Rechtsentwicklungsprozesses fordern zu können, verkennt die sozialstrukturellen Prämissen von Rechtsgeltung. Damit nährt man höchstens die "Illusion, man könne eine Entwicklung, die ihre Ursachen außerhalb des Rechtssystems hat, mit rechtsimmanenten Korrekturen und der 'Bitte um ein wenig Positivismus' zurückdrehen" (Nocke 1990, 125). Exekutivisches Recht ist nicht nur eine juristische, sondern vor allem eine politische und soziale Realität. Diese Erkenntnis befreit den Gesetzgeber gleichwohl nicht von jeder zukünftigen Aktivität. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Handhabung jener delegierten Selbstregelungskompetenz systematisch zu überwachen. Dabei hat er die Verpflichtung zu gesetzlicher Nachbesserung, wenn sich herausstellt, daß prozedurales Recht elementare Verfassungs- und Schutzgarantien, z.B. massiv den Gleichheitsgrundsatz, verletzt. Das ist nicht nur eine rechtspolitische Forderung, sondern entspricht auch steuerungstheoretischer Einsicht. Exekutivisches Recht basiert primär auf einer subtilen Balance von symbolischer Normgeltung und rechtlich gebundenem Verfolgungsverzieht. Offenkundige Rechtsungleichheit, Willkür, Unbestimmtheit der Rechtsfolgenwahl und die Undurchsichtigkeit von Verfahrensabläufen sowie Entscheidungsprozessen führen auf Sicht zwangsläufig zu einem Verlust von Massenloyalität gegenüber dem politischen und dem Kriminaljustizsystem. Will man also aus den empirischen Befunden zur Informalisierung des Jugendstrafrechts Konsequenzen ziehen, so lassen sich die Erfahrungen aus der nunmehr zehnjährigen exekutivischen Praxis zur Diversion darin zusammenfassen, daß der Gesetzgeber seine Delegation von Selbststeuerungskompetenz alsbald zu überprüfen und konkrete normative Nachbesserungen vorzunehmen hat. Prozedurales Recht kann nach Überprüfung der empirischen Gegebenheiten zurückgenommen oder zumindest regulativ reorganisiert werden.

4.2

Rechtliche Limitierung exekutivischen Rechts

Es geht bei der Forderung nach gesetzgeberischer Nachbesserung primär nicht um das Bemühen, eine zweckmäßigere Verfahrenserledigung zu propagieren. Der

Kríminalpolitísche

Schlußfolgerungen

37

Hauptakzent bei der Forderung an den Gesetzgeber liegt auf der Sicherung rechtsstaatlich unabdingbarer Erhöhung von Rechtssicherheit und Berechenbarkeit staatlicher Strafverfolgung. Es ist rechtsstaatlich unerträglich, daß die Exekutive in den gesellschaftlich bedeutsamen Bereichen des Umweltschutzes, der ökonomisch-sozialen Stabilität, der Gesundheitsvorsorge und der Sozialisation nachwachsender Generationen je nach politischen Bedürfnissen die Grenzen strafjustitiellen Zugriffs beliebig festsetzen kann. Bestimmte rechtstatsächlich nachgewiesene Ausprägungsformen exekutivischen Rechts kollidieren mit rechtsstaatlichen Verfassungsprinzipien; andere Merkmale exekutivischen Rechts erscheinen geradezu als Bestätigung rechtsstaatlicher Standards, die in der Euphorie sozialstaatlicher Funktionsüberfrachtung des Kriminaljustizsystems verloren zu gehen drohen. Die wesentliche Kollision besteht zwischen dezentraler Autonomisierung der Entscheidungsfindung und rechtsstaatlich geforderter Gleichheit des Entscheidens, jedenfalls in den Deliktsbereichen, in denen die aufgewiesene Ungleichheit aus keinem rechtsstaatlich begründbaren Gesichtspunkt zu legitimieren ist. Das ist in allen Fällen von Bagatellkriminalität der Fall, weil der Rechtsanwender seine Entscheidung nur auf wenige Formalkriterien stützen kann und ihm material-inhaltliche Beurteilungskriterien nach Lage der Akten nicht zur Verfügung stehen (können). Demgegenüber stellt der steuerungstechnisch und verfahrensökonomisch bedingte Interventionsverzicht, der sich empirisch niederschlägt in der Dominanz non-interventionistischer Verfahrenserledigung, in der vorherrschenden Orientierung an formal-schematischer Entscheidungsfindung und in der hohen systemischen Resistenz gegenüber kriminologisch-spezialpräventiver Aufladung der Rechtsanwendung, die Anerkennung rechtsstaatlicher Limitierungsprinzipien dar: gemeint sind im wesentlichen das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit, die Subsidiarität staatlicher Interventionen und der Ultima-ratio-Grundsatz des Strafrechts. Diese Ambivalenz verlangt differenzierte rechtspolitische Empfehlungen. Die empirischen Analysen exekutivischen Rechts haben deutlich gemacht, daß bezüglich der kriminalpolitischen Empfehlungen vorab zu unterscheiden ist zwischen jenen mehrfach definierten klaren Bagatelldelikten auf der einen Seite und mittelschwerer bzw. schwerer Kriminalität auf der anderen Seite. Kein Bereich ist in der Logik exekutivischen Rechts von Diversion ausgenommen, jeder unterliegt aber spezifischer normativer Absicherung.

Exekutivisches Recht

38

Formalisierte Diversionsprogrammatik

BagatellKriminalität § 45 Abs. 1 JGG n.F.

Mittelschwere Kriminalität § 45 Abs. 2 JGG n.F.

Schwere Kriminalität § 45 Abs. 3 JGG n.F.

Anwendung: schematisch, gleich, ohne Einzelfallabwägung

Anwendung: Einzelfallabwägung bei Einwilligung in Informationsvermittlung durch Polizei

Anwendung: Einzelfallabwägung bei Einwilligung in Informationsvermittlung durch Polizei; Einbeziehung des Richters

Kriterien: (formal) - Deliktsart - Deliktshäufigkeit - Schadenshöhe - Vorbelastung

Kriterien: (material/formalisiert) - Erweiterung der Formalkriterien gegenüber Bagatellen - Nutzung der Selbststeuerungskompetenz (informelle Maßnahmen)

Kriterien: (material) - Geständnis - Nutzung der Selbststeuerungskompetenz (informelle Maßnahmen)

• Prozeßhindernis

• Prozeßhindernis

Diversion ohne Intervention

Diversion ohne Intervention

Diversion mit Intervention

(kompensatorisch: persönliche Ermahnung durch Staatsanwalt)

(Sanktionsäquivalente des JGG durch Jugendrichter)

Einstellung des Verfahrens gemäß § 45 JGG n.F.



Rechtspolitische Leitlinie für die normative Sicherung des Bereichs der "Bagatellkriminalität" muß die Umsetzung der Erkenntnis sein, daß hier lediglich mit formal-schematisch herbeigeführter Verfahrenseinstellung flächendeckend

Kriminaipolitische

Schlußfolgerungen

39

Rechtsgleichheit hergestellt werden kann. Administrative Steuerungsversuche, z.B. über Verfügungen oder Empfehlungen, versagen hier. •

Für die rechtliche Limitierung im Bereich "mittelschwerer Kriminalität" gilt es, eine Formalisierung der hier Platz greifenden material-inhaltlichen Orientierung zu bewirken. Die Befunde zeigen, daß das exekutivische Recht für jede Form interventionistischer Diversion ein unangemessenes Steuerungsmedium ist und demnach auch keine angemessenen Ressourcen zur Verfügung stellt und stellen kann. Es verbleibt als rechtspolitische Empfehlung für den Rechtsanwender prinzipiell die non-interventionistische Verfahrensbeendigung unter systematischer Inanspruchnahme der Selbststeuerungskompetenz des sozialen Umfeldes der Beschuldigten.



Jede Form von staatlich-sanktionierender Intervention verlangt rechtsförmige Ermittlungs- und Entscheidungsverfahren, die der usurpatorischen Vorfeldsteuerung durch exekutivisches Recht entzogen werden müssen. Der hier angesprochene Bereich "schwerer Kriminalität" erfordert die rechtsstaatlichen Schutzgarantien des regulatorischen Rechts, insbesondere Rechtsberatung, Rechtsschutz und die Förmlichkeit rechtsstaatlicher Strafverfolgung, deren Notwendigkeit mit zunehmender Tatschwere und Strafdrohung wächst.

4.2.1

Folgerungen für die Erledigung von Bagatellkriminalität

Entsprechend der überwiegenden faktischen Entkriminalisierung der Bagatellkriminalität (landesweit immerhin 75 %) muß man mit den empirischen Ergebnissen dieser Untersuchung fordern, Verfahren in diesem Bereich nach schematischen Kriterien zwingend einzustellen. Die konsequenteste Umsetzung dieser Forderung wäre die materiellrechtliche Entkriminalisierung. In Anbetracht der vorherrschenden prozeduralen Strategien, die die Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen landesweit praktizieren, und angesichts der eindeutigen Entkriminalisierungs-Empfehlungen der Polizei sollte der Gesetzgeber nicht zögern, eindeutige normative Konsequenzen zu ziehen. Als unabdingbare gesetzgeberische Minimalaktivität müssen spezifische Formalkriterien als klar gefaßte Prozeßhindernisse ausgestaltet und materiell- bzw. verfahrensrechtlich verankert werden. Bei Vorliegen von gesetzgeberisch näher zu bestimmenden Kriterien wie Schadenshöhe, Deliktstypus, Vorbelastung etc. muß für Betroffene ein Anspruch begründet werden, daß die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt. Nur bei ausdrücklichem Widerspruch seitens des Betroffenen sollte eine Klärung des Tatvorwurfs vor dem Jugendrichter möglich sein.

40

Exekutivisches Recht

Eine Präzisierung von Schwerekriterien ist an dieser Stelle nicht angezeigt; die folgenden Untersuchungsberichte geben hierzu eine Fülle von Anregungen und Praxiserfahrungen. Zudem darf sich der Gesetzgeber einer originären, konsenssuchenden Festsetzung dieser Kriterien nicht entziehen. Bei der Festlegung von einstellungsrelevanten Schweregrenzen (Deliktsart, Anzahl der Tatvorwürfe, Schadenshöhe, Vorauffälligkeit) können die praxisnahen Einschätzungen von Staatsanwälten, insbesondere aber von Polizeibeamten, Anlaß sein, die bislang in der Literatur (vgl. Schaffstein/Beulke 1987, 165: 25 DM) wie auch in der justitiellen Erlaßpolitik (vgl. Runderlaß des Justizministers NW vom 2.12.85: 100 DM) vorherrschenden Bagatellgrenzen deutlich nach oben zu erweitern. So sinken bei den Bielefelder Polizeibeamten die vorgeschlagenen Informalisierungsquoten - bezogen auf alle Diebstahlsdelikte - erst ab 1.001 DM unter 50 %, beim Einbruchsdiebstahl liegt die Grenze bei 500 DM (3. Buch, Abschnitt 5.2.2). Auch die bivariaten Analysen der landesweiten Staatsanwaltschaftsuntersuchung zeigen bei Diebstahl immerhin noch eine Einstellungsquote von 13 % zwischen 151 und 250 DM. Bei Sachbeschädigung übersteigt die Anklagewahrscheinlichkeit erst bei einer Höhe von über 500 DM deutlich die 50-Prozentgrenze (1. Buch, Abschnitt 4.4.1).

4.2.2

Folgerungen für die Erledigung von mittelschwerer Kriminalität

Im Bereich mittelschwerer Kriminalität, die nach bestimmten Schadens-, Deliktstypen und Tätervoraussetzungen — ebenfalls unter Ausschöpfung der bereits durch die Praxis erprobten und tolerierten Grenzen — definiert werden sollte, gelten andere Beurteilungsgrundsätze. Ungleichheit der Rechtsanwendung läßt sich in diesem Bereich auch nach Maßgabe — oder gerade nach Maßgabe — differenzierter Informationsvermittlung nicht vermeiden. Derartige Varianzen in der Informalisierung sind nicht automatisch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Das Gleichheitsprinzip gebietet, Ungleiches im Maße seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. Da z.B. bei der gesetzlich geforderten Berücksichtigung erzieherischer Maßnahmen das Individualisierungsgebot mit besonderem Nachdruck vom Rechtsanwender umzusetzen ist, kann es hier auch nicht durchgehend schematische Anwendungskriterien geben. Hier sind bewußt Einzelfallentscheidungen zu treffen. Unter Berücksichtigung der Einwilligung der Betroffenen, der Vorgabe normativer Rahmenkriterien und der Einbeziehung des Richters bei der Anordnung von Sanktionsäquivalenten dürfte rechtsstaatlichen Bedenken in einem hinreichenden Maße Rechnung getragen werden. Da eine pauschale Entkriminalisierung hier nicht zu erwarten ist, gleichwohl häufig — jedenfalls aus jugendkriminologischer Sicht — allein schon Tatentdeckung, Tataufklärung und informelle Reaktionen des sozialen Umfeldes hinrei-

Kriminalpolitische

Schlußfolgerungen

41

chende spezialpräventive und normstabilisierende Effekte zeigen, kann auch in diesem Bereich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Verfahrenseinstellung eine angemessene rechtliche und kriminalpolitisch vertretbare Konsequenz sein. Nach den Befunden der Forschungsbeiträge müßten aus den Folgeerscheinungen prozeduraler Flexibilität — Rechtsanwendungsungleichheit bei systemisch bedingt fehlender Interventionskapazität - gesetzgeberische Schlüsse gezogen werden. Auch hier ist primär die Konstruktion von Prozeßhindernissen die rechtstechnisch adäquate Möglichkeit, tragfähige Kompromisse bei der Abstimmung von Grundrechtsschutz und Steuerungsanforderung zu finden.

(1)

Informelle Erziehungsmaßnahmen des sozialen Umfeldes als Prozeßhindernis

Das Bielefelder Informationsmodell hat deutlich gemacht, daß bei systematischer polizeilicher Erfassung präventionsrelevanter Informationen bei über 50 % der Tatverdächtigen elterliche Erziehungsmaßnahmen und sonstige Reaktionen des sozialen Umfeldes auf die registrierte Tat hin erfolgt sind oder erfolgen werden. Nach der geltenden ratio legis des § 45 sind angeordnete bzw. durchgeführte erzieherische Maßnahmen hinreichender Anlaß, ein Verfahren einzustellen, wenn der Staatsanwalt eine Ahndung durch den Richter nicht mehr für erforderlich hält. Die rechtsstaatlichen Bedenken bezüglich der Ermittlungstätigkeit der Polizei in Bereichen sozialer Lebensräume, die traditionellerweise staatlichem Zugriff — zumindest im Ermittlungsverfahren — verschlossen sind, müssen dadurch aufgefangen werden, daß polizeiliche Informationsvermittlung an die Staatsanwaltschaft über präventionsrelevante Sachverhalte nur dann erfolgen darf, wenn die Betroffenen (d.h. primär der Tatverdächtige und seine Eltern) in diese Art polizeilicher Ermittlung und Informationsvermittlung einwilligen. Erst dann — und zwar unabhängig von einem Geständnis — kann sichergestellt werden, daß der Grad zwischen rechtsstaatlichen Grundsätzen und sozialstaatlicher Zuwendung nicht blindlings zugunsten präventionsorientierter Eingriffe überschritten wird. Dieser Einwand betrifft nicht nur die durch das lokale Informationsmodell bewirkte Kompetenzerweiterung der Polizei, sondern richtet sich im Grundsatz ebenso auf die derzeit zu beobachtende bedenkliche prinzipielle Ausweitung präventiv-polizeilicher Befugnisse (vgl. Albrecht 1986; ders. 1990). Um die verfassungsrechtlich problematischen Ungleichbehandlungen wesentlich zu verringern und um eine optimale Ausschöpfung des Subsidiaritätsansatzes zu gewährleisten, muß die Einstellungsvoraussetzung der (Umfeld-)Selbststeuerung aus § 45 Abs. 2 ebenfalls normativ im Sinne eines Prozeßhindernisses ausgestaltet werden. Liegt eine tatbezogene Reaktion des sozialen Umfeldes in nachweisbarer Form vor, muß der Staatsanwalt das Verfahren einstellen. Als erzieherische

42

Exekutivisches Recht

Maßnahmen in diesem Sinne sind auch die übrigen im Informationsbogen enthaltenen 'erzieherischen Äquivalente' zu werten (vgl. dazu den Grundgedanken des § 45 Abs. 2 S. 2 n.F.). In Zweifelsfállen muß der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter im Rahmen eines formfreien Widerspruchsverfahrens die Möglichkeit haben, den Nachweis erzieherischer Einwirkung zu erbringen. Der Staatsanwalt wird damit verpflichtet, aus allen ihm zur Verfügung stehenden Informationsquellen vorab zu ermitteln, ob eine Umfeldmaßnahme bereits durchgeführt oder angeordnet ist. Klagt er in Zweifelsfállen dennoch an, läuft er Gefahr, daß das Gericht die Anklage wegen Vorliegens eines Prozeßhindernisses nicht zur Hauptverhandlung zuläßt. Mit dieser Voraussetzung würde man dem verfassungsrechtlichen Gebot der Subsidiarität staatlicher Eingriffe gegenüber dem elterlichen Erziehungsrecht entsprechen.

(2)

Persönliche staatsanwaltliche Ermahnung als gesetzliche Kompensationsmaßnahme

Um der Gefahr zu begegnen, daß die vorgenannte Informalisierungsvoraussetzung eine — voraussehbare — schichtspezifische Selektivität entfaltet und Diskriminierungen derer bewirkt, die nicht über ein intaktes soziales Umfeld verfügen oder die — wie Heranwachsende — keinem rechtlichen Erziehungsverhältnis mehr unterworfen sind, sollte der Staatsanwalt zu einer Kompensationsmaßnahme rechtlich verpflichtet werden. In den Fällen, in denen die Ermittlungsorgane nicht feststellen konnten, ob elterliche oder Erziehungsmaßnahmen anderer durchgeführt oder angeordnet sind, hat der Staatsanwalt ein persönliches Ermahnungsgespräch durchzufuhren. Eine solche Forderung entspricht der von den Staatsanwälten in der Befragung ganz überwiegend vorgetragenen Auffassung, wonach fast zwei Drittel der Rechtsanwender häufiger persönliche Ermahnungsgespräche führen würden, wenn dies pensenmäßig Berücksichtigung fände (2. Buch, Abschnitt 2.2.2). Eine derartige persönliche staatsanwaltliche Ermahnung gilt als erzieherische Maßnahme i.S.d. § 45 Abs. 2 n.F., wobei sie — wie die Befragung zeigt - als wirksame staatsanwaltliche Reaktionsalternative angesehen wird. Nicht zuletzt ist sie das eingriffsärmste und einzig zu befürwortende staatsanwaltschaftliche Sanktionsäquivalent. Die Erkenntnisse aus der Modellevaluation machen allerdings deutlich, daß ohne Berücksichtigung der bürokratisch-administrativen Restriktionen (Pensen, Resteliste) der Staatsanwalt aufgrund seiner Handlungsroutinen derartige Normbefehle umgehen könnte. Insofern ist es unabdingbar, daß eine Reform, die dem Staatsanwalt aufwendigere Ermittlungs- und Erledigungsprozeduren abverlangt, auch

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

43

durch strukturelle Entlastungsmaßnahmen bürokratischer und verfahrensökonomischer Art sichergestellt werden muß. Das gilt im übrigen für den Jugendrichter in gleicher Weise. Sollten keine Umfeld-Erziehungsmaßnahmen vorliegen und der Staatsanwalt nach durchgeführtem Ermahnungsgespräch der Auffassung sein, daß dieses keine hinreichende Kompensation darstellt, sollte er weiterführende Interventionsschritte explizit und rechtsbehelfsfähig begründen müssen. Dies dürfte aus steuerungstheoretischer Sicht zu einer deutlichen Erhöhung der Einstellungsquoten führen, nicht nur weil die Selbststeuerungsfahigkeit des sozialen Umfeldes aktiviert wird, sondern der Rechtsanwender insbesondere dem hohen Begründungsaufwand durch vermehrte Verfahrenseinstellung Rechnung tragen wird. Im übrigen darf der Staatsanwalt nur unter Einbeziehung des Richters auf weitere Sanktionsäquivalente zurückgreifen (§ 45 Abs. 3 n.F.). Aus den empirisch ermittelten steuerungstechnischen Befunden und unter Berücksichtigung der aufgezeigten rechtsstaatlichen Standards sollte deutlich geworden sein, daß der Staatsanwalt der inadäquate Adressat für interventionistische Rechtsfolgenverhängung ist. Erst mittels richterlicher Einleitung und Überwachung bestimmter Sanktionsäquivalente ist eine adäquate Stufenfolge staatlicher Reaktion auf abweichendes Verhalten gegeben. Die aufgezeigte differenzierte Abfolge von Reaktionen erlaubt, schädlichen repressiven Sanktionen wie Jugendarrest und Jugendstrafe soweit wie möglich auszuweichen bzw. die Anwendung derartiger repressiver Sanktionstypen soweit wie möglich hinauszuschieben.

4.2.3

Folgerungen für die Erledigung von schwerer Kriminalität

§ 45 ermöglicht dem Wortlaut nach die Einstellung des Verfahrens sogar bei Vorliegen eines Verbrechenstatbestands. Nach den Ergebnissen der empirischen Untersuchung wird Diversion selbst bei schweren Vergehen nur in Ausnahmefallenn praktiziert. Im übrigen wird bei schwerer Kriminalität — wegen des regelmäßig vorliegenden Gewichts der Tat und der dann regelmäßig gegebenen interventiven Sanktionen — eine Verfahrensentscheidung ohne rechtsförmige Einschaltung der gesetzlich vorgesehenen Verfahrensbeteiligten nicht zu empfehlen sein. Nur unter Einbeziehung eines Maximums an Informationen, die eine sachgerechte Entscheidung erst legitimieren, kann in diesen Fällen — gerade auch aus Gründen der Gleichheit — informalisiert werden. Derartige Verfahren entziehen sich der pauschalen Beurteilung durch Akteninformationen. Aus alledem folgt: Prozedurales Recht, das der Gesetzgeber der Exekutive zur freien Ausgestaltung und Selbststeuerung überlassen hat, muß regulativ nachgebessert werden. Das erfordert nicht nur die Rationalität der Rechtsanwendung,

44

Exekutivisches Recht

sondern gerade auch der elementare Verfassungsgrundsatz der Gleichheit, der bei der Anwendung von strafrechtlichen Normen ein tragendes verfassungsrechtliches Prinzip sein muß, will das Strafrecht nicht seine elementare Geltungsbasis einbüßen. Exekutivisches Recht ist somit nicht nur eine Dauerermächtigung für die Flexibilisierungsbedürfnisse eines überlasteten und symbolisch wie instrumenteil gefährdeten Kriminaljustizsystems. Es bietet dem Gesetzgeber nach gründlicher empirischer Überprüfung der an die Exekutive delegierten Selbststeuerungskompetenz die Chance, aus den selbstgefundenen Handlungsroutinen einer sich reflexiv verstehenden Anwendungspraxis zu gegebener Zeit normative Schlüsse zu ziehen. Es ist an der Zeit.

Erstes Buch Die staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Die staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht — Eine landesweite Aktenuntersuchung in 19 Staatsanwaltschaften Nordrhein-Westfalens — Wolfgang

1 1.1

Ludwig-Mayerhofer

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz Zum Funktionswandel der Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle

Als vor gerade etwas mehr als zehn Jahren die erste umfassende empirische Untersuchung in der Bundesrepublik über "Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle" erschien (Blankenburg/Sessar/Steffen 1978), wurde als Aufgabe dieser Behörde im strafrechtlichen Verfahren noch im wesentlichen die Entscheidung über die Zuschreibung eines Tatverdachts gesehen. Dementsprechend konnten die Entscheidungsalternativen der Staatsanwaltschaft unter die einfache Dichotomie "Einstellung versus Sanktionierung" gebracht werden, wobei unter "Einstellung" vorrangig die Einstellung mangels Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO verstanden wurde. Andere Formen staatsanwaltlicher Einstellungsmöglichkeiten wurden teils den Einstellungen mangels Tatverdachts gleichgesetzt (so diejenigen nach § 153 StPO und nach § 45 Abs. 2), teils zu den "Sanktionierungen" gerechnet (so die Einstellung gemäß § 45 Abs. 1). Diese Subsumierung verschiedener Möglichkeiten, das Strafverfahren auch bei bejahtem Tatverdacht bereits auf der Ebene der Staatsanwaltschaft zu beenden, unter die "Einstellungen" einerseits, unter die "Sanktionen" andererseits, läßt sich gewiß auch sachlich rechtfertigen; doch ist anzunehmen, daß ein Hauptgrund, eine eigenständige Analyse der Verfahrenseinstellungen wegen geringer Schuld bzw. wegen bereits durchgeführter erzieherischer Maßnahmen zu unterlassen, in der damals noch vergleichsweise geringen quantitativen Bedeutung lag, die diese Erledigungsalternativen im staatsanwaltlichen Entscheidungsprogramm hatten. Auch das theoretische Konzept, das dieser Arbeit zugrundelag, und welches seither zu einem gängigen, wenn auch nicht unumstrittenen (vgl. Barton 1980; Asmus 1988) Schlagwort geworden ist, bezieht sich im wesentlichen auf das Verhalten der Staatsanwaltschaft bei der Tataufklärung: die Staatsanwaltschaft als bürokratischer Faktor in der Sozialkontrolle (Sessar 1979).

48

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Dieses Konzept wurde vor allem angesichts des Befundes entwickelt, daß die Staatsanwaltschaft, obwohl eigentlich "Herrin des Ermittlungsverfahrens", im wesentlichen vom Schreibtisch aus agiert, Ermittlungsergebnisse der Polizei übernimmt und sich bei ihrem eigenen Vorgehen vor allem von dem Gesichtspunkt der bürokratischen Bewältigung des Berufsalltags leiten läßt. Es wurde damals zwar klar gesehen, daß die Staatsanwaltschaft auch durch den Ermittlungsaufwand, den sie betreibt, Entscheidungen über die Sanktionierung bzw. NichtSanktionierung von Straftätern trifft, insoweit heimliche Sanktionsgewalt ausübt und dadurch letztlich auch Kriminalpolitik betreibt. Dies wurde aber als indirekte, implizite Konsequenz des staatsanwaltlichen Handelns gewertet, während eine explizite sanktionssteuernde Funktion der Staatsanwaltschaft noch kaum zum Tragen kam. Freilich war in dieser Hinsicht die — im Jahr 1970/71 durchgeführte - Untersuchung von Blankenburg et al. bei ihrem Erscheinen schon teilweise von der rechtspolitischen Entwicklung überholt. Denn in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war, zunächst bezogen auf das allgemeine Strafrecht, bereits eine Diskussion über die Staatsanwaltschaft als Institution mit quasi-richterlichen Funktionen im Gange, und zwar im Zusammenhang mit Regelungen der Entkriminalisierung von Bagatelldelikten. Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Legalitätsprinzip, welches die Staatsanwaltschaft verpflichtet, jede Straftat vor dem Gericht zur Anklage zu bringen, sofern sich ein hinreichender Tatverdacht ergibt, war schon seit 1924 durch die "Emmingersche Verordnung" durchbrochen, welche die Regelung des heutigen § 153 StPO vorwegnahm. Danach kann die Staatsanwaltschaft auch das Verfahren einstellen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre. Somit hat die Staatsanwaltschaft eine Entscheidungsfunktion, die nicht nur auf die Frage des Tatnachweises gerichtet ist, sondern auch auf die Frage der Strafwürdigkeit des (mutmaßlichen) Straftäters. Diese quasi-richterliche Rolle konnte solange als weitgehend unproblematisch gelten, wie damit ausschließlich eine Entscheidung über einen Sanktionsverzicht verbunden war, eigenständige Sanktionen durch die Staatsanwaltschaft jedoch nicht gesetzt wurden. Da im übrigen Entscheidungen nach § 153 StPO auch nicht in das Strafregister eingetragen wurden (und werden), handelte es sich bei dieser Vorschrift um eine (wenn auch im Anwendungsbereich beschränkte) Regelung mit sehr weitgehendem Entkriminalisierungscharakter. Dies änderte sich durch die Strafrechtsreform von 1975, welche mit der Einführung des § 153a StPO der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit gab, Verfahren gegen die Erfüllung von Auflagen einzustellen. Wenn auch dadurch teilweise nur

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

49

eine bereits bestehende Praxis legalisiert wurde, wurde in dieser Regelung erstmals in offensichtlicher Weise dem Staatsanwalt eine richterähnliche, sanktionensetzende Funktion zuerkannt. Die Diskussion hierüber — die an dieser Stelle nicht nachzuzeichnen ist1 — ist bis heute nicht abgerissen. Überraschend wenig berücksichtigt wurde hierbei, daß der Staatsanwaltschaft eine ähnliche Rolle im Bereich des Jugendstrafrechts schon seit wesentlich längerer Zeit zukam, nämlich seit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes im Jahr 1923, das in § 32 Regelungen enthielt, die denjenigen des heutigen § 45 weitgehend ähneln.2 Nach der heute geltenden Rechtslage ist die "Sanktionsmacht" des Jugendstaatsanwalts vor allem in § 45 Abs. 2 begründet, wonach ein Verfahren gegen einen Jugendlichen (seit 1975 auch gegen einen Heranwachsenden) eingestellt werden kann, wenn die Bedingungen des § 153 StPO vorliegen oder wenn gegen den Beschuldigten eine erzieherische Maßnahme angeordnet wurde, welche eine richterliche Ahndung entbehrlich macht. Wenngleich damit vor allem die Intention verfolgt wird, der Subsidiarität des staatlichen Erziehungsanspruchs gegenüber dem der Eltern zu entsprechen, so können solche erzieherischen Maß•j

nahmen auch vom Staatsanwalt selbst durchgeführt oder veranlaßt werden. Damit hat die Staatsanwaltschaft im Jugendstrafrecht schon seit langem — zumindest dem Gesetzestext nach — diejenige quasi-richterliche Funktion, welche im allgemeinen Strafrecht so heftig diskutiert wird. Es entspricht dem untergeordneten Stellenwert, den das Jugendstrafrecht in der strafrechtlich und kriminalpolitisch interessierten Öffentlichkeit hat, daß eigenständige Untersuchungen zur Staatsanwaltschaft im Bereich des Jugendstrafrechts kaum vorliegen, während den Regelungen der §§ 153, 153a StPO größere Aufmerksamkeit galt und gilt. 4 Wenn aber eine Untersuchung sich ausschließlich auf den Bereich der Jugendstaatsanwaltschaft beschränkt - wie die vorliegende es tut - , so darf sie die "quasi-sanktionierende" Rolle der Staatsanwaltschaft nicht vernachlässigen, muß sie sogar in den Vordergrund stellen. Dies hat einmal mit der quantitativen Bedeutung der Erledigungen nach § 45 zu tun (vgl. Abschnitt 1.2 sowie 3.1), vor allem aber mit der kriminalpolitischen Debatte der letzten 15 Jahre.

1) 2) 3) 4)

Vgl. u.a. Rieß 1981; Weigend 1984; Kunz 1984a; Backes 1986; Paschmanns 1988. Zur Geschichte der Verfahrenseinstellungen aus Opportunitatsgründen im Jugendstrafrecht vgl. Bohnert 1980; Nothacker 1982; Voß 1986. Kritisch dazu Tilmann-Reinking 1987. Auch Weigend (1978, 32) erwähnt in seiner geschichtlichen Darstellung der Entwicklung des Legalitätsprinzips die jugendstrafrechtliche Regelung von 1923 gerade mit einem Satz.

50

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Die Einführung des § 153a StPO hatte den damit verbundenen Kompetenzzuwachs der Staatsanwaltschaft nicht zum eigentlichen Ziel, sondern sah darin eine möglicherweise unwillkommene, aber unumgängliche Notwendigkeit. Die hauptsächliche Stoßrichtung dieser Regelung war der Versuch, die Ent- oder besser Minderkriminalisierung der Bagatellkriminalität voranzutreiben (Hirsch 1980). Zwar ging dies weniger auf ein ernsthaftes Bedürfnis des Gesetzgebers nach der Zurücknahme staatlichen Strafens zurück als auf die Notwendigkeit einer Entlastung der Justiz von Bagatelldelikten; jedenfalls ist Entkriminalisierung seither eines der beherrschenden Themen der kriminalpolitischen Debatte, und dies im Jugendstrafrecht noch mehr als im allgemeinen Strafrecht. Die jugendkriminologische Debatte (vgl. zusammenfassend Heinz 1990) geht ganz überwiegend von der Prämisse aus, daß Minderkriminalisiening (Diversion), zumal im Jugendstrafrecht, das zentrale kriminalpolitische Ziel zu sein hat, daß der staatliche Strafanspruch zurückzudrängen ist. Dabei wird zumeist versäumt zu fragen, welche Probleme und Nebenfolgen auftreten, wenn die Realisierung dieses Ziels den Strafverfolgungsbehörden überlassen wird. Ziel dieser Arbeit ist es deshalb, das staatsanwaltliche Handeln im Jugendstrafrecht zu untersuchen, wobei im Vordergrund die Frage nach den Bedingungen und Modalitäten staatsanwaltlicher Entscheidungen hinsichtlich der Einstellungen gemäß § 45 (bzw. der ihnen ähnlichen Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO) steht.

1.2

Bedeutung und Problematik staatsanwaltlicher Verfahrenseinstellungen

Eine Untersuchung staatsanwaltlicher Verfahrenseinstellungen nach § 45 ist umso notwendiger, als, wie schon angedeutet, die Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft, eigenmächtig Verfahren nicht nur mangels Tat- oder Schuldnachweises, sondern aus Opportunitätsgründen einzustellen, in kriminalpolitischer Hinsicht nicht unumstritten sind. In der Literatur über die Staatsanwaltschaft werden Thesen vorgetragen, die die Übertragung von Entscheidungen über die Sanktionierung von Delikten auf diese Instanz in einem problematischen Licht erscheinen lassen. Ein erster wichtiger Einwand rekurriert auf den schon angesprochenen bürokratischen Aspekt staatsanwaltlichen Handelns. Beispielsweise vermutet Backes, daß Staatsanwälte ihre Entscheidung über die Verfolgungswürdigkeit von Delikten überwiegend nach der schematischen Beurteilung einiger weniger Kriterien fällen. Nachdem der Staatsanwalt - jedenfalls im Bereich leichter und mittelschwerer Kriminalität — schon kaum eigene Ermittlungen anstelle, sondern das polizeiliche Ermittlungsergebnis übernehme, füge er diesem "nur noch zwei Informationen

Die Staatsanwaltschaft als

Diversionsinstanz

51

hinzu, bevor er über Einstellung oder Anklage entscheidet: die Auskunft des Bundeszentralregisters über Vorstrafen sowie eventuelle Eintragungen in der behördeneigenen Kartei über Verfahrenseinstellungen. ... Die Würdigung dieser Daten und damit die Entscheidung Einstellung oder Anklage wird im wesentlichen von drei Faktoren bestimmt: der Vorbelastung des Beschuldigten, seiner Stellungnahme zum Tatvorwurf sowie der Schadenshöhe" (Backes 1986, 318 f.). Ebenfalls als problematisch wird die Tatsache diskutiert, daß die staatsanwaltlichen Opportunitätseinstellungen nach §§ 153, 153a StPO — und damit auch diejenigen gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 2 — von unbestimmten Rechtsbegriffen abhängen (vgl. beispielsweise Rieß 1979; Kunz 1979): Der Staatsanwalt kann danach Verfahren einstellen, wenn "geringe Schuld" des Täters vorliegt und das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung entweder von vornherein nicht gegeben ist (§ 153 StPO) oder aber durch die Erfüllung einer Auflage "beseitigt" wird (§ 153a StPO). Eine Konkretion dieser Begriffe wurde aber vom Gesetzgeber unterlassen. Ebenso ist eine allmähliche Eingrenzung dieser Begriffe durch die Rechtsprechung nicht möglich, da die Opportunitätsentscheidungen der Staatsanwaltschaft keiner Kontrolle unterliegen. Damit ist das Einstellungsverhalten der Staatsanwaltschaft, wenn auch nicht in der statistischen Gesamtheit, so doch im Einzelfall vor dem Blick der Öffentlichkeit weitgehend geschützt und in keiner Weise nachprüfbar. Im Ergebnis, so schon die frühe Kritik von Baumann (1972), drücke sich der Gesetzgeber durch die prozessualen Regelungen vor materiellen Entkriminalisierungen und stelle es in das nicht nachprüfbare Ermessen einer — nicht einmal unabhängigen — Behörde, in welchem Umfang von der Strafverfolgung abgesehen wird. Die fehlende Konkretion der Opportunitätsvorschriften ist — jedenfalls in rechtlicher Hinsicht — auch die Erklärung für die schon früh (vgl. Blankenburg 1978; Rieß 1979; ders. 1981) beobachtete Ungleichheit der Anwendung der Einstellungen nach §§ 153 und 153a StPO. Auch wenn sich diese Beobachtungen zunächst nur auf einzelne Bundesländer oder Behörden bezogen, so wurde doch deutlich, daß offenbar von verschiedenen Rechtsanwendern die unbestimmten Rechtsbegriffe in ganz unterschiedlicher Weise verstanden werden mußten, wenn manche Staatsanwaltschaften nur in 1 oder 2, andere in 10 oder 15 % der Fälle von den Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO Gebrauch machten. Schließlich ist auch zu fragen, inwieweit durch die Übertragung von Entscheidungen über die "Sanktionswürdigkeit" auf die Staatsanwaltschaft nicht die Selektivität der Rechtsanwendung fortgesetzt oder gar verstärkt wird. Dieser Vorwurf betrifft zunächst - auf das allgemeine Strafrecht bezogen - die Anwendung von § 153a StPO, der u.a. mit dem Argument kritisiert wurde, daß es sich um ein "Freikaufverfahren" für Begüterte handele, weil nur diese die Mittel für eine

52

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Geldbuße aufbringen könnten (vgl. Ahrens 1978, 25 ff.). Aber ganz generell ist aufgrund von Forschungen zur Selektivität des (Straf-)Rechts (vgl. Sack 1978) zu vermuten, daß Staatsanwälte in ihren Entscheidungen sich auch nach dem gesellschaftlichen Status bzw. dem Grad der gesellschaftlichen Anpassung der Tatverdächtigen richten und diejenigen Tatverdächtigen durch Sanktionsverzicht bevorzugen, welche einen höheren gesellschaftlichen Status aufweisen oder jedenfalls beruflich und familial integriert sind. Aus dieser kurzen Skizze ergeben sich folgende Schwerpunkte für die vorliegende Analyse, auf welche in den nächsten Kapiteln teilweise noch näher einzugehen ist: •

Nach welchen Kriterien trifft die Staatsanwaltschaft die Entscheidung, ob ein Beschuldigter angeklagt oder das Verfahren nach § 45 (bzw. §§ 153, 153a StPO) eingestellt werden soll?

Vermutet wird, daß die Entscheidung der Staatsanwaltschaft durch einige wenige Merkmale des Delikts bzw. des Beschuldigten beeinflußt wird, d.h., sich relativ stark nach einfach und schematisch anzuwendenden Kriterien richtet. Im Vordergrund dürften hierbei die Schwere des Delikts, wie sie sich vornehmlich in der Höhe des Schadens ausdrückt, und die strafrechtliche Vorbelastung des Beschuldigten stehen. •

Handelt die Staatsanwaltschaft dabei selektiv zum Nachteil bestimmter Gruppen von Jugendlichen bzw. Heranwachsenden?

Vermutet wird, daß die Staatsanwaltschaft — auch hierin ähnlich der Strafjustiz — Beschuldigte in ihren Entscheidungen benachteiligt (also eher anklagt), welche Merkmale sozialer Nicht-Angepaßtheit und sozialer Benachteiligung aufweisen. •

Besteht hinsichtlich der Häufigkeit, mit der Staatsanwälte von den Verfahrenseinstellungen Gebrauch machen, Rechtsgleichheit, oder bestehen Unterschiede in der Anwendungshäufigkeit der verschiedenen Möglichkeiten, ein Verfahren zu erledigen, welche nicht durch Unterschiede in Tat- und Tätermerkmalen erklärt werden können?

Vermutet wird, daß die erhebliche Unterschiedlichkeit in der Verfahrenspraxis der Staatsanwaltschaften nicht (jedenfalls nicht ausschließlich) darauf zurückgeführt werden kann, daß diese über ganz verschiedene Sachverhalte zu entscheiden haben. Bevor wir uns im nächsten Abschnitt den bisherigen empirischen und theoretischen Thematisierungen staatsanwaltlichen Handelns zuwenden, noch ein Wort

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

53

zur in dieser Arbeit verwendeten Begrifflichkeit. Obwohl in zahlreichen Veröffentlichungen von Entkriminalisiemng die Rede ist, handelt es sich bei den staatsanwaltlichen Einstellungen — vor allem denjenigen gemäß § 45 — nicht um entkriminalisierende Maßnahmen. Denn selbst wenn im Falle der Einstellung nach § 45 Abs. 2 Nr. 2 die Einstellung ohne Auflagen erfolgt, so bleibt der "Makel" der Straffälligkeit insoweit erhalten, als das Verfahren in das bundesweite Erziehungsregister eingetragen wird, der Beschuldigte also als strafrechtlich Auffälliger registriert wird; und selbst wenn einige Staatsanwälte den Registereintrag unterlassen, bleibt wohl in der Regel der Eintrag in die behördeneigene Zentralkartei. In der wissenschaftlichen und kriminalpolitischen Diskussion hat sich daher in letzter Zeit der Begriff der "informalisierenden Einstellungen" (bzw. Maßnahmen) oder einfacher "Informalisierungen" eingebürgert, der zum Ausdruck bringen soll, daß durch die Einstellungen nach § 45 an die Stelle des "formellen" Gerichtsverfahrens eine "nicht formelle" Verfahrenserledigung tritt. Wir halten diese Wortwahl für nicht sehr glücklich, weil sie suggeriert, daß zwischen "formellen" und "informellen" Erledigungsmöglichkeiten ein deutlicher Gegensatz bestehe, daß das "Informelle" das Gegenteil des anderen, des "Formellen" darstelle. Es ist zwar zutreffend, daß z.B. eine Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls wenn sie ohne Auflagen erfolgt, für den betroffenen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden eine Verminderung der strafrechtlichen Eingriffsintensität bedeutet. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß unter "Informalisierung" z.B. auch staatsanwaltliche oder richterliche Verfahrenseinstellungen subsumiert werden, welche mit erheblichen Interventionen in die Lebenswelt der Betroffenen einhergehen. Dies hat die Diskussion um den Begriff "Diversion" deutlich gezeigt (vgl. Kury/Lerchenmüller 1981; Brüsten et al. 1985; Müller/Otto 1986; Albrecht 1987, 94 ff.; Ludwig 1989). Im Gefolge solcher Entwicklungen berufen sich auch sozialpädagogische Handlungsprogramme darauf, für die "Informalisierungen" zuständig zu sein, weil die Pädagogik eben den "informellen" Gegensatz zur "formellen" Justiz darstelle (Bettmer 1986). So ist inzwischen eine neue Gruppe von Informalisierungs-Experten entstanden, welche unter Ausblendung des fremdbestimmten Charakters von außen gesetzter Intervention, sei sie nun justitieller oder (sozial-)pädagogischer Natur, sich darauf beruft, etwas "Anderes", "Besseres" zu repräsentieren. Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß solche Interventionen stets ungerechtfertigt sind, fraglich ist aber, ob pädagogische Interventionen per definitionem besser, weil "informeller", sind als andere Interventionen. Insofern wäre es angemessener, etwa zwischen nicht-interventionistischen und interventionistischen Verfahrenseinstellungen sowie den jeweiligen Stufen des Verfahrens, auf denen sie erfolgen, zu unterscheiden.

54

Staatsanwalüiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Zu wenig wird andererseits diskutiert, daß die jedenfalls intendierte formalisierende Verfahrensweise des Rechts auch Vorteile hat, z.B. die Nachvollziehbarkeit, letztlich die Anwendungsgleichheit rechtlicher Entscheidungen. Diese Formalität des Rechts mag zwar bislang ein nicht eingelöstes Versprechen geblieben sein; es ist aber nicht einzusehen, wie die Verschiebung rechtlicher Entscheidungen in Grauzonen der Exekutive dem abhelfen soll. In diesem Sinne gewinnt der Begriff der "Informalisierung" eine neue Bedeutung: Er verweist darauf, daß rechtliche Entscheidungen mehr und mehr von informellen, ungeschriebenen Verwaltungsnormen abhängen anstatt von überprüfbaren, rechtlich gesetzten Kriterien. Diese Bemerkungen sind zu berücksichtigen, wenn in der gesamten Untersuchung die Begriffe "informalisierende Verfahrenseinstellung" bzw. "Informalisierung" verwendet werden, welche inzwischen fester Bestandteil des kriminologisch-kriminalpolitischen Diskurses sind. Auch dies verdeutlicht den bislang geringen Differenzierungsgrad und die unzureichende Konzeptualisierung der bundesdeutschen Entkriminalisierungsdebatte (vgl. im Überblick hierzu Naucke 1984).

1.3

1.3.1

Empirische Untersuchungen zur staatsanwaltlichen Informalisierung im Jugendstrafverfahren Daten und Befunde aus Justizstatistiken

Daß Strafverfolgung kein geradliniger Prozeß von der Anzeige einer mutmaßlichen Straftat bis zur Verurteilung eines dieser Straftat überführten Täters ist, ist seit langem Thema der empirischen Erforschung des Strafrechts (Kerner 1973; ders. 1976). Gleichwohl fehlt es noch immer — sowohl wegen der partikularisierten Justizstatistiken als auch wegen der meist auf eine Instanz beschränkten empirischen Forschung — an hinreichendem Wissen über die Bedeutung, die die einzelnen Instanzen in diesem Prozeß haben, und deren verschiedene Möglichkeiten der Verfahrenserledigung (Feltes 1987). Vor allem aber das Wissen über informalisierende Verfahrenseinstellungen im Jugendstrafrecht ist nach wie vor sehr eingeschränkt. Statistiken über staatsanwaltliche Verfahrenserledigungen werden erst seit etwa einem Jahrzehnt geführt; zudem ist die Eignung dieser Statistiken für die Analyse staatsanwaltlichen Handelns begrenzt (siehe Kapitel 2). Die empirische Erforschung der Handlungskriterien der Staatsanwaltschaft hat sich ganz weitgehend auf das allgemeine Strafrecht beschränkt und die Jugendstaatsanwaltschaft — trotz ihrer schon immer vorhandenen eigenständigen Sanktionsmöglichkeiten — bis in die jüngste Zeit vernachlässigt. So sind die Aussagen dieses Abschnitts über die quantitative Bedeutung jugendstrafrechtlicher Verfahrenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft notwendig mit einem gewissen

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

55

Unsicherheitsgrad behaftet. Die Darstellung orientiert sich zunächst an den Themen, die in der Diskussion der letzten 10 Jahre vorgeherrscht haben.



Die Zunahme jugendstrafrechtlichen Sanktionsverzichts

Eine erste eindeutige Feststellung über den Gebrauch informalisierender Verfahrenseinstellungen muß lauten: Im Jugendstrafrecht wird (auf die Anteile der Verfahrenserledigungen bezogen) immer weniger verurteilt; prozentual immer mehr Jugendliche und Heranwachsende werden vor oder in der Hauptverhandlung aus dem Prozeß der strafrechtlichen Kriminalisierung herausgenommen. Feltes/Janssen/Voß (1983, Tab. 5, 877) haben darauf hingewiesen, daß im Jahr 1971 noch auf jede Person, deren Verfahren nach Jugendstrafrecht eingestellt wurde, drei kamen, die in einem Strafverfahren verurteilt wurden. Im Jahr 1980 lautete diese Relation jedoch nur mehr etwa 1 : 1,5. 5 Insgesamt sei — auch bezogen auf das allgemeine Strafrecht — eine kontinuierliche Reduktion des Anteils förmlich verurteilter Personen an allen registrierten Tatverdächtigen festzustellen. Während im Jahr 1971 noch 46 % aller polizeilich registrierten strafmündigen Tatverdächtigen abgeurteilt und 37 % verurteilt wurden, lauteten die entsprechenden Anteilswerte im Jahr 1980 nur mehr 41 % und 30 %. Auf noch längere Zeiträume beziehen sich die Zahlen, die Heinz/Spieß (1983, 918 f. und Tab. 3, 931) zusammengestellt haben. Danach kamen im Jahr 1954 auf 100 nach Jugendstrafrecht verurteilte Personen 22 Einstellungen nach § 45 Abs. 1 und 6 Einstellungen nach § 47. Im Jahr 1981 dagegen kamen auf 100 verurteilte Personen 36 Einstellungen nach § 45 Abs. 1 bei Jugendlichen und 13 Einstellungen bei Heranwachsenden, außerdem 37 Einstellungen (für beide Altersgruppen zusammen) nach § 47. Dies entspricht also in etwa der Schätzung von Feltes et al. über ein Verhältnis von Einstellungen zu Verurteilungen von 1 : 1,5 zu Beginn der 80er Jahre. Allerdings ist aus den genannten Zahlen auch deutlich geworden, daß die Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren nach dem Jugendstrafrecht gar nicht ausreichend erfaßt wird. Zum einen fehlen offizielle Veröffentlichungen über den Umfang staatsanwaltschaftlicher Informalisierungen. Zum anderen sind die Angaben über jugendstrafrechtliche Informalisierungen für

5)

Die genauen Zahlen nach Feltes et al. 1983: 1971: 33.519 Personen mit Verfahrenseinstellungen, 97.141 nach Jugendstrafrecht verurteilte Personen; 1980: 91.353 Personen mit Verfahrenseinstellungen, 132.649 nach Jugendstrafrecht verurteilte Personen.

56

Staatsanwalüiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

wissenschaftliche Analysen nicht hinreichend differenziert. Ebenso problematisch ist, daß in den verschiedenen Statistiken nicht nach Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen unterschieden wird, sondern nach Verfahren nach dem Jugend- oder dem allgemeinen Strafrecht. Die Erledigungen gegenüber Heranwachsenden können daher nicht zureichend erfaßt werden, denn es ist zu vermuten, daß bei dieser Altersgruppe gelegentlich auch von den Verfahrenseinstellungen gemäß §§ 153 ff. StPO Gebrauch gemacht wird. Schließlich ist daran zu erinnern, daß die Statistiken sich jeweils auf Verfahren und nicht auf Personen (Fälle) beziehen und die Angaben über Personen immer auf Schätzungen über die Zahl der durchschnittlich von einem Verfahren betroffenen Personen beruhen (Herbort 1988).

Wenn also die dargestellte zeitliche Entwicklung nur Trendaussagen erlaubt und nicht auf exakten Zahlen beruht, so kann insgesamt kein Zweifel daran bestehen, daß jedenfalls in den 80er Jahren der Verzicht auf die förmliche Verurteilung ein wesentlicher Bestandteil des Gesamts der strafrechtlichen Reaktionen auf straffälliges Verhalten Jugendlicher und Heranwachsender ist. Um noch einmal eine wohl ziemlich zuverlässige Schätzung von Heinz/Spieß (1983) heranzuziehen: Im Jahr 1981 wurden etwa 44 % aller Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mit einer Verfahrenseinstellung nach §§ 45 und 47 beendet; etwa 25 % aller Verfahren wurden dabei auf der Ebene der Staatsanwaltschaft eingestellt. Bis zum Jahr 1985 stieg der Anteil der "informell" erledigten Verfahren im Jugendstrafrecht auf 50 % (Heinz 1987, 138 ff.). Die Staatsanwaltschaft ist somit nicht nur wegen ihrer Ermittlungstätigkeit (oder besser gesagt, wegen des weitgehenden Verzichts auf eigenständige Ermittlungen), sondern auch und gerade wegen ihrer erheblichen Kompetenz im Bereich informeller Sanktionierung ein wichtiger Faktor in der strafrechtlichen Sozialkontrolle.



Die Unterschiedlichkeit des Gebrauchs informalisierender Verfahrenseinstellungen

Eine zweite Feststellung, die sich ebenfalls anhand der genannten Untersuchungen von Feltes/Janssen/Voß und noch deutlicher von Heinz belegen läßt, betrifft die regional unterschiedliche Handhabung der informalisierenden Verfahrenseinstellungen. Nach Feltes et al. (1983, 883 ff.) schwankte der Anteil "folgenloser Verfahrenseinstellungen"6 im Jahr 1980 zwischen 34 % und 47 %. Das heißt, die Chance, daß ein Verfahren gegen einen Tatverdächtigen ohne Sanktion endet, beträgt in einem Bundesland nahezu 1 : 1 , während sie in einem anderen bei 1 : 2 liegt.

6)

Alle Einstellungen ohne Auflagen - also nach §§ 153 Abs. 1 StPO, 154 Abs. 1 StPO und § 45 Abs. 2 - und Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO.

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

57

Noch bedeutsamere Unterschiede haben Heinz/Spieß (1983) bzw. Heinz/Hügel (1986) in bezug auf die Erledigungen nach dem Jugendstrafrecht ermittelt, welche sich auch direkt auf die Erledigungsstrukturen der Staatsanwaltschaft beziehen. Im Jahr 1981 schwankte danach die Relation der Einstellungen gemäß § 45 Abs. 1 und Abs. 2 zu den Anklagen zwischen 1 : 1,6 (im Saarland) und 1 : 8,1 (in Nordrhein-Westfalen) (Heinz/Spieß 1983, Tab. 6, 934). Im Jahr 1984 betrug das günstigste Verhältnis schon beinahe 1 : 1 (Hamburg), das ungünstigste etwa 1 : 6 (Rheinland-Pfalz); Nordrhein-Westfalen lag zu diesem Zeitpunkt mit einer Relation von fast 1 : 3 (31 Verfahrenseinstellungen auf 100 Anklagen) bereits wesentlich günstiger als 3 Jahre zuvor, 1985 sogar bei 1 : 2,6 (Albrecht 1987, 97). Diesen Unterschieden auf der Ebene einzelner Bundesländer dürften auch ebenso deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Behörden entsprechen. Beispielsweise schwankte der Gebrauch der Einstellungen gemäß § 45 Abs. 2 in Nordrhein-Westfalen zwischen 7,5 % (in der Staatsanwaltschaft Paderborn) und 34,5 % (Detmold) aller Erledigungen nach dem Jugendgerichtsgesetz (bei gleichzeitig recht geringen Quoten der Einstellungen nach § 45 Abs. 1; Ludwig 1985, 295). Dies entspricht Unterschieden, die andere Autoren in bezug auf Verfahrenserledigungen nach dem allgemeinen Strafrecht zwischen verschiedenen Behörden (Hertwig 1982) bzw. bei den verschiedenen Dezernenten einzelner Behörden (Feltes 1983) gefunden haben. Weitere Belege für erhebliche regionale Unterschiede konnte Heinz (1988; ders. 1990) erbringen, indem er die staatsanwaltliche Entscheidungspraxis in verschiedenen Bundesländern bzw. in verschiedenen Behörden eines Bundeslandes bei erstmals auffalligen Tatverdächtigen mit jeweils ähnlichen Delikten untersuchte. Auch hier konnten sehr erhebliche Spannbreiten in den Anteilen der Verfahrenseinstellungen nach §§ 45, 47 festgestellt werden. Allerdings sind diese Ergebnisse insoweit noch nicht sehr differenziert, als wegen der ausschließlichen Verwendung von Daten des Bundeszentralregisters die Zusammenstellung von "ähnlichen" Delikten nur aufgrund deren rechtlicher Einordnung vorgenommen wurde. So wurden als "leichte" Delikte z.B. sämtliche Diebstähle nach §§ 242, 243 Abs. 2 StGB (neben einer Vielzahl von anderen Delikten) gewertet, und zwar ganz unabhängig von der jeweiligen Schadenshöhe (Heinz 1988, 120; ders. 1990, 9).



Die Abhängigkeit infonnalisierender Verfahrenseinstellungen vom Delikt

Nach den rechtlichen Vorschriften gibt es im Jugendstrafrecht — anders als im allgemeinen Strafrecht - keine Einschränkung des Gebrauchs infonnalisierender Verfahrenseinstellungen durch die Art der dem Verfahren zugrundeliegenden

58

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Straftat. Dies entspricht dem Anspruch eines Täter- und Erziehungsstrafrechts, welches strafrechtliche Ahndung weitgehend davon abhängig macht, ob ihre Notwendigkeit nicht durch bereits erfolgte erzieherische Maßnahmen entfallt. Demgegenüber zeigen sich in der Realität extreme Unterschiede des Gebrauchs der informalisierenden Verfahrenseinstellungen je nach Delikt. Unter den Verfahren, die nach §§ 45 Abs. 1, 47 eingestellt werden, sind ganz eindeutig die jugendtypischen Bagatellen wie Leistungserschieichung, fahrlässige Körperverletzung (nicht im Straßenverkehr), Sachbeschädigung, einfacher Diebstahl (§ 242 StGB) und Unterschlagung überrepräsentiert (Heinz/Spieß 1983, 936, Tab. 8), während beispielsweise der Diebstahl unter erschwerenden Umständen gemäß § 243 StGB bereits deutlich unterdurchschnittliche Einstellungsquoten aufweist (ebd., 937, Tab. 9). Allerdings ist mit diesen Feststellungen nur ein sehr eingeschränktes Wissen über die Abhängigkeit des staatsanwaltlichen Sanktionshandelns von den jeweiligen Fallmerkmalen verfügbar. Weder über weitere Merkmale der Straftaten selbst (beispielsweise unterschiedliche Schadenshöhen), noch über Tätermerkmale (genauer: Tatverdächtigen-Merkmale) ist bislang bekannt, ob und wie sie die Wahrscheinlichkeit einer informalisierenden oder formalisierenden Verfahrenseinstellung beeinflussen. Dies beeinträchtigt auch die oben getroffene Feststellung der Unterschiede zwischen verschiedenen Bundesländern, Behörden oder Sachbearbeitern. Man kann zwar nicht davon ausgehen, daß die erheblichen Unterschiede völlig durch die den Entscheidungen zugrundeliegenden Merkmale der Delikte oder der Tatverdächtigen erklärt werden können. Aber die Feststellung der Ungleichheit der Rechtsanwendung bleibt doch zweifelhaft, wenn nicht gleichzeitig sichergestellt ist, daß Ungleichheiten der Anwendung keine Ungleichheiten in den Fallkonstellationen entsprechen. Als Fazit aus den bisher vorliegenden Erkenntnissen läßt sich also festhalten: -

Informalisierende Verfahrenseinstellungen haben im Jugendstrafrecht eine erhebliche Bedeutung, welche zwar schon immer vorhanden war, in den letzten Jahren aber offensichtlich zunimmt.

-

Es wird eine erhebliche Unterschiedlichkeit der Anwendung dieser Verfahrenseinstellungen zwischen verschiedenen Staatsanwaltschaften und auch zwischen den Sachbearbeitern innerhalb einzelner Staatsanwaltschaften vermutet, ohne daß es dafür bislang empirisch abgesicherte Erkenntnisse gibt.

-

Über die Kriterien, nach denen Staatsanwälte Verfahren informalisierend einstellen oder zur Anklage bringen, liegen ebenfalls - in bezug auf das Jugendstrafverfahren - praktisch keine Erkenntnisse vor.

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

1.3.2

59

Wissenschaftliche Untersuchungen staatsanwaltlicher Entscheidungen im Jugend- und allgemeinen Strafrecht

Die bisher vorgestellten Ergebnisse über die Verfahrenseinstellungen im Jugendstrafrecht beziehen sich auf die allgemeine Entwicklung dieser Erledigungsformen und haben als Datengrundlage die amtlichen Statistiken. Untersuchungen, die darüber hinausgehen und auf der Ebene von einzelnen Verfahren (und wichtiger: Fällen) deren Merkmale und ihren Einfluß auf die jugendstaatsanwaltliche Entscheidung analysieren, existieren nur in Ansätzen. Allerdings läßt sich aus verschiedenen Gründen annehmen, daß die informalisierenden Einstellungen im Jugendstrafrecht nicht gänzlich anderen Gesetzlichkeiten folgen als diejenigen nach dem allgemeinen Strafrecht. Für die Gewinnung bzw. Begründung weitergehender Hypothesen ist daher eine Auseinandersetzung mit bislang vorliegenden Untersuchungen zur Staatsanwaltschaft auch in bezug auf das allgemeine Strafrecht sinnvoll. Zuvor soll aber auf die wenigen Ansätze zur Erforschung jugendstaatsanwaltlichen Handelns in der Bundesrepublik Deutschland eingegangen werden.

1.3.2.1

Analysen jugendstaatsanwaltlichen Handelns

Eine erste Skizze, die vor allem auf teilnehmender Beobachtung während des eigenen Referendariats beruhte, hat Best (1971) vorgelegt. Allerdings ist diese Untersuchung für unser Thema kaum einschlägig, weil sie sich größtenteils auf das Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei einerseits, die Rolle des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung andererseits konzentrierte. Zu den Kriterien, nach denen Entscheidungen - gleich welcher Art — getroffen werden, konnte Best keine Aussagen machen. Ferner hat Gréus (1978) die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft gemäß § 45 zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht. Allerdings hat er ausschließlich Verfahren untersucht, die gemäß dieser Norm erledigt wurden, und konnte daher natürlich nicht herausarbeiten, wovon die Entscheidung für oder gegen die informalisierende Verfahrenseinstellung abhängt. Auch ging Gréus von der Annahme aus, daß der weitgehende Sanktionsverzicht im Grunde eine problematische Entscheidung und nur dann zulässig sei, wenn es sich von Tat- und Täterseite her um ausgesprochene Bagatelldelikte handele. Daher besteht seine Analyse hauptsächlich in der Suche nach Merkmalen (sogenannte "Negativmerkmale"), bei welchen seiner Meinung nach eine Verfahrenseinstellung gemäß § 45 nicht mehr zulässig gewesen wäre.

60

Staatsan walüiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Trotzdem werden aus dieser Arbeit Anhaltspunkte zu einigen Themen sichtbar, die teils schon angesprochen wurden, teils in den nachfolgend dargestellten Untersuchungen noch deutlicher werden. So weist auch Gréus — dessen Daten in vier Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg im Jahr 1973 erhoben wurden -

auf

die Unterschiede in der Häufigkeit hin, mit der in den Staatsanwaltschaften von den Regelungen des § 45 Gebrauch gemacht wird (247 ff.). Als Beleg für die Unterschiedlichkeit der staatsanwaltlichen Praxis kann auch der Hinweis gewertet werden, daß in den von Gréus untersuchten Fällen nur 10 % der Entscheidungen gemäß § 45 Abs. 2, die weitaus große Mehrheit also nach § 45 Abs. 1 erledigt wurde. Auch wenn für den von Gréus gewählten Zeitraum keine direkten Vergleichsdaten vorliegen, ist doch aus den Analysen von Heinz/Spieß (1983) zu schließen, daß ein solches Übergewicht der Einstellungen nach § 45 Abs. 1 keineswegs die Norm war und ist. Insoweit Gréus Aussagen zum Einfluß von Tat- und Tätermerkmalen machen konnte, ist einmal die Feststellung wichtig, daß offenbar je nach Delikt unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe herangezogen werden, bis zu welcher Schadenshöhe noch von einem "Bagatellfall" auszugehen ist. Bei den Sachbeschädigungsdelikten in seiner Stichprobe war die durchschnittliche Schadenshöhe weitaus größer als bei den Vermögensdelikten (42 f.). Im übrigen monierte Gréus vor allem, daß sich sehr häufig in den Akten nur unzureichende Angaben über den Tat verdächtigen selbst finden ließen, so daß die Staatsanwälte seiner Meinung nach gar nicht in ausreichendem Maße über Informationen verfügten, um eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können. Ausgehend von dieser Beobachtung kritisierte der Autor abschließend, daß die Staatsanwaltschaft sich in ihren Entscheidungen offenbar weitgehend von Merkmalen des Delikts und nicht von Erkenntnissen über den Tatverdächtigen und seine Stellung zur Tat leiten läßt. Wichtig ist auch der Hinweis, daß seiner Einschätzung nach etwa 9 % der Verfahren, welche nach § 45 eingestellt wurden, eigentlich wegen fehlenden Tatnachweises nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen gewesen wären. Gréus spricht damit ein Thema an, welches unter dem Begriff SubstitutioDseffekt diskutiert wird, und worauf im Rahmen dieser Arbeit gleichfalls, wenn auch nicht in abschließender Weise, eingegangen werden soll. Gemäß dieser These können die Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen Staatsanwälte dazu verführen, in Fällen eines zweifelhaften Tatverdachts gleichwohl durch eine Einstellung dem Tatverdächtigen eine "Quasi-Sanküon" aufzuerlegen. Inwieweit sich auf der Ebene der Gesamtheit erledigter Verfahren Anhaltspunkte für diese These finden lassen, soll in Abschnitt 3.2.4 erörtert werden. Im Rahmen der Untersuchung von Gréus wäre es hilfreich gewesen, wenn auch eine Stichprobe von Verfahren durchgesehen worden wäre, welche wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt wurden, um zu prüfen, ob die Substitutionseffekte in die "negative" Richtung — von den Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO zu denjenigen nach § 45 — nicht möglicherweise durch ähnliche Effekte in die umgekehrte Richtung ausgeglichen worden wären. Hügel (1986) hat auf der Basis einer bundesweiten Stichprobe von Verfahren, welche nach §§ 45, 47 eingestellt oder mit einer Verurteilung zu einer ambulanten Sanktion nach §§ 10, 14, 15 abgeschlossen worden waren, die Determinanten für informalisierende

Entscheidungen untersucht.

Ihre Feststellung,

daß

diese

Die Staatsanwaltschaft als

Diversionsinstanz

61

Entscheidungen im wesentlichen durch strafrechtliche Vorbelastung und Schadenshöhe bestimmt würden, dagegen keine Selektivität zu Lasten bestimmter sozialer Gruppen festzustellen sei, kann jedoch nicht als gesichert betrachtet werden. Zum einen wurden keine multivariaten Auswertungsverfahren angewendet, sondern allenfalls Kontrollen jeweils einer dritten Variablen durchgeführt. Ferner könnte eine Feststellung selektiver Entscheidungsstrukturen auch durch die Stichprobenziehung verhindert worden sein. Wenn nämlich z.B. arbeitslose Jugendliche dadurch benachteiligt würden, daß ihr Verfahren statt mit einer Einstellung mit einem Jugendarrest endet, so wäre das Merkmal Arbeitslosigkeit in der von Hügel gewählten Stichprobe natürlich nicht diskriminierungskräftig. Insgesamt ist also die Forschungslage zum jugendstaatsanwaltlichen Handeln, soweit es um die detaillierte Herausarbeitung der Bedingungen formalisierender bzw. informalisierender Entscheidungen im Einzelfall geht, tatsächlich noch weitgehend unbefriedigend. Es gibt bislang noch keine einzige Untersuchung, welche über die Analyse der summarischen Staatsanwaltschaftsstatistiken hinaus mögliche Einflüsse von Tat-, Täter- oder anderen Merkmalen des Einzelfalls auf die staatsanwaltliche Entscheidung über Anklage oder informalisierende Verfahrenseinstellung im Jugendstrafrecht in adäquater Weise untersucht hat, d.h. durch den Vergleich von Verfahren, die mit einer Anklage, mit solchen, welche mit einer informalisierenden Einstellung endeten.

1.3.2.2

Analysen zu staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen im allgemeinen Strafrecht

In quantitativer Hinsicht — was also die Zahl der Untersuchungen angeht — ist die Forschungslage im Bereich des allgemeinen Strafrechts weitaus besser als im Jugendstrafrecht. Allerdings täuscht die Zahl der vorliegenden Arbeiten ein wenig darüber hinweg, daß diese teilweise in der Forschungsanlage, in den Auswertungsmethoden und auch in den Schlüssen aus den Daten nicht voll zufriedenstellen können. Von den Untersuchungen, die die Verfahrenseinstellungen nach §§ 153, 153a StPO zum Gegenstand hatten, sind im Grunde nur die von Kotz (1983) und mit Einschränkungen diejenige von Hertwig (1982) einigermaßen aussagekräftig. Andere Untersuchungen sind aus verschiedenen Gründen nicht einschlägig bzw. nicht ergiebig. Die Arbeit von Ahrens (1978) bezog sich auf die Einstellung des Verfahrens in der Hauptverhandlung nach §§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO. Ahrens konnte vor allem zeigen, daß diese Verfahrenserledigung nicht selten dann gewählt wird, wenn der Staatsanwalt eine fragwürdige Anklage "retten" will, also in Situationen, wo ein Tatverdacht nicht mit Sicherheit nachgewiesen, aber vom Angeklagten auch nicht eindeutig widerlegt werden kann. Diese Konstellation

62

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

ist mit den Einstellungen nach §§ 153 Abs. 1, 153a Abs. 1 StPO (bzw. § 45) nicht direkt zu vergleichen, denn hier fehlt gerade die Dynamik der Hauptverhandlung, welche den Staatsanwalt erkennen läßt, ob er zum "Rettungsanker" der Einstellung greifen muß, um sein "Gesicht zu wahren". Gleichwohl wird auf den Zusammenhang zwischen Beweislage und staatsanwaltlicher Erledigung noch einzugehen sein. Noch auf die vor dem 1.1.1975 geltende Rechtslage bezog sich die Untersuchung von Gillig (1976). Allerdings war seine Analyse auf eine einzige Deliktsart, nämlich den Ladendiebstahl, und zudem auf Fälle mit einer Schadenshöhe von maximal 30 DM beschränkt. Damit ist zwar sicherlich die quantitativ bedeutsamste Deliktsart erfaßt worden, gleichwohl beeinträchtigt diese Einschränkung die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse. Außerdem verfahrt Gillig in der Interpretation seiner Daten gelegentlich zu selektiv. Beispielsweise zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Wert der entwendeten Waren und der "Sanktionierung" durch die Staatsanwaltschaft, den Gillig nur deshalb, weil er nicht perfekt ist - es werden auch einige Verfahren mit relativ hohen Schadenssummen eingestellt — als weitgehend irrelevant ansieht (Gillig 1976, 230 und 236). Seine zentrale Schlußfolgerung ist, daß vor allem die Verfahren derjenigen Personen eingestellt werden, die durch ein Schreiben an die Staatsanwaltschaft — gleich welchen Inhalts — signalisieren, daß sie sich dem Verfahren und der Sanktionsgewalt des Staatsanwalts unterwerfen (ebd., 278 ff.). Allerdings wird dieses Ergebnis durch die Tatsache beeinträchtigt, daß auch bei Tatverdächtigen über 60 Jahren sehr häufig von den Verfahrenseinstellungen Gebrauch gemacht wird (ebd., 240), daß es aber gerade auch Tatverdächtige dieser Altersgruppe sind, die sich schriftlich bei der Staatsanwaltschaft einlassen. Eine Prüfung dieser Zusammenhänge durch simultane Analyse mehrerer Variablen ist nicht erfolgt. Ebenfalls auf Ladendiebstahlsfälle, wenngleich ohne Schadensbegrenzung, war die Untersuchung von Wagner (1979) beschränkt. Wagner hat zwar die Erledigung dieser Verfahren durch sämtliche Instanzen verfolgt, sich dabei allerdings weitgehend statistischer Auswertungen enthalten und mehr auf interessante kasuistische Details verlegt. Immerhin ergibt sich aus dieser Untersuchung der Hinweis auf die Bedeutung der Vorstrafenbelastung und der Schadenshöhe als zentrale Merkmale, von denen die Einstellung oder Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft abhängt (vgl. ebd., 127 f. und 167 ff.). Die Arbeit von Kunz (1980) hat ausschließlich Verfahren zum Gegenstand gehabt, welche nach §§ 153, 153a StPO eingestellt wurden. Seine Untersuchung beschränkt sich folglich auf die Unterschiede zwischen diesen beiden Erledigungsarten und ist im übrigen weitgehend deskriptiv. Einige Themen, die in anderen Untersuchungen angesprochen werden, lassen sich hier gleichfalls finden. Beispielsweise hat sich gezeigt, daß die Schadenshöhe der eingestellten Ladendiebstahlsverfahren deutlich unter der anderer Deliktsarten liegt, daß also offensichtlich bei den Ladendiebstählen die Grenze für das Vorliegen "geringer Schuld" enger gezogen wird als bei anderen Straftaten (ebd., 72 f.). Ferner hat Kunz auf die Ambivalenz der Verteidigerstellung hingewiesen. Die Bestellung eines Verteidigers durch den Tatverdächtigen kann die Staatsanwaltschaft nicht nur zur Verfahrenseinstellung — um Schwierigkeiten zu vermeiden —, sondern gerade auch zur Anklage — wegen der "Unbotmäßigkeit" des Tatverdächtigen — veranlassen. Im übrigen sei die Bestellung eines Verteidigers bei Delikten mit höherem Schaden häufiger, was ebenfalls für eine größere Anklagewahrscheinlichkeit spreche (ebd., 83 ff.).

Die Untersuchung von Hertwig (1982) hat die Praxis der Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO (sowohl im Vor- als auch im Hauptverfahren) auf relativ

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

63

breiter Basis analysiert. Sie bezog sich auf Verfahren aus 16 Staatsanwaltschaften der Bundesrepublik, die sich auf sieben Bundesländer verteilten. Da Hertwig sämtliche in den betreffenden Behörden während des Untersuchungszeitraums erledigten Verfahren durchgesehen hat, konnte auch der Anteil der informalisierenden Verfahrenseinstellungen in den einzelnen Staatsanwaltschaften genau bestimmt werden. Durch einen Vergleich der 702 Verfahren, die nach § 153 oder § 153a StPO eingestellt wurden, mit einer Vergleichsgruppe von 172 Verfahren, die mit einer Anklage endeten, konnte Hertwig auch Aussagen über die Merkmale machen, welche die Entscheidung des Staatsanwalts für oder gegen eine Informalisierung beeinflussen. Auch Hertwig wies zunächst auf die unterschiedliche Häufigkeit hin, mit der die untersuchten Staatsanwaltschaften von den informalisierenden Verfahrenseinstellungen Gebrauch machten. Die Quote dieser Erledigungen schwankte in den verschiedenen Behörden zwischen 4 und 18 % (ebd., 43 f.). Ferner sieht auch Hertwig Anhaltspunkte dafür, daß die informalisierenden Verfahrenseinstellungen an die Stelle der Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts treten können. Die Staatsanwaltschaften in Süddeutschland stellten tendenziell weniger Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein, wiesen dafür aber höhere Anteilswerte in den Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO auf, eine Beobachtung, die auch schon Rieß (1979) gemacht hat. Hinsichtlich der Analyse des Einflusses der tat- und täterbezogenen Merkmale auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist die Untersuchung von Hertwig weniger ergiebig. Erstens liegen den untersuchten Verfahren sehr unterschiedliche Delikte zugrunde, was oftmals die Interpretation der Ergebnisse erschwert. So spielt es nach Hertwig keine Rolle für die Entscheidung des Staatsanwalts, ob bei einem Delikt ein Schaden entstand oder nicht (ebd., 162 ff.). Dieses Ergebnis kommt vermutlich durch die Zusammenfassung sehr heterogener Straftatbestände (verschiedene Eigentums-, Verkehrsdelikte, Verstöße gegen das Ausländergesetz etc.) zustande. Eine Betrachtung nur derjenigen Delikte, bei denen überhaupt ein Schaden entstand, zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Höhe des Schadens und der Anklagewahrscheinlichkeit (ebd., 165 ff.). Zweitens hat sich Hertwig weitgehend auf bivariate Kreuztabellenanalysen beschränkt und damit nicht prüfen können, in welchem Ausmaß sich in den Kreuztabellen nur scheinbare (Non-)Korrelationen zeigten. Beispielsweise stellte Hertwig fest, daß Delikte, die vom Geschädigten angezeigt wurden, eher mit einer Verfahrenseinstellung endeten als solche, bei denen das Verfahren durch die Polizei eingeleitet wurde. Da es sich bei letzteren ganz überwiegend um andere Delikte (nämlich vor allem solche im Straßenverkehr) handelt als bei ersteren, ist diese Schlußfolgerung wenig informativ. Wegen des Fehlens multivariater Analysen ist es schließlich nicht möglich, Aussagen über den relativen Einfluß der verschiedenen Variablen auf die Entscheidung des Staatsanwalts zu machen.

64

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Faßt man die wichtigsten Ergebnisse Hertwigs zusammen, so zeigt sich der starke Einfluß der Vorbelastung des Täters (ebd., 203 ff.) sowie - richtig betrachtet des Schadens (ebd., 165 ff. bzw., bei Gewaltdelikten, der Verletzung des Opfers, ebd., 176 ff.). Auch Hertwig stellte fest, daß es offenbar deliktsspezifische Wertungen der Schadenshöhe gibt, weil die durchschnittliche Schadenssumme der eingestellten Ladendiebstähle deutlich unter der der sonstigen eingestellten Vermögensdelikte lag. Einen Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Verfahrenserledigung konnte Hertwig vor allem für die Hauptverhandlung aufzeigen. Hier ergab sich bei den Einstellungen nach § 153a StPO eine Tendenz der Bevorzugung von Oberschichtangehörigen, so daß Hertwig den Einwand des "Freikaufverfahrens" nicht widerlegt fand. Soweit die Tatverdächtigen anwaltlich vertreten waren - was bei Oberschichtangehörigen häufiger der Fall war wurde kein informalisierender, sondern ein anklagefördernder Einfluß festgestellt (ebd., 227 ff.). Die Vermutung, daß umso eher ein Rechtsanwalt herangezogen wird, je gravierender der Tatvorwurf ist (vgl. oben zu Kunz 1980), wurde von Hertwig jedoch nicht geprüft. Schließlich fand Hertwig auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der — gerichtlichen — Verfahrenseinstellung, wenn die Tatverdächtigen den entstandenen Schaden wiedergutgemacht hatten (ebd., 248 f.). Schließlich hat Kotz (1983) eine Untersuchung über die staatsanwaltliche Erledigungspraxis vorgelegt, die sich auf drei Erledigungsformen (Anklage, Strafbefehl, Einstellung nach § 153a StPO) bezog. Durch die Beschränkung auf drei Deliktsarten (Ladendiebstahl, fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr sowie Trunkenheitsfahrten), die getrennt analysiert wurden, sind die Ergebnisse von Kotz besser interpretierbar als diejenigen von Hertwig. Ferner hat Kotz durch die Anwendung multivariater Verfahren auch angemessenere Datenanalysemodelle verwendet als die übrigen Untersuchungen zu informalisierenden Einstellungen. Auch Kotz' Analyse erbrachte die zu erwartenden Ergebnisse des Einflusses der strafrechtlichen Vorbelastung und der Schadenshöhe. Ferner konnte er feststellen, daß ein Geständnis die Wahrscheinlichkeit einer Verfahrenseinstellung, das Hinzuziehen eines Rechtsanwalts durch den Tatverdächtigen die einer Anklage erhöhte. Diese Ergebnisse müssen nicht notwendigerweise denjenigen von Blankenburg et al. widersprechen, welche in ihrer Analyse der Einflußmöglichkeiten des Tatverdächtigen auf die staatsanwaltliche Entscheidung zu dem Ergebnis gekommen waren, daß das Bestreiten des Tatvorwurfs und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt eher zu einem Sanktionsverzicht durch den Staatsanwalt führten. Vielmehr wird deutlich, daß es nicht unproblematisch ist, Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO und nach § 153 StPO in einer Kategorie des "Sanktionsverzichts" zusammenzufassen. Offenbar kann durch das Bestreiten der Tat und Einschalten eines Rechtsanwalts zunächst die Entscheidung über die Zuschreibung des Tatverdachts zugunsten des Tatverdächtigen beeinflußt werden. Erachtet aber trotz dieser Einflußmöglichkeiten die Staatsanwaltschaft den Tatverdacht als hinreichend, können die gleichen Merkmale ungünstige Wir-

Die Staatsanwaltschaft als Diversionsinstanz

65

kungen entfalten: Das Leugnen wird nun als "mangelnde Einsicht" betrachtet; der Rechtsanwalt wird als Ausdruck von "Widerspenstigkeit" des Tatverdächtigen wahrgenommen.

Hinsichtlich einer möglichen Selektivität des staatsanwaltlichen Handelns konnte Kotz einmal feststellen, daß Angeklagte mit geringem oder fehlendem Einkommen — bei Körperverletzungsdelikten — eher angeklagt als mit einem Strafbefehl sanktioniert werden (während ein Einfluß auf die Informalisierungswahrscheinlichkeit nicht besteht). Ferner finden sich Anhaltspunkte dafür, daß im Bereich des Ladendiebstahls die Einführung des § 153a StPO die Selektivität der Strafverfolgung verstärkt hat. Denn im Jahr 1978 erfolgte bei arbeitslosen Tatverdächtigen häufiger eine Anklage als eine informalisierende Einstellung, während im Jahr 1975 — als von § 153a StPO noch kaum Gebrauch gemacht wurde — diese Variable noch keinen Einfluß auf die Entscheidung des Staatsanwalts hatte. Insgesamt betrachtet ist auch die Forschungslage zu den Einstellungen aus Opportunitätsgründen im allgemeinen Strafrecht noch nicht zufriedenstellend. Man kann zwar davon ausgehen, daß die Staatsanwaltschaft die informalisierenden Verfahrenseinstellungen des allgemeinen Strafrechts im wesentlichen — getreu dem Normprogramm — zur Sanktionierung von Bagatelldelikten anwendet. Über die Einflußstärke verschiedener Merkmale von Delikt und Tatverdächtigem — und über das relative Gewicht dieser beiden Gruppen von Merkmalen — werden jedoch sehr selten Aussagen getroffen. Als Ausnahme ist die Untersuchung von Kotz zu nennen; allerdings bezog sich diese auf einen einzigen Landgerichtsbezirk, so daß die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt ist.

1.4

Ziele und Gliederung der vorliegenden Untersuchung

Diese landesweite Aktenuntersuchung hat das Ziel, die staatsanwaltlichen informalisierenden Verfahrenseinstellungen im Jugendstrafrecht möglichst umfassend zu analysieren. Aus der vorangegangenen Diskussion kriminalpolitischer Thesen und empirischer Ergebnisse sollte deutlich geworden sein, daß sich eine solche Untersuchung bereits auf vielfältige Vorarbeiten und Erkenntnisse stützen kann, daß aber gleichzeitig noch viele Fragen offen sind. Im Kapitel 3 dieser Arbeit sollen — nach der Darstellung der verwendeten Datenquellen und der Untersuchungsanlage in Kapitel 2 — die staatsanwaltlichen Informalisierungsentscheidungen der nordrhein-westfalischen Jugendstaatsanwälte im Kontext der Gesamtheit staatsanwaltlicher Erledigungen untersucht werden. Schwerpunkte dieses Untersuchungsabschnitts (1. Buch) sind jedoch zum einen die Analyse der Einflüsse von Tat- und Tätermerkmalen auf die staatsanwaltliche Entscheidung, zum anderen die Untersuchung der Unterschiedlichkeit der Rechts-

66

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

anwendung zwischen verschiedenen Staatsanwaltschaften. Beide Untersuchungsschritte sind insofern aufeinander bezogen, als die Analyse der Unterschiedlichkeit der Entscheidungsstruktur gerade die den einzelnen Fällen zugrundeliegenden entscheidungsrelevanten Merkmale berücksichtigen soll. Diese Untersuchungsschritte werden in Kapitel 4 mit bivariaten Analysen zu den Merkmalen von Delikt und Beschuldigtem eingeleitet; dort soll auch eine theoretische Begründung der zu untersuchenden Merkmale erfolgen, die in den soeben zitierten Arbeiten meist implizit erfolgte. In Kapitel 5 werden die in Kapitel 4 explorati ν dargestellten Zusammenhänge mit multivariaten statistischen Verfahren untersucht; hier wird auch geprüft, ob die Unterschiede in der Erledigungsstruktur zwischen den verschiedenen Behörden bestehenbleiben, wenn man Delikts- und Beschuldigtenmerkmale berücksichtigt. In Kapitel 6 wird die Unterschiedlichkeit der Erledigungsstruktur noch einmal gesondert in bezug auf Bagatelldelikte analysiert, welche im Zentrum staatsanwaltlicher Informalisierungsbemühungen stehen. Kapitel 7 faßt die Befunde der Arbeit zusammen und diskutiert sie im Lichte der kriminalpolitischen Problematik staatsanwaltlicher Entscheidungen.

2

Anlage und Methoden der Untersuchung

Die folgende Untersuchung kann sich im wesentlichen auf zwei Datenquellen stützen: auf amtliche Statistiken — im konkreten Fall auf Daten der Staatsanwaltschaftsstatistik — und vor allem auf eine Erhebung aus Justizakten. Für eine Analyse, die nur amtliche Statistiken verwendet, ist die Arbeit von Hergenröder (1986) ein gutes Beispiel, das die Möglichkeiten wohl weitgehend ausschöpft.7 Der Vorteil einer Untersuchung justitieller Entscheidungen anhand dieser Statistiken ist evident: Nur so lassen sich Aussagen über die Gesamtheit

7)

Für eine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Untersuchung amtlicher Statistiken, die vor allem die Analyse größerer Trends in der Entwicklung der Kriminalisierungsund Sanktionspraxis in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen im Auge hat, vgl. die Arbeiten von Pilgram (1980, 1982a, b) sowie Steinen (1988) und Cremer-Schäfer (1988a, b). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten kann wegen der ganz unterschiedlichen Zielsetzung hier unterbleiben. Anzumerken ist allerdings, daß bei aller Scharfsinnigkeit der Analysen und Elaboriertheit der theoretischen Konzepte (vgl. Steinert 1981; Cremer-Schäfer/Steinert 1986) doch das Problem einer gewissen Willkürlichkeit der Erklärung bleibt: Wenn man nachträglich die beobachteten Veränderungen gesellschaftlicher Kriminalisierungspraktiken, wie sie sich in den Kriminal- und Justizstatistiken zeigen, bestimmten Phasen der wirtschaftlichen und/oder politischen Entwicklung zuordnet, werden sich angesichts der großen Zahl wichtiger gesellschaftlicher Veränderungen immer einige ausfindig machen lassen, die zu den Veränderungen der Kriminalisierungspraxis "passen".

Anlage und Methoden der Untersuchung

67

aller Verfahrenserledigungen machen. Jede Analyse, die aufgrund einer Stichprobe zu differenzierteren Daten gelangen will, muß sich auf eine lokale oder regionale Auswahl von Behörden beschränken und kann in diesem Sinne immer nur zu begrenzten Aussagen kommen. Allerdings sind die Analysemöglichkeiten der Justizstatistiken, wie schon mehrfach angedeutet, gleichfalls begrenzt, und zwar in sehr erheblichem Maße. Folgende Probleme wären als wichtigste zu nennen: — Einmal sind die Staatsanwaltschaftsstatistiken Verfahrensstatistiken. In etwa 30 % der Fälle richten sich Verfahren aber gegen mehrere Tatverdächtige. Auch in diesen Fällen wird jedoch in der Zählkarte, die den Statistiken zugrundeliegt, nur eine (und zwar die schwerste)8 Entscheidung festgehalten, die aber durchaus nicht für alle Tatverdächtigen zutreffen muß. — Des weiteren trennen die Statistiken nicht nach Verfahren gegen Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene. Daher lassen sich jedenfalls ohne näheres Wissen über die Häufigkeit von Erledigungsformen des allgemeinen Strafrechts bei Jugendlichen9 und Heranwachsenden keine exakten Aussagen über die Gesamtheit der Verfahrenserledigungen gegenüber dieser Altersgruppe machen. — Vor allem und als wichtigste Einschränkung ist zu betonen, daß die Staatsanwaltschaftsstatistik keinerlei Angaben über die den Verfahren zugrundeliegenden Merkmale von Delikten und Tatverdächtigen enthält (während beispielsweise die Strafverfolgungsstatistik wenigstens nach Delikten differenziert). Aus diesen Gründen werden in dieser Arbeit Daten der Staatsanwaltschaftsstatistik nur für einen ersten Überblick über die staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen im Jugendstrafrecht herangezogen. Will man die dargestellten Beschränkungen überwinden, bleibt, um Aussagen über eine größere Zahl von Verfahren gewinnen zu können, als Möglichkeit der Datenerhebung nur die Aktenanalyse. Über die Vor- und Nachteile dieses Verfahrens liegen inzwischen so viele Stellungnahmen vor, daß diesen hier keine weitere hinzugefügt werden soll. 10 Für wichtiger erachten wir eine Diskussion der Grundgesamtheit von Verfahren, auf die sich die Analyse beziehen soll.

8) 9)

Die Reihenfolge der "Schwere" ist in einem differenzierten Katalog geregelt. Auch bei diesen können nach einer in der Literatur anzutreffenden - wenn auch strittigen - Ansicht die Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen nach §§ 153 ff. StPO angewendet werden. 10) Siehe dazu Ludwig 1984. Für eine sehr kritische Sicht auf die Aktenanalyse vgl. vor allem Karstedt-Henke 1982.

68

Die

Staatsanwaltíiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht meisten 11

Untersuchungen

zur

Analyse

der

Verfahrenseinstellungen

aus

Opportunitätsgründen (vgl. Abschnitt 1.3) haben eine Stichprobe aus Verfahren gezogen, die mit den einschlägigen Einstellungen (nach §§ 153 und/oder 153a StPO) endeten, und diesen eine "Kontrollgruppe" von Verfahren gegenübergestellt, die in eine Anklage mündeten. 1 2 Dieses Vorgehen war schon deshalb legitim, weil zum Zeitpunkt der Datenerhebung der genannten Untersuchungen die im Mittelpunkt des Interesses stehende Regelung des § 153a StPO relativ neu eingeführt war und daher nur einen sehr geringen Anteil an allen Verfahrenserle• 11 digungen hatte , was eine nach Erledigungsarten gewichtete Stichprobe notwendig machte. Weniger selbstverständlich ist die Tatsache, daß diese Untersuchungen nicht Erledigungsmöglichkeiten

einbezogen,

die durchaus Ähnlichkeit mit den

Einstellungen aus Opportunitätsgründen haben: die Einstellung des Verfahrens wegen Fehlens eines Strafantrags des Geschädigten und die Einstellung unter Verweis des Geschädigten auf den Weg des Privatklageverfahrens. Beide Verfahrensweisen beziehen sich zentral auf Rechtsbegriffe, die auch den Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO zugrundeliegen: die "geringe Schuld" und das "(fehlende) öffentliche Interesse". Zwar lassen sich die entsprechenden Regelungen zu den Antrags- und Privatklagedelikten dogmatisch ohne weiteres von den Einstellungen aus Opportunitätsgründen abgrenzen. Da diese Regelungen aber wiederum unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und somit dem Staatsanwalt Entscheidungsspielräume eröffnen, ist die faktische Abgrenzung schwieriger. Beispielsweise enthält § 248a StGB, der regelt, daß der Diebstahl "geringwertiger Sachen" nur auf Antrag zu verfolgen ist, keine Definition des Begriffs der "geringwertigen Sache", so daß es in der Entscheidungsfreiheit des Staatsanwalts liegt, ob er bei fehlendem Strafantrag ein Verfahren über die materiellrechtliche Regelung des § 248a StGB oder die prozessuale Regelung des § 153 StPO bzw. § 45 Abs. 2 Nr. 2 erledigt. Ebenso kommt es praktisch einer endgültigen Verfahrenseinstellung gleich, wenn der Staatsanwalt den Geschädigten auf den Privatklageweg verweist,

11) Ausnahmen sind die Untersuchungen von Kunz (1980) für das allgemeine und von Gréus (1978) für das Jugendstrafrecht, welche sich nur auf Verfahren mit informellen Verfahrenserledigungen gestützt haben. 12) Der Ausdruck "Vergleichsgruppe" wäre der Tatsache angemessener, daß es sich nicht um eine Gruppe nach wichtigen Merkmalen parallelisierter Fälle im Sinne eines experimentellen Designs, sondern einfach um eine Stichprobe aus den Verfahren gehandelt hat, die auf andere Art und Weise — nämlich mit einer Anklage — abgeschlossen wurden. 13) Zu einer Spekulation über die Gründe hierfür vgl. Treiber 1980. Eine Nachfolgeanalyse, die erklären könnte, warum angesichts des — laut Treiber — nur durch "Krisen" zu erschütternden Festhaltens der Justiz an bewährten und einfachen Erledigungsmöglichkeiten (in diesem Fall des Strafbefehls) inzwischen die Einstellungen nach § 153a StPO eine so große Bedeutung in der staatsanwaltlichen Erledigungspraxis haben, daß auch Autoren, die diese Regelung sehr kritisch sehen, die "normative Kraft des Faktischen" anerkennen (vgl. Weigend 1984), wäre wünschenswert.

Anlage und Methoden der Untersuchung

69

weil die Erhebung der Privatklage durch diesen den Ausnahmefall darstellt. Wieder bleibt es weitgehend dem Staatsanwalt überlassen, ob er bei "fehlendem öffentlichen Interesse" dem Geschädigten den Privatklageweg freihält oder das Verfahren aus Opportunitätsgründen einstellt.

Inzwischen liegen - jedenfalls im Jugendstrafrecht — die Dinge in bezug auf die quantitative Bedeutung der informalisierenden Verfahrenseinstellungen anders. Da nach den Ergebnissen der in Abschnitt 1.3 dargestellten Untersuchungen (sowie eigenen Erhebungen — vgl. dazu Kapitel 3) davon ausgegangen werden konnte, daß die Einstellungen nach § 45 einen erheblichen Anteil an allen Erledigungen haben würden, war eine Gewichtung dieser Verfahren nicht notwendig. Angesichts dessen schien es sinnvoll, gleich eine Stichprobe zu ziehen, die hinsichtlich der Erledigung des Verfahrens nicht eingeschränkt und nach Möglichkeit repräsentativ sein sollte. Damit bestand gleichzeitig die Möglichkeit, auch andere Erledigungsmöglichkeiten mit informalisierendem Charakter in die Analyse einzubeziehen. Eine zweite Entscheidung betraf die Art der Delikte, welche in die Stichprobe eingehen sollten. Die meisten bisherigen Untersuchungen14 haben Stichproben aus sämtlichen anhängigen Verfahren (mit einschlägigen Entscheidungen) gezogen. Dies hat allerdings zur Folge, daß teilweise eine recht große Heterogenität der Delikte vorlag, die übergreifende und multivariate Analysen auch dann verhindert hätte, wenn den Autoren entsprechende Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten.15 Wenn beispielsweise — wie zu vermuten war und sich auch als Ergebnis der meisten Analysen herausstellte — die "Schwere" des jeweiligen Delikts einen gewichtigen Einfluß auf die Entscheidung hat, so lassen sich Analysen im Grunde nur nach Delikten getrennt vornehmen, denn die Schwere einer Körperverletzung, einer Fahrt ohne Führerschein oder gar einer Trunkenheitsfahrt lassen sich kaum untereinander oder mit der eines Diebstahls oder einer Sachbeschädigung vergleichen, wo immerhin der Wert des gestohlenen bzw. des geschädigten Guts als einfacher (und von der Justiz selbst verwendeter) Indikator fungieren kann.

14) Ausnahmen sind diejenigen Arbeiten, die sich von vornherein auf ein einziges Delikt beschränkten, wie Gillig (1976) oder Wagner (1979) für den Ladendiebstahl, sowie Kotz (1983), der drei Deliktsgruppen in seine Analyse einbezog. 15) Analysen nach dem log-linearen Modell bzw. dem Weighted-Least-Squares-Verfahren nach Grizzle/Starmer/Koch waren in der zweiten Hälfte der 70er und zu Beginn der 80er Jahre noch eine Angelegenheit, über die sich Spezialisten stritten (vgl. Küchler 1976; ders. 1978, 1979 und 1980 sowie Langeheine 1979 und 1980). Allerdings haben die meisten Arbeiten dieser Zeit noch nicht einmal von der Möglichkeit der Drittvariablenkontrolle, geschweige denn von mulüvariaten Analysen nach dem Boudon-Modell (vgl. Opp/Schmidt 1976) Gebrauch gemacht.

70

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstraf recht

Aus diesem Grund wurde für die in diesem Band vorgestellten Untersuchungen der Bereich der auszuwählenden Delikte eingeschränkt, und zwar auf die drei Delikte, die den Hauptanteil der (registrierten) Kriminalität Jugendlicher darstellen: Diebstahl (§§ 242, 243, 244 StGB), Sachbeschädigung (§§ 303, 304 StGB) und Körperverletzung (§§ 223, 223a, 230 StGB). 16 Gleichzeitig ist anzunehmen, daß sich ein Großteil der jugendstaatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen auf diese Delikte bezieht. Als Ausnahme hiervon können allenfalls Verkehrsdelikte gelten, vor allem Verstöße gegen das Straßenverkehrsgesetz; denn Verfahren gegen "Ritzeltäter" (Jugendliche/Heranwachsende, die ihr Mofa durch technische Manipulation in die Lage versetzen, höhere Geschwindigkeiten als die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu erreichen) und ähnliches dürften gleichfalls relativ häufig nach § 45 eingestellt werden. Angesichts der notwendigen Beschränkungen, die einer empirischen Arbeit zugrundeliegen, schien es erforderlich, aber auch vertretbar, diese Delikte auszuschließen, zumal sie sehr wahrscheinlich auch bei der Staatsanwaltschaft nach gesonderten Regeln behandelt werden. 17 In regionaler Hinsicht beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf Nordrhein-Westfalen, umfaßt allerdings fast alle der 19 Staatsanwaltschaften dieses Bundeslandes. Obwohl damit die Analyse nicht ohne weiteres auf andere Bundesländer übertragen werden kann, hat eine solche regionale Beschränkung — die

16) Auf die Delikte "(Vorsätzliche leichte) Körperverletzung", "Diebstahl ohne erschwerende Umstände", "Diebstahl unter erschwerenden Umständen" sowie "Sachbeschädigung" entfielen laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) des Jahres 1985, der jüngsten, die bei der Planung der Datenerhebung zur Verfügung stand, 78,2 % aller Beschuldigungen gegenüber jugendlichen und heranwachsenden Tatverdächtigen (ohne Delikte im Straßenverkehr). Diese Zahlen der PKS sind nicht genau mit unserer Deliktsauswahl vergleichbar. Einerseits sind bestimmte Formen der Sachbeschädigung (§ 305 StGB) in unsere Datenerhebung nicht aufgenommen worden. Andererseits ist die gefährliche Körperverletzung (§ 223a StGB) in der PKS mit der schweren Körperverletzung (§ 224 StGB) zusammengefaßt und in obiger Prozentangabe nicht enthalten. Der genannte Anteilswert gibt daher nur die ungefähre Größenordnung • des Anteils der Delikte unserer Untersuchung an allen Tatvorwürfen wieder. 17) Dies war schon deswegen anzunehmen, weil diese Delikte häufig in eigenen "Verkehrsdezernaten" von Staatsanwälten erledigt werden, welche unterschiedslos Verfahren gegen Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene bearbeiten. Schließlich war aus Vorgesprächen mit Jugendstaatsanwälten bekannt, daß auch sie dazu neigen, jedenfalls bei Heranwachsenden, diese Delikte nach dem allgemeinen Strafrecht zu erledigen und mit Einstellungen nach § 153a StPO bzw. Strafbefehlen zu sanktionieren, da sie in diesem Bereich eine Gleichbehandlung von Heranwachsenden und Erwachsenen befürworten. Auch dies wäre seinerseits zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen, hätte aber den Rahmen dieser Arbeit überschritten.

Anlage und Methoden der Untersuchung

71

sich natürlich in erster Linie aus pragmatischen Erwägungen ergab - auch Vorteile. So erhalten Staatsanwaltschaften Weisungen und Vorgaben aus den Justizministerien. Bei einer Auswahl von Staatsanwaltschaften aus verschiedenen Bundesländern, wie sie beispielsweise den Untersuchungen von Blankenburg et al. (1978) oder Hertwig (1982) zugrundelag, hätten sich mit Sicherheit Unterschiede zwischen den verschiedenen Staatsanwaltschaften ergeben, die sich auch als Resultat unterschiedlicher Vorgaben aus den Ministerien hätten interpretieren lassen. Interessanter dürfte es aber sein zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß sich Behörden voneinander unterscheiden, die, jedenfalls soweit es die Steuerung durch das Justizministerium angeht, einem einheitlichen Einfluß unterliegen.18 Schließlich ist festzuhalten, daß mit Nordrhein-Westfalen jedenfalls das bevölkerungsreichste Bundesland der Bundesrepublik gewählt wurde, so daß die hier gewonnenen Ergebnisse auch in dieser Hinsicht bedeutsam sind. Zum Vorgehen bei der Stichprobenziehung im einzelnen: 1. Um die zu analysierenden Fälle möglichst vergleichbar zu machen, wurden nur solche Verfahren in die Erhebung aufgenommen, welche sich jeweils ausschließlich auf eines der drei genannten Delikte (allerdings durchaus auf mehrere (gleiche) Straftaten innerhalb eines Verfahrens) bezogen. In einer Voruntersuchung war auch festgestellt worden, daß Verfahren, denen verschiedene Delikte zugrundelagen, nur einen Anteil von 5 bis 8 % an allen Verfahren hatten, so daß aus dieser Einschränkung keine gravierende Verfälschung unserer Schlußfolgerungen resultieren kann. 19 2. Da die Analysen sich auf die Entscheidung gegen jeden einzelnen Beschuldigten beziehen sollen, wurden in jedem Verfahren mit mehreren Tatverdächtigen so viele Erhebungsbögen ausgefüllt wie Tatverdächtige vorhanden waren. Selbstverständlich wurde die Tatsache, ob eine gemeinsame Deliktsbegehung vorliegt oder nicht, für jede einzelne Person festgehalten, da zu erwarten war, daß dieses Merkmal sich auch auf die Entscheidung des Staatsanwalts auswirkt. Die folgen-

18) Vgl. die Ergebnisse von Hergenröder 1986, welche auch innerhalb des Bundeslandes Baden-Württemberg Unterschiede in den Erledigungsweisen verschiedener Staatsanwaltschaften vorfand. 19) In einigen Staatsanwaltschaften, wo Daten in Verbindung mit anderen Projekten des SFB 227 erhoben wurden, wurde diese Einschränkung auf "reine", also auf jeweils eine Deliktsart bezogene Verfahren nicht eingehalten. In diesen Behörden wurden aber auch im Vergleich zu den anderen Behörden überproportional viele Verfahren in die Stichprobe aufgenommen und diese im Anschluß für die verschiedenen Analysen jeweils bereinigt.

72

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

den Analysen beziehen sich also nicht mehr auf Verfahren, sondern auf Tatverdächtige bzw. Beschuldigte. 3. Da das Hauptziel der vorliegenden Arbeiten in der Untersuchung der Ungleichheit der Rechtsanwendung zwischen verschiedenen Behörden bzw. — im folgenden 2. Buch — zwischen verschiedenen Staatsanwälten besteht, war es erforderlich, eine möglichst große Zahl von Fällen für jeden einzelnen Entscheider zu erheben. Hierfür wurde eine Anzahl von 100 Fällen (also Entscheidungen gegen einzelne Verdächtige) pro Staatsanwalt festgelegt.20 Diese wurden nach einem Schlüssel von 6 : 2 : 2 auf die drei Deliktsbereiche Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung verteilt. Dies entspricht einer überproportionalen Ziehung der Sachbeschädigungs- und Körperverletzungsdelikte, weil in der Grundgesamtheit der staatsanwaltlichen Erledigungen das Verhältnis dieser drei Delikte etwa 8 : 1 : 1 beträgt. Diese Gewichtung der Stichprobe nach Delikten war erforderlich, um auch für die beiden selteneren Delikte Sachbeschädigung und Körperverletzung so große (absolute) Fallzahlen zu erhalten, daß genügend zuverlässige Rückschlüsse auf das Entscheidungsverhalten einzelner Behörden bzw. Staatsanwälte gezogen werden können. Da in dieser Untersuchung die drei Delikte ohnehin getrennt analysiert werden, erwachsen hier aus der geschichteten Stichprobenziehung keine Probleme. Es dürfte von Interesse sein, daß — bezogen auf den Untersuchungszeitraum — bei den Sachbeschädigungen und Körperverletzungen jeweils ca. 84 % aller Verfahren in die Stichprobe einbezogen wurden und somit beinahe eine Totalerhebung vorliegt. Beim Diebstahl beträgt die Stichprobe ca. 31 % aller Verfahren. Wegen der nach Entscheidern geschichteten Stichprobenziehung wurden diejenigen Verfahren nicht in die Analyse einbezogen, die von Staatsanwälten erledigt wurden, welche nur einen geringen Anteil von Jugendsachen bearbeiten. Da in 18 der 19 nordrhein-westfalischen Staatsanwaltschaften eigene Jugendabteilungen und Jugenddezernate existieren, betreffen die hier nicht berücksichtigten Verfahren nur einzelne Fälle, die aus verschiedenen Gründen abweichend von einem anderen Dezernenten erledigt wurden, z.B. bei Urlaubsvertretungen. Nur eine Staatsanwaltschaft hat keine gesonderten Jugenddezernate. Hier wurden Verfahren aus denjenigen Dezernaten erhoben, wo bekannt war, daß der Anteil der Jugendsachen an der Gesamtheit der Verfahren dieser Staatsanwälte wenigstens 25 % beträgt.

20) In einigen Städten wurde eine größere Zahl von Fällen pro Entscheider erhoben (vgl. Fn. 19). Für die vorliegende Arbeit wurde für diese Entscheider eine Zufallsstichprobe aus den vorliegenden Fällen gezogen, so daß jeder Staatsanwalt mit der gleichen Zahl von Fällen in der Untersuchung vertreten ist.

Anlage und Methoden der Untersuchung

73

Wegen dieser ganz überwiegenden Bindung von Verfahren an bestimmte Dezernate kann trotz der personenbezogenen Schichtung der Stichprobe davon ausgegangen werden, daß auch in bezug auf die Grundgesamtheit der Verfahren keine nennenswerte Verzerrung der Stichprobe vorliegt. 4. Die Aktenerhebung wurde durch die Geschäftsstellenbeamten bei den einzelnen Behörden auf der Basis von Werkverträgen vorgenommen. Die Geschäftsstellenbeamten wurden vor Beginn der Erhebung von den Projektmitarbeitern persönlich eingearbeitet. Unter anderem wurde darauf hingewiesen, daß in jedem Dezernat nur die vom jeweiligen Dezernatsinhaber, nicht aber die von Krankheits- oder Urlaubsvertretungen getroffenen Entscheidungen in die Stichprobe eingehen dürften. Die Beamten füllten in einem Pre-Test zunächst Probebögen aus, die anschließend überprüft wurden. Bei auftretenden Zweifelsfallen war das Projekt jederzeit — gegebenenfalls per Anrufbeantworter — telefonisch erreichbar. Die Korrektheit der erhobenen Daten wurde während der gesamten Erhebungsphase kontinuierlich kontrolliert. 5. Die Daten wurden zwischen Februar 1987 und Februar 1988 erhoben. Dabei wurde so vorgegangen, daß in jeder Woche das erste Sachbeschädigungsverfahren und das erste Körperverletzungsverfahren sowie die ersten drei Diebstahlsverfahren in die Erhebung einbezogen wurden. Damit erstreckte sich die Datenerhebung für jeden Dezernenten über ca. 6 Monate. 6. Insgesamt wurden 17.887 Aktenerhebungsbögen ausgefüllt und übersandt. Eine genaue Überprüfung der gezogenen Stichprobe für jede untersuchte Staatsanwaltschaft ergab, daß bei zwei Staatsanwaltschaften Ziehungsfehler vorlagen. Hier wich der Anteil ausgewählter Merkmale der Untersuchungspopulation signifikant von den Durchschnittsverteilungen in den anderen Staatsanwaltschaften ab, obwohl aufgrund der regionalen und strukturellen Situation in den Staatsanwaltschaften keinerlei Abweichungen erwartet werden konnten. Beispielsweise erwies sich der Anteil der weiblichen Tatverdächtigen als stark erhöht, der Anteil der Ausländer als unerwartet niedrig, der Anteil von jugendlichen Heimbewohnern als proportional zu gering. Besonders stark wurde von der nach Stichprobenplan exakt vorbestimmten Ziehung der Delikte Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung im Verhältnis 6 : 2 : 2 abgewichen. Weitere Abweichungen der die Untersuchungsgruppe kennzeichnenden Variablen von den Durchschnittswerten der Gesamterhebung führten zu der Entscheidung, diese zwei Staatsanwaltschaften von den weiteren Analysen auszuschließen.

74

3

3.1

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Informalisierende Verfahrenseinstellungen im fiesamí7]isflmmpnhnng staatsanwaltlicher Entscheidungen Die Entwicklung jugendstrafrechtlicher Verfahrenseinstellungen in Nordrhein- Westfalen

Noch zu Beginn der 80er Jahre galt Nordrhein-Westfalen hinsichtlich staatsanwaltlicher Informalisierungen als "Entwicklungsland". Schon Rieß (1979, 121) kontrastierte in seiner ersten Stellungnahme zur Entwicklung der staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen nach §§ 153, 153a StPO die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen und stellte fest, daß die Einstellungsquoten in Nordrhein-Westfalen mit 3 % noch kaum statistisch bemerkbar waren, während in Bayern bereits über 13 % der Verfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt 21

wurden. Auch in anderen Analysen, die sich auf Daten von Ende der 70er oder Beginn der 80er Jahre bezogen, wurde häufig Nordrhein-Westfalen zu den Schlußlichtern in der Häufigkeit der Informalisierungen gerechnet (Heinz/Spieß 1983, 932; Feltes 1983, 72 ff.). Allerdings läßt sich neueren Darstellungen (Rieß 1983 , 98; ders. 1985, 216) entnehmen, daß offenbar in der ersten Hälfte der 80er Jahre ein Wandel stattgefunden haben muß. Diese Veränderung in Richtung einer vermehrten Anwendung informalisierender Verfahrenseinstellungen läßt sich auch für das Jugendstrafrecht nachweisen. Die nachfolgenden Zahlen wurden aus (unveröffentlichten) Tabellen des nordrhein-westfalischen Landesamts für Datenverarbeitung und Statistik entnommen. Wie schon im 2. Kapitel erwähnt, werden in den Staatsanwaltschaftsstatistiken nicht die Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende gesondert ausgewiesen; insofern sagt eine Beschränkung auf die jugendstrafrechtlichen Erledigungen nicht unbedingt etwas über die Erledigung von Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende aus, weil weder klar ist, wie oft Verfahren gegen Heranwachsende nach dem allgemeinen Strafrecht entschieden werden, noch, ob nicht auch gegen Jugendliche gerade im Bereich der Informalisierungen manchmal von Regelungen des allgemeinen Strafrechts Gebrauch gemacht wird. Allerdings lagen uns für einige Behörden Sonderauszählungen vor, die sich ausschließlich auf diejenigen Dezernenten bezogen, welche für Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende zuständig waren. Aus diesen Sonderauszählungen ging hervor, daß Anklagen, die nicht vor Jugendrichtern bzw. Jugendgerichten erhoben wurden, selten, Verfahrenseinstellungen nach §§ 153, 153a StPO nicht sehr viel häufiger waren. Insofern kann man davon ausgehen, daß die nachfolgenden Analysen zu den Einstellungen nach § 45 zwar kein exaktes, aber ein die Entwicklungstendenzen relativ gut wiedergebendes Abbild der staatsanwalüichen Entscheidungspraxis gegen Jugendliche und Heranwachsende darstellen. In

21) Auch Hertwig (1982, 45) wies in seiner Analyse auf das — in diesem Fall steigende! "Nord-Süd-Gefalle" hinsichtlich der Verfahrenseinstellungen hin.

-

Informalisierende

75

Verfahrenseinstellungen

Tabelle 3 . 1 sind die relevanten Zahlen für die Jahre 1978 bis 1988 ausgewiesen. Wir wählen diesen Zeitraum, u m die Entwicklung auch hinsichtlich der Steigerung der absoluten Zahlen der Verfahren verfolgen zu können, welche bis z u m Jahr 1 9 8 2 zu beobachten ist.

Tab. 3 . 1 :

Entwicklung

der

staatsanwaltlichen

Erledigungen

nach d e m

Jugendstrafrecht

in

Nordrhein-Westfalen, 1978 bis 1 9 8 8

Jahr

Summe

Anklagen J.kammer/J.schöffeng. abs.

1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

93515 97789 102763 102321 105250 102636 93463 85433 80472 76223 75535

11055 10939 11618 12045 12852 13290 12543 12161 11746 11963 11651

% (11,8) (11,2) (11,3) (11,8) (12,2) (12,9) (13,4) (14,2) (14,6) (15,7) (15,4)

vor J.richter abs. 57913 59418 62045 60452 60957 58968 52786 46486 43453 41167 41077

Vereinf. Verfahren (§ 76 JGG)

Einstellungen § 45 I JGG § 45 Π JGG

%

abs.

%

abs.

%

(61,9) (60,8) (60,4) (59,1) (57,9) (57,5) (56,5) (54,4) (54,0) (54,0) (54,4)

14700 16985 18234 18598 17615 14509 10736 8050 6026 4703 3994

(15,7) (17,4) (17,7) (18,2) (16,7) (14,1) (11,5) (9,4) (7.S) (6,2) (5,3)

2270 2120 1938 1994 1645 1506 1233 1074 899 594 440

(2,4) (2,2) (1,9) (1,9) (1,6) (1,5) (1,3) (1,3) (1,1) (0,8) (0,6)

abs. 7577 8327 8928 9232 12181 14363 16165 17662 18348 177% 18373

% (8,1) (8,5) (8,7) (9,0) (11,6) (14,0) (17,3) (20,7) (22,8) (23,3) (24,3)

Wenn wir die Verfahrenseinstellungen nach § 45 Abs. 2, die in der Spalte rechts außen eingetragen sind, im Zeitverlauf beobachten, zeigt sich in der Tat ein starker Anstieg der informalisierenden Einstellungen, der vor allem zwischen den Jahren 1981 und 1986 stattfindet. Vor dieser Zeit ist zwar auch eine leicht steigende Tendenz zu verzeichnen, diese beträgt jedoch in den vier Jahren 1978 bis 1981 zusammen nicht einmal einen Prozentpunkt. Danach steigen die Verfahrenseinstellungen in jährlichen Steigerungsraten von zwei bis drei Prozentpunkten, um dann - auf einem relativ hohen Niveau — weiterhin anzusteigen, aber in deutlich langsamerem Tempo als vorher. Festzuhalten ist ferner, daß der Anstieg zwar in einer Zeit beginnt, in der die Gesamtzahl aller Verfahren (linke Spalte in Tabelle 3.1) auf dem Höhepunkt ist, aber auch in der Folgezeit anhält, in der die Gesamtzahl der erledigten Verfahren deutlich zurückgeht. So bleiben die absoluten Zahlen der Einstellungen nach § 45 Abs. 2 in den Jahren 1986 bis 1988 in etwa konstant, was angesichts des Rückgangs der Gesamtzahl erledigter Verfahren in Anteilswerten betrachtet immer noch einen Anstieg bedeutet. Ein Blick auf die Anteile der übrigen Erledigungen zeigt, daß der Anstieg der Einstellungen gemäß § 45 Abs. 2 vor allem zu Lasten der vereinfachten Verfahren nach § 76 und in geringerem Umfang - wegen der ohnehin schmalen Ausgangsbasis - auch der Einstellungen gemäß § 45 Abs. 1 geht. Die Anteile der Anklagen vor dem Jugendrichter gehen zwar ebenfalls zurück, jedoch bei weitem nicht in dem Umfang wie die Anträge auf das vereinfachte Verfahren; zudem ist

76 Abb. 3.1a/b:

Staatsanwaltiiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Entwicklung der staatsanwaltlichen Erledigungen nach dem Jugendstrafrecht in Aachen und Düsseldorf, 1978 bis 1988

Anklage vor dem Jugendschöffengericht —*- Anklage vor dem Jugendrichter —χ— Antrag auf vereinfachtes Verfahren - e - Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG

Informalisierende Verfahrenseinstellungen Abb. 3.1c/d:

77

Entwicklung der staatsanwaltlichen Erledigungen nach dem Jugendstrafrecht in Paderborn und Detmold, 1978 bis 1988

-s-

Anklage vor dem Jugendschöffengericht

~~— Anklage vor dem Jugendrichter Antrag auf vereinfachtes Verfahren -Θ-

Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 JGG

78

Staatsanwaltliche Diversionspraxis

im Jugendstrafrecht

bei den Anklagen vor dem Jugendschöffengericht sogar ein leichter Anstieg festzustellen! Danach scheint der Anstieg der informalisierenden Verfahrenseinstellungen auf der Ebene der Staatsanwaltschaft auch und vor allem mit einer Umverlagerung informalisierender Verfahrenseinstellungen vom Jugendgericht auf die Jugendstaatsanwaltschaft einherzugehen. Bevor wir dieser These nachgehen, soll aber zunächst gezeigt werden, daß sich hinter dem landesweit zu beobachtenden Trend auf der Ebene der einzelnen Staatsanwaltschaften durchaus unterschiedliche Entwicklungen verbergen. Es sollen hier nicht alle 19 nordrhein-westfalischen Staatsanwaltschaften angeführt, sondern exemplarisch einige davon herausgegriffen werden (siehe Abb. 3.1 a-d). Die in Abbildung 3.1a aufgeführte Staatsanwaltschaft, Aachen, steht für diejenigen Behörden, welche dem landesweiten Trend weitestgehend entsprechen. Die Prozentwerte für die Anklagen vor dem Jugendrichter liegen zwar durchweg unter denen für das gesamte Bundesland, was anfangs zugunsten der vereinfachten Verfahren, in den letzten Jahren dagegen der Einstellungen nach § 45 Abs. 2 ging. Aber von den Niveauunterschieden abgesehen spiegelt sich die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen sehr deutlich wider: der starke Anstieg der Einstellungen nach § 45 Abs. 2 bei gleichzeitigem starken Rückgang der vereinfachten Verfahren, während die Anteilswerte der Anklagen vor dem Jugendrichter in geringerem Ausmaß zurückgehen. Aber keineswegs alle Staatsanwaltschaften fügen sich in dieses Bild. Die Staatsanwaltschaft in Abbildung 3.1b, Düsseldorf, fällt z.B. dadurch aus dem Rahmen, daß sie zwar gemäß dem landesweiten Trend die vereinfachten Verfahren abbaut, dies aber keineswegs zugunsten der Informalisierungen, sondern zugunsten eines starken prozentualen Anstiegs der Anklagen vor dem Jugendrichter! Noch weniger einen einheitlichen Trend weist die Staatsanwaltschaft Paderborn auf. Dort ist zunächst eine starke Verlagerung von den Anklagen auf die vereinfachten Verfahren festzustellen. Ab dem Jahr 1985 sinken die Anteile des vereinfachten Verfahrens ganz deutlich, ohne das Ausgangsniveau des Jahres 1978 zu erreichen. Letzteres geht einmal zugunsten der Einstellungen gemäß § 45, zum anderen mit einer Verlagerung auf die Anklagen einher: ab 1985 vor dem Jugendschöffengericht, ab 1987 auch vor dem Jugendrichter. Zuletzt ist in Abbildung 3.1d die Staatsanwaltschaft Detmold aufgeführt als Beispiel einer "Übererfüllung'' des landesweiten Trends, also einer vergleichsweise extremen Zunahme der Einstellungen nach § 45 Abs. 2. Diese steigen ab 1983 ganz sprunghaft an und erreichen zuletzt Anteilswerte, die nahe bei 50 % liegen. Auch hier geht dies vor allem zu Lasten der vereinfachten Verfahren; aber auch

Informalisierende

Verfahrenseinstellwgen

79

die Anklagen, welche im Jahr 1981 ein Maximum erreicht haben, sinken in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf ein Niveau, das fast zehn Prozentpunkte unter dem der Jahre 1980 und 1981 liegt. Aus diesen Beispielen dürfte deutlich geworden sein, daß hinter einem globalen Trend sich durchaus unterschiedliche Phänomene verbergen können. Das ändert am Gesamtergebnis — dem deutlichen Anstieg der Informalisierungen — nichts, zeigt aber, daß es durchaus lohnt, jenseits der allgemeinen Entwicklung auch Unterschiede zwischen den einzelnen Behörden zu untersuchen. Zuvor soll auf die oben geäußerte Vermutung eingegangen werden, daß die Zunahme der Informalisierungen auf der Ebene der Staatsanwaltschaft mit einem Rückgang der Verfahrenseinstellungen durch die Jugendgerichte zu tun hat. Dazu sind Statistiken über die Erledigung von Strafverfahren heranzuziehen, in denen die Verfahrenseinstellungen nach § 47 ausgewiesen sind. Leider waren entsprechende Zahlen nur mehr ab dem Jahr 1982 erhältlich.

Tab. 3.2:

Jahr

1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Verfahrenseinstellungen nach § 47 JGG und vereinfachte Verfahren nach § 76 JGG in Nordrhein-Westfalen (nur Verfahren vor den Amtsgerichten) (absolute Zahlen)

Einstellungen gemäß § 47 JGG 20163 19909 16995 13920 12044 10461 9614

Vereinfachtes Verfahren (§ 76 JGG) 18231 15862 11891 8668 6185 4656 4112

Tabelle 3.2 weist für die Jahre 1982 bis 1988 die Zahl der informalisierenden Verfahrenseinstellungen nach dem Jugendstrafrecht (§ 47) sowie die Zahl der vereinfachten Verfahren nach § 76 vor den nordrhein-westfálischen Amtsgerichten aus. Letztere werden deshalb dargestellt, weil zu vermuten ist, daß die Mehrzahl der Verfahrenseinstellungen vor den Jugendgerichten aus solchen Verfahren resultiert. Wie zu erkennen ist, findet sich tatsächlich eine deutliche Abnahme der Verfahrenseinstellungen nach § 47; allerdings ist diese Abnahme nicht so deutlich wie diejenige der vereinfachten Verfahren. Während die Anzahl der vereinfachten Verfahren im Jahr 1988 nur mehr 22,6 % derjenigen des Jahres 1982 ausmacht, beträgt der entsprechende Wert für die Einstellungen nach § 47 immerhin noch 47,7 %; diese Erledigungen sind (in absoluten Zahlen) also nur um etwas mehr

80

Staatsanwaltiiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

als die Hälfte gesunken. Gleichwohl entspricht der Rückgang der Einstellungen nach § 47 in absoluten Zahlen in etwa dem Anstieg der staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen nach § 45, wie ein Vergleich von Tabelle 3.2 und Tabelle 3.1 zeigt, ja, er könnte sogar tendenziell darüber liegen.22 Aus diesen Zahlen ergibt sich also die Vermutung, daß tatsächlich eine Verschiebung der Verfahrenseinstellungen von den Jugendrichtern auf die Jugendstaatsanwaltschaften stattgefunden hat. Wie das Verhältnis beider Erledigungsformen aussieht, soll nun anhand der Situation im Jahr 1987 näher betrachtet werden, also dem Jahr, in welchem die Daten dieser Untersuchung erhoben wurden. Der Zusammenhang zwischen den Anteilswerten der staatsanwaltlichen Einstellungen nach § 45 und der justitiellen Einstellungen nach § 47 läßt sich sehr einfach durch ein Korrelationsmaß ausdrücken, in diesem Fall durch Pearson's r. 23 Der Wert dieses Koeffizienten beträgt -0,52, zeigt also den erwarteten deutlichen negativen Zusammenhang. Anschaulich zeigt sich dieser in dem Diagramm der Abbildung 3.2. Wir müssen also davon ausgehen, daß dort, wo die Jugendstaatsanwälte relativ wenig Verfahren mit einer informalisierenden Verfahrenserledigung abschließen, dies teilweise durch die Jugendgerichte wieder ausgeglichen wird; umgekehrt stellen diese dort weniger Verfahren ein, wo die Staatsanwälte bereits großzügig von den Verfahrenseinstellungen Gebrauch machen. Jedoch ist das Verhältnis keineswegs eindeutig; man kann nicht davon ausgehen, daß ein fester Prozentsatz aller Verfahren mit einer Informalisierung endet und nur die Verteilung auf Staatsanwaltschaft und Gericht in den einzelnen Landgerichtsbezirken unterschiedlich ist. Dafür ergeben sich bei gleicher staatsanwaltlicher Einstellungsquote zu unterschiedliche Anteile justitieller Verfahrenseinstellungen, wie aus Abbildung 3.2 zu erkennen ist.

22) Hierbei ist zu beachten, daß die Verfahrenserledigungen der Jugendrichter sich zum Teil auf Verfahren beziehen, die von den Staatsanwälten im Jahr vorher erledigt wurden. Das kann man sehr einfach aus dem Vergleich der vereinfachten Verfahren in beiden Tabellen ersehen. Daher sollte man als Vergleichsbasis für die Verfahrenseinstellungen bei den Staatsanwälten auch nicht die Zahl des Jahres 1982 ansetzen, sondern von einer etwas niedrigeren Anzahl ausgehen, die zwischen der von 1981 und 1982 liegt. Eine exakte Angabe ist natürlich nicht möglich. 23) Die absolute Zahl der Einstellungen nach § 47 wurde dabei auf die Gesamtzahl aller von der Staatsanwaltschaft erledigten Verfahren bezogen. Angesichts der im großen und ganzen gleich verlaufenden Entwicklung der Jahre 1986 bis 1988 dürfte es kaum ins Gewicht fallen, daß in den Einstellungen nach § 47 des Jahres 1987 eine Reihe von Verfahren enthalten sind, die in den staatsanwaltlichen Anklagen des Jahres 1986 enthalten sind, während einige der 1987 angeklagten Verfahren erst im Jahr 1988 durch die Justiz erledigt wurden.

Informalisierende

Abb. 3.2:

81

VerfahrenseinsteUungen

Zusammenhang zwischen den Anteilswerten der Einstellungen nach § 45 JGG (horizontal) und der Hinstellungen nach § 47 JGG (vertikal) (bezogen auf die Summe der staatsanwaltlichen jugendstrafrechtlichen Erledigungen) im Jahr 1987

35%

30%

25%

20% -





15% D



10% ••

° ••

D •

5% -

1

0%

0%

5%

1 10%

1 15%

1 20%

1 25%

1 30%

1 35%

1 40%

Γ 45%

r 50%

Zu beachten ist allerdings, daß der Zusammenhang zwischen den vereinfachten Verfahren und den Verfahrenseinstellungen nach § 47 nicht so eindeutig ist, wie vielleicht zu vermuten war. Die Korrelation zwischen den Anteilswerten dieser beiden Erledigungsarten in den 19 nordrhein-westfálischen Landgerichtsbezirken ist mit 0,20 wesentlich geringer als diejenige zwischen staatsanwaltlichen und gerichtlichen Verfahrenseinstellungen, was die Tatsache widerspiegelt, daß die Gerichte in einigen Landgerichtsbezirken wesentlich mehr Verfahren nach § 47 einstellen, als sie vereinfachte Verfahren zu erledigen hatten. Als Zwischenfazit läßt sich aus den Ergebnissen dieses Abschnitts folgendes festhalten: Die erhebliche Zunahme staatsanwaltlicher Informalisierungen im Jugendstrafrecht hat, wie zu erwarten war, auch in Nordrhein-Westfalen die Unterschiede in der Erledigungspraxis verschiedener Staatsanwaltschaften nicht beseitigt, sondern möglicherweise sogar verstärkt. Jedenfalls gilt dies gerade hinsichtlich der informalisierenden Verfahrenseinstellungen, welche im Jahr 1988 in den 19 Landgerichtsbezirken Anteile von 11,8 bis 48 % an der Gesamtheit der jugendstrafrechtlichen Erledigungen hatten. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Staatsanwaltschaften werden zwar auf der Ebene des Jugendgerichts teilweise wieder ausgeglichen, jedoch ist dieser Zusammenhang keineswegs eindeutig. In jedem Fall macht die Tatsache, daß sich zwischen 1982 und 1988 das Verhältnis von gerichtlichen zu staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen prak-

82

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

tisch umgekehrt hat, eine nähere Untersuchung des staatsanwaltlichen Entscheidungshandelns umso dringlicher.

3.2

Das Erledigungsprogramm der nordrhein-westfalischen Jugendstaatsanwälte bei Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung

Auf der Basis der Staatsanwaltschaftsstatistiken haben wir zeigen können, daß es in den untersuchten Staatsanwaltschaften in den 80er Jahren einen sehr erheblichen Zuwachs an jugendstrafrechtlichen Verfahrenseinstellungen gegeben hat. Damit sind aber die Grenzen der Aussagemöglichkeit dieser Statistiken erreicht. Im folgenden wenden wir uns nun den Daten unserer Aktenstichprobe zu, um zu differenzierteren Analysen zu gelangen. Wenn auch im Zentrum dieser Arbeit die Determinanten der staatsanwaltlichen Entscheidung "Anklageerhebung versus Informalisierung" stehen, so soll doch zunächst die Gesamtheit der staatsanwaltlichen Entscheidungsalteniativen unabhängig von den individuellen Fallmerkmalen dargestellt werden. Damit werden mehrere Zwecke verfolgt: Erstens dürfte es wichtig sein, vor einer Analyse von Anklagen und informellen Verfahrenseinstellungen zunächst deren quantitative Bedeutung im Gesamtkontext staatsanwaltlichen Handelns aufzuzeigen; zweitens ist auf deliktsspezifische Besonderheiten des Erledigungsprogramms einzugehen, aus denen deutlich wird, daß die drei Deliktsgruppen sinnvollerweise getrennt zu analysieren sind. Drittens ergeben sich auf diesem Weg weitere Hinweise auf die Abhängigkeiten des staatsanwaltlichen Handelns von lokalen, organisationsspezifischen Gegebenheiten. Und viertens möchten wir der Frage nachgehen, ob sich auf dieser Ebene — der Gesamtzahl der Erledigungen, bezogen auf verschiedene Behörden — Substitutionseffekte zwischen den informalisierenden Erledigungsformen und den Einstellungen mangels Tatverdachts aufzeigen lassen.

3.2.1

Die Gesamtheit der Verfahrenserledigungen im Überblick

Tabelle 3.3 gibt einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Verfahrenserledigungen. Bei der Erhebung der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen diente als Vorbild das Kodierschema, welches im Zählblatt für die Staatsanwaltschaftsstatistik enthalten ist. Es wurde nur insoweit eine Veränderung vorgenommen, als nach den beiden Alternativen des § 45 Abs. 2 unterschieden wurde. Zu beachten ist ferner, daß die Kategorie der Verfahrenseinstellung wegen "Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung" hauptsächlich die Einstellungen wegen fehlenden Strafantrags umfaßt; allerdings werden in dieser Kategorie auch Einstellungen wegen

Iaformalisierende Tab. 3.3:

Verfahrenseinstellimgen

83

Übersicht über die jugendstaatsanwaltlichen Verfahrenserledigungen (Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung zusammengefaßt) abs.

%

2 1052 3624 646

0,0 9,1 31,5 5,6

Anklage vor dem Schöffengericht Anklage vor dem Strafrichter

4 14

0,0 0,1

Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls

71

0,6

Anklagen nach Jugendstrafrecht: Anklage vor der Jugendkammer Anklage vor dem Jugendschöffengericht Anklage vor dem Jugendrichter Antrag auf vereinfachtes Verfahren



- J

5324 46,3%

nach allgemeinem Strafrecht:

Informalisierende Verfahrenseinstellungen nach Jugendstrafrecht: Einstellung gem. § 45 Abs. 1 JGG Einstellung gem. § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG Einstellung gem. § 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG

72 709 1405

0,6 — , 2186 6,2 12,2 — 1 19,0%

nach allgemeinem Strafrecht: 262 79 24 7

2,3 0,7 0,2 0,1

5 28 268

0,0 0,2 2,3

2295 143 5

19,9 1,2 0,0

Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung Verweis auf den Privatklageweg

385 299

3,3 2,6

Abgabe an Verwaltung als OWi Abgabe an andere Staatsanwaltschaft Vorläufige Verfahrenseinstellung Auf andere Art

2 22 37 15

0,0 0,2 0,3 0,1

13 19

0,1 0,2

11507

100

Einstellung Einstellung Einstellung Einstellung

gem. gem. gem. gem.

§ § § §

153 Abs. 1 StPO 153a Abs. 1 Nr. 2 StPO 153a Abs. 1 Nr. 3 StPO 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO

Andere Einstellungen aus Opportunitätsgründen Einstellung gem. §§ 153c, 154b Abs. 1-3, 154d, e StPO Einstellung gem. § 153b Abs. 1 StPO Einstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO Verfahrenseinstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO u.S. Tatverdacht nicht nachweisbar Verschulden nicht nachweisbar Einstellung wegen Schuldunfähigkeit

Sonstige Erledigungen Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit Andere Erledigungen Summe

84

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

"Vorliegens eines Verfahrenshindernisses" erfaßt. Bei letzteren handelt es sich vor allem um Verjährungen. Da solche sehr selten vorkommen dürften, kann man davon ausgehen, daß fast alle Verfahrenserledigungen in dieser Rubrik sich auf den fehlenden Strafantrag beziehen und eine eventuell vorhandene Fehlerquote toleriert werden kann. Gehen wir als erstes auf diejenigen Verfahrenserledigungen ein, die in diesem Untersuchungsabschnitt im Vordergrund des Interesses stehen, also Anklagen (und anklageähnliche Erledigungen) sowie Informalisierungen. Bei den Anklagen zeigt sich, daß Anklagen nach dem allgemeinen Strafrecht einen verschwindend geringen Anteil haben. Unbedeutend ist auch der Anteil der Strafbefehle, so daß man sagen kann, daß insgesamt die Anklagen und Anklagesurrogate (wie der Strafbefehl) nach dem allgemeinen Strafrecht praktisch keine Rolle spielen. Etwas anders ist dies mit den Informalisierungen. Hier erreichen die Einstellungen nach dem allgemeinen Strafrecht, also nach §§ 153, 153a StPO, zusammen Anteilswerte von über 3 %. Betrachtet man die Informalisierungen nach dem Jugendstrafrecht und diejenigen nach dem allgemeinen Strafrecht zusammen, so haben letztere immerhin einen Anteil von fast 15 % an der Gesamtheit aller Informalisierungen. In diesem Bereich sind also die Erledigungen nach dem allgemeinen Strafrecht kaum mehr eine zu vernachlässigende Größe, was anhand der Justizstatistiken nicht erkennbar ist. Bei den übrigen Verfahrenserledigungen ist einmal der Anteil der Verfahren, die wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt werden, von Bedeutung. Er liegt bei ca. 20 %, wobei zu beachten ist, daß es sich in unserer Analyse nur um die sogenannten "Bekanntsachen" handelt, Verfahren also, bei denen ein Tatverdacht gegen eine bestimmte Person besteht; denn insgesamt, unter Einbeziehung der Unbekanntsachen, liegt der Anteil von Einstellungen mangels Tatverdachts wesentlich höher (vgl. z.B. Blankenburg et al. 1978). Aber auch für die "Bekanntsachen" dürfte der Anteil der Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO vergleichsweise niedrig sein. Auch hierzu haben bereits Blankenburg et al. (1978) festgestellt, daß Verfahren gegen Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen seltener wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt werden. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Einstellungen wegen fehlender Verfahrensvoraussetzung — also vor allem wegen fehlenden Strafantrags — und die Einstellungen unter Verweis auf den Privatklageweg. Beide machen zusammen immerhin 6 % aller Verfahrenserledigungen aus, also etwa ein Drittel des Anteils der jugendstrafrechtlichen Informalisierungen. Die folgende deliktsspezifische Betrachtungsweise wird zeigen, daß diese Erledigungsarten bei den Sachbeschädigungen und den Körperverletzungen konzentriert und dort noch wesentlich bedeutsamer sind als bei einer unspezifischen Betrachtung aller Verfahren.

Informalisierende

3.2.2

Verfahrenseinstellungen

85

Das deliktsspezifische Entscheidungsprogramm

Bereits aus der Untersuchung von Blankenburg et al. (1978) wissen wir, daß unterschiedliche Delikte die Staatsanwälte vor unterschiedliche Entscheidungsprobleme stellen. Allerdings waren zwei der drei hier zugrundeliegenden Delikte — nämlich Sachbeschädigung und Körperverletzung — in jener Untersuchung nicht berücksichtigt worden, die im übrigen vornehmlich die Einstellungen wegen mangelnden Tatverdachts untersucht hat. Tabelle 3.4 zeigt, daß auch eine Untersuchung staatsanwaltlicher Informalisierungen mit bedeutsamen deliktsspezifischen Unterschieden rechnen muß. In dieser Tabelle werden die Häufigkeiten von Anklagen, Informalisierungen und verwandten Entscheidungsmöglichkeiten einmal bezogen auf alle Verfahren, zum anderen bezogen auf alle Verfahren abzüglich der Einstellungen mangels Tatverdachts sowie der sonstigen Erledigungen dargestellt. Beim Diebstahl spielen Anklagen und Informalisierungsentscheidungen die größte Rolle. Über drei Viertel aller Verfahrenserledigungen entfallen auf diese beiden Kategorien. Im Vergleich dazu ist die Bedeutung der Einstellung mangels Tatverdachts bzw. wegen fehlenden Verschuldens mit 17 % aller Erledigungen eher gering. Das heißt: Wenn in Diebstahlsverfahren ein Tatverdächtiger bekannt ist, so ist in den meisten Fällen auch der Nachweis des Tatverdachts unproblematisch. Auch die Einstellung wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses, welche bei Bagatelldiebstählen durchaus möglich wäre, ist auf einige Ausnahmefälle beschränkt. Dies findet seinen Grund darin, daß bei Ladendiebstählen, welche das Kriterium von "Bagatellen" noch am häufigsten erfüllen dürften, grundsätzlich ein Strafantrag vorliegt. Wenn wir nur die Anklagen und Informalisierungen (und ihre jeweiligen Alternativen) betrachten, so ist der Anteil der informalisierenden Verfahrenseinstellungen beim Diebstahl im Vergleich zu den anderen Delikten am größten. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß bei den anderen beiden Deliktsgruppen auch andere Verfahrenserledigungen eine Rolle spielen. Insgesamt kann man feststellen, daß von den anklagbaren Fällen beim Diebstahl etwa ein Drittel mit einer informalisierenden Entscheidung enden, zwei Drittel mit einer Anklage. Auch wenn man berücksichtigt, daß der Anteil der vereinfachten Verfahren — bei welchen häufig mit einer Einstellung des Verfahrens durch den Jugendrichter nach § 47 zu rechnen ist — beim Diebstahl um einiges größer ist als bei den anderen beiden Delikten, ist aus einer diversionsorientierten Perspektive der Anteil informalisierender Entscheidungen immer noch nicht sehr hoch. Darauf wird in den folgenden Kapiteln näher einzugehen sein, wenn auch die individuellen Fallmerkmale in die Analyse einbezogen werden.

86

Tab. 3.4:

Staatsanwalüiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Deliktsspezifische Erledigungsstrukturen Oberer Prozentwert: bezogen auf alle Verfahren Unterer Prozentwert: bezogen auf alle Anklagen (einschließlich Strafbefehl), Informalisierungen und Informalisierungsalternativen (Zwischensumme)

DIEBSTAHL

SACHBESCHÄDIGUNG

KÖRPERVERLETZUNG

SUMME

Anklage vor der Jugendkammer und dem (Jugend-) Schöffengericht

773 10,1% 12,7%

46 2,3% 4,3%

239 12,7% 16,2%

1058 η 9,2% 12,2%

Anklage vor dem Jugendrichter und dem Strafrichter

2611 34,2% 42,8%

405 20,3% 37,6%

622 33,0% 42,1%

3638 31,6% 42,0%

3979 52,1% 65,2%

551 7,2% 9,0%

Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls

44 0,6% 0,7% J

11 0,6% 1,0% -

16 0,8% 1,1% -

71 0,6% 0,8% J

Einstellung gem. § 153a Abs. 1 StPO

841,1% 1,4%

18 0,9% 1,7%

8 0,4% 0,5%

110 1,0% 1,3%

Einstellung gem. § 153 Abs. 1 StPO

185 2,4% - | 3,0%

44 2,2% -ι 4,1%

33 1,8% 2,2%

262 2,3% 3,0% 72 0,6% 0,8%

51 0,7%0,8%

Einstellung gem. i 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG

568 7,4%9,3%

84 4,2%7,8%

57 3,0% -ι 3,9%

709 6,2% 8,2%

Einstellung gem. § 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG

1141 15,0% 18,7% - 1

134 6,7% 12,4% - ¡

130 6,9% 8,8% -1

1405 12,2% 16,2% J

93 η 1,2% 1,5%

187 9,4% 17,3%

105 5,6% 7,1%

385 -η 3,3% 4,4%

Einstellung unter Verweis auf den Privatklageweg



93 1,2% 1,5%

76 3,8% 7,1% - 1

263 13,2% 24,4%

9 0,5% 0,6%

237 12,6% 16,1%

646 5,6% 7,5%

Einstellung gem. § 45 Abs. 1 JGG

Einstellung wegen fehlender Verfahrensvoraussetzung

12 0,6% 1,1%

292 14,7% 27,1%

34 1,8% 2,3%

911 48,4% 61,7%

Antrag auf vereinfachtes Verfahren (§ 76 JGG)

2029 26,6% 33,3%

61 3,1% 5,7%

523 26,2% 48,5%

223 11,8% 15,1% -1

328 17,4% 22,2%

299 2,6% 3,5% J

Zwischensumme: Anklagen, Informalisierungen und Informalisierungsalternativen 1476 6101 1078

8655

179 2,3%

53 2,7%

36 1,9%

268 2,3%

Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO: nicht nachweisbar

1194 15,6%

779 39,1%

322 17,1%

2295 19,9%

Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO : Verschulden fehlt

71 0,9%

51 2,6%

21 1,1%

143 1,2%

Sonstige Erledigungen

85 1,1%

32 1,6%

29 1,5%

146 1,3%

Summe

7630 100%

1993 100%

1884 100%

11507 100%

Einstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO

5413 47,0% 62,5%

2558 22,2% 29,6%

684 5,9% 7,9%

Informalisierende Verfahrenseinstellungen

87

Bei der Sachbeschädigung fallt zunächst auf, daß der Anteil der Verfahrenseinstellungen mangels Tatverdachts oder mangels einer vorwerfbaren Handlung im Vergleich zu den beiden anderen Deliktsformen mit 40 % aller Erledigungen weitaus am größten ist. Offenbar ist hier auch dann, wenn keine "Unbekanntsache" vorliegt, der Tatnachweis schwerer als bei den anderen Delikten. Ein weiterer Grund für den hohen Anteil der Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO dürfte darin liegen, daß Fahrlässigkeitsdelikte in diesem Fall nicht strafbar sind. Der Anteil der Anklagen bei Sachbeschädigung ist aber wohl nicht nur wegen des hohen Anteils der Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO besonders niedrig. Auch wenn wir das Verhältnis von Anklagen zu infonnalisierenden Entscheidungen betrachten, ist es mit ca. 66 : 34 etwas günstiger als bei den Diebstahlsdelikten (wo es 64 : 36 beträgt). Hinzu kommt außerdem noch ein Anteil von Einstellungen wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses in Höhe von fast 10 % sowie in immerhin fast 4 % der Fälle der Verweis auf den Privatklageweg. Betrachtet man außerdem den mit 2,3 % vergleichsweise niedrigen Anteil der Anklagen vor Jugendkammern bzw. -Schöffengerichten, ergibt sich hier insgesamt der Eindruck, daß die Sachbeschädigungsdelikte von den Staatsanwälten vergleichsweise selten kriminalisiert werden und daß hier neben den informalisierenden Verfahrenseinstellungen weitere Möglichkeiten der Strafverfahrensvermeidung genutzt werden. Insgesamt liegt jedenfalls der Anteil der Anklagen an allen "anklagbaren" Verfahren knapp unter 50 %; auch bei bejahtem Tatverdacht haben also Beschuldigte, welche eine Sachbeschädigung begangen haben, eine Wahrscheinlichkeit von etwa 1 : 1 , daß ihr Verfahren auf der Ebene der Staatsanwaltschaft nicht in eine Anklage mündet. Bei den Körperverletzungsdelikten ist der Anteil der Verfahren, die mangels Tatverdachts eingestellt werden, wieder niedrig, vergleichbar dem Diebstahl. Das Verhältnis von Anklagen zu informalisierenden Verfahrenseinstellungen ist hier im Vergleich zu den anderen beiden Delikten sehr hoch. Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß der Anteil der Verfahren, die auf den Privatklageweg verwiesen werden, hier mit 12 % eine quantitativ den informellen Verfahrenserledigungen vergleichbare Stellung innehat. Da der Verweis auf die Privatklage nur bei Heranwachsenden möglich ist, ist anzunehmen, daß bei dieser Altersgruppe der Verweis auf den Privatklageweg die informalisierenden Verfahrenseinstellungen weitgehend substituiert. Hierauf wird bei der weiteren Analyse der Körperverletzungsdelikte noch näher einzugehen sein. Insgesamt liegen unter den Delikten, die nicht schon wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt worden sind, die Anteile der Anklagen bei den Körperverletzungen sogar etwas niedriger als beim Diebstahl; zu einer eher geringen Anzahl von informalisierenden Verfahrenseinstellungen kommt ein recht erheblicher Anteil der informalisierungsähnlichen Erledigungen.

88

Staatsanwaltliche Diversionspraxis

im Jugendstrafrecht

Kurz zusammengefaßt, können wir über die Entscheidungsprogramme bei den Deliktsgruppen folgende Aussagen machen: • Wenn wir uns auf die anklagbaren Delikte beschränken, so überwiegen die "formalisierenden" Anklageentscheidungen über die übrigen Möglichkeiten der Verfahrenserledigung. • Am wenigsten "formalisierend" ist offenbar die Erledigungspraxis bei den Sachbeschädigungen, wo zu den im Verhältnis zur Anklage schon häufigen informalisierenden Einstellungen noch ein Anteil von Verfahren kommt, die wegen des Fehlens eines Strafantrags eingestellt werden können. Nimmt man alle Möglichkeiten der Informalisierung zusammen, ergibt sich bei der Sachbeschädigung sogar ein leichtes Überwiegen dieser Erledigungen über die Anklagen. Bei den übrigen beiden Delikten ist dagegen ein deutliches Übergewicht der Anklagen festzustellen. • Bei den Diebstahlsdelikten ist ausschließlich die Frage nach Anklagen versus Informalisierungen von Gewicht, während bei den Körperverletzungsdelikten und den Sachbeschädigungen auch die Bedeutung anderer Informalisierungsmöglichkeiten berücksichtigt werden muß (Einstellung unter Verweis auf den Privatklageweg und wegen fehlender Verfahrensvoraussetzung). • Die Frage, ob überhaupt ein ausreichender Tatverdacht vorliegt, ist nur bei der Sachbeschädigung ein quantitativ erhebliches Phänomen. Bei den beiden übrigen Delikten ist sie zwar nicht bedeutungslos, aber mit einem Anteil von unter 20 % sind die Verfahrenseinstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO eine quantitativ nicht so wichtige Entscheidungsvariante wie die Anklagen bzw. Informalisierungen. • Im übrigen zeigen sich in der Anwendungshäufigkeit des Strafbefehls sowie der Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO keine sehr bedeutsamen Unterschiede zwischen den Delikten. Das rechtfertigt es, diese in den folgenden Analysen nicht mehr explizit zu betrachten, sondern sie mit den Anklagen (Strafbefehl) bzw. Informalisierungen (§§ 153, 153a StPO) zusammenzufassen.

3.2.3

Behördenspezifische Erledigungsstrukturen

Auch wenn wir noch immer die Summe staatsanwaltlicher Erledigungen betrachten, ohne auf die Merkmale der einzelnen Verfahren einzugehen, dürfte es sich an dieser Stelle lohnen, in einem Zwischenschritt erneut die Frage nach den Unterschieden der Erledigungsstruktur der verschiedenen Staatsanwaltschaften aufzugrei-

89

Informalisierende Verfahrenseinstelliwgen

fen, jetzt aber nach den drei hier untersuchten Delikten zu differenzieren. Tatsächlich finden sich auch auf dieser Ebene nicht unbeträchtliche

Unterschiede

zwischen den Staatsanwaltschaften der 17 hier untersuchten Landgerichtsbezirke. Abbildung 3 . 3 weist die durchschnittlichen Erledigungsquoten sowie die minimalen und maximalen Anteile der wichtigsten Entscheidungsmöglichkeiten aus und verdeutlicht die erhebliche Schwankungsbreite für die einzelnen Entscheidungsalternativen. In dieser Abbildung wie in den folgenden Analysen sollen die Entscheidungsalternativen nach einigen relevanten Untergruppen zusammengefaßt werden: 1. Anklagen in den drei Unterformen: — Anklagen vor der Jugendkammer, dem Jugendschöffengericht oder dem Schöffengericht, im folgenden vereinfachend (wegen des geringen quantitativen Gewichts der beiden übrigen Erledigungsformen = 0,6 %) als "Anklagen vor dem Jugendschöffengericht" bezeichnet, — Anklagen vor dem Jugendrichter (oder Strafrichter = 0,4 %), sowie — Anträge auf Durchführung eines vereinfachten Verfahrens nach § 76. 2. Informalisierende VerfahrenseinsteUungen, worunter Einstellungen nach den Regelungen der §§ 153 und 153a StPO sowie § 45 (sämtliche Alternativen) zusammengefaßt werden. Obwohl es von Interesse wäre, die Möglichkeiten informalisierender Verfahrenseinstellungen nach der Strafprozeßordnung und die Spezialregelungen des Jugendgerichtsgesetzes getrennt zu untersuchen, ist dies wegen des relativ geringen Anteils der Einstellungen nach § 153 oder § 153a StPO an allen Verfahrenserledigungen ( = 3,3 %) nicht sinnvoll. Das gleiche gilt auch für die Einstellung gemäß § 45 Abs. 1 (0,6 %). Im übrigen ergeben sich in der Anwendung der Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO zwar gewisse Unterschiede zwischen den Staatsanwaltschaften; es verhält sich aber nicht so, daß diese Erledigungen bei einigen wenigen Staatsanwaltschaften konzentriert wären, sondern sie verteilen sich über sämtliche Behörden. Daher werden sie in allen folgenden Analysen mit zu den Informalisierungen gezählt. 3. VerfahrenseinsteUungen mangels Tatverdachts oder wegen fehlenden Verschuldens des Beschuldigten. 4. Einstellungen des Verfahrens wegen Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung (in aller Regel des Strafantrags) bzw. wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses. 5. Einstellungen unter Verweis auf den Privatklageweg. Alle anderen Erledigungsformen werden im weiteren nicht mehr berücksichtigt. Es zeigen sich also erhebliche Unterschiede in der Erledigungspraxis einzelner Staatsanwaltschaften: Anklagen vor dem Jugendschöffengericht werden von manchen Staatsanwaltschaften je nach Delikt ganz vermieden oder nur geringfügig

90

Staatsanwaltiiche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

eingesetzt, erreichen aber bei anderen Staatsanwaltschaften fast 30 %. Anklagen vor dem Jugendrichter machen bei den Delikten Diebstahl und Körperverletzung zwischen 10 und 50 % aller Verfahrenserledigungen aus, bei der Sachbeschädigung schwanken sie immerhin zwischen 8 und 32 %. Das vereinfachte Jugendverfahren wird beim Diebstahl von manchen Staatsanwaltschaften gar nicht, von anderen in über einem Viertel aller Verfahren angewendet. Ebenso werden "informalisierende" Verfahrenseinstellungen beim Diebstahl von einer Staatsanwaltschaft in gerade 13 % aller Fälle angeordnet, während sie in einer anderen fast die Hälfte aller Erledigungen ausmachen; ähnliche Schwankungsbreiten finden sich für diese Erledigungsform bei den anderen Delikten. Die starken Unterschiede in der staatsanwaltlichen Informalisierungspraxis, die in Abschnitt 3.1, bezogen auf die Gesamtheit der staatsanwaltlichen Verfahren, angedeutet wurden, finden sich hier in sehr eindrucksvoller Weise bestätigt. Aber nicht nur bei der Frage "Anklage oder Informalisierung" finden sich große Unterschiede; auch die Feststellung oder Ablehnung des Tatverdachts ist außerordentlich breit gestreut. Beim Diebstahl und bei der Körperverletzung gibt es Staatsanwaltschaften, die kaum ein Verfahren mangels Tatverdachts einstellen, während andere Staatsanwaltschaften dies in 40 % aller Fälle tun. Bei der Sachbeschädigung, welche grundsätzlich höhere Einstellungsquoten mangels Tatverdachts hat, schwanken diese zwischen 22 und 55 %.

Abb. 3.3:

Durchschnittlicher, minimaler und maximaler Anteil der Entscheidungsalternativen bei verschiedenen Staatsanwaltschaften, nach Delikt (in Prozent)

a) Diebstahl 60%

50%

40%

30%

20%

10% 0%

J Ì

Informalisierende Verfahrenseinstellungen

91

b) Sachbeschädigung 60%

50% -

40%

30%

20%

10% 0%

c) Körperverletzung 60%

60% -

40% -

30%

20%

10% 0%

Ähnliche, wenngleich nicht so drastische Unterschiede finden sich bei den beiden letzten Erledigungsmöglichkeiten, der Einstellung wegen fehlender Verfahrensvoraussetzung (bzw. Vorliegens eines Verfahrenshindernisses) und dem Verweis auf den Privatklageweg. Weil diese Alternativen grundsätzlich nicht so häufig gebraucht werden, ist hier natürlich auch die Schwankungsbreite weniger groß.

92

Staatsanwaltliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht

Dennoch sind die Unterschiede zwischen verschiedenen deutlich zu sehen.

Staatsanwaltschaften

Damit liegt zunächst die Frage nahe, ob es "deliktsübergreifende" Erledigungsroutinen der Staatsanwaltschaften gibt, d.h., ob eine Staatsanwaltschaft, die beispielsweise beim Diebstahl häufig Anklagen vor dem Jugendschöffengericht erhebt, auch bei den anderen Delikten zu dieser Erledigungsalternative neigt. Würden sich solche Tendenzen bezogen auf sämtliche Entscheidungsalternativen finden lassen, so wäre dies ein erster Hinweis auf organisationsspezifische Erledigungsmuster jenseits der rein summarischen Betrachtung anhand der Justizstatistiken. Natürlich muß bei einer solchen Analyse bedacht werden, daß auch der zugrundeliegende "Fall-Input" sich von Staatsanwaltschaft zu Staatsanwaltschaft unterscheidet. Trotzdem sollte zumindest beim Vorliegen sehr hoher Zusammenhänge zwischen den Erledigungen bei verschiedenen Delikten der Schluß auf behördenspezifische, deliktsübergreifende Verhaltensmuster erlaubt sein.

Tab. 3.5:

Zusammenhänge zwischen den Anteilen der staatsanwaltlichen Erledigungsalternativen bei den drei verschiedenen Delikten (Pearson's r, 17 Staatsanwaltschaften)

Anklage vor dem (Jugend-)Schöffengericht

Diebstahl 0,64 0,23

Körperverletzung

Körperverletzung Sachbeschädigung

Anklage vor dem Jugend-/Strafrichter

Diebstahl 0,68 0,60

Körperverletzung

Körperverletzung Sachbeschädigung

Antrag auf vereinfachtes Verfahren (§ 76 JGG)

Diebstahl 0,65 0,93

Körperverletzung

Körperverletzung Sachbeschädigung

Informalisierende Verfahrenseinstellung

Diebstahl 0,32 0,78

Körperverletzung

Körperverletzung Sachbeschädigung

Diebstahl 0,63 0,55

Körperverletzung

Körperverletzung Sachbeschädigung

Einstellung wegen fehlender Verfahrensvoraussetzung

Sachbeschädigung

Körperverletzung 0,32

Einstellung unter Verweis auf den Privatklageweg

Sachbeschädigung

Körperverletzung 0,64

Einstellung mangels Tatverdachts

0,37

0,61

0,75

0,55

0,47

Informalisierende

Verfahrenseinstellungen

93

In Tabelle 3.5 sind die Zusammenhänge zwischen den Anteilen der verschiedenen Erledigungsalternativen in den einzelnen Staatsanwaltschaften bei den drei untersuchten Delikten ausgewiesen. Diese Zusammenhänge sind zum Teil außerordentlich hoch und finden sich bei fast allen Erledigungsarten in bezug auf fast alle Kombinationen der drei Delikte. Wenn also eine Staatsanwaltschaft bei einem Delikt von einer bestimmten Entscheidungsalternative einen eher häufigen Gebrauch macht, so zeigt sie diese Tendenz auch bei den anderen beiden Delikten; ebenso kann man vom unterdurchschnittlichen Anteil einer Erledigungsform bei einem Delikt auf einen ähnlich niedrigen Anteil bei den anderen Delikten schließen. Es finden sich also tatsächlich deutlich ausgeprägte Verhaltensmuster einzelner Staatsanwaltschaften; d.h., die 17 untersuchten Behörden neigen ganz unabhängig von der Art des Delikts zu bestimmten Erledigungsformen. Im Grunde gibt es nur einige Ausnahmen von der Regel ausgeprägter Verhaltenstendenzen, so z.B. den geringen Zusammenhang zwischen den Anklagen vor den Jugendschöffengerichten bei Diebstahls- bzw. Körperverletzungsdelikten und bei Sachbeschädigungsdelikten, was vermutlich vor allem durch die sehr seltene Verwendung dieser Erledigungsform bei den Sachbeschädigungen bedingt ist. Im großen und ganzen legen diese Ergebnisse aber nahe, daß die Entscheidung über den Ausgang eines Strafverfahrens gegen einen Jugendlichen/Heranwachsenden mit dadurch determiniert ist, von welcher Staatsanwaltschaft das Verfahren bearbeitet wird. Nicht zuletzt gilt dies auch für die Einstellungen mangels Tatverdachts. Auch diese werden von verschiedenen Staatsanwaltschaften ganz unterschiedlich, innerhalb einer Staatsanwaltschaft aber deliktsübergreifend einheitlich gebraucht. Beispielsweise ist es jeweils dieselbe Staatsanwaltschaft, die bei den Diebstahls- und den Körperverletzungsdelikten den Maximalwert des Anteils dieser Verfahrenseinstellungen (und auch bei den Sachbeschädigungen einen überdurchschnittlichen Wert) aufweist. Je nachdem also, bei welcher Staatsanwaltschaft ein Tatvorwurf gegen einen Jugendlichen/Heranwachsenden untersucht wird, ist dessen Chance, daß das Verfahren wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt wird, gleich Null, oder aber sie beträgt fast 40 % ! Ahnliches trifft auch auf die hier im Vordergrund stehenden informalisierenden Verfahrenseinstellungen zu. Vor allem zwischen den Delikten Diebstahl und Sachbeschädigung besteht ein sehr starker Zusammenhang von 0,78. Staatsanwaltschaften, die beim Diebstahl häufig von informalisierenden Verfahrenseinstellungen Gebrauch machen, tun dies auch bei den Sachbeschädigungen, solche, die bei dem einen Delikt wenig einstellen, stellen ebenfalls beim anderen wenig ein. Abbildung 3.4 zeigt die Anteilswerte der informalisierenden Verfahrenseinstellungen der 17 untersuchten Staatsanwaltschaften bei den drei Delikten auf; die Abbildungen 3.5 (a-c) verdeutlichen, wie diese Anteilswerte untereinander zusammenhängen.

94

Staatsanwaltliche

Diversionspraxis

im

C/5 I

1 ΰ 8

υ

so

J

f υ

υ bp

u e

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ö (Λ U Ä ^ 32 I c c υ u· a) U J3

'.2 ·£ 1 ° i Ζ 10%)

-0,22"

-0,23 "

- 0,34 "*

V74: Wenn Sie die Auswahl zwischen § 45 Abs. 1 JGG und § 76 JGG haben, wenden Sie dann das vereinfachte Jugendverfahren an? (ja / nein)

0,12

Welche der im folgenden aufgeführten Gründe sprechen für Sie gegen eine Anwendung des § 45 Abs. 1 JGG? (V67-V70)

E.

(,)

(,)

n.s.

n.s.

Strafverfahren gegen Heranwachsende

V75: Steht § 109 Abs. 1 JGG Ihrer Meinung nach einer Anwendung des § 45 JGG durch den Staatsanwalt auf Heranwachsende entgegen? (ja / nein)

0,24 "

0,23 '

0,21 *

V76: Bei einem Heranwachsenden wende ich nur dann § 45 JGG an, wenn der Heranwachsende nach Beurteilung des Jugendamts in der Reife einem Jugendlichen gleichzustellen ist. (j a ! nein)

n.s.

n.s.

n.s.

327

Staatsanwaltsbefragimgsbogen SelbeteinBchüzuog

V79: Bei einem Heranwachsenden wende ich nur dann § 45 JGG an, wenn der Heranwachsende nach meinen eigenen Beurteilungen in der Reife einem Jugendlichen gleichzustellen ist. (ja / nein) F.

-0,12

Realverhalten

(,)

n.s.

Reale Baga tellisteniog»bereilachaft -0,15

(,)

(,)

Arbeitsbelastung durch § 45 JGG Gibt es unter den nachfolgend aufgeführten Fällen solche, in denen das Verfahren nach § 45 JGG für die staatsanwaltschaftliche Erledigungspraxis viel zu zeitintensiv ist? (V80-V84)

V80: Einschaltung des Jugendamts oder eines besonderen Modells (ja / nein)

0,21 "

0,26

0,14

V81: Persönliche Ermahnung durch die Staatsanwaltschaft (ja / nein)

0,16 '

n.s.

n.s.

V82: Einleitung und Kontrolle anderer erzieherischer Maßnahmen durch die Staatsanwaltschaft (ja / nein)

0,22 "

n.s.

n.s.

V83: Schriftliche Ermahnung durch die Staatsanwaltschaft (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

V84: Sanktionslose Einstellung nach § 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG (ja / nein)

n.s.

-

-

V85: Kann der hohe Arbeitsaufwand für die unterschiedliche Behandlung von mehreren Beschuldigten in einem Verfahren dazu führen, daß Sie eine gemeinsame Anklage für alle Beschuldigten verfassen? (ja / nein)

0,20 *

0,23 '

0,15

(,)

V86: Durch Einschaltung des Jugendamts oder sonstiger Träger der Sozialarbeit wird das Verfahren in der staatsanwaltschaftlichen Erledigungspraxis langwierig und aufwendig und ist insofern unter Erledigungsgesichtspunkten nicht ökonomisch, (immer / häufig / gelegentlich / selten / nie)

0,16 *

0,17 *

0,13

(,)

V87: Wenn Sie erzieherische Maßnahmen im Sinne des § 45 JGG veranlassen, stellen Sie dann lange Wartezeiten bei der Erledigung durch das Jugendamt oder sonstige Träger der Sozialarbeit fest? (ja / nein)

n.s.

0,28 "

0,27 "

V88: Werden in Ihrer Behörde Verfahren, in denen Sie nach § 45 Abs. 2 JGG erzieherische Maßnahmen veranlaßt haben, vorläufig aus der Resteliste herausgenommen? (ja / nein)

-0,36

-

n.s.

-0,22 *

328

Selbsteinschätzimg und Realität staatsanwaltlichen Entscheiden Seibeteinschätzung

Realverhalten

Reale Bagatellisierungsbereitschait

V89: Stört es Sie bei Erledigungen nach § 45 JGG insbesondere, daß Sie mit vielen Verfahren sehr lange in der Resteliste bleiben? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

V90: Zeitüberlegungen und der Stand in der Resteliste sind für mich persönlich ohne nennenswerte Bedeutung. (ja / nein)

n.s.

-0,14

V91: Mich stört insbesondere der hohe Zeitaufwand bei persönlichen Ermahnungsgesprächen als erzieherische Maßnahme nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG. (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

-0,26

-0,35

n.s.

n.s.

n.s.

V94: Gibt es für die Anwendung des § 45 JGG offizielle hausinterne Verfügungen? (nein / ja, und zwar: ...)

n.s.

n.s.

n.s.

V95: Gibt es für die Anwendung des § 45 JGG mündliche oder schriftliche Empfehlungen Ihrer Vorgesetzten? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

V96: Nur bei geständigen Tatverdächtigen / ausdrücklich auch bei nicht geständigen Tatverdächtigen

- 0,29

-0,40 '

-0,36

V97: Nur bei Ersttätern / ausdrücklich auch bei Mehrfachtätern

n.s.

n.s.

n.s.

V98: Nur bei Jugendlichen / ausdrücklich auch bei Heranwachsenden

n.s.

n.s.

n.s.

V99: Nur bis zu einer bestimmten Schadensgrenze / die Anwendung soll ausdrücklich unabhängig von einer Schadensgrenze sein

-0,37 '

- 0,42 '

-0,40 *

V92: Ich würde viel häufiger ein persönliches Ermahnungsgespräch führen, wenn sich das pensenmäßig auf meine Arbeitsbelastung positiv auswirken würde, (ja / nein) V93: Wenn der Arbeitsaufwand für Einstellungen im Dienstbetrieb durch Verringerung der Arbeitsbelastung mehr honoriert würde, könnte und würde ich vermehrt Verfahren einstellen, (ja / nein)

G.

-0,13'·»

(,)

-0,14

(,)

Anwendungsrichtlinien und Vereinheitlichung in der Behörde

In welchen Fällen soll § 45 JGG danach angewandt werden? (V96-V102) (,)

329

Staatsan waltsbefragungsbogen

Seltaeinschätzung

Realverbalten

Reale Bagatellisieningsbereituchaft

VI00: Nur bei bestimmten Delikten / die Anwendung soll ausdrücklich unabhängig von dem Deliktstyp sein

n.s.

n.s.

n.s.

V101: Bezogen auf spezifische Opfer / die Anwendung soll unabhängig vom Opfertyp sein

n.s.

n.s.

n.s.

V102: Die Empfehlung bezieht sich auf andere, hier nicht genannte Bereiche (nicht angekreuzt / angekreuzt)

0,27

n.s.

n.s.

V103: Sind diese Empfehlungen für Ihre Erledigungspraxis verbindlich? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

V104: Akzeptieren es Ihre Vorgesetzten ohne Einschränkung, wenn Sie sich nicht an die Empfehlung halten? (ja ! nein)

n.s.

0,34

VI05: Hat es sich Ihrer Meinung nach als sinnvoll erwiesen, die Erledigungspraxis durch Empfehlungen der Vorgesetzten zu vereinheitlichen? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

VI06: Gibt es bezüglich der Anwendung des § 45 JGG inoffizielle Absprachen mit Ihren Kollegen? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

VI07: Nur bei geständigen Tatverdächtigen / ausdrücklich auch bei nicht geständigen Tatverdächtigen

n.s.

- 0,33 *

n.s.

V108: Nur bei Ersttätern / ausdrücklich auch bei Mehrfachtätern

n.s.

n.s.

n.s.

V109: Nur bei Jugendlichen / ausdrücklich auch bei Heranwachsenden

n.s.

0,27

VI 10: Nur bis zu einer bestimmten Schadensgrenze / die Anwendung soll ausdrücklich unabhängig von einer Schadensgrenze sein

n.s.

0,33 *

0,34 *

V i l i : Nur bei bestimmten Delikten / die Anwendung soll ausdrücklich unabhängig von dem Deliktstyp sein

n.s.

n.s.

n.s.

VI 12: Bezogen auf spezifische Opfer / die Anwendung soll unabhängig vom Opfertyp sein

n.s.

n.s.

n.s.

VI 13: Die Absprache bezieht sich auf andere, hier nicht genannte Bereiche (nicht angekreuzt / angekreuzt)

0,24

n.s.

n.s.

(,)

(,)

n.s.

In welchen Fällen soll § 45 JGG danach angewandt werden? (V107-V113)

(,)

(,)

n.s.

330

Selbsteinschätzung und Realität staatsanwaltlichen Entscheiden SelbsteioscMtzung

(,>

Realverhalten

Reale BagateUisierungsbereitschaft

n.s.

n.s.

V114: Sind diese kollegialen Absprachen für Ihre Erledigungspraxis verbindlich? (ja / nein)

- 0,26

VI 15: Akzeptieren es Ihre Kollegen vorbehaltlos, wenn Sie sich an die gemeinsamen Absprachen nicht halten? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

VI 16: Hat es sich Ihrer Meinung nach als sinnvoll erwiesen, die Erledigungspraxis durch kollegiale Absprachen zu vereinheitlichen? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

VI 17: Massen- und Bagatelldelikte müssen aus rechtsstaatlichen Gründen auch im Jugendstrafverfahren einheitlich erledigt werden. Deshalb sind Absprachen und Empfehlungen angebracht, (ja ! nein)

n.s.

-0,15

VI 18: Für mich sind keine Fälle denkbar, in denen eine Richtlinie oder Empfehlung eine sinnvolle Entscheidungsvorgabe machen könnte. Ich muß jeden Fall individuell neu beurteilen, (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

0,21 *

0,16 «

H.

(,)

n.s.

Der Einfluß anderer Instanzen A

« «

«

VI 19: Durch die zunehmende Diversionspraxis haben die Richter immer weniger zu tun. Deshalb bemühe ich mich, diesem Trend entgegenzuwirken und verstärkt die Richter in die Entscheidung mit einzubeziehen. (ja / nein)

0,23

V120: Halten Sie es für möglich, daß eine gegenwärtige oder zukünftige Unterauslastung der Gerichte dazu führt, daß Sie Ihre eigene Einstellungspraxis minimieren und die Richter verstärkt in die Entscheidung mit einbeziehen? (ja / nein)

0,23

0,26 "

0,19 *

V121: Welchen Einfluß haben Erwartungen des Jugendamts auf eine Verfahrenseinstellung auf Ihre Entscheidungspraxis? (einen großen Einfluß / einen mittleren Einfluß / einen geringen Einfluß / gar keinen Einfluß)

n.s.

n.s.

n.s.

V122: Sind Sie dann, wenn das Opfer eine Strafverfolgung nicht will, auch in schweren Fällen bereit, das Verfahren einzustellen? (ja / nein)

n.s.

n.s.

-0,14

V123: Kann das Strafverfolgungsinteresse des Opfers auch dazu führen, daß Sie ausnahmsweise einen einstellungsfahigen Fall zur Anklage bringen? (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

(,)

Staatsan wallsbefragungsbogen

331 Selbeteinschätzung

Realverhalten

Reale BagatelUsierungsbereitechaft

0,15 '

n.s.

n.s.

V125: Wenn einem Jugendlichen in jedem formellen Verfahren ein Verteidiger zur Seite gestellt wird, trägt das dazu bei, daß Jugendstrafverfahren rechtsstaatlicher geführt werden, (fast immer / häufig / gelegentlich / selten / nie)

n.s.

n.s.

n.s.

VI26: Wie häufig wird Ihrer Meinung nach durch die Anwesenheit eines Verteidigers die erzieherische Einflußnahme auf den Jugendlichen erschwert? (fast immer / häufig / gelegentlich / selten / nie)

n.s.

n.s.

n.s.

V127: Bezogen auf die Ermittlungsverfahren mit anwaltlicher Beteiligung: Wie häufig glauben Sie verhindern Anwälte ein Geständnis des Tatverdächtigen im Ermittlungsverfahren? (sehr häufig / häufig / gelegentlich / selten / nie)

-0,13

n.s.

n.s.

V124: Hindert es Sie im Einzelfall daran, ein Verfahren einzustellen, wenn die Öffentlichkeit kein Verständnis dafür hat, dafl auf Jugendkriminalität zunehmend mit Verfahrenseinstellungen reagiert wird? (ja / nein)

J.

K.

Verteidiger im Jugendstrafverfahren

(,)

Kriminalpolitische Einschätzungen Glauben Sie, daß die nachfolgend genannten Lösungsmöglichkeiten geeignet sind, der Kriminalität junger Menschen entgegenzuwirken? (V128-V131)

VI28: Die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen durch sozialpolitische Maßnahmen (ja / nein)

-0,14 '

n.s.

n.s.

V129: Eine personelle und sachliche Verstärkung der Polizei (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

VI30: Vermehrte soziale und psychologische Unterstützung für straffällig gewordene Menschen (ja / nein)

-0,12

n.s.

n.s.

V131: Schärfere Sanktionen und längere Haftstrafen für straffällig gewordene Menschen (ja / nein)

n.s.

n.s.

n.s.

V132: Die Kriminalitätsbelastung von Jugendlichen und Heranwachsenden insgesamt ist in den letzten Jahren: größer geworden / gleich geblieben / geringer geworden / keine Angabe.

n.s.

n.s.

0,14

(,)

(,)

332

Selbsteinschätzung und Realität staatsanwaltlichen Entscheiden

Selbeteinschitzung

Sealverhalten

Reale Bagatelliaieningsbereitscbaft

V133: Der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden insgesamt, der zum "harten Kern" gehört, ist in den letzten Jahren: größer geworden / gleich geblieben / geringer geworden / keine Angabe.

n.s.

n.s.

n.s.

V134: Die Straftaten, die vom "harten Kern" begangen werden, haben in den letzten Jahren an Umfang und Schwere: zugenommen / sind gleich geblieben / haben abgenommen / keine Angabe.

n.s.

n.s.

n.s.

V135: In den letzten Jahren hat sich gezeigt, daß die Straftaten, die von allen Jugendlichen und Heranwachsenden insgesamt begangen werden, schwerer (nach Deliktsarten, Begehungsweise, Schadensintensität) geworden sind, (ja / nein / keine Angabe)

0,13

V136: Die Gefahr, die der Allgemeinheit durch Jugendkriminalität droht, ist in den letzten Jahren: größer geworden / gleich geblieben / hat abgenommen / keine Angabe.

0,16 '

n.s.

n.s.

V137: Teilen Sie die Meinung, daß die Justiz — verglichen mit erwachsenen Tatverdächtigen im Bereich der Umwelt- und Wirtschaftskriminalität — viel zu hart mit jungen Tatverdächtigen umgeht? (j a ! nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

n.s.

V138: Bei der Auswahl von jugendstrafrechtlichen Sanktionen ist es wichtiger, die Folgen für die Entwicklung junger Menschen zu beachten, als einen generalpräventiven Effekt mit der Sanktion anzustreben, (ja / nein / keine Angabe)

0,15 *

n.s.

n.s.

V139: Wenn man bei jungen Menschen "etwas erreichen" will (Legalverhalten), hat eine Strafe in der Regel einen besseren erzieherischen Effekt als sozialpädagogische Maßnahmen, (ja / nein / keine Angabe)

0,16 *

0,34

(,)

0,15

(,)

M

n.s.

n.s.

In den Gesprächen wurden auch Bedenken gegen stationäre Maßnahmen (Arrest und Jugendstrafe) im Bereich des Jugendstrafrechts geäußert. Die psychischen und faktischen Folgen des Einsperrens seien unabsehbar und der erstrebte erzieherische Zweck könne vielfach nicht erreicht werden. Teilen Sie diese Bedenken? (V140-V143) VI 40: Bei der Jugendstrafe teile ich die Bedenken (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

-0,17

(,)

-0,21 *

Staatsan waltsbefragungsbogen

333

Selbeteinschfitzung

Realverhalten

Reale Bagalellisierungsbereitschaft

V141: Beim Dauerarrest teile ich die Bedenken (ja / nein / keine Angabe)

n.S.

n.s.

n.s.

V142: Beim Freizeitarrest teile ich die Bedenken (ja / nein / keine Angabe)

-0,17 *

-0,14

VI43: Beim Kurzarrest teile ich die Bedenken (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

n.s.

V144: Können Sie sich geeignete Alternativen zu den stationären Maßnahmen vorstellen? (nein / ja, und zwar: ...)

0,30

0,19 '

n.s.

VI 45: Durch § 45 JGG kann erzieherisch wirksamer auf Bagatell- und Konfliktdelinquenz reagiert werden als im formellen Verfahren vor dem Jugendrichter, (ja / nein / keine Angabe)

-0,28"

- 0,20 '

-0,30 "

- 0„, 2_8„ »»

-0,19 '

-0,29*'

n.s.

- 0 , 1 6

V146: In einem formellen Verfahren bei Bagatelldelikten ist die Gefahr der Schädigung durch die Konsequenzen des formellen Gerichtsverfahrens (Verstärkung des Selbstbildes als Krimineller, Registereintragung, unverhältnismäßiger staatlicher Zugriff) größer als ein Nutzen im Hinblick auf das Legalverhalten. (ja / nein / keine Angabe) V147: Dadurch, daß die Reaktion auf die Tat bei einer Verfahrenseinstellung nach § 45 JGG schneller eintritt als im formellen gerichtlichen Verfahren, ist die staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung erzieherisch zweckmäßiger, (ja / nein / keine Angabe)

- 0A, 2 9

-

***

(,)

- 0 , 1 6 (*>

V148: Es ist falsch, der Jugendkriminalität immer nur mit Milde und Nachsicht zu begegnen. Man sollte häufiger als es derzeit geschieht auf straffällige Jugendliche und Heranwachsende mit härteren Sanktionen einwirken, um weiterer Kriminalität vorzubeugen, (ja / nein / keine Angabe)

0,19 *

0,23 *

0,17

V149: Erziehung ist ein unbestimmter und wenig hilfreicher Begriff. Besser wäre es, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, Rechtsstaatlichkeit und des fairen Verfahrens in den Vordergrund zu rücken, (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

n.s.

(,)

334

Selbsteinschätzung und Realität staatsanwalüichen Entscheidens Selbeteinechflizuag

Realverhalten

Reale Bagatellisierungsbereitschaft

V150: Nach der Verfassung ist allein der Richter für die Verhängung von Sanktionen zuständig. Die derzeitige Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft läuft darauf hinaus, daß die Staatsanwaltschaft richterähnlich sanktioniert. Deshalb erscheint mir eine massive Ausweitung der Einstellungspraxis verfassungsrechtlich bedenklich, (ja / nein / keine Angabe)

0,21 **

n.s.

n.s.

V151: Die in den letzten Jahren zunehmende Einstellungspraxis führt faktisch zu einer Aufweichung des Legalitätsprinzips. Diese Tatsache steht einer extensiven Auslegung der Opportunitäts- bzw. Erziehungsvorschriften des JGG entgegen, (ja / nein / keine Angabe)

0,35

0,28 "

0,31 "

VI52: Da es nicht erwiesen ist, daß durch stationäre Sanktionen (Jugendstrafe, Arrest) etwas Nützliches geschieht, kann man auch Maßnahmen wählen, die weniger eingriffsintensiv sind. Deshalb ist die verstärkte Einstellungspraxis der letzten Jahre zu begrüßen. (ja / nein / keine Angabe)

- 0,30 "

-0,42"·

-0,38

0,26 **

0,27 "

(,)

-0,26 "

VI53: Die verstärkte Anwendung des § 45 JGG birgt nach meinem Eindruck die Gefahr in sich, daß jetzt vermehrt Fälle, die eigentlich nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden müßten, über § 45 JGG erledigt werden, (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

VI56: Bei Bagatell- und Konflikttaten Jugendlicher und Heranwachsender ist es schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit richtig, wenn die Staatsanwaltschaft diese Verfahren nach § 45 JGG erledigt, (ja / nein / keine Angabe)

-0,18 '

-0,16

VI57: Das Erziehungsprinzip darf nicht dazu führen, daß Jugendliche und Heranwachsende in solchen Fällen angeklagt werden, die bei Erwachsenen eine Verfahrenseinstellung durch den Staatsanwalt zur Folge haben, (ja ! n e i n ! keine Angabe)

-0,21 '

-0,18 *

- 0,16

V158: Zahlreiche Diversionsprojekte bergen die Gefahr viel intensiverer Kontrolle von Jugendlichen und Heranwachsenden als es bei traditionellen justitiellen Maßnahmen (Ermahnung, Verwarnung etc.) der Fall ist. (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

n.s.

(,)

Staatsanwaltsbefragungsbogen

335 Selbateinschfltzung

V159: Welche Aussage gibt Ihren Standpunkt am ehesten wieder? (für mich ist meine wichtigste Aufgabe im Beruf, die Interessen der Allgemeinheit und des Rechts zu wahren / für mich ist meine wichtigste Aufgabe im Beruf, die Entwicklung von einzelnen Tatverdächtigen positiv zu beeinflussen / die Interessen der Allgemeinheit und des Rechts berücksichtige ich gleichrangig neben der Entwicklung des einzelnen Tatverdächtigen)

-0,12

VI60: Auch der Richter kann in der Hauptverhandlung nur sehr eingeschränkt den Tatsachenstoff einschließlich der erzieherischen Gesichtspunkte durchdringen. Deshalb spricht das Argument der Hauptverhandlung nicht gegen eine Verfahrenseinstellung auf der Ebene der Staatsanwaltschaft, (ja / nein / keine Angabe)

(,)

Real verhalten

Reale Baga tellisierungsbereitschaft (,)

n.s.

-0,14

-0,19 *

n.s.

n.s.

V161: Die Staatsanwaltschaft ist die vorrangig geeignete Instanz für Verfahrenseinstellungen. Dem Richter sollten die Einstellungen vorbehalten bleiben, in denen nachträgliche Erkenntnisse (z.B. nachträgliche Aussage des Tatverdächtigen) die Einstellung rechtfertigen, (ja / nein / keine Angabe)

- 0,20 *

n.s.

n.s.

VI 62: In der Staatsanwaltschaft ist es gegenwärtig aus Zeit- und Personalgründen nicht möglich, alle besonderen Umstände des Einzelfalls so sachgerecht abzuwägen, daß damit eine angemessene Einstellungspraxis stattfindet, (ja / nein / keine Angabe)

0,17 '

n.s.

n.s.

VI63: Wenn richterliche Kompetenzen verstärkt auf den Staatsanwalt übertragen werden, muß sich diese Verlagerung auch in einer erheblichen Erweiterung des Stellenkegels niederschlagen, (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

n.s.

V164: Der Staatsanwalt wird durch Richtlinien und Weisungen viel zu sehr von außen bestimmt, (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

0,21 *

V165: Im Bereich der Bagatelldelinquenz wäre eine gesetzliche Entkriminalisierung (beispielsweise für Ladendiebstahl und Schwarzfahren) viel zweckmäßiger als die Ausweitung der Einstellungspraxis, (ja / nein / keine Angabe)

n.s.

n.s.

n.s.

336

Selbsteinschätzung und Realität staatsanwaltlichen Entscheidens

Selbrteinschätzung

Realverhalten

0,22

0,14

VI 67: In welchem Zeitraum sind Sie geboren? (1924-1929 / 1 9 3 0 - 1 9 3 5 / 1 9 3 6 - 1 9 4 0 / 1 9 4 1 1945 / 1 9 4 6 - 1 9 5 0 / 1 9 5 1 - 1 9 5 5 / 1956 oder später)

n.s.

n.s.

V168: Ihr Geschlecht? (weiblich / männlich)

n.s.

0,14

V169: Wie sind Sie in die Jugendabteilung gekommen? (weil ich mich gezielt darum bemüht habe / weil gerade eine freie Stelle zur Verfügung stand / sonstiger Grund)

-0,20"

n.s.

VI70: Wie ist Ihre gegenwärtige Dienststellung? (Oberstaatsanwalt/anwältin / Erste(r) Staatsanwalt/anwältin / Staatsanwalt/anwältin)

n.s.

0,14

VI 71: Wie lange sind Sie in der Justiz (als Richter/in und/oder Staatsanwalt/anwältin) tätig? (bis zu einem Jahr / bis zu drei Jahren / bis zu sechs Jahren / bis zu neun Jahren / mehr als neun Jahre)

n.s.

n.s.

0,17 *

VI 72: Wie lange haben Sie bisher Jugendstrafsachen bearbeitet? (weniger als 1 Jahr / 1 bis unter 3 Jahre / 3 bis unter 6 Jahre / 6 Jahre oder länger)

n.s.

n.s.

n.s.

V173: Sind sie in Ihrer jetzigen Stellung speziell für Jugendsachen (und eventuell Jugendschutzsachen) zustandig oder bearbeiten Sie die Jugendsachen neben allgemeinen Strafsachen? (speziell für Jugendsachen (und eventuell Jugendschutzsachen) zuständig / Jugendsachen neben anderen Strafsachen)

n.s.

-0,16

VI66: Für die Zukunft der staatsanwaltlichen Einstellungskompetenz sind aus den unterschiedlichsten kriminalpolitischen Einschätzungen heraus die drei im folgenden genannten Möglichkeiten denkbar. Welche Richtung können Sie am ehesten befürworten? (die staatsanwaltliche Einstellungskompetenz muß eingeschränkt werden und die Verfahrenserledigung muß verstärkt durch den Richter erfolgen / die gegenwärtige staatsanwaltliche Einstellungskompetenz sollte in dem bisherigen Umfang beibehalten werden / die staatsanwaltliche Einstellungskompetenz sollte über das bisherige Maß hinaus erweitert werden)

L.

Reale BagateUisjeningsbereüschaft (,)

0,20 '

Berufs- und Sozialdaten

(,)

-0,15

(,)

0,14

(,)

n.s.

(,)

(,)

n.s.

n.s.

Staatsan waltsbefragimgsbogen

337 Selbeteinschätzung

Realverhalten

VI74: Waren Sie in Ihrer bisherigen Laufbahn bereits einmal als Richter/--in tätig? (ja. auch bereits als Richter/-in in Strafsachen / ja, aber noch nie als Richter/-in in Strafsachen / nein)

n.s.

n.s.

0,19 *

V175: Glauben Sie, daß Ihre Ausbildung an der Universität eine adäquate Vorbereitung für Ihre jetzige Tätigkeit in Jugendstrafsachen war? (die universitäre Ausbildung hat mich gut vorbereitet / die universitäre Ausbildung war nur eine hinreichende Vorbereitung / die universitäre Ausbildung war unzulänglich)

0,13

(,)

n.s.

n.s.

V176: Hat Ihre Einführung, Ausbildung und Fortbildung innerhalb der Staatsanwaltschaft (einschließlich Referendarzeit) Sie optimal auf die Bearbeitung von Jugendstrafsachen vorbereitet bzw. fortgebildet? (ja, optimal / nur hinreichend / unzulänglich)

0,11

(,)

n.s.

0,14

V177: Gibt es Ihrer Meinung nach ein ausreichendes Maß an berufsbegleitenden Fortbildungsmöglichkeiten? (ja, ausreichend / nein, zu wenig)

n.s.

n.s.

0,18 *

V178: Wie bewerten Sie die Qualität der berufsbegleitenden Fortbildungsmöglichkeiten? (gut / nur hinreichend / unzulänglich)

n.s.

n.s.

n.s.

VI79: Haben Sie noch allgemeine Hinweise, die Sie uns zum Fragebogen oder zu einzelnen Fragen geben möchten?

Reale Bagatellisieruiiggbereitschaft

(,)

Drittes Buch Polizei und Diversion

Polizei und Diversion — Das Bielefelder Modell der Informatíonsvermittlung — Dorothea Rzepka

1 1.1

Gegenstand, Ziele, theoretischer und normativer Kontext der Untersuchung Gegenstand und Ziele der Untersuchung im Überblick

Die normative Programmatik von Diversion im Jugendstrafrecht setzt differenzierte Informationen voraus, die dem Staatsanwalt eine sachgerechte Entscheidung ermöglichen: Ist eine "Ahndung durch Urteil entbehrlich" oder ist eine richterliche Reaktion "erforderlich"? Die Ergebnisse des 1. und 2. Buches haben die Defizite staatsanwaltlicher Entscheidungsgrundlagen deutlich gemacht — Rechtsanwendung wird auf einige wenige, verfahrensökonomisch relevante Formalkriterien reduziert; die Kenntnis diversionsrelevanter normadäquater Informationen ist eher Produkt des Zufalls. Das Bielefelder Informationsmodell wurde 1987 auf Initiative des nordrhein-westfälischen Justizministeriums von der Bielefelder Staatsanwaltschaft und Polizei für jugendtypische Deliktsbereiche eingeführt, um durch die Erprobung einer verbesserten Kooperation zwischen Jugendstaatsanwaltschaft und Polizei Lösungswege aus dem allseits konstatierten, staatsanwaltlichen Entscheidungsdilemma aufzuzeigen. Polizeiliche Aufklärungsressourcen und polizeiliches Erfahrungswissen aus dem direkten Kontakt mit dem Beschuldigten sollten gezielt zur Ermittlung der nach den §§ 45 JGG, 153, 153a StPO relevanten Informationen genutzt werden. Als notwendige Folge des erwarteten Informationszugewinns gingen beide Instanzen, Staatsanwaltschaft und Polizei, von einer Zunahme sachgerechter Verfahrenseinstellungen aus. Wurde bis dahin — mehr oder weniger standardisiert — der Bereich unterer Bagatellkriminalität von der staatsanwaltlichen Einstellungspraxis erfaßt, so zielte der Modellversuch vor allem darauf ab, die Staatsanwaltschaft in die Lage zu versetzen, den Bereich mittelschwerer Kriminalität in Diversion einzubeziehen. Die von den beteiligten Behörden befürwortete empirische Überprüfung des Informationsmodells ermöglichte es dem Teilprojekt Cl des Sonderforschungsbereichs 227, zusätzlich eine grundlagentheoretische Fragestellung in den Versuch einzubringen: Den Polizeibeamten wurde ein - die Staatsanwaltschaft nicht bindendes — Vorschlagsrecht im Hinblick auf die jugendstaatsanwaltlichen Entscheidungsmöglichkeiten nach § 45 eingeräumt. Dieses polizeiliche Vorschlags-

342

Polizei und Diversion

recht erlaubt erstmalig Analysen zur faktischen polizeilichen Bewertung von Jugenddelinquenz, wenn auch nur in einer simulierten Entscheidungssituation. Beide Bereiche, polizeiliche Ermittlungs- und Vorschlagstätigkeit, sollten der einzelfallorientierten Vorbereitung staatsanwaltlicher Abschlußverfügungen dienen. Das Bielefelder Informationsmodell unterscheidet sich somit seinem Ansatz nach deutlich von den meisten Diversionsprogrammen, die neue Formen der Sanktionierung (Arbeits-, Betreuungsweisungen, Erziehungskurse, mündliche Ermahnungsgespräche u.a.) erproben. Es geht im Rahmen der geltenden Gesetzeslage vom Status quo der bestehenden Möglichkeiten von Diversion aus und sucht erhöhte Einstellungspotentiale aus einer verbesserten Informationslage der Jugendstaatsanwaltschaft zu ziehen. Wenngleich keine explizite Entscheidung für oder gegen die Verhängung von Sanktionsäquivalenten getroffen wurde, steht das Modell aufgrund seiner inhaltlichen Ausgestaltung, insbesondere z.B. des Versuchs einer systematischen Berücksichtigung der erzieherischen Reaktionen des sozialen Umfeldes, dem Gedanken der justitiellen Non-intervention näher als einer erzieherisch-interventionistischen Perspektive. Anhand dieser Kurzbeschreibung des administrativen Modellansatzes läßt sich bereits deutlich zeigen, mit welcher empirischen Fragestellung sich ein — den Modellversuch überprüfendes — Forschungsprojekt auseinanderzusetzen hat, dem Vergleich zwischen Zielsetzung/Anspruch des Modellversuchs und seiner Umsetzung in die Praxis durch Staatsanwaltschaft und Polizei. Die Konzeption des Bielefelder Informationsmodells gebietet eine getrennte Analyse des Umgangs beider Instanzen mit dem Modellversuch: Polizei mit jugendspezifisch konkretisiertem Ermittlungsauftrag und simulierter Entscheidungskompetenz, also als deutlich agierende Instanz, Staatsanwaltschaft als die zusätzliche Information umsetzende Entscheidungszentrale, also eher reagierende Instanz. Ziel der folgenden Arbeit ist es, die polizeiliche Praxis des Informationsmodells zu untersuchen. Die Frage der Umsetzung des Modellversuchs auf der Ebene der Staatsanwaltschaft, insbesondere auch im Hinblick auf eine reale Zunahme von Verfahrenseinstellungen als Folge einer verstärkten Berücksichtigung der Bereiche mittelschwerer Kriminalität, wird im 4. Buch aufgegriffen.

1.2

Theoretischer und normativer Kontext der Untersuchung

Ein Modellversuch, der polizeiliche Ressourcen (Ermittlungs- und Vorschlagstätigkeit) in den Dienst einer Erhöhung staatsanwaltlicher Einstellungspotentiale stellen will, muß notwendigerweise an die Diskussionen über polizeiliche Ermittlungstätigkeit (im Jugendstrafverfahren) und polizeiliche Diversion anknüpfen. Im

Gegenstand, Ziele, Kontext der Untersuchung

343

folgenden soll der theoretisch-normative Rahmen unter Berücksichtigung des derzeitigen Forschungsstands abgesteckt werden, der für die Durchführung des Bielefelder Informationsmodells bedeutsam ist. Dabei werden beide Aufgabenbereiche, Ermittlungs- und Vorschlagshandeln, getrennt betrachtet.

1.2.1 1.2.1.1

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit im Jugendstrafverfahren Die "Herrin des Ermittlungsverfahrens": Staatsanwaltschaft oder Polizei?

Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz übertragen der Staatsanwaltschaft die justizgemäße Sachleitung der polizeilichen Ermittlungen und damit die Funktion einer Herrin des Ermittlungsverfahrens. Die Polizei fungiert quasi nur als ihr verlängerter Arm (BVerwGE 47, 255, 263) mit Rechten, die sich auf den ersten Zugriff beschränken (§ 163 Abs. 1 StPO). Eine dieser Rechtslage entgegengesetzte Praxis hat Steffen bereits 1976 aufgrund einer Aktenanalyse festgestellt (1976, 286 ff.). Im Bereich der Bagatellen und der mittelschweren Kriminalität erhält die Staatsanwaltschaft erst regelmäßig nach Abschluß der polizeilichen Ermittlungen Kenntnis von der Existenz eines Verfahrens. Von der Möglichkeit, Nachermittlungen zu veranlassen, macht sie eher im Ausnahmefall Gebrauch (Steffen 1976, 329 f.). Strafverfolgung im Vorverfahren ist somit im hier interessierenden Kriminalitätsbereich durch ein Auseinanderklaffen von legislativem Anspruch und seiner praktischen Umsetzung gekennzeichnet. Dieses Faktum hat nicht zuletzt Anlaß zu weiteren Diskussionen über gesetzliche Änderungen bei der Festschreibung polizeilicher und staatsanwaltlicher Aufgabenbereiche gegeben. Die diskutierten Lösungsmöglichkeiten (vgl. Habel 1982) stehen sich dabei zum Teil diametral gegenüber (Verselbständigung der Polizei im Sinne einer Lösung von der Staatsanwaltschaft: Gössel 1980, 348 f.; Rieß 1980, 197; Ermittlungsverfahren mit polizeilicher Alleinzuständigkeit; organisatorische Eingliederung der notwendigen polizeilichen Ermittlungsorgane in die Staatsanwaltschaft: Uhlig 1986, 250; hauseigene Polizeiorganisation der Staatsanwaltschaft: Wagner 1973, 714; Kuhlmann 1976, 268 f.; Schoreit 1982, 290).

1.2.1.2

Gesetzliche Aufgabenverteilung nach dem Jugendgerichtsgesetz (§§ 43, 44 JGG)

Für das jugendstrafrechtliche Ermittlungsverfahren gelten ebenfalls die §§ 151-200 StPO, allerdings modifiziert durch die §§ 43 ff. JGG. Somit liegt rechtlich gesehen — die Sachleitungsbefugnis sowie die Entscheidungskompetenz bei den Staatsanwälten, und zwar bei Jugendstaatsanwälten (§ 36; vgl. RL Nr.

344

Polizei und Diversion

1-3 zu § 36). Der polizeiliche Aufgabenbereich hat — insbesondere im Hinblick auf eine jugendspezifische Durchführung der Ermittlungen — keine von den allgemeinen strafprozessualen Vorschriften abweichende Regelung erfahren. Verwaltungsintern regelt die Polizeidienstvorschrift PDV 382.1 die "Bearbeitung von Jugendsachen bei der Polizei" seit dem 22.02.1974 (kritisch Middelhof 1984). Die PDV 382.1 behandelt u.a. Fragen der Unterrichtung des Jugendamts, der Belehrung des Jugendlichen/Heranwachsenden vor der ersten Vernehmung, der Ladung (Ladung an die Erziehungsberechtigten), der Anwesenheit der Erziehungsberechtigten bei der Vernehmung (vgl. hierzu Eisenberg 1988, § 67 Rn. 11) sowie der Festnahme.

Neben der Begutachtung durch einen Sachverständigen (§ 43 Abs. 3) und der persönlichen Vernehmung durch den Jugendstaatsanwalt bei zu erwartender Jugendstrafe (§ 44) kommt vor allem der Persönlichkeitserforschung zentrale Bedeutung zu (§ 43 Abs. 1 S. 1). Die Ausgestaltung der Persönlichkeitserforschung wird von Peters zum Anlaß genommen, das Jugendstrafrecht als "Persönlichkeitsstrafrecht" zu charakterisieren (1985, 598). Demgemäß wird das Ermittlungsverfahren dem Anspruch nach als Beginn einer erzieherischen Strafverfolgung bewertet. Erzieherisch begründet wird auch die grundsätzlich erforderliche Beschleunigung des Ermittlungsverfahrens (vgl. RL Nr. 5 zu § 43). Als Ermittlungsinstanz im Hinblick auf die Persönlichkeitserforschung benennt § 43 Abs. 1 S. 4 i.V.m. § 38 Abs. 3 die Jugendgerichtshilfe (JGH). Die Sachleitung verbleibt aber auch im Verhältnis zur JGH bei der Staatsanwaltschaft. Eine Synopse jugendstrafrechtlicher Normierungen und Prinzipien (Erziehungsprinzip, Beschleunigungsgrundsatz), verwaltungsinterner Richtlinien und verfassungsrechtlicher/ strafprozessualer Grundsätze zeigt deutlich, daß die Einbeziehung der JGH in das Ermittlungsverfahren nach Zeitpunkt, Art und Umfang ungeklärt ist. Spricht § 43 Abs. 1 S. 1 von "nach Einleitung des Verfahrens ... so bald wie möglich", so geht RL Nr. 8 S. 1 zu § 43 ihrem Wortlaut nach davon aus, daß die Arbeit der JGH nicht entscheidungsvorbereitend für die Abschlußverfügung ist (vgl. demgegenüber aber RL Nr. 6 S. 3 zu § 43, wonach der Staatsanwalt — erwägt er eine Einstellung des Verfahrens nach § 45 — erforderlichenfalls einen Bericht der JGH anfordern kann; vgl. auch Brunner 1986, § 45 Rn. 9c; Eisenberg 1988, § 43 Rn. 16a; Ostendorf 1987, § 45 Rn. 12). Der Beschleunigungsgrundsatz wirkt bei konsequenter Beachtung tendenziell ebenfalls einer frühzeitigen Beteiligung der JGH entgegen.

Dem Erziehungsprinzip, umgesetzt durch die Tätigkeit der JGH, aber auch dem Beschleunigungsgrundsatz werden darüber hinaus eindeutige Grenzen durch eine verfassungskonforme Handhabung strafprozessualer Vorschriften gesetzt. Als solche sind hier u.a. das Legalitätsprinzip (Verfolgung "ohne Ansehen der Person"; vgl. Bottke 1983, 87), die Unschuldsvermutung sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Ostendorf 1987, Grdl. zu §§ 43, 44 Rn. 3) zu beachten. Letzterer wirkt sich über die Voraussetzungen der Eignung und Erforderlichkeit

Gegenstand, Ziele, Kontext der Untersuchung

345

limitierend auf den Umfang der Ermittlungen zur Persönlichkeit sowie auf die Wahl der Informationsquellen aus (vgl. Albrecht 1987, 312 f.), erlangt aber auch Bedeutung für den Zeitpunkt der Aufnahme persönlichkeitsorientierter Erforschungen (z.B. bei eindeutig einstellungsbedürftigen Bagatellen). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang zudem der verfassungsrechtliche Einwand, daß eine frühzeitige Heranziehung der JGH (parallele Ermittlungen von Polizei und JGH) möglicherweise in einem Stadium erfolgt, in dem die Täterschaft des Beschuldigten nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststeht bzw. mangels entsprechender staatsanwaltlicher Entscheidung noch nicht feststehen kann (Verstoß gegen die Unschuldsvermutung; ähnlich wie hier, allerdings ohne eingängige Abgrenzung zu den eigenen Ausführungen einer möglichst frühzeitigen Stellungnahme der JGH Brunner 1986, § 43 Rn. 16; Eisenberg 1988, § 43 Rn. 16a; Ostendorf 1987, § 43 Rn. 6). Für die Tätigkeit der JGH im Vorverfahren lassen sich eher widersprüchliche Regelungen feststellen. Deshalb gebührt den verfassungsrechtlichen Prinzipien der Vorrang: Die JGH sollte in diesem frühen Ermittlungsstadium schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht einbezogen werden. Andererseits mangelt es hinsichtlich der Frage, welchen Beitrag die Polizei im Rahmen der Sachverhaltserforschung zur Vorbereitung der jugendstaatsanwaltlichen Entscheidungen nach den §§ 45 JGG, 153, 153a StPO zu leisten hat, an jugendstrafrechtsspezifischen Normierungen und Grundsätzen. Demgemäß wird diese Problemstellung im Schrifttum kontrovers diskutiert (ausführlich zu dieser Thematik unter Abschnitt 2.2.2).

1.2.1.3

Das jugendstrafrechtliche Ermittlungsverfahren in der Praxis

Die Realität des Ermittlungsverfahrens gegen Jugendliche und Heranwachsende unterscheidet sich nach den bisherigen Erkenntnissen empirischer Forschung wenig von der gegen Erwachsene. Auf der einen Seite werden die polizeilichen Ermittlungen im Jugendstrafverfahren regelmäßig nicht von spezifischen Jugendkommissariaten wahrgenommen, die für die strafrechtlichen Auffälligkeiten von Jugendlichen und Heranwachsenden zuständig sind (befürwortend Wehner-Davin 1977; anders Kiebel 1979). Nicht speziell für Jugendsachen ausgebildete Polizeibeamte (Eisenberg 1988, Einl. Rn. 13 m.w.N.; vgl. aber PDV 382.1) führen also auch hier in den Bereichen leichterer und mittelschwerer Kriminalität die Ermittlungen selbständig bis zu ihrem Abschluß durch. Diese zielen — wie nicht anders zu erwarten — zunächst einmal auf Tataufklärung und Schuldnachweis ab. Auf der anderen Seite stehen Jugendstaatsanwälte, die die Ermittlungsvorgänge im Regelfall so übernehmen, wie sie von der Polizei angelegt wurden.

346

Polizei und Diversion

Unter diesen Vorbedingungen ist das jugendstrafrechtiiche Ermittlungsverfahren - sollte man dieses vor dem Hintergrund einer Wahrung der strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Garantien des Beschuldigten überhaupt befürworten — weit davon entfernt, erzieherische Strafverfolgung zu sein (Bottke 1983, 87; Eisenberg 1988, Einl. Rn. 13). Dieses Defizit kann auch nicht durch das Tätigwerden der JGH zum Zwecke der Persönlichkeitserforschung ausgeglichen werden. Empirische Untersuchungen haben deutlich gezeigt, daß die JGH derzeit keine Entscheidungsvorbereitung für die Jugendstaatsanwälte betreibt, da diese ihre Abschlußverfügung im Regelfall ohne einen Bericht der JGH treffen (vgl. die Ergebnisse der Befragung 2. Buch, 2. Kapitel).

1.2.2

Polizeiliche Vorschlagstätigkeit

Bei der Behandlung der Frage, welche Erwartungen an eine polizeiliche Vorschlagstätigkeit im jugendstrafrechtlichen Bereich gestellt werden können, kommt man nicht umhin, polizeiliche Präventionskonzepte, die Diskussionen über polizeiliche Diversion und vorhandene Polizei-Diversions-Projekte sowie die Erfahrungen des Auslands mit Polizeidiversion einzubeziehen.

1.2.2.1

Polizeiliche Strafverfolgung und Diversion in der Diskussion

Empirische Analysen polizeilicher Strafverfolgungstätigkeit (u.a. Brüsten 1971; Feest/Blankenburg 1972; Steffen 1976; Girtler 1980; Wulf 1980) haben deutlich gezeigt, daß die Bindung der Strafverfolgungsorgane an die Gesetze mit ihrer Konsequenz der Voraussehbarkeit und Kontrollierbarkeit in der Praxis an Grenzen stößt (Hassemer/Steinert/Treiber 1978, 55 f.). Im Alltag polizeilicher Strafverfolgung verbleiben weitreichende Ermessensspielräume, die von der Polizei selektiv wahrgenommen werden. Selektivität bedeutet in diesem Zusammenhang, daß polizeiliches Handeln direkt und/oder indirekt — vermittelt über Deliktsart, Geständnisfreudigkeit usw. — sich vor allem zu Lasten von Jugendlichen und Unterschichtangehörigen auswirkt. Der Zielkonflikt zwischen effizienter Strafverfolgung — orientiert an den Kriterien der vorhandenen Ressourcen und Erfolgsmaximierung — einerseits und der Wahrnehmung rechtsstaatlicher Garantien andererseits wird zu Lasten letzterer entschieden. Ausländische Diversionsprogramme haben deutlich gemacht, daß Polizeidiversion ähnliche, wenn nicht sogar dieselben Probleme aufwirft (USA: vgl. z.B. Klein 1976; Piliavin/Briar 1976; Kobetz 1976; Seuil 1980; Lemert 1981; England/Wales: vgl. Huber 1985; Farrington/Bennett 1981; Mott 1983; Niederlande: Junger-Tas 1983; Scholten/ten Siethoff 1985). In diesem Zusammenhang eingetretene Fehlentwicklungen lassen sich vor allem durch Stichworte wie "Ausweitung sozialer Kontrolle" (vgl. Lundman 1976, 436; Blomberg 1980; Cohen 1979) und "Verlust an Rechtsstaatlichkeit" (vgl. Seuil 1980, 197; Voß 1981, 252; ders. 1989a; Albrecht 1983 , 62) kennzeichnen.

Gegenstand, Ziele, Kontext der Untersuchung

347

P . - A . Albrecht konnte bereits Anfang der 80er Jahre in Gruppendiskussionen mit Polizeibeamten

eine

unerwartete

Aufgeschlossenheit

für Diversion

wenngleich auch hier die Meinungen geteilt waren (Albrecht

feststellen,

1983,

105 ff. ;

Bruckmeier et al. 1984, 140 ff.; Feltes 1984, 140 f.). Soweit Polizeibeamte sich für die Einführung polizeilicher Diversion aussprachen, stellten sie die Forderung nach klaren Entscheidungsvorgaben auf (Albrecht 1983, 112 ff.). In den mit Staatsanwälten und Justizministerialbeamten durchgeführten Diskussionen zeigten diese eine durchgängig ablehnende Haltung gegenüber polizeilicher Diversion (ebd., 140 ff.). Ihre Begründungen ließen eindeutige Tendenzen zur Erhaltung des Status quo erkennen, der als adäquat und zufriedenstellend eingestuft wurde. Von der Seite der Sozialarbeiter wurde polizeiliche Diversion begrüßt, das Legalitätsprinzip als Hindernis von Diversion betrachtet (ebd., 184 ff.). Polizeiliche Diversion stellte sich ihnen als kleineres Übel dar. Gegen eine Diversion ohne 'Behandlungsprogramm' erhoben die Sozialarbeiter keine Bedenken, während bei ihrer Verknüpfung mit einer Überweisung zu sozialen Diensten die präventive Wirksamkeit der 'Behandlung' in Zweifel gezogen sowie eine Ausweitung sozialer Kontrolle befürchtet wurde (ebd., 187 ff.). Die Ergebnisse der einzelnen Diskussionsgruppen geben insgesamt gesehen deutlich den latenten Widerspruch zwischen Einzelfallgerechtigkeit Gleichheitsgrundsatz

und

Willkürverbot

orientierten

und einer

Strafverfolgung

am

wieder.

Während aus einer spezialpräventiven Perspektive jeder Fall seinen Besonderheiten gemäß behandelt und entschieden werden muß, geht das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz davon aus, daß es vergleichbare Fälle gibt, die einheitlich beurteilt werden müssen (vgl. auch Dölling 1987, 52 f.).

1.2.2.2

Polizei-Diversions-Projekte in der Praxis

In den letzten Jahren lassen sich in der Praxis verschiedene Versuche feststellen, die Polizei

verstärkt in das Jugendstrafverfahren einzubeziehen.

Die

meisten

Modellversuche hatten zwar eine Veränderung polizeilicher Tätigkeit im Jugendbereich zur Folge, ohne der Polizei eine direkte Mitwirkung an der Entscheidung über Anklage oder Einstellung des Verfahrens einzuräumen. Als solche können genannt werden: — Beim "Lübecker Modell" (vgl. Pohl-Laukamp 1984, 179; vgl. auch Rautenberg 1984, 291 f.) beschränkte sich der veränderte Aufgabenbereich der Polizei auf praktische Vorbereitungshandlungen für eine persönliche Vernehmung des Beschuldigten durch den Jugendstaatsanwalt. — Das "Hamburger Modell" (vgl. Vofl 1989a, 14) ist dadurch gekennzeichnet, daß für einen genau festgelegten Tat- und Täterkreis eine verantwortliche Vernehmung durch die Polizei entfällt und das Verfahren schematisch durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wird. Rechtliches Gehör wird gewährt. — Das Präventionsprogramm Polizei/Sozialarbeiter (PPS) hat eine neue Kooperation zwischen Polizei und Sozialarbeit erprobt (vgl. Schwind/Steinhilper/Wilhelm-Reiss 1980; zum darai^

348

Polizei und Diversion

abgeleiteten "Jugendbüro": Steinhilper 1983; kritisch hierzu: Ostendorf 1987, § 43 Rn. 8). Gerade bei diesem Projekt wird die Gefahr von Interventionen in die Lebenswelt der Betroffenen ohne vorhergehenden Tatnachweis überdeutlich. — Ähnlich verbirgt sich hinter den verschiedensten Formen des Einsatzes von "Jugendpolizisten" (vgl. Lessing/Liebel 1979; dies. 1980) eine präventive Polizeiarbeit, die vor der Begehung einer Straftat zum Zwecke der Ausforschung "kriminogener Örtlichkeiten" (Jugendheime etc.) einsetzt (zur berechtigten Kritik an dieser Art des Polizeieinsatzes im Jugendbereich: Kiebel 1979; Schwinghammer 1980; Merchel 1978; Breithaupt 1977). Eine Einbeziehung der Polizei in staatsanwaltliche Entscheidungs- und Interventionsprozesse findet sich im Schleswig-Holsteiner Modell (vgl. auch Rautenberg 1984, 292 f. zu einem Modellversuch auf Fehmarn). Mit offiziellem Erlaß des Innenministers des Landes Schleswig-Holstein v o m 0 7 . 1 2 . 1 9 8 4 (IV 410b - 3 2 . 1 1 ) wurde folgendes "Verfahren zur Beschleunigung der Bearbeitung von kleineren Straftaten Jugendlicher ('Diversion')" angeordnet: "Zur Beschleunigung der Bearbeitung von kleineren Straftaten Jugendlicher (z.B. von Ladendiebstählen, Erschleichen von Leistungen, Sachbeschädigungen, Verkehrsstraftaten), kann die Polizei dem Jugendlichen eine Ermahnung erteilen und der Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens vorschlagen, wenn — es sich um einen 'Ersttäter' handelt (Beurteilung nach dem Ergebnis der PED-Abfrage), — der Jugendliche geständig und einsichtig ist, — der Unrechtsgehalt der Tat und die angewandte kriminelle Energie gering sind, — die Folgen der Tat unbedeutend sind (z.B. geringer Schaden, Diebstahl geringwertiger Sachen), und — sie die Überzeugung gewonnen hat, daß die Ermahnung als erzieherische Maßnahme ausreicht. In geeigneten Fällen kann die Polizei zusätzlich die Wiedergutmachung des Schadens, eine Entschuldigung oder eine ähnliche Maßnahme zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens zwischen dem Täter und dem Geschädigten oder eine Teilnahme an einem Verkehrsunterricht (§ 48 StVO) anregen bzw. vermitteln. Die Erziehungsberechtigten sind hiervon zu unterrichten. Die Polizei prüft, ob und inwieweit eine angeregte oder vermittelte Maßnahme durchgeführt wurde. Hat die Polizei hiernach die Überzeugung gewonnen, daß die Ermahnung als erzieherische Maßnahme ausreicht, schlägt sie der Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens vor. Der Jugendliche und die Erziehungsberechtigten sind über den Verfahrensablauf zu unterrichten." Mit Erlaß vom 01.07.1986 wurde die Befugnis zur Einleitung von Wiedergutmachungsleistungen usw. von der vorherigen Zustimmung der Staatsanwaltschaft und Erziehungsberechtigten abhängig gemacht. Bereits der Wortlaut des Erlasses verdeutlicht, daß der Polizei beschränkt auf den Bagatell- und Ersttäterbereich eine umfassende Kompetenz zugewiesen wurde, die faktisch nur noch bedingt durch die Staatsanwaltschaft kontrollierbar ist. Staatsanwaltschaft bleibt Entscheidungsinstanz, unabdingbare

Voraussetzung.

Die

eine angesichts der Gesetzeslage

Die Entscheidung

wird aber für den

genannten

Das Bielefelder Informationsmodell

349

Bereich verstärkt zum formalen Akt, ähnlich einem Zustimmungserfordernis ohne vorhergehende Sachprüfung. Dabei erstreckt sich der Aufgabenbereich der Polizei auf die Anregung bzw. Vermittlung von Sanktionsäquivalenten, also auf klassische Formen der Übelszufügung, ohne daß eine ausreichende Überwachung durch die Staatsanwaltschaft — vor allem auch im Hinblick auf den Tatnachweis (Unschuldsvermutung) — gewährleistet erscheint. Rechtsstaatlich bedenklich ist nicht zuletzt der ministeriell eingeräumte Spielraum im Umgang mit eindeutig bagatellarischen Normverstößen, der neben einer bloßen Ermahnung Schadenswiedergutmachungsauflagen und Weisungen zur Teilnahme am Verkehrsunterricht erlaubt. Hier wird qua Erlaß die Art der Reaktion ausschließlich an der erzieherischen Perspektive des § 45 ausgerichtet, ohne dem geringfügigen Anlaß der Intervention entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Diversion — insbesondere auch Polizei-Diversion — trotz wohlgemeinter Intentionen in der Gefahr steht, fundamentale Verfassungsgarantien aufzuweichen, ohne einen wirklichen Beitrag zu einer untergesetzlichen 'Entkriminalisierung' zu leisten. Das zeigt das Schleswig-Holsteiner Polizeiprojekt deutlich. Der Bielefelder Modellversuch muß — trotz deutlicher Abweichungen von bisherigen Diversionskonzepten - an den Erkenntnissen über die Gefahren und Grenzen von Diversion gemessen werden.

2

Das Bielefelder Informationsmodell

2.1

Innovationsinteresse von Staatsanwaltschaft und Polizei

Das Interesse der Bielefelder Staatsanwaltschaft und Polizei an der Durchführung eines Modellversuchs zur Verbesserung der staatsanwaltlichen Informationslage läßt sich zunächst einmal als Interesse an einer zunehmenden Aktivierung untergesetzlicher 'Entkriminalisierungs'-Potentiale beschreiben (Abschnitt 2.1.1.1, 2.1.2.1). Diese für Staatsanwaltschaft und Polizei ganz allgemein geltende Interessenlage kann anhand der Diskussion über den Modellversuch und einzelner Stellungnahmen von beteiligten Instanzenvertretern weiter konkretisiert werden (Abschnitt 2.1.1.2, 2.1.2.2).

2.1.1

Staatsanwaltschaft

2.1.1.1 Der Gesetzgeber hat den Instanzen strafrechtlicher Sozialkontrolle die Kompetenz eröffnet, unter unbestimmt gehaltenen Voraussetzungen darüber zu

350

Polizei und Diversion

entscheiden, ob das Verfahren gegen einen Beschuldigten weitergeführt werden soll oder nicht. Der politische Entscheidungsprozeß muß in diesem Zusammenhang als nicht abgeschlossen gelten (vgl. Hassemer/Steinert/Treiber 1978, 25; Voß 1989b, 317 ff.). In weitem Umfang hat sich der Gesetzgeber damit der Pflicht entzogen, Standpunkt in dieser kriminalpolitischen Frage zu beziehen (Baumann 1972, 275). Hassemer/Steinert/Treiber beschreiben die Wirksamkeit von Gesetzen als abhängig von der Erfolgskontrolle, d.h. der "Frage, inwieweit die mit dem Gesetz intendierten Ziele auch tatsächlich verwirklicht werden bzw. inwieweit der durch das Gesetz bereitgestellte Maßnahmenkatalog zur Zielverwirklichung geeignet ist", sowie von der Implemenentierung eines Gesetzes, d.h. der Frage, "wieweit gesetzgeberische Intentionen in der Phase der Durchführung tatsächlich realisiert werden, wieweit dabei unerwartete Zielverschiebungen eintreten oder aber schlichte Nichterfüllung des Durchführungsstabes letztlich das Resultat des Politikprozesses bestimmt" (1978, 20, 25). Die Zielbestimmungen von Diversion sind einerseits täter- und andererseits instanzenbezogen. Soweit es die straftäterbezogenen Erwartungen (Verbesserung der Legalbewährung, Vermeidung von Stigmatisierung) betrifft, kann angesichts deutlicher Probleme der Meßbarkeit spezialpräventiver Wirkungen kein sichtbares Ausbleiben des Erfolgs eintreten. Die instanzenbezogenen Interessen an Diversion lassen sich angesichts der Unbestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen und damit einhergehenden Entscheidungsspielräumen unproblematisch realisieren, zumal die Entscheider es selber in der Hand haben, ihre Arbeitsbelastung flexibel zu steuern. Flexibilität läßt sich in zweierlei Hinsicht feststellen: Umfang (Fallbelastung) und Inhalte (Konzentration der Tätigkeit auf bestimmte Bereiche der Kriminalität, vgl. Heinz/Spieß 1983, 904) können den faktischen Arbeitsverhältnissen angepaßt werden (vgl. Voß 1989a, 11 m.w.N. zum Ziel der Umverteilung der Ressourcen). Diversion eröffnet über den Tätigkeitsbereich des einzelnen Entscheiders hinausgehend für größere Einheiten (Staatsanwaltschaft, Generalstaatsanwaltschaft, Land) die Möglichkeit einer flexiblen Steuerung des strafjustitiellen "Inputs" abhängig von der jeweiligen Haushaltslage (vgl. Albrecht 1986, 68 ff.; Backes 1986, 317 ff.; Kunz 1984a, 44 f.). Angesichts der derzeitigen Politik leerer Kassen kann Diversion als Instrument der Lösung justizinterner Kapazitätsprobleme (Kerner 1983, 2, 4) genutzt werden. Eine Überbelastung des Kriminaljustizsystems kann an der Schnittstelle "Staatsanwaltschaft" ebenso aufgefangen werden (vgl. Heinz/Spieß ebd.), wie seine Auslastung bei sinkenden Tatverdächtigenzahlen ermöglicht werden kann. Die genannten Bedingungen gewährleisten den Erfolg sowie die Implementation des diversiven Rechtsprogramms und damit dessen Wirksamkeit. Rechtsanwendungs-

Das Bielefelder Informationsmodell

351

gleichheit wird nicht durch eine politische Entscheidung des Gesetzgebers, sondern — quasi stellvertretend — durch untergesetzliche Entscheidungsprogramme der Fach- und Dienstaufsicht sicherzustellen versucht (zum Weisungsrecht: Krumsiek 1986, 17 ff.; Geißel 1986, 9; vgl. Backes 1986, 319 f., 323), die gleichzeitig der Steuerung finanzieller Ressourcen dienen. Können spezialpräventive Zielvorstellungen und administrative Interessen an einer flexiblen, haushaltsgerechten Steuerung der Organisation staatsanwaltlicher (und richterlicher) Tätigkeit unter der Bedingung einer Expansion informeller Erledigungen nebeneinander bestehen, so führt diese Doppelfunktion zu einer weitgehenden Akzeptanz der "scheinbaren Entkriminalisierung" (zu diesem Begriff Naucke 1984, 203). Die Wahrnehmung von Diversionskompetenz durch die Staatsanwaltschaft ist aber nicht unumstritten: -

Der Staatsanwalt entscheide - gemessen an den Anforderungen des Jugendgerichtsgesetzes - auf der Grundlage einer unzureichenden Informationsbasis. — Der Staatsanwalt nehme richterähnliche Funktionen wahr, ohne — wie ein Richter — weisungsunabhängig zu sein und seiner Entscheidung den Eindruck eines unmittelbaren Kontakts in der Hauptverhandlung zugrundelegen zu können. — Der Staatsanwalt orientiere seine Entscheidung an formalen und pauschalen Maßstäben. Die vom Gesetz gebotene umfassende Abwägung der besonderen Umstände des Einzelfalls (vgl. Kunz 1984, 101; Rieß 1981, 5) finde nicht statt usw. Auf der einen Seite steht somit der Staatsanwaltschaft ein Norminstrumentarium zur Verfügung, das sowohl spezialpräventiven als auch administrativen Interessen genügt. Auf der anderen Seite wird befürchtet, daß sie diese Befugnisse nicht sachgerecht und rechtsstaatskonform ausübt. 2.1.1.2 Das Bielefelder Informationsmodell setzt aus der Sicht der Staatsanwaltschaft an diesen Eckpunkten eines — trotz kritischer Stimmen — breiten Konsenses über den Nutzen von Verfahrenseinstellungen und den Umsetzungsproblemen bei der staatsanwaltlichen Erledigungspraxis an. Auf der Grundlage der gesetzlich fixierten Aufgabenzuweisungen an Staatsanwaltschaft und Polizei — insbesondere also unter Wahrung des staatsanwaltlichen Entscheidungsmonopols - wird der Versuch unternommen, die oben genannten Defizite durch eine Verbesserung der staatsanwaltlichen Informationslage (vgl. 2. Buch, 2. Kapitel) auszuräumen. Polizeiliche Ermittlungen zu den nach §§ 45 JGG, 153, 153a StPO relevanten Sachverhalten sollen — kombiniert mit einem polizeilichen Vorschlag zur Verfahrenserledigung — die sachgerechte Entscheidung des Jugendstaatsan-

352

Polizei und Diversion

waits im Einzelfall, wenn auch weiterhin nach Aktenlage, ermöglichen. Die Initiatoren des Modellversuchs aus Staatsanwaltschaft und Polizei erwarten sich davon, daß der Erkenntniszugewinn keine erhöhten Anklagequoten, sondern einen Zuwachs an Verfahrenseinstellungen bewirkt. Aus der Sicht der beteiligten Behörden (Staatsanwaltschaft, Generalstaatsanwaltschaft, Justizministerium) kann das Informationsmodell die Funktion einer Sicherung des Status quo staatsanwaltlicher Aufgabenbereiche übernehmen: zum einen gegen einen etwaigen Kompetenzverlust an die Instanzen "Polizei" oder "Gericht", zum anderen gegen einen Entzug flexibler Steuerungsinstrumente durch eine gesetzliche Entkriminalisierung von Teilbereichen des Strafrechts oder durch eine gesetzliche Änderung/Aufhebung der Diversionsvorschriften. Die Frage, inwieweit Eigeninteressen bei der Bewältigung von Arbeitsüberlast oder auch spezialpräventive Orientierungen handlungsleitend für die Implementation des Bielefelder Informationsmodells waren, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Der Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Hamm, zuständig für die Bielefelder Staatsanwaltschaft, hat die Gründe für eine zunehmende Anwendung von Opportunitätsvorschriften dargelegt. Die Argumentationsstränge "Spezialprävention" und "behördeninterne Arbeitseffizienz" werden in einem Atemzug genannt. Zweckmäßigkeit und kriminalpolitische Angemessenheit werden jedenfalls nicht als konträre Zieldefinitionen beurteilt: "Die Gründe sind vielfaltig, lassen sich meines Erachtens aber auf zwei Hauptströmungen zurückführen: Die Schere zwischen Aufgabenentwicklung und Personalbestand der Justiz hat sich in den letzten Jahren drastisch geöffnet, so daß Möglichkeiten der Entlastung gefunden werden mußten. Ansatzpunkte ergaben sich auch im Bereich der Vorschriften über das Opportunitätsprinzip. Sie stellen sozusagen eine innere Entlastungsreserve des Strafprozeßrechts zur Verfügung, denn sie geben die Möglichkeit zu beschleunigter und vereinfachter Verfahrenserledigung ... Die Entlastungswirkung darf vielmehr nur dahin gehen, daß die Arbeitskraft des Staatsanwalts im Bereich der unteren und vielleicht der mittleren Kriminalität teilweise freigesetzt wird, damit ganz besonders sozialschädliche Formen der Kriminalität noch wirksamer bekämpft werden können ... Ob hier das Sein das Bewußtsein bestimmt oder das Bewußtsein das Sein, ist eine schwer zu entscheidende Frage, jedenfalls aber hat die vermehrte Anwendung des Opportunitätsprinzips im Strafverfahren neben der Entlastung auch eine kriminalpolitische Dimension. Auf der Grundlage gewandelter Anschauungen über den Zweck des Strafrechts erhebt sich in der Tat die Frage, ob es für die Zwecke des Rechtsgüterschutzes in jedem Fall der Strafe im technischen Sinne bedarf oder ob nicht doch differenziertere Steuerungsinstrumente für gesellschaftliches Fehlverhalten bereitgehalten werden müssen." (Geißel 1986, 8).

Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen knüpft an die begrenzten Mittel und Kräfte der Strafverfolgungsbehörden an und sieht in den §§ 153 ff. StPO die legale Möglichkeit, die derzeitige Belastungssituation der Staatsanwaltschaften und Gerichte durch eine Konzentration der Kräfte zu entschärfen. Der Vermutung, die Staatsanwaltschaft werde mit der Bagatellkriminalität im Bereich der Eigentums- und Vermögensschutzdelikte nicht mehr fertig, hält er entgegen:

Das Bielefelder Informationsmodell

353

"Es geht vielmehr um die Frage, ob und wie die Staatsanwaltschaften mit der Kriminalität in ihrer ganzen Bandbreite fertig werden. Sie würden sie nicht in den Griff bekommen, wenn das Legalitätsprinzip der allein geltende Verfahrensgrundsatz wäre. Sie haben sie aber im Griff, wenn und solange sie dem vom Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehenen Opportunitätsprinzip folgen. Dies ist auch deshalb geboten, weil dadurch zugleich dem kriminalpolitisch wichtigen Anliegen einer Entkriminalisierung im Bagatellbereich Rechnung getragen werden kann. Die hier gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Von ihnen muß in erheblich größerem Umfang als bisher Gebrauch gemacht werden. Dies ist nötig, damit die vorhandenen Kräfte in stärkerem Umfange für die Bekämpfung der mittleren, schwereren und schweren Kriminalität freigesetzt werden können." (Krumsiek 1986, 15).

Im Hinblick auf das Bielefelder Modell kann davon ausgegangen werden, daß es aus der Sicht der Staatsanwaltschaft dazu beitragen soll, den Kritikpunkten an einem flexibel handhabbaren Steuerungsinstrument (§ 45) zu begegnen. Inwieweit spezialpräventive Orientierungen darüber hinaus als handlungsleitend oder lediglich entscheidungslegitimierend herangezogen werden, kann nicht abschließend beurteilt werden.

2.1.2

Polizei

2.1.2.1 Einen ersten Eindruck über mögliche Interessenlagen der Polizei bei der Einführung eines Modellversuchs, der sie stärker als bisher in staatsanwaltliche Entscheidungsprozesse einbezieht, vermag hier eine Gegenüberstellung der Pro- und Kontra-Argumente in einer Diskussion mit Polizeibeamten über polizeiliche Diversion zu vermitteln (Albrecht 1983). Pro (Polizeibeamte): — Auflockerung der überwiegend an formaljuristischen Kriterien ausgerichteten polizeilichen Ausbildung und Praxis; — polizeiliche Nähe zum Sachverhalt; — Aufwertung des Ansehens der Polizei; — Verbesserung der Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung; — Entlastung des Kriminaljustizsystems durch Abstufung der Reaktionen auf Delinquenz; — Vermeidung von unnötigem Ermittlungsaufwand bei sowieso einzustellenden Verfahren; — Verhinderung unnötiger Stigmatisierung im Bereich der Bagatelldelinquenz usw. (ebd., 112 ff.).

Feltes bestätigt die unter "Pro" wiedergegebenen Stellungnahmen, wenn er für den Bereich der Jugendkriminalität quasi als Resümee eigener Befragungen von Polizeibeamten festhält, daß diese sich einen größeren Spielraum im Umgang mit der Jugendkriminalität wünschen (Feltes 1984, 140 f.).

354

Polizei und Diversion

Kontra (Polizeibeamte): — Sicherung eines neutralen und objektiven Vorgehens durch die bisherige Aufgabenverteilung zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft; — Gefahr von nicht gerechten Entscheidungen wegen der durch die polizeiliche Nähe zum Sachverhalt geschaffenen emotionalen Beteiligung; — Verdacht der Willkür; — Gefahr der Benachteiligung bestimmter sozialer Schichten und des Korruptionseinflusses; — generalpräventive Funktion des Legalitätsprinzips; — Zweifel an der besseren präventiven Wirkung von Diversion; — bloße Verlagerung der Problematik von der Justiz auf die Polizei; — gesteigerte Arbeitsbelastung der Polizei; — Verschlechterung des polizeilichen Ansehens in der Bevölkerung usw. (ebd., 106 ff.).

2.1.2.2 Die Erwartungen der Bielefelder Polizei an das Informationsmodell lassen sich zunächst ex negativo bestimmen. Prävention hat in den letzten Jahren eine Leitbildfunktion für die Polizei übernommen. Allerdings handelt es sich bei der Umsetzung des Präventionsgedankens überwiegend um eine Vorverlagerung polizeilicher Kontrollen sowie eine Kontrollintensivierung durch Erhöhung personeller und/oder sachlicher Ressourcen (Optimierung des computergesteuerten Datenmaterials etc.; vgl. allgemein Grimm 1986). Das Bielefelder Informationsmodell kann weder als Begründung für eine Aufstockung polizeilicher Ressourcen noch für eine Reduzierung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit bei einstellungsfahigen Bagatellen (keine Durchermittlung; vgl. Schirrmacher 1986, 192) angeführt werden, da eine JGG-spezifische Konkretisierung der Ermittlungstätigkeit vorgesehen ist, die für sich betrachtet keinen erweiterten Personalbestand erfordert. Gründe für eine Bereitschaft der Polizei zur Teilnahme am Bielefelder Modellversuch dürften u.a. die folgenden sein: Die Polizei ist schon seit Jahren — gemessen an ihrer eigenständigen Ermittlungstätigkeit und ihrem Bewußtsein — der Funktionsbeschreibung "Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft" entwachsen. Damit einher geht ein wachsendes Interesse am Ausgang des Verfahrens für den Beschuldigten. Der Gedanke, für die Staatsanwaltschaft die Arbeit zu machen, ohne an der Verfahrensentscheidung zu partizipieren, mag ein mitursächlicher Faktor sein. Ein weiterer Faktor liegt in der Erwartung begründet, daß die polizeiliche Tätigkeit im Bielefelder Informationsmodell eine Erweiterung der sozialen Funktionsbestimmung und der Handlungsorientierung von Polizei darstellen könne und geeignet sei, das Polizeiselbstbild und die Imageeinschätzung seitens der Bevölkerung zu beeinflussen. Auch bei der Polizei läßt sich somit eine Vermischung spezialpräventiver Vorstellungen mit Eigeninteressen feststellen, ohne daß eine Gewichtung beider nach ihrer Bedeutung möglich ist.

Das Bielefelder Informationsmodell

2.2 2.2.1

355

Theoretische Grundannahmen und Konzeption Strategie der Non-intervention und Normalisierung

Das Bielefelder Informationsmodell verfolgt nach der Konzeption der beteiligten Instanzen eine Strategie der Normalisierung, indem es zum einen auf ein Durchlaufen verschiedener Instanzen der Sozialkontrolle verzichtet, zum anderen dem Geschehen nach der Tat (Tatentdeckung, Reaktionen des sozialen Umfeldes, Schadens Wiedergutmachung, Einsicht in das Unrecht der Tat, polizeiliche Vernehmung) seinen im Gesetz angelegten Stellenwert als einstellungsbegründenden Faktor zukommen läßt. Die spezialpräventive Wirkung vorgerichtlicher Reaktionen von informellen wie formellen Kontrollinstanzen wird grundsätzlich akzeptiert, die Kenntnis über ihr Vorliegen soll den Jugendstaatsanwälten durch die Polizei vermittelt werden. Das Wissen um bereits vorliegende Reaktionen mit normverdeutlichendem Charakter macht die Verhängung weiterer — 'erzieherisch' begründeter — Sanktionen weitgehend überflüssig. Das Bielefelder Informationsmodell ist somit tendenziell auf Non-intervention ausgerichtet. Ausgangspunkt ist dabei, daß die Einordnung als einstellungsbedürftige Bagatelle schon immer — also auch auf der Grundlage einer unzureichenden Informationslage — möglich war. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbietet hier sogar, neben Tatschwere und Vorbelastung des Beschuldigten weitere persönliche Kriterien zur Entscheidung heranzuziehen, und setzt damit dem Erziehungsprinzip deutliche Grenzen. Verfahrenseinstellungen nach § 45 sollen vielmehr darüber hinausgehend auf Bereiche mittelschwerer Kriminalität erstreckt werden. Basis dieser Entscheidungen soll ein polizeilich vermitteltes Wissen des Staatsanwalts über spezialpräventive Belange sein. Das Informationsmodell knüpft somit gleichermaßen an die unterschiedlichen Leitprinzipien des Jugendgerichtsgesetzes an. Die Ausgestaltung des Informationsinstruments soll nach Inhalt und Form sowohl spezialpräventive wie am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Vorstellungen der beteiligten Instanzen umsetzen.

2.2.2

Die Wahl der Ermittlungsinstanz

Ausgehend von dem Ansatz, die staatsanwaltliche Verfahrenseinstellungspraxis durch gezielte Informationsvermittlung auf Bereiche mittelschwerer Kriminalität auszuweiten, stellt sich die Frage nach der adäquaten Ermittlungsinstanz. Vor dem Hintergrund der §§ 43 Abs. 1 S. 4 i.V.m. 38 Abs. 3, die der JGH die Aufgaben einer Ermittlungshilfe bei der Persönlichkeitserforschung und somit eine "polizeiähnliche Funktion" (Bottke 1980, 19) zuweisen, bedarf die Einbeziehung der Polizei in staatsanwaltliche Diversion weiterer Erörterung.

356

2.2.2.1

Polizei und Diversion

Diskussionsstand zu polizeilichen Ermittlungsaufgaben im Jugendstrafverfahren

Die Literatur nimmt bei der Zuordnung der polizeilichen Ermittlungsaufgaben in Jugendstrafsachen eine Zweiteilung vor: Die Polizei liefere durch die Tataufklärung die Voraussetzungen für einen Schuldspruch, während die JGH durch die Persönlichkeitserforschung die Grundlage für die Wahl der adäquaten Reaktion schaffe (so Brunner 1986, § 38 Rn. 11; Eisenberg 1988, § 43 Rn. 10, 16a). Danach scheint die Polizei von der Ermittlung der nach § 45 relevanten Informationen ausgeschlossen. Diese Schlußfolgerung wird allerdings aus der Trennung beider Aufgabenbereiche von den meisten Autoren nicht gezogen. Brunner sieht in Bagatellfällen ("Straßenverkehr, sonst Vorsicht!") polizeiliche Ermittlungen als ausreichend an und will in einfach gelagerten Fällen die JGH heranziehen (1986, § 43 Rn. 9). Seiner Ansicht nach kann die Polizei wertvolle Beiträge zur Persönlichkeitserforschung durch die JGH leisten (ebd., § 43 Rn. 1). "Man sollte gerade deshalb der Polizei auch in Jugendsachen eine sich gerade anbietende rasche Persönlichkeitsermittlung nicht versagen, wenn auch die von ihr frühzeitig informierte und dafür zuständige JGH die Persönlichkeit des Jugendlichen und sein Umfeld vordringlich aufklärt." (ebd., § 45 Rn. 9c).

Schaffstein/Beulke heben hervor, daß die Tätigkeit der JGH durch weitere Nachforschungen ergänzt werden kann, für die die Polizei zur Verfügung stehe. "Besonders von einer spezialisierten und fachlich geschulten Kriminalpolizei ...., kann eine wertvolle Mitwirkung gerade auch bei der Persönlichkeitsforschung erwartet werden." (1987, 159). Auf dem 19. Deutschen Jugendgerichtstag wurden als Thesen des Arbeitskreises IV festgehalten: es solle geprüft werden, ob sich aus dem polizeilichen Vernehmungsprotokoll Anhaltspunkte für erzieherische Reaktionen i.S.d. § 45 Abs. 2 Nr. 1 ergäben. "Die Polizei sollte dazu angehalten werden, entsprechende Informationen vom Jugendlichen oder seinen Eltern zu erhalten" (DVJJ 1984, 230). Eisenberg sieht demgegenüber die Kompetenz eines Jugendsachbearbeiters (und nur dessen) beschränkt auf "eine jugendgemäße Vornahme der Ermittlungen zur Sache" (1988, § 43 Rn. 16a m.w.N.; vgl. auch Ostendorf 1987, § 43 Rn. 8), wenngleich er davon ausgeht, daß Hinweise zu bereits durchgeführten oder eingeleiteten erzieherischen Maßnahmen sich bereits aus dem Vernehmungsprotokoll ergeben können (ebd., § 45 Rn. 19). Eine eindeutige Stellungnahme zu den polizeilichen Ermittlungsaufgaben im Rahmen des § 45 ist der Begründung zum 1. JGGÄndG (E) (BT-Dr. 11/5829, 24) zu entnehmen: "Welche erzieherischen Maßnahmen bisher erfolgt sind, wird sich regelmäßig aus Niederschriften oder Vermerken der Polizei ergeben, die bei

Das Bielefelder

Informationsmodell

357

ihren Vernehmungen auf die persönliche und soziale Situation des Jugendlichen eingehen und insbesondere auch bereits erfolgte erzieherische Reaktionen erfassen sollte."

2.2.2.2

Normative Grundlagen polizeilicher Ermittlungstätigkeit im Rahmen des § 45 JGG

Die scheinbaren Widersprüche zwischen einer strikten Fixierung polizeilicher Aufgabenbereiche auf den Schuldnachweis und der gleichzeitig erwarteten Aussagekraft von Vernehmungsprotokollen/Vermerken über erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes etc. lösen sich bezogen auf das Bielefelder Informationsmodell auf, wenn man die 'Innovationen' des Modellversuchs und die gesetzliche Lage nach der Strafprozeßordnung näher betrachtet. Das Bielefelder Informationsmodell beinhaltet danach weder eine (Teil-)Übernahme des JGH-Auftrags "Persönlichkeitserforschung" (darauf bezieht sich aber z.B. die ablehnende Haltung von Ostendorf 1987, § 43 Rn. 8) noch eine Verlagerung der staatsanwaltlichen Entscheidungskompetenz auf die Polizei (bloßes Vorschlagsrecht ohne rechtliche Bindung der Staatsanwaltschaft). Die Erforschungspflicht der Polizei nach den §§ 2 JGG, 163 StPO entspricht der der Staatsanwaltschaft nach § 160 StPO. § 160 Abs. 2 StPO gilt demgemäß auch für die Polizei, wonach sie be- und entlastende Umstände zu ermitteln und Beweise zu erheben hat, "deren Verlust zu besorgen ist". "Die (grobe, sich in diesem Verfahrensstadium aufdrängende) Persönlichkeitserforschung und sonstige Klärung der Tatsacfaengrundlagen für die Rechtsfolgenentscheidung (§ 160 III S. 1) ist - unbeschadet der Pflicht nach II — ebenfalls Aufgabe der Polizei, jedoch nur so weit, wie sie unzweifelhaft notwendig und zulässig ist" (Kleinknecht/Meyer 1989, § 163 Rn. 21; vgl. auch Karlsruher Kommentar-Müller 1987, § 163 Rn. 9).

Umstände, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind, ergeben sich insbesondere aus § 46 StGB. Das gilt gleichermaßen -

-

für die nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 und § 45 Abs. 1 notwendigen Abwägungsprozesse (ob eine bereits angeordnete erzieherische Maßnahme die Ahndung durch den Richter entbehrlich macht, ob eine Ahndung durch Urteil entbehrlich ist und welches Sanktionsäquivalent nach Art und Höhe aus spezialpräventiven Gründen anzuordnen ist; vgl. z.B. Brunner 1986, Einf. I Rn. 4g, Einf. II Rn. 5 ff., 13 zur limitierenden Funktion der Tatschuld), als auch für die nach § 45 Abs. 2 Nr. 2 festzustellende Wahrscheinlichkeit geringer Schuld (Karlsruher Kommentar-Schoreit 1987, § 153 Rn. 18).

358

Polizei und Diversion

Das Bielefelder Informationsmodell soll — dem Anspruch der beteiligten Instanzen nach - dazu beitragen, dieses Normprogramm im Bereich des Jugendstrafrechts, insbesondere im Hinblick auf die zentrale Hinstellungsnorm des § 45, umzusetzen. Die sich anläßlich der Tataufklärung aufdrängenden Informationsquellen sollen gezielt genutzt werden (näher hierzu unter Abschnitt 2.2.2.3). Dabei wird es zum Teil darum gehen, Beweise, deren Verlust zu besorgen ist, zu sichern (z.B. zur erzieherischen Wirkung polizeilicher Ermittlungshandlungen Tatentdeckung, Vernehmung etc. - , tatnahe Eindrücke über die subjektive Stellung des Beschuldigten zum Tatvorwurf oder über elterliche Reaktionen; spontan bekundete Bereitschaft zur Schadens Wiedergutmachung usw.). Hat die JGH zu einigen der durch das Informationsmodell erfaßten Informationen keinen Zugang (z.B. erzieherische Wirkung der Beschuldigtenvernehmung), so käme ihre frühzeitige Einschaltung für andere Fragestellungen in Betracht (z.B. erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes). Diese Vorgehensweise begegnet jedoch den bereits eingangs erwähnten Bedenken (Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Unschuldsvermutung, Gefährdung des Beschleunigungsprinzips etc.). Darüber hinaus bedeutet eine Heranziehung der JGH in diesem frühen Stadium einen unter Umständen schädlichen, weiteren Instanzenkontakt, der — erscheinen dem Jugendstaatsanwalt die von der Polizei ohne großen Aufwand ermittelten Informationen ausreichend — hätte vermieden werden können, bei erfolgten Verfahrenseinstellungen sogar aus Gründen der Verhältnismäßigkeit hätte vermieden werden müssen.

2.2.2.3

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit im Rahmen des § 45 JGG nach der Konzeption des Modellversuchs

Der Modellversuch geht davon aus, daß der Polizeibeamte im Verlauf des Ermittlungsverfahrens vielfältige Kontakte zu dem Beschuldigten und seinem sozialen Umfeld besitzt. Er befaßt sich qua Ermittlungsauftrag zwangsläufig als erster mit der Person des Beschuldigten, und zwar zu einem tatnahen Zeitpunkt, der es ihm ermöglicht, unmittelbare Informationen und Eindrücke zu sammeln (vgl. Eisenberg 1988, Einl. Rn. 13 zum weniger tatnahen Kontakt der JGH; Rautenberg 1984, 291 zum staatsanwaltlichen Eindruck bei eigenen Ermittlungsgesprächen). Der Modellversuch soll nach der Konzeption der beteiligten Instanzen nichts an der Dominanz der Perspektive von Tataufklärung und Schuldnachweis und damit an dem bisherigen Erfolgsmaßstab polizeilicher Tätigkeit ändern. Die nach § 45 relevanten Tatsachen sollen nach den Vorgaben der beteiligten Behörden bei Gelegenheit der Sachverhaltsermittlungen erfaßt werden. Kriminal- und Schutzpolizisten, die nicht ausschließlich für Jugendstrafsachen zuständig sind, sollen als

Das Bielefelder

Informationsmodell

359

quantitativ eher unbedeutenden Teilaspekt ihrer normalen Ermittlungsarbeit, unmittelbare Kenntnisse und Eindrücke festhalten und in einen Verfahrensvorschlag umsetzen. Als Informationsquellen sollen danach nur diejenigen herangezogen werden, die im konkreten Einzelfall auch der Tataufklärung dienen. Nach Ansicht von Staatsanwaltschaft und Polizei soll auf der einen Seite einer unverhältnismäßigen Ausforschung persönlicher Lebensverhältnisse vorgebeugt, auf der anderen Seite die arbeitsmäßige Mehrbelastung der Polizei in Grenzen gehalten werden. Der Verfahrensablauf läßt sich — seiner Konzeption nach — wie folgt zusammenfassen: Die Polizei ermittelt auf der Grundlage ihrer bestehenden Informationsressourcen ohne erheblichen Arbeitsaufwand zusätzliche Informationen, die vor allem präventionsrelevante Umstände i.S.d. § 45 betreffen. Diese Ermittlungen münden in einen polizeilichen Vorschlag zum Verfahrensfortgang, an den die Jugendstaatsanwaltschaft angesichts ihrer Verpflichtung zur Sachprüfung und ihres Anklagemonopols nicht gebunden ist. Erhebt die Staatsanwaltschaft — entsprechend oder entgegen dem polizeilichen Vorschlag — Anklage, so geht das Verfahren seinen normalen Gang, d.h., daß die JGH zur Erstattung eines Berichts aufgefordert wird, und ihr Wissen über den Beschuldigten in die Gerichtsverhandlung einbringen kann. Sieht die Staatsanwaltschaft die ihr von der Polizei übermittelten Informationen als nicht ausreichend für eine sachgerechte Entscheidung an, so verbleibt ihr — unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes u.a. — die Möglichkeit, die JGH zur Persönlichkeitserforschung heranzuziehen (vgl. RL Nr. 6 S. 3 zu § 45).

2.3

Anwendungsbereich

Da durch den Modellversuch die Entscheidungspraxis nach den §§ 45 JGG, 153, 153a StPO beeinflußt werden sollte, war der personenbezogene Anwendungsbereich von vornherein auf Jugendliche und Heranwachsende beschränkt. Weitere Vorgaben im Hinblick auf persönliche Merkmale, wie z.B. die Vorbelastung des Beschuldigten, wurden von den Instanzen nicht vereinbart. Für die Festlegung der Deliktsbereiche Diebstahl (§§ 242, 243, 244 StGB), Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB) und Sachbeschädigung (§§ 303, 304 StGB) waren sachliche wie organisatorische Gründe maßgeblich. Diese drei Deliktsgruppen spiegeln — quantitativ gesehen — das Gros jugendstrafrechtlicher Auffälligkeit im Bereich einfacher und mittelschwerer Kriminalität wider und können deshalb als jugendtypisch gelten. Die Deliktswahl berücksichtigt Straftaten gegen das Eigentum ebenso wie gegen die körperliche Unversehrtheit, also gegen die Person. Schwerere Delikte, wie z.B. Raub, wurden von der Staatsanwaltschaft - entgegen den Möglichkeiten des § 45 - als grundsätzlich nicht disponibel im Hinblick auf eine Verfahrenseinstellung bewertet und entsprechend dieser Vorgabe aus dem Modellversuch ausgeschlossen. Die Ausklammerung der quantitativ ebenfalls bedeutsamen Delikte im Straßenverkehr ist eher auf organisatorische Gründe zurückzuführen.

360

Polizei und Diversion

I n f o r m a ü o o s b o g e n f ü r die StA 2. Mitursachliches Tatmotiv Alkoholeinfluß • übermäßiger Eigennutz, besondere Rücksichtslosigkeit Alkoholiker • Hang zur Aggressivität Drogeneinfluß • blind vor Wut, Kopf verloren Drogenabhängigkeit • durch Provokation hingerissen Tabletteneinfluß • Rache Notlage, Hunger • Beeinflussung durch Tatbeteiligte und Sonstige Bereicherungsabsicht ohne Notlage • mangelnde geistige Reife selbst nicht erklärbar • Abenteuerlust, Mutprobe, Probierverhalten günstige Gelegenheit • Streich Langeweile • Geltungsdrang, "Angeberei" keine Erinnerung • innere Belastung, Scheidung der Eltern mitbeeinflussend: Erlaß zur Einstellung des Verfahrens innere Belastung, Familienstreitigkeiten bei einem Schaden unter 1 0 0 , - D M • innere Belastung, Familienunglück keine Angaben • innere Belastung, Versagen in Schule oder Beruf Sonstiges, und zwar 3. Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat Beschuldigter gibt mit den Taten an Beschuldigter zeigt keine Einsicht, würde es wieder tun (»lederhoiungsgefihri Beschuldigter droht Opfer, Zeugen, Mittätern Beschuldigter beruft sich auf Erlaß zur Einstellung des Verfahrens bei einem Schaden unter 100, - D M Beschuldigter zeigt glaubhaft Reue Beschuldigter zeigt unglaubhaft Reue Beschuldigter zeigt keine Reue keine Einschätzung möglich

• • • • • • • • • • • • • •

• • • • • • • •

S o n s t i g e s (z.B. in welcher Welse wird die Reue gezeigt?)

4. SchadensWiedergutmachung Schadenswiedergutmachung ist bereits erfolgt Schadenswiedergutmachung wurde angeboten, aber vom Opfer abgelehnt Schadenswiedergutmachung wurde bereits überlegt, aber noch nicht verwirklicht keine Schadenswiedergutmachung, weil keine finanzielle Möglichkeit vorhanden keine Schadenswiedergutmachung, aber u.U. Bereitschaft keine Schadenswiedergutmachung, auch keine Bereitschaft unbekannt S. Falls eine Schadens Wiedergutmachung bereits erfolgt oder geplant ist: Art der Schadenswiedergutmachung: 6. Pr-Hf-hiin|Mimaftnghrm»n/infn«TTv»1U· Sanktionen anderer Personen und Institutionen Eltern Vormund, Pfleger Verwandte Partner(in) Lehrer(in) / Schule Nachbarn Freunde, Bekannte, Clique Arbeitgeber Opfer Heimleiter Jugendamt Vormundschaftsrichter, Erz.beistand keine Sonstige, und zwar

bereits e r f o l g t

zu erwarten

• • • D • • • • • • • • •

• • • • • • • • • • • •

Art der Reaktion

• • • • • • •

Das Bielefelder Informationsmodell

361

7. Mögliche erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren Tatverdächtiger war durch die Vernehmung beeindruckt Tatverdächtiger war durch polizeiliche Vorhalte beeindruckt Beeindruckt durch erkennungsdienstlicbe Behandlung, Gewahrsam unbekannt Sonstiges, und zwar

• • • •

8 . V e r h a l l e n d e s B e s c h u l d i g t e n (z.B. Beleidigung des Beamten, trägt 2ur Tataufklärung bei)

a.) beim ersten Polizeikontakt: b.) während der Vernehmung:

9. Eigener Schaden des Beschuldigten materieller Schaden, ca.: Körperverletzungsschaden, und zwar kein Schaden unbekannt

DM • •

10. Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten keine Veranlassung begünstigend, Provokation begünstigend, Eröffnung einer Gelegenheit, Leichtsinn begünstigend, besonderer Anreiz, und zwar begünstigend, aus sonstigen Gründen, nämlich unbekannt

• • •



11. Zu erwartende Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen (Z.B. Gefährdung der Lehrstelle, Probleme In der Familie; bei Führeracheinentzug: Erreichen des Arbeitsplatzes/der Ausbildungsstätte stark erschwert):

12. Bemerkungen für den Fall des Tatnachweiaes Einstellung des Verfahrens durch Staatsanwalt o h n e Auflagen (§ 45 Abs.2 Nr.2 JGG) Einstellung des Verfahrens durch Staatsanwalt m i t Auflagen (z.B.: Arbeitsleistung, Verkehrsunterricht, Ermahnung) ( § 4 5 A b s . 2 N r . l J G G )

Einstellung des Verfahrens nach jugendrichterlicher Auflage (§ 45 Abs.l JGG) Antragsschrift / Anklage vor dem Jugendgericht Ich möchte keine Stellungnahme abgeben

• •

• • •

13. Besondere Bemerkungen:

14. Wurde die Vernehmung von einem Mitarbeiter der Universität beobachtet? ja nein

• •

362

2.4 2.4.1

Polizei und Diversion

Inhalt und Genese des

Informationsinstruments

Inhalt

Die administrativen Zielvorsteliungen sind in dem vorstehend wiedergegebenen zweiseitigen Formblatt ("Informationsbogen") umgesetzt worden, das seit dem 16.02.1987 durch offizielle Verfügung des Polizeipräsidenten im Polizeibereich Bielefeld für alle Fälle des oben genannten Anwendungsbereichs als Ermittlungsund Informationsgrundlage dient. Der Informationsbogen wird Aktenbestandteil. Die Kategorien Nr. 2-11 orientieren sich am Normprogramm des § 45 (vgl. zur rechtlichen Verortung der einzelnen Fragestellungen unter Abschnitt 4.2.3). Insbesondere spezialpräventive Erwägungen werden durch inhaltlich weit gefaßte Fragen (z.B. Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung) umfassend berücksichtigt. Der Staatsanwaltschaft kommt es bei den abgefragten Informationen vor allem auf den durch Tatsachen belegbaren Eindruck des ermittelnden Polizeibeamten an. Bei Nichterscheinen oder fehlender Aussage zur Sache sollte der Bogen unter Hinweis auf diesen Umstand so weit, wie aufgrund anderer Informationsquellen möglich, ausgefüllt werden. Die Vorschlagsmöglichkeiten der Polizeibeamten wurden an dem Entscheidungsrepertoire des Jugendstaatsanwalts nach § 45 orientiert, also unabhängig davon, daß in der staatsanwaltlichen Praxis der Vorschrift des § 45 Abs. 1 nur eine marginale Bedeutung zukommt. Da das Konkurrenzverhältnis zwischen § 45 und den §§ 153, 153a StPO streitig ist (vgl. Bohnert 1980; Nothacker 1982, 60 ff.), wurden die Reaktionsalternativen der Strafprozeßordnung ausgeklammert. Anklageschrift und Antragsschrift zum vereinfachten Verfahren sind zusammengefaßt. Anders als bei der grundsätzlichen Verpflichtung zur Ermittlung der genannten Sachverhalte sollte dem Polizeibeamten im Hinblick auf das Vorschlagsrecht die Möglichkeit eröffnet werden, sich einer Stellungnahme zu entziehen, um dadurch unter Umständen auch eine Ablehnung dieser Befugnis auszudrücken. Diese Möglichkeit haben die Polizeibeamten in 14,6 % (einschließlich fehlender Angaben) der insgesamt 1.056 Fälle genutzt. Ausschlaggebend dürften u.a. das Fehlen des Tatnachweises und/oder das Fehlen der Beurteilungsgrundlage (keine Vernehmung, keine Aussage, kein Geständnis) gewesen sein.

2.4.2

Genese

Der in der alltäglichen Praxis der jugendstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingesetzte Informationsbogen ist ein Produkt zahlreicher Besprechungen zwischen den Instanzen, an denen auch die Generalstaatsanwaltschaft Hamm sowie die Landesministerien der Justiz und des Innern beteiligt waren. Die Entwicklung des Bogens durch die am Modell beteiligten Instanzen hat die Verwendung von Begriffen zur Folge, die durch den Kontext polizeilicher und staatsanwaltlicher Tätigkeit geprägt sind und deshalb von diesen Institutionen als adäquat angesehen wurden (z.B. "Hang zur Aggressivität"). Gemessen an sozialwissenschaftlichen Standards lassen sie des öfteren die notwendige Trennschärfe und eine eindeutige Operationalisierung vermissen. Es handelt sich um Kategorien der Praxis, welche teilweise von Alltagstheorien geprägt sind. Während über die abzufragenden Themenbereiche eine schnelle Einigung erzielt wurde, wurde die Diskussion über die konkrete inhaltliche Ausgestaltung kontrovers geführt. Als Beispiel soll hier nur

Das Bielefelder Informationsinodell

363

die Frage des Tatmotivs angeführt werden. Im Ergebnis wurde nach mehrfachen Änderungen eine Liste von 26 Motiven in den Bogen aufgenommen. An einigen Stellen des Bogens spiegeln sich auch unterschiedliche Interessenwahrnehmungen von Staatsanwaltschaft und Polizei wider. Insbesondere die Formulierung "es wird empfohlen, in Erwägung zu ziehen" wurde bis zu ihrer endgültigen Fassung mehrfach geändert, um das Entscheidungsmonopol der Staatsanwaltschaft eindeutig hervorzuheben. Die Überlegung, den Polizeibeamten per Vordruck die Befugnis einzuräumen, eine konkrete Auflage vorzuschlagen, wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt. Ein derartiger Vorschlag kann deshalb nach dem geltenden Modell z.B. als "besondere Bemerkung" festgehalten werden.

2.5

Form des Informationsinstruments

Die Wahl einer standardisierten Form für den Informationsbogen diente dazu, die Aufmerksamkeit und dementsprechend die Ermittlungstätigkeit der Polizeibeamten auf präventionsrelevante Fragestellungen zu richten. Bei seiner Entwicklung waren sich die Behörden einig, daß eine ziellose, unverhältnismäßige Erforschung der persönlichen Verhältnisse des Jugendlichen zu Lasten einer vielleicht ausführlicheren Informationsbasis vermieden werden sollte. Die Nutzung vorhandener Informationen ohne umfangreiche Zusatzermittlungen wäre zudem durch das Erfordernis ausführlicher schriftlicher Fixierung der Ergebnisse konterkariert worden, zumal eine Erhöhung personeller Ressourcen ausgeschlossen ist. Um auf der anderen Seite nicht einen standardisierten Maßstab durch einen anderen zu ersetzen, sondern eine einzelfallorientierte Entscheidung zu ermöglichen, können bei allen Fragestellungen nicht in die vorgegebenen Kategorien passende Besonderheiten unter "Sonstiges" in knappen Worten festgehalten werden (außerdem Nr. 13: "Besondere Bemerkungen" für Angaben z.B. zu den persönlichen Verhaltnissen des Beschuldigten oder für weitere Begründungen der polizeilichen Entscheidungsempfehlung).

2.6 2.6.1

Die Kooperationspartner Bielefelder Jugendstaatsanwaltschaft

Während der Modellphase waren überwiegend fünf Jugendstaatsanwälte und eine Jugendstaatsanwältin mit der Erledigung von Jugendstrafsachen befaßt. Die Zuweisung der Tätigkeitsfelder an die einzelnen Entscheider erfolgt über einen Geschäftsverteilungsplan, der Buchstabendezernate vorsieht.

364

2.6.2 2.6.2.1

Polizei und Diversion

Bielefelder Polizei Grundsätze

Für den diesem Buch zugrundeliegenden Untersuchungszeitraum lassen sich die folgenden Organisationsbedingungen bei der Polizei festhalten: Die Bielefelder Polizei weist bei einer Gesamtbetrachtung der Zuständigkeitsbereiche keine deliktsunabhängige Aufgabenzuweisung nach Personengruppen — hier Jugendliche und Heranwachsende — auf. Zwar gibt es bei der Kriminalpolizei ein 2. Kommissariat, das neben Vermißtensachen, Betäubungsmittelkriminalität, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung auch Angelegenheiten des Jugendschutzes bearbeitet. In diesem Zusammenhang werden Anhörungen von Kindern und — bei jugendlichen oder heranwachsenden Tatbeteiligten — deren Vernehmungen durchgeführt. Das 2. Kommissariat stellt jedoch nicht ein spezifisches Jugendkommissariat dar, wie es z.B. in Baden-Württemberg für die Straftaten von Jugendlichen besteht. Es läßt sich für Bielefeld im Gegensatz dazu festhalten, daß die weit überwiegende Zahl jugendstrafrechtlicher Auffälligkeiten in anderen, deliktsorientierten Kommissariaten oder bei der Schutzpolizei zur Ermittlung anfällt. Insgesamt sind mit dem Bielefelder Modellversuch — läßt man eine immer vorhandene Personalfluktuation außer Betracht — über 100 Polizeibeamte unterschiedlichen Alters, Dienstgrades etc. befaßt, die nicht als spezielle Jugendsachbearbeiter ausgebildet sind.

2.6.2.2

Schutzpolizei

Der Polizeibereich Bielefeld ist in drei Schutzbereiche gegliedert, die insgesamt 15 Dienststellen aufweisen. Diese Dienststellen sind über die ganze Stadt verteilt. Innerhalb der Dienststellen sind Bezirksermittlungsdienstbeamte (BEDs) beschäftigt, die wiederum für einen bestimmten örtlichen Bereich zuständig sind. Als B E D s werden regelmäßig ältere, erfahrene Schutzpolizisten eingesetzt. Ebenfalls zur Schutzpolizei gehört die sogenannte Ladendiebstahlsstreife, die im Schutzbereich Ost angesiedelt ist. Einige Beamte der Schutzpolizei sind dafür abgestellt, bei Meldung eines Ladendiebstahls eine Anzeige am Tatort aufzunehmen. Sie erscheinen in Zivil, befragen den Beschuldigten kurz, nehmen gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen wie z.B. eine körperliche Durchsuchung vor und führen minderjährige Beschuldigte den Erziehungsberechtigten zu. Im Regelfall schließt sich an diesen Erstzugriff eine verantwortliche Vernehmung durch die BEDs nach Ladung oder — z.B. bei Bandendiebstahl oder reisenden Tätern — durch die Kriminalpolizei an. In selteneren Fällen führen die Beamten der Ladendiebstahlsstreife selber eine ausführliche Beschuldigtenvernehmung durch.

Anlage und Methoden der Untersuchung

2.6.2.3

365

Kriminalpolizei

Die Kriminalpolizei ist nach Sachgebieten gegliedert. Diebstähle und Sachbeschädigungen der vom Modellversuch erfaßten Art wurden während der Evaluationsphase schwerpunktmäßig vom 3. und 4. Kommissariat bearbeitet, Körperverletzungen vom 1. Kommissariat, wenngleich bei diesem Delikt überwiegend die Schutzpolizei tätig wird. Die Aufgabenverteilung innerhalb der Kommissariate orientiert sich nicht nach örtlichen Gegebenheiten (wenige Ausnahmen), sondern wiederum nach Sachgesichtspunkten. Ausgehend von dem Konzept des Modellversuchs, daß der tatnahe unmittelbare Eindruck des Polizeibeamten in die Ermittlungen und den Polizeivorschlag einfließen soll, wurde die sogenannte Kriminalwache ebenfalls in das Informationsmodell einbezogen. Die Kriminalwache ist nachts, am Wochenende sowie an Feiertagen ständig mit drei Kriminalbeamten besetzt, die jeden Tag — auch in der Zusammensetzung — wechseln. Hier werden alle unaufschiebbaren Maßnahmen der Strafverfolgung durchgeführt, also gegebenenfalls auch Beschuldigten Vernehmungen, Durchsuchungen, Zeugenbefragungen etc. Auf diese Weise kommen Polizeibeamte mit dem Modell in Berührung, die aufgrund ihrer normalen Sachbearbeitung von dem Modellversuch ausgeschlossen sind (z.B. Fahndung; Betrugskommissariat).

2.7

Implementation

Aufgrund der geringen Anzahl der Jugendstaatsanwälte waren diese bereits an der Planung sowie konkreten Ausgestaltung des Informationsmodells beteiligt. Den vom Modellversuch betroffenen Polizeibeamten wurden in einer Vortragsveranstaltung - unter Mitwirkung der Jugendstaatsanwaltschaft — die Bedeutung des § 45, die Ziele sowie die Inhalte des Modellversuchs nähergebracht. Dieser Vortrag diente gleichzeitig einer möglichst umfassenden Darstellung der geltenden Gesetzeslage. Neben einem Merkblatt zum Informationsbogen wurde in polizeiinternen Dienstbesprechungen die Umsetzung des Modellversuchs erörtert.

3 3.1

Anlage und Methoden der Untersuchung Anlage der Untersuchung

Die Anlage der Untersuchung orientiert sich an den zentralen Problemstellungen der Modellevaluation: — Umfang und Inhalte der polizeilichen Ermittlungstätigkeit sollten für die Zeit vor und nach Einführung des Informationsmodells festgehalten werden.

366

Polizei und Diversion

— Ein weiterer Forschungsschwerpunkt lag auf der Analyse des Umfangs und der Determinanten polizeilicher Vorschlagstätigkeit im Hinblick auf die Entscheidungsalternativen des § 45 versus Anklage/Antragsschrift. - Sowohl die polizeiliche Ermittlungs- als auch Vorschlagstätigkeit sollten im Lichte verfassungsrechtlicher — insbesondere rechtsstaatlicher — Garantien untersucht werden. Vor Beginn des Modellversuchs wurden Beobachtungen und Aktenerhebungen durchgeführt: 1. Beobachtung polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen 06.08.86 bis 15.02.87 (n = 136); 2. Aktenerhebung zu den beobachteten Fällen (n = 126).

in der

Zeit

vom

Nach der Einführung des Informationsmodells lassen sich drei Erhebungsschritte (ebenfalls Beobachtungen und Aktenerhebungen) unterscheiden: 1. Beobachtung polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen in der Zeit vom 16.02.87 bis 03.07.87 (n = 166); 2. Aktenerhebung bei der Bielefelder Jugendstaatsanwaltschaft in der Zeit vom 16.02.87 bis 31.12.88 (bezogen auf den Polizeibereich Bielefeld η = 1.578); 3. Analyse der Informationsbögen bei der Bielefelder Jugendstaatsanwaltschaft in der Zeit vom 16.02.87 bis 31.12.88 (n = 1.056).

3.2 3.2.1

Beobachtungen bei der Polizei Wahl der Forschungsmethode

Die Erhebungsschritte vor Einführung des Informationsmodells dienten dazu, den Status quo polizeilicher Ermittlungstätigkeit im Bereich jugendstrafrechtlicher Auffälligkeiten festzuhalten. Zum einen sollte die Vorannahme des Modellversuchs, daß die Polizei im Rahmen ihrer normalen Ermittlungsarbeit zur Tataufklärung über vielfältige Informationsquellen verfügt, die in den Dienst eines Informalisierungsprogramms gestellt werden können, überprüft werden. Zum anderen sollten die Gründe für das Informationsdefizit der Jugendstaatsanwälte im Hinblick auf die nach § 45 relevanten Tatsachen aufgeklärt werden. Die Erhebungsphase bei der Polizei nach Beginn des Modellversuchs zielte auf eine Registrierung modellbedingter Veränderungen der Ermittlungspraxis ab, und zwar bezogen auf die genutzten Informationsquellen, die Ermittlungsinhalte und Informationsweitergabe. Hinzu kam die Fragestellung, inwieweit mit der Einführung des Informationsmodells eine (weitere) Einbuße an Rechtsstaatlichkeit verbunden ist.

Anlage und Methoden der Untersuchung

367

Angesichts dieser Untersuchungsziele ist die Beobachtung die Methode der Wahl; sie erlaubt eine Erfassung von "aktuellem Verhalten in natürlichen Situationen" (Dechmann 1978, 26). Eine Befragung jugendlicher Tatverdächtiger oder der Polizeibeamten scheidet zum einen wegen der großen Gefahr wahrnehmungs- und erinnerungsbedingter Verzerrungen, zum anderen wegen berechtigter Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben aus (vgl. zum entsprechenden Vorzug der Beobachtung Mees 1977, 14). Auch eine Aktenanalyse kann, da sie nur das wiedergibt, was von der Polizei in den Akten festgehalten wird, keinen Aufschluß über z.B. die Anwendung von Interaktionsstrategien geben. Das gleiche gilt für die übrigen Fragestellungen nach polizeilichen Informationsquellen, Ermittlungsinhalten und Informationsweitergabe an die Staatsanwaltschaft. Gerade die Überlegung, daß die Polizei präventionsrelevante Sachverhalte selektiv erfragt und/oder selektiv an die Staatsanwaltschaft vermittelt, macht die empirische Notwendigkeit deutlich, die Untersuchung im Stadium der Informationsgewinnung selbst anzusetzen. Angesichts dieser Überlegenheit der Methode "Beobachtung" zur Klärung der Forschungshypothesen mußten mögliche Beobachtereffekte — bezogen auf die zu beurteilenden Sachverhalte — (vgl. z.B. Huber 1984; Ross 1977) hingenommen werden. Ein weiterer Verzerrungseffekt betrifft die Störung der natürlichen Interaktion in der Vernehmung durch die Anwesenheit eines Beobachters, die Reaktivität der Beobachtung (vgl. Atteslander 1985, 156; König 1972, 37 f.). Wir können angesichts der organisatorischen Bedingungen bei der Polizei davon ausgehen, daß dieser Störeffekt weitgehend ausgeschaltet werden konnte. Das Forschungsinteresse sowie die Art der Felderschließung erlaubten von Anfang an nur eine offene Beobachtung, d.h. den Beteiligten, Polizeibeamten und Beschuldigten, war bekannt, daß eine Beobachtung stattfand. Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Beobachtungen zudem nur bei Vorliegen einer Zustimmung seitens des Beschuldigten und seiner Erziehungsberechtigten durchgeführt. Die Beobachter/innen konnten im Kontext "polizeiliche Beschuldigtenvernehmung" sowie bei anderen konkreten Ermittlungshandlungen nur die Rolle eines nicht-teilnehmenden Beobachters wahrnehmen, da sie in diesen Situationen nicht aktiv am Gespräch usw. beteiligt waren (vgl. zur Abgrenzung: Grümer 1974, 49). Die Beobachtung der polizeilichen Vernehmungen wurde teilstnikturiert vorgenommen, während die Erhebung zu den polizeilichen Informationsquellen unstrukturiert erfolgte. Quantitatives und qualitatives Vorgehen wurden somit kombiniert.

3.2.2

Das Erhebungsinstrument

Das Erhebungsinstrument ist als teilstandardisiertes konzipiert worden. Quantitative Verfahren, wie z.B. Schmitz (1978, 189 f f . ) sie zur Erfassung von Interaktionssequenzen entwickelt hat, erwiesen sich ohne Tonbandaufzeichnung als nicht praktikabel. An ihre Stelle traten summarische Einschätzungen durch Ratings. Es stellte sich heraus, daß diese Ratingteile des Instruments (u.a. Rating zu Vernehmungs-, Persönlichkeits- und Interaktionsmerkmalen) unproblematisch handhabbar waren und bei der Messung eine hohe Übereinstimmung vorlag.

368

Polizei und Diversion

Das Forschungsinstrument stellt eine Synthese der Forschungsinteressen zur Evaluation des Bielefelder Modellversuchs (Teilprojekt Cl des SFB 227) sowie zur Analyse des Rechtsschutzes von Beschuldigten in polizeilichen Vernehmungen (Teilprojekt C4 des SFB 227) dar. Wenngleich der Beobachtungsbogen von beiden Teilprojekten gemeinsam konzipiert wurde, lassen sich doch eindeutigè Entwicklungsschwerpunkte im Hinblick auf die verschiedenen Kategoriensysteme feststellen. Im Hinblick auf die Evaluation des Bielefelder Informationsmodells wurde eine Konzeption gewählt, nach der die Beobachterinnen aktiv gestaltend an der Entwicklung des Erhebungsinstruments sowie an der Auswertung des erhobenen Datenmaterials mitwirkten. Nach einer ersten Materialsammlung und ersten Entwürfen wurden die Beobachterinnen im März 1986 bei der Polizei eingeführt und beobachteten unsystematisch die polizeiliche Ermittlungstätigkeit (2 Wochen pro Beobachterin; 1 Woche jeweils bei der Kriminal- und Schutzpolizei, bei letzterer Teilnahme an Streifenfahrten und Fahrten der Ladendiebstahlsstreife). Diese Phase diente zum einen dem Kennenlernen/Aufbau von Kontakten. Zum anderen konnten die Erkenntnisse der Vorabbeobachtungen bei der Entwicklung des Erhebungsinstruments umgesetzt werden. Insbesondere wurde auf einen akzeptablen Kompromiß zwischen Erkenntnisinteressen und der störungsfreien Anwendbarkeit des Instruments in der Beobachtungssituation hingearbeitet. Das Erhebungsinstrument wurde in der Folgezeit durch die Beobachtung von Rollenspielen (Nachstellen polizeilicher Vernehmungen) sowie von Beschuldigtenvernehmungen auf Videofilm (Vernehmungssituationen in Lehrfilmen) wiederholt getestet und verfeinert. Diese Arbeit diente gleichzeitig bereits einer Schulung der Beobachtersensibilität.

Die vom Teilprojekt Cl entwickelten Kategorien sind gekennzeichnet durch das Forschungsinteresse an den Inhalten der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung. Entsprechend wurden — neben vollständig anonymisierten Daten zur Person des Beschuldigten und dem Tatvorwurf — festgehalten: — — — — — — — — —

subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat, Schadenswiedergutmachung, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, eigener Schaden des Beschuldigten, bereits erfolgte oder zu erwartende Erziehungsmaßnahmen des sozialen Umfeldes, erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens, zu erwartende Auswirkungen bestimmter Sanktionen, Daten über den ersten Zugriff, Vorliegen eines Schlußberichts.

Anlage und Methoden der Untersuchung

3.2.3

369

Die Durchführung der Erhebung

Die Beobachtungen wurden von drei Volljuristen/innen (ein Mann und Frauen)

durchgeführt.

Die

Entscheidung,

anstelle

von

zwei

Sozialwissenschaftlern

Juristen einzusetzen, läßt sich auf zwei Gründe zurückführen. Zum einen griffen nicht unerhebliche Teile des Beobachtungsinstruments Fragen des Rechtsschutzes auf, befaßten sich also mit juristisch verankerten Problemstellungen. Die Schulung der Beobachter/innen wurde in diesen Bereichen — zumal sie in der Konzeptionsphase aktiv an der Entwicklung und Erprobung des Instruments beteiligt waren — erleichtert. Polizeiliche Ermittlungstätigkeit bedeutet immer die Durchsetzung und Anwendung von Normen. Liegt bereits eine strafbare Versuchshandlung vor? Bestehen Haftgründe, die eine Vorführung des Beschuldigten beim Haftrichter rechtfertigen etc.? Ohne weitgehende Kenntnisse auf dem Gebiet der Straf- und Strafprozeßvorschriften fallt deshalb die Übernahme einer störungsfreien Rolle im Feld "Polizei" schwer. Das "Nicht-mitreden-können" grenzt den Beobachter, der als Fremder ins Feld kommt, aus (zur Organisation der Beobachtungen, zum Pretest und zum Feldzugang im einzelnen vgl. Rzepka 1990, Abschnitt 3.2.3).

3.2.4

Repräsentativität der Daten

Zu Beginn der Beobachtungen war geplant, alle Vernehmungstermine der Schutzund Kriminalpolizei

zentral zu sammeln,

um dann eine Zufallsstichprobe

zu

ziehen. Dieses Verfahren ließ sich aufgrund zahlreicher Bedingungen im Feld nicht durchführen (Zustimmungspflicht des Beschuldigten und der Erziehungsberechtigten, anfangliche Skepsis gegenüber den Beobachtungen, kurzfristige Terminveränderungen, Vernehmungen außerhalb der normalen Dienstzeit u.a.). Vor diesem Hintergrund nahmen die Beobachter/innen alle ihnen bekanntgewordenen Termine wahr. Vergegenwärtigt man sich der mit der Beobachtung verfolgten Fragestellungen, so kommt dem Manko einer nicht zufälligen Auswahl der Fälle keine übermäßige Bedeutung zu. Die qualitativen Auswertungen sind von dieser Problematik ohnehin nicht berührt, zumal sich z.B. Vermeidungsstrategien nur auf die Meldung von Vernehmungen, nicht aber auf das sonstige Polizeihandeln bezogen. Betrachtet man zudem die Deliktsstruktur der beobachteten Fälle, so läßt sich in beiden Beobachtungswellen eine leichte Unterrepräsentation von Körperverletzungen und Sachbeschädigungen sowie ein etwas zu hoher Anteil des Diebstahls unter erschwerenden Umständen feststellen. Soweit es um Fragen der Rechtssicherheit nach Einführung des Informationsmodells geht, ist die Überrepräsentation von Bereichen mittelschwerer Kriminalität eher vorteilhaft für weitere Analysen, da in diesen Fällen häufiger als z.B. beim Ladendiebstahl ein Geständnis des Beschuldigten erst noch angestrebt werden muß. Hinzu kommt, daß in dieser Beobachtungsphase die Anwesenheit der Beobachter/innen bereits weitgehend zum routinemäßigen Ablauf der Beschuldigtenvernehmungen bei Jugendlichen/Heranwachsenden gehörte. In beiden Beobachtungswellen sind die Anteile der von der Schutz- und Kriminalpolizei bearbeiteten Fälle gleich, so daß die Beobachtungen vor und nach Beginn des Modellversuchs verglichen werden können.

370

3.3

Polizei und Diversion

Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Nacherhebungsbogen)

Um die Frage der selektiven Weitergabe polizeilicher Erkenntnisse an die Staatsanwaltschaft zu klären, wurden die Akten der vor Einführung des Informationsmodells beobachteten Fälle bei der Staatsanwaltschaft erhoben. Von den 136 Beobachtungen vor Einführung des Informationsmodells konnten nur 126 in diese Aktenanalyse eingehen. Die Differenz läßt sich dadurch erklären, daß Akten an eine andere Staatsanwaltschaft zur Entscheidung abgegeben wurden. Das Erhebungsinstrument stellt hinsichtlich der präventionsrelevanten Fragestellungen eine Duplikation des Beobachtungsbogens dar. Es wurde entsprechend den Forschungsinteressen beschränkt auf folgende Kategorien: subjektive Stellung des Beschuldigten zur Tat; Verhalten des Beschuldigten beim Erstzugriff und in der Vernehmung; Schadens Wiedergutmachung; Verhalten des Geschädigten (insbesondere tatbegünstigendes); eigener Schaden des Beschuldigten; Erziehungsmaßnahmen/Sanktionen anderer Personen und Institutionen; mögliche erzieherische Wirkung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens; polizeiliche EntscheidungsVorschläge; sonstige Angaben in Vermerken. Maßgeblich war jeweils der Akteninhalt, also z.B. die Frage, ob der Polizeibeamte eine Information über die erzieherische Wirkung der Vernehmung festgehalten hat. Die Kategorien "Verhalten beim Erstzugriff und in der Vernehmung" sowie die sonstigen Angaben in den Vermerken wurden offen eingetragen und später nach Abschluß aller Aktenanalysen kodiert. Neben diesen an die Beobachtung anknüpfenden Daten wurden zudem die Anzahl der Einträge des Beschuldigten in der hausinternen Zentralkartei der Staatsanwaltschaft sowie die staatsanwaltliche Entscheidung festgehalten.

3.4

Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Informationsbogen)

Zur Ermöglichung einer adäquaten Modellevaluation wurde das zweiseitige Formblatt "Informationsbogen" so konzipiert, daß dem Forschungsprojekt eine Durchschrift von jedem Bogen — allerdings anonymisiert — zur Verfügung gestellt werden konnte. Auf einer dritten Seite erhielt das Forschungsprojekt zudem Informationen über den Entscheider, die Anzahl der Einträge des Beschuldigten in der staatsanwaltlichen Zentralkartei sowie über die staatsanwaltliche Abschlußverfügung. Auf diese Weise kann bei den empirischen Analysen auf dieselben Informationen aus dem Bogen zurückgegriffen werden, wie sie auch dem Staatsanwalt als Grundlage seiner Entscheidung vorlagen. Die Durchschläge der Informationsbogen wurden — aus Datenschutzgründen — von den Geschäftsstellenbeamten der Jugendstaatsanwaltschaft aus der Akte gezogen und anonymisiert. Die Beamten füllten auch die dritte Seite aus, wobei die Ausgestaltung der Variablen zur staatsanwaltlichen Entscheidung der justizinternen Zählkarte, die ohnehin von den Geschäftsstellenbeamten bearbeitet wird, mit kleinen Ausnahmen (Unterscheidung nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 sowie der Art der erzieherischen Sanktion nach § 45 Abs. 1, § 45 Abs. 2 Nr. 1) entspricht. Ende des Jahres 1988 lagen 1.056 Informationsbogen vor. Diese liegen den folgenden Auswertungen zugrunde.

Anlage und Methoden der Untersuchung

3.5

371

Aktenanalyse bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft (Aktenerhebungsbogen)

Die Durchschrift des Informationsbogens gibt zwar eine genaue Information über seinen Inhalt, läßt aber weitere tat-, täter- oder opferbezogene Determinanten polizeilicher Vorschläge außer Betracht. Ohne eine Kontrolle des "Inputs" läßt sich eine Analyse polizeilicher Vorschläge, auch unter der Perspektive des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Bestimmbarkeit strafrechtlicher Sanktionierung, nicht vornehmen. Der Aktenerhebungsbogen greift — gemessen an seiner Grobgliederung — Dimensionen zur Person sowie den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten, zur Tat, zum Geschädigten und zum Ermittlungsverfahren auf. Weiterhin wird die Entscheidung der Staatsanwaltschaft festgehalten. Er wurde personenbezogen ausgefüllt, d.h., daß für jeden Beschuldigten, der aufgrund seines Alters sowie des begangenen Delikts in die Untersuchungsgruppe fiel, ein gesonderter Bogen angefertigt wurde. Diese Verfahrensweise, die jede Person auch im Hinblick auf die Verfahrenserledigung als eine Untersuchungseinheit zählt, ist der staatsanwaltsinternen Statistik aufgrund der realen Abbildung des staatsanwaltlichen Entscheidungsverhaltens weit überlegen (vgl. hierzu ausführlich Herbort 1988). Aus den drei Deliktsbereichen, die vom Informationsbogen erfaßt wurden, wurde eine ungeschichtete Zufallsstichprobe für die Delikte Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung entsprechend ihrem realen Verhältnis zueinander ( 8 : 1 : 1 ) gezogen. Die Stichprobenziehung erfolgte aus dem laufenden Geschäftsgang anhand eines Stichprobenplans, der für jede Woche und jede Abteilung die Ziehung einer bestimmten Anzahl von Verfahren vorsah. Der Stichprobenplan stellte sicher, daß zu jedem Informationsbogen ein Aktenerhebungsbogen vorlag, so daß über eine Kennummer beide Datensätze miteinander verbunden werden konnten.

Aus dem Polizeibereich Bielefeld lagen schließlich vor: — 1.056 Aktenerhebungsbogen, zu denen auch je ein Informationsbogen vorhanden ist; — 522 Aktenerhebungsbogen, die zwar in den Anwendungsbereich des Modellversuchs fallen, aber ohne Informationsbogen bei der Staatsanwaltschaft eingegangen sind. Die Ziehung der Akten aus dem laufenden Geschäftsgang war nur durch Geschäftsstellenbeamte möglich. Den Erfordernissen des Datenschutzes und eines ungestörten Geschäftsbetriebs wurde damit am ehesten Rechnung getragen. Die Geschäftsstellenbeamten übernahmen diese Tätigkeit — nach Vorliegen der dazu notwendigen dienstlichen Genehmigungen — gegen eine Aufwandsentschädigung. Sie wurden vor Beginn der Aktenerhebungen sorgfaltig und ausführlich in der Bearbeitung der Aktenerhebungsbogen geschult. Ein Pre-Test im Jahr 1986 diente neben der Erprobung des Instruments auch einer Kontrolle des Ausfüll Verhaltens. Die Einhaltung des Stichprobenplans wurde genau kontrolliert. Die Daten weisen — gemessen an Tat-, Täter- und Verfahrensmerkmalen — in dieser Hinsicht keinen Stichprobenfehler auf.

372

4

Polizei und Diversion

Polizeiliche Informationsvermittlung: Umsetzung des jugendstrafrechtlichen Ermittlungsauftrags

Die Darstellung der Untersuchungsergebnisse folgt den Analyseschwerpunkten, die sich das Forschungsprojekt für die Modellevaluation bei der Polizei gesetzt hat. In Kapitel 4 wird das polizeiliche Ermittlungshandeln bezogen auf die nach § 45 relevanten Informationen aufgegriffen, und zwar getrennt nach der Praxis vor und nach Einführung des Informationsmodells (Abschnitt 4.1 und 4.2). Die grundlagentheoretische Fragestellung, wie Polizei Straftaten Jugendlicher und Heranwachsender entscheidungsvorbereitend bewertet, folgt in Kapitel 5.

4.1 4.1.1

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit vor Einfuhrung des Informationsmodells Problemstellung

Die Erhebungsschritte vor Einführung des Informationsmodells dienten dazu, einige Vorannahmen, die dem Modellversuch zugrundeliegen, zu überprüfen. Ausgehend von einem Informationsdefizit der Staatsanwaltschaft und einer selbständigen Ermittlungspraxis der Polizei im Bereich einfacher und mittelschwerer Kriminalität sollen in den folgenden Analysen drei Fragestellungen aufgegriffen werden: 1. Verfügt die Polizei im Rahmen ihrer normalen Ermittlungsarbeit der Tataufklärung und des Schuldnachweises gerade im jugendstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren über Erkenntnisquellen, die sie ohne eigene Mehrarbeit und ohne unverhältnismäßige Erforschung persönlicher Lebensverhältnisse in den Dienst einer spezialpräventiv orientierten Verfahrenseinstellungspraxis stellen kann? 2. Ermittelte die Polizei bereits vor Einführung des Informationsmodells die gesetzlich notwendigen Sachverhalte? 3. In welchem Umfang gab die Polizei ermittelte Sachverhalte an die Staatsanwaltschaft weiter?

4.1.2

Die Erkenntnisquellen der Polizei

Das Jugendgerichtsgesetz greift die Frage der Erkenntnisquellen im jugendstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren nur in § 43 Abs. 1 (vgl. auch RL Nr. 2-4, 9 zu § 43), also im Hinblick auf die Persönlichkeitserforschung auf. Die Erkenntnisquellen der Polizei, derer sie sich zur Ermittlung der nach § 45 relevanten Tatsa-

Polizeiliche Informationsvermittlung

373

chen bedienen soll, werden vom Gesetz nicht thematisiert. Sie werden jedenfalls, soweit es die Sachverhaltserforschung betrifft, entweder nur unter kriminalistischen oder verfassungsrechtlichen, insbesondere rechtsstaatlichen, Gesichtspunkten diskutiert. Ein Modellversuch, der polizeiliche Ressourcen gezielt zur sachgerechteren Vorbereitung der staatsanwaltlichen Abschlußverfügung einsetzen will, muß sich vorab zwei Fragen stellen, wovon die eine rechtlicher, die andere tatsächlicher Natur ist: 1. Auf welche Informationsquellen darf die Polizei rechtlich zulässigerweise bei der Ermittlung präventionsrelevanter Sachverhalte zurückgreifen? 2. Welche rechtlich zulässigen Informationsquellen stehen der Polizei faktisch zur Umsetzung des Ermittlungsauftrags nach § 45 zur Verfügung? § 43 Abs. 1 räumt den dort genannten Zugriff auf das soziale Umfeld des Jugendlichen/Heranwachsenden nur zum Zwecke der Persönlichkeitserforschung ein. Für die Polizei, die bei der Feststellung der nach § 45 bedeutsamen Erkenntnisse den Rahmen der üblicherweise von ihr vorzunehmenden Sachverhaltserforschung nicht verläßt, bedeutet dieses die Unzulässigkeit von Ermittlungshandlungen, die nicht durch die originäre Tätigkeit der Tataufklärung/des Schuldnachweises veranlaßt sind. Es ist ausschließlich auf diejenigen Informationsquellen zurückzugreifen, die bei der Bearbeitung des konkreten Falls (Ermittlung be- und entlastender Umstände, Erhebung von Beweisen, deren Verlust zu besorgen ist) herangezogen werden. Die qualitativen Beobachtungen bei der Polizei vor Einführung des Informationsmodells sollten Aufschluß darüber geben, welche Erkenntnisquellen bei der alltäglichen Arbeit der Tataufklärung genutzt werden und inwieweit diese eine — rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende — Ermittlung von Umständen erlauben, die der Staatsanwalt bei der Anwendung des jugendstrafrechtlichen Informalisierungsprogramms zu berücksichtigen hat. Folgende Erkenntnisquellen stehen der Polizei zur Verfügung: Informationen anläßlich des ersten Zugriffs, polizeiliches Vorwissen, Vernehmung und weitere Kontakte zum Beschuldigten, zu den Eltern, anderen Personen und Institutionen: • Erster Zugriff Der erste Zugriff im Anschluß an die Tat wird regelmäßig durch die Beamten der Schutzpolizei durchgeführt. Auf ihre Berichte greift der vernehmende/ermittelnde Polizeibeamte wie auch später der Staatsanwalt zurück. Aufgrund der Beobachtungen konnten wir feststellen, daß die schon oft beschriebene Reduktion lebensweltlicher Komplexität in Akten besonders deutlich bei diesen Ermittlungsberichten hervortritt. Die regelmäßig bestehende Notwendigkeit, dem Sachbearbeiter baldmöglichst eine schriftliche Grundlage für seine Vernehmung zukommen zu lassen,

374

Polizei und Diversion

führt hier zu einer bloßen Fixierung aufklärungsrelevanter Gesichtspunkte, wie z.B. dem Vorliegen eines Geständnisses, sowie zur Darstellung von Tatsachen, die polizeiliches Handeln legitimieren (z.B. Flucht, Widerstand bei der Festnahme). Weitere Angaben zum Verhalten des Beschuldigten, erste Anzeichen seiner subjektiven Einstellung zur Tat sowie offensichtliche Wirkungen des Entdeckt- und Abgeführtwerdens werden selektiv festgehalten. Das gleiche gilt für die spontane Reaktion der Eltern auf das Fehlverhalten ihrer Kinder, wenn ihnen dieses telefonisch oder im persönlichen Kontakt mit der Polizei (Minderjährige werden von den Polizeibeamten nach Hause gebracht oder von den Eltern abgeholt) bekannt gegeben wird. Diese elterlichen Reaktionen können im Einzelfall bereits den Charakter von zur Verfahrenseinstellung berechtigenden "erzieherischen Maßnahmen" i.S.v. § 45 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 tragen. • Polizeiliches Vorwissen Polizeibeamte haben unabhängig von den im laufenden Verfahren gewonnenen Erkenntnissen ein Vorwissen, das sich zum Teil aus vorhergehenden, persönlichen Kontakten aller Art zum Beschuldigten ergibt, aber auch auf den für Zwecke der Gefahrenabwehr und Erleichterung künftiger Ermittlungen gesammelten Daten polizeilicher Kriminalakten basiert. Polizeiliches Vorwissen erstreckt sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf strafrechtliche Vorbelastungen des Beschuldigten, sondern auch auf Fragen der Tatmotivation, subjektiven Einstellung zum Tatvorwurf, des Verhaltens beim Erstzugriff und in der Vernehmung sowie erzieherischer Reaktionen des sozialen Umfeldes, allerdings nicht bezogen auf die aktuell zu beurteilende Tat, sondern auf vergangenes Fehl verhalten. Soziale Not, mit Strenge reagierende Eltern: Das sind z.B. Umstände, die auch im Hinblick auf den aktuellen Vorwurf weiterhin Geltung beanspruchen können bzw. zu entsprechenden Nachfragen in der Vernehmung veranlassen sollten. • Vernehmung und weitere Kontakte zum Beschuldigten Die Täterzentriertheit des Jugendstrafrechts läßt der Person des Beschuldigten und seinem Verhalten eine besondere Bedeutung als polizeiliche Erkenntnisquelle zukommen (vgl. Eisenberg 1988, § 43 Rn. 19 im Hinblick auf die Persönlichkeitserforschung). Dabei stehen drei Aspekte im Vordergrund: die Angaben des Beschuldigten zu den einzelnen Ermittlungspunkten; sein (Interaktions-)Verhalten; die erzieherische Wirkung auf den Beschuldigten, die von dem Polizeikontakt selber ausgeht. Diese unterschiedlichen Informationen können gleichermaßen bei den verschiedenen Anlässen zur Kontaktaufnahme mit dem Beschuldigten anfallen. Als solche seien hier neben dem Erstzugriff, der wegen seiner unmittelbaren Nähe zur Tat gesondert behandelt wurde, genannt: Durchsuchung, Ingewahrsamnahme, Abholen zur Vernehmung, persönliche Ladungen (wie sie zum Teil von Bezirksermittlungsdienstbeamten vorgenommen werden) und nicht zuletzt die verantwortliche Vernehmung (einschließlich "informeller Vorgespräche"). Wendet man sich der verantwortlichen Vernehmung zu, so bietet diese zum einen einen unmittelbaren Eindruck über den Beschuldigten, insbesondere sein Verhalten nach der Tat. Sie eröffnet zum anderen die Gelegenheit, präventionsrelevante Problemstellungen durch gezielte Fragen aufzugreifen. Die Beobachtungen haben insoweit ergeben, daß sich Tataufklärung und Gespräche über die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten nicht ausschließen, sondern grundsätzlich miteinander vereinbar sind. Es ging jeweils auf die Initiative des Vernehmungsbeamten zurück, wenn Fragestellungen mit Relevanz für § 45 angesprochen wurden. Darüber hinaus konnten wir in zahlreichen Vernehmungen registrieren, daß den Beschuldigten auf verschiedene Art und Weise 'ins Gewissen geredet' wurde. Die Vorhaltungen gingen von eindringlichen Warnungen vor einer 'kriminellen Karriere', Appellen an die Einsichtsfahigkeit bis zu handfesten 'Standpauken'. Hierbei wurde zumeist deutlich darauf hingewiesen, welche Folgen die Straftat für den Beschuldigten, aber auch für seine Eltern haben kann. Durch derarti-

Polizeiliche Informationsvermittlung

375

ge Gespräche nahm der Beamte eine zur Einstellung berechtigende erzieherische Maßnahme i.S.d. § 45 vor, ohne dies explizit zu beabsichtigen. • Kontakte zu den Eltern Hinsichtlich der Eltern des Beschuldigten ergeben sich nahezu die gleichen Anlässe zu Kontakten, nicht selten auch telefonisch. Die Inhalte dieser Gespräche, insbesondere auch bei Anwesenheit der Eltern in der Vernehmung, konzentrieren sich eindeutig auf Informationen zu persönlichen Verhältnissen (Eltern-Kind-Verhältnis, Erziehungsverhalten etc.), zur Tatmotivation sowie zur elterlichen Reaktion auf das Fehl verhalten ihres Kindes. In 13 % der beobachteten Fälle war zumindest ein Elternteil bei der Vernehmung anwesend. Der Umfang der Beteiligung am Gespräch differierte stark; inhaltlich kamen aber regelmäßig einstellungsrelevante Fragen zur Sprache. • Kontakte zu sonstigen Personen/Institutionen In einigen Fällen kommt durch ein Begleiten zur Vernehmung der Kontakt zu anderen Familienangehörigen, Freund(in), Erziehern, Sozialarbeitern oder Nachbarn zustande. Es gilt hier das für die Eltern Gesagte entsprechend. In 7 % der beobachteten Vernehmungen fand eine solche Kontaktaufnahme statt. Neben den Angaben von Beschuldigten und Begleitpersonen stehen auch die Aussagen von Teilnehmern, Zeugen und/oder Geschädigten als Informationsquelle zur Verfügung. Deren Wert wird im Regelfall nur an dem geleisteten Beitrag zur Überführung des Beschuldigten gemessen. Darüber hinaus kamen von diesen Personen (oder Institutionen) aber auch einstellungsrelevante Auskünfte über tatsituative Umstände (insbesondere tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten), die Tatmotivation des Beschuldigten und — abhängig von der Beziehung zum Beschuldigten — über Reaktionen des sozialen Umfeldes auf den Tatvorwurf. Kontakte zu Instanzen sozialer Kontrolle (Schule, Bewährungshilfe, Familienfürsorge etc.) werden, soweit diese nicht Geschädigte sind oder in Beziehung zu den Geschädigten bzw. dem strafrechtlichen Vorfall stehen (Diebstahl in der Schule, Schlägerei auf dem Schulhof), von den Polizeibeamten eher seltener aufgebaut. Solche kommen z.B. zur Uberprüfung von Angaben des Beschuldigten oder zur Abklärung des weiteren polizeilichen Vorgehens (Anruf beim Bewährungshelfer wegen einer noch offen stehenden Bewährung) in Betracht. •

Zusammenfassung

Die vorangehende Darstellung polizeilicher Erkenntnisquellen mußte notwendigerweise skizzenhaft bleiben und auf die Wiedergabe instruktiver Fallbeispiele verzichten. Sie verdeutlicht aber zwei, für die Durchführung des Informationsmodells zentrale Punkte: -

Polizeibeamte haben im Rahmen ihrer Tätigkeit der Tataufklärung regelmäßig direkte Kontakte zum Beschuldigten und seinem sozialen Umfeld.

-

Diese Kontakte sind derart ausgestaltet, daß zielgerichtete Ermittlungen Erkenntnisse über nach § 45 relevante Umstände erwarten lassen. Der Informationszugewinn kann dabei bereits durch bloßes Nachfragen zu vorher eindeutig festgelegten Problemstellungen (elterliche Reaktion, Tatmotiv etc.) erfolgen.

Darüber hinaus stehen einige Informationsquellen ausschließlich der Polizei zur Verfügung, d.h. bestimmte entscheidungsrelevante Fakten können nur von der Polizei erhoben werden. Gemeint sind hier zum einen all diejenigen polizeilichen

376

Polizei und Diversion

Maßnahmen, denen eine erzieherische Wirkung i.S.d. § 45 zukommen kann, zum anderen die Eindrücke über den Beschuldigten zu einem tatnahen Zeitpunkt. Sind die polizeilichen Erkenntnisquellen grundsätzlich dazu geeignet, für das staatsanwaltliche Informalisierungsprogramm nutzbar gemacht zu werden, so hängt die Frage einer zusätzlichen Stigmatisierung des Beschuldigten oder der Ausweitung sozialer Kontrolle davon ab, ob sich die Polizei bei der Informationssammlung auf die im Rahmen der Tataufklärung ohnehin anfallenden Erkenntnisquellen beschränkt. Gefahren für rechtsstaatliche Grundprinzipien können sich insbesondere dann ergeben, wenn die Polizei ihren Zugriff auf den Beschuldigten und sein soziales Umfeld zur Erfassung präventionsrelevanter Umstände derart ausdehnt, daß die einzelnen Ermittlungshandlungen nicht mehr originär durch die Aufgabe der Sachverhaltserforschung veranlaßt sind und/oder die Befragung in strafprozessual unzulässiger, insbesondere Persönlichkeitsrechte verletzenden, Form durchgeführt wird. Im Rahmen der Modellevaluation gilt es mithin zu prüfen, ob Polizeibeamte bei der Ermittlung einstellungsrelevanter Sachverhalte auf die sich im konkreten Fall zur Tataufklärung bietenden Erkenntnisquellen zurückgreifen und in welcher Weise die Informationen erhoben werden.

4.1.3

Die polizeiliche Beschuldigten Vernehmung: Umfang und Inhalte der Ermittlungen

Die polizeilichen Möglichkeiten zur Ermittlung von Tatsachen, die die staatsanwaltliche Entscheidung nach § 45 sachgerechter vorbereiten, lassen vermuten, daß die Polizei gemäß ihrer Aufgabenzuweisung bereits vor Einführung des Informationsmodells regelmäßig die entsprechenden Informationen gesammelt hat.

4.1.3.1

Ermittlungsschwerpunkte

Gegen diese Hypothese sprechen zunächst einmal die Befunde zu den beobachteten Ermittlungsschwerpunkten in der Vernehmung. Die Beobachter/innen haben nach jeder polizeilichen Beschuldigtenvernehmung die Schwerpunkte der Befragung mit Hilfe von Ratingskalen festgehalten. Von besonderem Interesse für den geschilderten Forschungsansatz sind folgende Ratings: (1) (2) (3) (4)

Fragen Fragen Fragen Fragen

nach nach nach nach

Tatmodalitäten, objektiven Tatbestandsmerkmalen, zur Geständniserwirkung persönlichen biographischen Merkmalen den sozialen Lebensverhältnissen möglichen Bedingungen einer Verfahrenseinstellung

377

Polizeiliche Informationsvermitthmg

Der Umfang, in welchem diese vier Themenbereiche behandelt wurden, wurde jeweils auf einer siebenstufigen Skala festgehalten, welche von völliger Nichtthematisierung über eine hinreichende bis zu einer ausführlichen Erörterung reichte.

nicht angesprochen 3 I

2 I

1 I

besprochen 0 I

1 I

2 I

ausführlich besprochen 3 I

Fragen zu den Tatmodalitäten, objektiven Tatbestandsmerkmalen, zur Geständniserwirkung wurden in über 60 % aller Fälle mehr als nur "besprochen". Demgegenüber weisen die Daten zu Fragen nach den persönlichen biographischen Merkmalen sowie nach sozialen Lebensverhältnissen ihre jeweils höchsten Prozentsätze auf dem Mittel-Punkt ( = besprochen) auf (42 % bzw. 32 %). Dieses Ergebnis läßt sich mit einem Standardrepertoire an Fragestellungen begründen, die die Polizeibeamten — teilweise angeleitet durch den polizeilichen Personalbogen (NW Pol 11) — abfragen. Mögliche Bedingungen einer Verfahrenseinstellung wurden in 64 % aller Fälle "nicht angesprochen" (zweithöchster Prozentsatz: 10 % "besprochen"). Dieser Punkt wird damit am häufigsten gar nicht behandelt. Die Daten spiegeln eindeutig die Dominanz der Tataufklärungsperspektive in der Beschuldigtenvernehmung wider, ein Umstand, der durch die Einführung des Informationsmodells nicht geändert werden sollte.

Ziel des

Informationsmodells

sollte nach der Konzeption der beteiligten Instanzen nicht die Umwandlung der Vernehmung

in

ein

sozialarbeiterisches

Gespräch,

sondern

die

gleichmäßige

Berücksichtigung präventionsrelevanter Problemstellungen ohne größeren Ermittlungsaufwand sein.

4.1.3.2

Inhalte der Ermittlungen

Fragen zur Person des Beschuldigten orientieren sich in der Vernehmung zunächst einmal an dem bereits erwähnten Personalbogen zur Beschuldigtenvernehmung. Dieser greift u.a. Namen, Geburtsdatum, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Wohnort, Familienstand, Beruf, Einkommensverhältnisse, Schule, Familienverhältnisse auf, also Fragestellungen, wie sie die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vorsehen. Die Auswertung der 136 Beobachtungen ergab, daß diese Daten fast immer vollständig erhoben worden sind und über das Formblatt auch Eingang in die Akte gefunden haben. Für die Forschungsfrage entscheidender ist aber, wie die Polizei mit denjenigen Fragestellungen umgegangen ist, die später auch Eingang in den Informationsbogen gefunden haben.

378

Polizei und Diversion

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Einschätzungen zur subjektiven Stellung des Beschuldigten zur Tat ("Reue/Einsicht") sowie zur erzieherischen Wirkung polizeilicher Maßnahmen von den Beobachtern/innen vorgenommen werden mußten. Von einer gezielten Befragung der Polizeibeamten über ihre Eindrücke, etwa nach der Vernehmung, mußte angesichts einer möglichen Reaktivität dieser Vorgehensweise im Hinblick auf weitere Vernehmungen abgesehen werden. Die Beobachter/innen gründeten ihre Feststellungen jeweils aber auf konkrete Äußerungen/Verhaltensweisen des Beschuldigten und bezogen unaufgefordert gemachte Kommentare der Polizeibeamten in ihre Bewertung ein.

Im folgenden soll ein Ausschnitt der Daten über präventionsrelevante Kriterien behandelt werden, der die unzureichende Informationslage der Staatsanwaltschaft vor Einführung des Informationsmodells deutlich wiedergibt: — Zu der für die Anwendung des § 45 zentralen Kategorie einer eventuell erfolgten erzieherischen Reaktion durch das soziale Umfeld wurde in rund 70 % aller Vernehmungen keine Frage seitens des vernehmenden Polizeibeamten gestellt. Wenn erzieherische Maßnahmen bekannt wurden, handelte es sich ganz überwiegend um solche der Eltern (in 10 % aller Fälle bereits erfolgte Sanktionen, in 6 % zu erwartende Sanktionen). Das Spektrum reichte von erzieherisch intendierten Gesprächen über Taschengeldentzug und Ausgehverbot bis hin zur körperlichen Züchtigung. — Die Beschuldigten gaben in rund 50 % der Fälle ein Tatmotiv an (häufigstes Tatmotiv: "Geldmangel"). — Bei der Einstellung des Beschuldigten zur Tat dominierte die Reuebekundung (24 %). — Mit der Frage der Schadenswiedergutmachung sollten auf Freiwilligkeit basierende Handlungen des Beschuldigten zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens erfaßt werden. Hierzu gab es in rund jedem 10. Fall recht unterschiedliche Hinweise. Kennzeichnend für diese Beispiele einstellungsrelevanter Sachverhalte ist die vergleichsweise geringe Beachtung, die sie in der polizeilichen Vernehmung finden, obwohl das Gesetz z.B. an das Vorliegen der "eine Ahndung entbehrlich machenden" erzieherischen Maßnahmen eine so weitreichende Folge wie den Sanktionsverzicht knüpft. Als Ergebnis läßt sich deshalb im Hinblick auf die zu Anfang aufgestellte zweite These festhalten, daß der Polizeibeamte vor der Einführung des Informationsmodells eher seltener die notwendigen Erkenntnisse besaß, die der Staatsanwalt bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat. Es hing im Einzelfall von dem Engagement oder Interesse des jeweiligen Polizeibeamten ab, ob z.B. eine Frage dahingehend gestellt wurde, was denn die Eltern zu dieser Sache gesagt hätten. Einzelne Polizeibeamte hatten - ihrem Bekunden zufolge schon versucht, ihre Ansicht über den Fall in einem Vermerk niederzulegen oder den Staatsanwalt anzurufen. Sie seien aber teilweise von Vorgesetzten oder den

Polizeiliche Informationsvermittlung

379

Staatsanwälten selber darauf verwiesen worden, daß ihnen derartige "Bewertungen" nicht zustünden. Für die Zeit vor Einführung des Informationsmodells gilt demnach, daß die einstellungsrelevanten Fragestellungen in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung eher selektiv von den Polizeibeamten angesprochen wurden. Der Grund für diesen Umstand ist dabei wohl weniger in einer bewußten Vernachlässigung dieser Teilbereiche als in einer fehlenden Nachfrage seitens der Staatsanwaltschaft und einer darin begründeten polizeilichen Unkenntnis von der Bedeutung bestimmter Kriterien zu sehen.

4.1.4

Die Kommunikation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft: Ermittlungs- und Akteninhalt im Vergleich

Der Frage, ob und in welchem Umfang einstellungsrelevante Sachverhalte, die von der Polizei wahrgenommen wurden, auch in der Akte schriftlich fixiert wurden, konnte durch eine nachträgliche Ziehung der Akten bei der Staatsanwaltschaft und einen Vergleich zwischen Beobachtungs- und Akteninhalten nachgegangen werden. Auch hier sollen nur einige Fragestellungen herausgegriffen werden. — Die erzieherischen Reaktionen des sozialen Umfeldes, über die schon auf der Polizeiebene keine umfassenden Informationen vorlagen, wurden in noch geringerem Umfang aktenmäßig festgehalten. Das gleiche gilt für die vom Ermittlungsverfahren ausgehenden erzieherischen Wirkungen. Greift man allein nur diejenigen Vernehmungen heraus, in deren Anschluß der Polizeibeamte sich den Beobachtern/innen gegenüber explizit zu dieser Fragestellung äußerte (13 Vernehmungen), so findet sich nur in 2 Fällen eine Mitteilung zu diesem Sachverhalt in der Akte. — Die subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat wurde als Information vollständig nur bei Vorliegen, nicht aber bei Fehlen von "Reue" weitergegeben. — Eine erfolgte oder beabsichtigte Schadenswiedergutmachung, ein tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten oder eine eigene Verletzung des Beschuldigten konnten schon bei den Beobachtungen quantitativ selten notiert werden. In den wenigen Fällen, in denen hierzu Erkenntnisse vorhanden waren, wurden diese auch weitergemeldet. — Neben Mitteilungen im Vernehmungsprotokoll spielt bei der Kommunikation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft auch der "Vermerk" — eine Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse als Aktenbestandteil — eine Rolle. Den Beobachtern/innen gegenüber wurde des öfteren bekundet, daß der Vermerk dazu genutzt werde, präventionsrelevante Sachverhalte an die Staatsanwaltschaft weiterzugeben. Die Daten der Nacherhebung weisen allerdings aus, daß

380

Polizei und Diversion

in etwa der Hälfte der Fälle überhaupt keine Vermerke gefertigt wurden und nur in einem Viertel der Fälle neben einer Zusammenfassung der Tatumstände Bewertungen und/oder weitere Informationen enthalten waren. Zu diesen Bewertungen/Informationen wurden u.a. aber auch Angaben der Polizeibeamten zur Glaubwürdigkeit des Beschuldigten, zu seiner mehrfachen Auffälligkeit sowie zum Umfang seines Tatbeitrags gerechnet. Zieht man diese Informationen ab, so verbleiben wenige Einzelfälle, in denen der Polizeibeamte Angaben zur Wirkung des Verfahrens u.a. festhielt. In diesen Fällen wurden dann gleichzeitig mehrere entscheidungsrelevante Gesichtspunkte angesprochen. Der Vermerk stellt sich diesen Auswertungen zufolge als nur gelegentlich eingesetztes Mittel zur Weitergabe von nach § 45 bedeutsamen Tatsachen dar. Er übernimmt vielmehr in der Regel die Funktion einer Akteniesehilfe für den Staatsanwalt, wobei auch subjektiv gefärbte Stellungnahmen der Polizeibeamten einfließen. Als Ergebnis der Nacherhebungen läßt sich festhalten, daß die wenigen Informationen, die bei der Polizei anfallen, nicht konsequent weitergeleitet werden. Es findet eine weitere Selektion statt.

4.1.5

Zusammenfassung und Interpretation

Die Gründe für das staatsanwaltliche Informationsdefizit lassen sich mit den Stichworten "selektive Ermittlung und Weitergabe der einstellungsrelevanten Fakten" wiedergeben. Die Staatsanwaltschaft hat an die Polizei — vor der Einführung des Informationsmodells — nicht systematisch die Anforderung gestellt, derartige Umstände zu ermitteln. Demgemäß blieb es der Entscheidung des jeweiligen Polizeibeamten überlassen — abhängig von seinen eigenen Vorstellungen über das, was für die Entscheidung des Falls von Bedeutung ist —, Informationen zu sammeln und diese an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Die weitgehende Bedeutungslosigkeit der verschiedenen — nach § 45 entscheidungsrelevanten — Fakten in der alltäglichen Ermittlungspraxis der Polizei steht im Widerspruch zu den aufgezeigten polizeilichen Möglichkeiten der Informationsgewinnung.

4.2

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit nach Einführung des Informationsmodells

Die Darstellung der polizeilichen Ermittlungspraxis nach Einführung des Informationsmodells wird sich zwei Fragestellungen widmen: — Greift die Polizei auf die ihr im konkrekten Einzelfall zur Verfügung stehenden Mittel der Tataufklärung zurück, um die im Informationsbogen abgefragten Dimensionen zu erfassen?

Polizeiliche Informationsvermittlung

381

— Läßt sich als Ergebnis dieser Ermittlungen auf der Seite der Staatsanwaltschaft ein Informationszugewinn verbuchen?

4.2.1

Der Ermittlungsvorgang bei der Polizei

Die Frage, wie die Polizei den JGG-spezifischen Ermittlungsauftrag in die Praxis umgesetzt hat, ist für zwei Teilaspekte des polizeilichen Ermittlungsvorgangs getrennt zu stellen. Zum einen geht es um Art und Umfang der genutzten Erkenntnisquellen (Abschnitt 4.2.1.1). Zum anderen muß dem konkreten Ermittlungsverhalten des Polizeibeamten, hier in der Beschuldigtenvernehmung (Abschnitt 4.2.1.2), eine eigenständige Bedeutung beigemessen werden, bevor unter Abschnitt 4.2.2 und 4.2.3 der Informationszuwachs selber analysiert wird. Wendet man sich der Frage nach der Art und Weise zu, wie der Polizeibeamte im Kontakt mit dem Beschuldigten und/oder seinem sozialen Umfeld zu den im Informationsbogen fixierten Inhalten gelangt ist, so sind vor allem drei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: — die Verhältnismäßigkeit zwischen Eingriff (Ermittlungshandeln) und Bedeutung der Sache; — das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten; — das Verbot jeglichen Willenszwangs gegenüber dem Beschuldigten (§ 136a StPO).

4.2.1.1

Die polizeilichen Erkenntnisquellen

Wie in der 1. Beobachtungsphase stand die Beschuldigtenvernehmung im Mittelpunkt der quantitativ durchgeführten Beobachtungen nach Einführung des Informationsmodells. Darüber hinaus sind aber auch für diese Zeit qualitative Daten zu anderen Erkenntnisquellen (Erstzugriff, Durchsuchung, Abholen zur Vernehmung, polizeiliches Vorwissen, Gespräche mit den Erziehungsberechtigten, Aussagen von Teilnehmern/Zeugen/Geschädigten etc.) vorhanden. Der Zugriff der Polizei auf einzelne Erkenntnisquellen, insbesondere den Beschuldigten und Personen aus seinem sozialen Umfeld, wurde nach unseren Beobachtungen ausschließlich durch Notwendigkeiten der Tataufklärung veranlaßt, d.h. Kontakte wurden nicht mit dem Ziel der Ermittlung präventionsrelevanter Fragestellungen aufgebaut. Die Polizeibeamten nutzten die sich bei Gelegenheit der Sachverhaltsaufklärung bietenden Möglichkeiten, um gezielte Fragen an den Beschuldigten oder andere Personen zu stellen. Neben den polizeilicherseits veranlaßten Kontakten wurde insbesondere von den Eltern des Beschuldigten das Gespräch mit den Polizeibeamten gesucht.

382

Polizei und Diversion

Die Einbeziehung des weiteren sozialen Umfeldes sowie von Institutionen sozialer Kontrolle (Schule, Bewährungshilfe) folgte den gleichen Grundsätzen. Als Beispiele können hier zwei Fälle angeführt werden, denen Diebstähle im Schulbereich zugrundelagen. Von schulischer Seite waren bereits vorab Erkundigungen (insbesondere Gespräche mit - vermeintlichen - Tatverdächtigen) durchgeführt worden, die aber nicht zur endgültigen Lösung des Konflikts führten. Daraufhin wurde die Polizei eingeschaltet, in einem Fall mit der Bitte, die Vernehmung aus pädagogischen Gründen ("Diebstähle bleiben nicht ungestraft") in der Schule abzuhalten. Eine Einschaltung z.B. des Arbeitgebers erfolgte in den beobachteten Fällen nur durch die Eltern, die diesen überstürzt von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt hatten. Weitere polizeilich veranlaßte Kontakte bestanden zudem zum Heim und zur Bewährungshilfe. Sie hielten sich im Rahmen dessen, was zur Durchführung der Tataufklärung gefordert war.

Es läßt sich somit festhalten, daß die im Informationsbogen konkretisierten Ermittlungsaufträge an die Polizei diese nicht zu zusätzlichen Ermittlungshandlungen veranlaßt haben. Kontakte zur Erhebung präventionsrelevanter Kriterien kamen im Zuge der Tataufklärung zustande. Dieser Befund wird durch die Inhalte der Informationsbôgen weitgehend bestätigt. Sie geben zum Teil schon aufgrund der gezielten Fragestellungen (z.B. erzieherische Wirkung polizeilicher Vorhalte, Verhalten beim ersten Polizeikontakt) Aufschluß über die Bedeutung der Beschuldigtenvernehmung und anderer Ermittlungsvorgänge als polizeiliche Erkenntnisquellen. Das gilt zunächst einmal fur die Person des Beschuldigten im Hinblick auf seine Aussage, sein Verhalten i.w.S. und die erzieherische Wirkung einzelner Ermittlungshandlungen. Die Informationsbogen enthalten zum Teil aber auch Hinweise auf Kontakte mit den Erziehungsberechtigten oder anderen Personen des sozialen Umfeldes und geben (Teil-)Auskünfte über die geführten Gespräche. Es ist nicht davon auszugehen, daß derartige Angaben (z.B. zur Anwesenheit eines Elternteils bei der Vernehmung) ein vollständiges Bild der polizeilichen Erkenntnisquellen bei der Bearbeitung des jeweiligen Falls widerspiegeln. Sie können vielmehr nur einen Eindruck über Anlaß und Inhalt solcher Gespräche vermitteln. Danach wurde in 7 % aller Fälle (von η = 1.056, bei Jugendlichen in 9 % von η = 742) ein Kontakt zu den Erziehungsberechtigten, Verwandten, Erziehern etc. im Informationsbogen festgehalten. Über die Hälfte dieser Kontakte kam eindeutig durch eine Anwesenheit in der Vernehmung zustande, während in 2 % aller Fälle (3 % bei den Jugendlichen) nur ihr Bestehen, nicht aber die Art (persönlich, telefonisch) erkennbar ist (z.B.: "laut Vater: Gefahrdung der Lehrstelle"). Telefonische Kontakte und Hausbesuche wurden demgegenüber seltener erwähnt. Von diesen Zahlen nicht erfaßt sind all diejenigen Fälle, in denen sich angesichts des Inhalts der Information zwar eine Beteiligung Dritter aufdrängt, diese aber nicht zweifelsfrei angenommen werden kann.

Die Inhalte, die durch diese Kontakte vermittelt werden, lassen sich am ehesten exemplarisch durch die wörtliche Wiedergabe von drei Eintragungen in den Informationsbogen darstellen.

Polizeiliche

Informationsvermitthuig

383

— "Ich nehme an, daß der Junge durch die intensive Einflußnahme durch den Vater (Levitenlesung allein hier bei der Vernehmung) für die Zukunft gegen solche Vorkommnisse geheilt ist." — "Mit der Mutter wurde von hier aus fernmündlich Rücksprache genommen. Sie gab an, daß der Fall mit dem Sohn hinreichend besprochen wurde und es bei einem Vorfall bleiben wird." — "H. versteht sich wohl nicht so gut mit seinem Vater. Er wollte erst aussagen, als der Vater das Vernehmungszimmer verlassen hatte. Er gab dann alles zu und war auch sehr aufgeschlossen. Möglicherweise fürchtete er sich vor weiterer Strafe."

In der Mehrzahl der Fälle erhält der Polizeibeamte Eindrücke über das Erziehungsverhalten der Eltern oder konkrete erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes auf die Tat (aber auch z.B. über Schulprobleme, Freizeitverhalten). Wendet man sich der Frage nach der Herkunft von Kenntnissen über Erziehungsmaßnahmen der Schule, der Nachbarn oder des Arbeitgebers zu, so läßt ein Vergleich von Informationsbogenvariablen mit solchen des Aktenerhebungsbogens erkennen, daß diese zum Teil im Zusammenhang mit dem Geschädigtenstatus der jeweiligen Person/Institution (Schule: Lehrer oder Mitschüler) stehen, d.h. entsprechende Informationen wurden im Rahmen der regulären Tatverdachtsermittlungen erlangt. Auch insoweit dürften keine unverhältnismäßigen Ermittlungen, die den Beschuldigten in seinem sozialen Umfeld diskreditieren könnten, vorgenommen worden sein.

4.2.1.2

Das polizeiliche Ermittlungshandeln

(1) Die qualitative Auswertung der beobachteten Beschuldigtenvernehmungen ergab keine Anhaltspunkte dafür, daß Polizeibeamte sich durch die Einführung des Informationsbogens, insbesondere durch die Frage nach der erzieherischen Wirkung des Ermittlungsverfahrens, dazu veranlaßt sahen, erzieherisch intendierte Gespräche mit dem Beschuldigten quasi als Pflichtprogramm in die verantwortliche Vernehmung aufzunehmen. Soweit derartige Gespräche stattfanden, knüpften sie an besondere Merkmale der Tat (z.B. bei Tendenzen zur Selbstjustiz) oder des Beschuldigten (z.B. wiederholte Auffälligkeit in kurzen Zeitabständen) an. Sie spiegelten dabei zum Teil ein besonderes Engagement einzelner Polizeibeamter wider, den Beschuldigten von weiteren Straftaten abzuhalten, das bereits vor Einführung des Informationsmodells beobachtbar war. Durch das Informationsmodell verursachte Veränderungen konnten allerdings im Hinblick auf das Ermittlungsverhalten der Polizeibeamten während der Vernehmung festgehalten werden. Die nach § 45 relevanten Fragestellungen wurden mit einem eher geringen Aufwand zu klären versucht. Als solcher stellte sich in der Regel das bloße Abfragen der

384

Polizei und Diversion

im Informationsbogen enthaltenen Themen dar. Ansprechpartner waren dabei zunächst der Beschuldigte, aber auch eventuell vorhandene Begleitpersonen. In dem einen oder anderen Fall entwickelte sich aus diesen gezielten Fragestellungen ein ausführliches Gespräch, das dann auch einem entsprechenden Diskussionsbediirfnis des Beschuldigten/der Begleitperson entsprach. Darüber hinaus konnten — wie bereits in der 1. Beobachtungsphase — unmittelbare Eindrücke über einstellungsrelevante Tatsachen beobachtet werden, ohne daß diese durch ein entsprechendes Nachfragen der Vernehmungsbeamten veranlaßt wurden (z.B. deutlich demonstrierte Strenge der Eltern; Weinen des Beschuldigten und/oder des Vaters während der gesamten Vernehmung).

(2) Eingriffe in die Freiheitsrechte des Beschuldigten, insbesondere in das Persönlichkeitsrecht und den engeren Schutzbereich der Privatsphäre, liegen dann nahe, wenn polizeiliche Ermittlungen die persönlichen und sozialen Verhältnisse des Beschuldigten unter spezialpräventiven Gesichtspunkten erfassen sollen. In beschränktem Umfang zielt der Informationsbogen durch die Frage nach bereits erfolgten oder zu erwartenden Erziehungsmaßnahmen auf die Ermittlung familiärer und sonstiger sozialer Bedingungen. Angesichts dieser Modellkonzeption wurden die konkreten Inhalte der polizeilichen Vernehmung im Rahmen der Beobachtung einer weiteren Kontrolle durch eine Ratingskala unterzogen, die vor und nach Einführung des Informationsbogens das Maß des durch Fragen zur Person und/ oder zur sozialen Umgebung des Beschuldigten erfolgten Eingriffs in die Privatsphäre festhielt. Eine Gegenüberstellung beider Beobachtungsphasen läßt folgendes Bild erkennen:

Tab. 4.1:

Die Fragen zur Person und/oder zur sozialen Umgebung des Beschuldigten erweisen sich als besonders starker — keinerlei Eingriff in die Privatsphäre, differenziert nach den Beobachtungsphasen vor und nach Einführung des Informationsmodells

besonders starker Eingriff 3

2

1

I

I

I

I

I

I

ι

10

9

7

13

59 58%

101 39%

5 3%

6 4%

5 3%

7 4%

134

160

0

1

keinerlei Eingriff 3

2

Vorher

Nachher 3 2%

Kolmogorov-Smirnov-Test = 1,99; α = 0,001

Polizeiliche

Informationsvermittlwg

385

Wenngleich ein entsprechender Trend hin zu einer geringeren Eingriffsstärke nach Einführung des Informationsmodells sichtbar ist, läßt dieser Vergleich nicht den Schluß zu, das Informationsmodell führe zu einer ausgeprägteren Wahrung der Privatsphäre des Beschuldigten. Hier sind zu viele intervenierende Variablen denkbar. Die Tabelle verdeutlicht aber, daß das Gegenteil, eine Persönlichkeitsrechte verletzende Ermittlungsführung der Polizeibeamten als Folge des Modellversuchs, wohl ausgeschlossen werden kann. (3) Über diese Ratingskala hinausgehend wurde zudem eine Kontrolle des polizeilichen Ermittlungshandelns im Hinblick auf eine nach § 136a StPO unzulässige Beeinflussung des Beschuldigtenwillens vorgenommen. Ostendorf sieht in der Ausstattung der Polizei mit Diversionskompetenzen die Gefahr, daß diese in der Vernehmung als Druckmittel verwendet werden (so für Schleswig-Holstein Ostendorf 1987, § 45 Rn. 16). Wenngleich das Bielefelder Modell der Polizei nur ein Vorschlagsrecht einräumt, wurde diese Problematik vor seiner Einführung gesehen und bei der Konzeption der Modellevaluation berücksichtigt. Während der fast halbjährigen Beobachtungsphase nach Einführung des Informationsmodells wurden Maßnahmen, die die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung des Beschuldigten i.S.d. § 136a StPO beeinträchtigen könnten, im Wortlaut unter vorstrukturierten Kategorien festgehalten. Bezogen auf das polizeiliche Vorschlagsrecht kommen — rechtsdogmatisch gesehen — Eingriffe in die Willensfreiheit durch Drohungen mit unzulässigen Maßnahmen oder durch Versprechen gesetzlich nicht vorgesehener Vorteile in Betracht. Unter letzterem soll nach h.M. nur die Erteilung einer bindenden Zusage zu fassen sein (Karlsruher Kommentar-Boujong 1987, § 136a Rn. 32). Streitig ist, ob das Versprechen eines Vorteils rechtlich zulässig mit der Gegenleistung "Aussage" verknüpft werden kann und ein erlaubter Vorteil zugesagt werden darf. Angesichts der eher restriktiven Diktion des Gesetzes stellt sich die Frage, ob ein Hinweis des Polizeibeamten, er werde dem Staatsanwalt eine Verfahrenseinstellung vorschlagen, wenn der Beschuldigte aussage oder die Tat zugebe, die vorgenannten Voraussetzungen überhaupt erfüllt. Läßt der Polizeibeamte den Beschuldigten im Unklaren darüber, daß es sich um ein bloßes Recht zum Vorschlag handelt, oder erweckt er den Eindruck, Entscheidungskompetenzen zu besitzen, so bewegt sich diese Vorgehensweise bereits im Täuschungsbereich. Die endgültige Klärung dieser rechtlichen Frage soll hier jedoch dahingestellt bleiben. Ein richtiges Verständnis des Grundsatzes vom fairen Verfahren muß an dem Recht des Beschuldigten ansetzen, sich nicht selbst belasten zu müssen (BVerfGE 56, 37, 41 ff.). Jegliche Drohungen und Versprechen, die aus der Sicht des Beschuldigten auf die Erlangung eines Geständnisses abzielen, beeinträchtigen eine effektive Wahrnehmung dieses Rechts und widersprechen dem

386

Polizei und Diversion

Fairneßprinzip. Das muß für Jugendliche/Heranwachsende angesichts ihrer geringen Handlungskompetenz im Umgang mit der Polizei verstärkt gelten. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Vernehmungspraxis der Polizei nach Einführung des Informationsmodells, so stellt sich die Frage, ob Drohungen oder Versprechen im Zusammenhang mit dem Informationsbogen vorgenommen wurden. In vier Fällen hat der Polizeibeamte im Zuge der Vernehmung darauf hingewiesen, daß er einen Bericht schreiben werde und darin ein gutes Wort für den Beschuldigten einlegen könne bzw. dieses nicht tun werde. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Informationsbogen konnte in zwei Fällen, allerdings nach Abschluß der Vernehmung, festgehalten werden. Nach den Beobachtungen läßt sich somit eine konkrete Verwendung des Informationsbogens als Druckmittel zur Geständniserwirkung nicht bestätigen. Im übrigen stünden den Polizeibeamten im Rahmen der von der Rechtsprechung vorgenommenen engen Auslegung des § 136a StPO ohnehin weitreichende Beeinflussungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Ergebnisse der 1. Beobachtungsphase insoweit bestätigt werden konnten, als den Polizeibeamten geeignete Informationsquellen zur Ermittlung präventionsrelevanter Fragestellungen zur Verfügung stehen. Die Polizeibeamten greifen bei der konkreten Umsetzung des Informationsmodells auf diejenigen Erkenntnisquellen zurück, die sich ihnen im Rahmen der Sachverhaltserforschung bieten. Eine unverhältnismäßige, Freiheitsrechte tangierende Ausforschung persönlicher Lebensverhältnisse durch die polizeiliche Umsetzung der an § 45 orientierten Ermittlungsaufgaben konnte nicht festgestellt werden.

4.2.2

4.2.2.1

Vergleich des Informationsanfalls vor und nach Einführung des Informationsmodells anhand der Beobachtungsdaten Ermittlungsschwerpunkte

Die qualitativen Auswertungen zum Befragungsverhalten der Polizeibeamten in der verantwortlichen Vernehmung werden bestätigt, wenn man einen Vergleich der polizeilichen Vernehmungsschwerpunkte vor und nach Einführung des Informationsmodells durchführt. Die anhand von Ratingskalen vorgenommenen Einschätzungen der Beobachter/innen zu Fragen der Tataufklärung und Bedingungen einer Verfahrenseinstellung ergeben im Vergleich der beiden Beobachtungszeiträume das folgende Bild:

Polizeiliche Informationsvermittlung Tab. 4.2:

387

Fragen nach Tatmodalitäten, objektiven Tatbestandsmerkmalen, zur Geständniserwirkung, differenziert nach den Beobachtungsphasen vor und nach Einführung des Informationsmodells

nicht angesprochen 3 I

besprochen 2 I

1 I

0 I

1 I

2 I

ausführlich besprochen 3 I

Vorher 1 1%

1 1%

24 22%

5 5%

52 47%

27 25%

110 41%

7 5%

2 1%

36 23%

16 10%

67 43%

29 19%

157 59%

Nachher

Kolmogorov-Smirnov-Test = 0,86; α = 0,453

Tab. 4.3:

Fragen nach möglichen Bedingungen einer Verfahrenseinstellung, differenziert nach den Beobachtungsphasen vor und nach Einführung des Informationsmodells

nicht angesprochen

besprochen

3 I

2 I

1 I

87 76%

1 1%

82 53%

5 3%

0

2

ausführlich besprochen 3 I

I

1 I

2 2%

13 11%

4 4%

6 5%

2 2%

115 43%

10 7%

20 13%

26 17%

11 7%

1 1%

155 57%

I

Vorher

Nachher

Kolmogorov-Smirnov-Test = 1,85; α = 0,002

Tabelle 4.2 zeigt deutlich, daß die Einführung des Informationsmodells keine einschneidenden Veränderungen der polizeilichen Tataufklärungspraxis herbeigeführt hat. Im Hinblick auf die Bedingungen einer Verfahrenseinstellung läßt sich hingegen ein signifikanter Unterschied zwischen beiden Beobachtungsphasen in der erwarteten Richtung feststellen. Es wurden nach der Einführung des Informationsmodells signifikant häufiger Fragen zu präventionsrelevanten Themenkomplexen gestellt, ohne daß es allerdings zu einer deutlichen Schwerpunktverlagerung von einem Extrem ("nicht angesprochen") zum anderen ("ausführlich besprochen") gekommen wäre. Die Tatsache, daß mit Ausnahme der beiden Ex-

388

Polizei und Diversion

trempositionen alle Punkte der Ratingskala nach Einführung des Informationsmodells prozentual häufiger angekreuzt wurden, entspricht dem qualitativ gefundenen Ergebnis, daß einstellungsrelevante Umstände in der Vernehmung regelmäßig durch gezieltes Abfragen erhoben wurden, bisweilen aber auch ausführlichere Gespräche stattfanden. Die Zielsetzung der am Informationsmodell beteiligten Instanzen, den nach § 45 bedeutsamen Informationen mehr Beachtung in der polizeilichen Vernehmung zu schenken, ohne daß die polizeiliche Aufgabe der Sachverhaltserforschung an Bedeutung verliert, wurde nach diesen Analyseergebnissen in die Praxis umgesetzt.

4.2.2.2

Inhalte der Ermittlungen

An dieser Stelle soll nur ein auf Beobachtung basierendes Beispiel der Steigerung des Informationsanfalls in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung aufgegriffen werden: die erzieherischen Reaktionen des sozialen Umfeldes (vgl. § 45 Abs. 2 Nr. 1). Die Analysen der in den Informationsbögen festgehaltenen Inhalte sind hier aussagekräftiger, da sie auf einer Zahlenbasis von η = 1.056 beruhen, die Einschätzungen der Polizeibeamten und nicht die der Beobachter/innen zu einzelnen Fragestellungen wiedergeben (z.B. erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens) und neben der Beschuldigtenvernehmung auch andere Informationsquellen von den Polizeibeamten herangezogen wurden.

Konnte in der 1. Beobachtungsphase nur in rund 30 % der Fälle festgehalten werden, daß eine Frage nach den erzieherischen Reaktionen des sozialen Umfeldes gestellt wurde, und lagen zu dieser Fragestellung in rund 20 % der Vernehmungen Erkenntnisse vor, so wurde nach der Einführung des Informationsmodells in fast zwei Drittel der Vernehmungen dieser Punkt thematisiert. In 35 % der beobachteten Vernehmungen hatten z.B. die Eltern bereits reagiert bzw. war eine Reaktion zu erwarten, wofür jeweils deutliche Anhaltspunkte (insbesondere Angaben der Beschuldigten oder auch Eltern) vorlagen. Der angestrebte Effekt einer verbreiterten Informationsbasis, für die die Erziehungsmaßnahmen nur als Beispiel stehen, ist nach den Beobachtungen polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen eingetreten.

4.2.3

Analyse der Informationsbögen

Eindeutige Aussagen über den modellbedingten Informationsanfall bei der Staatsanwaltschaft können aufgrund einer Analyse der 1.056 ausgefüllten Informations-

Polizeiliche

Informationsvermittlung

389

bögen getroffen werden. Im folgenden sollen zunächst die einzelnen Fragestellungen der Reihe nach aufgegriffen werden, denen ein Gesamtüberblick über die Anwendung des Informationsbogens durch die Polizeibeamten unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte folgt.

4.2.3.1

Mitursächliches Tatmotiv (Kategorie Nr. 2 des Informationsbogens)

Das "mitursächliche Tatmotiv" des Beschuldigten ist für alle drei Handlungsalternativen des Jugendstaatsanwalts nach § 45 von Bedeutung: (1) nach § 45 Abs. 2 Nr. 2 zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit geringer Schuld (§ 46 Abs. 2 S. 2 StGB: "die Beweggründe und die Ziele des Täters"), (2) bei § 45 Abs. 2 Nr. 1 im Hinblick auf die Frage, ob eine erzieherische Maßnahme eine Ahndung durch den Richter entbehrlich macht, sowie auf Strafzumessungserwägungen (Art und Höhe zu verhängender Sanktionsäquivalente), (3) nach § 45 Abs. 1 gleichermaßen zur Bewertung der Entbehrlichkeit einer Ahndung durch Urteil und auch hier zur notwendigen Strafzumessung. Nach überwiegender Ansicht darf die Reaktion auf die Tat auch im Jugendstrafrecht nicht außer Verhältnis zur Tatschuld stehen, d.h. sie begrenzt die Höhe der Strafe nach oben (Bruns 1980, 103). Auch in diesem Zusammenhang gewinnt § 46 Abs. 2 S. 2 StGB mit seiner expliziten Bezugnahme auf die Tatmotivation Bedeutung für die Anwendung des § 45 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1.

In der Liste der vorgegebenen "mitursächlichen Tatmotive" tragen nur einige wenige deutlich negativ oder positiv behaftete Züge (z.B. "Bereicherungsabsicht ohne Notlage", "übermäßiger Eigennutz ..."), die eine Bewertung seitens der Polizeibeamten voraussetzen. Anderen Ursachen, wie dem Alkoholeinfluß kann sowohl be- als auch entlastende Bedeutung — eventuell deliktsabhängig — beigemessen werden. Bei den einzelnen Kriterien handelt es sich einerseits um Tatursachen, die dem Beschuldigten bei der Begehung der Tat nicht aktuell bewußt gewesen sein müssen (z.B. innere Belastungen), und andererseits um Tatmotive, die bei der Tatausführung als handlungsleitend eingeordnet werden können (z.B. günstige Gelegenheit). Im Vordergrund stehen nach der quantitativen Auszählung aller Fälle vor allem zwei "mitursächliche Tatmotive", die jeweils in einem Viertel der Fälle angenommen wurden, nämlich "Bereicherungsabsicht ohne Notlage" und "günstige Gelegenheit". Sie wurden auch am häufigsten gleichzeitig angekreuzt. Im Bereich zwischen 10 und 20 % liegen sechs Motive/Ursachen, die weitgehend jugendtümliche Züge aufweisen (Ausnahme: Alkoholeinfluß) und sich zum Teil schon bei den Beobachtungen polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen als bedeutsam herausgestellt haben. Den eher für Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen

390

Tab. 4.4:

Polizei und Diversion

"Mitursächliches Tatmotiv" Alle Fälle

Bereicherungsabsicht ohne Notlage Günstige Gelegenheit Beeinflussung durch Tatbeteiligte und Sonstige Alkoholeinfluß Selbst nicht erklärbar Mangelnde geistige Reife Abenteuerlust, Mutprobe, Probierverhalten Langeweile Keine Angaben Geltungsdrang, "Angeberei" Hang zur Aggressivität Durch Provokation hingerissen Streich Innere Belastung, Familienstreitigkeiten Rache Notlage, Hunger Übermäßiger Eigennutz, besondere Rücksichtslosigkeit Innere Belastung, Scheidung der Eltern Keine Erinnerung Innere Belastung, Versagen in Schule oder Beruf Blind vor Wut, Kopf verloren Mitbeeinflussend: Erlaß zur Einstellung des Verfahrens bei einem Schaden unter 100, — DM Innere Belastung, Familienunglück Alkoholiker Tabletteneinfluß Drogenabhängigkeit Drogeneinfluß

Diebstahl*

Körperverletzung*

abs.

%

abs.

%

276 261

26,1 24,7

267 252

32,8 30,9





-

-

187 146 145 142

17,7 13,8 13,7 13,4

143 52 133 123

17,5 6,4 16,3 15,1

22 30 8

7,5

129 121 52 38 35 34 29

12,2 11,5 4,9 3,6 3,3 3,2 2,7

113 94 40 22 5 1 14

13,9 11,5 4,9 2,7 0,6 0,1 1,7

3 6 3 12 19 28

2,8 5,7 2,8 11,3 17,9 26,4

29 27 24

2,7 2,6 2,3

21 1 23

2,6 0,1 2,8

2 16

21

2,0

14

1,7

21 18

2,0 1,7

21 13

2,6 1,6

-

16 14

1,5 1,3

14 2

11 3 2 2 1

1,0 0,3 0,2 0,2 0,1

9 2 1 2 1







abs.

-

%

20,8 28,3 -

-

-

SachbeSchädigung* abs. —

% —

6

6,6

10 50 10 4

11,0 54,9 11,0 4,4

9 15 7 4 8 4 10

9,9 16,5 7,7 4,4 8,8 4,4 11,0

4 7

4,4 7,7

1,9 15,1 -

-

-

6

5,7





-

-

3

2,8

1,7 0,2

1 10

0,9 9,4

1,1 0,2 0,1 0,2 0,1

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-











-



2

2,2

2

2,2

1

1,1

1

1,1

-



-

-

* Prozentsätze bezogen auf alle Fälle der jeweiligen Deliktsart

typischen Tatmotiven/-ursachen (z.B. "Hang zur Aggressivität", "blind vor Wut, Kopf verloren") kommt entsprechend der Deliktshäufigkeit in der Gesamtstichprobe (Körperverletzung: 10 %, Sachbeschädigung: 8 , 6 % bei η =

1.056) eine eher

Polizeiliche Informatíonsvennittlung

391

untergeordnete Bedeutung (anders bei deliktsspezifischer Betrachtung) zu. Erwähnenswert erscheint hier noch, daß entgegen polizeilicher Vermutungen, die Beschuldigten würden sich vermehrt auf den sogenannten "Krumsiek-Erlaß" (eine generelle Empfehlung des Justizministeriums zur Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO bei einem Schaden unter 100 DM) berufen, dieser Erlaß nur in 11 Fällen als mitbeeinflussend für die Tatbegehung angesehen wurde und nur ein Beschuldigter sich explizit auf ihn bezogen hat (vgl. Tab. 4.5). Unter der Auffangrubrik "Sonstiges" (12 % aller Fälle, η = 127) wurde eine Bandbreite von Tatmotiven und -Ursachen festgehalten, die sich einer letztlich eindeutigen Zusammenfassung verschließt. Rund ein Fünftel der Eintragungen bezieht sich auf Geldprobleme. Eine etwas bedeutendere Rolle spielen noch jugendgemäße Handlungsantriebe (z.B. Neugierde, Übermut, Spontanreaktion, Spiel), Tatbegehung für andere (Geschenke/Hilfe), Tatbeeinflussung durch andere, Beziehungsprobleme mit dem Geschädigten (Streit, Provokation, Rivalität, Vergeltung, Eifersucht etc.). Die Rubrik "Sonstiges" wird des weiteren dazu genutzt, auf das Abstreiten der Tat/Diebstahlsabsicht oder das Nichterscheinen zur Vernehmung hinzuweisen (insgesamt 11 % der Eintragungen). Kreuztabellen der unter "Sonstiges" wiedergegebenen "mitursächlichen Tatmotive" mit den vorgegebenen Antwortkategorien lassen keine eindeutige Charakterisierung der einzelnen Angaben als nur be- oder nur entlastend zu. In lediglich 4 % aller Fälle findet sich keinerlei Eintragung in der Kategorie Tatmotiv. In mehr als der Hälfte dieser 42 Fälle wurde keine Vernehmung durchgeführt, verweigerte der Beschuldigte die Aussage zur Sache oder bestritt die Tat. Vor diesem Hintergrund kann die Informationslage der Staatsanwaltschaft zum Thema "mitursächliches Tatmotiv" als umfassend bezeichnet werden. Der Informationswert der vorgegebenen Motivationen scheint jedoch von den Polizeibeamten als nicht ausreichend einzelfallorientiert angesehen worden zu sein. Dafür sprechen u.a.: — Korrekturen der Polizeibeamten bei verschiedenen Motiven/Ursachen, — die umfangreiche Nutzung der Möglichkeit zur Mehrfachnennung und — die Angaben in der offenen Liste. Die Polizeibeamten versuchen die Motivlage differenzierter darzustellen, als es die Vorgaben ermöglichen. Dabei werden zunächst dem Wortlaut nach eindeutig als negativ/positiv zu bewertende Motivationen durch die Bejahung weiterer Motive/Ursachen möglicherweise für die Staatsanwaltschaft in ihrer Aussage relativiert, was mitunter zu einem nicht eindeutigen oder gar widersprüchlichen Bild führt.

392

4.2.3.2

Polizei und Diversion Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat (Kategorie Nr. 3 des Informationsbogens)

Die "subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat", ist unter spezialpräventiven Gesichtspunkten für die in § 45 Abs. 1, § 45 Abs. 2 Nr. 1 geforderten Abwägungsprozesse (Entbehrlichmachen richterlicher Ahndung) sowie die Festlegung einer konkreten Sanktion bedeutsam. Das nach den §§ 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG, 153 StPO vorgeschriebene Fehlen des öffentlichen Interesses kann ebenfalls auf spezialpräventiven Gründen beruhen (Kleinknecht/Meyer 1989, § 153 Rn. 7). Die Frage, wie sich der Beschuldigte im nachhinein zu seiner Tat verhält, ist geeignet, Aufschluß über das Bestehen von Wiederholungsgefahr zu geben.

Die Liste der vorgegebenen Antworten enthält eine positiv und sechs negativ zu bewertende Kategorien. Sie verlangt von den Polizeibeamten eine auf Tatsachen basierende Bewertung u.a. darüber, ob der Beschuldigte "keine Reue", "unglaubhaft" oder "glaubhaft Reue" gezeigt hat.

Tab. 4.5:

"Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat" abs.

Beschuldigter zeigt glaubhaft Reue Keine Einschätzung möglich Beschuldigter zeigt keine Reue Beschuldigter zeigt keine Einsicht, würde es wieder tun Beschuldigter zeigt unglaubhaft Reue Beschuldigter gibt mit den Taten an Beschuldigter droht Opfer, Zeugen, Mittätern Beschuldigter beruft sich auf Erlaß zur Einstellung des Verfahrens bei einem Schaden unter 100,— DM

% 49,4

522 204 143 95 79 21 13

19,3 13,5 9,0 7,5 2,0 1,2

1

0,1

Tabelle 4.5 zeigt, daß die einzige positive Ankreuzmöglichkeit bei weitem am häufigsten genutzt wurde. In fast der Hälfte aller Fälle geht der Polizeibeamte aufgrund seiner Eindrücke aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Beschuldigten von einer die Tat "bereuenden/einsichtigen" Person aus. Diese Tatsache rechtfertigt den Schluß, daß in vielen Fällen - spezialpräventiv gesehen - keine Notwendigkeit für weitere normverdeutlichende Maßnahmen besteht. Neben den Fällen ohne Eintragung zum Thema "subjektive Stellung" haben Polizeibeamte in rund einem Fünftel der Fälle von einer Einschätzung abgesehen. In lediglich 28 % dieser Fälle ohne Einschätzung fehlte es an einer Vernehmung, einer Aussage zur Sache oder einem Geständnis. Die Polizeibeamten greifen diese Gründe zum Teil auch explizit unter der Rubrik "Sonstiges" auf.

Polizeiliche

Informationsvermittlung

393

Die Rubrik "Sonstiges" (n = 124) wurde entsprechend dem Zusatz "in welcher Weise wird die Reue gezeigt?" weitgehend dazu genutzt, das Ankreuzverhalten des Beamten bei den vorgegebenen Antwortkategorien zu erläutern. Das geschieht u.a. durch die Wiedergabe der Reuebekundungen ("Es war Scheiße!", Weinen in der Vernehmung), Formen tätiger Reue (Entschuldigung beim Geschädigten), sonstigen Aussageinhalten ("ich will lernen und weiterkommen") sowie durch Umschreibungen des Verhaltens in der Vernehmung mit Hilfe von Adjektiven (z.B. "niedergeschlagen", "geknickt", "kleinlaut"). Eine quantitativ bedeutsame Rolle spielen auch Angaben über das Fehlen eines Geständnisses, einer Aussage zur Sache, einer Vernehmung, über das Nichterscheinen zur Vernehmung und die geäußerte Ansicht, unschuldig zu sein (insgesamt: 32 % der Eintragungen). Faßt man jeweils positive wie negative Nennungen der vorgegebenen Antworten und offenen Eintragungen (soweit eindeutig der Thematik "Reue/Einsicht" zuordbar) zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

Tab. 4.6:

"Reue/Einsicht" versus "keine Reue/Einsicht"

Reue / Einsicht Keine Reue / Einsicht Keine Angabe / Einschätzung Summe

abs.

%

527 272 257

49,9 25,8 24,3

1056

100,0

Kreuztabellen dieser Reuevariablen mit sozialen Merkmalen des Beschuldigten lassen z.B. für die Nationalität, derzeitige Tätigkeit, Schulausbildung und Wohnung/Aufenthalt signifikante Unterschiede bei der Frage "Reue/keine Reue" erkennen. Ausländer, Arbeitslose, Personen mit Sonderschulausbildung sowie Heimbewohner finden sich signifikant häufiger in der Gruppe der "Uneinsichtigen". Dieser Befund erlaubt verschiedene Interpretationen: — Sie waren realiter — unabhängig von weiteren Tat- und Tätermerkmalen — seltener "reuig"; — es fehlt ihnen die Handlungskompetenz (bei Ausländern eventuell auch das Sprachvermögen), um "Reue glaubhaft" zu bekunden; — Polizeibeamte fassen - im Sinne eines Vorurteils - das Verhalten sozial auffälliger Personen in vergleichbaren Situationen seltener unter "Reue/Einsicht" als bei sozial unauffälligen. Keiner dieser drei Erklärungsansätze läßt sich anhand der Datenlage verifizieren oder falsifizieren.

394

Polizei und Diversion

Die Frage nach der subjektiven Stellung des Beschuldigten zur Tat wurde insgesamt - unter Einschluß fehlender Einschätzungen und der "sonstigen" Angaben - in 97 % der Fälle beantwortet. Von den verbleibenden 34 Verfahren lag in 21 Fällen keine Vernehmung, keine Aussage zur Sache oder kein Geständnis vor. Auch hier läßt sich somit festhalten, daß — soweit Polizeibeamte sich zu einer Einschätzung in der Lage sehen - dem Staatsanwalt wichtige Informationen zur Verfügung gestellt werden.

4.2.3.3

Schadenswiedergutmachung (Kategorie Nr. 4, 5 des Informationsbogens)

Die Bereitschaft des Beschuldigten zur Schadenswiedergutmachung oder eine (teilweise) bereits erfolgte Wiedergutmachung ist — wie bei der Tatmotivation — bei allen drei Entscheidungsalternativen des § 45 zu berücksichtigen. Soweit das Maß der Schuld (oberes Limit der Strafe oder bei der Bewertung "geringer Schuld") zu beachten ist, sieht § 46 Abs. 2 S. 2 StGB explizit die Schadens Wiedergutmachung als abwägungsrelevanten Faktor an. Als möglicher Ausdruck "tätiger Reue" kommt ihr zudem spezialpräventive Bedeutung zu.

Unter Schadens Wiedergutmachung sollen im folgenden freiwillige, d.h. nicht fremdbestimmte, Handlungen zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verstanden werden, wobei die Anregung auch von Dritten (insbesondere den Eltern) ausgehen kann. Ausgeschlossen werden durch diese enge Begriffsbestimmung all diejenigen Fälle, in denen dem Beschuldigten z.B. das Diebesgut vom Kaufhausdetektiv oder bei einer Hausdurchsuchung abgenommen wurde. Es geht somit weitgehend um Formen "tätiger Reue". Wenngleich drei der sechs im Informationsbogen benannten Stadien der Wiedergutmachung sprachlich durch "keine Schadens Wiedergutmachung" eingeleitet werden, läßt nur die letztere

Tab. 4.7:

"SchadensWiedergutmachung"

Unbekannt Schadenswiedergutmachung ist bereits erfolgt Keine Schadens Wiedergutmachung, aber u.U. Bereitschaft Keine Schadenswiedergutmachung, auch keine Bereitschaft Schadens Wiedergutmachung wurde bereits überlegt, aber noch nicht verwirklicht Keine Schadenswiedergutmachung, weil keine finanzielle Möglichkeit vorhanden Schadens Wiedergutmachung wurde angeboten, aber vom Opfer abgelehnt

abs.

%

232 185 98 97

22,0 17,5 9,3 9,2

75

7,1

50

4,7

5

0,5

Polizeiliche Informations Vermittlung

395

("auch keine Bereitschaft") auf eine entsprechende Ablehnungshaltung des Beschuldigten schließen. Eine Kategorie, in der Fälle ohne Notwendigkeit bzw. Möglichkeit einer Schadenswiedergutmachung festgehalten werden können, ist im Bogen nicht enthalten. Dieser Umstand führt dazu, daß die Angaben der Polizeibeamten zur Schadenswiedergutmachung, so wie sie Tabelle 4.7 zeigt, deutlich relativiert werden müssen. Vor allem die

— am häufigsten angekreuzte

— Kategorie

"unbekannt"

bezieht sich, wie ein Abgleich mit den Daten aus dem Aktenerhebungsbogen ergibt, zu 85 % auf Fälle, in denen der Diebstahlsgegenstand am Tatort verblieb. Auch unter bereits erfolgter Schadenswiedergutmachung finden sich einige dieser Fälle. Anhand der schriftlichen Erläuterungen zur "Art der Schadenswiedergutmachung"

wurde versucht,

Fälle echter Schadens Wiedergutmachung

von

anderen zu unterscheiden. Dabei zeigte sich, daß die Polizeibeamten gelegentlich die Bezahlung einer Fangprämie, eines Teils der gestohlenen Sachen oder eine Rückgabe mit anschließender Entschuldigung unter dieser Rubrik Aufgrund

der

Wortwahl,

unter Berücksichtigung

polizeilich

erwähnten.

hervorgehobener

Umstände ergibt sich folgender Überblick über den Gebrauch der Spalte "Art der Schadenswiedergutmachung" :

Tab. 4 . 8 :

"Art der Schadenswiedergutmachung"

abs.

%

Keine freiwillige Wiedergutmachung

99

9,4

Freiwillige Wiedergutmachung

99

9,4

Zweifelhafte Wiedergutmachung

66

6,3

Fangprämie

26

2,5

Keine Bereitschaft zur Wiedergutmachung

9

0,9

Arbeits Weisung etc.

7

0,7

Wiedergutmachung durch die Eltern

5

0,5

Nichterscheinen / Geständnis

5

0,5

Bei der

Zusammenfassung

"keine freiwillige

Wiedergutmachung"

dominieren die

Angaben

"Aushändigung", "einbehalten", "entfallt" und "kein Schaden". Die weitaus meisten Fälle einer zweifelhaften Freiwilligkeit der Leistung betreffen die "Rückgabe". Die quantitativ bedeutsamste Rolle spielt bei den freiwilligen Wiedergutmachungsleistungen der finanzielle Schadensausgleich, gefolgt von Entschuldigungen und Arbeitsleistungen. Das finanzielle Eintreten der Eltern für ihr Kind, zwar selten, wurde gesondert herausgestellt, da eine Wiedergutmachung des sozialen Umfeldes unter Umstanden positiver als gar keine Leistung wirkt. Hinter dem Schlagwort "Arbeitsweisung e t c . " verbergen sich Eintragungen, die sich auf die Zahlung einer Geldbuße oder gemeinnützige Arbeiten beziehen, ohne daß diese der Wiedergutmachung eines entstandenen Schadens dienen sollen.

396

Polizei und Diversion

Faßt man die verschiedenen Formen der freiwilligen Schadenswiedergutmachung oder der Bereitschaft dazu zusammen und stellt ihnen die mangelnde Bereitschaft sowie die nicht oder zweifelhafte freiwillige Leistung gegenüber, so zeigt die Auswertung der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten unter Berücksichtigung der "Art der Schadenswiedergutmachung" die folgende quantitative Verteilung:

Tab. 4.9:

Bereits erfolgte oder zu erwartende Schadenswiedergutmachung (Zusammenfassung unter Berücksichtigung der "Art der Schadenswiedergutmachung ")

Unbekannt / keine Angabe Bereitschaft zur Wiedergutmachung Keine / zweifelhafte Freiwilligkeit der Wiedergutmachung Keine Bereitschaft zur Wiedergutmachung Summe

abs.

%

476 315 170 95

45,1 29,8 16,1 9,0

1056

100,0

Konzentriert sich somit die eingangs gestellte Frage auf die beiden Gegensätze "Bereitschaft versus keine Bereitschaft", so zeigt sich — trotz der Problematik dieser Kategorie des Informationsbogens — im Vergleich zur Praxis vor Einführung des Modellversuchs eine deutlich verbesserte Informationslage der Staatsanwaltschaft. In 30 % der Fälle erhält der Staatsanwalt aus dem Informationsbogen die Mitteilung über eine bereits erfolgte oder bevorstehende Schadenswiedergutmachung.

4.2.3.4

Erziehungsmaßnahmen/informelle Sanktionen anderer Personen und Institutionen (Kategorie Nr. 6 des Informationsbogens)

Erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes oder Sanktionen der Instanzen sozialer Kontrolle finden nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 als Verfahrenseinstellungsvoraussetzung Berücksichtigung. Dabei kommt ersteren der Vorrang vor dem Eingriff formeller Kontrollinstanzen zu (insbesondere Vorrang des elterlichen Erziehungsrechts nach Art. 6 Abs. 2 GG). Nach h.M. werden von dem Begriff "angeordnet" sowohl bereits durchgeführte als auch eingeleitete Maßnahmen erfaßt (Eisenberg 1988, § 45 Rn. 19; vgl. B T - D r . 11/5829, 24). Die Frage, ob der Beschuldigte bereits erzieherische Reaktionen auf seine Tat erfahren hat, ist gleichermaßen für die Anwendung des § 45 Abs. 1 bedeutsam, da es das Subsidiaritätsprinzip verbietet, nach dieser Vorschrift zu verfahren, wenn ein Rückgriff auf § 45 Abs. 2 in Betracht kommt. Bereits angeordnete Erziehungsmaßnahmen im privaten Lebenskreis des Beschuldigten können nicht zuletzt das öffentliche Interesse nach den §§ 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG, 153 StPO entfallen lassen.

Polizeiliche Informationsvermittlung

Tab. 4.10:

397

"Erziehungsmaßnahmen / informelle Sanktionen anderer Personen und Institutionen" Bereits erfolgt

Zu erwarten

abs.

%

abs.

%

Eltern Sonstige Jugendamt Lehrer(in) / Schule Heimleiter Verwandte Arbeitgeber Opfer Freunde, Bekannte, Clique Vormund, Pfleger Vormundschaftsrichter, Erziehungsbeistand Nachbarn Partner(in)

321 28 20 19 17 9 6 6 5 3 3 2

30,4 2,7 1,9 1,8 1,6 0,9 0,6 0,6 0,5 0,3 0,3 0,2

101

9,6

Keine

323



24 6 24 2 2 1 1 5 1

2,3 0,6 2,3 0,2 0,2 0,1 0,1 0,5 0,1

-

1



30,6

-

-

-

0.1 -

Tabelle 4.10 weist mit 40 % (30 % bereits erfolgte, 10 % zu erwartende Erziehungsmaßnahmen) die Dominanz elterlicher Reaktionen aus. Der Umstand fehlender Sanktionen ist quantitativ weniger bedeutsam. Ansonsten erscheinen allenfalls noch Jugendamt, Heim, Schule und sonstige Personen/Institutionen erwähnenswert, also ausschließlich Instanzen der Sozialkontrolle. Unter "Sonstige" wurden ebenfalls überwiegend Instanzenkontakte wie z.B. Bewährungshelfer, Polizeibeamte, Ausländeramt, Sozialarbeiter erfaßt. Nach der Konzeption des Modellversuchs sollte die Informationsbasis der Staatsanwaltschaft derart verbessert werden, daß sie bei den nach § 45 notwendigen Abwägungsprozessen auf ein breites Wissen vor allem über elterliche Sanktionen zurückgreifen kann. Das ist ausweislich der zu diesem Thema festgehaltenen Quantitäten der Fall. Berücksichtigt man zudem die erzieherischen Maßnahmen der übrigen Personen/Institutionen, so zeigt sich, daß der Staatsanwalt in 50 % aller Fälle von einer bereits erfolgten oder zu erwartenden, nicht justitiellen, erzieherischen Reaktion ausgehen kann. In der Gruppe der elterlich Sanktionierten finden sich signifikant häufiger Jugendliche. Dagegen sind Arbeitslose (elterliche Maßnahmen bei 7 % der Arbeitslosen gegenüber 43 % bei den Nicht-Arbeitslosen), Sonderschüler und Heimbewohner signifikant unterrepräsentiert. Ausländische Beschuldigte gehörten tendenziell häufiger zu den elterlich Sanktionierten, was in das verbreitete Bild über strengere Erziehungsmaßstäbe ausländischer Eltern paßt.

Polizei

398

und

Diversion

Die unter Art der Reaktion festgehaltenen Informationen zeigen, daß diese Kategorie zum Teil mißverstanden wurde. Anstatt die konkrete Reaktionsform der Eltern oder anderer zu benennen, wurde mitunter die Reaktion des Beschuldigten auf erfolgte Sanktionen oder eine eher allgemeine Einstellung der Eltern zum Tatvorwurf fixiert. In 57 % (n = 242) der Fälle mit elterlicher Reaktion wurde eine konkrete Maßnahme benannt. Hierbei dominieren ganz eindeutig die verschiedensten Formen der verbalen Auseinandersetzung mit dem Beschuldigten über den Tatvorwurf (Gespräche, Vorhaltungen, "Donnerwetter" usw.). Quantitativ ebenfalls bedeutsam sind finanzielle Beschränkungen (Taschengeldkürzung, Schadensausgleich), Hausarrest/Ausgangsbeschränkungen, körperliche Züchtigungen (Ohrfeige, Schläge), Arbeitsauflagen und sonstige Freizeitbeschränkungen, die jugendtypische Aktivitäten betreffen (z.B. kein Besuch von Jugendheimen). Als Reaktionen den: Jugendamt: Heim: Schule: Sonstige: Verwandte: Arbeitgeber: Opfer:

anderer Personen/Institutionen sollen hier nur einige exemplarisch genannt werHeimeinweisung, Betreuung; verbale Reaktionen, Ausgangsbeschränkungen/Hausarrest, Arbeiten; Gespräche, besondere Beaufsichtigung, Arbeiten, Schulverweis; Gespräche (u.a. mit dem Vernehmungsbeamten), Bericht des Ausländeramts; verbale Reaktionen, Schläge/Prügel, Kontaktabbruch; Entlassung, Disziplinarmaßnahmen im öffentlichen Dienst; Hausarrest, Fangprämie.

Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die einzelnen nicht-justitiellen erzieherischen Reaktionen auf die Verfehlung des Beschuldigten unterscheiden sich deutlich nach ihrer Eingriffsintensität. Aber auch das bloße, normverdeutlichende Gespräch mit den Eltern rechtfertigt es, nach § 45 von der Strafverfolgung abzusehen. Die unter der Fragestellung "Erziehungsmaßnahmen/informelle Sanktionen" gesammelten Informationen können aufgrund ihrer Quantität und Qualität zur sachgerechten Umsetzung des Entscheidungsprogramms in § 45 beitragen.

4.2.3.5

Mögliche erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren (Kategorie Nr. 7 des Informationsbogens)

Polizeiliche Ermittlungshandlungen, insbesondere die polizeiliche Vernehmung oder polizeiliche Vorhalte, können nach h.M. erzieherische Maßnahmen i.S.d. § 45 Abs. 2 Nr. 1 sein (Brunner 1986, § 45 Rn. 10; Hermann 1984, 479; Ostendorf 1987, § 45 Rn. 16). Für sie gilt somit das zu den Erziehungsmaßnahmen informeller und formeller Sozialkontrolle Gesagte entsprechend.

Der Informationsbogen gibt neben der Möglichkeit, keine Einschätzung hinsichtlich der erzieherischen Wirkungen von Ermittlungshandlungen vorzunehmen ("unbekannt"), nur positive Statements vor. Auf die Ankreuzmöglichkeit "keine

Polizeiliche

Informationsvermittlung

399

Wirkung" wurde verzichtet, um aus rechtsstaatlicher Sicht äußerst fragwürdige Anreize zu vermeiden, den Widerstand des Beschuldigten gegen den Tatvorwurf als Indiz für das Mißlingen einer erzieherischen Einwirkung zu interpretieren.

Tab. 4.11:

"Mögliche erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren"

Tatverdächtiger war durch die Vernehmung beeindruckt Tatverdächtiger war durch polizeiliche Vorhalte beeindruckt Unbekannt Beeindruckt durch erkennungsdienstliche Behandlung, Gewahrsam

abs.

%

383 296 237 31

36,3 28,0 22,4 2,9

Tabelle 4.11 gibt aufgrund der Möglichkeit von Mehrfachnennungen zunächst nur einmal einen ersten Eindruck über die quantitative Verteilung der Ankreuzungen auf die einzelnen Angaben. In rund 57 % der Fälle "beeindruckt durch die Vernehmung" wurde gleichzeitig eine entsprechende Wirkung durch polizeiliche Vorhalte bescheinigt. Nimmt man alle drei Antwortkategorien zusammen, so wurde in 51 % der Fälle (n = 537) angenommen, daß eine erzieherische Wirkung polizeilicher Handlungen vorhanden ist, somit die Anwendungsvoraussetzung des § 45 Abs. 2 Nr. 1 ("erzieherische Maßnahme") erfüllt sein kann. In nicht unbedeutendem Umfang haben Polizeibeamte keine Stellungnahme (einschließlich "unbekannt") abgegeben, was zum Teil dadurch erklärt werden kann, daß keine Vernehmung, keine Aussage oder kein Geständnis zugrundelag. Der Tatsache, daß die Polizeibeamten in etwas mehr als einem Fünftel der Fälle die erzieherische Wirkung als unbekannt bezeichnet haben, kann nur in 26 % das Fehlen einer Aussage, Vernehmung oder eines Geständnisses zugrundegelegt werden. Diese Quote ist um genau 10 % höher, wenn man alle Fälle analysiert, in denen überhaupt keine Eintragung zu dieser Fragestellung (n = 144; 14 % von 1.056 Fällen), also nicht einmal eine "unbekannt"-Angabe, erfolgte. Polizeibeamte haben somit in nicht unbedeutendem Umfang keine Stellungnahme zur erzieherischen Wirkung abgegeben. In 17 % (n = 181) aller Fälle wurde die offene Spalte unter "Sonstiges" genutzt. Das geschah in über der Hälfte der Eintragungen, um eine erzieherische Wirkung des Verfahrens auf den Beschuldigten abzulehnen, d.h. die Polizeibeamten haben es von sich aus in diesen Fällen als notwendig angesehen, eine Negativinformation weiterzugeben.

400

Polizei und Diversion

In den übrigen Fällen wurden Informationen zur geistigen Reife, Art der Aussage (Bestreiten, Nichterscheinen etc.), subjektiven Stellung des Beschuldigten zur Tat ("Reue" versus "keine Reue") sowie adjektivistische Umschreibungen des Beschuldigtenverhaltens in der Vernehmung festgehalten. Bei den Charakterisierungen des Beschuldigtenverhaltens fallt es trotz des Leitthemas "erzieherische Wirkung", unter dem sie erfolgten, schwer, eine eindeutige Zuordnung mit "ja oder nein" zu treffen.

Bei der Bildung einer Variablen "erzieherische Wirkung" polizeilicher Handlungen versus "keine erzieherische Wirkung" wurde deshalb eine eher restriktive Zuordnung zu dem einen oder anderen Extrem gewählt und in Zweifelsfällen die Alternative "unbekannt" vorgezogen. Nach Auswertung der vorgegebenen Antwortkategorien und der offenen Spalte ergibt sich das folgende Bild:

Tab. 4.12:

"Erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens" versus "keine erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens"

Keine erzieherische Wirkung Erzieherische Wirkung Unbekannt / keine Angabe Summe

abs.

%

110 537 409

10,4 50,9 38,7

1056

100,0

Polizeibeamte haben demnach — wenn sie eine Bewertung getroffen haben — ganz überwiegend eine positive Wirkung des polizeilichen Verfahrens bejaht. Die These, daß der Tatentdeckung, polizeilichen Vernehmung etc. möglicherweise spezialpräventive Wirkungen, auch im Sinne expliziter Normverdeutlichung (vgl. Bottke 1984, 19 ff.; Heinz/Hügel 1986, 95; Sessar 1984, 46) zukommen, scheint danach von den Polizeibeamten bestätigt zu werden. Die allerdings nicht unerhebliche Anzahl der Nennungen "unbekannt" sowie das Fehlen jeglicher Angabe lassen erkennen, daß sich Polizeibeamte relativ häufig bei der Beantwortung dieser Frage enthalten wollten. Eine Korrelation dieser Thematik mit der subjektiven Stellung des Beschuldigten zur Tat, wie sie von den Polizeibeamten unter Frage 3 des Informationsbogens festgehalten wurde, zeigt deutlich, daß die positive Einschätzung bei beiden Fragen und die doppelte Negativbewertung, also eine Einteilung in Extreme, klar überwiegen.

Polizeiliche Informationsvermittlung Tab. 4.13:

401

Zusammenhang zwischen "Reue/Einsicht" und "erzieherischer Wirkung des Ermittlungsverfahrens "

"ERZIEHERISCHE WIRKUNG" "REUE/EINSICHT"

Vorhanden

Nicht vorhanden

Nicht vorhanden

76

13,3%

59

10,4%

Vorhanden

12

2,1%

423

74,2%

Summe

88

15,4%

482

84,6%

χ

= 222,11; α < 0,001; phi = 0,63

Es scheint somit nach der Einschätzung der Polizeibeamten eine Dichotomisierung des Beschuldigtenverhaltens angezeigt: der keine Einsicht zeigende Beschuldigte, der sich von dem Ermittlungsverfahren gegen ihn unbeeindruckt zeigt, und der einsichtige Beschuldigte, bei dem polizeiliches Handeln einen spezialpräventiv wirksamen Eindruck hinterläßt. Der letztere "Beschuldigtentyp" liegt weitaus häufiger als der erstere vor.

4.2.3.6

Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt und während der Vernehmung (Kategorie Nr. 8 des Informationsbogens)

Das Verhalten nach der Tat kann ähnlich wie die Schadenswiedergutmachung, die ein Beispiel für Nachtatverhalten darstellt, Bedeutung für alle drei Handlungsalternativen des § 45 aus spezialpräventiver und tatschuldorientierter (§ 46 Abs. 2 S. 2 StGB) Sicht erlangen. Die maßgeblichen rechtlichen Ansatzpunkte sind auch hier das Entbehrlichmachen einer richterlichen Ahndung, Strafzumessungserwägungen, die "geringe Schuld" und das Fehlen des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung. Zu berücksichtigen ist hierbei, daß nicht jedem, aus der Sicht einer effizienten Strafverfolgung negativ zu bewertenden Verhalten des Beschuldigten belastende Wirkung beigemessen werden darf (vgl. ausführlich hierzu Schönke/Schröder-Stree 1988, § 46 Rn. 39 ff.; Dreher/Tröndle 1988, § 46 Rn. 27 ff.).

Die Polizeibeamten haben zum Verhalten beim ersten Polizeikontakt in 29 % (n = 306) der Fälle Angaben gemacht (Kategorie Nr. 8a). Diese Zahl besagt zunächst einmal sehr wenig: Als erster Polizeikontakt wurden nämlich so unterschiedliche Ermittlungshandlungen wie der Erstzugriff (Festnahme etc.), aber auch die Beschuldigtenvernehmung eingeordnet. Ein Blick auf die nachfolgende offene Spalte zum Verhalten "während der Vernehmung" (Kategorie Nr. 8b) zeigt allerdings, daß die weitaus häufigeren Feststellungen zur Vernehmung unter diesem Punkt erfolgten (Eintragungen in 88 % aller Fälle, η = 929). Nimmt man beide

402

Polizei und Diversion

Kategorien (erster Polizeikontakt und Vernehmung) zusammen, so liegt in 90 % eine Eintragung zum Beschuldigtenverhalten vor. Allein schon die Quantität der über das Beschuldigtenverhalten vermittelten Informationen läßt auf eine gute Informationslage zu dieser Thematik schließen. Die verbleibenden 101 Fälle ohne jede Angabe betreffen zu 11 % solche ohne Vernehmung, zu 13 % solche ohne Aussage zur Sache und zu 13 % solche ohne Geständnis. Wendet man sich der Frage nach der Qualität der Angaben, also den Aussageinhalten, zu, so sind vier Themenkreise zu unterscheiden, die gleichermaßen beim ersten Polizeikontakt wie bei der Vernehmung dominieren: (1) Der Polizeibeamte charakterisiert in weitem Umfang die Person des Beschuldigten und/oder sein Verhalten durch bewertende Feststellungen. (2) Der Beitrag des Beschuldigten zur Tataufklärung ist ein weiteres Thema. Dabei wird zum einen eine polizeiliche Bewertung getroffen, ob eine solche Kooperation vorliegt oder nicht. Zum anderen werden Verhaltensweisen des Beschuldigten beschrieben, die auf ein kooperatives/unkooperatives Verhalten schließen lassen. (3) Das Nichterscheinen des Beschuldigten zur Vernehmung sowie die Art der Aussage werden behandelt. (4) Es werden Problemstellungen aufgegriffen, die bereits im übrigen Teil des Informationsbogens explizit abgefragt werden. Die genannten Fragestellungen werden von den Polizeibeamten alternativ, häufiger aber kumulativ angesprochen. Zu den Themenkomplexen im einzelnen: (1) Die Charakterisierung des Beschuldigten bzw. seines Verhaltens durch Eigenschaftszuschreibungen umfaßt eine Vielzahl von Adjektiven, die in verschiedenen Kombinationen genutzt wurden. Zur Vermittlung eines Eindrucks über die quantitative Bedeutung derartiger Informationen haben wir eine grobe Einteilung der Merkmale in positiv und negativ besetzte vorgenommen, und zwar unabhängig davon, in welchem Zusammenhang sie z.B. mit anderen Adjektiven, Fragen der Tataufklärung etc. standen. Es erfolgt eine Definition "positive Eigenschaft benannt" versus "keine positive Eigenschaft benannt" bzw. "negative Eigenschaft benannt" versus "keine negative Eigenschaft benannt". Kombinationen zwischen beiden neu gebildeten Variablen wurden nicht berücksichtigt. Die Bestimmung als positiv oder negativ richtete sich zum einen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, zum anderen nach den besonderen Bedingungen des Kontakts mit Polizeibeamten aus Anlaß der Straftat. Entscheidungsrelevante Faktoren waren dabei u.a., ob die Eigenschaft Kooperation, Respekt, Unterordnung, jugendliches Alter und Unerfahrenheit widerspiegelte. Wissenschaftlich getestete Einteilungen in erwünschte und unerwünschte Eigenschaften (Borkenau/Ostendorf 1987) sowie Gegenüberstellungen zu spezifischen Haupt- Persönlichkeitsfaktoren

Polizeiliche Informationsvermittlung

403

(vgl. Borkenau 1988) wurden zur Beurteilung herangezogen, griffen allerdings nicht den gesamten Bereich der von Polizeibeamten verwendeten Adjektive ab und entsprachen bisweilen nicht der besonderen Kommunikationssituation zwischen Polizeibeamten und Beschuldigten.

Tab. 4.14:

Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt und während der Vernehmung, positive / negative Eigenschaftszuschreibungen der Polizei

Vernehmung

Erster Polizeikontakt

abs.

%

abs.

%

Positive Eigenschaften

353

33,4

60

5,7

Negative Eigenschaften

102

9,7

34

3,2

Die Tabelle 4.14 verdeutlicht den quantitativen Stellenwert der polizeilichen Charakterisierungen. Dabei fallen im Hinblick auf die Vernehmung positive Bewertungen fast regelmäßig mit der Annahme von "Reue/Einsicht" (Frage 2 des Informationsbogens; von η = 282 86 %) und erzieherischer Wirkungen des Verfahrens (Frage 7 des Informationsbogens; von η = 259 92 %) zusammen. Umgekehrt sind negative Zuschreibungen quantitativ häufiger bei den entsprechenden Negativausprägungen dieser beiden Fragen zu finden (von η = 82 74 % bei "keine Reue/Einsicht"; von η = 54 56 % bei "keine erzieherische Wirkung"). Angesichts dieser faktischen Relevanz persönlicher Eigenschaftsbeschreibungen werden im folgenden einige exemplarisch herausgegriffen.

Tab. 4.15:

Verhalten des Beschuldigten während der Vernehmung, einzelne persönliche Eigenschaften

abs.

%

Aufgeschlossen Ehrlich

43 39

4,1 3,7

Höflich

38

3,6

Offen Ruhig

56 55

5,3 5,2

Zurückhaltend

31

2,9

Als weitere Beispiele für die quantitativ weniger bedeutsamen Negativmerkmale können angeführt werden: abweisend, aggressiv, aufmüpfig, arrogant, frech, flegelhaft, gelangweilt, kühl.

404

Polizei und Diversion

Die häufigste Kombination zweier Adjektive betrifft eindeutig "offen und ehrlich" (25 Fälle beim Verhalten während der Vernehmung), gefolgt von "aufgeschlossen und zugänglich" (11 Fälle beim Verhalten während der Vernehmung). Die Zuschreibung dieser persönlichen (Verhaltens-)Merkmale läßt ein Stück weit den unmittelbaren Eindruck des Polizeibeamten über den Beschuldigten aufscheinen. Der direkte polizeiliche Kontakt zum Jugendlichen/Heranwachsenden, der nach der Konzeption des Informationsmodells in den Dienst einer Verbreiterung der staatsanwaltlichen Informationsbasis gestellt werden sollte, wird somit in entsprechende Erkenntnisse über das Beschuldigtenverhalten umgesetzt. (2) Der Informationsbogen gibt in der Kopfzeile zum Verhalten des Beschuldigten als eines von zwei Beispielen vor: "trägt zur Tataufklärung bei". Die Polizeibeamten haben von dieser Redewendung des öfteren Gebrauch gemacht, aber auch konkrete Verhaltensweisen beschrieben, die das Maß der Kooperation des Beschuldigten im Hinblick auf Tataufklärung und Schuldnachweis widerspiegeln. Beispiele für eine mangelnde Kooperation während der Vernehmung stellen die "Lüge", das Verschweigen von Tatbeteiligten, das vorherige Absprechen der Aussage mit Mittätern dar, während umfassende/ausführliche/wahrheitsgemäße Angaben, Namhaftmachung von Mittätern, pünktliches Erscheinen zur Vernehmung usw. positive Züge tragen. Für den ersten Polizeikontakt typische Angaben bezogen sich demgegenüber auf die Angabe falscher Personalien, Flucht(versuch), körperlichen Widerstand, Selbststellung beim Heimleiter.

Tabelle 4.16 unterscheidet — getrennt für den ersten Polizeikontakt und die Vernehmung — zwischen Fällen, in denen der Polizeibeamte das Beschuldigtenverhalten explizit als zur Tataufklärung beitragend charakterisiert hat, und solchen, in denen neben oder anstelle dieser Bewertung Negativ-/Positivbeispiele der Kooperation genannt wurden.

Tab. 4.16:

Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt und während der Vernehmung, Beitrag zur Tataufklärung Vernehmung

Positive Beispiele Negative Beispiele "Trägt zur Tataufklärung bei" "Trägt nicht zur Tataufklärung bei"

Erster Polizeikontakt

abs.

%

abs.

%

80 60 128 16

7,6 5,7 12,1 1,5

13 29 28 3

1,2 2,7 2,7 0,3

Das gleichzeitige Vorliegen von beispielhaften Umschreibungen des kooperativen Beschuldigtenverhaltens mit der ausdrücklichen Bewertung als "aufklärungsförder-

Polizeiliche Informatíonsvermittlung

405

lieh oder -hemmend" beschränkt sich bei der Vernehmung auf 15 Fälle. Es kann somit davon ausgegangen werden, daß fast ein Drittel der Eintragungen zum Verhalten während der Vernehmung sich mit dieser Fragestellung beschäftigt. Dieses ist ein erneuter Beleg für die tatbezogene Denkweise der Polizeibeamten, die sich auch beim Ausfüllen des Informationsbogens an der Ermittlungsaufgabe orientieren, für die sie die entsprechenden Tätigkeitsnachweise erbringen müssen. (3)

Der Frage, ob der Beschuldigte zur Vernehmung erschienen ist, Angaben zur

Person gemacht, die Tat bestritten oder teilweise bzw. in vollem Umfang eingeräumt hat, kommt sowohl rechtliche (§ 45 Abs. 1) als auch faktische Bedeutung zu (Kriterium der polizeilichen Bewertung eines Falls als "aufgeklärt", Ausdruck vorhandener/mangelnder Kooperation bei der Tataufklärung). Die Polizeibeamten haben diese Problemstellung unabhängig von weiteren Informationen,

die ein

(un-)kooperatives Beschuldigtenverhalten beschreiben (dazu bereits unter Pkt. 2), häufig aufgegriffen.

Tab. 4.17:

Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt und während der Vernehmung, Art der Aussage

Vernehmung abs.

%

Erster Polizeikontakt abs.

%

Keine Aussage zur Sache

13

1,2

5

0,5

Kein Geständnis

22

14

Kein sofortiges Geständnis Teilgeständnis

36 4

2,1 3,4

1,3 0,9

Geständnis Sofortiges Geständnis Volles Geständnis Geständnis zu weiteren Straftaten Keine Angabe zu dieser Thematik Summe

111 27 49

0,4 10,5

10 -

-

4,7

2,6 4,6

50 14 8

784

0,9 74,2

955

90,4

1056

100,0

1056

100,0

10

-

1,3 0,8 -

In einem Viertel aller Fälle bzw. einem Drittel der Eintragungen zum Verhalten während der Vernehmung hat der Polizeibeamte sich somit zum Ob und Wie des Geständnisses geäußert ("erster Polizeikontakt": ein Drittel der Eintragungen zum ersten Polizeikontakt). Diese Tatsache spiegelt deutlich das polizeiliche Interesse an der Tataufklärung, insbesondere der Geständniserwirkung, sowie die Bedeutung, die dem Gestehen des Tatvorwurfs beigemessen wird, wider. Es handelt sich andererseits mit Ausnahme der Fälle, in denen der Prozeß der Geständniserlangung ("sofort" versus "nicht sofort") beschrieben wird, um Informationen, die

406

Polizei und Diversion

sich im Regelfall aus dem übrigen Teil der Ermittlungsakte, vor allem dem Vernehmungsprotokoll ergeben. Der Informationszugewinn für die Staatsanwaltschaft ist insoweit ein eingeschränkter. (4) Fragen der Tatmotivation, der Schadenswiedergutmachung, erzieherischen Maßnahmen des sozialen Umfeldes sowie der erzieherischen Wirkung des Ermittlungsverfahrens (positive Nennungen in 14, negative in 12 Fällen) wurden eher selten aufgegriffen. Anders stellt sich dieses aber bezüglich der subjektiven Einstellung des Beschuldigten zur Tat dar. Nimmt man alle expliziten Angaben ("einsichtig", "reuig") und verbalen Umschreibungen zusammen, so wurde in 12 % (n = 124) aller Fälle "Reue/Einsicht", in weiteren 4 % (n = 43) ihr Fehlen vermerkt. Diese Information findet sich fast vollständig schon unter Nr. 3 des Informationsbogens behandelt. Die im Informationsbogen vorgegebene Kategorie zur subjektiven Tateinstellung des Beschuldigten spiegelt somit den Informationsstand des Polizeibeamten zutreffend wider. Die offene Spalte für weitere Angaben zum Beschuldigtenverhalten vermag in dieser Beziehung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu bringen. Das gilt auch, wenn man die Informationen zum ersten Polizeikontakt hinzunimmt. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Der Polizeibeamte hat in fast allen Fällen Angaben zum Thema "Beschuldigtenverhalten" gemacht. Bei näherer Durchsicht der konkreten Inhalte zeigt sich allerdings, daß diese bereits zum Teil an anderen Stellen des Informationsbogens oder der Akte fixiert wurden. Einen Erkenntniszugewinn bringen insoweit nur die Eigenschaftszuschreibungen sowie die Anmerkungen zur Kooperation des Beschuldigten im Hinblick auf den Schuldnachweis/ die Tataufklärung. Bei letzteren erscheint es jedoch aus rechtlicher Sicht fragwürdig, ob eine fehlende Mitarbeit des Beschuldigten als negativer Abwägungsfaktor in die staatsanwaltliche Entscheidung einfließen darf. Hier setzt das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, das auch die Lüge oder andere aufklärungshemmende Maßnahmen des Beschuldigten umfaßt, deutliche Grenzen.

4.2.3.7

Eigener Schaden des Beschuldigten (Kategorie Nr. 9 des Informationsbogens)

Ein eigener Schaden des Beschuldigten kann sowohl spezialpräventive Wirkungen entfalten als auch das Maß der Schuld beeinflussen (vgl. hier auch den Grundgedanken des § 60 StGB). Des weiteren kommt ein Wegfall des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung bei eigener Schädigung in Betracht. Die rechüichen Wertungen erfordern die Berücksichtigung dieses Umstands bei der staatsanwaltlichen Entscheidung nach § 45 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 1, Abs. 1.

407

Polizeiliche Informatíonsvermittlung Tab. 4.18:

"Eigener Schaden des Beschuldigten"

Körperverletzungsschaden Materieller Schaden Kein Schaden Unbekannt

abs

%

85 24 555 84

8,0 2,3 52,6 8,0

Die Polizeibeamten haben in dieser Kategorie vermerkt, daß dem Beschuldigten immerhin in jedem 10. Fall anläßlich einer Tatbestandsverwirklichung ein Eigenschaden entstanden ist. In mehr als 40 % der Fälle ("unbekannt" und Fälle ohne jede Eintragung, η =

351, addiert) fehlt eine Information zu dieser Thematik.

Die materiellen Schäden lassen sich aufgrund entsprechender Randbemerkungen der Polizeibeamten häufig als Fangprämien identifizieren (16 Fälle). Die nähere Aufschlüsselung zeigt im übrigen, daß die Polizeibeamten unter der Thematik "eigener Schaden" weder die Fangprämie noch Schadenswiedergutmachungsleistungen systematisch erfaßt haben. Das verdeutlicht, daß bei den Polizeibeamten — insbesondere in Abgrenzung zur Frage "Schadenswiedergutmachung" — Unsicherheit über die zu fixierenden Sachverhalte bestand. Das gilt vor allem für die Einordnung der Fangprämie, die unter Schadenswiedergutmachungsgesichtspunkten und als "eigener Schaden" auftaucht. Zieht man die Anzahl der Ladendiebstähle in der Untersuchungsgruppe (unabhängig vom polizeilichen Vorschlag: 55 % aller Fälle) heran, so stellen sich diese Eintragungen eher als unsystematisch dar, d.h. der Staatsanwalt wird nicht in jedem Fall, in dem eine Fangprämie gezahlt wurde, auf diesen Umstand (noch einmal) gesondert im Informationsbogen hingewiesen, wenngleich sich zum Teil aus der Strafanzeige der Kaufhäuser eine entsprechende Information ergibt. Welche eigenen materiellen Schäden des Beschuldigten zu ermitteln und im Informationsbogen festzuhalten sind, bedarf in Abgrenzung zur Schadenswiedergutmachung einer eindeutigeren Vorgabe der Entscheider an die Polizeibeamten. Die quantitativ bedeutsamere Kategorie der immateriellen Schäden umfaßt nach den Eintragungen Prellungen, Schnittverletzungen, Platzwunden etc., also ambulant zu behandelnde Verletzungen. Ihnen liegt überwiegend eine Anzeige gegen den Beschuldigten wegen Diebstahls zugrunde, was im Regelfall auf während der Tatausfiihrung

erfolgte

Verletzungen

(z.B.

Schnittwunden

durch

zerbrochene

Fensterscheibe) zurückzuführen sein dürfte.

4.2.3.8

Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten (Kategorie Nr. 10 des Informationsbogens)

Das tatbegünstigende Verhalten des Geschädigten ist zu den tatsituativen Umständen zu rechnen, die nach § 46 Abs. 2 S. 2 StGB das Maß der Schuld mitbestimmen ("Art der Ausführung";

408

Polizei und Diversion

vgl. Schönke/Schröder-Stree 1988, § 46 Rn. 24). Rechtliche Beachtung findet es somit bei den nach § 45 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 notwendigen Abwägungs- und Strafzumessungsprozessen, ebenso wie bei der Bestimmung geringer Schuld (§ 45 Abs. 2 Nr. 2). In diesem Zusammenhang kann es auch das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung entfallen lassen.

Tab. 4.19:

"Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten"

Begünstigend, Eröffnung einer Gelegenheit, Leichtsinn Begünstigend, Provokation Begünstigend, besonderer Anreiz Begünstigend, aus sonstigen Gründen Keine Veranlassung Unbekannt

abs.

%

114 35 52 74 354 198

10,8 3,3 4,9 7,0 33,5 18,8

In rund einem Drittel der Fälle hat der Polizeibeamte aufgrund seiner Informationslage ausgeschlossen, daß der Geschädigte irgendeine Veranlassung zur Tat gegeben hat. Die Frage des tatbegünstigenden Verhaltens bleibt darüber hinaus in rund 44 % aller Fälle unbekannt, wenn man die Ankreuzungen zu "unbekannt" und die fehlenden Eintragungen zu dieser Thematik addiert. Die Alternative "Eröffnung einer Gelegenheit" korreliert hoch signifikant mit dem "mitursächlichen Tatmotiv" "günstige Gelegenheit" (χ 2 = 79,43; a < 0,001; phi = 0,32), die Vorgabe "Provokation" mit dem Motiv "durch Provokation hingerissen" (χ 2 = 304,02; a < 0,001; phi = 0,64). Dieses doppelte Abfragen ein und derselben Thematik erscheint demgemäß überflüssig.

Für die Fragestellung des tatbegünstigenden Verhaltens wurden zwei offene Spalten zur Verfügung gestellt, wovon die erste ("begünstigend, besonderer Anreiz") zu 5 %, die zweite ("begünstigend, aus sonstigen Gründen") zu 7 % genutzt wurde. Eine Durchsicht der jeweiligen Eintragungen zeigt, daß diese Kategorien häufig thematisch die Frage der Tatbegünstigung durch sonstige Ursachen, nicht aber durch solche die dem Geschädigten zuzuschreiben waren, aufgriffen. Die "besonderen Anreize" stellen danach zu 42 %, die "sonstigen Gründe" zu genau zwei Drittel Tatmotive/-ursachen dar, die keine Beziehung zur Person des Geschädigten aufweisen. Als Beispiele sollen hier genannt werden: Alkoholeinfluß, Beeinflussung durch Freunde, Geldmangel, Vergeßlichkeit. Die Fälle, in denen ein Bezug zum Verhalten des Geschädigten besteht, betreffen zum einen die Beschreibung von Gelegenheiten, die der Geschädigte dem Beschuldigten durch besondere Unvorsichtigkeit geboten hat (z.B. PKW unverschlos-

Polizeiliche

Informationsvermittlung

409

sen), zum anderen interpersonale Konflikte wie Streit, Eifersucht wegen der Freundin, Provokationshandlungen. In einigen Fällen bewertet der Polizeibeamte die Fülle des Warenangebots und seine Präsentation als tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten. Faßt man alle Fälle (Ankreuzungen und Eintragungen in der offenen Spalte) zusammen, so hat der Geschädigte nach der Feststellung der Polizeibeamten in fast jedem fünften Fall ein tatbegünstigendes Verhalten gezeigt. Diese Erkenntnisse bieten dem Staatsanwalt neben den Fällen, in denen eine "Veranlassung" des Geschädigten explizit verneint werden kann, weitere wichtige Zusatzinformationen zur Abwägung aller Umstände des Einzelfalls.

4.2.3.9

Zu erwartende Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen (Kategorie Nr. 11 des Informationsbogens)

Die Frage nach den zu erwartenden Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen betrifft, vergleicht man den Wortlaut des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB, die spezialpräventive Ausrichtung des § 45 schlechthin. Bei allen drei Anwendungsalternativen ist es Aufgabe des Staatsanwalts zu beurteilen, welche Reaktionen auf die Straftat aus spezialpräventiver Sicht geeignet und erforderlich sind, um weiterer Straffälligkeit wirksam zu begegnen. Im Rahmen des dazu notwendigen Abwägungsprozesses gilt es, kontraproduktive Maßnahmen auszuschließen.

In 60 % aller Fälle (n = 638) findet sich in dieser Kategorie eine Eintragung. Drei Viertel aller Eintragungen benennen "keine" Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen, bzw. sie sind dem Polizeibeamten "unbekannt". Die übrigen Angaben sind dadurch gekennzeichnet, daß sie häufig nicht eindeutig als Auswirkungen von Sanktionen oder solche der Straftat einzuordnen sind. Die Wortwahl läßt es mitunter naheliegender erscheinen, daß z.B. die Probleme in der Familie nach der Tat und nicht im Anschluß an eine staatlicherseits noch zu verhängende Sanktion geschildert werden. Die Fragestellung ist von den Polizeibeamten zum Teil mißverstanden worden, was an dem hypothetischen, zukunftsorientierten Charakter dieser offenen Frage liegen mag. Das kann an einigen Beispielen belegt werden, die erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes auf den Tatvorwurf wiedergeben. Bisweilen werden unter dieser Spalte auch bloße Informationen über eine vorhandene Arbeitsstelle oder die besuchte Schule festgehalten. Ein Vergleich mit den erzieherischen Reaktionen des sozialen Umfeldes (Frage 6 des Informationsbogens) spricht ebenfalls dafür, daß die spezifische Fragestellung nach der Auswirkung strafjustitieller Maßnahmen zum Teil verkannt wurde. So ist in 77 % der Fälle mit möglichen Auswirkungen eine Erziehungsmaßnahme anderer Personen und Institutionen, in 63 % der Eltern erfolgt.

410

Polizei und Diversion

Soweit Probleme des Beschuldigten angegeben wurden, liegen diese überwiegend im familiären Bereich (8 % der Eintragungen), gefolgt von Beruf (Berufsausbildung/Arbeitgeber 4 %; Berufswahl 1 % etc.) und Schule (2 %). Ein Extrem stellt demgegenüber der vom Beschuldigten in Betracht gezogene Selbstmord dar. Faßt man diejenigen Fälle zusammen, in denen die Schilderung möglicher Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen in Betracht kommt, so liegt in jedem 10. Fall eine entsprechende Information vor. Der Informationswert polizeilicher Angaben zu der Frage nach möglichen Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen leidet unter der wenig eindeutigen Begriffswahl, bei der des öfteren ein falsches Verständnis der Polizeibeamten von der abgefragten Dimension naheliegt. Selbst der Bezugspunkt von Eintragungen wie "keine" gerät dadurch in Zweifel. Die Fälle ohne jegliche Bemerkung betreffen zu einem Fünftel das Fehlen einer Vernehmung, Aussage oder eines Geständnisses.

4.2.3.10

Besondere Bemerkungen (Kategorie Nr. 13 des Informationsbogens)

Die Spalte für "besondere Bemerkungen" besitzt die Funktion einer Auffangkategorie. Sie soll dem Polizeibeamten Raum bieten, seinen jeweiligen Vorschlag zur Erfahrungserledigung zu begründen und weitere Informationen festzuhalten, die er nicht eindeutig einer der vorgegebenen Fragestellungen zuordnen kann. Die Polizeibeamten haben von dieser Möglichkeit in rund einem Drittel aller Fälle Gebrauch gemacht. Die einzelnen Texte sprechen zum Teil gleichzeitig verschiedene Problemstellungen an. Es sind vier Themenschwerpunkte zu erkennen. Vorab sollen drei Beispiele zur Verdeutlichung wörtlich wiedergegeben werden: — "Der Schüler G. sieht das Unrecht seiner Tat nicht ein. Er neigt zu Gewalttätigkeiten und fühlt sich noch im Recht " — "Der Beschuldigte gab sich äußerst selbstbewußt. Er wirkt älter als 14 Jahre. Es ist zu befürchten, daß er auch in Zukunft strafrechtlich in Erscheinung treten wird. Bereits im September 86 u. im Mai 87 trat er wg. Diebstahls in Erscheinung." — "Harmlose Prügelei zwischen Jugendlichen wegen eines Mädchens."

(1) Polizeibeamte greifen auch in dieser Kategorie auf Inhalte zurück, die bereits in dem vorhergehenden Teil des Informationsbogens explizit abgefragt wurden. Der vorhandene Raum wird vor allem dazu genutzt, um eine etwas ausführlichere Umschreibung vorzunehmen. Das geschieht regelmäßig im Hinblick auf die Tatmotivation. Hier stehen Alkoholisierung bei der Tat, die Beeinflussung durch

411

Polizeiliche Informationsvermittlung

Tatbeteiligte oder mitwirkende Handlungen des Geschädigten bei Körperverletzungsdelikten im Vordergrund. Hinzu kommen persönliche, familiäre und schulische Probleme, die als tatmitursächlich bezeichnet werden. (2)

Ein weiterer Themenkreis ist die erstmalige oder wiederholte Auffälligkeit

des Beschuldigten (n =

65) sowie die Einschätzung des Polizeibeamten zum

Bestehen von Wiederholungsgefahr (n

=

38). Es ist allerdings aufgrund der

umfangreichen Kriminalaktenführung der Polizei davon auszugehen, daß diese Eintragungen

nicht den gesamten Wissensstand der Polizeibeamten zu dieser

Fragestellung wiedergeben. Es handelt sich vielmehr um selektive Hervorhebungen zu diesem Kriterium. (3)

Breiten Raum nehmen Begründungen zu den polizeilichen Vorschlägen, zu

einzelnen Sanktionsmaßnahmen sowie zum Verfahrensfortgang ein (z.B. in 21 Fällen

konkreter

Sanktionsvorschlag,

in

15 Fällen

Begründung

für

fehlende

Stellungnahmen, in 11 Fällen für Notwendigkeit richterlicher Maßnahmen). (4) An einigen Stellen des Informationsbogens hatte der Polizeibeamte bereits unter "Sonstiges" Hinweise zu persönlichen, familiären, finanziellen Problemen des Beschuldigten gegeben. Diese Praxis weitet er als besondere Bemerkungen aus. Neben der reinen Wiedergabe von Sozialdaten (Eltern geschieden, Sonderschulbesuch, ohne Beschäftigung) kommen finanzielle, Familien-/Erziehungs-, Wohn-, schulische, berufliche Verhältnisse sowie Fragen der Freizeitgestaltung und des Freundschafts-/Bekanntenkreises/der Peer-group zur Sprache. Es handelt sich dabei sowohl um unauffällige als auch um sozial auffällige Bedingungen. Die Wortwahl des Polizeibeamten läßt regelmäßig eine entsprechende Einteilung zu, so wenn er z.B. von "geordneten" oder "zerrütteten" Familienverhältnissen spricht. Getrennt nach U n - und Auffälligkeit lassen sich quantitativ für die einzelnen Bereiche bis zu 30 Nennungen feststellen. Hierbei dominieren ganz eindeutig Angaben zu den familiären Verhältnissen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß unter den "besonderen Bemerkungen" eine Vielfalt von Themenbereichen aufgegriffen wurde, die sich weitgehend an den vorab gestellten Fragestellungen des Informationsbogens orientiert. Die Unterschiedlichkeit der beschriebenen Sachverhalte, zusammen mit der Tatsache, daß in zwei Drittel der Fälle keine besonderen Bemerkungen der Polizeibeamten vorliegen, macht die Erkenntnisweitergabe an dieser Stelle des Informationsbogens notwendig selektiv.

412 4.2.3.11

Polizei und Diversion

Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Faßt man zusammen, so läßt sich durch die Einführung des Informationsbogens zu allen expliziten Fragestellungen des Instruments ein deutlicher Informationszuwachs bei der Staatsanwaltschaft feststellen, der diese in die Lage versetzen sollte, eine einzelfallgerechte Entscheidung zu treffen und Bereiche mittelschwerer Kriminalität in Diversion einzubeziehen. Eine nähere Analyse der verschiedenen Fragen hat jedoch Ansatzpunkte für Verbesserungen gezeigt. Die Möglichkeit, unter einer Ausprägung "Sonstiges" zusätzliche Bemerkungen zu den jeweiligen Themenbereichen festzuhalten, hat sich unter dem Gesichtspunkt der Einzelfallentscheidung bewährt. Demgegenüber geben die ganz offenen Spalten zum Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt oder während der Vernehmung sowie die "besonderen Bemerkungen" aus jeweils unterschiedlichen Gründen Anlaß zu weiteren Überlegungen. Die Staatsanwaltschaft sollte — zumindest im Sinne eines Interpretationsleitfadens — präzisieren, welche rechtlich zulässigen Erkenntnisinteressen, die über die sonstigen Fragestellungen des Informationsbogens hinausgehen, verfolgt werden sollen. Nur eine derartige Vorgabe wird am ehesten dem Gleichheitsgebot gerecht. In diesem Zusammenhang ist möglicherweise auch, z.B. bei familiären, schulischen Verhältnissen des Beschuldigten, eine deutliche Abgrenzung zum Aufgabenbereich der Jugendgerichtshilfe notwendig. Eng verknüpft mit diesem Gesichtspunkt ist die Frage, ob Einträge in den Informationsbögen Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten tangieren, vor allem auch gemessen an dem Anlaß des staatlichen Eingriffs (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Bei der Beantwortung dieser Frage muß die spezialpräventive Orientierung des staatsanwaltlichen Normprogramms nach § 45 (Erziehungsprinzip) in Rechnung gestellt werden. Der Informationsbogen läßt durch nicht näher konkretisierte Fragestellungen wie "Verhalten beim ersten Polizeikontakt und während der Vernehmung" und "Besondere Bemerkungen" Raum für eine weite Interpretation dessen, was aus der Sicht des Polizeibeamten entscheidungsrelevant ist. Die Tatschuld wird nicht als limitierendes Regulativ personen- und verhaltensbezogener Anmerkungen der Polizeibeamten eingeführt. Das heißt: Das Spannungsverhältnis zwischen Erziehungsprinzip und rechtsstaatlichen Grundsätzen ist an diesen Stellen des Informationsbogens zugunsten einer ungefilterten Wiedergabe möglicherweise spezialpräventiv bedeutsamer Aspekte entschieden worden. Dementsprechend sind z.B. polizeiliche Eintragungen zu den familiären, schulischen und beruflichen Verhältnissen, die teilweise deutliche Sozialisationsdefizite thematisieren, nicht auf Fälle im Bereich mittelschwerer Kriminalität beschränkt, sondern werden auch bei Bagatellen vorgenommen. Läßt man sich auf diese weitgehende Erziehungsorientierung als Prüfungsmaßstab für einen möglichen Eingriff in Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten ein, so kann nur in einigen wenigen Fällen eine Überschreitung des rechtlich Erlaubten festgehalten werden.

Polizeiliche InfonnationsvermitÜuDg

413

Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht konkretere inhaltliche Vorgaben seitens der entscheidenden Behörde sowie eine Aussparung des Bagatellbereichs von persönlichkeitsbezogenen und die Privatsphäre betreffenden Informationen rechtsstaatlich angezeigt sind. Ausgehend von einer rein erzieherischen Perspektive lassen sich z.B. keine rechtlichen Bedenken an die vielfältigen Eigenschaftszuschreibungen der Polizeibeamten (z.B. "cool", "gleichgültig", "verschlossen", "lieb", "dickköpfig", "höflich", "verstockt") knüpfen. Sedes materiae einer Diskussion über die Inhalte der Informationsbögen ist weniger die polizeiliche Durchführung des staatsanwaltlichen Ermittlungsauftrags — diese entspricht angesichts der sehr weitgehenden Abfrage nur in Einzelfällen nicht den staatsanwaltlichen Vorgaben. Die Breite der Einträge gibt vielmehr Anlaß, die Grenzen einer Informierung der Staatsanwaltschaft festzulegen. Insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit markiert hier Eckpunkte für mögliche Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten. Eine weitergehende Konkretisierung der polizeilichen Ermittlungsaufgaben unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Beschränkungen bei Bagatellen erscheint deshalb geboten. Sollte der Anwendungsbereich des polizeilichen Informationsbogens nicht die Bagatellkriminalität, sondern eher die mittelschwere und schwere Kriminalität sein, so muß in Zukunft größeres Augenmerk auf den konsequenten Einsatz des Instruments gelegt werden. In immerhin 522 Fällen wurden den Ermittlungsakten keine Informationsbögen beigefügt, obwohl die Voraussetzungen hierfür vorlagen. Bivariate Analysen und Drittvariablenkontrollen lassen erkennen, daß dieser lückenhafte Gebrauch des Informationsbogens u.a. auf Probleme bei der Modellimplementation zurückgeführt werden kann. Die Fälle ohne Informationsbögen unterscheiden sich von denen mit Informationsbögen zunächst einmal durch zwei grundlegende Faktoren: — Erstere Verfahren wurden signifikant häufiger von der Staatsanwaltschaft wegen fehlenden Tatnachweises nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Hier bedeutet das Nichtausfüllen des Informationsbogens eine konsequente Beachtung der Unschuldsvermutung. — Die Beschuldigten sind bei den Verfahren ohne Informationsbogen signifikant seltener zur Vernehmung erschienen, haben ausgesagt und ein Geständnis abgelegt. Erfaßt der Anwendungsbereich des Modellversuchs grundsätzlich auch solche Fälle, so ist das Fehlen eines entsprechenden Informationsbogens wegen der möglicherweise unzureichenden Beurteilungsgrundlage nachvollziehbar und verhindert eine unzulässige Verbindung tataufklärungsrelevanter mit spezialpräventiven Gesichtspunkten (z.B. der nicht geständige Beschuldigte zeigt auch keine "Reue"). Nach Abzug dieser Fälle ohne hinreichenden Tatverdacht und ausreichender Informationsbasis lassen sich hinsichtlich der verbleibenden Verfahren weiterhin Probleme bei der Bestimmung des persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs feststellen. So haben Polizeibeamte z.B. Heranwachsende, vor allem 19/20jährige, signifikant häufiger — selbst bei Bagatelldiebstählen — aus dem Modellversuch ausgeschlossen. Hier scheint der irrige Glaube vorgelegen zu haben,

414

Polizei und Diversion

das Informationsmodell sei nur für Jugendliche — nicht für Volljährige, also 'Quasi'-Erwachsene — konzipiert worden. Als Gründe für die Mängel der Modellimplementation sind sehr unterschiedliche denkbar: unzureichende Aufklärung über den Anwendungsbereich des Modellversuchs, vor allem vor dem Hintergrund personeller Fluktuation; Beteiligung der Kriminalwache und Ladendiebstahlsstreife, die entgegen dem nach zwei Jahren zu erwartenden Fallaufkommen nur in Einzelfallen einen Informationsbogen ausgefüllt haben; Modellcharakter des Informationsbogens.

Will man das Informationsmodell auf Fälle mittelschwerer und schwerer Kriminalität beschränken, müssen diese Aspekte deutlicher als bisher berücksichtigt werden, wenn die Informierung der Staatsanwaltschaft nicht dem Belieben der Polizei anheimgestellt werden soll.

5

Polizeilicher Verfahrensvorschlag: Jugendkriminalität in der Bewertung der Polizei

Der Schwerpunkt der nachfolgenden Analysen liegt auf der Frage, wie Polizeibeamte strafrechtlich auffälliges Verhalten Jugendlicher/Heranwachsender in jugendtypischen Deliktsbereichen bewerten würden: mit einer Anklage/Antragsschrift oder einer Verfahrenseinstellung. Diese Problemstellung erlaubt — gemessen an einer simulierten Entscheidungssituation — Aussagen über polizeiliche Toleranz im Hinblick auf die hier untersuchten Formen der Jugendkriminalität. Dieser empirische Zugriff auf eine konkrete Form polizeilichen Entscheidungshandelns stellt angesichts der bisherigen Forschung zur polizeilichen Ermittlungsarbeit ein Novum dar. Im folgenden sollen zunächst einmal polizeiliches Vorschlags- und staatsanwaltliches Entscheidungshandeln gegenübergestellt werden, um einen ersten Eindruck über die von der Polizei gesehenen Einstellungspotentiale zu geben (Abschnitt 5.1). Die zentrale Hypothese zu diesem Untersuchungsabschnitt lautet: Es ist zu erwarten, daß Polizeibeamte mehr Verfahren zur Einstellung vorschlagen, als die Staatsanwaltschaft umsetzt. Die Nähe zum Tatgeschehen und der unmittelbare Kontakt zum Beschuldigten und seinem sozialen Umfeld wirken sich jedenfalls — quantitativ betrachtet — nicht einstellungshemmend aus. Diesem Vergleich polizeilicher und staatsanwaltlicher Praxis folgt eine bi- und multivariate Analyse derjenigen Faktoren (Abschnitt 5.2), welche die polizeilichen Vorschläge bestimmen. Zwei hierzu formulierte Hypothesen schließen sich der ersten an: (1) Die Bedeutung des direkten Kontakts mit dem Beschuldigten setzt sich bei der Frage nach den polizeilichen Vorschlagsdeterminanten fort. Dem Verhalten

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

415

des Beschuldigten, insbesondere dem Maß der Kooperation sowie der "Reue", kommt eine entscheidungsbeeinflussende Wirkung zu. Diese These wird durch die Befunde anglo-amerikanischer Untersuchungen (u.a. Farrington/Bennett 1981; Fisher/Mawby 1982; Black/Reiss 1970; Piliavin/Briar 1964) gestützt. Darüber hinaus werden weitere Merkmale auf der Tat- und Täterseite, insbesondere die Schwere des Delikts und die Vorbelastung des Beschuldigten, zu finden sein. (2) Der Einfluß persönlicher und sozialer Merkmale des Beschuldigten (Alter, Geschlecht, Nationalität etc.) auf den polizeilichen Vorschlag ist kein direkter, sondern wird — wie schon in anderen Untersuchungen zuvor (Steffen 1976) — über Faktoren wie Deliktsart und -schwere vermittelt.

5.1 5.1.1

Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Vergleich Übersicht über die polizeilichen Vorschläge zur Verfahrenserledigung

Einen ersten Überblick über die Fragestellung, wie die Polizei die ihr eingeräumten Vorschlagsalternativen genutzt hat, soll Tabelle 5.1 vermitteln. Danach wird in nur einem Fünftel aller Fälle eine Anklage (n = 222), hingegen in zwei Drittel eine Verfahrenseinstellung (n = 680) befürwortet. Das Verhältnis von "formell" zu "informell" beträgt somit 1 : 3. In etwas weniger als einem Sechstel der Fälle erfolgte kein polizeilicher Vorschlag (Kategorie "keine Stellungnahme" und fehlende Angaben zusammengenommen). Im Gegensatz zur staatsanwaltlichen Praxis (vgl. 1. Buch) werden sämtliche Alternativen des § 45 genutzt, wobei sich eine deutliche Tendenz zeigt, die Einstellungskompetenz bei der Staatsanwaltschaft zu verorten. Eine Mitwirkung des Richters scheint — worauf bereits einige Bemerkungen in den Informationsbögen hinwiesen — eher im Zusammenhang mit der Durchführung einer Hauptverhandlung gesehen zu werden. Die Aufteilung nach Schutz- und Kriminalpolizei ergibt ein differenzierteres Bild. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede bei den Anklagen und den Alternativen zur Verfahrenseinstellung. Bei der Schutzpolizei wird nur jeder sechste Fall, bei der Kriminalpolizei jeder dritte Fall für eine Anklage vorgeschlagen. Auch die Wahl zwischen den drei Informalisierungsarten folgt ähnlichen Grundsätzen. Die am wenigsten eingriffsintensive wird von der Kriminalpolizei deutlich seltener empfohlen als von der Schutzpolizei. Entsprechend weist die Kriminalpolizei eine erhöhte Quote bei den Einstellungen mit richterlicher Mitwirkung auf.

416

Polizei und Diversion

Tab. 5.1:

Übersicht über die polizeilichen Vorschläge, differenziert nach der Gesamtheit der Fälle, Kriminal- und Schutzpolizei Alle Fälle

Kriminalpolizei

Schutzpolizei

§ 45 Abs. 2 Nr. 2 JGG

211 20,0%

28 9,8%

183 23,8%

§ 45 Abs. 2 Nr. 1 JGG

369 34,9%

86 30,1%

283 36,8%

100 9,5%

33 11,5%

67 8,7%

Anklage

222 21,0%

97 33,9%

125 16,3%

Keine Stellungnahme / Angabe

154 14,6%

42 14,7%

111 14,4%

1056

286

769*

§ 45 Abs. 1 JGG

Summe

* Ein Informationsbogen kann keiner Polizeieinheit zugeordnet werden.

Eine Erklärung für diese unterschiedliche Vorschlagspraxis dürfte in der Aufgabenverteilung zwischen beiden Polizeieinheiten begründet sein: Die Schutzpolizei bearbeitet im Vergleich zur Kriminalpolizei eher leichte Fälle. So fallen Ladendiebstähle und Körperverletzungen fast ausschließlich in den Bereich der Schutzpolizei während die Einbruchsdiebstähle bis auf 4 Fälle von der Kriminalpolizei bearbeitet wurden. Eine Kontrolle der polizeilichen Vorschlagspraxis im Hinblick auf eine mögliche Reaktivität der Beobachtungen polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen, die rund ein halbes Jahr lang nach der Einführung des Informationsmodells fortgeführt wurden, hat ergeben, daß ein derartiger Einfluß der Forschung ausgeschlossen werden kann. Während in den beobachteten Fällen zu 37 % eine Anklage befürwortet wurde, betrug der entsprechende Wert bei den nicht beobachteten Fällen nur 20 % (χ 2 = 15,79, a < 0,001, phi = 0,13). Dieses Ergebnis läßt sich jedoch auf eine erhöhte Quote mittelschwerer Delikte bei den Beobachtungsfallen zurückführen, so daß letztendlich kein Unterschied hinsichtlich der Erledigungsvorschläge festzustellen ist.

5.1.2

Anklage- und Informalisierungsquoten von Polizei und Staatsanwaltschaft

Ein Vergleich polizeilicher Vorschläge mit staatsanwaltlichem Entscheiden setzt die Vergleichbarkeit der Entscheidungsalternativen voraus.

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

417

Auf Seiten der Polizei müssen deshalb die Fälle ohne Stellungnahme abgezogen werden, während auf seiten der Staatsanwaltschaft Erledigungen nach den §§ 170 Abs. 2, 154 StPO u.a. herausfallen. Geht man zudem davon aus, daß die Staatsanwaltschaft § 45 Abs. 2 Nr. 2 sehr selten (bei η = 1.056 in 0,5 % der Fälle) und § 45 Abs. 1 gar nicht angewandt hat, so stellt ein Vergleich der einzelnen Anwendungsalternativen des § 45 keinen adäquaten Maßstab für eine Beurteilung der polizeilichen und staatsanwaltlichen Informalisierungsbereitschaft dar. Hinzu kommt, daß die Staatsanwaltschaft auf die §§ 153, 153a StPO zurückgreifen konnte, wohingegen diese Entscheidungsalternativen nicht zum polizeilichen Handlungsrepertoire im Rahmen des Informationsmodells gehörten. Eine sinnvolle Gegenüberstellung von polizeilichem und staatsanwaltlichem Handeln läßt sich somit nur dadurch erreichen, daß bei der Staatsanwaltschaft die Entscheidungen nach den §§ 153, 153a StPO, 45 als informelle, alle Anklagen sowie die Antragsschrift nach § 76 als formelle Reaktionsform erfaßt werden. Bei der Polizei stehen auf der einen Seite das Entscheidungsprogramm des § 45 für eine informelle, auf der anderen Seite die Anklage/Antragsschrift für eine formelle Erledigung. Diese Definition wird auch den weiteren Analysen zugrundegelegt. Eine Gegenüberstellung der so definierten formellen/informellen Erledigung der Staatsanwaltschaft mit den entsprechenden Vorschlägen der Polizei läßt deutlich

Abb. 5.1:

Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Vergleich 75,3%

lliillv.

|ill|

50,8%

tÎtlllÂt I i i l i e r

24,7%

24,5%

Übereinstimmung

Keine Ubereinstimmung

χ 2 = 237,92; α < 0,001; phi = 0,56 • I

Polizei formell; Staatsanwaltschaft informell

IUI

Polizei informell; Staatsanwaltschaft formell

M S

Polizei und Staatsanwaltschaft informell I Polizei und Staatsanwaltschaft formell

418

Polizei und Diversion

erkennen, daß sich die Vorschlagspraxis der Polizei hoch signifikant von der Entscheidungspraxis der Staatsanwaltschaft unterscheidet. Schlagen Polizeibeamte eine informelle Verfahrenserledigung vor, so greift die Staatsanwaltschaft in nur der Hälfte dieser Fälle den Vorschlag auf. Umgekehrt wird der Vorschlag, formell zu entscheiden, fast ausnahmslos von der Staatsanwaltschaft in eine Anklage umgesetzt. Die 9 Ausnahmen betreffen ausschließlich schutzpolizeiliche Vorschläge. Bei der Polizei bleibt somit das in Tabelle 5.1 sichtbare Verhältnis von formell zu informell ( 1 : 3 ) auch nach Abzug der staatsanwaltlichen Entscheidungen gemäß §§ 170 Abs. 2, 154 StPO u.a. bestehen, während bei der Staatsanwaltschaft auf eine Verfahrenseinstellung eine Anklage kommt. Jeder zweite Fall, den die Staatsanwaltschaft zur Anklage brachte, wurde von der Polizei für eine informelle Erledigung vorgeschlagen. Die Tatsache, daß Polizeibeamte höhere Informalisierungspotentiale als die Staatsanwälte sehen, bleibt bestehen, wenn man die staatsanwaltlichen Möglichkeiten der Verweisung auf den Privatklageweg und der Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses berücksichtigt. Wurde den Polizeibeamten diese Vorschlagsmöglichkeit im Informationsmodell nicht eröffnet, so erlaubt doch der Umstand, daß Staatsanwälte vor allem bei Sachbeschädigungen und Körperverletzungen auf diese den Beschuldigten weniger belastenden Einstellungsgründe zurückgreifen (vgl. 1. Buch), eine entsprechende Kontrolle der vorstehenden Ergebnisse durchzuführen. Werden somit diese beiden Reaktionsalternativen (Verfahrenshindernis und Privatklageweg) der staatsanwaltlichen Informalisierungsquote zugeschlagen, so verändert sich das Bild kaum: Bezogen auf die gesamte Untersuchungsgruppe fallt der Unterschied weder bei den Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft 'härter' entscheidet als die Polizei vorschlägt, noch im umgekehrten Fall (statt 9 Abweichungen nunmehr 11) ins Gewicht.

Die Befürchtung, eine Einbeziehung der Polizei in staatsanwaltliche Diversion werde eine Erhöhung der Anklagequote zur Folge haben, hat sich angesichts der zum Nachteil des Beschuldigten abweichenden Praxis der Staatsanwaltschaft nicht bestätigt. Das gilt auch für den Bereich bagatellarischer Ladendiebstähle (Einzeltat, Schaden bis 100 DM, volles Geständnis des Beschuldigten, Ersttäter), wo von η = 239 Fällen lediglich sieben für eine Anklage vorgeschlagen wurden. Ist polizeiliche Ermittlungstätigkeit nach den Ergebnissen bereits vorliegender Studien an der Aufklärungswahrscheinlichkeit orientiert (Steffen 1976, 151), so führt das nach unseren Befunden aber nicht dazu, daß aus der Sicht der Polizeibeamten der eigene Ermittlungsaufwand durch eine gerichtliche Verurteilung honoriert werden muß. Die auf Tataufklärung und Schuldnachweis gerichtete Tätigkeit der Polizei scheint nicht diametral einem Sanktionsverzieht entgegenzustehen. Der persönliche Kontakt zum Beschuldigten und seinem Umfeld, der im Regelfall die Tätigkeit der Polizei von der der Staatsanwaltschaft unterscheidet, scheint sich jedenfalls nicht einstellungshemmend ausgewirkt zu haben. Dieser Umstand rückt für die Suche

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

419

nach den Gründen einer größeren Toleranz der Polizei im Umgang mit der Jugendkriminalität das Verhalten des Beschuldigten in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses .

5.1.3

Unterscheidung nach Deliktsarten

Angesichts der aufgetretenen Diskrepanzen zwischen polizeilichem Vorschlag und staatsanwaltlicher Entscheidung stellt sich die Frage nach ihrer Deliktsabhängigkeit. Bewerten Polizeibeamte eine Deliktsart als diversionsrelevant, die bei der Staatsanwaltschaft nicht oder nur ausnahmsweise zur Disposition steht? Hier könnte eine Unterscheidung nach der Art des verletzten Rechtsguts, Eigentum

Abb. 5.2:

Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Vergleich, differenziert nach Deliktsarten

100%

38%

36%

75%

50%

46%

26%

43%

25% 36% 0%

Diebstahl

χ 2 = 214,36 α < 0,001 phi = 0,57 • H

29%

Körperverletzung

Sachbeschädigung

χ2 =

χ2 =

7,88

α = 0,005 phi = 0,44

5,89

α = 0,015 phi =

0,54

Polizei formell; Staatsanwaltschaft informell

Π Polizei informell; Staatsanwaltschaft formell i ü I

Polizei und Staatsanwaltschaft informell I Polizei und Staatsanwaltschaft formell

21%

verschiedene Taten χ 2 = 3,72 α =

0,054

phi = 0,45

420

Polizei und Diversion

oder Straftat gegen die Person, in Betracht kommen. Führt man einen kreuztabellarischen Vergleich der polizeilichen mit der staatsanwaltlichen Erledigungspraxis getrennt für die einzelnen Delikte durch, so zeigt sich allerdings ein ähnliches, wenn auch differenzierteres Bild. Die nachfolgend - auch im weiteren verwendete — Einteilung der Deliktsarten unterscheidet zwischen reinen Diebstählen (nur Diebstähle), reinen Körperverletzungen (nur Körperverletzungen), reinen Sachbeschädigungen (nur Sachbeschädigungen) und gemischtem Tatvorwurf (Vorliegen verschiedener Deliktsarten, aber zumindest ein Diebstahl, eine Sachbeschädigung oder eine Körperverletzung).

Die geringste Übereinstimmung von Vorschlag und realer Entscheidung im informellen Bereich weisen Fälle auf, in denen der Tatvorwurf mehrere Deliktsarten umfaßt (allerdings kein signifikanter Unterschied angesichts der geringen Fallzahlen), gefolgt von Körperverletzung, Diebstahl und Sachbeschädigung. Nimmt man auch hier — zur Kontrolle — auf Seiten der Staatsanwaltschaft die Verweisungen auf den Privatklageweg und die Einstellungen wegen eines Verfahrenshindernisses zu den informellen Reaktionsalternativen, so zeigen sich deliktsabhängige Unterschiede, die aber an der Grundaussage einer milderen polizeilichen Vorschlagspraxis nichts ändern. Beim Diebstahl tritt keine nennenswerte Veränderung ein. Bei der Körperverletzung sinkt die Quote der fehlenden Übereinstimmungen im informellen Bereich um 10 %, bei der Sachbeschädigung um rund 7 %.

5.1.4

Unterscheidung nach Kriminal- und Schutzpolizei

Die wenigen Fälle, in denen der Staatsanwalt das Verfahren trotz anders lautenden Vorschlägen der Polizei informell beendet, kommen aus dem Bereich der Schutzpolizei und betreffen hier überwiegend den Diebstahl. Für die Gruppe formeller Entscheidungen trotz polizeilichem Informalisierungsinteresse lassen sich sinnvolle Vergleiche nur für alle Deliktsarten zusammen sowie für Diebstahlsdelikte ziehen. Körperverletzungsdelikte, die von der Kriminalpolizei bearbeitet wurden, sind in der Untersuchungsgruppe nicht, Sachbeschädigungen und Fälle mit verschiedenen Tatvorwürfen — soweit es die hier zu untersuchende Fragestellung betrifft — bei beiden Polizeieinheiten in zu geringem Umfang vertreten. Ein direkter Vergleich der Vorschlagsquoten von Kriminal- und Schutzpolizei (n = 902) bringt signifikante Unterschiede hervor: Während die Schutzpolizei eine Quote von rund 80 % informell und 20 % formell erledigt, beträgt sie bei der Kriminalpolizei rund 60 % zu 40 % (χ 2 = 40,22; a < 0,001; phi = 0,21). Angesichts der bereits aufgezeigten Unterschiede des "Fallinputs" bei beiden Polizeieinheiten kommt diesen Zahlen nur eine eingeschränkte Bedeutung zu.

Polizeilicher Verfahrensvorschiag Abb. 5.3:

421

Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Vergleich, differenziert nach Kriminal- und Schutzpolizei 100%

38%

38%

20%

18%

75%

50%

25%

0%

Kriminalpolizei, alle Delikte

X2 = 35,65 α < 0,001 phi = 0,43 IH

45%

42%

Kriminalpolizei, Diebstahl

χ2 = 29,33 α = 0,001 phi = 0,41

Schutzpolizei, alle Delikte

χ2 = 180,73 α < 0,001 phi = 0,57

Schutzpolizei, Diebstahl

χ2 = 156,97 α < 0,001 phi = 0,58

Polizei formell; Staatsanwaltschaft informell

[ZU Polizei informell; Staatsanwaltschaft formell β

Polizei und Staatsanwaltschaft informell ] Polizei und Staatsanwaltschaft formell

Bezieht man die staatsanwaltliche Reaktion in die Betrachtung ein, so läßt sich ganz deutlich feststellen, daß das Potential abweichender Entscheidungen von Polizei und Staatsanwaltschaft stärker aus dem kriminal- als aus dem schutzpolizeilichen Tätigkeitsbereich kommt. Bei der Kriminalpolizei besteht im informellen Bereich (polizeiliche Vorschläge) nur zu 35 % eine Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, während der gleiche Wert bei der Schutzpolizei 77 % beträgt (Korrelationswerte im Hinblick auf den Vergleich Kriminal- und Schutzpolizei: χ 2 = 75,99; α < 0,001; phi = 0,37). Für die folgende bi- und multivariate Analyse wird die Unterscheidung zwischen kriminal- und schutzpolizeilicher Praxis wegen der unterschiedlichen Arbeitsbereiche aufgegeben. Eine getrennte Auswertung wäre aufgrund der Datenlage nur im Hinblick auf den Diebstahl in Betracht gekommen. Im Rahmen dieser Deliktsart hat aber die Kriminalpolizei fast alle Einbruchsdieb-

422

Polizei und Diversion

stähle sowie die überwiegende Anzahl der sonstigen Diebstähle (84 von 99 Fällen), die Schutzpolizei fast alle Ladendiebstähle bearbeitet. Eine nach Diebstahlsarten differenzierte Untersuchung, wie sie beabsichtigt ist, deckt vor diesem Hintergrund das Forschungsinteresse an der Vorschlagspraxis von Schutz- und Kriminalpolizei fast vollständig ab.

5.1.5

Polizeilicher Informalisierungsvorschlag und staatsanwaltliche Entscheidung nach § 76 JGG (vereinfachtes Verfahren)

Der Polizeibeamte kann im Rahmen der Frage 12 des Informationsbogens zwischen den drei jugendstrafrechtsspezifischen Einstellungsmöglichkeiten des § 45 wählen. Der unterschiedliche Umgang mit den Alternativen des § 45 auf Polizei- und Staatsanwaltschaftsebene wirft die Frage auf, inwieweit die festgestellten Diskrepanzen zwischen polizeilichen und staatsanwaltlichen Informalisierungsquoten nicht dadurch abgeschwächt werden, daß auf Vorschläge informeller Art zwar formell — allerdings durch die Anwendung des § 76 — auf niedrigster Stufe reagiert wurde. Der Staatsanwalt könnte insbesondere die nicht praktizierte, aber von Polizeibeamten vorgeschlagene Mitwirkung des Richters nach § 45 Abs. 1 über eine Antragsschrift herbeiführen. Eine Analyse der Fälle, in denen der Polizeibeamte für eine informelle Erledigung stimmte, der Staatsanwalt aber formell entschied, widerlegt diese These: Die Anklage vor dem Jugendrichter dominiert mit 146 Fällen, gefolgt von der Anklage vor dem Jugendschöffengericht mit 19 Fällen. Das 'Schlußlicht' bildet die Antragsschrift nach § 76 (16 Fälle), wobei nur bei 3 Fällen ein Vorschlag, nach § 45 Abs. 1 zu verfahren, vorlag. Die fehlende Akzeptanz von polizeilichen Vorschlägen zu § 45 Abs. 1, aber auch zu den beiden anderen Alternativen dieser Norm, wird somit nicht durch eine staatsanwaltliche Favorisierung des vereinfachten Verfahrens kompensiert.

5.1.6

Polizeiliche Vorschläge und staatsanwaltliche Entscheidungen im Zeitverlauf

Angesichts der festgestellten Unterschiede zwischen polizeilichen Vorschlägen und staatsanwaltlichen Entscheidungen stellt sich die Frage, ob diese Unterschiede während der hier untersuchten Laufzeit des Modellversuchs kontinuierlich oder zu einem bestimmten Zeitpunkt noch eindeutiger bzw. weniger eindeutig bestanden haben. Unabhängig davon, ob man zwei, drei oder sieben Meßzeitpunkte wählt, ist keine signifikante Veränderung der Frage "Übereinstimmung im formellen und informellen Bereich" zu verzeichnen (z.B. bei drei Meßzeitpunkten: χ 2 = 3,40; a = 0,757; Cramer's V = 0,05). Modell- oder Anfangseffekte dergestalt, daß zu

Polizeilicher

Verfahrensvorschlag

423

Beginn der Versuchsphase ein positives, nicht-repressives Bild von der Polizei vermittelt werden sollte, lassen sich aus diesen Zahlen nicht ablesen. Das kontinuierliche Auseinanderklaffen von polizeilichem Vorschlag und staatsanwaltlicher Entscheidung über einen Zeitraum von fast 2 Jahren spricht eher dafür, daß bei der Polizei der Einflußfaktor "Innovation"/"Modellcharakter" und das Ausmaß bewußter Verhaltenssteuerung in Richtung auf die Präsentation eines liberalen Polizeibilds gering zu veranschlagen sind. Hier ist zu berücksichtigen, daß den Polizeibeamten die Reichweite der Kontrolle durch die Forschung nicht bekannt war. Während der Beobachtungsphase nach Einführung des Informationsmodells sind den Beobachtern/innen zudem keinerlei Verhaltensrichtlinien von Vorgesetzten bekannt geworden.

5.1.7

Polizeiliche Sanktionierungsvorschläge

Obwohl nicht explizit im Informationsbogen abgefragt, haben Polizeibeamte in jedem 10. Fall einen Sanktionsvorschlag gemacht. Dies geschah durch Eintragungen in den offenen Spalten oder Unterstreichen der beispielhaft zu § 45 Abs. 2 Nr. 1 genannten Maßnahmen ("Arbeitsleistung, Verkehrsunterricht, Ermahnung"). Die einzelnen Sanktionsäquivalente verteilen sich ihrer Art nach wie folgt:

Tab. 5.2:

Sanktions vorschlage der Polizeibeamten

Arbeitsleistung Ermahnung Geldbuße Schadenswiedergutmachung Fahrerlaubnissperre Geldbuße/ Arbeitsleistung Summe

abs.

%

50 54 6 2 1 1

4,7 5,1 0,6 0,2 0,1 0,1

114

10,8

Diese Tabelle bestätigt die polizeilichen Eintragungen unter den "besonderen Bemerkungen", wonach der Arbeitsleistung, aber auch der Ermahnung, eine erzieherische Wirkung beigemessen wird. Von den insgesamt 111 in der Erhebung erfaßten Beamten haben genau ein Drittel mindestens einen Vorschlag zur Sanktion gemacht. Die Sanktionsvorschläge erfolgten ganz überwiegend (n = 100) in Verbindung mit einem Vorschlag nach § 45 Abs. 2 Nr. 1.

424

Polizei

und

Diversion

Ein Vergleich der polizeilichen Vorschläge zu konkreten Sanktionen mit den von Staatsanwälten verhängten Sanktionsäquivalenten kann nur einen vagen Eindruck darüber geben, wie weit beide Instanzen in ihrer Einschätzung bezüglich dieses Punkts auseinanderliegen. Es ist nicht zu prognostizieren, welches Bild der Sanktionspraxis sich ergeben würde, wenn Polizeibeamte systematisch aufgefordert wären, im Rahmen des § 45 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 eine konkrete Maßnahme vorzuschlagen. Für eine vergleichende Betrachtung im Rahmen des § 45 Abs. 2 Nr. 1 verbleiben 68 Fälle, von denen Anregungen zu Schadenswiedergutmachungsleistungen immer (wenngleich nur 2 Falle), zu Ermahnungen weitgehend und solche zur Geldbuße gar nicht von der Staatsanwaltschaft aufgegriffen wurden. Die Vorschläge zu Arbeitsleistungen wurden in 5 Fällen umgesetzt, in 20 Fällen allerdings nicht. Demgegenüber findet sich im staatsanwaltlichen Entscheidungsrepertoire eine etwa gleich große Anzahl an Verfahren, in denen Arbeitsweisungen angeordnet wurden, ohne daß irgendein polizeilicher Sanktionsvorschlag vorlag. Hier muß allerdings das Fehlen einer expliziten Aufforderung, konkrete Sanktionen vorzuschlagen, als Einflußfaktor bedacht werden. Entscheiden sich Staatsanwälte für eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 2 Nr. 1 und liegt ihnen die polizeiliche Anregung eines bestimmten Sanktionsäquivalents vor, so wählen sie im Regelfall die weniger eingriffsintensive Form der Ermahnung.

Überprüft man alle polizeilichen Sanktionsvorschläge im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegenden Deliktsmerkmale, so zeigt sich, daß alle Maßnahmen sowohl für Bagatellen als auch mittelschwere Kriminalitätsbereiche vorgesehen werden. Dieser Befund erscheint problematisch. So werden 93 % aller Arbeitsleistungen bei Ladendiebstählen, 49 % bei einem Schaden bis 50 DM, 60 % bei Unvorbelasteten sowie 76 % bei einer Einzeltat vorgeschlagen. Eine naheliegende Vermutung, daß ein positives Verhalten des Beschuldigten ("Reue/Einsicht", die erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens, Schadenswiedergutmachung u.a.) entscheidungsleitend in dem Sinne sein könnte, daß Arbeitsleistungen ihre erzieherische Wirkung bei "uneinsichtigen" Beschuldigten entfalten sollen, trifft nicht zu. Im Gegenteil: Arbeitsleistungen (wie auch Geldbußen) werden überwiegend für "einsichtige" Beschuldigte reserviert, auf die das polizeiliche Ermittlungsverfahren bereits gewirkt hat. 81 % der vorgeschlagenen Arbeitsleistungen betreffen Beschuldigte, die "Reue" gezeigt haben, 94 % solche, die durch Ermittlungshandlungen der Polizei beeindruckt wurden. Sanktionsäquivalente, die Ermahnung wegen ihrer Mehrdeutigkeit (schriftlich oder mündlich) ausgenommen, werden demnach eher bei Beschuldigten befürwortet, die für eine entsprechende erzieherische Einflußnahme noch zugänglich zu sein scheinen. Wir fassen zusammen: Die Ermahnung wird sowohl im Bereich der Bagatellen als auch der mittelschweren Kriminalität umfassend befürwortet. Die quantitativ bedeutsamste Form eingriffsintensiverer Sanktionsäquivalente, die Arbeitsweisung,

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

425

erhält einen ähnlichen Stellenwert, was im Hinblick auf Bagatellen als unverhältnismäßig erscheint. Wenngleich die Datenbasis angesichts einer fehlenden Aufforderung zu Sanktionsvorschlägen notwendig selektiv ist, zeichnet sich eine deutliche Tendenz der Polizeibeamten ab, das als erzieherisch wirksam empfundene Arbeiten vor allem auch dem "einsichtigen" Beschuldigten 'zugute' kommen zu lassen. Das Verhältnis zwischen Anlaß (Tat) und Reaktion wird hier nicht ausreichend berücksichtigt.

5.1.8

Polizeivorschlag und Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO

Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK besagt, daß der Angeklagte bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld als unschuldig gelten muß. Die Entscheidung über eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO geht demzufolge unbedingt einer Entscheidung über Anklage oder Einstellung gemäß § 45 vor. Das Bielefelder Informationsmodell räumt den Polizeibeamten keine Vorschlagsoder Entscheidungskompetenz im Hinblick auf die Beurteilung des "genügenden Anlasses" zur Anklageerhebung ein. Die Vorschlagsmöglichkeiten des § 45 versus eine Anklage/Antragsschrift wurden aber explizit unter den Vorbehalt "Bemerkungen für den Fall des Tatnachweises" gestellt. Diese die Unschuldsvermutung beachtende Bedingung hat zur Folge, daß nur, wenn die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Anklageerhebung geben, der Polizeibeamte einen Vorschlag zur Verfahrenserledigung fixieren darf. Als Maßstab für das Vorliegen dieser Voraussetzung kann hier nur die staatsanwaltliche Entscheidung herangezogen werden. Danach hat die Staatsanwaltschaft in 65 Fällen, in denen ein Polizeivorschlag zur formellen oder informellen Erledigung des Verfahrens vorlag, das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, "weil Täterschaft, Tat oder Tatumstände nicht nachweisbar sind oder die Tat unter keinen Straftatbestand fällt" (vgl. Text der amtlichen Zählkartenstatistik). Von diesen Fällen müssen 7 abgezogen werden, da hier der Polizeibeamte selber den Tatnachweis abgelehnt, mangels entsprechender Ankreuzmöglichkeit aber eine informelle Alternative (§ 45 Abs. 2 Nr. 2) gewählt hat. Es verbleiben somit 58 Fälle, bei denen Polizei und Staatsanwaltschaft divergierende Bewertungen im Hinblick auf die Frage des Tatnachweises vorgenommen haben. In 9 Fällen wurde polizeilicherseits eine Anklage, in den übrigen Verfahren eine Einstellung nach § 45 vorgeschlagen. Der Polizeivorschlag hätte in allen diesen Verfahren, angesichts des Zwangs zur Eintragung von 45er Entscheidungen in das Erziehungsregister, zu einer deutlichen Schlechterstellung des Beschuldigten geführt.

426

5.2 5.2.1

Polizei und Diversion

Determinanten polizeilicher Verfahrensvorschläge Grundsätze zur Vorgehensweise bei der bi- und multivariaten Analyse

• Zielvariable Um einerseits die Befunde zur polizeilichen Praxis des Informationsmodells mit denen zur staatsanwaltlichen (vgl. 4. Buch) vergleichbar zu machen und andererseits auf ausreichender Zahlenbasis deliktsspezifische Analysen vornehmen zu können, liegt der Schwerpunkt der Auswertungen auf einer Gegenüberstellung der informellen und formellen Reaktionsalternativen. Dabei werden als Informalisierung die Entscheidungsmöglichkeiten nach § 45, als Anklage die Antragsschrift/ Anklageschrift zusammengefaßt. Die Zielvariable wurde unabhängig davon gebildet, wie die Staatsanwaltschaft auf den Vorschlag reagiert hat. Danach liegen insgesamt 902 Fälle vor, von denen 222 auf die formelle, 680 auf die informelle Alternative entfallen. Von dieser Zahlenbasis sind jene 7 Fälle abzuziehen, bei denen der Polizeibeamte den Tatnachweis verneint, vermutlich aber aus Unsicherheit über das adäquate Vorgehen eine Verfahrenseinstellung nach § 45 vorgeschlagen hat (895 Fälle: davon 222 Fälle formell, 673 informell erledigt). • Entscheidungsdeterminanten Die Analyse der Entscheidungsdeterminanten kann sich auf zwei sehr unterschiedliche Informationsquellen stützen: die Aktenerhebung und den Informationsbogen. Beide erfassen zum Teil die gleichen Fragestellungen (z.B. zur "Reue"). Bei der bi- wie auch multivariaten Analyse werden diese Instrumente entsprechend ihrer Funktion herangezogen. Soweit es um spezifisch präventionsrelevante Kriterien geht, die die Polizeibeamten im Informationsbogen festgehalten und bewertet haben, werden ausschließlich diese Angaben zugrundegelegt. Soll demgegenüber eine Überprüfung polizeilicher Vorschlagstätigkeit im Hinblick auf tat-, täter- und opferbezogene Merkmale erfolgen, die im Informationsbogen mangels gezielter Abfrage nur selektiv auftauchen (z.B. Ausländereigenschaft), so werden ausschließlich die auf der Grundlage des Aktenerhebungsbogens fixierten Daten analysiert.

• Deliktsbezogene Auswertung Deliktsabhängige Unterschiede bei der polizeilichen Bewertung einzelner Merkmale können — wie schon bei der Staatsanwaltschaftsuntersuchung — nur durch eine nach Delikten getrennte Analyse der Polizei Vorschläge erfaßt werden. Die Art des Schadens sowie die Höhe, bis zu der er möglicherweise toleriert wird, können deliktsabhängig variieren. Das gleiche gilt u.a. für die Anzahl der Taten (Serientaten bei Diebstahls- und Sachbeschädigungsdelikten, seltener aber bei Körperverletzungen), die Art des Geschädigten (natürliche oder juristische Person) und mögliche Beziehungen zwischen Beschuldigtem und Geschädigtem. Ein Vergleich des Ladendiebstahls (Massendelikt, unterschiedliche Schadenshöhen, anonyme Institutionen als Geschädigte, erhöhte Quote weiblicher Beschuldigter usw.) mit

Polizeilicher

427

Verfahrensvorschlag

einer Körperverletzung (Schaden nicht quantifizierbar in DM-Beträgen, Angriff gegen eine Privatperson, seltenere Tatbegehung durch weibliche Beschuldigte usw.) zeigt deutlich, daß deliktsspezifische Entscheidungsmuster schon aufgrund des jeweiligen "Inputs" zu erwarten sind. In der Untersuchungsgruppe von η = 895 entfallen 715 Fälle (79,9 %) auf den Diebstahl, 79 auf die Körperverletzung (8,8 %), 67 auf die Sachbeschädigung (7,5 %) und 33 auf Fälle mit verschiedenen Deliktsvorwürfen (3,7 %). Ein Fall läßt sich keiner dieser drei Fallgruppen zuordnen und wird deshalb von den weiteren Analysen ausgeschlossen. Ebenso werden die 33 Fälle mit verschiedenen Deliktsvorwürfen wegen der geringen Fallzahl nicht als eigene Untersuchungsgruppe ausgewertet.

5.2.2

Erklärungsfaktoren — Aktenerhebungsbogen

Die Wiedergabe bivariater Zusammenhänge zwischen polizeilichen Vorschlägen und Variablen des Aktenerhebungsbogens soll einen ersten Eindruck über mögliche Einflußfaktoren vermitteln. Ein Vergleich bi- und multivariater Ergebnisse vermag zudem Aufschluß über Scheinbeziehungen zu geben. Zu Beginn der Darstellungen zu den aktenkundigen Merkmalen erfolgt zunächst ein Überblick über die polizeilichen Vorschläge bei den einzelnen Delikts- und Diebstahlsarten. Wenngleich der Tendenz nach die Körperverletzungen vor allem im Vergleich zu den Sachbeschädigungen weniger für eine informelle Erledigung vorgeschlagen

Tab. 5.3:

Deliktsart und polizeilicher Vorschlag DELIKTSART

VORSCHLAG

Diebstahl

Körperverletzung

Sachbeschädigung

Summe

Anklage

180 25%

22 28%

14 21%

216 25%

Informalisierung

535 75%

57 72%

53 79%

645 75%

715

79

67

861

Summe

χ 2 = 0,95; α = 0,622; Cramer's V = 0,03

428

Polizei und Diversion

werden, läßt diese Tabelle kein typisches Diversionsdelikt erkennen. Diese Befunde sprechen dafür, daß nicht die Art des Delikts, also auch nicht des verletzten Rechtsguts, die Weichen für oder gegen eine informelle Erledigung stellt.

Tab. S.4:

Diebstahlsart und polizeilicher Vorschlag DIEBSTAHLSART

VORSCHLAG

Ladendiebstahl

Sonstiger Diebstahl

Einbruchsdiebstahl

Summe

Anklage

88 17%

34 35%

63 53%

185 25%

Informalisierung

430 83%

64 65%

57 48%

551 75%

518

98

120

736

Summe

χ 2 = 70,78; a < 0,001; Cramer's V = 0,31

Tabelle 5.4 weist eine signifikant unterschiedliche Behandlung der Diebstahlsarten entsprechend der Tatschwere aus. Die Tatsache, daß fast die Hälfte der Einbruchsdiebstähle für eine Informalisierung vorgeschlagen wurden, zeigt jedoch, daß Polizeibeamte den Bereich mittelschwerer Kriminalität in weitem Umfang in Diversion einbeziehen wollen. Dieser Befund bestätigt sich, wenn man die nach der Tatschwere sehr unterschiedlichen Deliktsarten "Einbruch" und "Ladendiebstahl" gegenüberstellt und eine weitere Vorbedingung — nämlich das Vorliegen einer Einzel tat — einführt. Einbruchsdiebstähle werden nunmehr zu zwei Drittel informalisiert. Tabelle 5.5 gibt für weitere Tat- und Tätermerkmale die prozentualen Anteile polizeilicher Informalisierungsvorschläge und — soweit signifikant — das Signifikanzniveau wieder, auf dem sich ein Zusammenhang bivariat absichern ließ. (1) Bei den einzelnen Delikts- und Diebstahlsarten dominiert ganz eindeutig die Einzeltat (zwischen 80 und 94 %, Ausnahme Einbruchsdiebstahl: 45 %). Den Informalisierungsquoten liegen bei der Körperverletzung z.B. nur 5 Fälle, bei der Sachbeschädigung nur 7 Fälle zugrunde. Bei den Diebstählen streuen die Fälle mit mehr als einer Tat bis zu 24 Taten, wobei diese Gruppe lediglich ein Fünftel aller Diebstähle ausmacht. Trotz der signifikanten Unterschiede bei allen Diebstahlsfällen beträgt die Chance, daß ein Verfahren mit mehreren Taten informalisiert wird, 1 : 1 . Die Bedeutung der Anzahl der Taten nimmt mit der Schwere der Diebstahlsart zu. Polizeibeamte

Polizeilicher Verfahrensvorschlag Tab. 5.5:

429

Polizeiliche Informalisierungsquoten differenziert nach Tat- und Täteimerkmalen Dieb- Körperver- SachbeLadenstahl letzung schädigung diebstahl

Anzahl der Tatvorwürfe Einer Zwei oder mehr Schadenshöhe Kein Schaden Bis 50 DM 51 bis 100 DM 101 bis 150 DM 151 bis 250 DM 251 bis 500 DM 501 bis 1.000 DM 1.001 bis 3.000 DM 3.001 bis 10.000 DM 10.001 DM und mehr Verletzung des Geschädigten Leicht Mittelschwer / schwer

81% 51%

···

-



87% 76% 83% 68% 76% 50% 43% 15% 17%

-

70% 100%

··· —

-

76% 59%

81% 70%

85% * 73%

100% 86% 100% 100% 71% 64% 82% 75%

87% " 79% 82% 59% 79% 80% 33%



67%

-





Sonstiger EinbruchsDiebdiebstahl stahl 65% 67%



78%' 56% 100% 79% 73% 54% 46% 14%

72% 27%



75% · · · 100% 83% 80% 72% 39% 47% 19% 17%

-

-

-

-

-

-

-

-

Tatbeteiligung mit anderen — Täterschaft mit anderen — Teilnahme Alleintäterschaft

64% 94% 82%

67% * 46% 82%

74% 93% 73%

76% " 97% 85%

Vorbelastung des Beschuldigten Keine Geringe Hohe

93% 64% 20%

92% 79% 44%

88%*' 83% 29%

95% *" 71% 30%

90% ' " 50% 18%

~ 73% 58% 11%

Art der Aussage Keine Aussage Teil- / kein Geständnis Volles Geständnis

36% 57% 80%

43% " 68% 93%

50% * 68% 90%

36% *" 69% 87%

38%' 48% 75%

33% 46% 48%

(*):

65% 100% 64%

43%" 87% 36%

· · ·

α < 0,1; *: α < 0,05; **: α < 0,01; ***: α < 0,001

lassen sich angesichts dieser Befunde nur wenig von formalen Maßstäben im Hinblick auf dieses Tatschwerekriterium leiten. (2)

Als leicht quantifizierbarer und daher standardisierbarer Maßstab für die

Schwere der Tat scheint die Schadenshöhe eher bei Diebstählen entscheidungsrele-

430

Polizei und Diversion

vant zu sein. Hervorzuheben ist allerdings, daß, bezogen auf alle Diebstahlsfälle, die Informalisierungsquote erst ab 1001 DM unter 50 % sinkt. Nur beim Einbruchsdiebstahl liegt diese Grenze bei 500 DM. Läßt sich somit ein deutlicher Zusammenhang zwischen Polizeivorschlag und Schadenshöhe festmachen, so zeigt die Korrelation aber auch, daß die Chance, von der Polizei für eine informelle Erledigung vorgeschlagen zu werden, selbst bei höheren Schadenswerten noch 1 : 1 steht. Es läßt sich keine feste Schadensgrenze im Bereich zwischen 0 und 500 DM ausmachen, an der sich Polizeibeamte konsequent orientieren. (3) Es zeichnet sich eine deliktsabhängige Beurteilung der von Alleintäterschaft und Tatbegehung mit anderen (als Täter oder Teilnehmer) ausgehenden Eingriffsintensität ab. Eine erhöhte Gefahrdung der Rechtsgüter des Geschädigten scheint danach bei der Körperverletzung von der Tatbegehung durch mehr als eine Person, bei Diebstählen und Sachbeschädigungen von der täterschaftlichen Deliktsverwirklichung auszugehen. Dieser Maßstab spricht für eine tatstrafrechtliche Orientierung der Polizeibeamten, wie sie in den Regelungen des Erwachsenenstrafrechts (§§ 27, 49 StGB) angelegt ist. (4) Bei der Frage der strafrechtlichen Vorbelastung des Beschuldigten wurde zwischen "keine", "geringe" (ein bis drei vorhergehende Verfahren) und "hohe" (vier oder mehr vorhergehende Verfahren) unterschieden. Bei allen drei Deliktstypen, aber auch bei den einzelnen Diebstahlsarten, besteht ein zum Teil hoch signifikanter Zusammenhang zwischen der Vorbelastung und dem polizeilichen Vorschlag (z.B. Diebstahl: χ 2 = 237,49; a < 0,001, Cramer's V = 0,58). Die Tabelle zeigt, daß die Chance, daß das Verfahren für eine informelle Erledigung vorgeschlagen wird, bei Unvorbelasteten mitunter fast 100 % erreicht, und zwar unabhängig von weiteren Tat- und Tätermerkmalen. Selbst "gering" Vorbelastete werden beim Diebstahl nur zu einem Drittel, bei der Körperverletzung zu einem Fünftel und bei der Sachbeschädigung fast in gleichem Umfang wie Erstauffällige für eine formelle Reaktion vorgesehen. Dabei ist zu gegenwärtigen, daß "gering vorbelastet" per definitionem bis zu drei Voreintragungen bei der Staatsanwaltschaft einschließt. Vergleicht man hierzu die Entscheidungspraxis der Staatsanwaltschaft (vgl. 1. Buch), so werden z.B. beim Diebstahl drei Viertel der Verfahren mit einer Voreintragung und fast 90 % der Fälle mit zwei Eintragungen angeklagt. Bei vier und mehr Vorbelastungen sinkt die Chance für eine informelle Entscheidung der Staatsanwaltschaft in Diebstahlsfallen auf Null, während — gemessen am polizeilichen Vorschlag - noch jedes fünfte Verfahren ohne eine Hauptverhandlung beendet würde. Die signifikanten Zusammenhänge zwischen Vorschlag und Vorbelastung finden sich somit — verglichen zur Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaft — auf weitaus höherem Niveau und versperren leicht den Blick dafür, daß der Polizeibeamte in sehr viel größerem Umfang als die Staatsanwaltschaft auch die Verfahren von Mehrfachauffälligen für eine informelle Entscheidung vorsieht.

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

431

(5) Im Hinblick auf die polizeiliche Aufgabe der Tataufklärung und des Schuldnachweises bedeutet Kooperation aus der Sicht der Polizei, zur polizeilichen Vernehmung zu erscheinen und eine Aussage zur Sache zu machen, die ein volles Geständnis beinhaltet. Die Hypothese, daß mit dem Maß der Kooperation die Informalisierungsquote steigt, spiegelt sich für fast alle Delikts- und Diebstahlsarten (Ausnahme: Einbruch) in den entsprechenden Kreuztabellen wider. Keine Aussage zu machen, scheint sich somit formalisierend auszuwirken, wenngleich bei fehlender Aussage zumindest ein Drittel, teilweise auch mehr, noch mit einem Vorschlag zur informellen Erledigung bedacht werden.

Tab. 5.6:

Polizeiliche Informalisierungsquoten differenziert nach persönlichen und sozialen Merkmalen des Beschuldigten Dieb- Körperver- Sachbestahl letzung schädigung

Alter Jugendlicher Heranwachsender

78% 66%

83% * 58%

Geschlecht Weiblich Männlich

85%" 71%

89% 70%

Nationalität Deutsch Ausländisch

78% " 66%

79% 57%

Wohnung / Aufenthalt Nicht auffällig Auffallig

77% 50%

71% 86%

Familienverhältnisse der Eltern Nicht auffallig Auffällig

76% (,> 69%

73% 68%

Schulausbildung Keine Sonderschule Sonderschule

75% 71%

Derzeitige Tätigkeit Nicht arbeitslos Arbeitslos

76%" 57%

(*):

70% 100%

75% 50%

(,)

Ladendiebstahl

Sonstiger EinbruchsDiebdiebstahl stahl

81% 76%

84% 80%

63% 75%

100% 78%

85% 82%

100% 63%

81% 50%

84% 79%

-

-

83%' 25%

α < 0,1; *: α < 0,05; **: α < 0,01; ***: α < 0,001

50% 47%

77% " 44%

51% 38%

66% 62%

51% 35%

83% 81%

65% 65%

51% 40%

83% 89%

67% 50%

46% 58%

64% 100%

49% 33%





85% 57% 81% 67%

61% *" 23%

85%" 62%

*

432

Polizei und Diversion

Der Bedeutung persönlicher und sozialer Merkmale des Beschuldigten für das Handeln strafrechtlicher Kontrollinstanzen, insbesondere für den justitiellen Ausfilterungsprozeß vom polizeilich Tatverdächtigen bis zum gerichtlich Verurteilten, wird in der empirischen Sozialforschung besondere Beachtung geschenkt. Ausländische Untersuchungen zur praktischen Umsetzung von Polizeidiversion konnten insoweit eine Reihe von Merkmalen herauskristallisieren, denen entscheidungsbeeinflussende Wirkung zukommt. Danach erfaßt polizeiliche Diversion eher weibliche, jüngere, nicht ausländische (in den USA: Problematik der Rassenzugehörigkeit) Beschuldigte (Klein 1976, 89 m.w.N.; Seuil 1980, 197; Farrington/Bennett 1981, 131; Huber 1985, 696; Junger-Tas 1983, 10 ff.) mit ausreichender häuslicher Beaufsichtigung, mangelnden Auffälligkeiten in Familie, Schule und Beruf (vgl. Farrington/Bennett 1981, 132 f.; Mott 1983, 251 m.w.N.; Fisher/Mawby 1982, 71).

Tabelle 5.6 bestätigt diese Befunde - auf der bivariaten Ebene — nur zum Teil. In diesem Zusammenhang ist zu gegenwärtigen, daß die persönlichen und sozialen Merkmale deutliche Interkorrelationen mit Variablen der Tatschwere und des Beschuldigtenverhaltens i.w.S. aufweisen. In den Tabellen 5.4 bis 5.6 nicht enthalten sind solche Merkmale, die bei allen Fallkonstellationen quantitativ sehr gering auftreten und/oder nur für einzelne Delikts- und Diebstahlsarten von Entscheidungsrelevanz sein können. Die bivariaten Ergebnisse sollen hier nur stichwortartig wiedergegeben werden. — Die Bedeutung der anwaltlichen Vertretung des Beschuldigten für den Polizeivorschlag kann — quantitativ gesehen — allenfalls für alle Diebstähle (11 Fälle) sowie die Ladendiebstähle (6 Fälle) geprüft werden. Ein signifikanter Zusammenhang ließ sich hier nicht feststellen. — Der Fall, daß mindestens eine Privatperson geschädigt wurde, wurde nur bei allen Diebstahlsfällen sowie bei den sonstigen Diebstählen signifikant unterschiedlich behandelt und zwar in der Richtung, daß die Schädigung eines Privatopfers sich zu Lasten einer informellen Erledigung auswirkt. — Das fehlende Strafverfolgungsinteresse des Geschädigten, gemessen am Verzicht auf einen Strafantrag, spiegelt sich zwar weitgehend in erhöhten Informalisierungsquoten wider; dieser Zusammenhang ist allerdings nur beim Einbruchsdiebstahl signifikant. Hier scheint dem Umstand des fehlenden Strafantrags angesichts der Schwere der Tat eine besondere Bedeutung beigemessen zu werden. — Eine soziale Beziehung zwischen dem Geschädigten und dem Beschuldigten vor der Tat läßt bei keiner der untersuchten Fallgruppen signifikante Unterschiede in der polizeilichen Bewertung erkennen. — Der Einfluß persönlicher Merkmale des Geschädigten auf den Polizeivorschlag ließ sich angesichts der Datenstruktur am sinnvollsten für Fälle einer Körperverletzung untersuchen. Auf der Grundlage bivariater Analysen konnte nur die

Polizeilicher

Verfahrensvorschlag

433

These, daß die Schädigung Jugendlicher sich als jugendtypische Prügelei informalisierend auswirkt, bestätigt werden. Die Vermutung, daß auf die Verletzung von Frauen signifikant häufiger mit einem Anklagevorschlag reagiert wird, während sich die körperliche Auseinandersetzung mit einem Ausländer in erhöhten Informalisierungsquoten niederschlägt, ließ sich bivariat nicht statistisch absichern.

5.2.3

Erklärungsfaktoren — Informationsbogen

Im Vordergrund dieses bivariaten Analyseschritts steht die Frage, welche Zusammenhänge sich zwischen dem Polizeivorschlag und den gezielt im Informationsbogen abgefragten Dimensionen des § 45 ergeben. Der Analyse werden Variablen zugrundegelegt, die auf der Basis der jeweils spezifischen Fragestellung des Informationsbogens gebildet und durch zusätzliche Informationen aus allen offenen Spalten ergänzt wurden. Der Bewertung des Polizeibeamten wurde dabei mit wenigen Ausnahmen (z.B. Schadenswiedergutmachung, vgl. Abschnitt 4.2.3.3) gefolgt (z.B. Einschätzung als tatbegünstigendes Verhalten, unabhängig von einem Beitrag des Geschädigten zur Tat, vgl. Abschnitt 4.2.3.8).

Eine quantitative Auswertung der im Informationsbogen festgehaltenen Tatmotivationen kann sich angesichts der unter Abschnitt 4.2.3 geschilderten Ergebnisse zu dieser Thematik nur an den unter der Überschrift "mitursächliches Tatmotiv" vorgegebenen Antwortkategorien orientieren. Getestet wurde somit, ob das jeweils angekreuzte Tatmotiv, für sich allein genommen, also unabhängig von möglichen Mehrfachnennungen, geeignet ist, den polizeilichen Vorschlag zu beeinflussen. Im folgenden können nicht die einzelnen Kreuztabellen der 28 Tatmotiverursachen jeweils getrennt für die einzelnen Delikts- und Diebstahlsarten wiedergegeben werden. Es erfolgt deshalb eine bloße Aufstellung darüber, ob ein signifikanter Zusammenhang mit dem Vorschlag sichtbar wurde und in welche Richtung, formalisierend oder informalisierend, er ging.

Signifikante Zusammenhänge treten zum einen bei deliktsspezifischen Tatmotivationen wie "Bereicherungsabsicht ohne Notlage", "Hang zur Aggressivität" und "durch Provokation hingerissen" auf, und zwar in der — angesichts der sprachlichen Gestaltung — zu vermutenden Richtung. Motive bzw. Ursachen, denen dem Wortlaut nach sowohl be- als auch entlastende Wirkung zukommen kann, wirken sich unterschiedlich aus. Während der Alkoholeinfluß und die mangelnde geistige Reife nach der bivariaten Analyse als Belastungsfaktoren angesehen werden, scheinen "selbst nicht erklärbar", "Beeinflussung durch Tatbeteiligte" sowie "Abenteuerlust . . . " für eine Informalisierung zu sprechen. Hinsichtlich der "inneren Belastungen" lassen sich keinerlei signifikante Zusammenhänge feststellen.

Polizei u n d Diversion

434

Tab. 5.7:

Tatmotive und polizeilicher Vorschlag

Tatmotive Alkoholeinfluß Alkoholiker Drogeneinfluß Drogenabhängigkeit Tabletteneinfluß Notlage, Hunger Bereicherungsabsicht ohne Notlage Selbst nicht erklärbar Günstige Gelegenheit Langeweile Keine Erinnerung Mitbeeinflussend: Erlaß zur Einstellung des Verfahrens bei Schaden unter 100 DM Keine Angaben Übermäßiger Eigennutz, besondere Riicksichtsl. Hang zur Aggressivität Blind vor Wut, Kopf verloren Durch Provokation hingerissen Rache Beeinflussung durch Tatbeteiligte und Sonstige Mangelnde geistige Reife Abenteuerlust, Mutprobe, Probierverhalten Streich Geltungsdrang, "Angeberei" Innere Belastung, Scheidung der Eltern Innere Belastung, Familienstreitigkeiten Innere Belastung, Familienunglück Innere Belastung, Versagen in Schule/Beruf

n.s.: s./-: S./+: *:

Diebstahl s ./n.s. n.s. n.s. n.s.

Körperver- Sachbeletzung schädigung s./—

n.s. n.s.

Ladendiebstahl n.s.

Sonstiger EinbruchsDiebdiebstahl stahl n.s.





-

-

-

-

-

-

-

-

n.s.

-

-

-

-

n.s. n.s.

n.s. n.s.

n.s.

s ./-

-

-

s ./-

S./ +

-

n.s. n.s. n.s. n.s.

S./ +

n.s. n.s. n.s.

s ./n.s. n.s. n.s. n.s.

n.s. s./-"

n.s. n.s.

n.s.

n.s. n.s. n.s.

n.s. n.s.

n.s. n.s.

n.s.

s ./s./-' n.s. n.s. n.s.

-

-

n.s. s ./n.s.

n.s. n.s.

n.s.

-

n.s. n.s.

-

n.s.

n.s. s./-'

n.s. n.s.

n.s. n.s.

S./ +

n.s. n.s. n.s.

S./ +

n.s. n.s.

n.s. n.s. n.s.

n.s. n.s. n.s.

-

n.s.

n.s.

n.s.

n.s.

n.s.

n.s.

n.s.

-

n.s.

n.s.



n.s.

n.s.

n.s.

n.s.

n.s.

-

n.s. n.s. s ./-

n.s.

S./ +

-

n.s. n.s.

-

s ./n.s.

n.s. n.s.

n.s. s ./-

n.s.

-

n.s. n.s.

n.s.

S./ +

nicht signifikant nach x 2 -Test signifikant nach x 2 -Test, formalisierende Richtung signifikant nach x 2 -Test, informalisierende Richtung geringe Fallzahl

s./-'

-

-

n.s. n.s. n.s.

-

n.s. n.s. n.s. n.s.

n.s.

s ./n.s.

-

-

n.s.



n.s.

Polizeilicher Verfahrensvorschlag Tab. 5.8:

435

Polizeiliche Informalisierungsquoten differenziert nach Merkmalen aus dem Informationsbogen Dieb- Körperver- SachbeLadenletzung schädigung diebstahl stahl

Reue / Einsicht Vorhanden Nicht vorhanden Keine Einschätzung/Angabe

94% 38% 64%

Schadenswiedergutmachungsbereitschaft Vorhanden Nicht vorhanden Zweifelhaft Unbekannnt/keine Angabe

81% " ' 20% 79% 77%

96% ' " 49% 72%

96% ' " 13% 78%

71% 33% 44%

72%

92% " ' 36% 100% 82%

92% 20% 83% 85%

84% " 29% 68% 60%

55%" 10% 75% 37%

67% 73%

100%' 70%

93% ' " 73%

69% 63%

68% ' 40%

97% 33% 64%

„ , ^ ··· 96% 45% 66%

_ ^ ^ ··· 70% "* 83% 25% 61%

18% 42%

···

«*

89% 50% 72%

Elterliche Erziehungsmaßnahmen Angeordnet 88% Nicht angeordnet 63%

Sonstiger EinbruchsDiebdiebstahl stahl

90%' 42%

94% " 57% 75%

Erzieherische Wirkung Vorhanden Nicht vorhanden Unbekannt/keine Angabe

92% 35% 60%

Kooperatives Handeln Angegeben Nicht angegeben

83% * 73%

100% 68%

88% 76%

90%* 81%

79% 60%

62% 43%

Unkooperatives Handeln Angegeben Nicht angegeben

47% " · 78%

38% ( , ) 76%

78% 79%

64% " 84%

25%"' 76%

32% 51%

Positive Eigenschaft Angegeben Nicht angegeben

87% " ' 67%

93%" 60%

95% (,) 73%

94% 75%

79%' 55%

58% 43%

Negative Eigenschaft Angegeben Nicht angegeben

59% 78%

36% 78%

64% 82%

,

38% ' 71%

50% 47%

Eigener Schaden Vorhanden Nicht vorhanden

73% 75%

82% 69%

40% (,) 82%

89% 83%

67% 65%

29% 50%

Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten Vorhanden Nicht vorhanden

74% 75%

87% " 53%

79% 79%

87% 82%

50%' 75%

50% 47%

(*):

α < 0,1; *: α < 0,05;

· · ·

M

94% 43% 60%

**: α < 0,01;

_ ·**

65% 86%

***: α < 0,001

436

Polizei und Diversion

Tabelle 5.8 weist die bivariaten Zusammenhänge zwischen Polizeivorschlag und weiteren Merkmalen des Informationsbogens aus. (1) Die bivariaten Ergebnisse zum Verhalten des Beschuldigten nach der Tat, bezogen auf den Tatvorwurf (subjektive Stellung zur Tat, Schadenswiedergutmachung) und die erzieherische Wirkung der polizeilichen Ermittlungen, lassen für die multivariaten Analysen einen deutlichen Einfluß dieser Merkmale auf die polizeilichen Vorschläge erwarten. Die für alle Delikts- und Diebstahlsarten gleichermaßen hoch signifikante Differenz zwischen den Informalisierungsquoten bei Fehlen oder Vorliegen von "Reue" etc. sowie die zum Teil hohen Korrelationswerte (subjektive Stellung zur Tat beim Diebstahl: χ 2 = 215,54, Cramer's V = 0,55) legen eine deutlich an spezialpräventiven Aspekten orientierte Bewertung der Polizeibeamten nahe. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch die hohe Interkorrelation dieser drei Merkmale untereinander (vgl. Tab. 4.13 bezogen auf alle Fälle) und mit anderen Variablen. Die Bedeutung verhaltensbezogener Kriterien für den polizeilichen Vorschlag wird durch die bivariate Überprüfung der Kooperation bei der Tataufklärung (kooperatives versus unkooperatives Handeln, die positiven und negativen Feststellungen jeweils zusammengefaßt) und der polizeilichen Eigenschaftszuschreibungen unterstrichen. Allerdings fallen die Prozentsatzdifferenzen bei den Informalisierungsquoten, vor allem aber die Korrelationswerte, deutlich niedriger aus; nicht bei allen Fallkonstellationen läßt sich ein signifikanter Zusammenhang festhalten. (2) Die in Tabelle 5.8 gewählte Definition des Merkmals "erzieherische Maßnahmen" basiert auf der Überlegung, daß nur elterliche Reaktionen für den polizeilichen Vorschlag entscheidungsleitend sind, während die Maßnahmen anderer Personen und vor allem auch Institutionen von den Polizeibeamten so behandelt werden, als ob keine Sanktion bekannt ist. Diese These wurde im Vergleich zu anderen ("erzieherische Maßnahmen aller Personen/Institutionen" versus "keine/ unbekannte erzieherische Maßnahmen") durch höhere Korrelationswerte und häufigere, signifikante Unterschiede in der Vorschlagspraxis, wenn man die einzelnen Fallkonstellationen betrachtet, bestätigt. Die Wahrscheinlichkeit einer informellen Erledigung des Verfahrens beträgt, wenn die Eltern reagiert haben, mindestens 2 : 1 (informell zu formell), bei fehlender Reaktion aber auch noch fast 40 : 60 (Einbruch, ansonsten höhere Wahrscheinlichkeit). Lediglich bei der Körperverletzung und den sonstigen Diebstählen lassen sich keine signifikanten Unterschiede festhalten; bei ersterer werden Fälle ohne Erziehungsmaßnahmen sogar häufiger für eine Verfahrenseinstellung vorgeschlagen. Angesichts dieser Befunde ist ein nach Delikts- und Diebstahlsart differenziertes Bild als Ergebnis der multivariaten Analyse zu erwarten.

Polizeilicher

Verfahrensvorschlag

437

(3) Ein Eigenschaden des Beschuldigten scheint nach den bivariaten Analysen keinen Einfluß auf den polizeilichen Vorschlag auszuüben. (4) Augenfällig beim Ergebnis zur Bedeutung des tatbegiinstigenden Verhaltens von Geschädigten ist, daß signifikante Zusammenhänge nur beim sonstigen Diebstahl und der Körperverletzung, allerdings mit unterschiedlicher Richtung, auftreten.

5.2.4 5.2.4.1

Multivariate Analysen zur polizeilichen Informalisierungsbereitschaft Grundsätze

Auf der Grundlage von Korrelationen konnten Aussagen über den Zusammenhang zwischen jeweils einer unabhängigen (d.h. erklärenden) Variablen und der als abhängig definierten (d.h. zu erklärenden) Variablen "Polizeivorschlag" getroffen werden. Der Schluß auf ein entsprechendes Ursache-Wirkungsverhältnis ist jedoch nur bei einer simultanen Einbeziehung aller mutmaßlichen Einflußfaktoren für die Zielvariable, also nach Durchführung eines multivariaten Testverfahrens erlaubt. Im nachfolgenden Abschnitt werden — getrennt nach Delikts- und Diebstahlsarten — multivariate Modelle vorgestellt, die die relative Einflußstärke der verschiedenen unabhängigen Variablen im Hinblick auf den Polizeivorschlag bestimmen und die Variation in den Ausprägungen dieses Merkmals (formell versus informell) erklären sollen. Im Hinblick auf die Frage, welche Faktoren polizeiliches Vorschlagshandeln bestimmen, liegt kein gesichertes Wissen darüber vor, ob und welche Schwereindikatoren Polizeibeamte heranziehen. Neben einer nach Deliktsarten getrennten Analyse werden deshalb — entgegen dem Vorgehen des 4. Buches, das sich aus den Erkenntnissen der Intensivinterviews mit Staatsanwälten rechtfertigt — die Diebstahlsarten Ladendiebstahl, sonstiger Diebstahl und Einbruchsdiebstahl multivariat untersucht, was aufgrund der polizeiinternen Aufgabenverteilung eine grobe Unterscheidung der Entscheidungsstrukturen von Kriminal- und Schutzpolizei erlaubt.

Abweichend vom 1. Buch dieses Bandes, entsprechend der Vorgehensweise im 4. Buch, wurden zwei multivariate Verfahren angewandt, die lineare multiple Regression (Berechnung mit dem Programmpaket "SPSS X " nach der Prozedur "backward", kontrolliert durch die Methode "stepwise") und sogenannte Logit-Modelle (Berechnung mit dem Programmpaket "Kalos"; vgl. im einzelnen 1. Buch). Die Darstellung der Ergebnisse orientiert sich weitgehend an den Regressionsmodellen, da die Modellparameter von linearen Regressionen eine verständlichere Bedeutung haben als die anderer Modelle. Zur inferenzstatistischen Absicherung der gefundenen Ergebnisse im Regressionsmodell, d.h. zur Überprüfung der Effekte auf stichprobenbedingte Zufälligkeit, wurde für alle Deliktsund Diebstahlsarten ein Logit-Modell gerechnet.

438

Polizei und Diversion

Wenngleich Regressionsmodelle, die die Regressionsgewichte nach der Kleinste-Quadrate-Methode schätzen (vgl. Küchler 1979, 31; Urban 1982, 41), grundsätzlich voraussetzen, daß die Zielvariable zumindest intervallskaliert ist (Ausprägungen auf einer Skala mit festen Intervallen; Küchler 1979, 26), wurde die Anwendbarkeit dieses Modells auf eine dichotome Zielvariable (Zielvariable mit nur zwei Ausprägungen; hier: Anklage versus Informalisierung) nachgewiesen (Boudon 1968; vgl. auch Opp/Schmidt 1976; Hummell/Ziegler 1976). Die Modellschätzungen können dann als die (bedingte) Wahrscheinlichkeit aufgefaßt werden, mit der die einzelnen Fälle eine der beiden Ausprägungen der abhängigen Variablen aufweisen. Ein Vergleich zwischen den Ergebnissen linearer Regressionsmodelle einerseits und loglinearen bzw. Logit-Modellen andererseits hat ergeben, daß in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Schlußfolgerungen über den Einfluß der unabhängigen Variablen gleich sind, auch wenn die Anpassung des Modells an die Daten beim linearen Regressionsmodelì meist geringfügig schlechter ist (z.B. Gillespie 1977; Hanushek/Jackson 1977; Kritzer 1979; Magidson 1978). Hier scheinen die theoretischen Unterschiede zwischen beiden Arten von Modellen größer als die praktischen zu sein. Im folgenden sollen die in die Regressionsmodelle eingespeisten Variablen aufgelistet werden. Unterschiede bei den einzelnen Delikts- und Diebstahlsarten werden kenntlich gemacht. Bis auf die Anzahl der Taten handelt es sich bei den Variablen um qualitative Merkmale, die im Fall von mehr als zwei Ausprägungen in sogenannte Dummy-Variablen

zerlegt

wurden (zum Vorgehen

siehe

1.

Buch,

5.

Kapitel). Die Referenzkategorie bei Ausgangsvariablen mit mehr als zwei Ausprägungen wird durch Unterstreichen hervorgehoben. Bei von vornherein dichotomen Merkmalen ist die jeweils zuerst genannte Ausprägung diejenige, die den Wert "1" erhalten hat. — Anzahl der Taten (metrisch getestet); Ausnahme: Körperverletzung (Regression nur für eine Tat); — Höhe des Schadens: Diebstahl (bis 50 DM - 51 bis 1000 DM - 1001 DM und mehr), Ladendiebstahl (bis 50 DM - 51 DM und mehr), sonstiger Diebstahl (bis 1000 DM - 1001 DM und mehr), Einbruchsdiebstahl (bis 500 DM - 501 DM und mehr), Sachbeschädigung (bis 150 DM — 151 DM und mehr), Körperverletzung (leichte, ambulant zu behandelnde Verletzung — mittelschwere/schwere Verletzung); — Umfang der Tatbeteiligung (Teilnahme — Täterschaft allein/mit anderen), Ausnahme: Diebstahl, Ladendiebstahl (Täterschaft mit anderen — Teilnahme — Alleintäterschaft), Körperverletzung (Alleintäterschaft — Tatbegehung mit anderen); — Vorbelastung (keine — geringe — hohe), Ausnahme: Einbruchsdiebstahl (hohe Vorbelastung als Referenzkategorie); — Art der Aussage (keine Aussage — Teilgeständnis/kein Geständnis — volles Geständnis), Ausnahme: Einbruchsdiebstahl, Körperverletzung, Sachbeschädigung (volles Geständnis — kein volles Geständnis); — anwaltliche Vertretung des Beschuldigten (ja, auf der Ebene der Polizei - nein/ja, zu einem späteren/unbekannten Zeitpunkt; nur für Diebstahl und Ladendiebstahl getestet); — Alter des Beschuldigten (Jugendlicher - Heranwachsender), Ausnahme: Körperverletzung (Jugendlicher verletzt Jugendlichen — die verbleibenden Fallkonstellationen);

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

439

— Geschlecht des Beschuldigten (weiblich — männlich), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfallt), Körperverletzung (Mann schlägt Frau — die verbleibenden Fallkonstellationen); — Nationalität des Beschuldigten (deutsch — türkisch — sonstige), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfallt), Körperverletzung (Ausländer schlägt Deutschen — die verbleibenden Fallkonstellationen); — Wohnung/Aufenthalt (nicht auffällig — auffällig), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfallt); — Familienverhältnisse (nicht auffallig — auffällig); — Schulausbildung (keine Sonderschule — Sonderschule), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfallt); — derzeitige Tätigkeit (nicht arbeitslos — arbeitslos), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfallt); — Art des Geschädigten (mindestens eine Privatperson ja — nein), Ausnahme: Ladendiebstahl (mindestens ein kleines Unternehmen ja — nein), Sachbeschädigung (mindestens eine Behörde u.a. ja — nein), Körperverletzung (entfällt); — Täter-Opfer-Beziehung (vorhanden — nicht vorhanden), Ausnahme: Ladendiebstahl (entfällt); — Strafverfolgungsinteresse des Geschädigten (nicht vorhanden — vorhanden), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfällt); — Tatmotive/-ursachen (j a — nein; nach Delikts- und Diebstahlsart differenzierte Berücksichtigung unterschiedlicher Tatmotive); — "Reue/Einsicht" (ja — nein — keine Einschätzung/Angabe), in dieser Form nur für Diebstahl und Ladendiebstahl; — Bereitschaft zur Schadenswiedergutmachung (ja — nein — zweifelhaft — unbekannt/keine Angabe), in dieser Form nur für Diebstahl und Ladendiebstahl; — erzieherische Maßnahmen der Eltern (ja — nein); — erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens (ja — nein — unbekannt/keine Angabe), in dieser Form nur für Diebstahl und Ladendiebstahl; — Kooperation bei der Tataufklärung (ja — nein); — mangelnde Kooperation bei der Tataufklärung (ja — nein); — positive Eigenschaftszuschreibungen (ja — nein; nach Delikts- und Diebstahlsart differenzierte Berücksichtigung einzelner Adjektive); — negative Eigenschaftszuschreibungen (ja — nein; nach Delikts- und Diebstahlsart differenzierte Berücksichtigung einzelner Adjektive); — eigener Schaden des Beschuldigten (ja — nein), Ausnahme: Sachbeschädigung (entfällt); — tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten (ja — nein). Will

man der Anforderung,

Informationsbogen-

wie

Aktenerhebungsbogenva-

riablen gleichermaßen zu berücksichtigen, gerecht werden, so führt dieses zwangsläufig zu detaillierten Modellen. Seine Grenzen findet dieses Vorhaben in zwei typischen Problemfeldern multivariater Verfahren, der Analyse bei kleinen Fallzahlen und der Multikollinearität, d.h. dem Phänomen, daß auch die erklärenden Variablen hoch miteinander korrelieren (vgl. Küchler 1979, 56 ff.). Diese Gesichtspunkte waren -

vor allem bei der Körperverletzung und Sachbeschädigung,

aber auch beim Einbruchsdiebstahl und sonstigen Diebstahl

-

ausschlaggebend

dafür, daß den einzelnen Modellen nicht vollkommen identische Variablenzusam-

440

Polizei und Diversion

menstellungen zugrundeliegen und Kompromißlösungen im Hinblick auf ein möglichst alle potentiellen Einflußfaktoren umfassendes Design gefunden werden mußten. Zwei Punkte, die für die Interpretation der multivariaten Modelle von zentraler Bedeutung sind, sollen in diesem Zusammenhang noch einmal herausgegriffen werden. - Nur beim Diebstahl und Ladendiebstahl, also den quantitativ bedeutsamsten Untergruppen der multivariaten Analyse, war es möglich, zwischen den Informationsbogenvariablen "Reue/Einsicht", "Bereitschaft zur Schadenswiedergutmachung" und "erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens" zu unterscheiden. Multikollinearität zeigte sich bei den anderen Fallkonstellationen vor allem zwischen diesen drei Merkmalen, aber auch zwischen diesen und anderen Merkmalen. Daher mußten diese drei Kriterien zu einer einzigen Variablen zusammengefaßt werden. Dem Fall ausschließlich positiver Bewertungen zu mindestens einem der drei Merkmale wurden die restlichen Konstellationen (nur negativ, positiv/negativ, keine Information) entgegengesetzt. Dieser Befund spiegelt den Sachverhalt wider, daß Polizeibeamte häufig nicht zwischen den drei spezialpräventiv bedeutsamen Kriterien "Reue/Einsicht", "Schadenswiedergutmachung" und "erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens" trennen, sondern zur Typisierung in "reuig/beeindruckbar" bzw. "nicht reuig/nicht beeindruckbar" neigen. — Bei der Sachbeschädigung treten geringe Fallzahl und Multikollinearität, vor allem bei den Sozialvariablen, auf (nur 4 Ausländer, deren Verfahren hälftig formell, 3 weibliche Beschuldigte, deren Verfahren alle informell und 4 Arbeitslose, deren Verfahren 3 : 1 formell erledigt wurden). Um hier nicht Scheinergebnisse zu produzieren, die sich auf eine mögliche Diskriminierung durch polizeiliches Handeln aufgrund sozialer Merkmale des Beschuldigten beziehen, mußten diese Variablen aus der weiteren Analyse ausgeschlossen werden.

5.2.4.2

Multivariate Analysen: Diebstahl

Zu beachten ist, daß bei fast allen Logit-Modellen nicht das volle Regressionsmodell getestet werden konnte, da das Programm angesichts der zugrundeliegenden Fallzahl und der eingespeisten Variablen nicht konvergierte. Die weggelassenen Merkmale sind durch das Fehlen entsprechender Koeffizienten und Signifikanzwerte gekennzeichnet.

Nur bei allen Diebstahlsfällen sowie beim Ladendiebstahl war es möglich, das Kriterienprogramm des Informationsbogens gleichermaßen differenziert wie Tat-, Täter- und Opfervariablen aus der Aktenerhebung in einem multivariaten Modell zu überprüfen. Das Regressionsmodell für den Diebstahl spiegelt dieses durch seine Erklärungskraft von 58 % und die Vielzahl der Variablen wider, die trotz

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

441

Tab. 5.9: Multivariates Modell Diebstahl (n = 715) Regression

Logit-Modell

R3

Pseudo-R 2

58%

58%

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Hohe Vorbelastung Keine "Reue/Einsicht" Bereicherungsabsicht ohne Notlage Geringe Vorbelastung Teilnahme Anzahl der Taten Schaden 1001 DM und mehr "Reue/Einsicht", keine Einsch./Angabe Keine Aussage Gleichgültig Keine Wiedergutmachungsbereitschaft Alkoholeinfluß Keine erzieherische Wirkung Keine Sonderschule Gesprächsbereit Mind, eine Privatperson Erzieherische Wirkung, unbekannt/keine Ang. Notlage/Hunger Unauffällig Aggressiv Mangelnde Kooperation bei Tataufklärung Türkische Nationalität Verschlossen Schüchtern

ß

Sig.

-0,27 -0,24 -0,13 -0,12 0,12 -0,11 -0,11 -0,09 -0,09 -0,08 -0,08 -0,08 -0,08 -0,08 0,07 -0,07 —0,07 -0,07 -0,06 -0,06 -0,06 -0,06 0,05 0,05

0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0005 0,0020 0,0008 0,0023 0,0064 0,0033 0,0161 0,0036 0,0032 0,0127 0,0329 0,0092 0,0103 0,0206 0,0351 0,0315 0,0400 0,0468

Koeff. -2,78 -2,23 -1,22 -1,18 3,09 -0,31 -1,32 -0,96 -1,56 -1,44 -1,47 -1,36 -1,14 -1,57 4,89 -0,76 -0,98 -1,39 -1,99

Sig. 0,0001 0,0001 0,0001 0,0003 0,0002 0,0049 0,0067 0,0189 0,0079 0,0467 0,0148 0,0068 0,0146 0,0112 0,0012 0,0438 0,0079 0,0715 0,0431

-

-

-

-

-

-

-

-

eines 5 %igen Signifikanzniveaus im Modell verblieben sind. Ein Blick auf die relative Einflußgröße der einzelnen Variablen (Beta-Koeffizient) läßt aber deutlich eine Dreiteilung erkennen: Zwei Merkmale bilden die Haupteinflußfaktoren; es folgen fünf weitere Variablen, deren Beta-Koeffizient nur knapp über dem Relevanzniveau von 0,10 liegt. 17 (!) weitere Kriterien sind zwar signifikant, aber nur wenig relevant für die polizeiliche Entscheidung. Die beiden zentralen Merkmale, hohe Vorbelastung und "keine Reue/Einsicht", geben eher täterstrafrechtliche Gesichtspunkte im Entscheidungsprogramm der Polizeibeamten wieder. Das Verfahren des hoch vorbelasteten (nach Staatsanwalt-

442

Polizei und Diversion

liehen Kriterien vier und mehr Eintragungen in der Zentralkartei) bzw. nicht "einsichtigen" Beschuldigten wird im Vergleich zum "einsichtigen" Ersttäter mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit für eine Anklage vorgeschlagen. Dieser Zusammenhang ist auch über das Logit-Modell statistisch abgesichert. Wendet man sich der Gruppe schwach relevanter Faktoren zu, so dominieren eher Tatschwereindikatoren. Die Anzahl der Taten und die Höhe des Schadens (1001 DM und mehr) wirken formalisierend, während ein bloß untergeordneter Tatbeitrag (bloße Teilnahme) die Chancen für eine Verfahrenseinstellung erhöht. Das Tatmotiv "Bereicherungsabsicht ohne Notlage" und die geringe Vorbelastung spiegeln wiederum täterstrafrechtliche Orientierungen wider. Die 17 kaum relevanten Kriterien lassen sich unschwer systematisieren. Vier beziehen sich allein auf den später bei den anderen Delikts- und Diebstahlsarten zusammengefaßten Block: die fehlende Einschätzung zur "Reue/Einsicht", die fehlende Bereitschaft zur Schadenswiedergutmachung und die fehlende sowie nicht einschätzbare "erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens". An das Verhalten des Beschuldigten knüpfen auch sechs Eigenschaftszuschreibungen der Polizeibeamten an, die entsprechend ihrem positiven oder negativen Charakter formalisierende oder informalisierende Bedeutung erlangen. Das Fehlen einer Aussage und die mangelnde Kooperation bei der Tataufklärung schließen den Katalog der Verhaltensmerkmale ab. Als einziges Tatmerkmal läßt sich in der Gruppe kaum relevanter Faktoren die Art des Geschädigten festhalten. Zwei weitere Tatmotive mit formalisierender Bedeutung sind ebenfalls im Modell verblieben. Die Richtung des Zusammenhangs zwischen Polizeivorschlag und "Notlage/Hunger" mag zunächst verwundern, spiegelt aber eher eine entsprechende Negativbewertung durch den Polizeibeamten i.S. einer 'Schutzbehauptung' wider, wenn der Beschuldigte diese Motive für seine Tat angibt. Dieses Merkmal weist im Logit-Modell als einziges der getesteten keinen signifikanten Zusammenhang mit dem Polizeivorschlag auf. Als letzter, bisher noch nicht angesprochener Merkmalstyp ist auf die persönlichen/sozialen Merkmale des Beschuldigten einzugehen. Bei der Frage des Schulbesuchs besteht der Zusammenhang nicht in der theoretisch erwarteten Richtung, ein Umstand, aus dem angesichts der Höhe des Beta-Koeffizienten allerdings nicht der Schluß auf eine Bevorzugung von Sonderschülern gezogen werden kann. Das gleiche gilt umgekehrt für die Frage, ob eine Benachteiligung türkischer Beschuldigter im Vergleich zu Deutschen oder sonstigen Ausländern angenommen werden kann. Hier kann angesichts der Werte nur von einer schwachen Tendenz die Rede sein.

Von den Merkmalen, die das Signifikanzniveau von 0,05 nicht erreicht haben, sind zwei von besonderer Bedeutung für die Beurteilung polizeilichen Vorschlagsverhaltens in Diebstahlsfällen: die Dummy-Variable zur Schadenshöhe "51 bis 1.000 DM" und das Kriterium elterlicher Erziehungsmaßnahmen. Bereits der niedrige Beta-Koeffizient zur höchsten Schadenskategorie hat verdeutlicht, daß Polizeibeamte diesem Schweremaßstab keinen vorrangigen Einfluß auf ihren Vorschlag einräumen. Ein Schaden zwischen 51 und 1.000 DM wirkt sich sogar in keiner Weise auf die polizeiliche Entscheidung aus. Die während der Beobachtungsphase wiederholt geäußerten Einschätzungen der Polizeibeamten über die Zielrichtung der Diebstähle Jugendlicher schlägt sich in einer Vernachlässigung der Schadenskategorie als Beurteilungsmaßstab nieder: Nicht der Besitz einer

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

443

Ware mit einem bestimmten Wert, sondern der Besitz einer bestimmten Sache werde angestrebt. Die Tatsache, daß das Vorliegen elterlicher Erziehungsmaßnahmen keinen Einflußfaktor für die Entscheidung formell versus informell darstellt, zeigt, daß diese gesetzlichen Anwendungsvoraussetzungen des § 45 nur bedingt — allenfalls über die Frage erzieherischer Wirkungen des Ermittlungsverfahrens — umgesetzt werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die eingangs formulierten Hypothesen zu möglichen Entscheidungsdeterminanten der Polizei durch das multivariate Modell zum Diebstahl bestätigt wurden: Polizeibeamte knüpfen an Verhaltensmerkmale des Beschuldigten an, zum Teil aber auch an Tatmerkmale. Sozialvariablen kommt allenfalls marginale Bedeutung zu. Dabei fällt hinsichtlich der tatbezogenen Kriterien das hohe Maß an Toleranz auf, das Polizeibeamte bei der Bestimmung der obersten Grenze quantifizierbarer Faktoren aufbringen. Nur die hohe Vorbelastung weist eine deutlich über dem Relevanzniveau liegende Einflußstärke auf, während die Anzahl der Taten, die höchste Schadenskategorie und die niedrige Vorbelastung allenfalls schwach relevant für den polizeilichen Vorschlag sind. Auf der anderen Seite setzen Polizeibeamte — nicht zuletzt aufgrund des starken informalisierenden Einflusses von "Reue/Einsicht" — die spezialpräventive Ausrichtung des § 45 um. Bei den im Regressionsmodell verbliebenen Verhaltensvariablen (z.B. Gleichgültigkeit, Unauffalligkeit, Aggressivität) handelt es sich eindeutig um solche, denen Bewertungsprozesse der Polizeibeamten zugrundeliegen.

5.2.4.3

Multivariate Analysen: Ladendiebstahl

Im Vergleich zu allen Diebstahlsfällen sinkt die Erklärungskraft des multivariaten Modells zum Ladendiebstahl um sechs Prozentpunkte, ein Umstand, der auf der — gemessen an Schwerekriterien — positiven Vorauswahl der zu untersuchenden Fallgruppe beruhen kann. Ein Vergleich beider Modelle läßt im Hinblick auf die Einflußfaktoren mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede erkennen. Die für alle Diebstahlsfälle getroffenen Grundaussagen hinsichtlich des Polizei Vorschlags, nämlich — die Dominanz von Verhaltensmerkmalen und die vorrangige Orientierung an täterstrafrechtlichen Maßstäben, — der fehlende bzw. bloß tendenzielle Einfluß von Sozialmerkmalen des Beschuldigten und — die Bedeutungslosigkeit der Schadenshöhe und elterlicher Erziehungsmaßnahmen treffen gleichermaßen zu.

444

Polizei und Diversion

Tab. 5.10: Multivariates Modell Ladendiebstahl (n = 518) Regression

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

52%

51%

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Hohe Vorbelastung — Keine "Reue/Einsicht" — Keine Aussage — Keine erzieherische Wirkung — Erzieherische Wirkung, unbekannt/keine Ang. — Gleichgültig — Teilnahme — Keine Wiedergutmachungsbereitschaft — Geringe Vorbelastung — Teilgeständnis/kein Geständnis — Bereicherungsabsicht ohne Notlage — Gesprächsbereit — Keine Erinnerung - Alter des Beschuldigten — Notlage/Hunger — Keine Sonderschule — Wiedergutmachungsbereitschaft unbekannt/ keine Angabe

ß

Sig.

-0,30 -0,19 -0,17 -0,15 -0,15 -0,15 0,15 -0,12 -0,11 -0,11 -0,09 0,09 0,09 -0,08 -0,07 -0,07

0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0018 0,0013 0,0017 0,0041 0,0044 0,0055 0,0184 0,0219 0,0278

-0,07

0,0338

Koeff. -2,92 -1,23 -2,39 -1,74 -1,22 -2,63 4,80 -1,20 -1,36 -1,90 -0,78

Sig. 0,0001 0,0024 0,0002 0,0016 0,0040 0,0082 0,0003 0,1186 0,0008 0,0006 0,0472

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-



Zu den Unterschieden im einzelnen: Die Erklärungskraft der hohen Vorbelastung ist angestiegen und hebt sich nunmehr deutlich von dem Wert fehlender "Reue/Einsicht" ab. Letztere führt ein breites Feld von Variablen auf mittlerem oder niedrigem Relevanzniveau an, das stärker als bei der Gesamtheit der Diebstähle von Verhaltensmerkmalen, insbesondere auch spezialpräventiv bedeutsamen, dominiert wird. Einige Merkmale, deren Beta-Koeffizient sie bei der Gesamtheit der Diebstähle als kaum relevant auswies, gehören dieser Gruppe an: keine Aussage, keine erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens, keine Einschätzung/Angabe zur erzieherischen Wirkung des Ermittlungsverfahrens, Gleichgültigkeit, keine Schadenswiedergutmachungsbereitschaft. Beim geringfügigen Tatbeitrag (bloße Teilnahme) ist ein leichter Bedeutungszuwachs zu verzeichnen. Die Schadensvariable, die nur grob in die Ausprägungen "bis 50 DM" versus "51 DM und mehr" unterteilt wurde (zwei Drittel der Ladendiebstähle finden sich allerdings in der ersten Kategorie), ist aus dem

Polizeilicher

Verfahrensvorschlag

445

Modell herausgefallen. Bestätigt wird dieses Ergebnis zudem durch die Bedeutungslosigkeit der Anzahl der Taten. Betrachtet man die signifikanten Variablen unterhalb des Relevanzniveaus von 0,10, so lassen sich drei im Vergleich zum Diebstahlsmodell neue Kriterien erkennen. Die fehlende Kenntnis über eine Wiedergutmachungsleistung sowie der Hinweis auf "keine Erinnerung" können — übereinstimmend mit der negativen Richtung des Zusammenhangs — als Ausdruck einer mangelnden Bereitschaft des Beschuldigten zur Übernahme von Verantwortung für die Tat interpretiert werden.

5.2.4.4

Multivariate Analysen: sonstiger Diebstahl

Das Regressionsmodell zum sonstigen Diebstahl unterscheidet sich nicht nur aufgrund seiner Erklärungskraft von 72 %, sondern auch im Hinblick auf die relative Einflußstärke der wegen der geringen Fallzahl deutlich weniger im Modell verbliebenen Variablen. An der Dominanz der Vorbelastung und der zusammengefaßten Variablen "reuig/beeindruckt" ("Reue", erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens, Bereitschaft zur Schadens Wiedergutmachung) hat sich nichts geändert, wenngleich letztere Variable einen deutlich höheren Beta-Koeffizienten aufweist. Die mangelnde Kooperation bei der Tataufklärung sowie die vom Polizeibeamten eingeschätzte Tatursache "Bereicherungsabsicht ohne Notlage" erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines polizeilichen Anklagevorschlags. Demgegenüber messen Polizeibeamte dem untergeordneten Tatbeitrag des Beschuldigten (Teilnahme) informalisierende Wirkung im Sinne einer reduzierten Verantwortlichkeit für die Tat zu. Kannten sich Geschädigter und Beschuldigter bereits vor der Tat, so scheint diese für die Polizeibeamten zum Teil den Charakter eines privaten Konflikts anzunehmen, der mit dem Mittel des förmlichen Gerichtsverfahrens nicht gelöst werden sollte. Die deutliche Bevorzugung Jugendlicher im Hinblick auf den Einstellungsvorschlag deutet darauf hin, daß Polizeibeamte hier seltener — wohlmöglich aus spezialpräventiver Sicht — den Bedarf für die Durchfuhrung eines förmlichen Gerichtsverfahrens sehen. Aus dem Rahmen fällt angesichts der theoretischen Vorannahmen die negative Richtung des Einflusses, der von dem tatbegünstigenden Verhalten des Geschädigten ausgeht. Zum einen muß man sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, daß die polizeilichen Eintragungen unter dieser Kategorie sowohl ein Verhalten des Geschädigten als auch sonstige tatursächliche Faktoren umfaßten, die mit einem Beitrag des Geschädigten in keiner Beziehung standen. Zum anderen läßt sich die Bedeutung tatbegünstigenden Verhaltens dann ins Negative kehren, wenn es unter dem Aspekt des Ausnutzens einer günstigen Gelegenheit bzw. eines besonderen Anreizes gesehen wird. Diese Sichtweise scheinen Polizeibeamte bei den Fallkonstellationen, die dem "sonstigen Diebstahl" zugrundeliegen, zu entwickeln.

446

Polizei und Diversion

Tab. 5.11: Multivariates Modell sonstiger Diebstahl (n = 98) Regression 2

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Reuig/beeindruckt — Täter-Opfer-Beziehung — Hohe Vorbelastung — Bereicherungsabsicht ohne Notlage — Teilnahme — Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten — Mangelnde Kooperation bei Tataufklärung - Alter des Beschuldigten

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

72%

59%

ß

Sig.

0,51 0,27 -0,26 -0,23 0,22 -0,19 -0,17 0,16

0,0001 0,0001 0,0001 0,0002 0,0007 0,0024 0,0080 0,0137

KoefT. 4,27 2,99 -2,69 -2,68 -

Sig. 0,0001 0,0255 0,0206 0,0052 -



Will man die Gemeinsamkeiten zwischen diesem und den anderen Diebstahlsmodellen kurz charakterisieren, so ist auf die überragende Bedeutung der Variablen "reuig/beeindruckt" und der Vorbelastung einerseits, auf die Bedeutungslosigkeit der Schadenshöhe, Anzahl der Taten und des Vorliegens elterlicher Reaktionen andererseits zu verweisen. Vorhandene Unterschiede lassen sich logisch als Ausdruck fallspezifischer Besonderheiten dieser Diebstahlsart (z.B. häufiger Schädigung einer Privatperson) deuten.

5.2.4.5

Multivariate Analysen: Einbruchsdiebstahl

Auch beim Regressionsmodell "Einbruchsdiebstahl" ist der Anteil erklärter Varianz der Zielvariablen mit 64 % erheblich. Wendet man sich den im Modell verbliebenen Variablen zu, so sind diese mit einer Ausnahme (Tatmotiv/-ursache: günstige Gelegenheit) zwar alle in den vorher beschriebenen aufgetaucht. Die Kombination der Variablen, ihre Erklärungskraft und — zum Teil — die Richtung des Zusammenhangs weichen jedoch deutlich ab. Tatmerkmalen, die bisher nicht signifikant, nicht oder nur schwach relevant waren, kommt eine eindeutig entscheidungsbeeinflussende Wirkung zu. So weist die Schadenshöhe den höchsten Beta-Koeffizienten auf, d.h. bleibt der Schaden unter 500 DM, so erhöhen sich die Chancen für eine Verfahrenseinstellung am deutlichsten. In die gleiche Richtung zielen die Fälle mit geringem Tatbeitrag, von den

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

447

Polizeibeamten in den Informationsbögen bisweilen als Mitläufer gekennzeichnet. Formalisierende Wirkung entfalten demgegenüber die Schädigung einer Privatperson und die zunehmende Anzahl der Taten. Der letztgenannte Zusammenhang ist allerdings im Logit-Modell nicht statistisch abgesichert.

Tab. 5.12: Multivariates Modell Einbruchsdiebstahl (n = 120) Regression R Erklärungskraß

Unabhängige Variablen — Schaden — Alter des Beschuldigten — Geringe Vorbelastung — Keine Vorbelastung — Reuig/beeindruckt — Teilnahme — Mind, eine Privatperson — Günstige Gelegenheit — Anzahl der Taten

2

Logit-Modell Pseudo-R2

64%

70%

ß

Sig.

0,31 0,28 0,28 0,27 0,26 0,21 -0,20 0,19 -0,19

0,0001 0,0001 0,0002 0,0006 0,0001 0,0009 0,0012 0,0020 0,0037

Koeff. 4,38 3,68 4,14 4,17 3,92 6,94 -3,24 3,03 -0,17

Sig. 0,0007 0,0017 0,0037 0,0047 0,0026 0,0041 0,0091 0,0207 0,1397

Sowohl die fehlende als auch geringe Vorbelastung des Beschuldigten begünstigen im Vergleich zur hohen Vorbelastung, die hier als Referenzkategorie gewählt werden mußte, eine Verfahrenseinstellung. Spiegeln die Beta-Koeffizienten dieser beiden Dummy-Variablen eine mit den Regressionsmodellen "Diebstahl", "Ladendiebstahl" und "sonstiger Diebstahl" vergleichbare Bedeutung dieses Merkmals für die polizeiliche Entscheidung wider, so nimmt die Frage, ob der Beschuldigte "Reue" gezeigt, das Verfahren erzieherisch auf ihn gewirkt hat und/oder er bereit zur Schadenswiedergutmachung ist, nur eine mittlere Rangstelle ein. Die deutlich erhöhte Chance Jugendlicher, daß ihr Verfahren für eine informelle Verfahrenserledigung vorgeschlagen wird, knüpft an das beim sonstigen Diebstahl gefundene Ergebnis an. Allein das Alter kann zum einen die Straftat eines Jugendlichen unabhängig von weiteren Schwereindikatoren als weniger gravierend erscheinen lassen. Zum anderen trägt es dazu bei, den Einbruchsdiebstahl eines Jugendlichen eher als Ausrutscher denn als Einstieg in eine sogenannte 'kriminelle Karriere' auszuweisen.

448

Polizei und Diversion

Das letzte, bisher noch nicht angesprochene Entscheidungskriterium der Polizeibeamten knüpft unter der Überschrift "mitursächliches Tatmotiv" an ein Verhalten des Geschädigten an. Hat dieser dem Beschuldigten nach polizeilicher Ansicht eine günstige Gelegenheit zur Tatbegehung geboten, so wirkt sich dieser Umstand beim Einbruchsdiebstahl zugunsten des Beschuldigten aus. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß die Fragestellungen "tatgegünstigendes Verhalten des Geschädigten" (negativ wirkend beim sonstigen Diebstahl) und die Tatursache "günstige Gelegenheit" schon im Hinblick auf die abgefragten Inhalte nicht vollständig deckungsgleich sind. Die Eröffnung einer Gelegenheit zum Diebstahl wird jedoch tendenziell — je nach der Art des Diebstahlsvorwurfs — entweder in die Verantwortlichkeit des Beschuldigten oder des Geschädigten gestellt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß beim Einbruchsdiebstahl, der mit einigen wenigen Ausnahmefällen von der Kriminalpolizei bearbeitet wurde, ein polizeiliches Entscheidungsprogramm vorliegt, bei dem Tat- und Tätermerkmale (Vorbelastung, Alter) gegenüber Verhaltensmerkmalen überwiegen. Für die Beantwortung der Frage "Informalisierung ja oder nein" werden unterschiedliche Schwereindikatoren herangezogen, die eine Unterteilung der grundsätzlich eingriffsintensivsten Diebstahlsart in gravierende und weniger gravierende Normverstöße erlauben.

5.2.4.6

Multivariate Analysen: Körperverletzung

Das multivariate Modell zur Körperverletzung spiegelt eindeutig die Besonderheit dieser Deliktsart, den interpersonalen Konflikt, wider. Die beiden Variablen mit der größten Einflußstärke knüpfen an die Ursachen der Körperverletzung an. Führt der Polizeibeamte die Tat auf einen "Hang" des Beschuldigten zur Aggressivität zurück, ein eindeutig bewertender Vorgang hinsichtlich des Gesamtgeschehens, so steigt die Wahrscheinlichkeit eines Anklagevorschlags deutlich an. Das Tatmotiv "Rache" wirkt sich, wenn auch auf niedrigerem Relevanzniveau, ebenfalls formalisierend aus. Das tatbegünstigende Verhalten des Geschädigten (Provokationshandlungen etc.) begünstigt demgegenüber eine Einstellung des Verfahrens nach § 45. Zwei von drei Fallkombinationen zwischen täter- und opferbezogenen Kriterien sind ebenfalls in dem Gesamtmodell verblieben. Sie beeinflussen den polizeilichen Vorschlag in der erwarteten Richtung: Fügt ein Mann einer Frau Verletzungen zu, so reagiert der Polizeibeamte auf dieses Faktum — im Vergleich zu den restlichen Fallgestaltungen — eher mit einer Anklage. Die Tatsache, daß ein Jugendlicher einen ungefähr Gleichaltrigen schlägt, legt für den Polizeibeamten eine Verfahrenseinstellung nahe. Dieses Ergebnis entspricht den Erkenntnissen aus der Beobachtungsphase bei der Polizei, wonach Polizeibeamte häufiger die Meinung vertreten, Prügeleien zwischen Gleichaltrigen (z.B. auf dem Schulhof)

Polizeilicher

Verfahrensvorschlag

449

seien keine Verstöße, mit denen sich die Polizei und die Strafjustiz beschäftigen sollte. Eine entsprechende Strafanzeige wurde zum Teil als Überreaktion besorgter Eltern aufgefaßt. Neben diesen tatbezogenen Faktoren spielen weitere, wie der Umfang der Tatbeteiligung, die Täter-Opfer-Beziehung und der Körperverletzungsschaden, keine Rolle.

Tab. 5.13: Multivariates Modell Körperverletzung (n = 74) Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Hang zur Aggressivität — Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten — Hohe Vorbelastung — Alter des Beschuldigten/Geschädigten — Offen und/oder ehrlich — Mangelnde Kooperation bei Tataufklärung — Geschlecht des Beschuldigten/Geschädigten — Rache — Kooperation bei Tataufklärung

2

Logit-Modell Pseudo-R 2

68%

44%

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

-0,30 0,29 -0,25 0,24 0,21 -0,20 -0,20 -0,18 0,18

0,0002 0,0006 0,0026 0,0019 0,0103 0,0085 0,0102 0,0307 0,0247

-2,56 2,66 -2,55

0,0019 0,0016 0,0011

Wendet man sich nunmehr den für den Polizeivorschlag relevanten Verhaltensmerkmalen zu, so zeigen diese deutlich, daß die bei Körperverletzungen häufig erschwerte Bestimmung der Täter- und Opferrolle die Bedeutung kooperativen Verhaltens des Beschuldigten bei der Tataufklärung steigert. Nicht Fragen der "Reue", der erzieherischen Wirkung des Ermittlungsverfahrens bzw. der Schadenswiedergutmachung, nicht einmal das formale Vorliegen eines vollen Geständnisses beeinflussen den Polizeivorschlag in signifikanter Weise. An die Stelle dieser Merkmale tritt vielmehr der positive und negative Beitrag zur Tataufklärung sowie die Charakterisierung des Beschuldigten als offen und/oder ehrlich. Hängt polizeiliche Bereitschaft zur Informalisierung von — wie auch immer gearteten — Kooperationshandlungen des Beschuldigten ab, so besteht die Gefahr, daß Rechtfertigungsversuche seine Chancen auf einen informellen Erledigungsvorschlag mindern.

450

5.2.4.7

Polizei und Diversion

Multivariate Analysen: Sachbeschädigung

Die leicht reduzierte Erklärungskraft des Modells zur Sachbeschädigung könnte darauf zurückzuführen sein, daß verschiedene Merkmale aufgrund bestehender Multikollinearität und geringer Fallzahlen nicht in das Modell aufgenommen werden konnten. Soweit es persönliche/soziale Merkmale des Beschuldigten betrifft, haben die bisherigen Analysen zum Diebstahl und zur Körperverletzung gezeigt, daß allenfalls mit einem marginalen Einfluß dieser Kriterien zu rechnen gewesen wäre.

Tab. 5.14: Multivariates Modell Sachbeschädigung (n = 67) Regression 2

Erklärungskraft

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

52%

47%

Unabhängige Variablen

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

— Teilnahme — Volles Geständnis — Reuig/beeindruckt — Hohe Vorbelastung

0,56 0,37 0,34 -0,34

0,0001 0,0022 0,0019 0,0006

4,19 2,19 3,24

0,0021 0,0247 0,0009

Das Regressionsmodell weist dem untergeordneten Tatbeitrag des Beschuldigten, also der Einordnung als bloßer Mitläufer in einer Gruppe, eine überragende Bedeutung für die Entscheidung "formell versus informell" zu. In diesem Ergebnis spiegelt sich wider, daß Sachbeschädigungen deutlich häufiger als Diebstähle und Körperverletzungen aus der Gruppe heraus begangen werden und damit zwangsläufig der Umfang der Tatbeteiligung als Schwereindikator herangezogen werden muß. Einen ungefähr gleich hohen Einfluß, gemessen am Beta-Koeffizienten, entfalten das volle Geständnis, die Variable "reuig/beeindruckt" und die hohe Vorbelastung im Vergleich zur fehlenden bzw. niedrigen. Täter- und tatstrafrechtliche Grundsätze werden also auch bei der Sachbeschädigung entscheidungsleitend umgesetzt.

Polizeilicher Verfahrensvorschlag

5.2.4.8

451

Zusammenfassende Betrachtung der multivariaten Analysen

Für alle multivariaten Modelle ist festzuhalten, daß Polizeibeamte sich bei ihren Verfahrensvorschlägen primär von täterstrafrechtlichen Grundsätzen (Tätermerkmale, Verhalten nach der Tat) leiten lassen. Sozialmerkmalen des Beschuldigten (z.B. Schulausbildung, Nationalität) kommt allenfalls eine marginale Bedeutung für die Entscheidung zu. Die Schwergewichte zwischen tat- und verhaltensbezogenen Merkmalen, ihre Erklärungskraft und ihre Zusammenstellung im Modell variieren abhängig von der Diebstahls- und Deliktsart. Trotz aller Unterschiede lassen sich drei Gesichtspunkte ausmachen, die in allen bzw. fast allen multivariaten Regressionsmodellen wichtige Einflußfaktoren darstellen. Es handelt sich hierbei um die Vorbelastung sowie den Umfang der Tatbeteiligung, die Variablen "Reue", erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens und Schadenswiedergutmachung bzw. um ihre zusammengefaßte Version "reuig/beeindruckt". Die Vorannahme, der Polizeibeamte setze die von ihm im Informationsbogen fixierten, spezialpräventiven Aspekte in seinen Vorschlag um, trifft weitgehend zu. Nur der eigene Schaden des Beschuldigten und das Vorliegen elterlicher Sanktionen haben in keiner der multivariaten Analysen einen gegen den Zufall abgesicherten Zusammenhang mit dem polizeilichen Vorschlag gezeigt. Tatmotive, Eigenschaftszuschreibungen, Kooperation bei der Tataufklärung und das tatbegünstigende Verhalten des Geschädigten finden, abhängig von der untersuchten Fallkonstellation, unterschiedliche Berücksichtigung. Wenn auch der gesetzlichen Anwendungsvoraussetzung "erzieherische Maßnahme" nur im Hinblick auf eigene Ermittlungshandlungen eine entscheidungsleitende Funktion beigemessen wird, nehmen die deliktsspezifischen Entscheidungsprogramme der Polizeibeamten in deutlich höherem Maße spezialpräventive Erwägungen auf, als es die Jugendstaatsanwälte tun (vgl. hierzu 4. Buch). Diese Unterschiedlichkeit der Bewertungsgrundlage kann als ein erklärender Faktor für die höhere Toleranz der Polizeibeamten im Umgang mit den von ihnen bearbeiteten Fällen der Jugendkriminalität angesehen werden. Ein weiteres Kennzeichen dieser Toleranz ist die im Vergleich zur Staatsanwaltschaft weit hinausgeschobene Grenze quantifizierbarer Schwereindikatoren, bis zu der der Polizeibeamte Bereitschaft zeigt, das Verfahren informell zu erledigen. Bei Diebstählen, Körperverletzungen und Sachbeschädigungen kommt nur der hohen Vorbelastung (vier und mehr registrierte Auffälligkeiten) ein hervorzuhebender Einfluß zu; die Anzahl der Taten und die Schadenshöhe bei den Ladendiebstählen werden größtenteils überhaupt nicht berücksichtigt.

452 6

6.1 •

Polizei und Diversion

Zusammenfassung der Ergebnisse und kriminalpolitische Schlußfolgerungen

Polizeiliche Ermittlungstätigkeit Vor Einführung des Informationsmodells

Der Bielefelder Modellversuch basiert - seiner Konzeption zufolge - auf einer Reihe von Vorannahmen, die durch die empirischen Analysen vor seiner Einführung weitgehend bestätigt werden konnten. Der Polizei stehen im Rahmen der Ermittlungstätigkeit zur Tataufklärung Informationsquellen zur Verfügung, die die Erfassung von nach § 45 entscheidungsrelevanten Kriterien ermöglichen. Die polizeiliche Aufklärungsarbeit ist derart strukturiert, daß vorhandene Kontakte zum Beschuldigten und seinem sozialen Umfeld ohne großen Aufwand und eingriffsintensive Belastung des Betroffenen genutzt werden können. Durch schlichtes, zielgerichtetes Nachfragen wäre unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze und der Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten ein deutlicher staatsanwaltlicher Informationszuwachs zu erlangen. Vor Einführung des Informationsmodells entsprachen diese Möglichkeiten nicht einer entsprechenden Ermittlungspraxis. Die nach § 45 relevanten Umstände wurden nur selektiv von den Polizeibeamten erfragt und zudem unvollständig an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. Dieser Umstand läßt sich — wie sich aus Gesprächen mit den ermittelnden Polizeibeamten ergab — wohl am ehesten auf eine eingeschränkte und nicht allgemein verbreitete Kenntnis über die Entscheidungsrelevanz dieser Fakten zurückführen.

*

Nach Einführung des Informationsmodells

Wenden wir uns der polizeilichen Ermittlungstätigkeit nach Einführung des Informationsmodells zu, so ist zwischen den Erkenntnissen über den Ermittlungsvorgang und die Ermittlungsinhalte zu unterscheiden. Ausweislich der Beobachtungen bei der Polizei und der Informationsbogeninhalte läßt sich eine Ausweitung sozialer Kontrolle durch einen erweiterten Zugriff der Polizei auf den sozialen Nahbereich des Beschuldigten nicht feststellen. Die Polizeibeamten haben bei der Ermittlung präventionsrelevanter Fragestellungen keine im Vergleich zur Tataufklärung zusätzlichen Erkenntnisquellen genutzt. Dies gilt vor allem auch für Kontakte mit formellen Kontrollinstanzen wie Schule, Arbeitgeber, Jugendamt etc. Vielmehr ergeben sich sogar Anhaltspunkte dafür, daß vorhandene Informationsquellen nicht konsequent genug herangezogen wurden.

Zusammenfassung

und kriminalpolitische

Schlußfolgerungen

453

Die konkrete Ermittlungssituation, insbesondere die Vernehmung des Beschuldigten zu den im Informationsbogen enthaltenen Kategorien, wurde vor allem im Hinblick auf eine eventuelle Verletzung von Grundrechten und des Fairneßgebots analysiert. Die Polizeibeamten haben sich bei der Ermittlung der relevanten Fragestellungen im Regelfall auf ein bloßes Abfragen beschränkt. Nach Inhalt und Intensität der Befragung konnten keine Eingriffe in Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten festgestellt werden. Der ursprüngliche inhaltliche Schwerpunkt der Vernehmung, die Tataufklärung, wurde eindeutig beibehalten. Die Gefahr, daß Polizeibeamte ein Vorschlagsrecht im Rahmen der Geständniserwirkung als Druckmittel einsetzen könnten, hat sich während der Beobachtungsphase nicht realisiert, wobei angesichts der Verwendung anderer Druckmittel (insbesondere des Verweises auf eine negative/positive Stellungnahme in Vermerken) ein eventueller Mißbrauch nicht prinzipiell auszuschließen ist. Das von den beteiligten Instanzen, Staatsanwaltschaft und Polizei, angestrebte Ziel des Modellversuchs, die Informationslage des Jugendstaatsanwalts für eine sachgerechte Entscheidung zwischen Verfahrenseinstellung und Anklage zu verbessern, kann nach der Analyse von 1.056 Informationsbogen als erreicht angesehen werden. Die zu den einzelnen Fragestellungen festgehaltenen Angaben versetzen den Staatsanwalt in die Lage, weite Bereiche jugendtypischer Kriminalität in Diversion einzubeziehen, und zwar nicht nur solche mit bagatellarischem Charakter. Diese Aussage gilt auch vor dem Hintergrund, daß der Informationsbogen in seiner konkreten Gestalt an einigen Stellen verbesserungsbedürftig erscheint. Aus den empirischen Ergebnissen des Modellversuchs läßt sich über diese anwendungsbezogenen Aspekte hinausgehend auch Kritik an seiner Konzeption ableiten. Der Informationsbogen stellt eine Umsetzung des spezialpräventiven Normprogramms nach § 45 dar. Welche Gefahren bzw. Probleme — bezogen auf das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte — mit einer solchen Ausrichtung am Erziehungsprinzip verbunden sind, verdeutlichen die Analysen der Informationsbogeninhalte, die hier nur noch einmal stichwortartig wiedergegeben werden sollen: — Offene Fragen zum Verhalten des Beschuldigten beim ersten Polizeikontakt und in der Vernehmung sowie zu "besonderen Bemerkungen" erlauben — aus spezialpräventiver Sicht — fast jede Eintragung über den Beschuldigten (seine Person sowie sein Verhalten), ohne daß eine Einschränkung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stattfindet. Bagatellen wie mittelschwere Kriminalität werden nach Umfang und Art der Eintragungen nicht unterschiedlich behandelt, obwohl bei ersteren eine Orientierung an pauschalen Einstellungskriterien angezeigt ist. Bei der Frage nach besonderen Bemerkungen kommt noch hinzu, daß diese in der Praxis deutlich selektiv beantwortet wurde.

454

Polizei und Diversion

- Kriterien wie die subjektive Stellung des Beschuldigten zur Tat und die erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens setzen seitens der Polizeibeamten Bewertungsprozesse voraus, die u.a. durch eine eingeschränkte Handlungskompetenz und Artikulationsfähigkeit der Beschuldigten gesteuert werden können. Eine Diskriminierung von Beschuldigten mit niedrigem Sozialstatus kann somit in der Art der erfragten Dimensionen angelegt sein. Selbst die Frage nach erzieherischen Maßnahmen des sozialen Umfeldes kann — wie bivariate Analysen gezeigt haben - z.B. die faktische Benachteiligung von Heimbewohnern zur Folge haben. Hier werden Informationen zur Entscheidungsfindung angeboten, die soziale Randständigkeit nur noch verstärken. - Die polizeilichen Angaben im Informationsbogen beziehen sich in einem nicht unbedeutenden Umfang auf Fragen von Tataufklärung und Schuldnachweis, wozu der Geständnisvorgang sowie die Art der Aussage gezählt werden müssen. Auch hier werden Informationen angeboten, die, soweit sie sich nicht bereits aus dem übrigen Akteninhalt ergeben, die Gefahr einer unzulässigen Berücksichtigung bei der staatsanwaltlichen Entscheidungsfindung in sich bergen. Der Konflikt zwischen einer Orientierung am Erziehungsprinzip und dem rechtsstaatlich verbürgten Recht, sich nicht selber belasten zu müssen, tritt deutlich zu Tage. Das gilt vor allem dann, wenn Polizeibeamte die Frage des Geständnisses mit ihrer Annahme von "Reue/Einsicht" und einer erzieherischen Wirkung des Ermittlungsverfahrens verbinden. Was folgt aus diesen Feststellungen für die kriminalpolitische Bewertung des Bielefelder Informationsmodells? Zum einen sollten schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bagatellarische Normverstöße seinem Anwendungsbereich entzogen werden. Das ist auf vielfältige Weise möglich. Die Rechtssicherheit und -gleichheit am ehesten gewährleistende Alternative ist die gesetzliche Entkriminalisierung von Bagatellen, eine Konsequenz, für die nicht zuletzt die umfassende Liberalität polizeilicher EinstellungsVorschläge spricht. Zum anderen muß das Informationsmodell für die Bereiche mittelschwerer und schwerer Kriminalität an die verfassungsrechtlichen Erfordernisse angepaßt werden, d.h.: -

-

Die Staatsanwaltschaft sollte bei der Interpretation der Informationen die selektiv wirkende Funktion von täterbezogenen Negativmerkmalen im Blick haben, da diese häufig nichts anderes als strukturelle Benachteiligungen widerspiegeln. Die Staatsanwaltschaft sollte als Entscheidungsinstanz eindeutigere Vorgaben hinsichtlich der zu erhebenden Sachverhalte machen, insbesondere auf derart offene Fragestellungen wie "besondere Bemerkungen" etc. verzichten.

Zusammenfassung und kriminalpolitische Schlußfolgerungen

6.2

455

Polizeiliche Vorschlagstätigkeit

Die grundlagentheoretische Frage, wie Polizei Jugendkriminalität bewertet, konnte anhand des im Modellversuch gewährten Vorschlagsrechts untersucht werden. Hier zeigt sich das wohl am wenigsten zu erwartende Ergebnis: Polizeibeamte schlagen in allen untersuchten Deliktsbereichen deutlich mehr Verfahren für eine Einstellung vor, als diese von den Staatsanwälten real praktiziert wurden. Jeder zweiten Anklage ging ein polizeilicher Einstellungsvorschlag voraus. Der unmittelbare Kontakt zum Beschuldigten und seinem sozialen Umfeld, selbst die polizeiliche Perspektive der Tataufklärung wirken sich nicht einstellungshemmend aus. Von dieser polizeilichen Bereitschaft zur Informalisierung werden Bagatellverfahren, überprüft am Beispiel der Ladendiebstähle, zu fast 100 % erfaßt. Da auch die Bielefelder Staatsanwaltschaft derartige bagatellarische Normverstöße fast vollständig vorgerichtlich erledigt, muß das abweichende Potential aus dem Bereich mittelschwerer/schwerer Kriminalität kommen, eine Annahme, die durch die Differenzierung nach Kriminal- und Schutzpolizei sowie die Entscheidungsanalyse (bi- und multivariat) belegt wird. Zeigt sich somit eine breite Übereinstimmung von Staatsanwaltschaft und Polizei im Hinblick auf die Informalisierung von Bagatellkriminalität, so ist das als ein weiterer Beleg für die kriminalpolitische Angemessenheit normativer Entkriminalisierung zu werten. Polizeiliches Handeln in den exemplarisch herausgegriffenen Bereichen jugendtypischer Kriminalität orientiert sich nach den Ergebnissen der Entscheidungsanalyse an Tatschwereindikatoren, der Vorbelastung und dem Verhalten des Beschuldigten nach der Tat. Insbesondere über Verhaltensmerkmale wie "Reue", erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens werden klassische täterstrafrechtliche Entscheidungsmuster deutlich, in weitaus höherem Maße als sie Staatsanwälte aufgrund der herkömmlichen Aktenlage je zeigen könnten. Stellen sich vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Vorschläge der Polizeibeamten als differenziertes, den Gesetzesauftrag des § 45 weitgehend umsetzendes Programm dar, so könnte es naheliegen, die Polizei als adäquates Entscheidungsorgan anzusehen. Aus den bisherigen bi- und multivariaten Analysen sowie weiteren Korrelationen lassen sich allerdings zentrale Bedenken gegen eine solche Schlußfolgerung ableiten. (1) Lassen sich aus den multivariaten Auswertungen keine eindeutigen Anzeichen für eine Diskriminierung bestimmter Beschuldigtengrupppen (Arbeitslose, Sonderschüler etc.) erkennen, so haben doch die bivariaten Analysen verdeutlicht, daß in der Gruppe der für eine Anklage vorgeschlagenen Beschuldigten signifikant häufiger als bei den informalisierten Verfahren soziale Auffälligkeiten auftreten. Nach unseren Untersuchungen sind gerade bei den negativ behafteten Verhaltensweisen bestimmte Gruppen von Beschuldigten überrepräsentiert.

456

Polizei und Diversion

Bezogen auf alle Fälle, in denen ein Vorschlag des Polizeibeamten "formell versus informell" vorliegt, läßt sich z.B. festhalten: Während bei Beschuldigten mit auffalligen Wohnverhältnissen (Heim etc.) zu 44 % keine erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens und zu 59 % keine "Reue" angenommen wurde, betragen die entsprechenden Werte bei den sozial Unauffälligen 15 % bzw. 29 %. Auch im Hinblick auf die Nationalität sowie den Arbeitslosenstatus lassen sich gleichermaßen signifikante Unterschiede belegen. Greift man sich, um die Einflüsse von weiteren Tat- und Tätermerkmalen weitgehend konstant zu halten, ein Beispiel bagatellarischer Ladendiebstähle (Einzeltat, Ersttäter, Schaden bis 100 DM, volles Geständnis) heraus, so bleiben z.B. bei arbeitslosen oder in einer unvollständigen Familie lebenden Beschuldigten entsprechende Trends erhalten; ein signifikanter Zusammenhang zeigt sich weiterhin bei der Frage "Heimaufenthalt etc.".

Diese Befunde verdeutlichen, daß die Orientierung an spezialpräventiv bedeutsamen Merkmalen einer strukturell bedingten Schlechterstellung von Arbeitslosen, Heimbewohnern etc. nicht entgegenzuwirken vermag. (2) Die Orientierung an spezialpräventiven Kriterien, konkret die Beurteilung "glaubhafter Reue", "erzieherischer Wirkungen des Ermittlungsverfahrens", einer "Bereicherungsabsicht ohne Notlage", des "Hangs zur Aggressivität" usw., setzt problematische Bewertungsprozesse seitens der Polizeibeamten voraus. Der Zielkonflikt zwischen Einzelfallentscheidung und gleicher Rechtsanwendung tritt hier, wo es um die Einschätzung von Beschuldigtenverhalten im Hinblick auf eine mögliche Wiederholungsgefahr geht, deutlich hervor. Lassen sich kaum einheitliche Maßstäbe für die Einordnung einer Verhaltensweise als "reuig", "gleichgültig" etc. finden, so wird diese Aufgabe noch durch die unterschiedliche Handlungskompetenz der Beschuldigten in der Situation "Vernehmung" erschwert. In dem Maße, in dem Sprachschwierigkeiten, intellektuelle Fähigkeiten und jugendliches Alter des Beschuldigten beim unmittelbaren Kontakt mit den Polizeibeamten benachteiligen, wirkt sich dies indirekt auf den polizeilichen Verfahrensvorschlag aus, wenn dieser entscheidend von Verhaltensmerkmalen getragen wird. (3) Wie wichtig die Frage ist, welche Verhaltensweisen des Beschuldigten der Polizeibeamte bei seinem Vorschlag herausgreift, welchen Anknüpfungspunkt er für eine Negativ- oder Positivbewertung wählt, zeigen die multivariaten Analysen zum Ladendiebstahl, sonstigen Diebstahl, zur Körperverletzung und Sachbeschädigung. Wird fundamentalen Rechten auf Nichterscheinen zur polizeilichen Vernehmung (vgl. z.B. Tab. 5.9, 5.10), Aussageverweigerung und Bestreiten der Tat (vgl. Tab. 5.14) vor dem Hintergrund der Tataufklärungsperspektive eine formalisierende Wirkung zugeschrieben, so läßt sich diese Kriterienwahl nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren. Das gleiche gilt für die entscheidungsbeeinflussende Wirkung sonstiger Kooperationshandlungen des Beschuldigten. Die Bedeutung der drei Indikatoren mangelnder Kooperation (Nichterscheinen, keine Aussage, kein Geständnis) wird darüber hinaus indirekt vermittelt.

Zusammenfassung und kriminalpolitische

Schlußfolgerungen

457

Wiederum bezogen auf die Untersuchungsgruppe, die den multivariaten Analysen zugrundelag, läßt sich feststellen, daß Fragen der "Reue" und erzieherischen Wirkung des Verfahrens eng mit jener Thematik verknüpft werden. In 10 % aller Fälle, in denen der Polizeibeamte keine erzieherische Wirkung angenommen hat, lag keine Vernehmung/Aussage zur Sache vor (Teilgeständnis/kein Geständnis: 28 %). Ähnliche Werte lassen sich für die Verneinung von "Reue/Einsicht" belegen (8 % bezüglich der ersten, 31 % bezüglich der zweiten Fallgruppe). Bei beiden Fragestellungen kommt auch die Annahme einer erzieherischen Wirkung bzw. von "Reue/Einsicht" vor, allerdings auf einem quantitativ sehr viel niedrigerem Niveau.

Verknüpft der Polizeibeamte Fragen der Tataufklärung, hier die Wahrnehmung strafprozessualer Rechte durch den Beschuldigten, mit seiner Einschätzung zu spezialpräventiv bedeutsamen Kategorien des Informationsbogens, so erscheint die Dominanz dieser Merkmale in den multivariaten Modellen in einem veränderten Licht. Auch diese Vorgehensweise ist mit dem Recht, sich nicht selber belasten zu müssen, schwerlich vereinbar. Hier findet das Erziehungsprinzip, das die mangelnde Mitwirkung bei der eigenen Überführung als Täter zum Anlaß für weitere "erzieherische" Maßnahmen nehmen könnte, seine Grenzen. (4) Die täterstrafrechtliche Orientierung der Polizeibeamten konnte auch bei den polizeilichen Vorschlägen zu konkreten Sanktionen festgestellt werden. Obwohl nicht standardisiert im Informationsbogen abgefragt, haben Polizeibeamte in jedem 10. Fall eine Maßnahme, sei es als Sanktion oder Sanktionsäquivalent, vorgeschlagen. Die eingriffsintensivste Reaktion, die Arbeitsweisung, wurde sowohl für Bagatellen als auch für Bereiche mittelschwerer Kriminalität vorgesehen. Der gebotenen Verhältnismäßigkeit zwischen Tatanlaß und Rechtsfolge wird dadurch nur wenig Rechnung getragen. Die Tatsache, daß aus der Sicht der Polizeibeamten hauptsächlich einsichtige und beeindruckte Beschuldigte zu Arbeitsleistungen herangezogen werden sollten, legt ein spezifisch juristisches Erziehungsverständnis nahe, das sich am ehesten mit der 'short-sharp-shock'-Ideologie vergleichen läßt, nach der Jugendarrest lediglich bei leichten und mittelschweren Verfehlungen 'erziehbarer' Jugendlicher verhängt wird. (5) Wenngleich den Polizeibeamten keine explizite Vorschlagsmöglichkeit "Verfahrenseinstellung mangels Tatnachweises" eingeräumt wurde, standen die Informalisierungs-/Formalisierungsalternativen — für die Polizeibeamten erkennbar — eindeutig unter der Voraussetzung hinreichenden Tatverdachts. Kommen Polizeibeamte — häufig gerade bei Zweifelsfällen (z.B. Bestreiten der Tat) — zu einer von der staatsanwaltlichen Entscheidung abweichenden Bewertung, so ist diese Diskrepanz als weiterer Reflex der polizeilichen Tataufklärungsperspektive sowie der Nähe des Polizeibeamten zur Tat und zum Tatverdächtigen zu sehen. Infolge der Verbindung von Ermittlungs- und Entscheidungsaufgaben kommt es somit abermals zur Gefahr der Schlechterstellung unkooperativer Beschuldigter.

458

Polizei und Diversion

Diese Umstände führen zurück zu der Diskussion über polizeiliche und staatsanwaltliche Kompetenzzuweisungen im Ermittlungsverfahren, insbesondere also zu der Frage, inwieweit Ermittlungs- und Entscheidungsbehörde identisch sein sollten. Nimmt man die vorstehenden Befunde, so sprechen sie gegen eine Zusammenfassung beider Befugnisse in den Händen der Polizei. Gilt das gleiche Argument grundsätzlich auch für die Staatsanwaltschaft, so bewahrt sie die Tatsache, daß die Polizei in den Bereichen einfacher und mittelschwerer Kriminalität faktisch die "Herrin des Ermittlungsverfahrens" ist, vor einer entsprechenden Voreingenommenheit aufgrund der Sachnähe zum Ermittlungsgegenstand. Sollte die faktische Lage der rechtlichen angepaßt werden, so bestehen ebenfalls Bedenken im Hinblick auf eine sachliche, alle be- und entlastenden Umstände abwägende Aufgabenwahrnehmung der Staatsanwaltschaft. Projekte, die Polizei verstärkt in Diversion einbeziehen wollen, müssen diese Umstände bei ihrer Konzeptuierung bedenken. Eine Übertragung von abschließenden Entscheidungskompetenzen auf die Polizei oder eine Rückstufung staatsanwaltlicher Befugnisse auf ein bloßes Zustimmungsrecht bringen deutliche Gefahren für die Einhaltung der Unschuldsvermutung.

Viertes Buch Staatsanwaltschaftliche Entscheidung — Beeinflussung durch systematische Informationserweiterung?

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung — Beeinflussung durch systematische Informationserweiterung? — Die Umsetzung des Bielefelder Modellversuchs durch die Staatsanwaltschaft — Silvia Voß

Die staatsanwaltschaftliche Entscheidung über die Erledigung eines Ermittlungsverfahrens bildet den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Den konkreten Anlaß für die empirischen Erhebungen und Auswertungen, die im folgenden dokumentiert sind, liefert wiederum der zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft verabredete Modellversuch in Bielefeld, der die Informationsgrundlage für die jugendstaatsanwaltschaftliche Verfahrenswahl verbessern will. Hierdurch sollen dem Staatsanwalt einerseits in höherem Maße tatsächliche Informationen über die persönlichen und sozialen Verhältnisse des Beschuldigten vorgelegt werden. Andererseits soll die Informationslage der Jugenddezernenten durch die förmliche Anregung einschlägiger Ermittlungen und die förmliche Weitergabe der Ermittlungsergebnisse vereinheitlicht werden. Rechts- und kriminalpolitisch gesehen bezieht sich die Arbeit auf einen umstrittenen Umbruch in der normativ vorgegebenen Rechtsstellung des Staatsanwalts und in der Verteilung selbständiger Verfahrenserledigungen zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht. "Der Staatsanwalt. Ein Richter vor dem Richter?" (Kausch 1980) oder "Die Verdrängung des Richters durch den Staatsanwalt" (Kunz 1984a) sind typischer Ausdruck für die Besorgnis, daß rechtsstaatliche Grundlagen des Strafverfahrens, wie die im Gewaltenteilungsprinzip begründete Kompetenzverteilung, durch diese Entwicklung gefährdet sein könnten. Während die dem Staatsanwalt gegebene Möglichkeit zur selbständigen Verfahrenserledigung und der hohe Anteil informeller Verfahrensabschlüsse der Staatsanwaltschaft an allen Strafverfahren mit Blick auf das allgemeine Strafrecht eher einer kritischen Bewertung unterzogen werden, wird diese Entwicklung für das Jugendstrafverfahren fast ausnahmslos begrüßt. Der Verzicht auf das langwierige Hauptverfahren und die förmliche Sanktionierung, der mit der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung einhergeht, steht im Einklang mit jugendkriminologischen Erkenntnissen, wonach auf Jugenddelinquenz zunächst mit informellen erzieherischen Maßnahmen, möglichst aus dem sozialen Umfeld kommend, reagiert werden soll. Auch das Bielefelder Modell kann durch Hinweise auf derartige Reaktionen zu einer Ausweitung informeller Verfahrenserledigungen führen. Durch das Modell soll ferner routinemäßig die Informationsgrundlage des entscheidenden Staatsanwalts verbessert und durch den Informationsbogen in gewisser Weise formalisiert

462

Staatsanwaitschaftliche Entscheidung

werden. Es wird zu prüfen sein, ob mit dem formalisierten Informationszuwachs in der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung ein Gewinn an Rechtssicherheit verbunden ist. Im vorangestellten 3. Buch wurde der Modellversuch auf der Ebene der Polizei evaluiert. Es wurde geprüft, ob die Polizei ihre Ermittlungsstrategien durch die Einführung des Informationsbogens angemessen verändert hat und in welchem Umfang die Vernehmungsbeamten neu gewonnene Informationen an die Staatsanwaltschaft weitergegeben haben. Im nun folgenden Teil der Gesamtuntersuchung richtet sich der Blick auf die Umsetzung des Bielefelder Modells durch die Jugenddezernenten der Staatsanwaltschaft. Die Darstellung der Untersuchungsbefunde ist in folgender Weise gegliedert: An die deskriptivstatistische Beschreibung der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe (1. Kapitel) schliessen Erkenntnisse über die Entscheidungskriterien der Jugendstaatsanwaltschaft — mit und ohne modellbedingte Zusatzinformationen — auf der bivariaten Überprüfungsebene an (2. Kapitel). Die multivariate Analyse zu den generellen Entscheidungskriterien der Jugendstaatsanwaltschaft (3. Kapitel) und zu den Auswirkungen der zusätzlich bereitgestellten Informationen auf das Verhältnis von Verfahrenseinstellung und Anklage (4. Kapitel) stellt den Kern der Implementations- und Evaluationsforschung über das Bielefelder Modell dar. Sie wird durch eine dezernentenspezifische Detailanalyse der Entscheidungsmuster abgerundet (5. Kapitel). Rechts- und kriminalpolitische Folgerungen bewerten die Forschungsbefunde vor dem Hintergrund der einleitend angesprochenen Problematisierung der selbständigen staatsanwaltschaftlichen Verfahrenserledigung (6. Kapitel).

1 1.1

Deskriptivstatistische Darstellung der Untersuchungsbefunde Informationsbasis für die staatsanwaitschaftliche Verfahrenswahl vor Einführung des Informationsmodells

Zwei Erkenntnisinteressen bestimmten die Voruntersuchung, die auf die staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsroutinen vor Beginn des Informationsmodells gerichtet war: Zum einen sollte geprüft werden, wie weit die in § 45 genannten präventionsrelevanten Einstellungskriterien bereits ohne Modelleinfluß der Staatsanwaltschaft zur Verfügung standen. Zum anderen sollten die rechtstatsächlich vorherrschenden Bedingungen für die staatsanwaltschaftliche Entscheidung zwischen Verfahrenseinstellung und Anklage ermittelt werden. Zu diesem Zweck wurde eine repräsentative Stichprobe aus den Ermittlungsakten der Jugenddezernenten bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld gezogen (n = 330). Die Stichprobe bezieht sich auf das Jahr 1986 und betrifft die später diversionsfähigen Deliktsgruppen: Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung.

Deskriptivstatistische Darstellung der Untersuchungsbefunde

463

Das Kernergebnis dieses Untersuchungsabschnitts sei wie folgt vorweggenommen: In den untersuchten Ermittlungsakten finden sich nur in geringem Umfang Eintragungen zu präventionsrelevanten Bedingungen der Verfahrenseinstellung, wobei die wesentlichen Quellen derartiger Hinweise das polizeiliche Protokoll der Beschuldigtenvernehmung und der sogenannte " Schlußvermerk" des Vernehmungsbeamten darstellen. Schlußvermerke sind in 25 % der erhobenen Akten enthalten. 80 % dieser Vermerke stellen allerdings nur aus dem Protokoll wiederholte Schilderungen des Tathergangs dar. Zu den Einzelergebnissen: In 11 % der untersuchten Verfahren finden sich Eintragungen über eine Schadenswiedergutmachung. Über das Verhalten des Beschuldigten nach der Tat und während der Vernehmung ist in 18 % der Fälle ein Hinweis in der Akte enthalten. Besondere Bemerkungen über die erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens sind in keiner Akte zu finden. Erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld des Beschuldigten sind in 7 % der Fälle aktenkundig geworden.

Demnach werden der Staatsanwaltschaft nur in einer Minderzahl der Verfahren präventionsrelevante Bedingungen einer Verfahrenseinstellung, wie sie in § 45 angesprochen sind, bekannt. Die Weitergabe und die Auswahl derartiger Informationen erfolgt nicht systematisch, sondern scheint eher von den subjektiven Erkenntnisinteressen des Vernehmungsbeamten bestimmt zu sein. Eine sachgerechte, das Prinzip der Rechtsgleichheit und den Subsidiaritätsgrundsatz des Jugendgerichtsgesetzes wahrende Entscheidung gemäß § 45 ist der Staatsanwaltschaft daher erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Welche Informationen stehen der Staatsanwaltschaft jenseits der zumeist fehlenden präventionsrelevanten Kategorien für die Einstellungs-/Anklageentscheidung zur Verfügung? Die Angaben zur Tat, zur Tatausführung und zu den Tatfolgen sind in der Regel vollständig dokumentiert. Das gilt auch für die biographischen Rahmendaten zur Person des Tatverdächtigen wie Geburtsdatum, Geschlecht, Nationalität, derzeitige schulische oder berufliche Tätigkeit und derzeitige Wohnsituation. Nur selten sind Informationen über die Eltern der Beschuldigten vorhanden (Vater: in 6 %, Mutter: in 4 % der erhobenen Akten), in der Regel auf deren Erwerbstätigkeit bzw. Berufsausbildung bezogen; meist ist nur der Familienstand der Eltern (in 96 % der Fälle) ausgewiesen. Über etwaige strafrechtliche Vorbelastungen des Tatverdächtigen ist eine umfassende Information nur insoweit vorhanden, als sie sich auf den örtlichen Bereich des Landgerichtsbezirks bezieht (hauseigene Zentralkartei der Staatsanwaltschaft; vgl. 1. Buch, Fn. 41). Ob mögliche Vorbelastungen im Erziehungs- oder Bundeszentralregister eingetragen sind, ist in 21 % der Fälle geprüft worden. Im Regelfall verzichtet die Staatsanwaltschaft demnach darauf, diese Auskunft einzuholen. Fast in jedem Fall (97 %) kann festgestellt werden, ob der Tatverdächtige ein Geständnis abgelegt hat oder nicht.

464

Staatsanwaìtschafìliche Entscheidung

1.2

Deskriptivstatistische Darstellung zu Tat-/Tätermerkmalen in der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe

Die Untersuchung zu den Wirkungen des Bielefelder Informationsmodells auf die Verteilung von Verfahrenseinstellung und Anklage im staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsspektrum wurde durch den Vergleich zweier Entscheidungsmuster vorgenommen. In der Untersuchungsgnippe wurden alle Ermittlungsakten der Jugenddezernenten bei der Bielefelder Staatsanwaltschaft erhoben, die einen "Informationsbogen" des Modellversuchs enthielten (n = 1.056). Aus den Ermittlungsverfahren der Kontrollgruppe (Umland) wurde eine repräsentative Stichprobe gezogen (n = 1.309). Die Akten bezogen sich auf Verfahren, die zwischen Februar 1987 und Dezember 1988 von den Jugenddezernenten der Staatsanwaltschaft Bielefeld entschieden worden waren. Ferner erfaßte die Stichprobe im Stadtbezirk 522 Akten, die in den Anwendungsbereich des Modellversuchs fielen, aber ohne Informationsbogen bei der Staatsanwaltschaft eingingen (vgl. 3. Buch, Abschnitt 4.2.3.11). Die folgende deskriptivstatistische Darstellung verfolgt zwei Ziele. Sie dient zum einen der Prüfung, ob die Verfahren aus der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe auf vergleichbaren Fällen basieren. Mit Hilfe dieses Vergleichs soll der Bedarf für eine Parallelisierung der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe für den weiteren Verlauf der Untersuchung ermittelt werden. Zum anderen liefert die Darstellung einen Eindruck von dem "Kriminalitätsbild", das Gegenstand des Bielefelder Informationsmodells ist. Zuerst werden solche Variablen dargestellt, die einen Überblick über Tatmerkmale der in der Aktenstichprobe erfaßten Fälle geben. Die Tabellen enthalten jeweils einen Vergleich der Variablenverteilung in der Untersuchungs- ("Stadt") und der Kontrollgruppe ("Umland"). Wie oben dargelegt, wurden nur die in das Informationsmodell einbezogenen Deliktsgruppen Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung berücksichtigt.

Tab. 1.1:

Deliktsarten im Stadtbezirk (n = 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Umland

Stadt Deliktsart

abs.

%

abs.

%

Diebstahl Körperverletzung Sachbeschädigung Verschiedene Delikte

816 106 91 43

77,3 10,0 8,6

950 141 90 128

72,6 10,8 6,8 9,8

4,1

Desknptìvstatìstìsche

Darstellung der Untersuchungsbefunde

465

Die drei ausgewählten Deliktstypen repräsentieren ca. 80 % der gesamten Jugendkriminalität (ohne Straßenverkehrsdelikte). Die Deliktskategorie "Diebstahl" beinhaltet unterschiedlich schwere Tatbestände. Deren Verteilung in der Untersuchungs- und Kontrollgruppe wird in Tabelle 1.2 dargestellt:

Tab. 1.2:

Diebstahlsarten im Stadtbezirk (n = 835) und im Umland (n = 950)

Stadt

Umland

Diebstahlsart

abs.

%

abs.

%

Ladendiebstahl Sonstiger Diebstahl Einbruchsdiebstahl

582 120 133

69,7 14,4 15,9

581 168 201

61,2 17,7 21,2

Betrachtet man die verschiedenen Diebstahlsformen, so ist augenfällig, daß der Ladendiebstahl, der in der Regel geringe Werte betrifft, mit über 50 % der Diebstähle der häufigste Tatbestand ist. Demgegenüber hat der sogenannte Einbruchsdiebstahl (§ 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB) nur einen Anteil von einem Fünftel der Diebstahlsfälle.

Tab. 1.3:

Schadenshöhe bei Diebstählen im Stadtbezirk (n = 734) und im Umland (n = 852)

Stadt

Umland

Schadenshöhe

abs.

%

abs.

%

Bis 100 DM 101 bis 1.000 DM Uber 1.000 DM

382 293 59

52,0 39,9 8,0

440 340 72

51,6 39,9 8,5

Die Hälfte der Diebstahlsfälle verursacht nur einen Schaden bis zu 100 DM. Nur in Ausnahmefällen beträgt der Schaden mehr als 1.000 DM. Im typischen Fall liegt dem Tatvorwurf nur eine Tat zugrunde. Nur in jedem fünften Verfahren werden dem Beschuldigten zwei oder mehr Taten zur Last gelegt.

466

Tab. 1.4:

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Anzahl der Tatvorwürfe im Stadtbezirk (n = 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Stadt

Umland

Anzahl der Tatvorwürfe

abs.

%

abs.

%

Eine Tat Zwei Taten Drei oder mehr Taten

837 121 98

79,3 11,5 9,2

1061 138 110

81,1 10,5 8,4

Die bisherigen Daten des Samples zeigen, daß sich die Taten, die vom Informationsmodell durch die Deliktsauswahl erfaßt werden, überwiegend im unteren Bereich der Kriminalität bewegen. Die den jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten zur Last gelegte Tat wird von ca. zwei Drittel der Tatverdächtigen in der polizeilichen Vernehmung gestanden.

Tab. 1.5:

Art der Aussage im Stadtbezirk (n = 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Stadt

Umland

Art der Aussage

abs.

%

abs.

%

Geständnis/Teilgeständnis Kein Geständnis

748 308

70,8 29,2

797 512

60,9 39,1

Die hohen Geständnisquoten sind nicht zuletzt auf den hohen Anteil von Ladendiebstahl in beiden Regionen zurückzuführen. Bei diesem Delikt wird der Jugendliche bzw. Heranwachsende in der Regel auf frischer Tat angetroffen. Die Unterschiede bei der Geständigkeit zwischen Stadt und Umland dürften deshalb zum Teil auf den geringeren Ladendiebstahlsanteil im Umland zurückzuführen sein (vgl. Tab. 1.2). Im Gegensatz zur Altersverteilung zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden bei allen Delikten (46 zu 54 %, vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 1987) überwiegen im hier gezogenen Sample durch die vorgenommene Deliktsauswahl die jugendlichen Tatverdächtigen. Der Anteil weiblicher Tatverdächtiger in der Untersuchungspopulation liegt mit ca. einem Fünftel der Tatverdächtigen deutlich niedriger als der Anteil weib-

Deskriptivstatistische

467

Darstellung der Untersuchungsbefunde

licher Tatverdächtiger, der auf alle Delikte bezogen ist (32 %, vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 1987). Hierfür ist wiederum die Deliktsauswahl verantwortlich.

Tab. 1.6:

Alter und Geschlecht der Beschuldigten im Stadtbezirk (n = 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Stadt Alter Jugendlicher Heranwachsender

Umland

abs.

%

abs.

%

743 313

70,4 29,6

846 463

64,6 35,4

817 239

77,4 22,6

1042 267

79,6 20,4

Geschlecht Männlich Weiblich

Hinsichtlich des Anteils ausländischer Tatverdächtiger an den erhobenen Fällen besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Stadt und Umland.

Tab. 1.7:

Nationalität und derzeitige Tätigkeit der Beschuldigten im Stadtbezirk (n = 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Stadt Nationalität Deutsch Ausländisch

Umland

abs.

%

abs.

%

780 276

73,9 26,1

1101 208

84,1 15,9

728 151 74 103

68,9 14,3 7,0 9,8

801 204 114 190

61,2 15,6 8,7 14,5

Derzeitige Tätigkeit Schüler Auszubildender Arbeitsloser Sonstige

Der Unterschied ist darauf zurückzuführen, daß der Anteil der Ausländer an der Wohnbevölkerung im Umland wesentlich niedriger ist als im Stadtbezirk. In der Stadt Bielefeld stellen Ausländer 9 % der Bevölkerung. Im umliegenden Regierungsbezirk (ohne die kreisfreie Stadt Bielefeld) liegt der Ausländeranteil hingegen bei 4,8 % (Statistisches Jahrbuch Nordrhein-Westfalen 1987, 60 f.).

468

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Aufgrund des hohen Anteils jugendlicher Tatverdächtiger ist es nicht verwunderlich, daß die meisten Beschuldigten noch Schüler sind. In den meisten Fällen verzichten die Bielefelder Staatsanwälte darauf, einen Auszug aus dem amtlichen Erziehungsregister einzuholen (Auszüge angefordert: im Stadtbezirk 17 %, im Umland 23 % der Fälle). Gemessen an der routinemäßig eingeholten Auskunft der staatsanwaltsinternen Zentralkartei, die die Anzahl der bereits gegen den Beschuldigten im Landgerichtsbezirk Bielefeld durchgeführten Ermittlungsverfahren wiedergibt, weist jeder zweite Tatverdächtige mindestens eine Vorbelastung auf.

Tab. 1.8:

Strafrechtliche Vorbelastung der Beschuldigten nach Zentralkarteiauszug im Stadtbezirk (n = 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Stadt

Umland

Vorbelastung nach Zentralkartei

abs.

%

abs.

%

Vorbelastet

505

47,8

687

52,5

Nicht vorbelastet

551

52,2

622

47,5

Legt man die Auszüge aus dem Erziehungsregister — soweit in der Akte vorhanden — zugrunde, so sind im Stadtbezirk 52 %, im Umland 60 % der Beschuldigten vorbelastet. Zusammenfassend betrachtet zeigen die Untersuchungs- und die Kontrollgruppe hinsichtlich der geprüften Tat- bzw. Tätermerkmale durchaus deutliche Unterschiede (vgl. Tabellen 1.2, 1.5, 1.6, 1.7), die für die Projektevaluation den Einsatz von Parallelisierungsverfahren nötig machen.

1.3

Deskriptivstatistische Darstellung zur Verteilung der Erledigungsarten in der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe

Im folgenden Abschnitt werden die Verteilungen der

staatsanwaltschaftlichen

Entscheidungsformen im Stadtbezirk und im Umland gegenübergestellt. Dabei werden fünf staatsanwaltschaftliche Erledigungsformen unterschieden: 1. formelle Erledigungen, 2. informelle Erledigungen,

Deskripti vstatìstìsche Darstellung der Untersuchungsbefunde

469

3. Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Tatverdachts oder weil keine Straftat vorliegt, 4. Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO aus sonstigen Gründen (z.B. bei Vorliegen eines Prozeßhindemisses), 5. sonstige Erledigungen. Unter den Begriff formelle Erledigung bzw. Anklage werden alle Anklagen (insbesondere beim Jugendgericht oder beim Jugendschöffengericht) sowie alle Verfahren nach § 76, dem vereinfachten Jugendverfahren, gefaßt. Als informell bzw. Informalisierung werden alle Erledigungen betrachtet, die durchaus auch Sanktionscharakter haben können, aber kein förmliches Verfahren nach sich ziehen. Hierunter fallen Entscheidungen nach §§ 153, 153a StPO, § 45 Abs. 1 oder § 45 Abs. 2. Bei den Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO werden zwei Einstellungsvoraussetzungen unterschieden. Ist der Tatverdacht für eine mögliche Anklage nicht hinreichend oder ist kein Delikt gegeben, so bildet dies die eine Voraussetzung für eine Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 StPO. Die andere Voraussetzung erfaßt Fälle, bei welchen eine Anklage nicht möglich ist, weil etwa ein Prozeßhindernis vorliegt (Fehlen des Strafantrags, kein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung etc.). Weil angesichts der geringen absoluten Häufigkeit dieser Erledigungsformen eine differenzierte Analyse nicht sinnvoll erscheint, werden sie — anders als im 1. Buch — nicht in die Untersuchung einbezogen. Die Kategorie "sonstige Erledigungen" bezieht sich z.B. auf Einstellungen nach § 154 StPO oder Abgabe der Fälle an eine ausländische (Militär-)Gerichtsbarkeit.

Tab. 1.9:

Staatsanwaltliche Erledigungsarten im Stadtbezirk (n — 1.056) und im Umland (n = 1.309)

Stadt

Umland

Erledigungsart

abs.

%

abs.

%

Formelle Erledigung Informelle Erledigung Erledigung nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Tatverdachts Erledigung nach § 170 Abs. 2 StPO aus sonstigen Gründen Sonstige Erledigung

424 446

40,2 42,2

662 428

50,6 32,7

97

9,2

142

10,8

60 29

5,7 2,7

50 27

3,8 2,1

470

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Die Tabelle zeigt deutliche Stadt-Umland-Unterschiede nur bei der Erledigung anklagefahiger Verfahren (formelle versus informelle Erledigung). Bezieht man einen Signifikanztest nur auf den Entscheidungsvergleich bei anklagefahigen Verfahren (formell und informell erledigte Fälle), so zeigt sich ein hoch signifikanter Unterschied im Anklage-Einstellungs-Verhältnis zwischen Stadt und Umland (χ 2 = 32,89; α < 0,001; phi = 0,16). Dennoch können hieraus keine regionalspezifischen Entscheidungsroutinen mit hinreichender Sicherheit abgeleitet werden. Die berücksichtigten Verfahren beziehen sich auf unterschiedliche Fallkonstellationen, die jeweils spezifische Anwendungsvoraussetzungen für eine informelle Erledigung aufweisen können. Die Erledigungsdivergenz beider Gruppen hinsichtlich der anklagefähigen Fälle könnte auf Unterschieden in der Kombination der bereits verglichenen Variablen beruhen. Um die beiden Regionen angemessen vergleichen zu können, sollen sowohl eine Analyse in Untergruppen, die der Ceteris-paribus-Klausel gerecht wird, als auch multivariate Analysen (Kapitel 3), die faktisch ebenfalls dieser Klausel gerecht werden, durchgeführt werden.

2

Bivariate Analysen zu den Entscheidungskriterien der Staatsanwaltschaft

Im folgenden Abschnitt werden zunächst die Variablen dargestellt, die bei bivariaten Analysen signifikante Korrelationen mit der Ziel variablen " Verfahrenserledigung" zeigen. Sämtliche Variablen werden anschließend auch in ihrem simultanen Einfluß auf die Einstellungs-/Anklageentscheidung geprüft (multivariate Analysen, Kapitel 3). Darüber hinaus veranschaulicht die bivariate Analyse, im Gegensatz zur summarischen multivariaten Untersuchung, die Verteilung ausgesuchter unabhängiger Variablen in den einzelnen Deliktsbereichen. Es werden im folgenden nur anklagefahige Fälle berücksichtigt. Die im Rahmen der bivariaten Analyse, welche sich zunächst auf die Gesamtstichprobe richtet, ermittelten Einflußvariablen dienen im weiteren Verlauf der Untersuchung auch zur Bildung von homogenen Untergruppen aus den erhobenen Verfahren des Stadtbezirks und des Umlands, die bei der Evaluation des Modellversuchs benötigt werden. Die bivariate (Kapitel 2) und multivariate (Kapitel 3) Ermittlung der Bedingungen für die staatsanwaltschaftliche Verfahrensentscheidung dient im Rahmen der Evaluation des Modellversuchs dazu, den Anteil der durch das Modell gewonnenen präventionsrelevanten Informationen — im Verhältnis zu den herkömmlichen schematisch gebrauchten Kriterien - an der Entscheidungsfindung der Jugendstaatsanwälte festzustellen. Damit betreffen Kapitel 2 und 3 die Implementationsebene des Modellversuchs. Sie gehen der Frage nach, wie weit die durch das Modell bereitgestellten Informationen Zugang zu den Entscheidungsroutinen der Staatsanwaltschaft gefunden haben. In Kapitel 4 wird schließlich die Implemen-

Bivaríate Analysen

471

tationsfrage in die Impactfrage überführt (zur Begrifflichkeit vgl. Mayntz 1980, 236 ff.). Diese richtet sich auf die Auswirkungen des Informationsmodells, auf das Verhältnis von Verfahrenseinstellung und Anklage im Entscheidungsmuster der Jugendstaatsanwaltschaft. Die zunächst folgende bivariate Analyse bezieht sich auf verschiedene Stichprobenteile. So wird zum einen die Gesamtstichprobe von den deliktsspezifischen Teilstichproben Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung unterschieden. Die Berücksichtigung des Delikts bei der Stichprobenauswahl basiert auf Forschungsbefunden zur staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsfindung (vgl. etwa Steffen 1976; Blankenburg/Sessar/Steffen 1978; Kotz 1983). Aus diesen Erkenntnissen folgt, daß es tatbestandsgebundene und tatbestandsübergreifende Einflußkriterien für die staatsanwaltschaftliche Entscheidung gibt. Ein Teil der Analysen bezieht sich daher nur auf die Teilstichprobe des jeweiligen Deliktsbereichs, wobei hier die Erkenntnis leitend war, daß bestimmte Variablen (z.B. Vorbelastung oder Anzahl der Tatvorwürfe) unabhängig vom Informationsmodell auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung wirken müßten. Um die Variablen des Informationsbogens in ihrem Einfluß auf die Entscheidung zu prüfen, war es zum anderen nötig, die deliktsspezifischen Teilstichproben nach Stadtbezirk und Umland aufzusplitten. Die Trennung der Teilstichproben nach Stadtbezirk und Umland wird bei der später folgenden multivariaten Analyse ebenso beibehalten wie die Unterscheidung nach Delikten. Mit der in diesem Abschnitt eingeführten Begrifflichkeit zeigt die nachfolgend dokumentierte Untersuchung ihre Nähe zu einem traditionsreichen Forschungszweig der Politikwissenschaft, der Implementationsforschung. Damit sind theoretische und empirische Bemühungen angesprochen, die administrative Umsetzung und Durchführung (Implementation) von politischen Programmen und Entscheidungen zu erfassen und zu erklären (vgl. Wollmann 1979, 14). Grundlage für ein solches Forschungsinteresse ist das Abrücken von der normativen, etwa im Gewaltenteilungsprinzip angelegten Vorgabe, wonach die Verwaltung politische, gesetzlich gefaßte Entscheidungen lediglich vollzieht. Demgegenüber hat sich die Implementationsforschung mit der Verwaltung in "ihrer faktischen Entscheidungsund Leitungsfunktion" (ebd., 17) befaßt und das Verwaltungshandeln als "Implementationsproblem(e) von Politik" (ebd., 18) erkannt. Für die Umsetzung bundesstaatlichen Rechts, wie es die Strafprozeßordnung darstellt, durch die länderunterstellte Verwaltung kommt hinzu, daß der "Verwaltungsföderalismus" (ebd., 26) ein Weiteres dazu beiträgt, die zentralen Zielvorgaben zu filtern. Unter Implementation versteht Renate Mayntz "die Durchführung bzw. Anwendung der im Prozeß der Politikentwicklung entstandenen Gesetze und anderen

472

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Handlungsprogramme" (Mayntz 1980, 236). Für die Erforschung dieser Prozesse gilt, daß "im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses ... die ursächliche Erklärung auftretender Diskrepanzen zwischen Norm und Wirklichkeit, Programmziel und erzeugter Wirkung" (ebd.) steht (vgl. zur Zielsetzung auch Bohnert/ Klitzsch 1980, 200). Dieses Erkenntnisinteresse teilt die Implementationsforschung mit der Rechtstatsachenforschung, die das "Recht in den Büchern" mit dem "lebenden Recht" konfrontiert (vgl. Raiser 1987, 61). Die Implementationsforschung versucht darüber hinaus, die Umsetzung eines politischen Programms unter Rekonstruktion der folgenden Schritte nachzuzeichnen: 1. Problemstellung 2. Programmformulierung 3. Programminstallierung (Implementation im engeren Sinne) 4. Impactanalyse (Programmwirkung) (vgl. die Übersicht bei Mayntz 1980, 238). In der vorliegenden Arbeit werden vornehmlich die Ebenen 3 und 4 erfaßt. Dabei ist aus den Erkenntnissen der Implementationsforschung zu beachten, daß die verwaltungsförmige Umsetzung eines politischen Programms in einem professionalisierten Verwaltungsapparat mit routinisierten Handlungsabläufen erfolgt. Diese Handlungsroutinen können als Implementationsschranken wirken. Sie sind daher zu ermitteln und als Filter für die Programmumsetzung zu berücksichtigen.

2.1

Bivariate Analysen auf der Grundlage der Gesamtstichprobe

(1)

Tatbestand

Eine naheliegende Grundüberlegung bei der Analyse staatsanwaltschaftlicher Entscheidungen ist, daß es Delikte gibt, die eher für eine Verfahrenseinstellung akzeptabel erscheinen als andere. Der Zusammenhang dürfte neben der strafgesetzlich fixierten Schwerereihenfolge — und über sie hinausweisend — von der öffentlichen Thematisierung der Deliktsschwere beeinflußt werden. So werden Eigentumsdelikte heute als weniger schwerwiegend eingeschätzt als Gewaltdelikte, entgegen der strafrechtlichen Höherbewertung des Diebstahlstatbestands gegenüber der Körperverletzung (vgl. §§ 242 und 223 StGB), und damit eher als einstellungsfahig angesehen. Hier spielen neben der öffentlichen Wahrnehmung allerdings auch Wandlungen in der Gestalt und der Bedeutung des persönlichen Eigentums eine Rolle. So ist im langfristigen Vergleich die zukunftssichernde Bedeutung des Eigentums durch rechtsförmige Anspüche gegenüber Sozialversicherungsträgern verringert worden. Gleichzeitig ist die Ersetzbarkeit des Eigentums dank industrieller Massenfertigung und hohem Verbreitungsgrad von Sachversicherungen gestiegen und damit die persönliche Verletzbarkeit durch Diebstahl reduziert worden. Die öffentliche und private Sensibilität gegenüber Gewalt dürfte hingegen deutlich gewachsen und in deren Folge die Ablehnung von Gewalt zugenommen haben (vgl. etwa Stephan 1976, 103).

473

Bivariate Analysen

Tab. 2.1:

Deliktsart und staatsanwaltliche Erledigung

DELIKTSART ERLEDIGUNG

Diebstahl

Körperverletzung

Sachbeschädigung

Summe

Anklage

792 50%

138 85%

52 58%

982 53%

Informalisierung

793 50%

25 15%

38 42%

856 47%

Summe

1585

163

90

1838

χ 2 = 72,22; « < 0,001; Cramer's V = 0,20

Die formulierte Hypothese bestätigt sich. Während Diebstahl und Sachbeschädigung eher als einstellungsfahig angesehen werden, stellt eine informelle Erledigung bei den Körperverletzungsdelikten die Ausnahme dar. Dieser Zusammenhang bleibt auch dann erhalten, wenn man berücksichtigt, daß die Körperverletzungsverfahren, anders als die auf Diebstahl gerichteten Verfahren, einer Vorauslese durch den möglichen Verweis auf den Privatklageweg und den hier häufiger fehlenden Strafantrag unterliegen. Stellt man den Anklageentscheidungen alle Formen der Verfahrenseinstellung (außer mangels Tatverdachts) gegenüber, also auch den Verweis auf die Privatklage mit anschließender Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO, so zeigt sich bei den Diebstahlsdelikten ein Verhältnis von 49 % Anklagen gegenüber 51 % Einstellungen, während bei der Körperverletzung noch immer die Anklagen mit 64 % deutlich die Einstellungen (26 %) überwiegen. Sowohl aufgrund dieser Tatsache als auch aus den vorgetragenen inhaltlichen Erwägungen heraus, daß die drei in dieser Untersuchung repräsentierten Delikte gesellschaftlich unterschiedlich bewertete Rechtsgüter schützen, wird die Analyse der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsbedingungen und der Modellauswirkung für jeden Tatbestand getrennt vorgenommen. Nur bei Tat-/Tätermerkmalen, die sich bei allen Deliktstypen auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung gleichermaßen auswirken, werden die Berechnungen auf der Grundlage der Gesamtstichprobe vorgenommen. Das gilt für die nachfolgend geprüften Variablen "Art der Aussage", "Anzahl der Tatvorwürfe" und "Vorbelastung".

474

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

(2)

Art der Aussage

Obwohl weder eine informelle Erledigung nach § 45 Abs. 2 noch eine Entscheidung gemäß § 153 StPO ein Geständnis voraussetzt, lautet die zweite Hypothese, daß eine informelle Erledigung nur dann zu erwarten ist, wenn der Beschuldigte ein Geständnis ablegt, wie es an sich nur in § 45 Abs. 1 gefordert wird. Denn nicht geständige Beschuldigte erscheinen dem Entscheidungsträger vermutlich als weniger kooperationsbereit; eine höhere Anklagequote ist hier wahrscheinlich.

Tab. 2.2:

Art der Aussage und staatsanwaltliche Erledigung

ART DER AUSSAGE ERLEDIGUNG Anklage

Informalisierung

Summe

Aussageverweigerung

Bestreiten

Teil-/Geständnis

Summe

84 92%

152 78%

607 44%

843 50%

7 8%

44 22%

777 56%

828 50%

91

196

1384

1671

χ 2 = 145,42; α < 0,001; Cramer's V = 0,30

Als besonders unkooperatives Verhalten wird offenbar die Aussageverweigerung angesehen. Sie führt, mit wenigen Ausnahmen, zur Anklage. Offensichtlich wird sie — im Gegensatz zur rechtlichen Einordnung — als Belastungsfaktor angesehen. Das Leugnen der Tat führt ebenfalls meist zur Anklage; in besonderen Fällen ist die Staatsanwaltschaft dennoch bereit, eine informelle Erledigung zu wählen. Nur wer ein Geständnis abgelegt hat, hat größere Chancen, ein förmliches Verfahren zu vermeiden. Dieser Zusammenhang bleibt, wie bereits betont, auch bei Kontrolle der Deliktsvariablen stabil.

(3)

Anzahl der Tatvorwürfe im laufenden Ermittlungsverfahren

Je mehr Taten einem Beschuldigten vorgeworfen werden, desto weniger wird ihm der Status des Gelegenheitstäters zuerkannt und eine Spontanbewährung angenommen. Eine formelle Erledigung liegt hier nahe. Auch diese These ließ sich bestätigen.

475

Bivariate Analysen

Tab. 2.3:

Anzahl der Tatvorwürfe und staatsanwaltliche Erledigung

ANZAHL DER TATVORWÜRFE ERLEDIGUNG

Einer

Zwei

Drei oder mehr

Summe

Anklage

758 49%

110 74%

114 83%

982 53%

Informalisierung

794 51%

38 26%

24 17%

856 47%

Summe

1552

148

138

1838

χ 2 = 86,33; α < 0,001; Cramer's V = 0,22

Eine Beschuldigung, die sich nur auf eine einzelne Tat richtet, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine informelle Erledigung zur Folge. Werden dem Beschuldigten zwei Taten vorgeworfen, überwiegt die Anzahl der Anklagen bereits deutlich. Werden dem Tatverdächtigen drei oder mehr Taten zur Last gelegt, erfolgt fast immer eine Anklage.

(4)

Strafrechtliche Vorbelastung des Beschuldigten

Die vierte These lautet, daß mit zunehmender Anzahl der strafrechtlichen Vorbelastungen die Wahrscheinlichkeit sinkt, daß die Staatsanwaltschaft eine informelle Erledigung wählt. Diese These wurde sowohl anhand der Variablen "Vorbelastung nach der hausinternen Zentralkartei" als auch anhand der Variablen "Vorbelastung nach dem Erziehungs- oder Strafregisterauszug" überprüft (später wird beides zusammengefaßt als "Vorbelastung" bezeichnet). Zu beachten ist, daß nur in jedem fünften Fall der Akte ein Registerauszug beiliegt. Betrachtet man Tabelle 2.4, so kommt man zur Feststellung, daß bei zwei und mehr Vorbelastungen nur noch in Ausnahmefallen eine informelle Erledigung erfolgt. Bereits bei einer einzigen Eintragung in der Zentralkartei überwiegen im Entscheidungsmuster die Anklagen. Im Hinblick auf die Anzahl der Erziehungsregistereinträge gilt schon bei einer Eintragung, daß eine informelle Erledigung nur noch im Ausnahmefall gewählt wird (10 %; bei zwei Eintragungen 3 %; bei drei oder mehr Vorverfahren keine Informalisierung). Dies könnte damit zusammenhängen, daß ein Registerauszug vermutlich nur in schwereren Fällen angefordert wird (Informalisierungsquote bei fehlender Eintragung: 30 %), wobei dann

476

Staatsanwaitschaftliche Entscheidung

eine informelle Erledigung nicht mehr akzeptabel erscheint. Nur wenn der Beschuldigte in einem solchen Fall strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist, besteht eine höhere Chance auf informelle Erledigung.

Tab. 2.4:

Strafrechtliche Vorbelastung des Beschuldigten nach Zentralkartei und staatsanwaltliche Erledigung

ANZAHL STRAFRECHTLICHER VORBELASTUNGEN ERLEDIGUNG

Keine

Eine

Zwei

Anklage

299 29%

188 67%

137 84%

358 96%

982 53%

Informalisierung

722 71%

93 33%

27 16%

14 4%

856 47%

Summe

1021

281

164

372

1838

Drei oder mehr Summe

χ 2 = 593,41; α < 0,001; Cramer's V = 0,57

Die übrigen unabhängigen Variablen werden im folgenden für die einzelnen Deliktsgruppen getrennt betrachtet. In der Aktenerhebung wurden für die Tatbestandsgruppen auch einige deliktsspezifische Einflußfaktoren zusätzlich erhoben, so z.B. der Verletzungsgrad des Geschädigten bei einem Körperverletzungsdelikt. Darüber hinaus gibt es Variablen, die zwar für alle Tatbestände erhoben wurden, jedoch in der Bedingungsanalyse nur bei bestimmten Delikten einen Zusammenhang zeigten. So ist beispielsweise das Geschlecht der Geschädigten bei einer Körperverletzung eine entscheidungsbeeinflussende Variable, während es bei einem Diebstahlsdelikt keine Entscheidungserheblichkeit besitzt. Schließlich mag es deliktsspezifische Entscheidungsmuster der Staatsanwälte geben, die nur bei Konstanthaltung der Deliktsvariablen ermittelt werden können. Da auch die nur im Stadtbezirk verfügbaren Variablen aus dem Informationsbogen in die Bedingungsanalyse einbezogen werden sollen, ist es im weiteren Verlauf der Untersuchung erforderlich, die deliktsspezifische Zusammenhangsanalyse auch getrennt für die Untersuchungs- und die Kontrollgruppe vorzunehmen und zu referieren.

Bivariate

2.2

477

Anal/sen

Bivaríate Analysen auf der Basis einer Teiistichprobe: Diebstahlsdelikte

2.2.1

Verfahren aus Stadt und Umland zusammen analysiert

Für das Delikt Diebstahl enthält der Aktenerhebungsbogen u.a. zwei wichtige Kategorien, die nur bei dieser Tatbestandsgruppe erhoben werden konnten, nämlich die strafrechtlich unterschiedenen Diebstahlstatbestände und der Wert der gestohlenen Gegenstände. Als Diebstahlstatbestände werden die schon in Tabelle 1.2 vorgestellten Formen unterschieden. Diese stellen zugleich eine Schwereabstufung innerhalb der Deliktsart dar.

(1)

Diebstahlsart und Schadenshöhe

Die Forschungshypothese lautet: Je schwerwiegender die Begehungsform des Diebstahls ausfallt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer informellen Erledigung. Neben den unterschiedlichen Diebstahlsarten dürfte auch der Wert des gestohlenen Guts Einfluß auf die Erledigung haben. Die Hypothese lautet hier: Mit zunehmendem Wert der gestohlenen Gegenstände (Schadenshöhe) sinkt die Wahrscheinlichkeit, eine Einstellung des Verfahrens zu erwirken. In vorab durchgeführten narrati ven Interviews mit nordrhein-westfälischen Staatsanwälten (vgl. 2. Buch) wurde eine Schadenshöhe von 100 DM als Grenze für die informelle Erledigung genannt. Wir haben daher die Variable Schadenshöhe nicht in ihrer ursprünglichen metrischen Form belassen, sondern sie in eine Rangskala überführt. Diese

Tab. 2.5:

Diebstahlsart sowie Schadenshöhe und staatsanwaltliche Erledigung

DIEBSTAHLSART

Bis 100

1011.000

Über 1.000

786 50%

205 25%

433 71%

154 94%

792 50%

22 9%

791 50%

603 75%

181 29%

9 6%

793 50%

248

1577

808

614

163

1585

Ladendiebst.

Sonst. Diebst.

Anklage

382 35%

178 73%

226 91%

Informalisierung

702 65%

67 27%

Summe

1084

245

ERLEDIGUNG

SCHADENSHÖHE IN DM

Einbr.- Summe diebst.

χ 2 = 312,55; α < 0,001; Cramer's V = 0,45

χ = 428,46; α < 0,001; Cramer's V = 0,52

Summe

478

Staatsanwaltschaftliche

Entscheidung

hat folgende Ausprägungen: geringer Schaden (bis 100 DM), mittlerer Schaden (101 DM bis 1.000 DM) und hoher Schaden (über 1.000 DM). Beide Thesen lassen sich auf bivariater Ebene bestätigen. Wird einem Tatverdächtigen ein Einbruchsdiebstahl vorgeworfen, der in der Bewertung durch die Geschädigten wie auch in der Gewichtung der Staatsanwaltschaft eher einem Gewaltdelikt gleicht (Eindringen in eine umschlossene Privatsphäre), so ist fast immer mit einer Anklage zu rechnen. Liegt dem Tatvorwurf ein Ladendiebstahl zugrunde, der in einem öffentlich zugänglichen Raum stattfindet, so wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Einstellung des Verfahrens erfolgen. Auch zwischen der Variablen Schadenshöhe und der Art der Erledigung gibt es eine hoch signifikante Beziehung. Bei einem Schaden über 1.000 DM muß der Tatverdächtige mit einer Anklage rechnen. Liegt der Schaden in einem Bereich von 101 bis 1.000 DM, so überwiegen ebenfalls noch die Anklagen. Bei einem Schaden bis 100 DM hingegen dominiert die Verfahrenseinstellung.

(2)

Tatbegehung allein/mit anderen

In einem Drittel der Fälle hat der Beschuldigte die Tat zusammen mit einer weiteren Person begangen. Gemeinsam begangene Delikte lassen sowohl eine Deutung als Milderungsfaktor zu, sofern das Gruppendelikt als jugendtypisches Gemeinschaftshandeln interpretiert wird, als auch eine Deutung als erschwerender Faktor. Dies gilt dann, wenn die gemeinsam verübte Tat als organisierte Handlung angesehen wird.

Tab. 2.6:

Tatbegehung allein / mit anderen und staatsanwaltliche Erledigung TATBEGEHUNG MIT ANDEREN Ja

Nein

Summe

Anklage

383 67%

409 40%

792 50%

Informalisierung

187 33%

606 60%

793 50%

570

1015

1585

ERLEDIGUNG

Summe

χ 2 = 104,56; α < 0,001; phi = 0,26

Bivaríate Analysen

479

Im Ergebnis zeigt sich, daß die Tatbegehung mit anderen eher zu einer Anklage führt als das allein verübte Delikt. Offenbar wird gemeinsames Handeln eher als Ausdruck organisierter Straffälligkeit gedeutet. Es könnte sich hierbei jedoch auch um ein rein bürokratisch begründetes Phänomen handeln. Aus arbeitsökonomischen Gründen ist es für den einzelnen Staatsanwalt effektiver, alle Tatverdächtigen gemeinsam anzuklagen (vgl. hierzu die Ergebnisse des 2. Buches, Abschnitt 2.2.1), als sie nach individuellen Gesichtspunkten gesondert zu betreibenden Verfahren zu unterwerfen.

(3)

Geschlecht der Beschuldigten und Sozialvariablen

Auch im Hinblick auf das Geschlecht der Beschuldigten können wiederum zwei konträre Zusammenhangsvermutungen formuliert werden. Der einen These zufolge erscheint die Delinquenz weiblicher Jugendlicher bzw. Heranwachsender als weniger schwerwiegend und in der Öffentlichkeit weniger skandalisiert als die Delikte männlicher Beschuldigter. Der anderen These zufolge ist zu vermuten, daß die Gelegenheitsdelinquenz bei männlichen Beschuldigten eher als "normal" und zur jugendtypischen Normfindungsphase gehörig angesehen wird als bei weiblichen. Demzufolge ist gegenüber weiblichen Beschuldigten eine geringere Informalisierungsbereitschaft zu erwarten als gegenüber männlichen Tatverdächtigen. In der Literatur liegen unterschiedliche Befunde darüber vor, ob der soziale Status eines Beschuldigten, meist operationalisiert durch einen Schichtindex aus Bildung, Beruf und Einkommen, einen Einfluß auf die Entscheidungen der Instanzen sozialer Kontrolle hat (vgl. etwa Opp/Peuckert 1971; Peters 1973; Schumann/ Winter 1973). Wie oben dargestellt, erfahrt der Staatsanwalt kaum etwas über den Bildungsstand, die berufliche Ausbildung oder die derzeitige Tätigkeit der Eltern des Beschuldigten. Die aktenmäßig erfaßten Daten erlauben es daher nicht, einen Schichtindex zu bilden. Deshalb wurde versucht, die Merkmale, die in der Regel zur Bildung eines solchen Indexes (meist bezogen auf die Eltern) herangezogen werden, aus den Daten über die Tatverdächtigen zu gewinnen. Prüft man den Einfluß der Variablen schulischer Werdegang, berufliche Ausbildung, derzeitige Tätigkeit, Nationalität und derzeitige Wohnform einzeln im Hinblick auf die Erledigungsart, so erhält man keine signifikanten Zusammenhänge. Es wurde deshalb versucht, die vorgenannten Variablen zu einem Index zusammenzufügen. Jede Variable wurde so recodiert, daß sie eine positive, auf eine höhere Schicht verweisende, und eine negative, auf eine niedrigere Schicht verweisende Ausprägung aufweist. Für die Variable schulischer Werdegang bedeutet dies beispielsweise: Schulabbrecher und Sonderschüler erhalten einen negativen Wert, Absolventen der übrigen Schulformen erhalten einen positiven Wert. Weist ein Tatverdächtiger nun zwei oder mehr negative Werte bei den genannten Sozialvariablen

480

Staatsanwaltschaftìiche Entscheidung

auf, so wird er einer Sozialgruppe zugerechnet, die der unteren Ausprägung eines Schichtindexes entspricht. Alle anderen gehören zu der Gruppe, die eher einer mittleren Schicht zuzurechnen sind. Diese Variable "soziale Gruppe" wurde auf ihren Zusammenhang mit der Ziel variablen geprüft. Die Hypothese lautet: Wer der negativ besetzten Sozialgruppe angehört, wird seltener mit einer informellen Erledigung rechnen können.

Tab. 2.7:

Geschlecht sowie soziale Gruppe der Beschuldigten und staatsanwaltliche Erledigung

GESCHLECHT

SOZIALE GRUPPE

Männlich

Weiblich

Summe

Negativ

Positiv / neutral

Anklage

640 56%

152 35%

792 50%

217 69%

575 45%

792 50%

Informalisierung

507 44%

286 65%

793 50%

% 31%

697 55%

793 50%

1147

438

1585

313

1272

1585

ERLEDIGUNG

Summe

χ 2 = 55,58; α < 0,001; phi = 0,19

Summe

χ 2 = 57,52; α < 0,001; phi = 0,19

Auf der bivariaten Analyseebene gerechnet führt das weibliche Geschlecht bei Beschuldigten eher zur Einstellung des Verfahrens. Das Ergebnis zum Zusammenhang zwischen sozialer Gruppe und staatsanwaltlicher Erledigung läßt auf der bivariaten Ebene den Schluß zu, daß sich für einen Beschuldigten, der negativ besetzte, zur Kumulation tendierende soziale Voraussetzungen aufweist, das Risiko einer Anklageerhebung erhöht. In der später folgenden multivariaten Analyse wird zu prüfen sein, wie weit diese Befunde durch Interkorrelationen zwischen Geschlecht bzw. Sozialstatus einerseits und Tatschwere oder -häufigkeit andererseits bedingt sind.

2.2.2

Verfahren aus Stadt und Umland getrennt analysiert

Im folgenden werden die präventionsrelevanten Variablen des Infonnationsbogens auf ihre möglichen Zusammenhänge mit der Zielvariablen, also auf Verfahrenseinstellung versus Anklage, geprüft. Da diese Entscheidungsbedingungen erst durch

Bivaríate Analysen

481

das Informationsmodell der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt wurden, beschränken sich die Auswertungen zum Informationsbogen auf den Stadtbezirk. Soweit der Aktenerhebungsbogen, der bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk und im Umland zur Anwendung kam, parallele Variablen enthielt (etwa zur Reuebekundung oder zur Schadenswiedergutmachung), werden den Auswertungen zum Informationsbogen, die auf den Stadtbezirk beschränkt sind, Auswertungen der Parallel variablen zu den Umlandverfahren gegenübergestellt.

(1)

Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat

Neben dem Geständnis wird die Reuebekundung als weiteres Kooperationsmerkmal des Beschuldigten angesehen, welches für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft von Bedeutung sein kann. Die These lautet: Sieht der Tatverdächtige das Unrecht seiner Tat ein, so hat er größere Chancen, daß sein Verfahren informell behandelt wird, als bei einer indifferenten oder negativen Haltung.

Tab. 2.8:

Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat und staatsanwaltliche Erledigung

Stadt

Umland REUEBEKUNDUNG

ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

231 70%

Informalisierung

Summe

Summe

Nein

Ja

106 26%

337 46%

332 74%

124 31%

456 54%

100 30%

297 74%

397 54%

117 26%

279 69%

396 46%

331

403

734

449

403

852

χ 2 = 136,64; α < 0,001; phi = 0,43

Summe

χ 2 = 157,40; α < 0,001; phi = 0,43

Die vorangestellte These läßt sich für beide Gruppen bestätigen. Zeigt sich der Tatverdächtige nicht reuig, so sinken seine Chancen auf eine Einstellung des Verfahrens deutlich.

482

(2)

Staatsanwaltschaftiiche

Entscheidung

Verhalten des Beschuldigten während der Vernehmung

Der Polizeibeamte kann im Informationsbogen dem Staatsanwalt Hinweise darüber zukommen lassen, wie sich der Beschuldigte in der Vernehmung dargestellt bzw. verhalten hat. Dies können sowohl negative wie positive Angaben sein. Das Verhalten des Beschuldigten, etwa bezogen darauf, wie weit er sich durch die förmliche Intervention beeindruckt zeigt, wird als Indiz für eine erzieherische Wirkung des Verfahrens i.S.v. § 45 Abs. 2 gewertet. Am häufigsten wurde von den Polizeibeamten an dieser Stelle vermerkt, daß der Tatverdächtige ohne Umschweife geständig war. Als Hypothese ist demnach zu vermuten, daß bei Vorliegen einer positiven Bemerkung die Chance auf eine informelle Erledigung steigt.

Tab. 2.9:

Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk BESCHULDIGTENVERHALTEN

ERLEDIGUNG

Nicht positiv

Positiv

Summe

Anklage

156 59%

181 39%

337 46%

Informalisierung

110 41%

287 61%

397 54%

266

468

734

Summe

χ 2 = 26,44; α < 0,001; phi = 0,19

Die positive Einschätzung des Beschuldigten durch den Vernehmungsbeamten zeigt einen signifikanten Zusammenhang mit der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung: die Informalisierungschance wächst deutlich. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß diese Variable stark mit anderen einstellungsrelevanten Merkmalen zusammenhängt, z.B. mit dem Geständnis oder der Reuebekundung des Beschuldigten. Daher könnte es sich bei diesem Einfluß auch um eine Scheinkorrelation handeln (vgl. unten Kapitel 3). Für die Umlandgruppe existiert keine vergleichbare Variable im Aktenerhebungsbogen.

(3)

Schadenswiedergutmachung

Die Variable Schadenswiedergutmachung haben wir mit zwei Extremausprägungen in die Berechnungen zur staatsanwaltlichen Entscheidungsfindung einbezogen.

Bi varíate Analysen

483

Erstens, die Schadenswiedergutmachung ist bereits erfolgt, zweitens, die Schadenswiedergutmachung wurde ausdrücklich verweigert. Die These hierzu lautet: Hat der Tatverdächtige den Schaden wiedergutgemacht, ist dies als Zeichen seiner Schuldeinsicht zu werten. Damit wachsen seine Chancen, eine Verfahrenseinstellung zu erwirken. Lehnt der Tatverdächtige jedoch offen eine Schadenswiedergutmachung ab, so hat er mit einer Anklage zu rechnen.

Tab. 2.10:

Schadens Wiedergutmachung durch den Beschuldigten und staatsanwaltliche Erledigung

Stadt

Umland

SCHADENSWIEDERGUTMACHUNG VERWEIGERT ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

269 41%

Informalisierung

Summe

Summe

Nein

Ja

68 86%

337 46%

444 53%

12 86%

456 54%

386 59%

11 14%

397 54%

394 47%

2 14%

396 46%

655

79

734

838

14

852

χ 2 = 55,71; α < 0,001; phi = 0,28

Summe

χ 2 = 4,69; α = 0,030; phi = 0,08

Die Weigerung, den Schaden wiedergutzumachen, hat einen signifikanten Einfluß auf die Ziel variable. Aufgrund der geringen Fallzahlen (Umland: η = 14) sollte das Ergebnis jedoch nicht überbewertet werden. Insgesamt gesehen wird zwar im Falle einer Schadenswiedergutmachung prozentual häufiger eingestellt als ohne Wiedergutmachung. Der Unterschied ist jedoch auf der bivariaten Ebene nicht signifikant.

(4)

Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten

Hierunter sind Handlungsweisen des Geschädigten gefaßt, die es dem Beschuldigten leichter gemacht haben oder ihn provoziert haben könnten, die Tat zu begehen. Die Hypothese lautet, daß bei einem solchen Geschädigtenverhalten der

484

Staatsanwaltschafüiche Entscheidung

Beschuldigte mit der weniger eingriffsintensiven Erledigung rechnen kann. Diese These hat sich nicht bestätigt.

(5)

Besondere Bemerkungen des Polizeibeamten

Im Gegensatz zu den unter Punkt (2) dargestellten Variablen beziehen sich die "Besonderen Bemerkungen" nicht nur auf das Verhalten des Beschuldigten während der Vernehmung; sie stellen vielmehr eine abschließende Bewertung des Beschuldigten und des Tatvorwurfs dar. Auch diese Bemerkungen können einstellungsbegünstigende wie -hinderliche Assoziationen auslösen. Diese Einschätzungsvariable wurde mit Hilfe der benannten Aktenerhebung auch für die Gruppe der Umlandverfahren ermittelt. Hier wurden die Bemerkungen erfaßt, die im Rahmen von polizeilichen "Vermerken" über den Beschuldigten gemacht werden. Da die Polizeibeamten, die in den Umlandfallen ermittelten, nicht zusätzlich für die Entscheidungserheblichkeit abschließender Tat-/Täterbewertungen sensibilisiert worden waren, wurden hier wesentlich weniger einschlägige Eintragungen gefunden (positive Bemerkungen: η = 6, negative Bemerkungen: η = 25). Die Bemerkungen der Polizeibeamten stehen in signifikantem Zusammenhang mit den Entscheidungen der Staatsanwaltschaft. Fällt die Bemerkung positiv aus, steigen die Chancen auf eine informelle Erledigung. Ist sie jedoch negativ, sinkt die Einstellungswahrscheinlichkeit. Das gilt nur für die Stadtfalle. Im Umland zeigen lediglich die negativen Bemerkungen einen signifikanten Zusammenhang mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft.

Tab. 2.11:

Besondere (positive) Bemerkungen und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk

POSITIVE BEMERKUNG ERLEDIGUNG

Nicht vorhanden

Vorhanden

Summe

Anklage

331 48%

6 12%

337 46%

Informalisierung

353 52%

44 88%

397 54%

684

50

734

Summe

χ 2 = 23,41; α < 0,001; phi = 0,18

Bivariate Analysen Tab. 2.12:

485

Besondere (negative) Bemerkungen und staatsanwaltliche Verfahrenserledigung Stadt

Umland NEGATIVE BEMERKUNG

Nicht vorhanden

Vorhanden

Summe

Anklage

296 43%

41 79%

337 46%

433 52%

23 92%

456 54%

Informalisierung

386 57%

11 21%

397 54%

394 48%

2 8%

396 46%

682

52

734

827

25

852

ERLEDIGUNG

Summe

Vorhanden Nicht vorhanden

χ 2 = 23,04; α < 0,001; phi = 0,18

(6)

Summe

χ 2 = 13,78; α < 0,001; phi = 0,13

Erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld

Erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld gelten in Literatur und Rechtsprechung als erzieherische Maßnahme i.S.v. § 45 Abs. 2 Nr. 1, die eine Ahndung durch den Richter entbehrlich macht. Die entsprechende Zusammenhangsvermutung lautet: Wenn andere Erziehungsinstanzen bereits reagiert haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Staatsanwaltschaft eine informelle Erledigung wählt.

Tab. 2.13:

Erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk ERZIEHERISCHE REAKTIONEN

ERLEDIGUNG

Nicht angeordnet

Angeordnet

Summe

Anklage

283 54%

54 26%

337 46%

Informalisierung

240 46%

157 74%

397 54%

523

211

734

Summe

χ 2 = 48,10; α < 0,001; phi = 0,26

486

Staatsan waitschaftiiche Entscheidung

Die Variable "erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld" zeigt nur bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk eine signifikante Beziehung zur Zielvariablen. Zu beachten ist hier, daß in der Umlandgruppe nur selten solche Reaktionen in der Akte vermerkt sind.

(7)

Erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren

Neben den bisher genannten Einflußgrößen, die sich in den Verfahrensakten aus dem Stadtbezirk und aus dem Umland gefunden haben, enthält der im Stadtbezirk eingesetzte Informationsbogen auch solche Kriterien, die keine Parallele in den Umlandakten finden. Der Informationsbogen weist neben der Frage nach erzieherischen Reaktionen des sozialen Umfeldes auch eine Frage nach der erzieherischen Wirkung des bisherigen Verfahrens auf. Zu letzterer Kategorie soll der Polizeibeamte seinen persönlichen Eindruck wiedergeben. Die Zusammenhangsvermutung lautet: Hält der Polizeibeamte eine erzieherische Wirkung für gegeben, steigen die Chancen auf eine Einstellung des Verfahrens.

Tab. 2.14:

Erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren Erledigung im Stadtbezirk

und

staatsanwaltliche

ERZIEHERISCHE WIRKUNG ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

219 65%

118 30%

337 46%

Informalisierung

119 35%

278 70%

397 54%

338

396

734

Summe

Summe

χ 2 = 88,52; α < 0,001; phi = 0,35

Auch diese Variable weist entsprechend der Ausgangsvermutung einen deutlichen Zusammenhang mit der Zielvariablen auf. Allerdings ist zu bedenken, daß diese Variable sehr stark mit dem polizeilichen Vorschlag zum Fortgang des Verfahrens zusammenhängen könnte und folglich der bivariate Einfluß im multivariaten Modell nicht unbedingt erhalten bleiben muß.

487

Bivariate Analysen

(8)

Polizeilicher Vorschlag zum Fortgang des Verfahrens

Dem polizeilichen Vorschlag zum Verfahrensfortgang dürfte ebenfalls Einfluß auf die Verfahrenswahl des Staatsanwalts zukommen, drückt sich darin doch die Summe der polizeilichen Einschätzungen über den Beschuldigten aus. Die These lautet: Fällt der Polizeivorschlag positiv für den Beschuldigten aus (es wird eine informelle Erledigung vorgeschlagen), steigen seine Chancen auf eine Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft. Ist der Vorschlag jedoch negativ (es wird eine Anklage vorgeschlagen), so sinkt die Einstellungsquote. In 9,8 % der anklagefähigen Diebstahlsfälle wurde von den zuständigen Polizeibeamten keine Stellungnahme abgegeben. Da aber davon ausgegangen wird, daß hinter diesen Enthaltungen keine systematische Verweigerung steht, wird die These dahingehend erweitert, daß eine Enthaltung keinerlei Einfluß auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft hat.

Tab. 2.15:

Polizeilicher Vorschlag und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk VORSCHLAG INFORMELL

ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

119 72%

Informalisierung

Summe

VORSCHLAG FORMELL

Summe

Nein

Ja

146 29%

265 40%

180 32%

157 95%

337 46%

46 28%

351 71%

397 60%

389 68%

8 5%

397 54%

165

497

662

569

165

734

χ 2 = 167,44; et < 0,001; phi = 0,48

Summe

χ 2 = 205,25; α < 0,001; phi = 0,53

Die oben formulierte These bestätigt sich in allen Punkten. Auffallend ist, daß bei einem negativen Vorschlag des Polizeibeamten der Zusammenhang deutlich stärker ist als bei einem positiven Vorschlag. Die fehlende Stellungnahme des Polizeibeamten hat für sich betrachtet demgegenüber keinerlei Auswirkung auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft.

488

2.3

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Körperverletzungsdelikte

2.3.1

Verfahren aus Stadt und Umland zusammen analysiert

Bevor die Auswertungsbefunde vorgestellt werden, muß darauf hingewiesen werden, daß für das Delikt Körperverletzung nur eine vergleichsweise geringe Fallzahl an anklagefähigen Verfahren (n = 163) zur Verfügung steht. Allerdings kann davon ausgegangen werden, daß die Erhebung der Körperverletzungsverfahren nahezu einer Totalerhebung gleichkommt, so daß an das Signifikanzniveau nicht die gleichen Ansprüche wie bei den Diebstahlsfallen gestellt werden müssen. Das gilt in gleicher Weise für das Delikt Sachbeschädigung (anklagefahige Fälle: η = 90, siehe unten Abschnitt 2.4).

(1)

Körperverletzungsfolgen (Grad der Verletzung)

Der Tatschwereindikator ist hier der Grad der Verletzung des Geschädigten. Die Variable wurde zu zwei Ausprägungen zusammengefaßt, nämlich kein bzw. ein geringer Schaden und ein mittlerer bzw. schwerer Schaden. Als Hypothese kann formuliert werden: Je gravierender der Körperverletzungsschaden ausfallt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, eine Einstellung des Verfahrens zu erwirken.

Tab. 2.16:

Verletzung des Geschädigten und staatsanwaltliche Erledigung VERLETZUNG DES GESCHÄDIGTEN Keine/leichte

Mittelschwere/schwere

Summe

Anklage

89 82%

49 89%

138 85%

Informalisierung

19 18%

6 11%

25 15%

108

55

163

ERLEDIGUNG

Summe

χ 2 = 0,79; α = 0,373; phi = 0,09

Die Körperverletzungsfolgen zeigen zwar einen Effekt in der erwarteten Richtung; dieser ist jedoch gering und bleibt unterhalb des geforderten Signifikanzniveaus.

489

Bivaríate Analysen

(2)

Tatbegehung allein/mit anderen

Wird dem Beschuldigten vorgeworfen, die Tat gemeinschaftlich mit anderen begangen zu haben, so ist anstelle des Grundtatbestands der Körperverletzung gemäß § 223 StGB der qualifizierte Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 223a StGB gegeben. Die Zusammenhangsvermutung lautet entsprechend: Wenn der Tatverdächtige nicht allein gehandelt hat, steigt sein Risiko, eine Anklage zu erhalten.

Tab. 2.17:

Tatbegehung allein / mit anderen und staatsanwaltliche Erledigung TATBEGEHUNG MIT ANDEREN

ERLEDIGUNG Anklage

Informalisierung

Summe

Ja

Nein

Summe

67 92%

71 79%

138 85%

6 8%

19 21%

25 15%

73

90

163

χ 2 = 4,21; α = 0,040; phi = 0,18

Diese These hat sich, wenn auch nicht auf einem hohen Signifikanzniveau, bestätigt.

(3)

Berufung auf Rechtfertigungsgrund

Bei einem Körperverletzungsdelikt spielt das Verhalten des Geschädigten oft eine wichtige Rolle. Beruft sich der Beschuldigte auf einen Rechtfertigungsgrund (der zwar letztlich nicht durchgreifend war, da das Verfahren sonst nach § 170 Abs. 2 StPO hätte eingestellt werden müssen), so kann dies als Indiz dafür gelten, daß sich die Körperverletzung nicht als einseitiger aggressiver Akt des Täters darstellt. Die Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund könnte sich somit indirekt zugunsten einer milderen Reaktion auswirken. Das Geltendmachen eines Rechtfertigungsgrunds steht in der Tat in signifikantem Zusammenhang mit der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung. Es wirkt sich jedenfalls in der bivariaten Analyse - im Sinne der Ausgangsvermutung als Informalisierungsbedingung aus.

490

Staatsanwaltschafìliche Entscheidung

Tab. 2.18:

Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund und staatsanwaltliche Erledigung RECHTFERTIGUNGSGRUND

ERLEDIGUNG

Ja

Nein

Summe

Anklage

14 67%

124 87%

138 85%

Informalisierung

7 33%

18 13%

25 15%

21

142

163

Summe

χ 2 = 4,53; α = 0,033; phi = 0,19

(4)

Täter-Opfer-Beziehung

Auch die Tatsache, daß Tatverdächtiger und Geschädigter sich kannten, die Tat eher als Folge einer gestörten Kommunikation zu sehen ist und weniger als eine den Geschädigten überraschende Reaktion des Beschuldigten, kann sich auf die Verfahrensentscheidung auswirken. These: Wenn Tatverdächtiger und Geschädigter eine Vorbeziehung aufweisen, führt das häufiger zu einer informellen Erledigung. Diese These hat sich nicht bestätigt.

(5)

Geschlecht der Geschädigten

Liegt eine körperliche Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten unterschiedlichen Geschlechts vor, so könnte die Deutung des Geschehens als "Beziehungstat" gegenüber einer als "Straßenkriminalität" gewerteten Aggressionshandlung dem Staatsanwalt mehr Interpretationsspielraum lassen und zu einer milderen Beurteilung führen. Eine solche Bewertung entspricht auch der relativ geringen Beachtung, die innerfamiliäre Gewalt in der Öffentlichkeit findet. Das Geschlecht der Geschädigten steht, der Hypothese folgend, in einem signifikanten Zusammenhang mit der Ziel variablen. Frauen als Geschädigte, bei ganz überwiegend männlicher Täterschaft, führen die Entscheidung eher zur Verfahrenseinstellung und wirken gleichsam als Milderungsgrund.

Bivaríate Analysen

Tab. 2.19:

491

Geschlecht der Geschädigten und staatsanwaltliche Erledigung

GESCHLECHT DER GESCHÄDIGTEN ERLEDIGUNG

Männlich

Weiblich

Summe

Anklage

126 89%

10 53%

136 84%

Informalisierung

16 11%

9 47%

25 16%

142

19

161

Summe

χ 2 = 14,01; α < 0,001; phi = 0,32

(6)

Geschlecht der Beschuldigten und Sozialvariablen

Hier ist zunächst zu prüfen, ob sich bei den (wenigen) weiblichen Beschuldigten im Falle von Körperverletzung ein spezifisches Entscheidungsmuster zeigt. Möglicherweise werden Körperverletzungstaten von Frauen als weniger bedrohlich wahrgenommen und daher eher informell sanktioniert.

Tab. 2.20:

Geschlecht der Beschuldigten und staatsanwaltliche Erledigung GESCHLECHT DER BESCHULDIGTEN

ERLEDIGUNG

Männlich

Weiblich

Summe

Anklage

131 87%

7 58%

138 85%

Informalisierung

20 13%

5 42%

25 15%

151

12

163

Summe

χ 2 = 4,90; α = 0,027; phi = 0,21

Auch hier findet sich ein signifikanter Zusammenhang in der vermuteten Richtung. Weibliche Beschuldigte werden bei Körperverletzungsdelikten in der Tat in geringerem Umfang angeklagt als männliche Tatverdächtige. Die geringen Fallzahlen setzen der Generalisierungsfähigkeit des Ergebnisses allerdings Grenzen.

492

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Wie oben dargelegt wurde, konnte für Diebstahl ein Zusammenhang zwischen der Sozialstatusvariablen und der Verfahrenserledigung festgestellt werden. Deshalb wird auch für die Körperverletzung diese Variable geprüft. Hier zeigt sich jedoch kein signifikanter Zusammenhang.

2.3.2 (1)

Verfahren aus Stadt und Umland getrennt analysiert Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten

Anknüpfend an die verschiedenen Variablen, die sich auf die Interaktion zwischen Beschuldigtem und Geschädigtem beziehen, soll aus den Variablen des Informationsbogens zunächst die Kategorie des tatbegünstigenden Geschädigtenverhaltens bei den Körperverletzungsdelikten untersucht werden. These: Wenn dem Geschädigten ein tatbegünstigendes Verhalten zugeschrieben werden kann, wird eher eine informelle Erledigung erfolgen.

Tab. 2.21:

Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk TATBEGÜNSTIGENDES VERHALTEN

ERLEDIGUNG

Provokation

Keine Veranlassung

Summe

Anklage

12 57%

39 89%

51 78%

Informalisierung

9 43%

5 11%

14 22%

21

44

65

Summe

χ 2 = 6,58; α = 0,010; phi = 0,36

In der Stadtgruppe besteht auf der bivariaten Ebene ein signifikanter Zusammenhang zwischen beiden Variablen. Hier führt das tatbegünstigende Verhalten des Geschädigten in größerem Umfang zu einer informellen Erledigung. In der Umlandgruppe ist ein solcher Zusammenhang nicht belegbar.

493

Bivaríate Analysen

(2)

Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat

Der bei den Diebstahlsfallen festgestellte Zusammenhang zwischen Reue und Erledigungsart kann bei den Körperverletzungsdelikten nicht bestätigt werden. Dies gilt für beide Untergruppen.

(3)

Verhalten des Beschuldigten während der Vernehmung

Die Bemerkung des Polizeibeamten zum Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung betrifft gleichfalls "beiläufige" Erziehungseinwirkungen durch das Verfahren. Eine positive Bemerkung könnte wiederum eine bereits erfolgte erzieherische Einwirkung signalisieren und eine informelle Erledigung nahelegen.

Tab. 2.22:

Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk BESCHULDIGTENVERHALTEN

ERLEDIGUNG Anklage

Informalisierung

Summe

Nicht positiv

Positiv

Summe

33 97%

18 58%

51 78%

1 3%

13 42%

14 22%

34

31

65

χ 2 = 12,37; α < 0,001; phi = 0,47

Diese These konnte ebenfalls bestätigt werden.

(4)

Erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld

Die zentrale Frage des Informationsbogens richtet sich auf erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes gemäß § 45 Abs. 2. Die Hypothese lautet daher: Wenn bereits eine erzieherische Einwirkung einer anderen Person oder Institution erfolgt ist, so wirkt sich dies begünstigend für die Verfahrenseinstellung aus. Diese These konnte nicht bestätigt werden. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß erzieherische Maßnahmen bei Körperverletzungsdelikten nur selten aktenkundig wurden.

494

Staatsanwaltschaftliche

(5)

Entscheidung

Erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren

Wenn sich die erzieherische Reaktion anderer Personen oder Institutionen nicht auswirkt, so könnte gleichwohl die erzieherische Wirkung des Verfahrens konstatiert werden und einen Einfluß haben. These: Wenn der Polizeibeamte vermerkt, das Verfahren habe erzieherisch gewirkt, so wird eher eine Einstellung verfügt.

Tab. 2.23:

Erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk

ERZIEHERISCHE WIRKUNG ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

38 88%

13 59%

51 78%

Informalisierung

5 12%

9 41%

14 22%

43

22

65

Summe

Summe

χ 2 = 5,75; o = 0,017; phi = 0,34

Diese These konnte für den Stadtbezirk in der vermuteten Richtung bestätigt werden. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß diese Variable mit anderen Variablen wie dem Verhalten des Beschudigten in der Vernehmung oder mit besonderen Bemerkungen der Polizeibeamten in Zusammenhang steht. Insoweit bleibt abzuwarten, welche dieser Variablen sich in den multivariaten Analysen als erklärungskräftig bestätigen wird.

(6)

Besondere Bemerkungen des Polizeibeamten

Die im Informationsbogen enthaltenen Feststellungen zu einer erzieherischen Wirkung des Verfahrens und die Bemerkungen zum Verhalten des Beschuldigten während der Vernehmung haben jeweils signifikante Zusammenhänge mit der Erledigung gezeigt. Zu prüfen ist nun, ob dies ebenfalls für die zusammenfassenden besonderen Bemerkungen gilt. Im Gegensatz zu den Diebstahlsdelikten konnten bei der Körperverletzung keine signifikanten Beziehungen festgestellt werden. Allerdings lagen hier auch nur in wenigen Fällen derartige Bemerkungen vor.

Bivariate Analysen

(7)

495

Polizeilicher Vorschlag zum Fortgang des Verfahrens

Zum Abschluß soll wiederum der polizeiliche Entscheidungsvorschlag geprüft werden.

Tab. 2.24:

Polizeilicher Vorschlag und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk

VORSCHLAG INFORMELL ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

32 97%

Informalisierung

Summe

VORSCHLAG FORMELL

Summe

Nein

Ja

19 59%

51 78%

33 70%

18 100%

1 3%

13 41%

14 22%

14 30%

33

32

65

47

χ 2 = 11,45; α < 0,001; phi = 0,46

Summe



18

51 78% 14 22% 65

χ 2 = 5,18; α = 0,023; phi = 0,32

Der positive wie auch der negative Vorschlag stehen in signifikantem Zusammenhang mit der Entscheidung. Erneut keinen Einfluß hat die fehlende Stellungnahme des Polizeibeamten. Im Gegensatz zu den Diebstahlsdelikten ist hier der Zusammenhang zwischen dem positiven Vorschlag und der informellen Erledigung stärker als der Zusammenhang zwischen einem negativen Vorschlag und der Anklage.

2.4

2.4.1 (1)

Bivariate Analysen auf der Basis einer Teilstichprobe: Sachbeschädigungsdelikte Verfahren aus Stadt und Umland zusammen analysiert Schadenshöhe

Analog zur Prüfung bei den Diebstahls- und Körperverletzungsdelikten soll hier dem Einfluß der Schadenshöhe auf die Entscheidung nachgegangen werden. These: Je höher der Schaden, desto geringer ist die Chance auf eine Einstellung des Verfahrens. Hier wurde die Variable Schadenshöhe sowohl in der recodierten Form, wie sie bei den Diebstahlsdelikten zur Anwendung kam (niedriger, mittle-

496

Staatsanwaltschafüiche Entscheidung

rer, hoher Schaden), als auch in einer Variablenkonstruktion, die den Schaden in 50-DM-Schritten erfaßt, geprüft. Beide Variablenkonstruktionen zeigen auf der bivariaten Ebene keinen signifikanten Zusammenhang mit der Ziel variablen.

(2)

Tatbegehung allein/mit anderen

Das Delikt Sachbeschädigung gilt als jugendtypisch; es gilt insbesondere als "Gruppendelikt". Der mögliche Gruppendruck wird dann häufig als "Milderungsgrund" angesehen. Demnach könnte sich eine gemeinsame Tatbegehung eher positiv im Sinne der Verfahrenseinstellung auswirken. Deshalb lautet die These: Hat der Tatverdächtige die Tat allein begangen, so sinken seine Chancen auf informelle Erledigung.

Tab. 2.25:

Tatbegehung allein / mit anderen und staatsanwaltliche Erledigung

TATBEGEHUNG MIT ANDEREN ERLEDIGUNG

Ja

Nein

Summe

Anklage

28 47%

24 80%

52 58%

Informalisierung

32 53%

6 20%

38 42%

60

30

90

Summe

χ 2 = 7,79; α = 0,005; phi = 0,32

Wie die Tabelle zeigt, bestätigt sich die Vermutung. Zwar kommt es insgesamt weniger häufig vor, daß ein Tatverdächtiger eine Sachbeschädigung allein begeht. Trifft diese Rahmenbedingung aber zu, so hat der Beschuldigte eher mit einer Anklage zu rechnen.

(3)

Art des Geschädigten (juristische oder nicht-juristische Person)

Eine Unterscheidung nach dem Geschlecht der Geschädigten erscheint, ähnlich wie beim Diebstahl, hier wenig zweckmäßig. Es könnte jedoch angebracht sein, die Geschädigten nach natürlichen und juristischen Personen zu unterscheiden.

497

Bivariate Analysen

Dabei ist zu vermuten, daß Unternehmen und staatliche Einrichtungen mit mehr Nachdruck auf Verfolgung und Bestrafung der Beschuldigten beharren werden, auch um zivilrechtliche Ansprüche eher wahrnehmen zu können. Diese Vermutung bestätigt sich auf der bivariaten Ebene. Der Zusammenhang bleibt aber unterhalb des geforderten Signifikanzniveaus.

(4)

Sozialvariablen

Auch für das Delikt Sachbeschädigung wurde die Summenvariable der sozialen Gruppenzugehörigkeit geprüft. Ähnlich wie bei den Körperverletzungsdelikten ließ sich auch hier kein signifikanter Zusammenhang mit der Erledigungsart feststellen.

2.4.2 (1)

Verfahren aus Stadt und Umland getrennt analysiert Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat

Zu prüfen ist, ob auch für das Delikt Sachbeschädigung eine Reuebekundung in der bisher gefundenen Richtung informelle Reaktionen begünstigt.

Tab. 2.26:

Subjektive Einstellung des Beschuldigten zur Tat und staatsanwaltliche Erledigung Umland

Stadt REUEBEKUNDUNG ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

14 74%

Informalisierung

Summe

Summe

Nein

Ja

2 11%

16 43%

30 100%

6 26%

36 68%

5 26%

16 89%

21 57%

17 74%

17 32%

19

18

37

23

53

χ 2 = 12,31; α < 0,001; phi = 0,63



30

Summe

χ 2 = 29,34; α < 0,001; phi = 0,78

Hier bestätigt sich erneut der auch beim Diebstahlsdelikt gefundene Zusammenhang zwischen Reuebekundung und informeller Erledigung.

498

Stmtsan waltschañliche Entscheidung

(2)

Verhalten des Beschuldigten während der Vernehmung

Bei Sachbeschädigungsdelikten zeigt diese Variable im Stadtbezirk ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang mit der Zielvariablen in der bisher ermittelten Richtung:

Tab. 2.27:

Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk BESCHULDIGTENVERHALTEN

ERLEDIGUNG

Nicht positiv

Positiv

Summe

Anklage

9 82%

7 27%

16 43%

Informalisierung

2 18%

19 73%

21 57%

11

26

37

Summe

χ 2 = 7,39; α = 0,007; phi = 0,51

(3)

Schadenswiedergutmachung und erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld

Die Schadenswiedergutmachung zeigt bei Sachbeschädigungsdelikten keine Auswirkung auf das Verhältnis von Verfahrenseinstellung und Anklage.

Tab. 2.28:

Erzieherische Reaktionen aus dem sozialen Umfeld und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk ERZIEHERISCHE REAKTIONEN

ERLEDIGUNG

Nicht angeordnet

Angeordnet

Summe 16 43%

Anklage

16 53%

Informalisierung

14 47%

7 100%

21 57%

30

7

37

Summe χ

= 4,58; α = 0,032; phi = 0,42



499

Bivariate Analysen

Die These zur Bedeutung erzieherischer Reaktionen des sozialen Umfeldes lautet wiederum: Wenn andere Personen oder Institutionen bereits erzieherisch auf den Beschuldigten eingewirkt haben, so wirkt sich dies zugunsten einer informellen Erledigung durch die Staatsanwaltschaft aus. Bereits erfolgte erzieherische Reaktionen anderer stehen - jedenfalls in der bivariaten Analyse — in einem signifikanten Zusammenhang in der erwarteten Richtung mit der Erledigungsform. Das gilt nur für die Verfahren aus dem Stadtbezirk. In der Umlandgruppe ist diese Variable nicht besetzt.

(4)

Erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren

Es besteht ebenfalls ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer festgestellten und übermittelten erzieherischen Wirkung des Verfahrens und der informellen Erledigung im Stadtbezirk, jedenfalls in der bivariaten Analyse.

Tab. 2.29:

Erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren Erledigung im Stadtbezirk

und staatsanwaltliche

ERZIEHERISCHE WIRKUNG ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

13 68%

3 17%

16 43%

Informalisierung

6 32%

15 83%

21 57%

19

18

37

Summe

Summe

χ 2 = 8,09; α = 0,005; phi = 0,52

(5)

Besondere Bemerkungen des Polizeibeamten

Besondere positive Bemerkungen des Polizeibeamten wurden weder im Stadtgebiet noch im Umland bei Sachbeschädigungsdelikten festgestellt. Hinsichtlich negativer Bemerkungen der Polizeibeamten ist wiederum zu erwarten, daß sie sich zu Lasten des Beschuldigten auswirken.

500

Staatsanwaltschaftliche

Tab. 2.30:

Entscheidung

Besondere (negative) Bemerkungen und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk

NEGATIVE BEMERKUNG ERLEDIGUNG

Nicht vorhanden

Anklage

11 34%

Informalisierung

21 66%

Summe

32

Vorhanden 5 100% —

5

Summe 16 43% 21 57% 37

χ 2 = 5,15; α = 0,023; phi = 0,45

Negative Bemerkungen des Vernehmungsbeamten über den Beschuldigten stehen nur bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk in signifikantem Zusammenhang mit einer formellen Erledigung. Zu beachten ist jedoch, daß es sich hier nur um sehr kleine Fallzahlen handelt.

(6)

Polizeilicher Vorschlag zum Fortgang des Verfahrens

Der positive Verfahrensvorschlag wie auch der Hinweisverzicht des Polizeibeamten stehen in keinem signifikantem Zusammenhang mit der Erledigung. Der negative Vorschlag weist dagegen einen signifikanten Zusammenhang mit der Zielvariablen auf.

Tab. 2.31:

Polizeilicher Vorschlag und staatsanwaltliche Erledigung im Stadtbezirk

VORSCHLAG FORMELL ERLEDIGUNG

Nein

Ja

Anklage

8 29%

8 89%

16 43%

Informalisierung

20 71%

1 11%

21 57%

28

9

37

Summe 2 x

= 7,79; α = 0,005; phi = 0,52

Summe

Bivarìate Analysen Tab. 2.32:

501

Zusammenhangsbefunde zwischen der Verfahrenserledigung durch die Staatsanwaltschaft und unabhängigen Variablen, nach Delikten differenziert

1. Datenbasis: Gesamtstichprobe; Variablen aus dem Aktenerhebungsbogen UNABHÄNGIGE VARIABLEN

Diebstahl

Körperverletzung

Art der Aussage Anzahl der Tatvorwürfe Vorbelastung

Sachbeschädigung

*

*

*

*

*

*

*

*

*

2. Datenbasis: Teilstichproben nach Delikt; Variablen aus dem Aktenerhebungsbogen UNABHÄNGIGE VARIABLEN

Diebstahl

Körperverletzung

Sachbeschädigung

*

*

*

n.s. n.s.

n.s. n.s.

Tatbegehung allein/mit anderen Diebstahlsart Schaden Soziale Gruppenzugehörigkeit Geschlecht der Geschädigten Art des Geschädigten Geschlecht der Beschuldigten Rechtfertigungsgrund Täter-Opfer-Beziehung

* * *

./.

*

n.s. n.s.

*

*

*

n.s.

3. Datenbasis: Teilstichproben nach Delikt und Untersuchungsbezirk; Variablen aus dem Informationsbogen (Stadtbezirk) und Aktenerhebungsbogen (Umland) Diebstahl UNABHÄNGIGE VARIABLEN Reue Schadenswiedergutmachung positiv Schadenswiedergutmachung negativ Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten Besondere Bemerkungen positiv Besondere Bemerkungen negativ Erzieherische Reaktionen des sozialen Umfeldes Erzieherische Wirkung des Verfahrens Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung Polizeilicher Vorschlag positiv Polizeilicher Vorschlag negativ * : signifikante Befunde n.s. : nicht signifikante Befunde ./. : nicht geprüft

Körperverletzung

Sachbeschädigung

Stadt

Umland

Stadt

Umland

Stadt

Umland

*

*

n.s.

n.s.

*

*

n.s.

n.s.



*

n.s. n.s.

n.s. n.s.

n.s.

n.s.

*

./.

*

n.s.

*

*

n.s. n.s.

n.s. n.s. n.s.

./.

*

n.s. n.s.

*

n.s.

n.s.

n.s.

*

./.

*

*

*

*

*

*

*

*

*

n.s.

*

*

*

n.s.

502

2.5

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Zusammenfassung

Auf der bivariaten Ebene zeigt eine Vielzahl von Variablen signifikante Zusammenhangsbefunde mit der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung. Für die aus früheren Forschungen (vgl. etwa Steffen 1976, 190, 198) bekannten, als deliktsübergreifend geltenden Einflußvariablen wie das Geständnis, die Zahl der Taten und die Vorbelastung, konnten auch in dieser Untersuchung ausgeprägte Zusammenhänge mit der staatsanwaltschaftlichen Enscheidung gezeigt werden. Ebenso ließ sich das Ergebnis von Steffen (1976, 142, 196 ff.) bestätigen, wonach deliktsspezifische, d.h. nur innerhalb einer Deliktsgruppe geltende Bedingungen, für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bestehen. In Tabelle 2.32 sind alle hier untersuchten unabhängigen Variablen im Hinblick auf ihren deliktsspezifischen Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung zusammenfassend dargestellt. In der Übersicht werden jeweils die signifikanten, die nicht signifikanten bzw. die im Einzelfall nicht geprüften Zusammenhänge kenntlich gemacht.

3

Multivariate Analysen zu den Entscheidungsbedingungen der Staatsanwaltschaft (Implementationsanalyse)

Die dargelegten bivariaten Analysen haben bei einer Vielzahl von Variablen signifikante Zusammenhänge mit der Zielvariablen "Art der staatsanwaltschaftlichen Erledigung" gezeigt. Die einfache Korrelationsanalyse erlaubt es jedoch nicht, eine Aussage darüber zu treffen, in welcher Weise die bei der staatsanwaltlichen Entscheidungsfindung simultan wirkenden unabhängigen Variablen ihren gemeinsamen Einfluß auf die abhängige Erledigungsvariable entfalten. Darüber hinaus können mit Hilfe der multivariaten Analyse Scheinbeziehungen, die bei der bivariaten Analyse unentdeckt bleiben können, aufgedeckt werden. Es ist deshalb nötig, die durch die bivariaten Analysen gewonnenen Erkenntnisse multivariat zu überprüfen. Als multivariate Verfahren werden sowohl die multiple Regression als auch Logit-Modelle eingesetzt. Die multivariaten Modelle werden für jedes Delikt getrennt gerechnet, um deliktsspezifische Entscheidungsmuster erkennen und bestimmen zu können. Um Informationsbogenvariablen als mögliche Einflußgroßen — und damit den Implementationsgrad des Bielefelder Modells bei der Staatsanwaltschaft — bestimmen zu können, werden jeweils für Stadt und Umland getrennte multivariate Berechnungen angefertigt. Die hier eingesetzte lineare Regression schätzt die Regressionsgewichte nach der Kleinste-Quadrate-Methode (vgl. Küchler 1979; Urban 1982). Dieses Analyseverfahren setzt streng genommen voraus, daß die Zielvariable (in dieser Untersuchung: die staatsanwaltschaftliche Entschei-

Multivariate Analysen (Implementation)

503

dung zwischen formeller und informeller Verfahrenserledigung) metrisch skaliert ist, d.h. mindestens Intervallskalenniveau aufweist. Mittlerweile geht man in der Literatur davon aus, daß die lineare Regression auch bei dichotomen Zielvariablen anwendbar ist (vgl. Boudon 1968; Opp/ Schmidt 1976; Hummell/Ziegler 1976). Für multivariate Analysen mit qualitativen, in der Regel dichotomisierten abhängigen Variablen gelten Logit-Modelle gegenüber der linearen Regression als adäquater (vgl. Arminger 1983b; Langeheine 1980; ders. 1986). Die theoretischen Differenzen zwischen den Verfahren sind jedoch größer als deren praktische Unterschiede im Ergebnis. Vergleiche zwischen den Ergebnissen beider Verfahren bei identischen Datensätzen haben ergeben, daß in den meisten Fällen die Schlußfolgerungen über den Einfluß der unabhängigen Variablen gleich sind (vgl z.B. Gillespie 1977; Hanushek/Jackson 1977; Kritzer 1979). Dennoch wurden in dieser Untersuchung dort, wo die Datenlage es zuließ, die Ergebnisse der linearen Regression mit einem Logit-Verfahren überprüft. Auch unsere Ergebnisse belegen, wie noch zu zeigen sein wird, daß die Unterschiede zwischen den Regressions- und den Logit-Modellen minimal sind. Für die hier angewandte "Backward-Regression" liegt die automatische Voreinstellung des SPSS x -Programms bei einem Signifikanzniveau von 10 %. Im folgenden wird nur bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von < 5 % eine hinreichende statistische Sicherheit angenommen; im Text wird jeweils ausdrücklich darauf hingewiesen, wenn eine Variable in der Regressionsrechnung verbleibt, die dieses Signifikanzniveau verfehlt hat. Der für die Regression angegebene standardisierte Koeffizient ß, der zwischen -1 und + 1 schwanken kann, gibt das relative Erklärungsgewicht einer unabhängigen Variablen wider. Bei einem Beta-Wert unter + 1 oder unter -1 wird der Einfluß der jeweiligen Variablen als nicht relevant angesehen. Zur Kodierung der einzelnen Variablen ist folgendes zu bemerken: Die meisten unabhängigen Variablen weisen Nominalskalenniveau auf. Sie nehmen bei einer dichotomen Struktur die Werte 0 und 1 an. Die Kodierung der Variablen wird in jeder Tabelle angegeben. Die unabhängigen Variablen Schadenshöhe, Vorbelastung und Anzahl der Taten erreichen dagegen metrisches Skalenniveau. Zur Überprüfung der Variablenausprägungen können auch die bivariaten Tabellen herangezogen werden. Nun weisen allerdings einige nominalskalierte Variablen mehr als zwei Ausprägungen auf, so z.B. der polizeiliche Entscheidungsvorschlag. In diesen Fällen wird die Variable in mehrere sogenannte Dummy-Variablen zerlegt (vgl. im einzelnen 1. Buch). Hierzu ein Beispiel: Der polizeiliche Vorschlag hat drei Ausprägungen, nämlich Anklage, Einstellung und Stimmenthaltung. Aus dieser Variablen werden drei Dummy-Variablen gebildet. 1) Polizei Vorschlag negativ: Anklage (kodiert mit 1) versus Einstellung und Stimmenthaltung (kodiert mit 0). 2) Polizeivorschlag positiv: Einstellung (kodiert mit 1) versus Anklage und Stimmenthaltung (kodiert mit 0). 3) Polizei Vorschlag Enthaltung: Enthaltung (kodiert mit 1) versus Anklage und Einstellung (kodiert mit 0). Jeweils eine dieser Dummy-Variablen wird nicht in die multivariate Berechnung einbezogen. Die ausgeschlossene Dummy-Variable stellt die Referenzvariable dar, auf die sich die verbliebenen Dummy-Variablen beziehen. Die Auswahlentscheidung folgt inhaltlichen Überlegungen. Hier bildet beispielsweise der negative Polizeivorschlag (Anklage) die Referenzkategorie. Der Einfluß

Stmtsanwaltschaftliche Entscheidung

504

der in der Berechnung verbliebenen Dummy-Variablen wird dann in Beziehung zur Referenzkategorie interpretiert.

3.1

Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Diebstahl

Wenn, wie oben ausgeführt, die Analyse der Entscheidungskriterien der Staatsanwaltschaft in Deliktsgruppen je spezifische Entscheidungsbedingungen ermittelt, so müßte dies auch für die Einzeltatbestände innerhalb der Deliktsgruppen gelten. Über die juristischen Tatbestandsdefinitionen hinaus haben wir innerhalb der Diebstahlsgruppe die folgenden Indikatoren für die Bildung einer tat-/täterbezogenen Schwerehierarchie herangezogen: Schadenshöhe, Vorbelastung des Beschuldigten und Geständnis. Demnach wurde ein Fall der Bagatellgruppe zugeordnet, wenn er folgende Merkmale aufwies: — Es mußte sich um einen einzelnen Ladendiebstahl handeln. — Der Wert der gestohlenen Gegenstände durfte 100 DM nicht überschreiten. — Der Beschuldigte mußte ein Geständnis abgelegt haben. — Er durfte nicht vorbelastet sein (sowohl laut hausinterner Zentralkartei der Staatsanwaltschaft als auch nach dem Erziehungsregisterauszug). Die Gruppe der mittelschweren Kriminalität wurde ausgehend von Befunden aus der Staatsanwältebefragung wie folgt definiert: Es wurden die Ausprägungen der entscheidungserheblichen Fallmerkmale zugrundegelegt, die nach Auskunft der Staatsanwälte die Grenze zwischen der informellen Erledigung und der Anklage markieren. Hierzu zählen: — Alle Diebstahlstatbestände bis zu einem Schaden von 500 DM mit Ausnahme der vorgenannten Bagatellfälle und des sogenannten Einbruchsdiebstahls. — Der Tatverdächtige mußte ein Geständnis abgelegt haben. — Ihm durften bis zu zwei Taten vorgeworfen worden sein. — Bis zu zwei Vorbelastungen durften registriert sein.

Tab. 3.1:

Verteilung der Falltypen im Stadtbezirk (n = 734) und im Umland (n = 852)

Umland

Stadt

Bagatellen Mittelschwere Fälle Schwere Fälle

abs.

%

abs.

%

254 152 328

34,6 20,7 44,7

264 146 442

31,0 17,1 51,9

Multivariate Analysen

505

(Implementation)

Die verbleibende Restgruppe wird den schweren Fällen zugerechnet. Die drei dargestellten Falltypen sind in der Untersuchungs- und Kontrollgruppe nicht gleich verteilt, wie Tabelle 3.1 ausweist. Die regionale Ungleichverteilung bei der Diebstahlsschwere unterstreicht erneut, daß mit Hilfe multivariater Analyseverfahren die bezirksspezifische Fallstruktur bei der Bestimmung der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsroutine wie auch bei der Modellevaluation berücksichtigt werden muß.

Tab. 3.2:

Falltypen und staatsanwaltliche Erledigung

Stadt

Umland FALLTYPEN

ERLEDIGUNG Anklage

Informalisierung

Summe

Bagatellen

Mittel- Schwere schwere

Summe

Bagatellen

Mittel- Schwere schwere

Summe

8 3%

66 43%

263 80%

337 46%

14 5%

82 56%

360 81%

456 54%

246 97%

86 57%

65 20%

397 54%

250 95%

64 44%

82 19%

396 46%

254

152

328

734

264

146

442

852

χ 2 = 342,55; α < 0,001; Cramer's V = 0,68

χ 2 = 385,73; α < 0,001; Cramer's V = 0,67

Im folgenden werden alle bivariat für Diebstahl überprüften unabhängigen Variablen in eine Regressionsrechnung einbezogen. Die Rechnung erfolgt zunächst für alle Diebstahlsfalle. Anschließend wird sie für die Untergruppe der mittelschweren Fälle wiederholt. Zuletzt werden nur die schweren Fälle gesondert betrachtet. Letztere Fallkombination weist den geringsten Prozentsatz an informellen Erledigungen auf. Für die Gruppe der Bagatellen wird keine separate Regression gerechnet, weil sich nahezu keine Varianz bei der staatsanwaltschaftlichen Erledigung zeigt. Die Berechnung in Untergruppen, insbesondere die Analyse der Fälle unter Herausnahme der Bagatellen, wird benötigt, weil der Anteil der Bagatellen an allen informell erledigten Fällen über 60 % beträgt. Würde man nur Berechnungen unter Einschluß der Bagatellen vornehmen, so würden die Ergebnisse dahingehend verzerrt, daß vorhandene Unterschiede in der Behandlung von mittelschweren und schweren Diebstahlsfällen durch die schematische Entscheidung bei Bagatellfällen nivelliert würden.

506

Staatsanwaltschaftíiche Entscheidung

3.1.1 (1)

Regressions- und Logit-Modelle zu allen Diebstahlsverfahren

Stadtbezirk

In die multivariaten Analysen werden für die Stadtfalle folgende Variablen einbezogen: Vorbelastung, Schadenshöhe, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung allein/mit anderen (Tatbegehung mit anderen, Tatbegehung mit anderen unklar), Diebstahlsausprägungen (Ladendiebstahl, Einbruchsdiebstahl), Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Reue, Schadenswiedergutmachung (bereits erfolgt, verweigert), Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren, Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, Vorschlag des Polizeibeamten (informelle Erledigung, Enthaltung), besondere Bemerkungen des Polizeibeamten (positiv, negativ, konkreter Vorschlag). Betrachtet man alle Diebstahlsfalle gemeinsam, so zeigt sich das folgende Ergebnis (abhängige Variable: formelle Erledigung = 0; informelle Erledigung = 1):

Tab. 3.3: Regressions- und Logit-Modell für alle Diebstahlsfalle im Stadtbezirk (Bagatellen, mittelschwere und schwere Diebstahlsfälle; η = 734)

Logit-Modell Pseudo-R2 Erklärungskraft Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Schadenshöhe — Polizeivorschlag (informell = 1) — Anzahl der Taten — Polizei Vorschlag (Enthaltung = 1) — Reuebekundung (ja = 1) — Ladendiebstahl (ja = 1) — Geständnis (ja = 1) — Besondere Bemerkung (positiv = 1) — Besondere Bemerkung (negativ = 1) — Reaktion des sozialen Umfeldes (erfolgt = 1)

57%

58%

ß -0,42 -0,25 0,14 -0,09 0,07 0,07 0,06 0,05 0,04 -0,04 0,04

Sig. 0,0001 0,0001 0,0002 0,0007 0,0212 0,0131 0,0637 0,0643 0,0730 0,0996 0,0959

Koeff. -1,88 -1,74 2,32 - 0,86 1,98 0,67 0,97

Sig. 0,0001 0,0001 0,0001 0,0001 0,0005 0,0112 0,0025

Die Entscheidung über den Verfahrensfortgang wird auch unter dem Einfluß des Informationsbogens von den traditionellen strafjuristischen Schwereindikatoren dominiert. Den Variablen Vorbelastung und Schadenshöhe kommt der wesentliche

Multivariate Analysen

(Implementation)

507

Teil der Varianzaufklärung bei der Entscheidungsfindung zu. Unter den Variablen, die aus dem Informationsbogen gespeist werden, hat lediglich der Informalisierungsvorschlag des Polizeibeamten einen gewissen Erklärungswert. Die relativ geringe Ausprägung des Beta-Koeffizienten macht aber deutlich, daß dem Verfahrensvorschlag des Vernehmungsbeamten — bezogen auf alle Diebstahlsdelikte — nur in beschränktem Umfang von seiten der Staatsanwaltschaft gefolgt wird. Die Berechnungen nach dem Logit-Modell weisen überdies einen signifikanten Einfluß der Variablen "Ladendiebstahl" auf die Zielvariable auf, während der Beta-Koeffizient des Regressionsmodells die Signifikanzgrenze knapp verfehlt. Wird einem Beschuldigten ein Ladendiebstahl zur Last gelegt, so ist auch hier eher mit der Einstellung des Verfahrens zu rechnen, als wenn dem Tatvorwurf ein "sonstiger Diebstahl" (Referenzkategorie) zugrundeliegt. Zu betonen ist, daß bei dieser Berechnung die Bagatellfälle noch einbezogen sind. Ziel des Bielefelder Modells ist es, über Bagatellfälle hinaus zu wirken. Diese Verfahren sollen weiterhin schematisch eingestellt werden. Der eigentliche Modelleffekt wird in zunehmenden Einstellungsraten bei der mittelschweren Jugendkriminalität erwartet (vgl. unter Abschnitt 3.1.2).

(2) Umland Welche Kriterien werden nun bei Diebstahlsverfahren aus dem Umland vorrangig bei der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenserledigung herangezogen? Die Entscheidungsanalyse bei den Diebstahlsverfahren bezieht sich auf folgende Variablen: Vorbelastung, Schadenshöhe, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung allein/ mit anderen (Tatbegehung mit anderen, Tatbegehung mit anderen unklar), Diebstahlsausprägungen (Ladendiebstahl, Einbruchsdiebstahl), Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Reue, Schadenswiedergutmachung (bereits erfolgt, verweigert), Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, besondere Bemerkungen des Polizeibeamten (positiv, negativ). Nur die Reuebekundung, die als traditionelles präventionsrelevantes Einstellungskriterium anzusehen ist, wird, wenngleich auch nicht systematisch in den Akten vermerkt, neben den schematisch anwendbaren Tat-/Täter-Schwerekriterien berücksichtigt. Es zeigt sich, daß nahezu ausschließlich solche Kategorien in das Modell Eingang gefunden haben, die routinemäßig in den Ermittlungsakten vermerkt werden. Alle in das Modell eingegangenen Variablen haben bei der Regressionsanalyse das Signifikanzniveau von 0,05 unterschritten. Das gilt auch für das Logit-Modell. Unter Berücksichtigung des Relevanzniveaus können jedoch nur Vorbelastung, Schadenshöhe, Reuebekundung und — an der Grenze — das

508

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Tab. 3.4: Regressions- und Logit-Modell für alle Diebstahlsfälle im Umland (Bagatellen, mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle; η = 852) Regression 2

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Schadenshöhe — Reuebekundung (ja = 1) — Geständnis (ja = 1) — Anzahl der Taten — Einbruchsdiebstahl (ja = 1) — Tatbegehung mit anderen (ja = 1) - Soziale Gruppenzugehörigkeit (positiv = 1)

Logit-Modell

R

Pseudo-R*

54%

54%

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

-0,40 •0,27 0,13 0,09 -0,07 -0,07 -0,07 0,07

0,0001 0,0001 0,0001 0,0003 0,0056 0,0119 0,0102 0,0066

-1,67 -1,91 0,87 1,07 -0,54 -1,77 -0,64 0,72

0,0001 0,0001 0,0002 0,0003 0,0227 0,0002 0,0131 0,0138

Geständnis als wesentliche Einflußgrößen hinsichtlich einer Erledigung gelten. Auch hier sind die Bagatellfälle in die Modellrechnung noch einbezogen.

3.1.2

Regressions- und Logit-Modelle zu den mittelschweren Diebstahlsverfahren

(1) Stadtbezirk Nimmt man bei der multivariaten Analyse aus den oben genannten Gründen die Bagatellfälle und die schweren Fälle aus, so müßte sich dies auf die Entscheidungskriterien dahingehend auswirken, daß die als präventionsrelevant benannten Sachverhalte aus dem Informationsbogen an Einfluß gewinnen. Die hier getroffene Auswahl betrifft die Kernfalle des Informationsmodells. In die multivariate Analyse wurden die oben genannten Variablen einbezogen. Augenfälliges Ergebnis ist hier, im Vergleich zu Tabelle 3.3 (alle Fälle), daß die prozentuale Varianzaufklärung deutlich geringer ausfällt, da nun die weitgehend schematisch eingestellten Bagatellverfahren nicht mehr in der Modellrechnung enthalten sind. Weiter ist festzuhalten, daß die Variable Vorbelastung nach wie vor den stärksten Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung ausübt. Die Stärke des Vorbelastungseffekts ist jedoch, wie der Vergleich mit Tabelle 3.3 zeigt, geringfügig zurückgegangen. Der Einfluß der Variablen Schadenshöhe ist

Multivariate Analysen (Implementation)

509

ebenfalls rückläufig und fallt hinter den Einfluß des einstellungsbezogenen Polizeivorschlags zurück.

Tab. 3.5: Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere Diebstahlsfalle im Stadtbezirk (n = 152) Regression

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Polizeivorschlag (informell = 1) — Polizei Vorschlag (Enthaltung = 1) — Schadenshöhe — Schadens Wiedergutmachung (erfolgt = 1)

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

23%

19%

2

ß

Sig.

KoefT.

Sig.

-0,35 0,29 0,19 -0,18 0,12

0,0001 0,0032 0,0394 0,0287 0,0993

-1,08 2,11 2,11 -0,97 1,25

0,0003 0,0098 0,0340 0,0330 0,1281

Die Tatsache, daß auch das fehlende Votum des Vernehmungsbeamten eher eine positive Wirkung auf den Verfahrensausgang entfaltet, bedeutet, daß die Referenzkategorie des (negativen) Polizeivorschlags ebenfalls einen Einfluß auf die Entscheidung hat: Liegt ein negativer Entscheidungsvorschlag vor, so tendiert der Staatsanwalt zur Anklage. Die These, wonach die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bei den Fällen, die weder dem Bagatellbereich noch den schweren Fällen zuzurechnen sind, in zunehmendem Maße von den nicht schematisch anwendbaren Präventionskriterien abhängt, hat sich in dieser Fallgruppe — wenn auch mit Einschränkungen — bestätigen lassen. Die Bedeutung der klassichen Schwerekriterien tritt zurück, während andere Variablen, die eher unter die Vorgaben aus § 45 einzuordnen sind, an Bedeutung gewinnen. Eine erfolgte Schadenswiedergutmachung hat zwar einen relevanten Einfluß auf die Verfahrenseinstellung; dieser ist jedoch nicht hinreichend gegen den Zufall abgesichert.

(2) Umland Wir wenden uns nun den Verfahren aus der Kontrollgruppe des Umlands zu. In den nachfolgenden Analysen werden die Bedingungen für die staatsanwaltschaftliche Verfahrenserledigung bei den mittelschweren Diebstahlsfällen untersucht.

510

Staatsanwaltschaftliche

Entscheidung

Tab. 3.6: Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere Diebstahlsfalle im Umland (n = 146) Regression 2

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Schadenshöhe — Reuebekundung (ja = 1) — Vorbelastung — Geschlecht der Beschuldigten (weiblich = 1)

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

20%

16%

ß -0,34 0,26 -0,23 -0,16

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0014 0,0044 0,0489

-1,67 1,25 -0,78 -0,92

0,0001 0,0019 0,0052 0,0563

Auch bei den Verfahren aus dem Umland ist die erklärte Varianz in der Modellrechnung für die mittelschweren Diebstahlsdelikte deutlich gegenüber der Varianzaufklärung bei der Gesamtzahl der Diebstahlsfalle gesunken. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist durch die einbezogenen Tat-/Tätermerkmale in geringerem Maße bestimmt. Wichtigster Einflußfaktor auf die Verfahrenserledigung ist hier, im Gegensatz zu den Verfahren aus dem Stadtbezirk, die Schadenshöhe. Die Variable Vorbelastung hat zwar nach wie vor einen deutlichen Einfluß auf die Entscheidung, doch wurde sie hinsichtlich der Stärke ihres Einflusses von der Variablen Reuebekundung verdrängt. Bei männlichen Beschuldigten zeigt sich in der multivariaten Analyse eine knapp über der Signifikanzgrenze liegende Tendenz einer erhöhten Informalisierungswahrscheinlichkeit; die Analyse nach dem Logit-Verfahren, die wir bei qualitativen Variablen als die zuverlässigere Schätzung ansehen, weist für die Geschlechtsvariable dagegen keinen signifikanten Einfluß auf die Zielvariable auf.

3.1.3

Regressions- und Logit-Modelle zu den schweren Diebstahlsverfahren

(1) Stadtbezirk Schreibt man den für das Informationsmodell bislang ermittelten Effekt fort, wonach bei den mittelschweren Fällen die schematisch anwendbaren Kriterien an Einfluß abgenommen und Präventionsvariablen wie der Polizeivorschlag an Bedeutung gegenüber der Erledigung von Bagatelldelikten zugenommen haben, so müßten letztere Faktoren auch bei den schweren Fällen aus dem Stadtbezirk einen erhöhten Erklärungswert für die Art der Verfahrenserledigung aufweisen.

Multivariate Analysen

(Implementation)

511

Tab. 3.7: Regressions- und Logit-Modell für schwere Diebstahlsfálle im Stadtbezirk (n = 328)

Logit-Modell Pseudo-R2

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Schadenshöhe — Polizei Vorschlag (informell = 1 ) — Polizei Vorschlag (Enthaltung = 1)

41%

33%

Erklärungskraft

ß -0,41 -0,28 0,15

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0001 0,0028

-1,59 -1,93 2,23 1,94

0,0001 0,0001 0,0008 0,0121

Die prozentuale Varianzaufklärung ist gegenüber den Angaben in Tabelle 3.5 leicht angestiegen. Bei der gegebenen Fallkonstellation wird jedoch, entgegen der Ausgangsvermutung, die Verfahrensentscheidung wieder schematischer an den herkömmlichen Schwerekriterien orientiert. Einen signifikanten Zusammenhang mit der Zielvariablen zeigen nur noch Vorbelastung, Schadenshöhe und — aus dem Kreis der Informationsbogenvariablen — der Informalisierungsvorschlag des Vernehmungsbeamten. Diese Faktoren liegen in ihrem Einfluß deutlich über dem geforderten Relevanzniveau. Das Logit-Modell weist darüber hinaus noch einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Vorschlagsenthaltung des Polizeibeamten und der Erledigung des Verfahrens auf. Eine Stimmenthaltung des Polizeibeamten wirkt sich im Vergleich zum Anklagevorschlag der Polizei in Richtung einer informellen Erledigung aus. Im Gegensatz zu der formulierten These zeigt sich, daß der Einfluß von Schadenshöhe und Vorbelastung bei den schwereren Delikten wieder zunimmt und der des Polizeivorschlags zurückgeht. Das Informationsmodell entfaltet offenbar seinen wesentlichen Effekt bei der staatsanwaltschaftlichen Erledigung der mittelschweren Diebstahlskriminalität gemäß der oben genannten Definition.

(2) Umland Erneut wird nun die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsroutine bei den schweren Diebstahlsfällen auch für die Verfahren aus dem Umland vergleichend geprüft.

512

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Tab. 3.8: Regressions- und Logit-Modell für schwere Diebstahlsfalle im Umland (n = 442)

Logit-Modell Pseudo-R2 Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — — — — —

Vorbelastung Schadenshöhe Einbruchsdiebstahl (ja = 1) Soziale Gruppenzugehörigkeit (positiv = 1) Reuebekundung (ja · 1)

30%

β

37%

Sig.

-0,42 -0,20 -0,13

0,0001 0,0001 0,0035

0,10

0,0182

Koeff. -1,51 -1,24 -1,53 1,13 0,62

Sig. 0,0001 0,0001 0,0007 0,0110 0,0647

Auch im Umland zeigt sich die Zunahme der Varianzaufklärung bei den auch hier eher schematisch entschiedenen schweren Diebstahlsfállen. Die Variable Vorbelastung hat bei dieser Fallkonstellation wiederum den stärksten Einfluß auf die Verfahrenserledigung. Der Einfluß der Variablen Schadenshöhe ist ebenfalls deutlich gesunken. Handelt es sich bei der Tat um einen Einbruchsdiebstahl, so hat der Tatverdächtige nur geringe Aussichten, eine informelle Erledigung zu erwirken. Gehört der Tatverdächtige der positiv gewerteten sozialen Gruppe an, so sind seine Informalisierungsaussichten — bezogen auf das Logit-Modell — größer als bei den Angehörigen der negativ bewerteten sozialen Gruppe. Die Reuebekundung steht nur noch ausweislich des Regressionskoeffizienten in signifikantem Zusammenhang mit der Art der Erledigung; ihr Einfluß ist überdies gering. Das vorsichtiger schätzende Logit-Modell zeigt hier keine signifikante Beziehung.

3.1.4

Zusammenfassung der Befunde zum Delikt Diebstahl

Auf das Massendelikt Diebstahl beziehen sich bislang die meisten staatsanwaltschaftlichen informellen Erledigungen. Da der Staatsanwaltschaft durch die herkömmlichen Ermittlungsroutinen der Polizei Informationen für eine präventionsorientierte Entscheidung gemäß § 45 nicht in hinreichendem Umfang bereitgestellt werden, folgt sie auch bei der Entscheidung über die Verfahrenseinstellung dem Routineprogramm der Strafzumessung, wie sie das allgemeine Strafrecht vorsieht. Die staatsanwaltliche Entscheidung orientiert sich an standardisierten, quantifizierbaren Tat-/Täter-"Schwerebemessungen" wie Schadenshöhe oder Zahl der Vorbelastungen. Die Staatsanwälte binden dabei ihre Entscheidung an Krite-

Multivariate Analysen

(Implementation)

513

rien, die scheinbar eindeutig zu beurteilen sind, gleichsam objektive Qualität haben und damit gleiche und gerechte Entscheidungen zu verbürgen scheinen. Wichtigste Bedingung für die Wahl zwischen Verfahrenseinstellung und Anklage ist demzufolge die Anzahl der Vorbelastungen des Tatverdächtigen, also dessen Einstufung auf der "kriminellen Karriereleiter". Die Variable Vorbelastung hat bei allen Fallkombinationen aus Tatschwere und Region ihren wesentlichen Einfluß auf die Entscheidung behalten. Weiteres wesentliches Entscheidungskriterium, das ebenfalls in allen Untergruppen Erklärungskraft besitzt, ist die Schadenshöhe, also ein Indikator für die Gewichtung der Tatschwere. Schließlich erweist sich auch ein strafjuristischer Qualifizierungstatbestand, nämlich der "Einbruchsdiebstahl", als durchschlagende Entscheidungsbedingung. Wird dem Tatverdächtigen ein Einbruchsdiebstahl vorgeworfen, so wächst das Anklagerisiko deutlich. Für die drei genannten Merkmale gilt, daß sie als ausgeprägte Hinderungsgründe für eine Verfahrenseinstellung zu gelten haben. Im Umkehrschluß wirkt jedoch die Abwesenheit eines solchen anklageförderlichen Faktors nicht als hinreichende Bedingung für eine Informalisierungsentscheidung. Vielmehr muß jeweils die Anwesenheit einer positiven Bedingung für die Verfahrenseinstellung diese explizit und zusätzlich begründen. Einziges durchgängig zugunsten einer informellen Erledigung wirkendes Merkmal ist die "Reuebekundung", die sich im Umland direkt und im Stadtbezirk indirekt durch den damit hoch interkorrelierten Polizeivorschlag (informalisierend) auswirkt. Diese Variable vermag jedoch nur im Bereich der mittelschweren Diebstahlskriminalität annähernd den Einfluß zugunsten einer Verfahrenseinstellung zu entfalten, den ansonsten die negativen zu Lasten einer informellen Erledigung haben. Alle übrigen Präventionsvariablen besitzen keinen durchgängigen Einfluß auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft.

3.2

Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Körperverletzung

(1) Stadtbezirk Bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk (n = 65) wurden die folgenden Variablen in der multivariaten Analyse berücksichtigt: Vorbelastung, Körperverletzungsschaden, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung mit anderen, Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Geschlecht der Geschädigten, Bekanntschaft zwischen Beschuldigtem und Geschädigtem, Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund, Reue, Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren, Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, Vorschlag des Polizeibeamten (informelle Erledigung, Enthaltung), besondere Bemerkungen des Polizeibeamten (positiv, negativ).

514

Staatsanwaltschaftìiche Entscheidung

Tab. 3.9: Regressionsmodell für Körperverletzungsfalle im Stadtbezirk (n = 65)

48%

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Polizei Vorschlag (informell = 1) — Anzahl der Taten — Vorbelastung — Tatbegehung mit anderen (ja = 1) — Polizei Vorschlag (Enthaltung = 1) — Verhalten des Beschuldigten (positiv = 1 ) — Geschlecht der Beschuldigten (weiblich = 1) — Geschlecht der Geschädigten (weiblich = 1 )

ß

Sig.

0,46 -0,28 -0,28 -0,27 0,25 0,24 0,22 0,21

0,0045 0,0138 0,0160 0,0149 0,0549 0,0711 0,0967 0,0713

Den stärksten Einfluß auf die Informalisierungsentscheidung des Staatsanwalts hat der positive Polizeivorschlag, also eine Variable aus dem Informationsbogen des Bielefelder Modells. Selbst die Stimmenthaltung des Vernehmungsbeamten wirkt sich hier, im Vergleich zu einem negativen Vorschlag, noch zugunsten des Beschuldigten aus. Wird dem Beschuldigten mehr als eine Tat zur Last gelegt, ist eher mit einer Anklage zu rechnen als bei einer einzelnen Tathandlung. Hat der Tatverdächtige mit anderen gemeinsam gehandelt, so verringern sich seine Chancen, eine informelle Erledigung zu erhalten. Richtet sich die Beschuldigung gegen eine Frau, so wirkt sich dies in Richtung einer informellen Erledigung aus. Auch das weibliche Geschlecht der Geschädigten führt bei den (überwiegend männlichen) Beschuldigten eher zu einer Verfahrenseinstellung; beide Geschlechtsvariablen verfehlen aber das geforderte Signifikanzniveau von 0,05. Hat sich der Polizeibeamte positiv über das Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung geäußert, so begünstigt dies die informelle Erledigung seines Verfahrens. Die übrigen oben genannten Variablen liegen deutlich über dem geforderten Signifikanzniveau. Die Berechnung eines Logit-Modells war nicht möglich.

(2) Umland Für das Delikt Körperverletzung wurden in die multivariaten Analysen für die Umlandverfahren (n = 98) folgende Variablen aufgenommen: Vorbelastung, Körperverletzungsschaden, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung mit anderen,

Multivariate Analysen

515

(Implementation)

Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Geschlecht der Geschädigten, Bekanntschaft zwischen Beschuldigtem und Geschädigtem, Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund, Reue, besondere Bemerkungen des Polizeibeamten (negativ). Als hinreichend erklärungskräftig erwiesen sich jedoch nur die in Tabelle 3.10 dargestellten Faktoren.

Tab. 3.10: Regressions- und Logit-Modell für Körperverletzungsfälle im Umland (n = 98) Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Geschlecht der Geschädigten (weiblich = 1) — Vorbelastung

2

Logit-Modell Pseudo-R 2 17%

21%

ß 0,37 -0,29

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0025

1,44 -1,25

0,0424 0,0123

Den stärksten Einfluß auf die Entscheidung des Staatsanwalts hat bei simultaner Prüfung der Variablen das Geschlecht der Geschädigten. Handelt es sich bei dem Körperverletzungsopfer um eine Frau, steigen die Chancen für eine informelle Erledigung des Verfahrens. Ist der Tatverdächtige vorbelastet, verringert sich der Anteil informeller Erledigungen deutlich. Die übrigen geprüften Variablen zeigen in der Modellrechnung keinen signifikanten Einfluß auf die Zielvariable. Bei der Analyse der Körperverletzungsdelikte ist auffallend, daß die Varianzaufklärung bei den Umlandfällen erheblich geringer ist als bei den Stadtfallen. Nur das klassische Schwerekriterium der Vorbelastung und das Geschlecht der Geschädigten haben Bedeutung. Die Variable "Geschlecht der Geschädigten" benutzt die Staatsanwaltschaft offenbar ebenfalls als Maß für die Tatschwere; die weibliche Geschädigte indiziert dem Entscheidungsträger eher eine geringere Intensität der Körperverletzung. Die unterschiedliche Varianzaufklärung durch die Berechnungen bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk und aus dem Umland könnte ein Indiz dafür sein, daß die Staatsanwälte bei Verfahren, die im Rahmen des Bielefelder Modells zu entscheiden sind, auf eine höhere Zahl von aktenkundigen Entscheidungskriterien zurückgreifen. Damit stehen im Modellbezirk für die statistische Erfassung und für die Aufklärung der Erledigungsvarianz mehr entscheidungserhebliche Variablen zur Verfügung. Für die jugendstrafrechtliche Rationalität der staatsanwaltschaftlichen

516

Staatsanwaltschaftiiche Entscheidung

Verfahrenserledigung hat die nunmehr verbesserte Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidung anhand expliziter, schriftlich gefaßter Kriterien als Fortschritt zu gelten.

3.3

Multivariate Analyse bezogen auf das Delikt Sachbeschädigung

(1) Stadtbezirk In die multivariate Analyse, die sich auf die Verfahren aus dem Stadtbezirk bezieht, wurden zu diesem Delikt folgende Variablen einbezogen: Vorbelastung, Schadenshöhe, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung mit anderen, Geständnis, soziale Gruppenzugehörigkeit, Bekanntschaft zwischen Beschuldigtem und Geschädigtem, Art des Geschädigten (juristische oder natürliche Person), Reue, Schadenswiedergutmachung (bereits erfolgt, verweigert), Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren, Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, Vorschlag des Polizeibeamten (informelle Erledigung, Enthaltung), besondere Bemerkungen des Polizeibeamten (negativ).

Tab. 3.11: Regressions- und Logit-Modell für Sachbeschädigungsfalle im Stadtbezirk (n = 37) Logit-Modell Pseudo-R2

88%

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Geständnis (ja - 1) — Geschädigter (natürliche Person = 1) — Schadenshöhe — Verhalten des Beschuldigten (positiv = 1) — Tatbegehung mit anderen (ja = 1) — Bekanntschaft Beschuldigter-Geschädigter (ja = 1)

β

42%

Sig.

Koeff.

Sig.

-0,37 0,34 -0,34 -0,29 0,22 0,22

0,0002 0,0004 0,0009 0,0021 0,0064 0,0092

- 2,13

0,0006

-1,26

0,2155

0,21

0,0139

Im Bereich der Sachbeschädigungsdelikte wirkt bei den Stadtfällen eine Vielzahl von Variablen auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung. Den stärksten Einfluß

Multivariate Analysen

(Implementation)

517

weist hier wiederum die Variable Vorbelastung auf. Liegt kein Geständnis vor, sinkt die Wahrscheinlichkeit, eine informelle Erledigung zu erhalten. Einen ebenso starken Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung wie das Geständnis, allerdings zugunsten einer informellen Erledigung, hat die Variable "natürliche oder juristische Person als Geschädigter". Handelt es sich bei dem Geschädigten um eine natürliche Person, so muß der Tatverdächtige eher mit einer Anklage im Verfahren rechnen. Auch die Schadenshöhe wirkt sich bei der Entscheidungsfindung aus. Je höher der Schaden, desto seltener erfolgt eine Einstellung des Verfahrens. Hat sich der Polizeibeamte positiv über das Verhalten des Beschuldigten in der Vernehmung geäußert, so wirkt sich das zugunsten einer Einstellung des Verfahrens aus. Diese Variable weist eine starke Interkorrelation mit den Variablen "Reuebekundung" und "erzieherische Wirkung durch das Ermittlungsverfahren" auf. Wurde die Tat gemeinsam mit anderen begangen, so erfolgt eher eine Einstellung des Verfahrens. Kannten sich Beschuldigter und Geschädigter vor der Tat, so sinkt das Risiko des Beschuldigten, eine Anklage zu erhalten. Angesichts der geringen Fallzahlen, die dieser Berechnung zugrundeliegen, zeigt das hierauf empfindlicher reagierende Logit-Modell nur bei der Vorbelastungsvariablen einen entscheidungserheblichen Einfluß. Bei den Sachbeschädigungsdelikten entfaltet der polizeiliche Verfahrensvorschlag keinerlei Wirkung. Dieser Befund dürfte auf die geringe Varianz dieser Variablen bei den Sachbeschädigungsverfahren zurückgehen. Der Großteil dieser Fälle wurde von den Vernehmungsbeamten für eine Einstellung vorgeschlagen.

(2) Umland Für die Sachbeschädigungen wurden in der Umlandgruppe folgende Variablen im Regressionsmodell berücksichtigt: Vorbelastung, Schadenshöhe, Tatbegehung mit anderen, Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Art des Geschädigten (juristische oder natürliche Person), Reue, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten. Die Varianzaufklärung des Regressionsmodells ist im Umland geringer als in der Stadtgruppe, wenngleich sie weiterhin auf sehr hohem Niveau liegt. Im Umland wirkt sich für eine Einstellung des Verfahrens die Reuebekundung des Beschuldigten am stärksten aus. Die Wahrscheinlichkeit der Verfahrenseinstellung sinkt, wenn kein tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten vorliegt. Handelt es sich bei dem Geschädigten um eine natürliche Person, so verringert sich das Anklagerisiko. Für die Sachbeschädigungsfälle im Umland konnte kein Logit-Modell berechnet werden.

518

Staatsanwaltschafüiche Entscheidung

Tab. 3.12: Regressionsmodell für Sachbeschädigungsfalle im Umland (n = 53)

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Reuebekundung (ja = 1) — Geschädigter (natürliche Person = 1) — Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten (ja = 1)

3.4

71%

ß

Sig.

0,69 0,21 0,20

0,0001 0,0109 0,0236

Schlußfolgerungen aus den Zusammenhangsbefunden der multivariaten Analyse

Die Entscheidungsstruktur der Staatsanwaltschaft ist durch ihre negative Auslese gekennzeichnet. Sie sondiert einen Fall darauf hin, ob er ein negatives Kriterium zeigt, das ihn aus der informellen Erledigung ausschließt. Liegt ein solcher Negativfaktor vor (Vorbelastung, Schadenshöhe), so führt dies zur Anklage, unabhängig davon, ob sonstige positive Merkmale vorhanden sind. Weist ein Fall nach Durchsicht keine negativen, der Informalisierung entgegenstehenden Merkmale auf, so wird der Fall auf positive Merkmale durchgesehen, die gegebenenfalls zur Verfahrenseinstellung führen. Eine derartige Entscheidungsstruktur bietet für präventionsrelevante Informationen, die die strafjuristischen Formalkriterien kompensieren sollen, wenig Spielraum. Auch ein vorbelasteter Tatverdächtiger, dem der Vernehmungsbeamte dank erzieherischer Einflüsse aus dem sozialen Umfeld noch eine Bewährungschance zuerkennen möchte, käme, dem Präventionsgedanken folgend, für eine Einstellungsentscheidung in Frage. Trotz der positiven Polizeiempfehlung führt eine solche Fallkonstellation, das hat die vorangegangene Analyse gezeigt, im Regelfall zur Anklage. Für die Implementation des Diversionsmodells in das staatsanwaltliche Entscheidungshandeln stellen die vorherrschenden quasi-objektiven, quantifizierbaren Schwerekriterien wie Schadenshöhe, Vorbelastung oder Anzahl der Taten nur schwer zu überwindende Hürden dar. Die im Modellversuch - jedenfalls für den Bereich mittelschwerer Jugendkriminalität - geforderten Einschätzungen der Persönlichkeit oder des sozialen Umfeldes erscheinen demgegenüber als Fremdkörper, als subjektive, beliebig interpretierbare Faktoren, die sich in das schematische, an quantitativen Kriterien orientierte Entscheidungsmodell nicht ohne weiteres integrieren lassen.

Multivariate Analysen (Implementation)

519

Dieses strafjuristisch-schematische, in der Entscheidungsroutine der Staatsanwälte verfestigte Entscheidungsmuster gilt insbesondere für die Diebstahlsdelikte in ihrer Gesamtheit. Es gilt nicht in gleicher Weise für die mittelschweren Diebstahlsdelikte und die Delikte Körperverletzung und Sachbeschädigung. Letztere haben, quantitativ gesehen, nur eine geringe Bedeutung im Fallaufkommen der Staatsanwaltschaft. In unserer Untersuchung entfallen auf einen Dezernenten im Zeitraum von knapp zwei Jahren durchschnittlich nur 28 anklagefahige Körperverletzungen und 15 anklagefähige Sachbeschädigungen. An diesen Zahlen wird deutlich, daß sich bei der Erledigung dieser Fälle nicht so leicht schematische Entscheidungsroutinen wie bei Diebstahlsfallen entwickeln können. Dies wird auch in den multivariaten Analysen zur Körperverletzung deutlich. Zwar zeigt auch hier die strafrechtliche Vorbelastung des Beschuldigten einen deutlichen Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung; sie wird gleichwohl nicht allein von dieser Variablen dominiert. Bei den Sachbeschädigungsdelikten greifen die Staatsanwälte wieder eher — wenn auch weniger ausgeprägt als bei den Diebstahlsdelikten — auf traditionelle strafjuristische Entscheidungsmuster zurück. Die Variablen Schadenshöhe und Vorbelastung haben bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk einen deutlich höheren Einfluß als die Variablen aus dem Informationsbogen. Insgesamt betrachtet dominieren im Bereich von Körperverletzung und Sachbeschädigung als Einflußfaktoren für die staatsanwaltschaftliche Entscheidung solche Variablen, die eher als positive Merkmale für eine informelle Erledigung herangezogen werden. Negativ ausgrenzende Variablen verlieren hier an Bedeutung. In diesen Deliktsbereichen sind die Staatsanwälte eher bereit, die Verfahrenserledigung an präventionsrelevanten Tat-/Tätermerkmalen zu orientieren. Die Tatsache, daß es sich bei einer Sachbeschädigung nur im Umland zu Lasten eines Tatverdächtigen auswirkt, wenn der Geschädigte eine juristische Person ist, erklärt sich einerseits aus bürokratischen Gründen, andererseits aus der Beschwerdemacht der institutionellen Geschädigten. Handelt es sich bei dem Geschädigten um eine Behörde, so ist diese vor der endgültigen Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die ins Auge gefaßte Entscheidung zu benachrichtigen. Die größere Beschwerdemacht der Behörden bei Sachbeschädigungsdelikten kann von der Staatsanwaltschaft allerdings weitgehend antizipiert werden. Handelt es sich bei dem Geschädigten um ein privatwirtschaftliches Unternehmen, so ist dieses in seiner Haltung zur Verfahrenseinstellung weniger kalkulierbar; es kann ebenfalls eine beträchtliche Beschwerdemacht gegen eine Informalisierungsentscheidung der Staatsanwaltschaft einsetzen, auch wenn keine formellen Rechtsmittel zulässig sind. Ganz anders ist dies bei natürlichen Personen, deren Beschwerdemacht im allgemeinen begrenzt ist.

520

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Gleichwohl eröffnet die wenig vorstrukturierte Entscheidung der Staatsanwaltschaft im Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsbereich eine Möglichkeit, mit zusätzlichen präventionsrelevanten Informationen die Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Die Erledigung der Verfahren im Bereich der Diebstahlsdelikte ist differenzierter zu betrachten. Bei Bagatellverfahren ist es nicht nur legitim, sondern aus Verhältnismäßigkeitsgründen geradezu geboten, anhand schematischer Kriterien die Tatschwere zu verneinen und für eine Verfahrenseinstellung zu votieren. Im Bereich der oben definierten mittelschweren Diebstahlskriminalität, die insgesamt betrachtet ebenfalls eher am unteren Rand der Schwereskala angesiedelt ist, sollte für die traditionellen Schwereindizien wie die Vorbelastung die Regel gelten, daß ihre Entscheidungserheblichkeit vor dem Hintergrund von Präventionskriterien relativiert werden kann: Sind Anhaltspunkte für eine zureichende informelle Intervention oder eine "Spontanremission" gegeben, so sollte, vor dem Hintergrund der Subsidiaritätsorientierung des Jugendgerichtsgesetzes, ein förmliches Verfahren gegen den Beschuldigten auch dann unterbleiben, wenn im schematischen Entscheidungsmuster bereits die Schwelle zur Anklage erreicht ist. Hier zeigen die Befunde, daß sich die Staatsanwaltschaft bereits in einem Umdenkungsprozeß befindet. Die präventionsrelevanten Kriterien gewinnen im Bereich der mittleren Deliktsschwere zunehmend an Bedeutung, wenngleich die herkömmlichen Schwerekriterien noch nicht hinreichend zurücktreten. Bei den schweren Diebstahlsfallen, die allgemeinstrafrechtlich gesehen noch im Bereich der Vergehen liegen, werden fast ausschließlich formale Schwerekriterien berücksichtigt, obwohl es auch hier bei Beachtung bereits informell ergangener Maßnahmen häufiger angezeigt wäre, eine Anklage zu vermeiden. Das wird durch die vielen polizeilichen Informalisierungsvorschläge belegt, die auch bei "schweren" Diebstahlsdelikten zu finden sind.

4

Auswirkungen des Informationsmodells auf die quantitative Verteilung von Verfahrenseinstellung und Anklage (Impactanalyse)

Die Analyse der Entscheidungskriterien der Staatsanwaltschaft hat gezeigt, daß der Informationsbogen die Dominanz der bisher vorherrschenden Entscheidungskriterien nicht beseitigen konnte. Es wurde aber gleichfalls festgestellt, daß die Variablen, die das Informationsmodell zusätzlich bereitstellt, ebenfalls einen gewissen Einfluß auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft haben. Damit kann von einer erfolgreichen Teilimplementation des Informationsmodells gesprochen werden. In diesem Kapitel wird nun geprüft, ob sich dieser Einfluß auch in der

Multivariate Analysen (Impact)

521

Erledigungsstruktur der Staatsanwaltschaft niedergeschlagen hat. Festzustellen ist: Werden bei den vom Modell betroffenen Fällen aus dem Stadtbezirk bei vergleichbaren Sachverhalten mehr Verfahren informell erledigt als im Umland? Mit diesem zweiten Untersuchungsschritt wird die Implementationsanalyse um die Impactanalyse (EfFektivitätsprüfiing) erweitert. Während der erste Schritt danach gefragt hat, wie weit in das Entscheidungsmuster der Staatsanwaltschaft diversionsbezogene Variablen Eingang gefunden haben, richtet sich der zweite Untersuchungsschritt darauf, welche Auswirkungen das Modell auf die prozentuale Verteilung von Anklage und Einstellung im Entscheidungsspektrum hat.

4.1

Wirklingsanalyse in Untergruppen

Der Vergleich erfolgt sowohl getrennt nach den strafjuristischen Deliktstypen als auch getrennt nach den oben definierten Fallgruppen im Diebstahlsbereich. Bei den Diebstahlsfallen wird neben Regressions- und Logit-Modellen auch das Verfahren der Drittvariablenkontrolle eingesetzt. Dabei werden, wie bereits beschrieben, die Verfahren aus der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe in Untergruppen geordnet, die sich hinsichtlich der Schwerekriterien Geständnis, Vorbelastung, Schadenshöhe und Anzahl der Taten gleichen (Bagatellen, mittelschwere und schwere Diebstähle).

4.1.1

Delikt Diebstahl, Untergruppe Bagatellen

Die Tatbestandsgruppe wurde, wie oben dargelegt, anhand der Kriterien gebildet, die in der Einschätzung von Jugendstaatsanwälten die besten Aussichten für eine informelle Erledigung bieten. Diese Fälle sollten vom Bielefelder Informationsmodell nicht beeinflußt werden. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sollte für diese Fallgruppe die schematische Verfahrenseinstellung gelten. Ob diese Voraussetzung zutrifft, war Gegenstand des ersten Untersuchungsschritts der Modellevaluation, der sich auf die Bagatellverfahren aus dem Stadtbezirk und aus dem Umland richtete. Die beiden Gruppen werden anhand eines Chi-Quadrat-Tests miteinander verglichen. Die Bagatellfälle werden in der Stadt und im Umland fast ausnahmslos informell erledigt. Die Tatsache, daß hinsichtlich der Bagatellfälle kaum Erledigungsvarianz besteht, erlaubt es nicht, für diese Gruppe eine Regressionsanalyse durchzuführen. Diese erscheint angesichts des eindeutigen Ergebnisses allerdings auch überflüssig.

522

Staatsan waltschaftliche Entscheidung

Die benannten Fälle werden nahezu ausschließlich nach den oben dargelegten schematischen Kategorien entschieden.

Tab. 4.1:

Diebstahlsbagatellen und staatsanwaltliche Erledigung REGION

ERLEDIGUNG Anklage

Informalisierung

Summe

Stadt

Umland

Summe

8 3%

14 5%

22 4%

246 97%

250 95%

496 96%

254

264

518

χ 2 = 0,99; α = 0,319; phi = 0,05

4.1.2

Delikt Diebstahl, Untergruppe mittelschwere Fälle

Insbesondere im Bereich der mittelschweren Fälle sollte das Bielefelder Informationsmodell von seiner Intention her Wirkung entfalten. Hier sollten die standardisierten Einstellungskriterien zugunsten präventionsrelevanter Merkmale aus dem Informationsbogen zurückgedrängt werden.

Tab. 4.2:

Mittelschwere Diebstahlsfalle und staatsanwaltliche Erledigung REGION Umland

Summe

67 44%

84 57%

151 50%

86 56%

64 43%

150 50%

153

148

301

ERLEDIGUNG

Stadt

Anklage

Informalisierung

Summe

χ 2 = 4,55; α = 0,033; phi = 0,13

523

Multivariate Analysen (Impact)

Es zeigt sich in der Tat ein signifikanter Unterschied zwischen den Verfahren aus dem Stadtbezirk und aus dem Umland hinsichtlich der Verteilung der Erledigungsformen. Während im Bereich der Stadt etwas mehr als die Hälfte der mittelschweren Diebstahlsfälle informell erledigt wird, wird im Umland etwas weniger als die Hälfte der Verfahren informell erledigt. Im Gegensatz zur eindeutig parallelisierten Bagatellgruppe beinhaltet die Fallgruppe der "mittelschweren" Jugendkriminalität mehr Fallkombinationen, die unterschiedlich hohe Quoten informeller Erledigung aufweisen. Diese könnten im Vergleich Stadt/Umland ungleich verteilt sein, so daß der signifikante Unterschied zwischen beiden Gruppen auf unterschiedlichen Fallstrukturen beruhen — und nicht den Modelleffekt ausweisen — könnte. Die bivariaten Analysen haben zwar gezeigt, daß die möglichen Fallkombinationen in Stadt und Umland ähnlich gelagert sind; gleichwohl wird zur Absicherung der Befunde ein Regressions- und Logit-Modell gerechnet. Hierbei werden Stadt- und Umlandverfahren in einer multivariaten Rechnung zusammen betrachtet. Die Variablen des Informationsbogens werden nicht berücksichtigt. Auch deren Analogvariablen werden aus der Modellrechnung ausgenommen, soweit die entsprechende Kategorie in der Stadt wesentlich häufiger als im Umland besetzt ist. Der mögliche regionale Erledigungsunterschied soll über eine neu eingeführte Variable "Region" mit den Ausprägungen Stadt und Umland geprüft werden. Weist dieser Faktor einen signifikanten Zusammenhang mit der Zielvariablen auf, so wird dies als Beleg für einen Niveauunterschied hinsichtlich der Verfahrenserledigung angesehen. In die Modellrechnung wurden folgende Variablen einbezogen: Vorbelastung, Schadenshöhe, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung allein/mit anderen (Tatbegehung mit anderen, Tatbegehung mit anderen unklar), Diebstahlsausprägungen (Ladendiebstahl, Einbruchsdiebstahl), Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Reue, Schadenswiedergutmachung (erfolgt, verweigert), tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, Region. Alle in die Rechnung einbezogenen unabhängigen Variablen wurden anhand einer Korrelationsmatrix daraufhin überprüft, ob sie eine hohe Interkorrelation mit der Variablen "Region" aufweisen. Das war nicht der Fall. Die multivariaten Modellrechnungen erweisen für die Variable "Region" die nachfolgend benannten Zusammenhangsbefunde: Regression

Region

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

0,10

0,0663

0,49

0,0471

524

Staatsanwaltschafìliche Entscheidung

Die Variable "Region" liegt mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 0,0663 knapp über dem üblichen Signifikanzniveau. Der Beta-Wert der Regressionsrechnung liegt mit 0,10 an der Relevanzgrenze. Betrachtet man das Ergebnis der Berechnung nach dem Logit-Verfahren, so zeigt sich ein geringfügig unter der Signifikanzgrenze liegender Zusammenhang zwischen der Variablen "Region" und der Verfahrenserledigung (Koeff. = 0,49; Sig. = 0,0471). Die Werte zeigen, daß bei den Verfahren aus dem Modellbezirk gegenüber der Kontrollgruppe des Umlands nur eine leicht erhöhte Tendenz besteht, die Fälle der mittelschweren Kriminalität informell zu erledigen (vgl. aber die Bewertung unterschiedlicher Modelleffekte im Zeitvergleich weiter unten in Abschnitt 4.2).

4.1.3

Delikt Diebstahl, Untergruppe schwere Fälle

Für die schweren Fälle konnte keine Drittvariablenkontrolle nach dem oben beschriebenen Muster durchgeführt werden, da die einzelnen Ausprägungen der entscheidungsrelevanten Variablen nicht hinreichend konstant gehalten werden konnten. Diese Gruppe konnte daher der Ceteris-paribus-Klausel nicht gerecht werden. Für die Untergruppe wird deshalb nur eine multivariate Analyse durchgeführt. Die möglichen Niveauunterschiede zwischen Stadt und Umland hinsichtlich der Erledigung werden wiederum über die Variable "Region" gemessen. Es wurden die gleichen Variablen wie bei den mittelschweren Diebstahlsdelikten in die Regression einbezogen. Es zeigt sich, daß die Variable keinen signifikanten Einfluß hat. Ihr Beta-Wert liegt mit -0,01 (auch beim Logit-Modell weist diese Variable keinen signifikanten Einfluß auf) deutlich unter dem Relevanzniveau. Auffallend ist lediglich, daß hier ein negativer Zusammenhang zwischen der Regionsvariablen und der Zielvariablen besteht. Das bedeutet, daß ein minimaler Unterschied zwischen Stadt und Umland in der Erledigungsstruktur vorliegt, wobei im Umland bei vergleichbarer Fallkonstellation etwas häufiger eine informelle Erledigung gewählt wird. Zu betonen ist, daß dieser Unterschied auch zufällig aufgetreten sein kann.

4.1.4

Delikt Körperverletzung

Im Bereich der Körperverletzungsdelikte hatten die Informationsbogenvariablen in höherem Maße Eingang in die Entscheidungsroutinen der Staatsanwaltschaft gefunden als bei den Diebstahlsverfahren. Zu prüfen ist nun, ob sich dieser Einfluß im Sinne des Modellvorhabens zugunsten einer gesteigerten informellen Erledigung im Stadtbezirk auswirkt. Um dies festzustellen, wurde die gleiche

525

Multivariate Analysen (Impact)

Verfahrensweise wie bei den beschriebenen Diebstahlsfallen angewandt. Es wurden nur die Variablen in die Berechnungen einbezogen, die eine weitgehende regionale Gleichverteilung aufweisen. Die Variablen, die im Informationsbogen enthalten sind bzw. die Variablen, die eindeutig häufiger in den Verfahren des Stadtbezirks besetzt sind, wurden ausgeschlossen. Es wurden folgende Variablen berücksichtigt: Vorbelastung, Körperverletzungsschaden, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung mit anderen, Geständnis, Geschlecht der Beschuldigten, soziale Gruppenzugehörigkeit, Geschlecht der Geschädigten, Bekanntschaft zwischen Beschuldigtem und Geschädigtem, Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund, Reue, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, Region. Die Regionsvariable zeigt im multivariaten Modell die folgenden Zusammenhangsbefunde:

Regression

Region

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

0,12

0,0954

0,89

0,1081

Die Variable "Region" verfehlt mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 0,0954 das übliche Signifikanzniveau von 0,05. Der Beta-Wert liegt mit 0,12 bei der Regressionsrechnung knapp über der Relevanzgrenze. Auch die Berechnung nach dem Logit-Verfahren zeigt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Regionsvariablen und der Verfahrenserledigung (Koeff. = 0,89; Sig. = 0,1081). Da bei den Körperverletzungsdelikten an das Signifikanzniveau nicht die gleichen Ansprüche wie bei den Diebstahlsdelikten gestellt werden müssen (annähernde Totalerhebung), kann für die Körperverletzung ein gewisser Erledigungsunterschied im Sinne des Informationsmodells zwischen Stadt und Umland konstatiert werden: Im Umland werden vergleichbare Fälle etwas häufiger zur Anklage gebracht als im Stadtbezirk.

4.1.5

Delikt Sachbeschädigung

Für Sachbeschädigungsdelikte gelten die an das Delikt Körperverletzung gestellten Modellerwartungen entsprechend. Auch hier ist zu vermuten, daß die präventionsbezogenen Informationen, die durch das Bielefelder Modell zusätzlich verfügbar sind, informelle Erledigungen erleichtern werden. Die Analyse erfolgt unter den gleichen Vorgaben wie oben dargelegt. In die multivariate Analyse wurden folgende Variablen einbezogen: Vorbelastung, Schadenshöhe, Anzahl der Tatvorwürfe, Tatbegehung mit anderen, Geständnis, soziale Gruppenzugehörigkeit, Art des

526

Staatsan waltschaftliche Entscheidung

Geschädigten (juristische oder natürliche Person), Reue, tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten, Region. Die Befunde für die Regionsvariable lauten:

Regression

Region

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

0,17

0,0060

2,24

0,0309

Die Variable "Region" weist einen hoch signifikanten (Sig. = 0,0060) Zusammenhang mit der Ziel variablen auf. Ihr Beta-Wert liegt mit 0,17 über dem Relevanzniveau. Das Ergebnis wird durch die Befunde aus dem Logit-Verfahren bestätigt (Koeff. = 2,24; Sig. = 0,0309). Es ist daher davon auszugehen, daß auch hier das Bielefelder Modell eine Veränderung in der Entscheidungsstruktur in Richtung Informalisierung bewirkt hat. Im Stadtbezirk werden vergleichbare Sachbeschädigungsverfahren eher informell erledigt.

4.2

Vergleich der Entscheidungsstrukturen zu verschiedenen Meßzeitpunkten für die häufigste Deliktskategorie: Diebstahl

Im folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, ob das Informationsmodell während der annähernd zweijährigen Laufzeit einen konstanten Einfluß im Sinne einer im Vergleich zum Umland erhöhten Informalisierungsquote aufwies. Zu prüfen ist insbesondere, ob ein anfänglicher Modelleffekt in eine längerfristig anhaltende Veränderung der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsroutine einmünden konnte. Aufgrund der höchst ungleichen Fallzahlen beim Deliktsaufkommen kann dieser Frage nur für die Diebstahlsfälle nachgegangen werden, wobei wiederum die bereits oben verwendeten, nach tat-/täterbezogenen Schwerekriterien gebildeten Untergruppen herangezogen werden. Der erste Zeitabschnitt (Anfangsphase) erfaßt die Fälle, die im Zeitraum von Februar 1987 bis einschließlich September 1987 von der Staatsanwaltschaft Bielefeld im ausgewählten Tatbestandsbereich entschieden wurden (Stadt: η = 274; Umland: η = 537). Die Fälle, die im Zeitraum von Oktober 1987 bis Dezember 1988 erledigt wurden, werden im zweiten Zeitabschnitt (Bewährungsphase) berücksichtigt (Stadt: η = 782; Umland: η = 770). Als Analysemethoden werden die Drittvariablenkontrolle und die Regressionsrechnung, kontrolliert wiederum durch das Logit-Verfahren, eingesetzt.

527

Multivariate Analysen (Impact)

4.2.1

Deliktsgruppe Diebstahl, Untergruppe Bagatellen

Für die Diebstahlsbagatellen wurde bereits oben festgestellt, daß sich — bezogen auf den gesamten Untersuchungszeitraum — keine signifikanten Unterschiede zwischen Stadt und Umland hinsichtlich der Verfahrenserledigung ergeben hatten. Gleichwohl soll dieses Ergebnis durch die Analyse der Zeitabschnitte erneut überprüft werden. Bei den Fällen, die der Bagatellgruppe angehören, zeigt sich für die erste Phase kein signifikanter Unterschied (α = 0,471; phi = 0,09) bei der Erledigung der Stadtbezirksverfahren gegenüber der Verfahrenserledigung in der Kontrollgruppe. Sowohl bei der Modellgruppe (Stadt: η = 68) wie auch bei der Kontrollgruppe (Umland: η = 106) werden nahezu alle Fälle dieses Typs informell erledigt. Die Analyse dieser Fallkonstellation (Stadt: η = 186; Umland: η = 158) in der zweiten Phase zeigt den gleichen Befund (α = 0,554; phi = 0,05).

Abb. 4.1:

Erledigung der Bagatellfälle in zwei Phasen des Modellversuchs

1. MeSzeitpunkt

i ·

Formell erledigt

2. MeSzeitpunkt

β χ ! Informell erledigt

'Prozent bezogen auf anklagefähige Fälle

Dieses Ergebnis ist nicht sonderlich überraschend, da die Bagatellfälle laut Absprache der Staatsanwälte bzw. auf Empfehlung durch den Behördenleiter pauschal informell erledigt werden sollten.

528 4.2.2

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Deliktsgruppe Diebstahl, Untergruppe mittelschwere Fälle

Die phasenspezifische Analyse dieses Falltyps zeigt im ersten Abschnitt des Informationsmodells (Anfangsphase) signifikante Unterschiede in der Erledigung der Fälle durch die Staatsanwaltschaft in der Untersuchungs- und der Kontrollregion (Stadt: η = 35; Umland: η = 63; α = 0,021; phi = 0,25). In der Untersuchungsgruppe werden mehr als 50 % dieser Fälle informell erledigt. In der Kontrollgruppe hingegen erfolgt nur in jedem dritten Fall eine Verfahrenseinstellung. Auch die Regressionsanalyse bestätigt dieses Ergebnis. Die Variable "Region" wird hier wiederum herangezogen, um bezirksspezifische Erledigungsunterschiede zu prüfen. Die Variable "Region" zeigt einen signifikanten und relevanten Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung (Regression: Sig. = 0,0018; β = 0,23). Vergleichbare Fälle werden demzufolge im Stadtbezirk, bei Berücksichtigung des Informationsbogens für die Entscheidung, eher informell erledigt. In der zweiten Phase des Informationsmodells (Bewährungsphase) schwächt sich der Informalisierungseffekt jedoch ab. Die staatsanwaltschaftliche Verfahrenserledigung bei mittelschweren Diebstahlsdelikten zeigt nach den deutlichen Divergenzen im Bezirksvergleich infolge des anfanglichen Reformimpulses keinen signifikanten Unterschied mehr im Vergleich von Untersuchungs- und Kontrollgruppe (Stadt: η = 118; Umland: η = 85; α = 0,815; phi = 0,03). Bemerkenswert ist allerdings — und das ist als langfristiger Modellerfolg zu deuten —, daß sich das Einstellungsniveau im Stadtbezirk nicht wieder dem Umland, also dem zuvor bestehenden Entscheidungsmuster angeglichen hat. Vielmehr hat sich umgekehrt das Einstellungsniveau aus dem Umland dem modellbeeinflußten Niveau des Stadtbezirks angeglichen, obwohl im Umland kein Informationsbogen als einstellungsstimulierendes Entscheidungskriterium zur Verfügung stand. Auch hier bestätigt die Regressionsanalyse das Ergebnis der Drittvariablenkontrolle. Der Einfluß der Variablen "Region" auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung ist in der zweiten Phase des Modellversuchs nicht mehr vorhanden (Regression: Sig. = 0,3986; β = 0,06; Logit-Modell: Sig. = 0,4518; Koeff. = 0,26). Der Einfluß des Modells ist mithin nur noch mittelbar, nämlich durch Anhebung der Informalisierungsquote im Umland, nachweisbar. An dieser zentralen Stelle der Untersuchung soll das gewählte Parallelgruppen-Design um eine Vorher-Nachher-Analyse auf der Ebene der Staatsanwaltschaft (vor/nach Einrichtung des Modellversuchs) ergänzt werden. Die Voruntersuchung, die eigentlich nur darüber Auskunft geben sollte, welche präventionsrelevanten Informationen ohne ein besonderes Informationsmodell in den Ermittlungsakten zu finden sind, kann an dieser Stelle für die Frage herangezogen werden, ob sich die oben dargestellten Unterschiede auch im Vergleich der Fallerledigung vor und nach Einführung des Modells zeigen.

Multivariate Analysen (Impact) Abb. 4.2:

529

Erledigung der mittelschweren Diebstahlsfalle in zwei Piusen des Modellversuchs

1. MeBzeitpunkt

2. MeBzeitpunkt

100%

80% -

60%

40%

20%

0%

Stadt

Umland

¡ B U Formell erledigt

Stadt

Umland

L"-ü Informell erledigt

'Prozent bezogen auf anklagefähige Fälle

Vergleicht man alle mittelschweren Diebstahlsverfahren aus der Voruntersuchung mit allen mittelschweren Diebstahlsfällen aus der Hauptuntersuchung unter Anwendung einer Drittvariablenkontrolle (ein Regressions- oder Logit-Modell ist aufgrund der Fallzahlen nicht möglich), so ergibt sich folgender Befund:

Tab. 4.3:

Mittelschwere Diebstahlsfalle und staatsanwaltliche Erledigung vor und nach Einführung des Modellversuchs UNTERSUCHUNGSZEITRAUM

ERLEDIGUNG

Vor Modelleinführung

Nach Modelleinführung

Summe

Anklage

25 74%

67 44%

92 49%

Informalisierung

9 26%

86 56%

95 51%

34

153

187

Summe

χ 2 = 8,69; α = 0,003; phi = 0,23

530

Staatsan waltschaftliche Entscheidung

Die mittelschweren Diebstahlsfalle wurden demnach vor Einführung des Modells signifikant seltener eingestellt als nach Einführung des Modells. Vergleicht man nun die Erledigung der mittelschweren Diebstahlsfälle der Voruntersuchung mit der im ersten Zeitabschnitt (zur Einteilung der Zeitabschnitte: siehe oben) nach Einführung des Modells, so zeigt sich folgendes:

Tab. 4.4:

Mittelschwere Diebstahlsfalle und staatsanwaltliche Erledigung vor Einführung und nach Einführung (Anfangsphase) des Modellversuchs UNTERSUCHUNGSZEITRAUM

ERLEDIGUNG

Vor Modelleinführung

Anfangsphase Modellversuch

Summe

Anklage

25 74%

16 46%

41 59%

Informalisierung

9 26%

19 54%

28 41%

34

35

69

Summe

χ2 = 4,44; α = 0,035; phi = 0,28

Auch diese Gegenüberstellung zeigt einen signifikanten Unterschied in der Erledigung der mittelschweren Diebstahlsfälle vor Einfuhrung des Modells und in der ersten Modellphase

dahingehend,

daß der

gewünschte Informalisierungseffekt

bereits in der ersten Phase deutlich in Erscheinung trat.

4.2.3

Deliktsgruppe Diebstahl, Untergruppe schwere Fälle

Für die schweren Fälle wird der Frage nach möglichen Anfangseffekten nur mittels multivariater Analyse nachgegangen. Hierbei zeigt sich, daß weder im Verlauf der ersten noch im Verlauf der zweiten Phase ein signifikanter Unterschied zwischen Stadt und Umland hinsichtlich der Erledigungsstruktur besteht.

1. Zeitabschnitt: Regression

Region

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

0,01

0,8342

0,08

0,8881

531

Multivariate Analysen (Impact)

2. Zeitabschnitt: Regression

Region

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

-0,04

0,2940

-0,23

0,4323

Die Zusammenhangsbefunde sind für beide Zeitabschnitte nicht signifikant. Zusammenfassend ist festzuhalten: Für die Diebstahlsbagatellen zeigt sich auch bei der zeitspezifischen Analyse das bereits bekannte Bild der schematischen Verfahrenseinstellung, das vom Informationsmodell nicht berührt wird. Im Bereich der mittelschweren Diebstahlsdelikte vermochte das Bielefelder Modell in der Anfangsphase eindeutig die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zugunsten einer informellen Erledigung zu beeinflussen. Nach einer gewissen Gewöhnungsphase übernahmen die Staatsanwälte diese im Modellsinne geänderte Entscheidungsstruktur auch für die Verfahren aus dem Umland. Wie ist dieses Ergebnis zu interpretieren? Bei der Analyse der Entscheidungsbedingungen wurde festgestellt, daß sich Staatsanwälte überwiegend an pauschalen Schwerekriterien wie Schadenshöhe und Vorbelastung orientieren. Bis zur Einführung des Informationsmodells erschien eine Verfahrenseinstellung nur tolerabel und begründbar, soweit die pauschalen Kriterien bei der Schwerebemessung des Einzelfalls an ihrer unteren Ausprägungsgrenze (möglichst geringer Schaden; keine Vorbelastung) verblieben. Durch die behördlich autorisierte Einführung des Informationsmodells und auch durch die polizeiliche Anregung einer informellen Erledigung auf dem Informationsbogen wurde den Staatsanwälten gleichsam ermöglicht, die selbst gesetzten starren Entscheidungsgrenzen teilweise aufzuheben. In der Anfangsphase des Modells hat das Experimentierverhalten bei der Entscheidungsfindung (etwa einen Fall auch dann einzustellen, wenn eine Vorbelastung vorhanden ist oder der Schaden die Richtlinienhöhe von 100 DM übersteigt) die "Schwellenangst" der Staatsanwälte vor der Verfahrenseinstellung bei mittelschwerer Jugendkriminalität zurückgedrängt und nach und nach eine neue Entscheidungsroutine entfaltet. Dies hatte — zumal bei personaler Identität der Zuständigkeit — einen Ausstrahlungseffekt auf die Umlandfälle, auch wenn dort kein Informationsbogen zur Verfügung stand. Den Impuls für eine informelle Erledigung dürfte im Umland die Reuebekundung darstellen, die hier an die Stelle des polizeilichen Informalisierungsvorschlags treten kann.

532

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Bei den schweren Fällen vermochte der Informationsbogen keine Veränderung der Entscheidungsstruktur herbeizuführen. Diese Fälle liegen offenbar, bis auf wenige Ausnahmen, über der neu gewonnenen Toleranzschwelle der Staatsanwaltschaft hinsichtlich einer informellen Erledigung.

5

Akzeptanz und Ablehnung des Modells durch die einzelnen Dezernenten der Staatsanwaltschaft

Obgleich die Einführung des Informationsmodells durch die übergeordnete Behörde für die Staatsanwälte nur Empfehlungscharakter hat, kommt einer solchen Verfugung im Behördenalltag durchaus ein gewisser Verpflichtungseffekt zu. Von der Behördenleitung wird unterstellt, daß der normative Charakter der Empfehlung zu weitgehend einheitlichen Entscheidungsveränderungen führt. Gleichwohl bleibt dem einzelnen Staatsanwalt ein persönlicher Akzeptanzspielraum, dem der nun folgende Untersuchungsabschnitt gewidmet ist. Aus Gründen des Datenschutzes gilt für die nachfolgenden Darstellungen: — Die Dezernatsnummern, die hier vergeben wurden (1 bis 6), entsprechen nicht den behördlichen Dezernatskennziffern bzw. der dort üblichen Reihenfolge. — Die genauen Fallzahlen für das Ausmaß der Verfahrenserledigung im Untersuchungszeitraum werden für die einzelnen Dezernenten nicht mitgeteilt. Es werden nur die durchschnittlichen Fallzahlen pro Dezernent und die maximale Abweichung von den Mittelwerten genannt.

5.1

Analyse der Entscheidungsbedingungen der Dezernenten (Implementation)

In die folgende Betrachtung werden nur Diebstahlsdelikte einbezogen. Die bisherige Analyse hat gezeigt, daß die Bagatellfälle nahezu vollständig informell erledigt werden, d.h. sie weisen bei der Zielvariablen "Erledigung" kaum Varianz auf. Das gilt für die Stadtgruppe und für die Umlandgruppe. Da diese Bagatellfälle, wie oben dargelegt, schematisch erledigt werden, haben Formalkriterien wie Vorbelastung und Schadenshöhe einen dominanten Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung. Aus diesen Gründen werden die Diebstahlsbagatellen aus der folgenden Analyse ausgenommen. Auch ist eine Analyse in den Untergruppen mittelschwerer und schwerer Diebstahlsfalle, wie oben praktiziert, hier nicht möglich, da die Fallzahlen pro Untergruppe und Dezernent für die multivariate Analyse zu klein werden. Betrachtet man deshalb mittelschwere und schwere Fälle gemeinsam, so lassen sich durchaus Aussagen zu den Entscheidungskriterien der einzelnen Dezernenten machen.

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

533

Die Verteilung der Verfahren auf die Jugenddezernenten erfolgt in der Bielefelder Staatsanwaltschaft nach den Anfangsbuchstaben der Beschuldigtennamen. Es ist daher eine Zufallszuordnung der Verfahren zu den Dezernenten im Hinblick auf Fallmerkmale zu erwarten. So hat ein bestimmter Dezernent beispielsweise nicht mehr ausländische Beschuldigte als ein anderer. Insgesamt entfallen auf jeden Dezernenten im Untersuchungszeitraum (und bezogen auf die Stichprobe, siehe oben) durchschnittlich 123 (maximale Abweichung + / - 45) Diebstahlsverfahren im Stadtbezirk und durchschnittlich 142 (maximale Abweichung + / - 43) Diebstahlsverfahren im Umland. Eingeschränkt auf die Gruppe der mittelschweren und schweren Diebstahlsdelikte, die hier näher analysiert werden sollen, hatte ein Dezernent im Stadtbezirk durchschnittlich 80 (maximale Abweichung + / - 25) solcher Verfahren zu erledigen. Auf das Umland entfielen im gleichen Zeitraum 96 (maximale Abweichung + / - 35) mittelschwere und schwere Diebstahlsverfahren. Es sei hier erneut in Erinnerung gerufen, daß sich auch die folgenden Analysen nur auf anklagefähige Fälle erstrecken. Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO und sonstige Erledigungsformen werden nicht berücksichtigt. Auch bei den folgenden Regressionsrechnungen wurde die abhängige Variable in folgender Weise kodiert: formelle Erledigung = 0; informelle Erledigung = 1.

5.1.1 •

Vergleich der Entscheidungskriterien im Stadtbezirk und im Umland

Dezernent 1

Für die ausgewählte Deliktsgruppe und den ersten Jugenddezernenten der untersuchten Staatsanwaltschaft erweisen sich die in Tab. 5.1 aufgeführten Kriterien für die Entscheidung über Verfahrenseinstellung oder Anklage im Zuständigkeitsbereich des Informationsmodells als maßgeblich. Zwar hat bei Dezernent 1 die Variable Vorbelastung den stärksten Einfluß auf seine Entscheidung; gleichwohl nutzt er auch die Informationen aus dem polizeilichen Informationsmodell. Insbesondere der polizeiliche Verfahrensvorschlag (informell) hat einen deutlichen Einfluß zugunsten der informellen Erledigung. Darüber hinaus begünstigt auch die erfolgte Schadenswiedergutmachung die Einstellung des Verfahrens. Die bei der Gesamtanalyse zentrale unabhängige Variable "Schadenshöhe" zeigt bei Dezernent 1 hingegen keinen Einfluß auf die Entscheidungsfindung. Im Verbund mit der Feststellung, daß die Variable "Ladendiebstahl" in simultaner Wirkung mit den übrigen unabhängigen Variablen einen positiven Einfluß auf die informelle Verfahrenserledigung hat, läßt sich folgende Schlußfolgerung ziehen: Wird einem Beschuldigten ein Ladendiebstahl (bedingt

534

Staatsanwaltschañliche Entscheidung

Tab. 5.1: Dezernent 1; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Stadtbezirk Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Polizeivorschlag (informell = 1) — Ladendiebstahl (ja - 1) — Schadenswiedergutmachung (erfolgt = 1)

2

Logit-Modell Pseudo-R2

37%

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0096 0,0392 0,0533 0,0871

-1,38 5,06 2,46 3,03

0,0103

ß -0,31 0,27 0,24 0,20

46%

0,0414 0,1126

durch die Deliktsauswahl: außerhalb des Bagatellbereichs) vorgeworfen, so hat er bei Dezernent 1 gute Aussichten, daß das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, auch wenn der Wert des gestohlenen Guts über der sonst üblichen Wertgrenze von 100 D M liegt. Das gilt zumal dann, wenn seitens der Polizei eine Informalisierung empfohlen wird. Wir wenden uns nun den Entscheidungsbedingungen zu, die Dezernent 1 bei Verfahren aus dem Umland heranzieht.

Tab. 5.2: Dezernent 1; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Umland Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Schadenshöhe - Geständnis (ja = 1) — Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten (ja = 1)

2

Logit-Modell Pseudo-R2 62%

47%

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

-0,43 -0,39 0,26

0,0001 0,0001 0,0003

-3,02 -4,61 4,17

0,0002 0,0007 0,0026

0,23

0,0021

1,81

0,0293

535

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

Bei den Umlandfällen orientiert sich Dezernent 1 bei seiner Verfahrensentscheidung wieder deutlich an pauschalen Indikatoren der kriminellen Karriere bzw. der Tatschwere. Nur das tatbegünstigende Verhalten des Geschädigten vermag die Entscheidung zugunsten einer Einstellung zu beeinflussen. Dezernent 1 zieht demnach dort, wo präventionsrelevante Informationen verfügbar sind, diese zur Entscheidung heran, wenngleich der Einfluß der schematischen Schwerekriterien nicht vollständig zurückgedrängt wird. Stehen nur wenige präventionsrelevante Informationen zur Verfügung, so erfolgt seine Entscheidungsfindung nahezu ausschließlich anhand von allgemeinstrafrechtlichen, tat-/täterbezogenen Schwerekriterien.



Dezernent 2

Die Regressionsrechnung liefert wiederum die als entscheidungserheblich verbliebenen, d.h. bei den Beta-Werten signifikant korrelierten unabhängigen Variablen für die Verfahren aus dem Stadtbezirk.

Tab. 5.3: Dezernent 2; Regressionsmodell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfálle im Stadtbezirk

Regression R2 Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Polizei Vorschlag (informell = 1) — Polizei Vorschlag (Enthaltung = 1) — Vorbelastung — Besondere Bemerkung (positiv = 1)

35%

ß

Sig.

0,37 0,26 -0,23 0,21

0,0089 0,0530 0,0895 0,0838

Als wichtigstes Entscheidungskriterium wird bei Dezernent 2 der polizeiliche Informalisierungsvorschlag ausgewiesen. Selbst eine Vorschlagsenthaltung des Polizeibeamten wirkt sich im Vergleich mit einem Anklagevorschlag positiv für den Beschuldigten aus. Allerdings hat auch die Vorbelastung des Beschuldigten einen relevanten Einfluß auf die Entscheidung von Dezernent 2. Dieser ist jedoch nicht gegen den Zufall abgesichert. Auch die positive Bemerkung des Polizeibeamten über den Beschuldigten ist zwar relevant für die staatsanwaltschaftliche

536

Staatsan waltschafüiche Entscheidung

Entscheidung, zeigt aber gleichfalls kein signifikantes Niveau. Insgesamt läßt sich sagen, daß Dezernent 2 zwar nicht gänzlich auf Schwerekriterien verzichtet; die Variable Polizeivorschlag (informell) konnte jedoch die Bedeutung dieser Kriterien deutlich in den Hintergrund drängen. Ein Logit-Modell konnte hier nicht berechnet werden. Zu den Verfahren aus dem Kontrollbezirk des Umlands:

Tab. 5.4: Dezernent 2; Regressionsmodell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfälle im Umland

Regression R2 Erklärungskraft Unabhängige Variablen — Einbruchsdiebstahl (ja = 1) — Vorbelastung

10%

ß

Sig.

-0,24 -0,24

0,0591 0,0671

Für das Umland liegt das gerechnete Regressionsmodell an der Grenze der Generalisierbarkeit. Das übliche Signifikanzniveau wird nur knapp überschritten. Das Logit-Modell liefert keine signifikanten Werte. Es deutet sich auch bei Dezernent 2 an, daß für die Entscheidung außerhalb der Informationsversorgung durch den Modellversuch keine jugendstrafrechtsspezifischen Entscheidungsbedingungen verfügbar sind. Insgesamt betrachtet ist Dezernent 2 bereit, den Polizei Vorschlag, soweit vorhanden, für die Einstellungs-/Anklageentscheidung unter Ausweitung informeller Erledigungen zu nutzen. Ohne diese zusätzlichen Informationen orientiert er sich jedoch an den Standardkriterien, die bei der ausgewählten Deliktskonstellation eher gegen eine informelle Erledigung sprechen.



Dezernent 3

Wir kommen zu den Entscheidungsgrößen, die bei Dezernent 3 für den Verfahrensausgang unter Berücksichtigung des Informationsmodells verantwortlich sind.

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

537

Tab. 5.5: Dezernent 3; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Stadtbezirk Regression 2

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Tatbegehung mit anderen (ja = 1) — Anzahl der Taten — Besondere Bemerkung (positiv = 1) — Tatbegehung mit anderen (unklar = 1 ) — Schadenswiedergutmachung (verweigert = 1)

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

45%

46%

ß -0,56 -0,27 -0,21 0,20 -0,18 -0,15

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0043 0,0356 0,0201 0,0931 0,0875

-3.11 -4,10 -2,69

0,0002 0,0053 0,0017

-

-

-

-





Für Dezernent 3 bleiben auch nach Einführung des Informationsmodells die formalen strafrechtlichen Schwerekriterien entscheidungsrelevant. Die Variable Vorbelastung überwiegt mit ihrem außerordentlich hohen Beta-Wert den Einfluß der anderen Variablen deutlich. Hat der Beschuldigte die Tat mit anderen begangen, so wirkt sich dies bei Dezernent 3 ebenfalls zugunsten einer Anklageentscheidung aus. Wie bereits oben erläutert, könnte für dieses Entscheidungsmuster die pragmatische Kriminalitätstheorie verantwortlich sein, wonach eine Tat, die im Zusammenwirken mit anderen begangen wurde, als organisierte und damit besonders verfestigte Delinquenz erscheint. Es ist jedoch auch denkbar, daß hier die bereits erwähnten bürokratietypischen Zeitersparnisgründe eine Rolle spielen. Demnach könnte ein Beschuldigter auch deshalb angeklagt werden — obwohl er eigentlich die Voraussetzungen für eine Einstellung des Verfahrens erfüllt —, weil sein Mitbeschuldigter diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Aus zeitökonomischen Gründen wird das Verfahren gegen beide Beschuldigte in einer Anklage erledigt. Auch die Anzahl der Taten wirkt sich bei Dezernent 3 zu Lasten einer Verfahrenseinstellung aus. Je mehr Taten dem Beschuldigten vorgeworfen werden, desto wahrscheinlicher hat er mit einer Anklage zu rechnen. Die einzige Variable, die Dezernent 3 zugunsten einer informellen Erledigung gelten läßt, ist die besondere positive Bemerkung des Polizeibeamten. Verglichen mit den formalen Kriterien ist ihr Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung eher gering. Das übliche Signifikanzniveau verfehlen die Variablen "verweigerte Schadenswiedergutmachung" und "unklare Tatbegehung mit anderen", deren Einflußgewicht auch

538

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

nur knapp über der Relevanzgrenze liegt. Beide wirken sich gegen die Verfahrenseinstellung aus. Dezernent 3 zeigt bei den Verfahren aus dem Umland das folgende Entscheidungsmuster:

Tab. 5.6: Dezernent 3; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Umland Regression

Logit-Modell

R2

Pseudo-R2

35%

32%

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Schadenshöhe — Reuebekundung (ja = 1) — Soziale Gruppenzugehörigkeit (positiv = 1) — Besondere Bemerkung (negativ = 1 ) — Vorbelastung

ß -0,37 0,22 0,22 -0,19 -0,19

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0142 0,0172 0,0385 0,0413

-1,82 1,75 1,53

0,0009 0,0273 0,1068

-

-0,87

0,0193

Auch bei den Umlandfallen zeigt sich der dominante Einfluß der pauschalen Schwerekriterien auf die Entscheidung von Dezernent 3. Zugunsten der Verfahrenseinstellung wirkt sich hier die Reuebekundung des Beschuldigten aus. Allerdings hat die eher unterschichtsdiskriminierende Variable "soziale Gruppenzugehörigkeit" einen nahezu gleich großen Einfluß auf die Entscheidung des dritten Dezernenten wie die Variable "Reuebekundung". Bei negativ besetzter sozialer Gruppenzugehörigkeit des Beschuldigten tendiert die Verfahrensentscheidung bei Dezernent 3 eher zur Anklage. Der Befund ist jedoch im Logit-Modell nicht signifikant. Die besonderen Bemerkungen des Polizeibeamten werden nur insoweit bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt, als sie dazu geeignet sind, für den Beschuldigten eine Anklage zu begründen. Dieser Zusammenhang zeigt sich aber nur im Regressionsmodell. Insgesamt läßt sich über Dezernent 3 sagen, daß er seine Entscheidungen fast ausschließlich an pauschalen, allgemeinstrafrechtlichen Schwerekriterien orientiert. Nur in ganz geringem Maße berücksichtigt er präventionsrelevante, jugendstrafrechtstypische Informationen, die er überdies eher als Ausschlußkriterien für die informelle Erledigung heranzieht.

Modellakzeptanz durch die Dezernenten



539

Dezernent 4

Die Entscheidungsstruktur des vierten Dezernenten stellt sich im Regressions- und Logit-Modell, bezogen auf die Verfahren aus dem Stadtbezirk, wie folgt dar:

Tab. 5.7: Dezernent 4; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Stadtbezirk Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Schadenshöhe — Reuebekundung (ja = 1) — Vorbelastung

2

Logit-Modell Pseudo-R2

29%

38%

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0009 0,0162 0,0417

-2,46 1,98 -1,22

0,0017 0,0134 0,0185

β -0,32 0,27 -0,23

Auch Dezernent 4 zeigt sich in seinem Entscheidungsverhalten vom Informationsangebot des Modellversuchs wenig beeindruckt. Die wesentlichen Einflußgrößen sind erneut Vorbelastung und Schadenshöhe. Ein reuiger Tatverdächtiger hat jedoch gute Chancen, daß das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wird. Für die Verfahren aus dem Umland zeigt sich das folgende Entscheidungsmuster:

Tab. 5.8: Dezernent 4; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Umland Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen - Vorbelastung - Schadenshöhe - Einbruchsdiebstahl (ja = 1)

Logit-Modell Pseudo-R2

2

27%

ß -0,42 -0,29 -0,22

30%

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0075 0,0478

-1,39 -1,90

0,0059 0,0064





540

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Bei den Umlandverfahren dominieren negativ besetzte, anklagebegründende Faktoren des kriminellen "Gewichts" von Tat und Täter die Entscheidung des Dezernenten. Insgesamt betrachtet bleibt Dezernent 4 den schematisch anwendbaren Entscheidungskriterien verhaftet. Das Informationsmodell hat in seiner Entscheidungsstruktur nur geringe Spuren hinterlassen.



Dezernent 5

Das Entscheidungsmodell von Dezernent 5 zeigt für die Verfahren aus dem Stadtbezirk das folgende Bild:

Tab. 5.9: Dezernent 5; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Stadtbezirk Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Schadenshöhe — Einbruchsdiebstahl (ja = 1) — Schadenswiedergutmachung (erfolgt = 1)

2

Pseudo-R2 54%

53%

ß -0,62 -0,33 -0,26 0,14

Logit-Modell

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0001 0,0016 0,0695

-3,22 -2,76 -2,85

0,0001 0,0011 0,0059

Bei Dezernent 5 ist die Bedeutung der formalen Schwerekriterien auch unter dem Einfluß des Informationsmodells für seine Verfahrensentscheidung am stärksten ausgeprägt. Die einbezogenen unabhängigen Variablen ermöglichen bei ihm eine außerordentlich hohe Varianzaufklärung seines Entscheidungsmusters. Zugunsten einer Einstellung des Verfahrens wirkt sich nur die erfolgte Schadenswiedergutmachung aus. Ihr Einfluß ist zwar relevant, jedoch nicht hinreichend gegen den Zufall abgesichert. Die Schätzung nach dem Logit-Verfahren weist hier keinen Wert aus. Wir vergleichen diesen Befund wieder mit dem Entscheidungsmuster, das bei der Bearbeitung der Verfahren aus dem Umland erkennbar wird.

541

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

Tab. 5.10: Dezernent 5; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfálle im Umland Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung — Schadenshöhe - Reuebekundung (ja = 1) — Tatbegehung mit anderen (ja = 1)

2

Pseudo-R2

37%

ß -0,36 -0,27 0,21 -0,14

Logit-Modell

41%

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0007 0,0086 0,0655

-1,72 -2,31 1,22 -1,19

0,0001 0,0001 0,0341 0,0409

Auch bei der Erledigung der Umlandfalle dominieren die pauschalen Schwerekriterien wie Vorbelastung und Schadenshöhe die Entscheidung des Staatsanwalts. Bei der Bearbeitung der Umlandverfahren läßt sich Dezernent 5 jedoch auch von der Reuebekundung des Beschuldigten zugunsten einer Einstellung des Verfahrens beeinflussen. Der Einfluß der Variablen "Tatbegehung mit anderen" ist im Regressionsmodell nicht ausreichend gegen den Zufall abgesichert. Nach dem Ergebnis des Logit-Modells liegt der Einfluß dieser Variablen im Signifikanzbereich. Hier dürften ähnliche arbeitsökonomische Bedingungen eine Rolle spielen wie sie bei Dezernent 3 angesprochen wurden. Das gegen den vorherrschenden Trend gerichtete Ergebnis überrascht. Der fehlende Effekt der Informationsbogenvariablen bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk, während vergleichbare Variablen aus den Umlandakten die Entscheidung doch in gewissem Umfang beeinflussen, könnte als bewußte Ablehnung des Bielefelder Modells durch Dezernent 5 gedeutet werden. Möglicherweise werden präventionsrelevante Informationen, die von Polizeibeamten im Rahmen des Modells gezielt ermittelt und bereits auf der Ebene der Polizei in einen Bewertungsvorgang einbezogen werden, nicht akzeptiert.



Dezernent 6

Wir kommen zum abschließenden Entscheidungsmodell, das den multivariaten Berechnungen zu den Stadtbezirksverfahren von Dezernent 6 entnommen werden kann.

542

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Tab. 5.11: Dezernent 6; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Stadtbezirk Regression 2

Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Polizeivorschlag (informell = 1) — Einbruchsdiebstahl (ja = 1) — Schadenswiedergutmachung (verweigert = 1) — Polizeivorschlag (Enthaltung = 1) — Soziale Gruppenzugehörigkeit (positiv = 1)

Logit-Modell

R

Pseudo-R2

49%

50%

ß 0,47 -0,25 -0,20 0,20 0,16

Sig.

Koeff.

Sig.

0,0001 0,0015 0,0136 0,0129 0,0333

4,14 -3,17 -1,57 3,55 1,15

0,0002 0,0051 0,0505 0,0045 0,0980

Dezernent 6 berücksichtigt vorrangig die Einstellungsempfehlung des Vernehmungsbeamten. Bei ihm wird der ansonsten dominierende Kriterienverbund aus Vorbelastung und Schadenshöhe von einer unabhängigen Variablen abgelöst, die erst das Informationsmodell zur Verfügung stellt, nämlich dem polizeilichen Verfahrensvorschlag. Vorbelastung und Schadenshöhe verlieren bei den mittelschweren und schweren Diebstahlsdelikten aus dem Stadtbezirk völlig an Bedeutung für die Verfahrenserledigung. Gegen eine Einstellung des Verfahrens wirkt es sich aus, wenn dem Tatverdächtigen ein Einbruchsdiebstahl vorgeworfen wird oder er sich ausdrücklich weigert, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Selbst die Vorschlagsenthaltung des Polizeibeamten wirkt sich gegenüber einem negativen Polizeivorschlag (formelle Erledigung) bei Dezernent 6 zugunsten einer informellen Erledigung aus. Allerdings bezieht er auch die problematische Variable der sozialen Gruppenzugehörigkeit in seine Entscheidungsfindung ein. Auch das Entscheidungsmodell zu Dezernent 6, das sich auf die Verfahren aus dem Umland bezieht, zeigt die Offenheit für die normativen Kriterien des Jugendgerichtsgesetzes. Hier zeigt sich ebenfalls, daß dieser Dezernent in besonderem Maße bereit ist, präventionsrelevante Informationen zu nutzen. So wirken sich die Reuebekundung, das tatbegünstigende Verhalten des Geschädigten und die Reaktion des sozialen Umfeldes zugunsten einer Einstellung des Verfahrens aus, wobei letztere Variable das verlangte Signifikanzniveau nur knapp erreicht. Wird dem Beschuldigten ein Einbruchsdiebstahl vorgeworfen, so wirkt sich das negativ für eine informelle Erledigung aus. Mit zunehmender Anzahl der vorgeworfenen Taten steigt die Wahrscheinlichkeit einer Anklageerhebung. Bei den Fällen im Umland

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

543

Tab. 5.12: Dezernent 6; Regressions- und Logit-Modell für mittelschwere und schwere Diebstahlsfalle im Umland Regression R Erklärungskraft

Unabhängige Variablen — Vorbelastung - Ladendiebstahl (ja = 1) — Tatbegünstigendes Verhalten des Geschädigten (ja = 1) — Einbruchsdiebstahl (ja = 1) — Soziale Gruppenzugehörigkeit (positiv = 1) — Reuebekundung (ja = 1) — Anzahl der Taten — Schadenshöhe — Reaktion des sozialen Umfeldes (ja = 1)

2

Logit-Modell Pseudo-R2

42%

46%

Sig.

Koeff.

Sig.

-0,39 -0,32

0,0000 0,0059

-1,65 -3,67

0,0000 0,0015

0,26 -0,23 0,19 0,18 -0,18 -0,17 0,15

0,0028 0,0186 0,0167 0,0360 0,0327 0,0670 0,0509

3,65 -4,54 2,60 1,49 -1,09 -1,60 2,86

0,0014 0,0058 0,0058 0,0346 0,0365 0,0129 0,0441

ß

weist die Variable Vorbelastung fast den gleichen Einfluß auf die Entscheidung dieses Staatsanwalts auf wie bei den anderen Dezernenten. Er zeigt insgesamt aber ein breiteres Spektrum an entscheidungserheblichen Bedingungen. Ladendiebstähle außerhalb des Bagatellbereichs werden von Dezernent 6 eher angeklagt als sonstige Diebstähle. Die Variable Schadenshöhe liegt zwar über dem Relevanzniveau; ihr Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung ist allerdings im Regressionsmodell nicht hinreichend gegen den Zufall abgesichert, während das Logit-Modell einen signifikanten Einfluß anzeigt. Dezernent 6 zeigt insgesamt betrachtet große Bereitschaft, von einer formalen Entscheidungsroutine abzuweichen, soweit ihm der Polizeivorschlag zur Verfügung steht. Der Polizei Vorschlag, der auf die Erkenntnisse aus dem Informationsbogen rekurriert, wird bei diesem Dezernenten häufig in die Verfahrensentscheidung einbezogen. Das entspricht dem Ziel des Informationsmodells, wonach gerade authentische Informationen über den Beschuldigten, die im Regelfall bis zu einer möglichen Hauptverhandlung nur die Polizei erlangt, stärker in die Entscheidung über den weiteren Verfahrensablauf einzubeziehen sind. Bei Dezernent 6 scheint dieses Ziel erreicht zu sein.

544 5.1.2

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Vergleichende Analyse der Entscheidungskriterien der Dezernenten

Die Analyse der Entscheidungskriterien der Dezernenten hat bereits gezeigt, daß durchaus beachtliche Unterschiede im Entscheidungsmuster wie auch bei der damit verbundenen Akzeptanz des Informationsmodells bestehen. Der folgende Abschnitt soll dazu dienen, diese Unterschiede systematischer zusammenzustellen. Die sechs Jugendstaatsanwälte können nach den Ergebnissen der Dezernentenanalyse bezüglich der Akzeptanz, die der Modellversuch bei ihnen gefunden hat, in drei Kategorien eingeteilt werden: — Dezernenten, die das Modell ablehnen: präventionsbezogene Informationen gehen in ihre Entscheidung nicht oder nur am Rande ein; — Dezernenten, die das Modell teilweise annehmen: präventionsbezogene Informationen werden in ihre Entscheidung mit einbezogen; — Dezernenten, die das Modell annehmen: präventionsbezogene Informationen dominieren ihre Entscheidung. Die Dezernenten 3, 4 und 5 lehnen das Informationsmodell eher ab. In ihre Entscheidungen werden die nun zusätzlich vorhandenen Informationen kaum einbezogen. Diese Dezernenten orientieren sich nach wie vor fast ausschließlich an den formalen, aus dem allgemeinen Strafrecht stammenden tat- und täterbezogenen Schwerekategorien wie Vorbelastung, Schadenshöhe, Geständnis und der Anzahl der Taten. Bei den Dezernenten dieser Kategorie ist auffallend, daß die Reuebekundung des Tatverdächtigen nur bei den Verfahren aus dem Umland einen gewissen Einfluß auf ihre Entscheidung zugunsten einer Verfahrenseinstellung hat. Bei Dezernent 5 ist die fehlende Akzeptanz gegenüber den Informationsbogenvariablen besonders deutlich ausgeprägt. Dezernent 3 läßt zumindest die positive Bemerkung des Polizeibeamten über den Beschuldigten in seine Informalisierungsentscheidung einfließen. Zu der zweiten Gruppe, der bedingten Zustimmung, gehört Dezernent 1. Seine Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, daß er die Hinweise aus dem Informationsmodell nutzt, ohne allerdings sein eher an pauschalen Schwerekategorien orientiertes Entscheidungsmuster aufzugeben. Das formalistische Entscheidungsmuster zeigt sich insbesondere bei der Erledigung der Umlandverfahren. Hier unterscheidet sich Dezernent 1 kaum von den Dezernenten 3, 4 und 5. Bei den Verfahren aus dem Stadtbezirk hingegen wirken sich bei seiner Entscheidungsfindung eher die Variablen des Informationsbogens aus, die in geringerem Maße subjektiver Bewertung zugänglich erscheinen, wie z.B. Feststellungen zur Schadens Wiedergutmachung.

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

545

Weitgehende Zustimmung zum Informationsmodell zeigen nur die Dezernenten 2 und 6. Sie haben das übliche formale Entscheidungsmuster bei der Bearbeitung der Verfahren aus dem Stadtbezirk aufgegeben. Bei ihrer Entscheidungsfindung konnten die sonst so dominanten Variablen Vorbelastung und Schadenshöhe zugunsten der jugendstrafrechtstypischen Informationen über die Beschuldigtenpersönlichkeit und sein Umfeld verdrängt werden. Aus dem Informationsbogen haben sie sich überwiegend den polizeilichen Vorschlag als summarischen Indikator über das Vorliegen von Einstellungsbedingungen zu eigen gemacht. Bei der Erledigung der Umlandfalle unterscheidet sich Dezernent 6 ebenfalls von den übrigen Dezernenten. Zwar berücksichtigt auch er bei den Verfahren aus dem Umland die Variablen Vorbelastung und Schadenshöhe für die Verfahrenserledigung; die von ihm entschiedenen Fälle zeigen aber bei der Schadenshöhe den geringsten Beta-Wert im Vergleich mit den Fällen, die von den anderen Dezernenten entschieden wurden. Er zeigt jedoch auch bei der Erledigung der mittelschweren und schweren Diebstahlsfalle im Umland große Bereitschaft, die dort in geringerem Maße vorhandenen präventionsrelevanten Informationen zu nutzen. Dezernent 2 hingegen unterscheidet sich bei der Erledigung der Umlandfälle kaum von den Dezernenten 1, 3, 4 und 5.

5.2

Verhältnis von informeller und formeller Erledigung im Stadtbezirk und im Umland, bezogen auf die einzelnen Dezernenten (Impact)

In der bisher vorgenommenen Dezernentenanalyse standen die tat- und täterbezogenen Bedingungen für ihre Verfahrensentscheidung im Vordergrund. Im Vergleich der Verfahren aus dem Stadtbezirk und dem Umland wurde durch die Ermittlung des dezernententypischen Entscheidungsmusters zugleich festgestellt, wie weit das Informationsmodell vom einzelnen Staatsanwalt akzeptiert wurde (Untersuchung der dezementenspezifischen Modellimplementation). Im nun folgenden Analyseschritt (5.2.1) wird die Wirkung des Informationsmodells auf das Verhältnis von Verfahrenseinstellung zur Anklage für jeden Dezernenten untersucht. Hierzu wird zunächst die Verteilung formeller und informeller Erledigungen im Vergleich Stadtbezirk und Umland im Zuständigkeitsbereich des einzelnen Dezernenten untersucht. In einem zweiten Schritt (5.2.2) werden dann mögliche Unterschiede in der Verteilung formeller und informeller Erledigungen zwischen den Dezernenten analysiert (Untersuchung der dezernentenspezifischen Modelleffektivität).

546

5.2.1

Staatsanwaltschaftliche

Entscheidung

Vergleich der Entscheidungsstrukturen im Stadtbezirk und im Umland bezogen auf den einzelnen Dezernenten

Nachdem die relativ geringen Einflüsse des Informationsmodells auf die Entscheidungsfindung der Staatsanwälte herausgearbeitet wurden, wird nun überprüft, ob das Bielefelder Modell die Verteilung der formellen und informellen Erledigungen im Vergleich Stadtbezirk und Umland auf Dezernatsebene beeinflussen konnte. Die Stadt- und Umlandfälle werden dazu gemeinsam in eine Regressionsrechnung einbezogen. Die Erklärungskraft der Variablen "Region" soll darüber Auskunft geben, ob hinsichtlich der Verteilung der formellen und informellen Verfahrenserledigungen im Modellbezirk und im Umland ein signifikanter Unterschied besteht. In der Regressionsrechnung werden alle Variablen berücksichtigt, die zur Parallelisierung des Fallinputs benötigt werden. Variablen, die eine hohe Interkorrelation mit der Variablen "Region" aufweisen, werden nicht in die Regressionsrechnung einbezogen, da sie mögliche Modelleffekte überdecken könnten. Die erste Hypothese lautet, daß bei den Dezernenten 3, 4 und 5, die das Informationsmodell nach der bisherigen Analyse ablehnen, keine signifikanten Unterschiede in der Verteilung formeller und informeller Erledigung im Vergleich Stadtbezirk und Umland festzustellen sein werden. Diese Hypothese hat sich bestätigt. In keiner Diebstahlsausprägung (alle Diebstahlsfälle; mittelschwere und schwere Fälle zusammen betrachtet; schwere Fälle für sich betrachtet) weist die Variable "Region" einen signifikanten Einfluß auf die Verfahrensentscheidung auf. Die zweite Hypothese lautet, daß bei Dezernent 1, der das Informationsmodell teilweise akzeptiert, die Variable "Region" signifikant auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung wirkt. Diese Hypothese konnte nicht bestätigt werden. Bei ihm ist in keiner Diebstahlsausprägung ein signifikanter Einfluß der Variablen "Region" festzustellen. Die dritte Hypothese lautet, daß sich bei den Dezernenten 2 und 6, die das Informationsmodell akzeptieren, ein deutlicher Einfluß der Variablen "Region" auf die Verfahrensentscheidung zeigen wird. Bei Dezernent 2 läßt sich ein signifikanter Einfluß der Variablen "Region" auf seine Entscheidungsfindung nachweisen. Betrachtet man die mittelschweren und schweren Fälle zusammen, so weist die Variable "Region" einen Beta-Wert von 0,24 (Sig. = 0,0045) (Logit-Modell: Koeff. = 1,28; Sig. = 0,0184) auf. Berücksichtigt man bei der Regressionsanalyse nur die schweren Diebstahlsfälle, so zeigt sich bei Dezernent 2 noch immer ein signifikanter Einfluß der Testvariablen auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung (β = 0,24; Sig. = 0,0136). Die Analyse mit dem Logit-Verfahren ermittelt dagegen keinen signifikanten

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

547

Zusammenhang der Variablen "Region" mit der Entscheidung des Staatsanwalts (Koeff. = 1,53; Sig. = 0,0714). Bei Dezernent 2 ist insgesamt betrachtet eine statistisch meßbare Veränderung bei der prozentualen Verteilung von Anklage und Einstellung aufgrund des Bielefelder Modells eingetreten (Impact). Für Dezernent 6 konnte diese These hingegen nicht bestätigt werden. Bei Dezernent 6 weist die Testvariable in keiner Diebstahlsausprägung einen signifikanten Einfluß auf die Entscheidungsfindung auf. Der Grund ist darin zu sehen, daß die Quote seiner Verfahrenseinstellungen im städtischen Modellbezirk ähnlich hoch liegt wie bei den Verfahren aus dem Umland. Bei Dezernent 6 hat das Bielefelder Modell nicht nur eine Entscheidungsveränderung im unmittelbaren Bereich des Modells bewirkt, sondern darüber hinaus eine generelle Sensibilisierung für präventionsrelevante Kriterien herbeigeführt. Diese wirkt sich auch bei den Umlandfällen informalisierungsförderlich aus.

5.2.2

Vergleichende Analyse der Entscheidungsstrukturen der Dezernenten

Für den Vergleich der Entscheidungsstrukturen der Dezernenten wird folgende Vorgehensweise gewählt: Aufgrund der Ergebnisse aus dem Abschnitt 5.1, wonach sich die Entscheidungskriterien der einzelnen Dezernenten im Vergleich Stadtbezirk und Umland stark unterscheiden, werden auch bei der folgenden Analyse Verfahren aus dem Stadtbezirk und aus dem Umland gesondert betrachtet. Die Dezernentenkennziffern werden als Dummy-Variablen in die Regressionsrechnung einbezogen. Aus den ursprünglich sechs Ausprägungen der Variablen "Dezernentenziffer" werden, wie oben an einem anderen Beispiel beschrieben, sechs Dummy-Variablen gebildet. Eine dieser Dummy-Variablen wird als Referenzkategorie wiederum aus den Berechnungen ausgenommen. Zeigt eine Dezernentenziffer einen signifikanten Einfluß auf die staatsanwaltschaftliche Erledigung, so kann dies als generalisierbare Abweichung der Erledigungsstruktur im Vergleich zur Referenzkategorie angesehen werden. Als Referenzkategorie wurde Dezernent 6 gewählt, weil dieser die Zielsetzung des Modells am besten verkörpert.

(1)

Verfahren aus dem Stadtbezirk

Betrachtet man alle Diebstahlsfalle aus dem Stadtbezirk, so zeigt sich bei den Dezernenten 1 und 4 zwar ein signifikanter, jedoch kein relevanter Unterschied im Vergleich zur Referenzkategorie:

548

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Regression

Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent

1 2 3 4 5

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

•0,06 0,01 •0,03 •0,07 •0,01

0,0134 0,8250 0,1906 0,0038 0,7555

-1,14

0,0131

-1.38

0,0016

Die Dezernenten 1 und 4 erledigen die Diebstahlsfälle in der Stadtgruppe im Vergleich zu Dezernent 6 eher formell. Die Dezernenten 2, 3 und 5 hingegen unterscheiden sich in ihrer Erledigungsstruktur bei den Diebstahlsfällen in der Stadtgruppe nicht signifikant von Dezernent 6. Dieses Ergebnis folgt aus dem Regressions- und aus dem Logit-Modell. Allerdings sind die Unterschiede — gemessen an ihrer Relevanz - nicht gravierend. Nimmt man auch hier die Bagatellen wegen ihres hohen Anteils an allen informell erledigten Fällen aus der Betrachtung heraus und untersucht nur die mittelschweren und schweren Diebstahlsfälle zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

Regression

Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent

1 2 3 4 5

Logit-Modell

ß

Sig.

Koeff.

Sig.

•0,10 0,00 0,06 •0,13 0,04

0,0086 0,9538 0,0975 0,0007 0,2993

-1,11

0,0197

-0,69 -1,41

0,1090 0,0021

Die Entscheidungsstrukturen der Dezernenten 1 und 4 weichen wieder signifikant von der des Dezernenten 6 ab. Bei dieser Fallkonstellation hat der Einfluß der Dezernatsvariablen auf die staatsanwaltschaftliche Erledigung als relevant zu gelten. Beide Dezernenten verfügen bei den mittelschweren und schweren Diebstahlsfällen aus der Stadtgruppe deutlich häufiger eine Anklage als Dezernent 6. Der Einfluß der Dezernatsvariablen 3 ist weder signifikant noch hat der Beta-Wert das nötige Relevanzniveau erreicht. Auch hier werden die Ergebnisse der Regressionsrechnung durch die Befunde des Logit-Modells bestätigt.

549

Modellakzeptanz durch die Dezernenten

Untersucht man die Unterschiede in den Erledigungsstrukturen der einzelnen Dezernenten anhand der schweren Diebstahlsfalle, so zeigt sich, daß sich ein Dezernent positiv von der Referenzkategorie abhebt:

Regression

Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent

1: 2: 3: 4: 5:

ß

Sig.

-0,05 0,11 -0,01 -0,11 -0,03

0,2402 0,0164 0,8269 0,0190 0,5910

Logit-Modell Koeff. —

1,71

Sig. —

0,2781



-2,06 -

0,0068 -

Dezernent 4 weicht nach wie vor negativ von der Referenzkategorie ab. Er erledigt schwere Diebstahlsfalle häufiger formell als Dezernent 6. Bei Dezernent 2 verhält es sich umgekehrt. Dieser erledigt die schweren Diebstahlsverfahren aus dem Stadtgebiet in höherem Ausmaß informell als Dezernent 6. Das Logit-Modell weist hier einen Unterschied zum Regressionsmodell auf. Danach weicht Dezernent 2 nicht signifikant im Entscheidungsverhalten von Dezernent 6 ab.

(2)

Verfahren aus dem Umland

Betrachtet man alle Diebstahlsfalle aus dem Umland, so zeigt sich der folgende Befund:

Regression

Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent

1: 2: 3: 4: 5:

ß

Sig.

0,01 -0,11 0,01 -0,10 -0,05

0,8621 0,0001 0,6341 0,0001 0,0658

Logit-Modell Koeff.

Sig.





-1,24

0,0026

-

-1,22 -0,58

-

0,0032 0,1067

Dezernent 2 weicht bei den Umlandfallen negativ von der Referenzkategorie ab. Er greift, bezogen auf alle Diebstahlsfalle, signifikant häufiger zur Anklage. Das

550

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

gilt ebenso für Dezernent 4. Bei Dezernent 5 ist die Abweichung dagegen nicht mehr ausreichend gegen den Zufall abgesichert; der Beta-Wert erreicht überdies nicht das festgesetzte Relevanzniveau. Auch hier wird das Ergebnis der Regression im vollen Umfang durch das Logit-Modell bestätigt. Nimmt man auch bei den Verfahren aus dem Umland die Bagatellfälle aus der Analyse aus, so stellt man folgende Abweichungen fest:

Regression

Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent

1 2: 3: 4: 5:

ß

Sig.

-0,01 -0,13 0,03 -0,13 -0,06

0,7682 0,0003 0,4244 0,0002 0,1030

Logit-Modell Koeff.

Sig.





-1,49

0,0020





-1,57

0,0009



-

Bei dieser Fallkombination weichen die Dezernenten 2 und 4 ebenfalls deutlich von Dezernent 6 hinsichtlich ihrer Erledigungsstruktur ab. Die mittelschweren und schweren Diebstahlsfalle im Umland werden von Dezernent 6 signifikant häufiger informell erledigt als bei den Dezernenten 2 und 4. Die Ergebnisse nach dem Logit-Verfahren lauten entsprechend. Analysiert man nur die schweren Diebstahlsfälle im Umland, so zeigt sich, daß sich der Unterschied zwischen den Dezernenten 4 und 6 hinsichtlich der Verteilung von formellen und informellen Erledigungen in diesem Deliktsbereich verstärkt, während der Unterschied zwischen Dezernent 2 und 6 geringer wird:

Regression

Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent Dezernent

1: 2: 3: 4: 5:

ß

Sig.

-0,02 -0,10 -0,02 -0,14 -0,01

0,5662 0,0148 0,6434 0,0005 0,7483

Logit- M (Kiel 1 Koeff.

Sig.





-1,47

0,0319

-

-2,03

-

0,0038 -

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

551

Dezernent 2 unterscheidet sich zwar noch signifikant von Dezernent 6 hinsichtlich der Verteilung der Erledigungsarten. Der Beta-Wert liegt jedoch knapp unter der Relevanzgrenze. Bei Dezernent 4 zeigt sich auch bei dieser Diebstahlsausprägung, daß er deutlich weniger Verfahren einstellt als Dezernent 6. Zusammenfassend ist zu diesem Abschnitt zu bemerken, daß trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Staatsanwälten bei der Implementation des Informationsmodells keine wesentlichen Differenzen bei der Wirkung des Modells auf die Entscheidungsverteilung zwischen Anklage und Einstellung bestehen. Lediglich Dezernent 4 weicht deutlich von der Entscheidungsstruktur der übrigen Dezernenten ab. Da er aber bei der Erledigung der Verfahren aus dem Stadtbezirk wie auch bei der Erledigung der Umlandfalle von den anderen Dezernenten abweicht, ist dieser Unterschied nicht auf die Einführung des Modells zurückzuführen. Auch die Staatsanwälte, die sich bei ihrer Entscheidung fast ausschließlich an pauschalen Kriterien orientieren, erreichen durch die Verschiebung der für eine Informalisierung noch akzeptablen Obergrenzen bei den klassischen Schwerekriterien wie Schadenshöhe und Vorbelastung, daß sich bei ihrer Erledigungsverteilung keine wesentlichen Unterschiede zu den Dezernenten ergeben, die bei ihrer Entscheidung eher präventionsrelevante Gesichtspunkte berücksichtigen. Der Befund läßt bezüglich der ähnlich ausgeprägten Einstellungsquoten in beiden Dezernentengruppen zwei Schlußfolgerungen zu: Entweder haben die eher an pauschalen Kriterien orientierten Dezernenten nach Einführung des Bielefelder Modells ihre Obergrenzen bei den entscheidungserheblichen Schwerekriterien so weit nach oben verschoben, daß es den an präventionsrelevanten Kriterien orientierten Dezernenten trotz Ausschöpfung der durch die zusätzlichen Informationen erweiterten Einstellungsmöglichkeiten nicht gelang, ein höheres Einstellungsniveau zu erreichen. Oder die an präventionsrelevanten Kriterien orientierten Dezernenten praktizierten das Modell insoweit zurückhaltend, als sie Präventionsüberlegungen nur im Rahmen pauschaler Schwerekriterien, wenn auch auf etwas höherem Niveau, in ihre Entscheidung einfließen ließen. Die bivariaten Analysen zu den pauschalen Entscheidungskriterien lassen eher letzteres vermuten.

6 6.1

Bewertung der Forschungsbefunde und kriminalpolitische Schlußfolgerungen Einflüsse der Organisation auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung

Im nun folgenden Abschnitt beginnt die Bewertung der bislang vorgetragenen quantitativen Forschungsbefunde zunächst mit dem Versuch, die gefundenen Entscheidungsmuster der Staatsanwälte auf organisatorische Einflüsse der Behörde

552

Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

zurückzuführen. Bisher wurden nur tat- und täterbezogene Faktoren als Bedingungen der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung geprüft und diskutiert. Der "Fall", subsumiert unter das Recht, stellt jedoch nach dem Kenntnisstand der rechtssoziologischen Forschung zum richterlichen oder staatsanwaltlichen Entscheidungshandeln keine hinreichende Erklärung für das Verfahrensergebnis dar. Rechtsanwender sind eben keine Subsumtionsautomaten. Und wenngleich ihr Handeln stark formalisiert ist, so werden ihre Entscheidungen sehr wohl auch von Faktoren geleitet, die das normative Programm nicht vorsieht. So können Fallmerkmale entscheidungserheblich sein, die den sozialen Status des Beschuldigten beschreiben (vgl. etwa Peters 1973, 135 ff.). Ebenso kann die bürokratische Organisation, in die der Entscheidungsträger eingebunden ist, informelle und formelle normative Rahmenbedingungen setzen, die neben das rechtliche Entscheidungsprogramm treten und einen eigenen Einfluß auf das Verfahren ausüben (vgl. etwa Lautmann 1972, 136 ff.). Unter den bürokratiespezifischen Randbedingungen für die Verfahrensentscheidung des Dezernenten könnte den normativen Vorgaben der Behördenleitung, den internen Absprachen zwischen den Dezernenten und den bürokratischen Tätigkeitsnachweisen (Pensenschlüssel) Bedeutung zukommen (vgl. hierzu vor allem die entsprechenden Ergebnisse im 2. Buch). Unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit, die bei der Anwendung generalklauselhaft programmierter Entscheidungsbedingungen besondere Bedeutung gewinnt, sind behördenübergreifende ministerielle Anwendungsrichtlinien, behördeninterne Vorgaben und nicht zuletzt kollegiale Absprachen zu beachten. Zu klären ist die Anwendung derartiger Vorgaben und ihr Einfluß auf das Verfahrensergebnis in der alltäglichen Entscheidungspraxis der Staatsanwälte. Ferner ist ihre (rechtliche) Bewertung durch die Entscheidungsträger von Interesse. Befunde zur persönlichen Bewertung bürokratischer Entscheidungsbedingungen durch die Dezernenten werden der schriftlichen, landesweiten Befragung von Staatsanwälten entnommen, die sich auch auf Bielefeld erstreckte (landesweit: η = 112; Bielefeld: η = 4).

(1)

Behördenübergreifende ministerielle Richtlinien

Zur Konkretisierung der Bedingungen, die zu einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens bei vorliegendem Tatverdacht fuhren können, besteht ein Erlaß des nordrhein-westfälischen Justizministers (sogenannter Krumsiek-Erlaß). Im Erlaß wird angeregt, Ermittlungsverfahren, die sich auf Ladendiebstähle beziehen, einzustellen, sofern der Wert des gestohlenen Guts unter 100 DM liegt. Der Erlaß

Kríminalpoliüsche

Schlußfolgerungen

553

wird in der Praxis nur auf Verfahren mit erwachsenen Beschuldigten bezogen; naheliegend sind jedoch Ausstrahlungseffekte auch auf Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende.

(2)

Entscheidungsvorgaben durch die Behördenleitung bzw. durch den Abteilungsleiter

Laut Angaben der Bielefelder Jugendstaatsanwälte in der oben genannten Befragung existiert keine hausinterne offizielle Verfügung der Behördenleitung zur Erledigung der Verfahren nach § 45. Die Frage, ob es hausinterne mündliche oder schriftliche Empfehlungen der Vorgesetzten im Sinne von Entscheidungsrichtlinien zu § 45 gibt, ist damit jedoch nicht beanwortet. Zwei der befragten Bielefelder Staatsanwälte gaben an, daß solche Vorgaben bestünden, zwei andere verneinten dies. Die beiden Staatsanwälte, die Behördenvorgaben einräumten, merkten unterschiedliche inhaltliche Ausgestaltungen an. Während der eine betonte, die Vorgabe rege lediglich allgemein an, die Einstellungsquote zu erhöhen, wies der andere darauf hin, daß konkrete Einstellungskriterien benannt seien. Demnach solle eine Einstellung nach § 45 nur bei geständigen Beschuldigten erfolgen. Auch bei heranwachsenden und vorbelasteten Beschuldigten sei § 45 anzuwenden. Die Schadenshöhe solle eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. An einen bestimmten Deliktstyp sei die Einstellung gemäß § 45 nicht gebunden. Die Frage nach dem Verbindlichkeitsgrad der Empfehlungen konnte ebenfalls nicht eindeutig geklärt werden. Hierzu liegen wiederum widersprüchliche Angaben vor.

(3)

Absprachen zwischen den Dezernenten

Alle in Bielefeld befragten Jugendstaatsanwälte gaben an, daß kollegiale Absprachen zwischen ihnen bestünden. Allerdings gingen die Angaben zur inhaltlichen Gestaltung dieser Absprachen auseinander. Einvernehmen bestand lediglich darüber, daß Verfahrenseinstellungen gemäß § 45 auf Ersttäter beschränkt bleiben sollen. Drei Staatsanwälte sahen die Verfahrenseinstellung laut Absprache an ein Geständnis des Beschuldigten gebunden. Weitgehende Einigkeit bestand darüber, daß auch Verfahren gegen Heranwachsende nach § 45 erledigt werden können. Hinsichtlich einer Schadensgrenze gab ein Dezernent an, daß die Einstellung nach § 45 gemäß der Absprache unter den Dezernenten unabhängig von der Schadenshöhe erfolgen könne; die anderen sahen die Einstellungsentscheidung an eine Schadensobergrenze geknüpft. Zur Tatbestandsabhängigkeit der Einstellungsentscheidung zeigten sich gleichfalls unterschiedliche Vorstellungen. Das gilt auch

554

Staatsanwaltschaftiiche Entscheidung

für die Einschätzung der Verbindlichkeit kollegialer Absprachen und der internen Sanktionierung bei Abweichung. Zwei Dezernenten unterstellten Verbindlichkeit, die beiden anderen tendierten in ihrer Einschätzung zur Unverbindlichkeit. Zwei Staatsanwälte bekundeten die Ansicht, die Kollegen nähmen es nicht ohne weiteres hin, wenn von den Vorgaben abgewichen würde. Das uneinheitliche Bild, das die Einschätzung behördeninterner Vorgaben für die Erledigungsstrategien durch die Staatsanwälte hinterläßt, deckt sich mit den Ergebnissen obiger Entscheidungsanalyse auf der Dezernentenebene: Die generalklauselhaften Vorgaben des rechtlichen Entscheidungsprogramms erzeugen einen breiten Ermessensspielraum, der zu einer dezernentenspezifischen Berücksichtigung von Fallmerkmalen im Entscheidungsspektrum des Staatsanwalts führt. Auch durch die behördeninternen Strukturierungsversuche, die offenbar einen breiten Interpretationsspielraum belassen, wird das Ermessen nicht hinreichend gebunden, um dem Anspruch auf Rechtsgleichheit zu genügen. Behördenvorgaben und interne Absprachen, die im Wege exekutivischer Rechtsfortbildung vielfach an die Stelle materiellrechtlicher Änderungen getreten sind, erweisen hier ihre Regelungsgrenzen.

(4)

Bürokratische Tätigkeitsnachweise

Neben behördlichen Richtlinien und kollegialen Absprachen kann auch die organisationsinterne Bewertung der Verfahrenseinstellung und der Anklage in den Arbeitsvorgaben und der internen Erledigungsstatistik das Entscheidungsprogramm des Staatsanwalts beeinflussen. Diese Vorgaben sind justizpolitischer Steuerung zugänglich. Angesichts der Filterfunktion, die der Staatsanwaltschaft im Strafverfolgungsprozeß zwischen der Tatverdächtigenregistrierung und der aufwendigen gerichtlichen Bearbeitung zukommt, spielt das Einstellungs-/Anklageverhältnis im Erledigungsmuster des Staatsanwalts eine bedeutende Rolle. Die Steuerung dieses Verhältnisses über die Veränderung der arbeitsökonomischen Randbedingungen dürfte dabei zumindest ebenso wirksam sein wie die Steuerung über das rechtliche Entscheidungsprogramm. Der Staatsanwalt wird in seiner Entscheidungstätigkeit im wesentlichen durch zwei Arbeitsbewertungen beeinflußt, nämlich durch den "Pensenschlüssel" und die "Resteliste". Der Pensenschlüssel gibt jedem Staatsanwalt vor, wieviele Verfahren er in einem bestimmten Zeitraum zu erledigen hat. Dadurch wird die Zahl der Verfahren festgelegt, die ein Pensum ausmacht (gestaffelt nach Bußgeldverfahren, Gnadensachen und Js-Verfahren). Nicht berücksichtigt wird dabei, ob die zu erledigenden Verfahren unterschiedlich arbeitsintensiv sind (vgl. hierzu Günter 1980, 212 f.). Die Resteliste ist ein Verzeichnis der von einem Dezernenten in

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

555

seinem Zuständigkeitsbereich noch zu bearbeitenden Ermittlungsverfahren. Die Resteliste wird ständig aktualisiert und dient - aus der Sicht nicht weniger Rechtsanwender — auch zur Leistungskontrolle der Staatsanwälte durch den Behördenvorgesetzten. Die Verfahrenserledigung gemäß § 45 JGG oder §§ 153, 153a StPO wird im Pensenschlüssel wie eine Anklage behandelt. Für die Bewertung der staatsanwaltlichen Tätigkeit wirkt sich dies in folgender Hinsicht als unangemessen aus: Die Anklageerhebung wird arbeitsökonomisch gleich bewertet, obwohl für den Dezernenten mit der Anklage eine Minderbelastung gegenüber der Verfahrenseinstellung verbunden sein kann, da er nicht jede Klage selbst vor Gericht vertreten muß. Die Einstellung des Verfahrens kann hingegen sehr zeit- und arbeitsintensiv sein, sofern etwa die Verfahrenseinstellung an Voraussetzungen gebunden ist (z.B. Auflagen), deren Erfüllung abgewartet und kontrolliert werden muß. Das Verfahren bleibt in der Resteliste notiert. Wird die Auflage nicht erfüllt, so muß überdies eine Anklage gefertigt werden. Demgegenüber läßt sich durch eine Anklageerhebung das Verfahren rasch beenden, ohne daß die 5-Monats-Frist zur Aufnahme in die Resteliste verstreicht. Anhand der bereits angesprochenen Befragungsergebnisse soll nun geprüft werden, ob die Bielefelder Staatsanwälte diese bürokratischen Randbedingungen als Einstellungshindernisse werten. Vor dem Hintergrund der arbeitsorganisatorischen Randbedingungen bewerteten drei Staatsanwälte die Einschaltung des Jugendamts oder anderer Sozialarbeitsträger zur Bearbeitung von Auflagen als zu zeitintensive Varianten der Verfahrenseinstellung. Auf die Frage, ob sie vermehrt Verfahren einstellen würden, wenn der hierzu benötigte Aufwand durch die Verringerung der Arbeitsbelastung honoriert würde, gaben drei Staatsanwälte an, daß sie unter entsprechend veränderten Randbedingungen mehr Verfahren einstellen würden. Die Einschätzung der "Resteliste" durch die befragten Staatsanwälte überrascht auf den ersten Blick. Nur ein Staatsanwalt sah sich durch die Resteliste an Verfahrenseinstellungen gemäß § 45 gehindert. Drei Dezernenten sahen darüber hinaus keinerlei Einfluß der Resteliste auf ihre Entscheidungspraxis. Der Widerspruch zwischen der abstrakten Einschätzung der als zu zeitaufwendig empfundenen Bereitstellung erzieherischer Einstellungsauflagen und der geringen Entscheidungsrelevanz der Resteliste löst sich auf, wenn man die Entscheidungspraxis bezüglich der informellen Erledigung der befragten Staatsanwälte näher betrachtet. Die Verteilung der informellen Erledigungen auf die drei möglichen Alternativen der Einstellung mit Auflage, der Einstellung in Folge einer bereits ergangenen erzieherischen Reaktion und der Einstellung ohne Auflage zeigt das folgende Bild:

556

Tab. 6.1:

Staatsan waltschafdiche

Entscheidung

Intervention / Non-intervention nach j\ 45 JGG im Vergleich von Stadtbezirk und Umland

Stadt

Umland

Interventionsart

abs.

%

abs.

%

Einstellung ohne Auflage (nur Mahnschreiben) Einstellung mit Geldauflage Einstellung mit erzieherischer Maßnahme Einstellung nach Schadenswiedergutmachung Sonstige Einstellungen

395 10 23 8 10

88,6 2,2 5,2 1,8 2,2

400 10 10 1 9

93,2 2,3 2,3 0,2 2,1

Nur bei 5,2 % der Verfahren aus dem Stadtbezirk knüpfen die Staatsanwälte die Verfahrenseinstellung an eine erzieherische Maßnahme. Im Kontrollbezirk sind dies sogar nur 2,3 %. Einstellungen gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 unter Verhängung besonderer erzieherischer Maßnahmen (ohne Mahnschreiben) stellen die Ausnahme bei der staatsanwaltschaftlichen Erledigung der untersuchten Verfahren dar. Das gilt für den stärker modellbeeinflußten Stadtbezirk wie auch für das Umland. Zieht man hier noch einmal einen Vorher-Nachher-Vergleich anhand der Voruntersuchung der Bielefelder Staatsanwaltschaft aus dem Jahre 1986 heran (siehe Kapitel 1), so zeigt sich, daß der Anteil informeller Erledigungen mit erzieherischen Maßnahmen nach Einführung des Modells nicht vergrößert wurde (vgl. Rzepka/Voß 1989, 239). Das bedeutet, die Staatsanwaltschaft Bielefeld sieht primär die Fälle für eine informelle Erledigung vor, die sie ohne die Anordnung und Überwachung einer erzieherischen Maßnahme rasch abschließen kann. Diese Verfahren kommen nicht in die "Resteliste". Insofern kommt den arbeitsökonomischen Organisationsvorgaben sehr wohl Bedeutung für das staatsanwaltschaftliche Entscheiden zu: Verfahren der schwereren Jugendkriminalität bleibt die Einstellungschance eher verschlossen, weil hier die Einstellung unter Auflagen angemessener erscheint; diese wiederum dürfte an dem dadurch verursachten Zeitbedarf scheitern, der in der Tätigkeitsbewertung des Entscheidungsträgers nicht entsprechend berücksichtigt ist. Zusammenfassend ist zu den organisationstypischen Einflüssen auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidung festzuhalten: Die bürokratischen und organisatorischen Randbedingungen der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungstätigkeit im Hinblick auf interventionistische Diversion dürften eher informalisierungshemmend wirken. Die Befunde zu den behördlichen Vorgaben und den kollegialen Absprachen zeigen, daß in der Bielefelder Jugendstaatsanwaltschaft zwar die Einstellungsmöglichkeit der Verfahren gemäß § 45 angeregt wird; hinsichtlich der Anwendungsvoraussetzungen herrscht aber eher Unklarheit. Darüber hinaus deutet

Kriminalpolitische

Schlußfolgerungen

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sich an, daß die kollegialen Absprachen weit hinter dem gesetzlichen Potential für Verfahrenseinstellungen zurückbleiben. Die organisatorischen und informellen Vorgaben sind weder imstande, Rechtsgleichheit zu fördern, noch dienen sie dazu, die gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung auszuschöpfen. Sie haben im Gegenteil einstellungshinderlichen Charakter. Die pensenförmige Nichtberücksichtigung der unter Umständen zeitlich aufwendigeren Einstellungsentscheidung des Staatsanwalts ist kontraproduktiv für präventionsbezogene Verfahrenserledigungen — jedenfalls soweit ein interventionistischer Ansatz verfolgt wird. Dies gilt insbesondere dort, wo die Tatschwere eine erzieherische Maßnahme nahelegt, die im Einstellungsverfahren von der Staatsanwaltschaft anzuregen und zu kontrollieren ist. Eine Veränderung in der Erledigungsstruktur der Staatsanwaltschaft, die die gesamte Bandbreite interventionistischer Sanktionsäquivalente zu nutzen gedenkt, ist daher auf die gleichzeitige Modifizierung der organisationsinternen arbeitsökonomischen Rahmenbedingungen angewiesen.

6.2

Bewertung des Gesamtergebnisses und kriminalpolitische Schlußfolgerungen

Die zusammenfassende Darstellung der Forschungsergebnisse folgt dem Gliederungsprinzip, das bereits bei der Präsentation der Einzelergebnisse leitend war: Es wird erneut die Analyse der Modellimplementation von der Analyse der Modellwirkung unterschieden. Auf der Implementationsebene werden die Evaluationsergebnisse zusammenfassend referiert und anschließend interpretiert, die den entscheidungserheblichen Zugang der Daten, die das Informationsmodell bereitstellt, in das zuvor bestehende staatsanwaltschaftliche Entscheidungsprogramm betreffen. Auf der Wirkungsebene werden die Evaluationsergebnisse vorgetragen und später gewürdigt, die Veränderungen im Verhältnis von Verfahrenseinstellung und Anklage auf die Anwendung des Modells zurückführen. Es folgt zunächst eine knappe Darstellung, in der die zentralen Ergebnisse der Untersuchung zusammengestellt werden.

6.2.1

Darstellung und Interpretation der Kernergebnisse der Modellevaluation

Das Bielefelder Informationsmodell zielt auf eine Erweiterung präventionsrelevanter Informationen für die Staatsanwaltschaft verbunden mit der Erwartung auf eine Ausweitung der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung jenseits der schematisch einzustellenden Bagatellkriminalität Jugendlicher und Heranwachsender.

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Staatsanwaltschaftliche

Entscheidung

Hierzu werden die in § 45 vorgesehenen Bedingungen der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellung gezielter durch den polizeilichen Vernehmungsbeamten ermittelt und formalisiert an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, um dort eine sachgerechte, dem Normprogramm des Jugendstrafrechts entsprechende Entscheidung zu ermöglichen. Dabei ist der Grundsatz der Subsidiarität der jugendstrafrechtlichen Reaktion gegenüber informellen Reaktionen, die im sozialen Nahraum eines Beschuldigten ergehen, besonders zu beachten (vgl. Albrecht 1987, 59 ff.). Das Hauptinteresse der vorgestellten Untersuchung galt dem Einfluß des Informationsmodells auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung. Im Bereich mittelschwerer Diebstahlskriminalität, bei Sachbeschädigungs- und bei Körperverletzungsdelikten konnten die Daten aus dem Informationsbogen einen Einfluß auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft entfalten. Das gilt vornehmlich dort, wo bereits die Entscheidung nach dem vorherigen Routineprogramm nicht in erster Linie nach pauschalen Schwerekriterien erfolgte, so bei den Delikten Sachbeschädigung und Körperverletzung. Bei diesen Delikten hat die Staatsanwaltschaft aufgrund der geringen Fallzahlen und des Fehlens eindeutig quantifizierbarer Deliktsmerkmale kein schematisches Entscheidungsmuster ausgebildet. Hier tritt eine im positiven Sinne gemeinte "Entscheidungsunsicherheit" auf. Die Dezernenten nehmen daher Informationen und Verfahrensvorschläge der Vernehmungsbeamten eher in ihre Fallbewertung auf. Das führt zu einer im Vergleich zu den Verfahren aus dem Umland (Kontrollgruppe) erhöhten Einstellungsquote. Betrachtet man dagegen die mittelschweren Diebstahlsfalle, so zeigt sich im städtischen Modellbezirk zum Abschluß des Untersuchungszeitraums keine erhöhte Einstellungsquote im Vergleich zum Kontrollbezirk (Umland). Wie die Analyse der mittelschweren Diebstahlsfälle zu verschiedenen Meßzeitpunkten ergeben hat, zeigt sich jedoch, daß nach einer halbjährigen Anfangsphase des Modells ein ausgeprägter Unterschied in der Erledigungsstruktur zwischen Stadtbezirk und Umland vorhanden war. Die Einstellungsquote im Stadtbezirk lag mit 50 % deutlich über der Umlandquote von 30 %. Zum Abschluß der Modellevaluation haben sich allerdings die Einstellungsquoten in Höhe des Stadtbezirkswerts angeglichen. Damit hat das Informationsmodell auch in diesem Deliktsbereich einen beträchtlichen Effekt auf die staatsanwaltschaftliche Entscheidungsfindung gehabt. Die unter dem Einfluß des Informationsmodells verschobenen Schweregrenzen führten zu veränderten Entscheidungsroutinen, die gleichwohl den zuvor gebräuchlichen Schwerekriterien folgten. Im Einzelfall wurden nun höhere Schäden und mehr Vorbelastungen bei einer Tat bzw. einem Tatverdächtigen akzeptiert. Nach einer Anpassungsphase entwickelte sich hieraus ein neues, an pauschalen Kriterien orientiertes Entscheidungsmuster, jedoch mit veränderten Obergrenzen bei der

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

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Schwerebestimmung. Dadurch wurden auch die mittelschweren Diebstahlsfälle aus der Umlandgruppe vermehrt eingestellt, obwohl dort kein Informationsbogen vorlag. Anhand der Ergebnisse zum Entscheidungsmuster der einzelnen Dezernenten läßt sich die Tatsache, daß gegen Ende der Evaluationsphase noch immer pauschale Entscheidungskriterien vorherrschen, deutlich belegen. So bilden Dezernent 5 und Dezernent 6 jeweils die Extrempunkte auf einem Kontinuum der Modellakzeptanz. Bei Dezernent 5 wurde dargelegt, daß er seine Entscheidung ausschließlich von pauschalen Kriterien leiten läßt. Dezernent 6 hingegen orientiert sich stark an den polizeilichen Vorschlägen. Vergleicht man die Verteilung der informellen und formellen Erledigungen beider Dezernenten im Stadtbezirk miteinander, so läßt sich kein signifikanter Unterschied feststellen. Einzig bei Dezernent 2 hat das Modell den erwarteten Effekt. Nur bei ihm war ein signifikanter Einfluß der Variablen "Region" festzustellen. Diese Variable mißt die Verteilungsdivergenzen der informellen und formellen Erledigungen im Vergleich von Stadt und Umland. In der Stadt nutzt Dezernent 2 die polizeilichen Informationen, so daß er sich, betrachtet man nur die schweren Diebstahlsfälle, sogar mit einer besonders hohen Einstellungsquote von Dezernent 6 abhebt. Er stellt signifikant mehr Fälle dieser Gruppe ein als Dezernent 6. Bei den Umlandfallen zeigt er jedoch bei den mittelschweren und schweren Diebstahlsfällen (zusammen betrachtet) wie auch bei den schweren Diebstählen niedrigere Einstellungsquoten als Dezernent 6. Ziel des administrativ angeleiteten Modells ist es, Verfahren aus dem Bereich der mittelschweren Jugendkriminalität (diese Kategorie beinhaltet hier die mittelschwere Diebstahlskriminalität sowie die Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsdelikte) vermehrt zur Einstellung zu bringen. Das Bielefelder Modell sollte die Voraussetzungen schaffen, die Einstellungsmöglichkeiten, die durch § 45 dem Staatsanwalt angeboten werden, auszuschöpfen. § 45 Abs. 2 umfaßt unterschiedlich eingriffsintensive Maßnahmen. Bei Bagatellen ist der Staatsanwalt gehalten, das Verfahren im Regelfall schematisch einzustellen, wobei keine weitere erzieherische Maßnahme verhängt werden soll. Im Bereich mittelschwerer Delikte stehen drei Einstellungsmöglichkeiten zur Verfügung: 1. folgenlose Verfahrenseinstellung; 2. Einstellung ohne weitere Auflage, weil das soziale Umfeld bereits erzieherisch reagiert oder das Verfahren erzieherisch gewirkt hat; 3. Einstellung unter Verhängung einer erzieherischen Auflage. Im Bereich schwerer (Diebstahls-)Delikte käme sowohl die zweite als auch die dritte Alternative in Betracht. Schematisch einzustellende Bagatellen sollten eigentlich vom Informationsmodell unberührt bleiben. Im Bereich der mittelschweren Diebstahlskriminalität sollte das

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Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Reservoir der Fälle, die ohne weitere Maßnahme einzustellen sind, da das soziale Umfeld schon reagiert hat, stärker ausgeschöpft werden. Darüber hinaus sollten die Fälle für eine informelle Erledigung herausgefiltert werden, bei denen ein förmliches Verfahren unnötig, die Einstellung aber nur unter Verhängung einer erzieherischen Maßnahme vertretbar erscheint. Wie Tabelle 6.1 gezeigt hat, stellen Einstellungen gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 unter Verhängung besonderer erzieherischer Maßnahmen die Ausnahme bei der staatsanwaltlichen Erledigung der untersuchten Verfahren dar. Das gilt für den modellbeeinflußten Stadtbezirk wie auch für das Umland. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld zieht nur die Fälle für eine informelle Erledigung heran, die sie ohne die Anordnung und Überwachung einer erzieherischen Maßnahme rasch abschließen kann. Eine Variante der Diversion, durch die verbesserte Informationslage zu vermehrten Einstellungen der Verfahren auch gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1, d.h. unter Verhängung einer erzieherischen Maßnahme, zu gelangen, wurde wenig genutzt. Das ist umso erstaunlicher, als parallel zur Einführung des Informationsmodells von seiten des Bielefelder Jugendamts seit 1987 verstärkt erzieherische Maßnahmen, unter ihnen der Täter-Opfer-Ausgleich, angeboten werden. Die im Projektverlauf konstant gebliebene Inanspruchnahme der Verfahrenseinstellung gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit einer erzieherischen Maßnahme zeigt allerdings auch, daß durch das Bielefelder Modell kein Net-widening-Effekt im Sinne wachsender Kontroll- oder Betreuungsintensität aufgetreten ist (vgl. Rzepka/Voß 1989, 239 f.) Bei herkömmlichen Diversionsmodellen, die das lokale Angebot ambulanter Erziehungsauflagen als Teil ihres Programms erweitern, wurde dagegen beobachtet, daß erzieherische Einstellungsauflagen an die Stelle der folgenlosen Verfahrenseinstellung traten (vgl. Heinz 1987, 146 f.). Auch bei den Bagatellfällen hat das Bielefelder Informationsmodell nicht dazu geführt, daß die schematisch folgenlos eingestellten Fälle nun aufwendiger bearbeitet werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Implementation des Informationsmodells in das Entscheidungsprogramm der Staatsanwaltschaft nur auf indirektem Wege gelungen ist, nämlich mittels einer Verschiebung der weiterhin schematisch gebrauchten Schwerekriterien. Die quasi-objektiven tat-/täterbezogenen Schwerekriterien geben durch ihre Quantifizierbarkeit dem staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsprozeß eine gleichsam mathematische Rationalität. Diese soll Nachvollziehbarkeit und Gerechtigkeit fördern. Wie die multivariaten Entscheidungsanalysen gezeigt haben, bleiben diese Schwerekriterien auch nach Einführung des Informationsmodells vorherrschend, indem sie zunächst die Negativauslese der Anklageverfahren leiten. Die persönlichkeitsbezogenen, eher subjektiv erscheinen-

Kriminalpolitische

Schlußfolgerungen

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den "Einschätzungs"-Variablen des Informationsbogens werden nur für einen zweiten Entscheidungsschritt herangezogen. Sie dienen der positiven Begründung der Einstellungsentscheidungen, die nach der Negativauslese der Anklagen als Zweifelsfalle jenseits der schematisch einzustellenden Bagatellen verbleiben. Die Wirkung des Informationsmodells auf die Verteilung von Verfahrenseinstellung und Anklage in der Erledigungsstruktur der Staatsanwaltschaft kann als bedingt erfolgreich angesehen werden. Zwar steigt die Einstellungsquote nach Einführung des Modells im Bereich der mittelschweren Diebstahlsfälle deutlich an; dieser Effekt kann jedoch nur als mittelbarer Initialeffekt des Informationsmodells gelten. Während die mittelschweren Diebstahlsfälle aus dem Umland des Landgerichtsbezirks, deren staatsanwaltschaftliche Erledigung ohne zusätzliche Informationen erfolgte, im ersten Abschnitt des Untersuchungszeitraums zu 30 % eingestellt wurden, führten die durch das Bielefelder Modell bereitgestellten Informationen im Stadtbezirk bei dieser Deliktsgruppe zu einer Einstellungsquote von 50 %. Im weiteren Verlauf des Projekts näherten sich die Einstellungswerte der Umlandverfahren denen des modellbeeinflußten Stadtbezirks an. Die dezernentenspezifische Entscheidungsanalyse hat überdies gezeigt, daß die erhöhte Einstellungsquote unabhängig von der Akzeptanz der Angaben im Informationsbogen auftritt. Auch die Staatsanwälte, die ihre Entscheidung in erster Linie von den beschriebenen Schwerekriterien abhängig machen, weisen nach der Einrichtung des Informationsmodells erhöhte Einstellungsquoten auf. Der Effekt tritt hier indirekt in Erscheinung: Die Einrichtung des Modells und die damit einhergehenden Behördenempfehlungen legitimieren erhöhte Schwerekriterien als Grenzlinie zwischen Verfahrenseinstellung und Anklage. Die kriminalpolitische Zielsetzung des Informationsmodells, den Anwendungsbereich von Verfahrenseinstellungen deutlich auszuweiten, ist im Bereich der schwereren Begehungsformen eher verfehlt worden. Die von der Polizei zur Verfahrenseinstellung mit Auflagen vorgeschlagenen mittelschweren und schweren Diebstahlsfalle werden von der Staatsanwaltschaft mehrheitlich zur Anklage gebracht. Aus der Staatsanwältebefragung (vgl. 2. Buch) werden in diesem Zusammenhang bürokratische Hemmnisse in der Anwendung von Einstellungsauflagen deutlich (Pensenschlüssel, Resteliste), die in diesem Deliktsbereich die Anklage als die rationellere Verfahrensform erscheinen lassen und der kriminalpolitischen Projektintention entgegenwirken.

6.2.2

Warum wurden die Erwartungen an das Modell nicht vollständig erfüllt?

Wie auch die vorliegende Untersuchung erneut bestätigt hat, ist das staatsanwaltschaftliche Handeln auch von bürokratischen Arbeitsroutinen geprägt (vgl. ebenso

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Staatsanwaltschaftliche

Entscheidung

Kunz 1980, 99). Neben den rechtlichen Vorgaben bestehen arbeitsökonomische Regeln, die aus der Abstimmung der vorhandenen zeitlichen und sachlichen Ressourcen mit dem Fallaufkommen resultieren. Daneben bestehen informelle normative Anforderungen, die aus der Einbindung in eine hierarchische Personalstruktur und der Einbindung in den Kollegenkreis folgen. Die informellen Regeln arbeitsökonomischer Fallbearbeitung werden in der Behörde mit Hilfe des Pensenschlüssels und der Resteliste kontrolliert. In der Resteliste werden die offenen Ermittlungsverfahren des Staatsanwalts geführt. Der Pensenschlüssel legt fest, wieviele Verfahren (gestaffelt nach unterschiedlichen Verfahrensarten) ein Staatsanwalt im Jahr erledigen muß. Dies soll als Arbeitsnachweis für den einzelnen Dezernenten dienen. Diese bürokratischen Kontrollmittel beeinflussen die staatsanwaltschaftliche Entscheidung ebenso wie die Subsumtion der Tat- und Tätermerkmale des jeweils zu entscheidenden Falls unter das rechtliche Programm. Die landesweite Staatsanwaltsbefragung bestätigt die Bedeutung von Pensenschlüssel und Resteliste für den Arbeitsalltag der Behörde (vgl. dazu 2. Buch). Insbesondere die Resteliste ist als Hinderungsgrund für vermehrte Verfahrenseinstellungen anzusehen. Häufig verlangen Vorgesetzte — wie in den Interviews bekundet — eine Rechtfertigung, wenn sich die Zahl der Verfahren in der Resteliste erhöht. Verfahren, die ohne weitere erzieherische Maßnahme eingestellt werden, berühren die Resteliste nicht, da ihre Bearbeitungszeit im Rahmen der Anklageerstellung liegt. Verfahren, bei denen eine Einstellung unter Auferlegung einer erzieherischen Maßnahme gewählt wird, verbleiben dagegen so lange in der Resteliste, bis die Meldung über eine erfolgreich durchgeführte Maßnahme bei der Staatsanwaltschaft eingeht. Der Dezernent hat in diesem Fall keine eigenen verfahrensbeschleunigenden Möglichkeiten. Auch die Bielefelder Staatsanwälte dürften sich von solchen bürokratischen Einschränkungen leiten lassen. Sie sind bislang nicht bereit, in höherem Maße Verfahren gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 (mit erzieherischer Maßnahme) zu erledigen. Die durch das Modell zur Verfügung gestellten Informationen, aber auch der polizeiliche Entscheidungsvorschlag, gehen damit häufig ins Leere. Denn diese Informationen beziehen sich — der Modellintention zu Folge — überwiegend auf einen Kriminalitätsbereich, in dem die Staatsanwaltschaft die Einstellung ohne Auflage nicht als adäquate Reaktion ansieht. Unter Berücksichtigung der hier dargelegten Gründe wird auch die oben erwähnte Diskrepanz zwischen dem Erledigungsvorschlag der Polizeibeamten und der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung verständlich. Diese Fälle ohne weitere Auflage einzustellen, wird von beiden Instanzen nicht für sinnvoll gehalten. Unter Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten wäre eine Anklage jedoch vermeidbar. Damit kann das Informationsmodell seiner Zielsetzung unter den derzeit gegebenen strukturellen Arbeitsbedingungen der Staatsanwaltschaft nicht voll

Kríminalpolitische Schlußfolgerungen

563

gerecht werden, wenngleich durchaus positive Effekte im Sinne einer vermehrten Verfahrenseinstellung erzielt wurden.

6.2.3

Bewertung hinsichtlich der Implementationschancen Programme

(justiz-)politischer

Über die konkrete Modellevaluation hinaus können aus der Untersuchung auch Erkenntnisse zur Implementation justizpolitischer Programme in gegebene Behördenstrukturen gewonnen werden. Hierbei kommt der "Implementationsforschung als Frage nach den Nicht-Aktivitäten" (Blankenburg/Krautkrämer 1980, 150) einer Behörde besondere Bedeutung zu: "Genausowenig wie die Verwaltung, wenn sie an Zielerfüllung orientiert sein will, darf sich Implementationsforschung alleine an den Regelprogrammen und der Frage nach deren Einhaltung orientieren: Sie muß immer auch nach dem fragen, was eine Verwaltung möglicherweise nicht tut, und was aus der Sicht des Wissenschaftlers notwendig wäre" (ebd., 150). Nach den vorgetragenen Ergebnissen hat das Informationsmodell gerade im Kern seiner kriminalpolitischen Zielsetzung, nämlich den Bereich der mittelschweren Jugendkriminalität für die Verfahrenseinstellung stärker auszuschöpfen, nur als begrenzt erfolgreich zu gelten. Im vorangegangenen Abschnitt wurden Hinderungsgründe auf die Institution Staatsanwaltschaft bezogen. Zu fragen ist darüber hinaus, ob sich aus der Modellevaluation generell bestehende verwaltungsförmige Hindernisse bei der Implementation politischer Programme ableiten lassen. Rekonstruiert man in groben Zügen die Implementation des Modellversuchs, so zeigt sich folgendes: Die politisch verantwortliche Justizverwaltung hat bei der Umsetzung des kriminalpolitischen Programms aus § 45 Defizite erkannt. Als Grund für die Defizite wurde die unzureichende Informationslage der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der im Einzelfall gegebenen gesetzlich vorgesehenen Einstellungsbedingungen angesehen. Hier sollte Abhilfe geschaffen werden. Das Bielefelder Modell wurde eingeführt, ohne die gegebenen Rahmenbedingungen der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsfindung mit in die Betrachtung und in die Reformbemühungen einzubeziehen. Die punktuelle, nur im rechtlichen Programm angesprochene Entscheidungsbedingungen modifizierende Reformstrategie, die den strukturellen Kontext des innerbehördlichen Entscheidungsprogramms unberührt ließ, stellt einen wesentlichen Grund für den begrenzten Reformeffekt des Informationsmodells dar. Eine weitergehende Chance, mehr Verfahrenseinstellungen zu erzielen, hätte das Modell vermutlich gehabt, wenn als flankierende Maßnahmen die oben beschriebenen bürokratischen Einflußfaktoren (Resteliste, Pensenschlüssel) dem Modellversuch in geeigneter Weise angepaßt worden wären. Die Implementation politischer

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Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

Programme stellt keine eindimensionale Veränderung des bisherigen Verwaltungshandelns dar. Es ist immer eingebettet in die bisherige Gesamtstruktur der Verwaltungsorganisation. Jede Veränderung eines Entscheidungsmusters setzt zwangsläufig Veränderungen in der Gesamtstruktur der Verwaltung voraus. Dies muß bei der Implementation politischer Programme ebenso berücksichtigt werden, wie die Zielsetzung und die Konstruktion des Modellversuchs selbst.

6.2.4

Kriminalpolitische Folgerungen und Empfehlungen

Vorschläge für eine weitergehende Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten von § 45 beziehen sich zunächst auf die derzeitige Rechtslage. Im danach folgenden Abschnitt werden aber auch Vorschläge für gesetzliche Änderungen unterbreitet.



Empfehlungen de lege lata

Die Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten, Jugenddelinquenz insbesondere im Bereich mittelschwerer bzw. schwerer Diebstahlsdelikte informell auf der Ebene der Staatsanwaltschaft zu erledigen, wird durch folgende Faktoren behindert: — In der Regel verfügt die Staatsanwaltschaft nicht über die nötigen präventionsrelevanten Informationen, sachgerecht gemäß § 45 entscheiden zu können. — Bürokratische Hemmnisse können darüber hinaus die Nutzung der gegebenen Bandbreite an Reaktionsmöglichkeiten, die § 45 Abs. 2 vorsieht, verhindern. Hier sind insbesondere die Handhabung der Resteliste und der derzeitig gültige Pensenschlüssel zu nennen. — Absprachen zwischen den Kollegen können unter Umständen ebenfalls die Ausschöpfung der gesetzlichen Vorgaben verhindern, sofern diese deutlich enger als der normative Rahmen ausgelegt sind. Welche Verbesserungsvorschläge lassen sich aus dieser Konstellation ableiten? Die sachliche Entscheidungsgrundlage der Staatsanwaltschaft kann durch Informationsmodelle nach dem Bielefelder Muster deutlich verbessert werden. Sofern durch eine informationsbezogene Formalisierung der Entscheidungsgrundlagen der Anteil aktengebundener und damit extern nachvollziehbarer Bedingungen der

Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

565

staatsanwaltschaftlichen Ermessensentscheidung erhöht wird, kann damit auch die Rechtssicherheit gefördert werden. Die bürokratieeigenen Entscheidungsprämissen müssen allerdings der jeweils gewünschten kriminalpolitischen Modellzielsetzung angepaßt werden. Das bedeutet beispielsweise: Verfahren, die gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 unter Anordnung von erzieherischen Maßnahmen eingestellt werden, dürfen für die Dauer der durchzuführenden Maßnahme nicht zum Problemfall der Resteliste werden. Eine Einstellung mit erzieherischer Maßnahme, die erfahrungsgemäß Mehrarbeit durch Wiedervorlage nach Abschluß der Maßnahme mit sich bringt, muß angemessen im Pensenschlüssel berücksichtigt werden. Informelle Absprachen der Staatsanwälte bezüglich der Voraussetzungen für die Verfahrens- und Sanktionswahl sehen zumeist engere Grenzen für eine Einstellung des Verfahrens vor, als sie das Gesetz zuläßt. Darüber hinaus wird durch unterschiedliche Ermessensgrenzen zwischen den Behörden und sogar innerhalb einer Behörde das Problem der Gleichbehandlung der Beschuldigten - und damit die Rechtssicherheit — in Frage gestellt. Die landesweite Aktenerhebung liefert hierzu Belege (vgl. 1. Buch, Kapitel 5). So stellt beispielsweise im Landgerichtsbezirk Nr. 5 Körperverletzung das vorherrschende Diversionsdelikt dar, während Diebstahlsbagatellen zu 70 % angeklagt werden. Im benachbarten Landgerichtsbezirk Bielefeld kann ein Beschuldigter, dem ein Bagatelldiebstahl vorgeworfen wird, dagegen mit einer fast 100 %igen Wahrscheinlichkeit mit einer Verfahrenseinstellung rechnen. Gegenüber der herrschenden Praxis sind daher (bundes-)einheitliche und verbindliche Richtlinien für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren zu fordern (so auch Forderungen aus dem Bereich der Staatsanwaltschaft, vgl. Kerl 1986, 315 f.). Hierbei wird nicht übersehen, daß solche untergesetzlichen Vorgaben dem einzelnen Entscheider immer noch einen Entscheidungsspielraum einräumen müssen. Dieser Entscheidungsspielraum sollte jedoch deutlich geringer sein als ihn die derzeitige Praxis gewährt, wobei insbesondere die Durchsetzung derartiger Richtlinien sichergestellt werden muß.



Empfehlungen de lege ferenda

Die Einstellungspraxis der Bielefelder Staatsanwaltschaft bezüglich der Bagatelldiebstähle hat derzeit zur faktischen Entkriminalisiening dieser Fallgruppe geführt. Diese verfahrensförmige, prozeßrechtlich gesteuerte "Entkriminalisierung" bleibt aber jederzeit zurücknehmbar. Sie steht durch die Politik der "Vererlaßlichung" (Naucke 1986, 193) zur ständigen kriminalpolitischen Disposition (vgl.

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Staatsanwaltschaftliche Entscheidung

auch Backes 1986, 340 f.)· Die Verfahrenseinstellung wird zum flexiblen "Mittel der Strafrechtsreform" (Vogler 1978, 162); sie wird gleichsam zur "Tatbestandskorrektur" (ebd.) verwendet. "Scheinbare Entkriminalisierung" (Naucke 1984, 205) ist an die Stelle wirklicher Entkriminalisierung getreten. Steuerungstechnisch gesehen räumt ein solches Verfahren der Behörde große Flexibilität ein, um einem unterschiedlich hohen Fallaufkommen und einem politisch-variablen Kontrollbedarf bei konstanten Ressourcen gerecht werden zu können. Unter dem Blickwinkel der rechtsstaatlich gebotenen Gewaltenteilung und unter Berücksichtigung der Rechtssicherheitsbedürfnisse des Beschuldigten erscheint die Dominanz des Verfahrensrechts gegenüber dem materiellen Recht, die Dominanz der Verwaltung gegenüber dem Gesetzgeber, nicht vertretbar. Gerade im Bereich der durch die Erlaßpolitik der Justizministerien und Staatsanwaltschaften faktisch entkriminalisierten Diebstahlsbagatellen sind gesetzgeberische Maßnahmen gefordert. Forderungen nach materiellrechtlichen Veränderungen an Stelle der derzeit praktizierten verfahrensrechtlichen Modifizierung der Strafdrohungen des Strafgesetzbuchs finden sich inzwischen in zahlreichen Stellungnahmen, die durch das "exekutivische Recht" die Rechtssicherheit gerade im Zuständigkeitsbereich des Jugendstrafrechts gefährdet sehen (vgl. etwa Backes 1986, 341 f.; Albrecht 1987, 30; Ostendorf 1989, 331 f.; Voß 1989b, 323). Ostendorf will beispielsweise der Flucht in das Prozeßrecht durch die Einrichtung eines eigenständigen jugendstrafrechtlichen Deliktskatalogs begegnen, durch den jugendtypische Normverstöße, gegenüber denen das allgemeinstrafrechtliche Verdikt der "Sozialschädlichkeit" überzogen erscheint, aus dem jugendstrafrechtlichen Deliktsbestand ausgenommen werden (vgl. Ostendorf 1989, 331). Sessar plädiert dafür, für Jugendliche zwei abgestufte Bereiche von Verantwortlichkeit ("Delinquenz" versus "Kriminalität") zu schaffen, durch die heute noch kriminalisierte Verhaltensweisen einem "Delinquenz"-Bereich zugerechnet und damit für Jugendliche nicht als Straftaten eingestuft werden (vgl. Sessar 1984, 37). Auch Schüler-Springorum votiert für eine Überprüfung der Straftatbestände, die aus dem Erwachsenenstrafrecht kommend ausnahmslos auch auf Jugendliche bezogen werden (vgl. Schüler-Springorum 1985, 1131). Bedenkt man aber die vielfältigen steuerungstechnischen Vorzüge, die der unauffälligen verfahrensförmigen "Entkriminalisierung" zukommen, so sind derzeit materiellrechtliche Veränderungen wenig wahrscheinlich.

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568

Infonnalisierung des Rechts

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Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter Herausgegeben von Günter Albrecht, Peter-Alexis Albrecht, Otto Backes, Michael Brambring, Klaus Hurrelmann, Franz-Xaver Kaufmann, Friedrich Lösel, Hans-Uwe Otto, und Helmut Skowronek Diese neue internationale und interdisziplinäre Reihe von de Gruyter legt umfassende Forschungsergebnisse über Ursachen und Folgen von Störungen und Beeinträchtigungen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in hochindustrialisierten Ländern vor. Die Reihe behandelt die folgenden Problembereiche: • Lernschwierigkeiten und Schulversagen • psychische und soziale Entwicklungsstörungen • sensorische Behinderungen • Moral- und Wertorientierungen • gesundheitliche und psychosomatische Beschwerden • Drogengefährdung und Suchtverhalten • dissoziales Verhalten und soziale Abweichung • kriminelles Verhalten Die einzelnen Bände enthalten konzeptionelle und empirische Beiträge zur Analyse und Bewertung von Präventions- und Interventionsstrategien in verschiedenen Handlungsfeldern: Familie, Kindergarten und Vorschuleinrichtungen, Schule und berufliche Bildungsinstitutionen, Jugendarbeit, Jugendberatung und Jugendhilfe, psychologische Beratung und Therapie, Rehabilitation und Resozialisation. Band 1 Klaus Hurrelmann, Franz-Xaver Kaufmann, Friedrich Lösel (Hrsg.)

Social Intervention: Potential and Constraints 17x24 cm. XII, 399 Seiten. Mit 27 Abbildungen und 16 Tabellen. 1987. G e b u n d e n ISBN 3-11-011256-6 Band 2 Frank Nestmann

Die alltäglichen Helfer Theorien sozialer Unterstützung und eine Untersuchung alltäglicher Helfer aus vier Dienstleistungsberufen 17 χ 24 cm. X, 372 Seiten. 1988. G e b u n d e n ISBN 3-11-011529-8

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Band 3 Peter-Alexis Albrecht, Otto Backes (Hrsg.)

Crime Prevention and Intervention Legal and Ethical Problems 17 χ 24 cm. VIII, 286 Seiten. 1989. Gebunden

ISBN 3-11-011741-X

Band 4 Wolfgang Ludwig

Diversion: Strafe im neuen Gewand 17 χ 24 cm. X, 146 Seiten. 1989. Kartoniert.

ISBN 3-11-011858-0

Band 5 Klaus Hurrelmann, Uwe Engel (Hrsg.)

The Social World of Adolescents: International Perspectives 17x24 cm. X, 406 Seiten. Mit 19 Abbildungen und 45 Tabellen. 1989. Gebunden. ISBN 3-11-011996-X Band 6 Uwe Engel, Klaus Hurrelmann (Hrsg.)

Psychosoziale Belastung im Jugendalter Empirische Befunde zum Einfluß von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe 17 χ 24 cm. VI, 280 Seiten. 1989. Gebunden.

ISBN 3-11-011696-0

Band 7 Michael Brambring, Friedrich Lösel, Helmut Skowronek (Hrsg.)

Children at Risk: Assessment, Longitudinal Research, and Intervention 17 χ 24 cm. XIV, 490 Seiten. 1989. Gebunden.

ISBN 3-11-012134-4

Band 8 Klaus Hurrelmann, Friedrich Lösel (Hrsg.)

Health Hazards in Adolescence 17x24 cm. X, 528 Seiten. Mit 57 Abbildungen und 53 Tabellen. 1990. Gebunden. ISBN 3-11-012448-3

Walter de Gruyter · Berlin · New York