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German Pages 254 Year 2023
Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
Klassiker Auslegen
Herausgegeben von Otfried Höffe
Band 58
Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre 2. Auflage
Herausgegeben von Otfried Höffe
ISBN 978-3-11-078037-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078695-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078705-4 ISSN 2192-4554 Library of Congress Control Number: 2023940197 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Grafissimo/DigitalVision Vectors/getty images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Zitierweise und Siglen
VII
Vorwort zur letzten Auflage Otfried Höffe 1 Einführung
IX
1
Heiner F. Klemme 2 Über den Begriff einer „Metaphysik der Tugend“ (Vorrede)
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Oliver Sensen 3 Tugendlehre als Lehre von Zwecken (Einleitung zur Tugendlehre, I–VI) 27 Amelie Stuart 4 Ein Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht wird. Einleitendes zur 43 Tugendpflicht (Einleitung zur Tugendlehre, VII–XII) Dieter Hüning 5 Kants ethische Pflichtenlehre und der Begriff der Tugend (Einleitung 59 zur Tugendlehre, XIII–XVIII) Jochen Bojanowski 6 Können wir uns selbst gegenüber moralisch verpflichtet sein? 77 (§§ 1–4) Elke E. Schmidt / Dieter Schönecker 7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8) 99 Otfried Höffe 8 Selbstpflichten eines moralischen Wesens (§§ 9–18)
117
VI
Inhalt
Monika Betzler 9 Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung. Zu Kants Konzeption der unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seines Zwecks (§§ 19–22) 139 Karoline Reinhardt 10 Von den Liebespflichten gegen andere Menschen. Wohltätigkeit, 155 Dankbarkeit und Teilnehmung (§§ 23–36) Moritz Hildt 11 Was Anderen gebührt. Kant über Achtung und Würde 173 (§§ 37–45) Dahan Fan 12 Kant über Freundschaft und Umgangstugenden (§§ 46–48)
191
Franz Hespe 13 Wie Tugend gelernt und eingeübt werden kann (§§ 49–53)
203
Otfried Höffe 14 Ausblick: Tugendethik im Geiste Kants 231
Auswahlbibliographie 235
Personenregister Sachregister
237
Hinweise zu den Autoren
241
221
Zitierweise und Siglen Kant wird nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1902 ff.) zitiert, der sogenannten „Akademie-Ausgabe“, z. B. VIII 289 = Band VIII, Seite 289. Der Text wird dabei, wie heute gemeinhin üblich, in behutsam modernisierter Schreibweise wiedergegeben. Auf die Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (= Zweiter Teil der Metaphysik der Sitten) wird in der Regel ohne Angabe des Bandes nur mit der Seitenzahl verwiesen. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder zweiten (= B) Auflage angegeben, z. B. KrV, B xvii = 2. Auflage, Seite xvii. Auf andere Literatur wird mit dem Namen des Verfassers und dem Erscheinungsjahr Bezug genommen. Werke Kants: Anfang Anthr. Briefe Fak. ZeF Gemeinspruch GMS Idee KpV KrV KU Logik Päd. Preisschrift Refl. Rel. RL TL Vorarbeiten
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107–123) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 117–333) Briefwechsel (X–XIII) Der Streit der Fakultäten (VII 1–116) Zum ewigen Frieden (VIII 341–386) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273–313) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385–463) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15–31) Kritik der praktischen Vernunft (V 1–163) Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1–252, B: III 1–552) Kritik der Urteilskraft (V 165–485) Logik (IX 1–150) Pädagogik (IX 437–499) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (II 273–301) Reflexionen (XIV ff.) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1–202) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= 1. Teil der Metaphysik der Sitten: VI 203–372) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (= 2. Teil der Metaphysik der Sitten: VI 373–493) Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (XXIII 371–420)
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Vorwort zur letzten Auflage Die Veränderung des philosophischen Denkens, die wir Immanuel Kant verdanken, erfasst nicht nur die Welt des Erkennens, sondern auch die des Handelns. Die Sonderstellung, die beim Erkennen der Wissenschaft zukommt, gebührt beim Handeln der Moral oder Sittlichkeit. Wie im Bereich des Theoretischen die Wissenschaft, so erhebt im Bereich des Praktischen die Sittlichkeit den Anspruch auf allgemeine und objektive Gültigkeit. Kants Umgestaltung der praktischen Philosophie findet deshalb als Neubegründung der Moral statt. Diese Neubegründung hat bis heute mehr als einen bloß geschichtlichen Wert. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Rechtfertigung sittlicher (moralischer) Normen wird Kant zu Recht als systematischer Gesprächspartner in Anspruch genommen. Die besondere Bedeutung in der gegenwärtigen Ethik-Diskussion hat allerdings ihren Preis. Nicht bloß in jenem Kant-Verständnis, das zum allgemeinen Bildungsgut geronnen ist, sondern auch von Philosophen wird Kants Ethik oft nur bruchstückhaft rezipiert. Insbesondere übersieht man, dass nicht etwa bloß Aristoteles, sondern auch Kant eine Tugendethik entwickelt hat. Der dafür wichtigste Text ist der zweite Teil von Kants System der Sittlichkeit, Metaphysik der Sitten genannt. Während deren häufiger studierter erster Teil, die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, die Wirklichkeit der Sittlichkeit in den Grundinstitutionen menschlichen Zusammenlebens, in Recht und Staat, untersucht, behandelt der meist vernachlässigte zweite Teil, die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre, die Wirklichkeit des Sittlichen im handelnden Subjekt, in dessen charakterlichen Grundhaltungen, den (moralischen) Tugenden. Genau damit erweist sich Kant als Tugendethiker, und dies nicht auf der Grundlage des antiken Moralprinzips, der Eudaimonie, sondern des modernen Prinzips der Autonomie. Der hier vorgelegte kooperative Kommentar unternimmt es, Kants Tugendlehre in all der ihr gebührenden Gründlichkeit, daher Schritt für Schritt am Text entlang zu interpretieren. Kants Gedanken und Argumente werden dabei vorgestellt, erläutert und in Bezug auf sein übriges Werk erörtert. Nicht zuletzt werden sie in systematischer Hinsicht auf ihre bleibende Aktualität hin befragt. Zuerst sei allen Autorinnen und Autoren gedankt, die ihre Beiträge zu diesem Band in einem gemeinsamen Symposium auf Schloss Hohentübingen im Februar 2018 vorgestellt und diskutiert haben. Der Fritz Thyssen Stiftung danke ich für die erneute und großzügige finanzielle Unterstützung des Symposiums und der Arbeit an dem Band. Ebenso gilt dem Universitätsbund Tübingen Dank für diesbezügliche Unterstützung.
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Vorwort zur letzten Auflage
Nicht zuletzt danke ich meinen unermüdlichen Mitarbeitern, diesmal besonders Dr. Karoline Reinhardt für die Organisation des Symposiums und Dr. Moritz Hildt für die redaktionelle Betreuung des Bandes. Tübingen, im Juli 2019
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1 Einführung 1.1 Die neue Formel: der kategorische Imperativ Wie für die Welt des Erkennens so verdankt die abendländische Philosophie Immanuel Kant auch für die Welt des Handelns eine revolutionäre Veränderung. Das hier entscheidende Phänomen ist die Moral oder Sittlichkeit. Laut Kant erhebt sie im Bereich des Praktischen denselben Anspruch auf allgemeine und objektive Gültigkeit wie die Wissenschaft im Bereich des Theoretischen. Der für Kants Moralphilosophie entscheidende Begriff ist der kategorische Imperativ. Häufig versteht man darunter einen Maßstab oder Test, ein Kriterium für Moral. In Wahrheit hat er eine weit größere Bedeutung. Sie beginnt mit der semantischen oder meta-ethischen Aufgabe, das auf den Begriff zu bringen, was „Moral“ im Fall des Menschen und ähnlicher sinnlicher Vernunftwesen bedeutet. Gemeint sind Personen, also für ihr Tun und Lassen zurechnungsfähige Wesen, die sich zwar von praktischer Vernunft, aber nicht von ihr allein, sondern auch von sinnlichen Antrieben bestimmen lassen. Wegen dieser doppelten Bestimmbarkeit, Vernunft und Sinnlichkeit, tritt die Moral nicht wie bei reinen Vernunftwesen, Gott oder Engeln, als ein Sein, sondern als ein Sollen, des näheren als ein Imperativ auf. Unter einem Imperativ versteht Kant nämlich kein beliebiges, etwa willkürliches Gebot oder Verbot, vielmehr ausschließlich eine begründete Verbindlichkeit. Für die Begründung unterscheidet er drei Stufen praktischer Vernunft, woraus sich ebensoviele Arten und Stufen von Imperativen ergeben: Die technischen Imperative, einschließlich den strategischen und funktionalen Imperativen schreiben die für beliebige Ziele oder Zwecke erforderlichen Mittel und Wege vor. Der zweiten Stufe, den pragmatischen Imperativen, kommt es ebenfalls auf Mittel und Wege an, aber nicht im Blick auf beliebige Ziele, sondern auf das natürliche Leitziel eines sinnlichen Vernunftwesen, auf sein Wohlergehen, das Glück bzw., wie Kant zu sagen vorzieht, die Glückseligkeit. In beiden Fällen, den technischen und den pragmatischen Imperativen, ist die Verbindlichkeit nur unter einer äußeren Voraussetzung gültig: Wenn ich das Ziel x oder mein Wohlergehen will, dann muss ich y tun oder lassen. Diese Imperative heißen daher auch hypothetische Imperative. Von Ihnen unterscheidet sich der kategorische Imperativ wesentlich, denn er ist ohne jede äußere Voraussetzung, infolgedessen ohne jede Bedingung, folglich schlechthin oder, als Fremdwort, kategorisch gültig.
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Kant behauptet nun, eine moralische Verbindlichkeit, beispielsweise das Lügeverbot oder das Hilfsgebot, sei schlechthin, eben kategorisch gültig, weshalb darin die in systematischer Hinsicht erste, semantische oder meta-ethische Bedeutung des kategorischen Imperativs liegt. Im Fall sinnlicher Vernunftwesen ist die Moral ihrem bloßen Begriff nach oder ihrer Natur, ihrem Wesen nach, eine bedingungslos (kategorisch) gültige Verbindlichkeit (Imperativ). Wegen der unterschiedlichen Art der Nötigung spricht Kant bei den technischen Imperativen bloß von „Regeln“ der Geschicklichkeit, bei den pragmatischen Imperativen von Ratschlägen der Klugheit, allein beim kategorischen Imperativ von einem „Gebot“ der Sittlichkeit. Erst unter dieser semantischen Voraussetzung, einer unhintergehbaren Einsicht Kants, gelangt unser Philosoph zu der in systematischer Hinsicht zweiten Bedeutung, zum kategorischen Imperativ als einer Formel und zwar, sagt er zu Recht, neuen Formel für moralisches Handeln. Selbst die neue Formel besteht nicht, wie üblicherweise angenommen, in einem Kriterium oder Maßstab. Gemäß seinem Imperativcharakter ist der kategorische Imperativ kein moralisch neutrales Angebot, das dem Menschen sagt, worin eine moralische Verbindlichkeit besteht, es ihm dann jedoch freistellt, der Verbindlichkeit zu folgen oder aber gegen sie gleichgültig zu bleiben. Als Imperativ ist er seinem Wesen nach eine Aufforderung, als kategorischer Imperativ eine bedingungslose Verbindlichkeit. Er verlangt also das entsprechende Tun oder Lassen, weshalb er seiner kürzesten Form nach lautet: „Handle moralisch!“ bzw. „Handle sittlich!“ Nur innerhalb dieser bedingungslosen Aufforderung gewinnt der kategorische Imperativ die Funktion eines Kriteriums oder Maßstabes. Um dem Anspruch der Moral bzw. Sittlichkeit zu genügen, um schlechthin, zugleich objektiv gültig zu sein, müssen die Verbindlichkeiten allgemein gültig sein. Der Maßstab der Moral oder Sittlichkeit liegt infolgedessen in der strengen Verallgemeinerbarkeit oder Universalisierbarkeit, was, wie Kant auch erklärt, einem allgemeinen Gesetz entspricht. Ein weiteres Element von Kants neuer Formel wird dabei häufig übersehen: Die Verallgemeinerbarkeit wird letztlich, trotz der Sondersituation der Rechtsmoral, nicht für Einzelhandlungen gefordert, sondern für die ihnen zugrundeliegenden subjektiven Grundsätze, „Maximen“, genannt. Der kategorische Imperativ in seiner Grundformel lautet daher: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Nur dem, der sich der überragenden Bedeutung erinnert, die der kategorische Imperativ in Kants vorgehenden Schriften zur Moralphilosophie erhält, fällt diese Eigentümlichkeit auf: Der kategorische Imperativ spielt erstaunlicherweise in der Tugendlehre keine wesentliche Rolle. Er wird zwar in der „Vorrede“, ferner im Abschnitt VI und IX der „Einleitung“ erwähnt. Weder dort, noch bei den einzelnen Pflichten, die die Tu-
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gendlehre entwickelt, wird der kategorische Imperativ aber in seiner Testfunktion verwendet, in der Rechtslehre übrigens auch nicht.
1.2 Von der vorkritischen Zeit zur Kritik der reinen Vernunft Den Plan eines Systems der Moral, „Metaphysik der Sitten“ genannt, fasst Kant sehr früh, schon in seiner vorkritischen Zeit (vgl. Brief an Herder, 9. Mai 1767: Briefe, X 71). Kant bereitet also sein systematisches Werk zur Moralphilosophie, die zweiteilige Metaphysik der Sitten, wie auch seine anderen großen Werke, mit langem Atem vor. Aus der vorkritischen Zeit ragt die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral heraus. Die kurze Abhandlung, in der Akademieausgabe kaum 27 Seiten, also nur etwa ein Viertel der Grundlegung, erscheint zwar erst im Jahr 1764, wird aber schon zwei Jahre vorher, also nicht weniger als ein Vierteljahrhundert vor der Tugendlehre, abgeschlossen. Schon hier ist sich Kant hinsichtlich der Moral über einige wichtige Dinge im klaren: Das Erkenntnis- und Gewissheitsideal der Mathematik taugt nicht als Vorbild für die Philosophie. Für die Moral ist das Prinzip der Vollkommenheit der sogenannten deutschen Schulphilosophie mit Christian Wolff (1679–1754) als Schuloberhaupt ungeeignet. An der britischen Philosophie des moralischen Gefühls („moral sense“), namentlich ihrem Vertreter Francis Hutcheson (1694–1746), schätzt Kant eine neue Entdeckung von „unsern Tagen“ (Preisschrift, II 299), die Unterscheidung von Erkenntnis und Gefühl. Auch er erkennt die Rolle des Gefühls in der moralischen Erfahrung als wichtig an, heißt die damit verbundene Autonomie der Ethik willkommen, gibt sich aber insgesamt mit der Moral sense-Philosophie nicht zufrieden, denn, erklärt er im zweiten Paragraph der Vierten Betrachtung: „Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller … Evidenz fähig“ (Preisschrift, II 298). Als Grund räumt er im selben Paragraphen ein, „wie wenig selbst der erste Begriff der Verbindlichkeit noch bekannt ist“ (ebd.). Die entsprechende Klärung erfolgt später mit dem Gedanken des kategorischen Imperativs. Allerdings sieht Kant schon damals, dass „jedes Sollen eine Notwendigkeit der Handlung“ ausdrückt (ebd.), und deutet deren Differenz zu dem an, was er später technische Imperative und Ratschläge der Klugheit (pragmatische Imperative) nennt. Das Grund- und zugleich Hauptwerk von Kants kritischer Philosophie, die knapp zwei Jahrhunderte nach der genannten Untersuchung veröffentliche Kritik der reinen Vernunft, beantwortet von Kants drei berühmten Fragen – 1. Was kann
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ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? – vor allem die erste, wissenstheoretische Frage. Die beiden anderen Fragen bleiben aber nicht ausgespart. Im Gegenteil werden sie, was viele Interpreten verdrängen, mehr als nur nebensächlich behandelt. Die erste Kritik behauptet nicht nur, was in der Regel anerkannt wird: dass nach ihrer berühmten dritten Antinomie das Grundprinzip der Naturforschung, die „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ mit dem Grundprinzip der Moral, der „Kausalität durch Freiheit“, verträglich ist. Das Werk enthält auch, was sowohl von Interpreten der ersten Kritik als auch denen von Kants Moralphilosophie, häufig übersehen wird, die Grundzüge von Kants kritischer Moralphilosophie, einschließlich der sie abrundenden Moraltheologie (s. schon Höffe 42004, Kap. 21.2). Kant erwähnt sie in einem der letzten Teile seiner Kritik der reinen Vernunft, innerhalb der „Transzendentalen Methodenlehre“, ihrem „2. Hauptstück. Der Kanon der reinen Vernunft“. Das nächste Hauptstück: „3. Die Architektonik der reinen Vernunft“, nennt schon das „System der reinen Vernunft (Wissenschaft)“ eine Metaphysik, gliedert sie in zwei Teile, in eine des spekulativen, sprich: theoretischen und eine des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft. Die erste wird als eine Metaphysik der Natur bezeichnet, die zweite als eine Metaphysik der Sitten. Darüber hinaus erklärt Kant schon, was er in der „Vorrede“ der Grundlegung wiederholend bekräftigt: dass in einer Metaphysik der Sitten „keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird“ (KrV, B 869 f.). Darüber hinaus erörtert Kant ein Leitthema der „Dialektik“ der zweiten Kritik, der Kritik der praktischen Vernunft. Es ist jene Idee des höchsten Guts, die als volle Entsprechung von Wohlergehen und Moralität den Gegenstand des Hoffens bildet: Man darf hoffen, dasjenige Maß an Glückseligkeit zu erlangen, das proportional zur Glückswürdigkeit ist. Von Kants anschließend ausgearbeiteter Moralphilosophie findet man noch weit mehr Elemente, sogar das so gut wie vollständige Netz der für die späteren Schriften einschlägigen Grundbegriffe: Sollen und praktische Gesetze, Maximen, Imperative und Bewegungsgrund bzw. Triebfeder; ferner Glü ckseligkeit, pragmatisch, Klugheitsregel und hypothetisches Gebieten; weiterhin Sittengesetz und reine moralische Gesetze; nicht zuletzt Moralitä t, moralische Gesinnung, Freiheit, hö chstes Gut, moralische Welt und Gott. Auch wenn Kant noch nicht die entsprechenden Ausdrücke verwendet, sind doch der Sache nach noch weitere Begriffe vertreten: der kategorische Imperativ in der Rede „schlechterdings … gebieten“, die technischen Imperative im Satz „Wenn einmal ein Zweck vorausgesetzt ist, so sind die Bedingungen der Erreichung desselben hypothetisch notwendig“ (KrV, B 851), ferner die Autonomie („freie Willkü r unter moralischen Gesetzen“: KrV, B 836) und die Legalitä t („sittlichen Gesetzen gemä ß“: KrV, B 836, vgl. B 838).
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Kant hat zwar hinsichtlich des Gedankens der Autonomie des Willens und des dafür, für die Moralitä t einschlä gigen Kriteriums, der Achtung vor dem Gesetz, noch nicht zur vollen Klarheit gefunden. Er hat aber schon wesentliche Lehrstü cke seiner Moralphilosophie deutlich vor Augen: Er bestimmt die Glü ckseligkeit ebenso prä gnant wie anspruchsvoll als ein dreidimensionales extensives, intensives und protensives (der Dauer nach) „Maximum der Befriedigung aller unserer Neigungen“ (KrV, B 834). Er setzt das auf dem „Bewegungsgrund der Glü ckseligkeit“ aufbauende, in empirischen Prinzipien gegrü ndete praktische Gesetz scharf gegen jene reinen moralischen Gesetze ab, die „vö llig a priori (ohne Rü cksicht auf empirische Bewegungsgrü nde, d. i. Glü ckseligkeit) … schlechterdings [spä ter: kategorisch] gebieten“. Dafü r beruft er sich nicht allein auf die „Beweise der aufgeklä rtesten Moralisten“, sondern ebenso wie später auf das „sittliche Urteil eines jeden Menschen“. Denn Kant lehnt alle theologische Begründung der Moral kompromisslos ab. Statt einer theologischen Moral, deren sittliche Gesetze das Dasein eines höchsten Weltregierers voraussetzen, setzt er sich in der Kritik der reinen Vernunft zwar für eine Moraltheologie ein, die aber in Umkehrung des theologischen Moralismus, der Theo-nomie, das Dasein eines höchsten Wesens nicht schon voraussetzt, sondern von den sittlichen Gesetzen her begründet (KrV, B 660 FN): In einer Theo-nomie sind die moralischen Gesetze nur deshalb verpflichtend, „weil sie Gebote Gottes sind“, nach Kants Auto-nomie hingegen hat man sie nur darum als göttliche Gebote anzusehen, „weil wir dazu innerlich verbindlich sind“ (KrV, B 847).
1.3 Von der Grundlegung zur Tugendlehre Die erste Schrift aus Kants kritischer Zeit und zugleich das erste Werk, das Kant ausdrücklich und ausschließlich der Moralphilosophie widmet, kündigt sich schon im Titel als vorbereitende Grundlage des künftigen Systems einer reinen Moral an: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Bis heute findet die Auseinandersetzung mit dem Werk Kants zur Moralphilosophie vor allem über diese Schrift statt. Hier seien einige der wichtigsten Elemente erwähnt: Kant legt in der „Vorrede“ darauf wert, dass „alle sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben“ (GMS, IV 411). Infolgedessen ist die Moral bzw. Sittlichkeit nur als reine praktische Vernunft zu verstehen und darf die Moralphilosophie „nicht das mindeste von empirischer Erkenntnis oder Anthropologie entlehnen“. Ebenso wichtig ist ihm der Hinweis, dass „die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden“ könne (GMS, IV 391). Demzufolge ist Kants Moralphilosophie weder wahrhaft innovativ noch revisionär: Sie will das moralische Bewusstsein weder hervorbringen noch verändern, sondern bloß über sich selbst aufklären und auf
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den Begriff bringen. Die Grundlegung, so Kants bescheidener Anspruch, unternimmt „nichts mehr, als die Aufsuchung und Festlegung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS, IV 392). Zu diesem Zweck führt Kant sogleich zu Beginn zwei Begriffe ein, die des guten Willens und der Pflicht, und behauptet: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs [moralische] Gesetz (GMS, IV 400). Er bildet die Begriffe vom Imperativ und von dessen drei Arten, dem technischen und dem pragmatischen Imperativ, die beide hypothetische Imperative sind, sowie dem kategorischen Imperativ. Als dessen Prinzip entdeckt er die Autonomie, die Selbstgesetzlichkeit des Willens, im Gegensatz zur Heteronomie, der Fremdgesetzlichkeit. Kant begründet die Grundformel des kategorischen Imperativs und dessen drei Unterformeln. Er erörtert sie an Beispielen, führt die Moralität als Verschärfung der Legalität ein und unterscheidet einerseits vollkommene und unvollkommene Pflichten, andererseits Pflichten gegen sich und Pflichten gegen andere. Ferner bestimmt er die vernünftige Natur als „Zweck an sich selbst“ (GMS, IV 429), die einen „absoluten Wert“ (GMS, IV 428) und „Würde“ hat (GMS, IV 433). Er fragt nach der Möglichkeit der verschiedenen Imperativarten, insbesondere nach der des kategorischen Imperativs. Er bestimmt den Mensch als ein „vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen“ (GMS, IV 452), das „als Intelligenz das eigentliche Selbst“ (GMS, IV 457) ist und das das moralische Gesetz als eine direkte „Folge“ (GMS, IV 453) der Freiheit anzusehen hat. Ursprünglich hatte Kant nur eine einzige Kritik geplant, die der reinen Vernunft. In diesem Titel verzichtet er daher auf den einschränkenden Zusatz „spekulative“ bzw. „theoretische“ Vernunft. Aus systematischen und polemischen Gründen verfasst er dann vor seinem Moralsystem doch noch eine zweite Kritik. Sie, Kants zweites Hauptwerk zur Moralphilosophie, die Kritik der praktischen Vernunft (1788) untersucht die Vernunft in ihrem gesamten praktischen Gebrauch. Sie wendet sich gegen die empiristische These, es gebe nur eine empirisch bedingte, von materialen Gründen, letztlich dem eigenen Glück bestimmte praktische Vernunft. Mittels einer Reihe von dualistischen Begriffspaaren: subjektiver (Maximen) und objektiver praktischer Grundsätze, materialer und formaler praktischen Prinzipien, unteres und oberes Begehrungsvermögen, Autonomie des Willens und Heteronomie der Willkür, begründet Kant seine kompromisslose und anti-empiristische Position: dass eine reine Vernunft praktisch sein, nämlich den „zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich enthalten“ kann (KpV, V 19). Während er in der ersten Kritik nur die Denkmöglichkeit der Freiheit nachgewiesen hat, zeigt er jetzt über den Gedanken eines „Faktums der Vernunft“, des Bewusstseins des moralischen Gesetzes, die Wirklichkeit der Freiheit auf: „Freiheit und unbedingtes moralisches Gesetz weisen“ zwar „wechselseitig auf einander zurück“ (KpV, V 29), mittelbar bewusst ist man sich aber nur des morali-
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schen Gesetzes, aus dem man dann freilich auf die Realität der Idee der Freiheit schließen kann. Darüber hinaus zeigt Kant, dass die beiden anderen Ideen, die von Gott und von der Unsterblichkeit der Seele, einen weit höheren Wert haben als den in der ersten Kritik zugestandenen sehr geringen Erkenntniswert (vgl. KrV, B 826). Sie sind nämlich die unabdingbaren Voraussetzungen für die Idee des höchsten Gutes: dass man auf eine der Sittlichkeit proportionale Glückseligkeit hoffen darf. Bis Kant endlich sein System der Moral, die Metaphysik der Sitten (1797), veröffentlicht, vergeht noch einmal fast ganzes Jahrzehnt. Als erstes erscheint unter dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre das System der Rechtsmoral, mit ihren Rechtspflichten und einer dem vorangehenden „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“. Diese gilt ausdrücklich auch für den zweiten Teil der Metaphysik der Sitten, der unter dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre das System der Tugendmoral mit den Tugendpflichten darstellt. Die genannte „Einleitung“ führt Kants Grundbegriffe der praktischen Philosophie ein: Willkür, Wunsch und Wille, Triebfeder und Gesetz, juridisch und ethisch, Legalität (Gesetzmäßigkeit) und Moralität (Sittlichkeit), Naturgesetze und (moralische) Freiheitsgesetze, Zurechnung und die Person als das für seine Handlungen zurechnungsfähige Subjekt. In der Grundlegung hatte Kant, wie erwähnt, für die Moralphilosophie das Recht einer Anthropologie zurückgewiesen. Jetzt erkennt er als „Gegenstück“ einer „Metaphysik der Sitten“ die moralische Anthropologie an. Sie behandelt sowohl die hinderlichen als auch begünstigenden Bedingungen für die „Ausführung“ moralischer Gesetze (RL,VI 217).Vom kategorischen Imperativ heißt es, dass er „überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei“, womit Kant dessen semantische Bedeutung betont. An sie schließt er aber unmittelbar die kriteriologische Aufgabe an: „handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann (RL, VI 225). Nicht zuletzt legt er darauf wert, dass sich Rechtslehre und Tugendlehre „nicht sowohl durch ihre verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet“ (RL, VI 220) unterscheiden.
1.4 Eine revolutionär neue Tugendlehre Die Metaphysik der Sitten, deren zweiter Text die Tugendlehre ausmacht, findet zu Kants Zeiten keine große Resonanz. Schon zum ersten Teil, der der äußeren Freiheit gewidmeten Rechtslehre, herrscht die Enttäuschung vor, deutlich beim großen Bewunderer Kants: Arthur Schopenhauer kann sich die Schrift nur aus Kants Altersschwäche erklären (Die Welt als Wille und Vorstellung, 4. Buch, § 62). Die mit der
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anderen, inneren Freiheit befasste Tugendlehre bleibt sogar weithin unbeachtet. Erst in den letzten Jahren, nach einer fast zweihundertjährigen Rezeptionslücke, entfaltet sie einige Wirkung. Sie beschränkt sich aber auf die „Kant-Gemeinde“, die hier zu recht wichtige Präzisierungen und Ergänzungen, auch kleinere Veränderungen in Kants moralphilosophischem Denken entdeckt. In Wahrheit verdient die Tugendlehre eine weit größere systematische Beachtung, denn sie kann die heutige Ethikdebatte in zwei wichtigen Hinsichten korrigieren. Seit Platon und Aristoteles ist die Tugend, verstanden als eine durch fortgesetzte Übung erworbene Lebenshaltung, ein Grundbegriff der philosophischen Ethik. Trotzdem gibt es nach einer unter heutigen Moralphilosophen verbreiteten Ansicht nur in der antiken und mittelalterlichen Ethik, namentlich bei Aristoteles und der Stoa und in deren modifizierenden Übernahme durch die christliche, etwa thomistische Ethik, eine Tugendethik. Vor allem durch Kant von einer Pflichtenethik abgelöst, sei sie aus der Moralphilosophie verschwunden und habe erst durch eine Wiederbelebung der aristotelisch-thomistischen Ethik, verbunden mit einer Spitze gegen Kants Moralphilosophie, erneut die verdiente Aufmerksamkeit gefunden. Wahr ist, dass Kant selber ein bedeutender Tugendethiker ist, der mit der Tugendlehre dem Tugendbegriff sogar eine eigene umfangreiche Abhandlung widmet. Dabei ist unter der Tugend„lehre“ nicht etwa ein Unterricht über die Tugend zu verstehen, sondern eine systematische Erörterung, sogar ein System der Tugend. Die erste Korrektur, die die Tugendlehre der zeitgenössischen Ethikdebatte abverlangt: Im Rahmen seiner revolutionären Neubegründung gibt Kant zwar nicht den Tugendbegriff selbst, wohl aber dessen überlieferte Bedeutung auf. Seitdem bedarf der Tugendbegriff einer wesentlichen, für Nachfolger maßgebenden Veränderung. Sie beginnt mit dem grundlegend anderen Zusammenhang. Seinen systematischen Ort hat der Tugendbegriff in der aristotelisch-thomistischen Tradition in einer Ethik der Eudaimonie (Glück) – für Kant die „Euthanasie (der sanfte Tod) der Moral“ –, bei Kant hingegen in einer Ethik jener Autonomie, die er wegen „des Freiheitsprinzips der inneren Gesetzgebung“ ‚Eleutheronomieʻ nennt (TL, VI 378). Zu ihr gehören als moralphilosophische Grundbegriffe: Pflicht kontra Neigung, Handeln aus Pflicht, Legalität und Moralität, Pflichten gegen sich und gegen andere sowie vollkommene und unvollkommene Pflichten. Laut Kant verstand man die Tugend bislang als eine bloße Fertigkeit oder Gewohnheit, die dabei etwas Mechanisches an sich habe. Dabei verfehle sie die eigentliche Moral, das Handeln aus Pflicht. Statt die Moralität zu erreichen, bringe sie bestenfalls pflichtgemäße Handlungen, also Legalität zustande (Anthr.,VII 147). Nach Kants revolutionärer Neubestimmung besteht die Tugend in der „Stärke der Maxime in der Befolgung seiner Pflicht“ und in der„in der festen Gesinnung gegründeten Übereinstimmung der Willkür mit der Pflicht“ (TL, VI 394 f.). Auf diese Weise wird
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die Tugendethik in die Pflichtethik integriert; statt deren Alternative zu sein, ist sie zu einem festen Bestandteil der Pflichtenethik geworden. In der schon vor der Metaphysik der Sitten erschienen Religionsschrift zieht Kant die nötigen Konsequenzen aus seinem revolutionär neuen Tugendbegriff. Da die Tugend nicht in Gewohnheit besteht, lässt sich „die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern [nur!] von der Umwandlung der Denkungsart“ erwarten. Während Kant im politischen Denken Reformen statt einer Revolution favorisiert, bestreitet er hier mit Nachdruck, dass der Mensch Tugend „durch allmähliche Reform seines Verhaltens“, also „nach und nach“ erwerben könne. Um zu einem nicht bloß gesetzlich sondern moralisch guten Menschen zu werden müsse er „eine Revolution in der Gesinnung“ vornehmen, aus einer einmaligen „Entschließung müsse gleichsam ein neuer Mensch hervorgehen“ (Rel., VI 47 f.). Weil die Tugend „eine moralische Stärke des Willens“ bedeutet, ist sie zwar ein unerreichbares Ideal, „gleichwohl aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht“ (TL, VI 409). Nach der traditionellen Ethik besteht zwischen Tugend und Glück ein unauflöslicher Zusammenhang. Kant erneuert diesen Gedanken, allerdings mit einer folgenreichen Gewichtsverschiebung. Die Tugend garantiert nicht ein in dieser Welt glückliches Leben, sie ist lediglich „die Würdigkeit glücklich zu sein“, als dieses aber „die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag“ (KpV, V 198). „In ihrem Besitz ist der Mensch allein frei, gesund, reich, ein König u.s.w …, weil er sich selbst besitzt“ (TL, VI 405). Kants Tugendlehre verlangt noch eine weitere Korrektur. In der heutigen Ethik herrschte deren Verkürzung auf Verbindlichkeiten gegen andere, auf eine bloße Sozialethik, vor. Diese Verkürzung ist der traditionellen Ethik fremd. Im Quartett der Kardinaltugenden ist am deutlichsten die Besonnenheit (sôphrosynê, temperantia) eine Verbindlichkeit gegen sich selbst. Aber auch die Tapferkeit (andreia, fortitudo) ist gemäß Aristotelesʼ Bestimmung als Ertragen von Schmerzhaftem (Nikomachische Ethik III, 12117a32 ff.), ebenso wie die Weisheit (sophia, sapientia) als höchste Wissenstugend keine ausschließliche, nicht einmal eine vornehmliche Sozialpflicht. Ohne sich dabei auf die traditionelle Tugendethik zu berufen, herrscht auch bei Kant diese antireduktionistische Einstellung vor. Mit großem Nachdruck vertritt er den Gedanken von Pflichten, mitlaufend von entsprechenden Einstellungen, von Tugenden, gegen sich selbst. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, ohne Selbstpflichten gibt es keine Fremdpflichten (§ 2). Seine provokative These lautet also: keine Sozialethik ohne eine Personalethik.
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1.5 Überblick über die Tugendlehre Wie die Schrift ganz am Ende, in einer „Tafel der Einteilung der Ethik“, festhält, besteht die Tugendlehre aus zwei ungleich umfangreichen Teilen, der weit längeren, 48 Paragraphen umfassenden „Ethische[n] Elementarlehre“ und der mit nur fünf Paragraphen sehr knappen „Ethische[n] Methodenlehre“. Beide Texte sind zweigeteilt, wobei Kant dort von „Teilen“, den (vollkommenen und unvollkommenen) Pflichten gegen sich und den Tugendpflichten, hier von „Abschnitten“, der ethischen Didaktik und der ethischen Asketik, spricht. Diesen beiden Teilen geht außer einer „Vorrede“ eine „Einleitung“ voran, deren Umfang beinahe den der Elementarlehre erreicht. Die Schrift endet, „Beschluß“ genannt, mit Überlegungen zu dem der reinen Moralphilosophie externen Ort, einer„Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott“. Gemäß der „Vorrede“ geht es der Tugendlehre um ein „System reiner, von aller Anschauung unabhängigen Vernunftbegriffe“: Denn „kein moralisches Prinzip gründet sich … auf irgendein Gefühl, sondern ist wirklich nichts anders als dunkel gedachte Metaphysik“, ohne die „weder Sicherheit noch Lauterkeit für die Tugendlehre“ zu erwarten ist (375 f.). Die außergewöhnlich lange „Einleitung“, die nicht leicht als einheitlich aufgebaut einzusehen ist, entwickelt die für den Begriff einer Tugendlehre notwendigen Unterbegriffe. Seit der Grundlegung spielt der Zweckbegriff beim kategorischen Imperativ, also an prominenter Stelle, eine Rolle. Nach der zweiten, formalen Unterformel des kategorischen Imperativs muss der Mensch stets auch als Zweck behandelt werden (GMS, IV 429), nach der dritten, vollständigen Bestimmung müssen alle Maximen zu einem möglichen Reich der Zwecke zusammenstimmen (GMS, IV 436). Die Tugendlehre geht schon gegen Anfang, im Abschnitt II, einen Schritt weiter und führt, im Verhältnis zur Grundlegung und der zweiten Kritik neu, den Begriff „von einem Zwecke, der zugleich Pflicht ist“ ein. Auf diese Weise wird die Pflichtenlehre der Tugendlehre auch zu einer Zwecklehre. Kant will nämlich moralische Gesetze, die Zwecke vorschreiben, aus deren neuer Formel, dem formalen Prinzip für endliche Vernunftwesen, gewinnen. Er erläutert dann die hier einschlägigen, vom Begriff der Tugendlehre oder Ethik her ohne Zwang zu verfolgenden Zwecke: die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit (Abschn.V), die später als Tugendpflichten qualifiziert werden (Abschn. VIII). Er betont den Unterschied der Ethik gegenüber dem Recht (Jus): Sie gibt Gesetze nicht für die Handlungen (Abschn. VI), so dass es innerhalb des gemeinsamen Begriffs der Freiheit dort um die äußere, hier die innere Freiheit geht (Abschn. XIV).
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Ferner spricht er den ethischen Pflichten eine weite, nämlich einen Handlungsspielraum offen lassende, den Rechtspflichten hingegen eine enge Verbindlichkeit zu, womit die Handlungen, in der Regel Unterlassungen, gewissermaßen punktgenau festgelegt werden (Abschn. VII). Nach einem weiteren Unterschied ist das oberste Prinzip der Rechtslehre analytisch, das der Tugendlehre hingegen synthetisch (Abschn. X). Nach einer „Tafel der Tugendpflichten“ (Abschn. XI) folgen „ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“. Unter den Stichworten: (a) moralisches Gefühl, (b) Gewissen (mit der klaren These, „daß ein irrendes Gewissen ein Unding“ ist; 401), (c) Menschenliebe und (d) Achtung, also vier subjektiven Bedingungen für den Pflichtbegriff, entwickelt Kant die Lehre „von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ aus der zweiten Kritik (Abschn. XII; zum Gewissen vgl. § 13). Er führt drei „Allgemeine Grundsätze … einer reinen Tugendlehre“ ein, die allesamt den traditionellen Thesen widersprechen: 1. „Für eine Pflicht“ gibt es nur einen einzigen Verpflichtungsgrund. 2. Zwischen Tugend und Laster besteht kein quantitativer, vielmehr ein qualitativer Unterschied. 3. Tugend wird nicht aus der Erfahrung von Menschen, „wie sie sind“, sondern aus der rationalen „Idee der Menschheit“ gelernt (Abschn. XIII). Gegen Ende der „Einleitung“ nennt Kant zwei Bedingungen für Tugend: die Herrschaft über sich selbst (Abschn. XV) und als notwendige Voraussetzung ein stoisches Prinzip, die „Apathie (als Stärke betrachtet)“ (Abschn. XVI). Die auf die „Einleitung“ folgende „Ethische Elementarlehre“ beginnt mit – I. Teil – den Pflichten gegen sich selbst, erklärt, warum ihr Begriff nur scheinbar einen Widerspruch enthält (§§ 1–4) und stellt dann die Pflichten vor, eingeteilt in vollkommene (1. Buch) und unvollkommene Pflichten (2. Buch). Die vollkommenen Pflichten lassen, obwohl es Tugendpflichten sind und obwohl die Gesetze ethischer Pflichten nur Gesetze für Maximen, nicht für Handlungen sind, ebenso wie die Rechtspflichten weder Ausnahmen noch einen Handlungsspielraum zu. (Frage: gibt es also keinerlei weite Verbindlichkeiten? Liegt hier ein Widerspruch vor?) Es sind „negative Pflichten“, da sie lediglich Unterlassungen gebieten (421), mithin einen Verbotscharakter haben. Kant untergliedert das die vollkommenen Pflichten behandelnde Erste Buch in zwei Hauptstücke: 1. Pflichten gegen sich „als einem animalischen Wesen“ (über den Selbstmord, naturwidrige Wollust und Essund Trunksucht: §§ 5–8), und 2. „als einem moralischen Wesen“ (über Lüge, Geiz und Kriecherei: §§ 9–12) und einigen damit zusammenhängenden Problemen (§§ 13–18). Eine zweite Eigentümlichkeit von Kants Erörterung der vollkommenen Pflicht gegen sich: Im Gegensatz zum Begriff einer „vollkommenen“ Verpflichtung schließen sich an jede der sechs dort aufgestellten Pflichten „kasuistische Fragen“ an. In ihnen stellt Kant jenen „esprit de finesse“ unter Beweis, dem man unter Berufung auf seinen (inhumanen) Rigorismus bei ihm zu vermissen pflegt: In den genannten
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Fragen zeichnet sich eine Kasuistik ab, für die es in unterschiedliche Weise eine Urteilskraft braucht. Unter anderem werden nicht etwa die strengen Verbote von Selbstmord, Lüge, usf. aufgeweicht, sondern es stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Anwendungsfall des jeweiligen Verbotes vorliegt. Das 2. Buch stellt die unvollkommenen Pflichten vor, untergliedert in „Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit“ (§§ 19–20) und „in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit“ (§§ 21–22). Der gleich umfangreiche zweite Teil behandelt die Pflichten, jetzt in Abgrenzung zu den einschlä gigen Rechtspflichten, „Tugendpflichten“ genannt, gegen andere. Ebenfalls in zwei Teile untergliedert, heißen diese hier nicht „Bücher“, sondern „Hauptstücke“ und deren Untergliederung „Abschnitt“. Kant fängt mit den Pflichten gegen andere „bloß als Menschen“ an, den Liebespflichten (§§ 23–35), der Pflicht zur Wohltätigkeit (§§ 29–31), der zur Dankbarkeit (§§ 32–33) und zur teilnehmenden Empfindung (§§ 34–35) sowie dem konträren Laster, dem Menschenhass (§ 36). Es folgen die Tugendpflichten gegen andere Menschen „aus der ihnen gebührenden Achtung“ (§§ 37–41) und den entgegengesetzten Lastern des Hochmuts, der üblen Nachrede („Afterrede“) und der Verhöhnung (§§ 42–44). Den „Beschluß“ macht ein Gegenstand, der von Aristoteles und anderen antiken Denkern zwar hochgeschätzt wird, in der zeitgenössischen Ethik aber so gut wie völlig verschwunden ist, hier als die „innigste Vereinigung der Liebe mit der Achtung“ bestimmt: die Freundschaft (§§ 46–47). daran schließen sich als „Zusatz“ einige Bemerkungen zu „Umgangstugenden“ an (§ 48). Wegen ihres analytischen Charakters ist die Rechtslehre der Mathematik vergleichbar und bedarf wegen ihrer „strengen (präzisen)“ Bestimmtheiten keiner Methodenlehre. Im Unterschied dazu hat die Tugendlehre als zweiten, allerdings sehr kurzen Hauptteil eine „Ethische Methodenlehre“. Sie beginnt, weil Tugend nicht angeboren, sondern zu lehren sei, mit einer „Didaktik“, deren erstes und notwendigstes doktrinales Instrument ein „moralischer Katechismus“ bildet, von dem Kant aber nur ein „Bruchstück“ vorstellt (§§ 49–52). Der nur gut eine Seite lange zweite Abschnitt, die „Ethische Asketik“, widmet sich jener „Kultur der Tugend“, die, um „wackeren und fröhlichen Gemüts“ seine Pflichten zu befolgen, sich dem Wahlspruch der Stoiker unterwirft: „die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren“ (§ 53). Die Schrift endet mit der Behauptung, dass Pflichten gegen Gott „außerhalb den Grenzen der reinen Moralphilosophie“ liegen, da die Ethik sich nicht über die Grenzen der wechselseitigen Menschenpflicht erweitern könne.
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2 Über den Begriff einer „Metaphysik der Tugend“ (Vorrede) 2.1 Einleitung Die „Vorrede“ zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre umfasst nicht mehr als sieben Absätze (und eine Anmerkung), wobei drei vor dem fünften Absatz eingerückte Sternchen einen Themenwechsel anzeigen. Da die Bände mal mit, mal ohne den Reihentitel (Die Metaphysik der Sitten) gebunden worden sind, ist nicht für jeden Leser dieser Schrift unmittelbar ersichtlich, dass es sich bei der Tugendlehre um den zweiten Teil der Metaphysik der Sitten handelt. Dass der erste Teil den Untertitel Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre trägt, im Übrigen ebenfalls nicht. Die beiden Bände erscheinen separat und in einem Abstand von mehreren Monaten (worüber Kant nicht erfreut war; vgl. Briefe, XII 187). Es wäre zu erwarten, dass sich Kant in der Vorrede zum Titel seiner Schrift und den Motiven ihrer Abfassung äußert. Warum wählt er das Wort „Tugendlehre“ und nicht (beispielsweise) Ausdrücke wie „Sittenlehre“, „Pflichtenlehre“ oder „Moralphilosophie“? Der Leser vermag sich etwas unter einer „Tugendlehre“ und – wenn er bereits mit Kants älteren Schriften zur praktischen Philosophie vertraut ist – womöglich auch unter der „Metaphysik der Sitten“ vorzustellen. Auf welches philosophische Projekt bezieht er sich mit dem Titel „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre“?
2.2 Der Kontext der „Tugendlehre“ Um einen ersten Eindruck von den inhaltlichen und methodischen Besonderheiten von Kants Tugendlehre zu gewinnen, mag ein Blick auf ihren philosophiehistorischen Kontext hilfreich sein. Dass wir es hier mit einer äußerst vielschichtigen (in der bisherigen Literatur allerdings noch nicht aufgearbeiteten) Begriffslandschaft zu tun haben, wird bereits aus wenigen Sätzen deutlich, die Georg Friedrich Meier, der wichtigste unmittelbare Schüler von Alexander Gottlieb Baumgarten in Halle, im Jahre 1753 über die philosophische Sittenlehre verliert: „Ich verstehe durch die philosophische Sittenlehre, welche man die philosophische Moral zu nennen pflegt, die Wissenschaft von den innerlichen natürlichen Pflichten eines Menschen, in so ferne derselbe in seinem, natürlichen Zustande betrachtet wird. … viele andere Schriftsteller“ erklären diese anders, „indem sie ihr entweder einen weitern oder https://doi.org/10.1515/9783110786958-004
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engern Umfange gegeben haben. Einige handeln, in der philosophischen Sittenlehre, bloß von den menschlichen Tugenden; andere beschäftigen sich, in der Abhandlung derselben, bloß mit der Untersuchung der Art und Weise, wie man die Naturgesetze beobachten soll; andere handeln bloß von den Sitten; und noch andere rechnen, auch die gesellschaftlichen Pflichten, mit in den Bezirck der philosophischen Sittenlehre“ (1753, § 5).¹ Meier konzipiert die philosophische Sittenlehre als Lehre von den Pflichten. Und wie später Kant unterscheidet er zwischen solchen Pflichten, die erzwungen (Recht) und solchen, die nicht erzwungen (philosophische Sittenlehre oder philosophische Moral; vgl. 1753, § 4) werden können. Doch was versteht Meier unter Tugend? In seinem Auszug aus dem Rechte der Natur (1769) führt er aus: „Die Tugend (virtus) ist die Fertigkeit, eine Pflicht zu beobachten; und eine rechtmäßige Handlung ist nur alsdann erst eine tugendhafte Handlung, wenn sie aus der Tugend entsteht. Alle Tugend entsteht aus der Uebeung in der Beobachtung der Pflichten; und wer verbunden ist, eine Pflicht ofte zu beobachten, der ist auch zu der Tugend in der Absicht derselben verbunden“ (1769, § 184). Meiers Auffassung der Tugend steht in der Tradition von Christian Wolffs Deutscher Ethik (1720), der wirkmächtigsten in deutscher Sprache verfassten Monographie zur Moralphilosophie vor der Veröffentlichung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In ihr bestimmt Wolff die Tugend als die „Fertigkeit [,] seine Handlungen nach dem Gesetze der Natur einzurichten“ (1733, § 64). Weil das Gesetz die Vollkommenheit der Menschen fordert, „so ist die Tugend eine Fertigkeit sich und andere Menschen, imgleichen seinen und anderer Menschen äusserlichen Zustand so vollkommen zu machen als möglich ist“ (1733, § 65). Wer über Tugend verfügt, ist befähigt, diejenigen Handlungen (Pflichten) zu vollziehen, die das Gesetz (das Gesetz der Natur oder das natürliche Gesetz) von uns fordert. Das Ziel der Tugend ist die Autokratie: Wer „seine freyen Handlungen in seiner Gewalt hat, [der ist] Herr über sich selbst“ (1733 § 185; vgl. § 187). Eine bemerkenswerte Fortentwicklung erfährt der Wolffsche Tugendbegriff bei Johann Christoph Gottsched, der im Rahmen seiner Schrift Erste Gründe der
1 Meiers Auffassung deckt sich mit der von Baumgarten. In seiner Ethica philosophica (1740, 3. Auflage 1763) definiert Baumgarten „Ethica (disciplina pii, honesti, decori, scientica virtutis, moralis, practica, ascetica)“ als „Wissenschaft von den inneren Verpflichtungen des Menschen im Naturzustand („est scientia obligationum hominis internarum in statu naturali.“) und übersetzt (allerdings noch nicht in der ersten Auflage von 1740) „Ethica“ als „Sitten- und Tugendlehre“ (1763, § 1). „Ethica Philosophica (philosophia moralis, ius naturae internum)“ übersetzt er als „die Sittenlehre der Vernunft“ und definiert sie als diejenige Ethik, die (im Unterschied zur christlichen Ethik) ihre Erkenntnisse „sine fide“ (1763, § 2) gewinnt. In der „Sittenlehre der Vernunft“ erfolgt die Beweisführung nach „wissenschaftlicher Methode“ („methodo scientifica“). Zur Gleichsetzung von Ethik und Tugendlehre siehe auch TL, 379.
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Weltweisheit. Praktischer Teil (1734) die „Tugendlehre“ als eigenständige Disziplin innerhalb der praktischen Philosophie vorträgt. Seiner Ansicht nach ist die Aufgabe der „Tugendlehre“ eine durch und durch praktische, und sie besteht darin, den menschlichen Willen durch die Erkenntnis des natürlichen Gesetzes einerseits und die Erkenntnis der Mittel seiner Befolgung andererseits zur Glückseligkeit zu führen. Wie Wolff ist Gottsched davon überzeugt, dass die Tugend vermittels der Herrschaft über sich selbst zur wahren Glückseligkeit führt. Im Unterschied zu Wolff scheint Gottsched aber einen größeren Wert auf die Tugendlehre selbst zu legen. Er anerkennt, dass die Erkenntnis unserer Pflichten allein oft nicht ausreicht, um uns zu einem entsprechenden Handeln zu befähigen. Gerade aus diesem Grunde entwickelt er die Tugendlehre als eine besondere Lehre von den „Bewegungsgründen“ des menschlichen Willens. Denn das als gut Erkannte muss mit „Lust und Liebe“ (1762, § 439) verbunden sein, damit es uns angesichts der Hindernisse unseres moralischen Strebens auch in Bewegung setzt. Was nottut, ist eine lebendige Erkenntnis der Pflicht. „Den Willen zu lenken, dazu gehören kräftige Bewegungsgründe, die denselben zum Thun und Lassen antreiben. Es gehören ferner bequeme Vorschläge dazu, durch was für Mittel man am leichtesten die Ausübung der Tugend in einer Fertigkeit verwandeln; und wie man alle Hindernisse derselben aus dem Wege räumen könne. Alle diese Dinge nun erfordern einen neuen Theil der praktischen Weltweisheit. Wir nennen ihn die Tugendlehre, oder die Sittenlehre im engern Verstande: das ist, eine Wissenschaft von Erlangung der Tugend, in Ausübung menschlicher und bürgerlicher Pflichten“ (1762, § 8). Der „Tugendlehre, oder Sittenlehre im engern Verstande“ widmet Gottsched den dritten Teil seiner Schrift (Gliederung: „Einleitung zur praktischen Weltweisheit überhaupt“; 1. Teil: „Die allgemeine Sittenlehre“; 2. Teil: „Das Recht der Natur“; 3. Teil: „Die Tugendlehre“; 4. Teil: „Die Staatslehre“ u. „Anhang“). In ihr sollen nicht die Pflichten selbst sondern vielmehr „hauptsächlich die Bewegungsgründe zum tugendhaften Leben“ (1762, § 434) vorgestellt werden. Die Tugendlehre soll zeigen, wie man zur „Beobachtung des Gesetzes der Natur“ (1762, § 434) befähigt werden kann. Selbstverständlich besteht für Gottsched (wie für Wolff ) kein Gegensatz zwischen Pflicht und Tugend. Während Pflicht die Handlung bedeutet, zu deren Vollzug wir aufgrund des natürlichen Gesetzes verbunden (verpflichtet) sind, bezeichnet (wie erwähnt) die Tugend die Fertigkeit einer Person, ihre Pflicht zu erfüllen. Das natürliche (und bürgerliche) Gesetz verpflichtet uns, weil es uns einen Grund (ein Motiv) gibt, in einer bestimmten Weise zu handeln. Die Erkenntnis der Pflicht allein macht uns aber noch nicht tugendhaft. Wir bedürfen zusätzlicher Motive, die uns zur Tugend lenken. Die Tugendlehre zeigt uns, wie wir die Hindernisse eines tugendhaften Lebens überwinden können. „Soll uns nun die Tugendlehre die Fertigkeit im Guten zuwege bringen: so muß sie uns die Hindernisse desselben aus dem
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Wege räumen; das ist, das Böse abgewöhnen“ (1762, § 436). Die Tugendlehre stellt keine Alternative zur Lehre von den Pflichten dar. Sie ist ihre notwendige Ergänzung. Die Tugendlehre ist der praktische Teil der Lehre von den Pflichten. Sie will uns eine „lebendige Erkenntnis“ unserer „wahren Natur“ (1762, § 440) vermitteln. Vor dem Hintergrund von Gottscheds „Tugendlehre“ dürfen wir einen Erstleser von Kants Tugendlehre imaginieren, der von dieser Schrift genau das erwartet, was ihr Titel verspricht: Eine in praktischer Absicht verfasste Abhandlung über die Tugend(en) – und zwar (wie bei Gottsched) auf der Grundlage ihrer „ersten Gründe“. Denn „Anfangsgründe“ (lat. initia) und „erste Gründe“ sind synonyme Ausdrücke. Allerdings wird ein wichtiger Unterschied zwischen Gottsched und Kant durch das Adjektiv „metaphysisch“ zum Ausdruck gebracht. Aufgrund ihrer praktischen Absicht scheint es dem Anliegen der Tugendlehre entgegenzustehen, nach ihren metaphysischen Anfangsgründen zu fragen. Wie kann eine Tugendehre, die diesen Namen verdient, metaphysische Anfangsgründe haben? Ist Metaphysik nicht ein klares Indiz für praxisindifferente (oder gar der Praxis feindlich gesonnene) Theorie?
2.3 Die ersten Gründe der Tugendlehre sind metaphysisch Kant imaginiert einen akademischen Leser, der sich in den einschlägigen Debatten der Zeit auskennt und die Pointen wahrnimmt, die er zu setzen beabsichtigt. So erinnert er im ersten Satz der Vorrede an seine bereits in der Kritik der reinen Vernunft geäußerten Ansicht, wonach die Philosophie ein „System der Vernunfterkenntnis aus Begriffen“ (TL,VI 375; vgl. KrV, A 713/B 741) ist, d. h. von Begriffen, die ihren Ursprung in der reinen Vernunft selbst haben und nicht etwa (wie Wolff und Gottsched meinen) aus der Erfahrung (bzw. der Anschauung) ‚abgezogen‘ werden müssen. Hat diese (reine) Philosophie „einen Gegenstand“ (woran Kant gar nicht zweifelt), muss dieser im Rahmen der Metaphysik thematisiert werden. Dementsprechend definiert Kant Metaphysik als „ein System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe“ (ebd.). Worin der Gegenstand der Metaphysik besteht, lässt Kant an dieser Stelle offen. (Er unterstellt, dass der Leser Freiheit und Natur als die beiden Gegenstände der Metaphysik der Sitten und der Metaphysik der Natur identifizieren kann.) Kant fragt nun, ob die „Tugendlehre (Ethik) auch metaphysischer Anfangsgründe“ bedarf, „um sie als wahre Wissenschaft (systematisch), nicht bloß als Aggregat einzeln aufgesuchter Lehren (fragmentarisch) aufstellen zu können“ (375). In
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seiner grundlegenden Fassung lautet das Problem, ob „jede praktische Philosophie als Pflichtenlehre“ dieser Anfangsgründe bedarf. Kant verweist auf zwei Arten „praktischer Philosophie als Pflichtenlehre“: die „Tugendlehre“ und die „reine Rechtslehre“ (ebd.). Dass die letztere metaphysischer Anfangsgründe bedarf, wird in zwei Sätzen erläutert: „Von der reinen Rechtslehre wird niemand dies Bedürfnis bezweifeln; denn sie betrifft nur das Förmliche der nach Freiheitsgesetzen im äußeren Verhältnis einzuschränkenden Willkür; abgesehen von allem Zweck (als der Materie derselben). Die Pflichtenlehre ist also hier eine bloße Wissenslehre (doctrina scientiae)“ (ebd.) Warum folgt aus dem Umstand, dass die reine Rechtslehre „eine bloße Wissenslehre“ ist, das „Bedürfnis“, ihre metaphysischen Anfangsgründe zu beleuchten? Vielleicht deshalb, weil bei bloß formalen Begriffen des äußeren Freiheitsgebrauchs unklar bleiben muss, wie sie sich zu einem System (zu einer Wissenschaft) fügen, solange ihre ‚ersten Gründe‘ unerkannt sind? Kant betont, dass die „reine Rechtslehre“ und die Tugendlehre Pflichtenlehren darstellen. Pflichten werden erkannt, und zwar (wie wir aus der Grundlegung wissen) durch die Anwendung des kategorischen Imperativs auf die Maximen unseres Handelns. Weil die Pflichtenlehre in Gestalt der reinen Rechtslehre nun eine „bloße Wissenslehre“ ist, wäre sie als „Wissenslehre“ unvollständig, würden ihren ersten Gründe (oder Anfangsgründe) nicht bekannt sein. Es besteht also ein (wie wir sagen könnten) spekulatives (theoretisches) Bedürfnis, die in der „reinen Rechtslehre“ exponierten Pflichten in ihrem systematischen Ganzen zu erkennen. (Diesen Grund hatte Kant übrigens in der „Vorrede“ zum ersten Teil der Metaphysik der Sitten nicht erwähnt. Dort hatte er den Titel „metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ damit begründet, dass es in dieser Schrift aufgrund der zahlreichen Anwendungsfälle des Rechts nur eine „Annäherung zum System, nicht dieses selbst“ geben könne; RL, VI 205). Bevor wir erörtern, warum sich dieses spekulative Bedürfnis nicht in der gleichen Weise auch auf die Tugendlehre beziehen lässt, ist auf eine längere Anmerkung einzugehen, in der Kant zwischen einem „der praktischen Philosophie Kundigen“ und dem „praktischen Philosoph“ (TL, VI 375 Anm.) unterscheidet. Sie liefert uns wertvolle Hinweise auf den (angeblich) problematischen Charakter von metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre: Wer oder was ist ein „praktischer Philosoph“? Er ist ein Mensch, „welcher sich den Vernunftendzweck zum Grundsatz seiner Handlungen macht“ (ebd.). Worin dieser „Vernunftendzweck“ besteht, erläutert Kant leider nicht. Aber es wird doch klar, dass sich der„praktische Philosoph“ nicht mit seiner Erkenntnis zufrieden gibt. Er will diesen Zweck durch eigenes Tun bewirken. Kant beschreibt diese Erkenntnis als das Wissen davon, „was zu tun Pflicht ist (welches wegen der Zwecke, die natürlicherweise alle Menschen haben, leicht angegeben werden kann)“ (ebd.). Was über dieses Wissen hinausführt, ist somit das „innere Prinzip des Willens, nämlich
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daß das Bewußtsein dieser Pflicht zugleich Triebfeder der Handlungen sei, um von dem, der mit seinem Wissen dieses Weisheitsprinzip verknüpft, zu sagen: daß er ein praktischer Philosoph sei“ (ebd.). Während die Pflichtenlehre im Rahmen der „reinen Rechtslehre“ „eine bloße Wissenslehre“ ist, ist sie als Tugendlehre eben nicht „bloß“ Wissenslehre. Die Tugendlehre will ihrem Begriff nach praktisch sein. Aus diesem Grunde muss sie die Bedingungen reflektieren, unter denen die Tugendpflichten praktisch werden können. Genau dies entfällt bei der reinen Rechtslehre. Die Rechtslehre zeigt sich indifferent gegenüber der Frage, aus welchen Motiven (Beweggründen) eine Person ihre Rechtspflichten erfüllt. Wie kann aus dem Umstand, dass die Tugendlehre neben dem Wissen um unsere Tugendpflichten auch das „innere Prinzip des Willens“ mitbedenkt, ein Problem für die Absicht resultieren, metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre zu verfassen? Die Antwort ergibt sich aus den Erwartungen, die viele Philosophen mit den Begriffen der Pflicht und der Tugend als einer „Fertigkeit (habitus)“ (407; vgl. KU, V 295 u. 383; Kant spricht auch von „Vermögen“; TL, VI 383) verbinden: Die Funktion der Tugend ist es, die Menschen zum Pflichtvollzug zu befähigen. Da Kant den Pflichtbegriff jedoch „von allem empirischen (jedem Gefühl) gereinigt“ hat, stellt sich die Frage, wie die Tugend die Pflicht dennoch zur Triebfeder machen kann. Müsste die Pflicht nicht der Anschauung und dem Gefühl genähert werden? Sollte diese Frage positiv beantwortet werden, dann würden wir der Tugendlehre sicherlich keinen Gefallen tun, konzipierten wir sie als Metaphysik. Die Funktion der Tugend ist es, wie Kant im zweiten Absatz der Vorrede herausstellt, „die lastergebärdenden Neigungen zu überwältigen“ (376). Doch genau das scheint durch metaphysische Spekulationen nicht möglich zu sein. In einer Vorarbeit zur Vorrede beschreibt Kant zwei Schwierigkeiten, die mit seinem Projekt verbunden sind, metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre als zweitem Teil der Metaphysik der Sitten zu verfassen. Diese Schwierigkeiten ergeben sich aus dem Begriff der Tugend und aus seinem Verhältnis zum Pflichterkenntnis. Voraussetzung seiner Überlegungen sind zwei Annahmen: Erstens dass die Tugend die Pflichterkenntnis voraussetzt, und zweitens dass die Tugend nichts anderes als die „moralische Stärke des Menschen in Befolgung seines Zwecks der zugleich Pflicht ist“. Die erste Schwierigkeit besteht nun darin, dass für die Pflichterkenntnis „die allgemeine Metaphysik der Sitten … hinreichend“ zu sein scheint. Weil die „Metaphysik der Tugend“ „nur die Ausübung“ der Pflicht „vorschreibt“, scheint sie überflüssig, um unsere Pflichten zu erkennen. Die zweite Schwierigkeit resultiert aus der Annahme, dass die Tugend ihre „vornehmste“ Aufgabe, nämlich „Triebfeder und Kraft für die Ausübung“ (Vorarbeiten, XXIII 374 f.) der Pflicht zu sein, umso schlechter nachzukommen scheint, je weiter sie sich der Metaphysik annähert. Aus diesen beiden von Kant skizzierten Schwierigkeiten wird deutlich, welche Absicht Kant mit den Metaphysischen Anfangsgründen der Tu-
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gendlehre beabsichtigt: Sie soll diese Schwierigkeiten überwinden. Sie soll in systematischer Absicht unsere Pflichtenerkenntnis erweitern (oder spezifizieren), und sie soll in praktischer Hinsicht zeigen, wie die Tugend uns in die Lage versetzt, unsere Pflichten zu erfüllen. Die Metaphysischen Anfangsgründe wollen einen Beitrag zur Theorie und zur Praxis unserer Pflichten leisten. Wie dieser Beitrag angesichts der beiden genannten Schwierigkeiten geleistet werden kann, erwähnt Kant in den Vorarbeiten leiden nicht. Doch kehren wir zum Argumentationsgang der Tugendlehre zurück. Kant stellt nicht in Abrede, dass der praktische Rekurs auf metaphysische Lehrstücke in der pädagogischen Praxis („in Hörsälen, von Kanzeln und in Volksbüchern“; 376) abwegig und lächerlich ist. „Aber darum ist es doch nicht unnütz, viel weniger lächerlich, den ersten Gründen der Tugendlehre in einer Metaphysik nachzuspüren; denn irgend einer muß doch als Philosoph auf die ersten Gründe dieses Pflichtbegriffs hinausgehen: weil sonst weder Sicherheit noch Lauterkeit für die Tugendlehre überhaupt zu erwarten wäre“ (ebd.). Mit der Tugendlehre setzt Kant demnach sein bereits in der Grundlegung verfolgtes Projekt fort, der Praxis durch die richtige Theorie einen guten Dienst zu erweisen. Die Pflicht wird „durch die Vernunft diktiert“ (ebd.), nicht durch das (moralische) Gefühl empfangen. Aus diesem Grunde sind die ersten Gründe der Pflicht im Rahmen der Metaphysik zu erforschen, so wie Kant sie versteht. Dass Kant die Tugendlehre selbst als einen Pflichtbegriff bezeichnet, kann zwei verschiedene Bedeutungen haben. Es kann zum einen bedeuten, dass wir verpflichtet sind, eine Tugendlehre zu verfassen (und damit nach den ersten Gründen dieser Lehre Ausschau zu halten). (Entsprechend äußert sich Kant in Absatz 4: Wer eine Metaphysik entwickelt, für den besteht auch die „unerläßliche Pflicht, selbst in der Tugendlehre zu jener ihren Grundsätzen zurückzugehen und auf ihren Bänken vorerst selbst die Schule zu machen“; 377). Es kann zum anderen bedeuten, dass der Begriff der Tugendlehre Teil der Pflichtenlehre ist: Wenn es Pflichten gibt, die die Vernunft selbst „diktiert“ (376), dann gibt es auch eine Lehre, in der thematisch wird, in welcher Weise es uns gelingen kann, unsere Pflichten zu vollziehen. Im dritten Absatz setzt Kant das Thema fort. Moralische Prinzipien gründen sich nicht auf Gefühlen sondern sind nichts anderes als „dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt“ (ebd.). Auch dieser Gedanke ist dem Leser bereits aus der Grundlegung vertraut: Dass ein moralisches Prinzip „dunkel gedachte Metaphysik“ ist, besagt, dass es einen kognitiven Gehalt hat, der durch die Anwendung der entsprechenden (analytischen) Methode klar zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Methode des Tugendlehrers muss „sokratisch“ sein. Aber sie setzt voraus, dass der„Gedanke“ selbst „bis auf die Elemente der Metaphysik“ zugeht, „ohne die keine Sicherheit und Reinigkeit, ja selbst nicht einmal bewegende Kraft in der Tugendlehre zu erwarten ist“ (ebd.). Bereits in der
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Grundlegung hatte Kant eindringlich vor einer „vermischten Sittenlehre“ (GMS, IV 411) gewarnt, so wie wir sie bei Philosophen wie Johann Georg Sulzer und Christian Garve finden, die der Sache der Tugend einen Bärendienst erweisen, indem sie die reinen Moralbegriffe mit empirischen Begriffen und Beispielen vermischen (vgl. Klemme 2011). Würde das moralische Gefühl (und damit die Materie, nicht die Form des Willens) zur Grundlage der Bestimmung unserer Pflichten erhoben werden, „so finden freilich keine metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre statt – denn Gefühl, wodurch es auch immer erregt werden mag, ist jederzeit physisch“ (376 f.). Würde die Tugendlehre auf einem physischen Gefühl gegründet werden, hätte dies auch negative Auswirkungen auf den Begriff der Pflicht: „Denn es ist nicht gleichviel, durch welche Triebfedern als Mittel man zu einer guten Absicht (der Befolgung aller Pflicht) hingeleitet wird“ (377). Die Tugendlehre verfolgt kein bloß spekulatives Interesse. Sie will einen Beitrag zur Verbesserung unserer moralischen Praxis leisten. Dabei ist Kant selbstverständlich nicht der Ansicht, dass die Tugend keinen Bezug auf moralische Gefühle hat. Kants These scheint vielmehr zu lauten, dass die „Grundsätze“ (ebd.), die „Anfangsgründe“ oder „ersten Gründe“ der Tugendlehre in der Metaphysik gesucht und gefunden werden müssen. Im fünften Absatz nimmt Kant zur Kant-Rezeption Stellung. Er drückt seine Verwunderung darüber aus, „wie nach allen bisherigen Läuterungen des Pflichtprinzips, so fern es aus reiner Vernunft abgeleitet wird, noch möglich war, es wiederum auf Glückseligkeitslehre zurück zu führen“ (377).² Die Besonderheit dieser Lehre besteht darin, dass auf eine „moralische Glückseligkeit“ verwiesen wird, „die nicht auf empirischen Ursachen“ (ebd.) beruht. Kant möchte nicht in Abrede stellen, dass unser moralisches Handeln mit einem „Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit“ einhergeht (im Gemeinspruch spricht er für den negativen Fall von „reiner moralischer Unzufriedenheit“; VIII 283 Anm.). Aber er bezweifelt im Gegensatz zum „Eudämonisten“, dass „diese Wonne, seine Glückseligkeit, … der eigentliche Bewegungsgrund [ist], warum er tugendhaft handelt.“ (ebd.) Wir können hoffen, uns der Glückseligkeit würdig zu erweisen, wenn wir um der Pflicht willen handeln. Aber die Glückseligkeit darf niemals das ausschlaggebende Motiv unseres Handelns sein. Ohne weitere Erläuterungen gesteht Kant zu, dass „in dieser Vernünftelei auch ein Widerspruch“ (TL,VI 378) enthalten ist. Dieser„Widerspruch“ erinnert an die Antinomie
2 In einer Vorarbeit zur Vorrede führt Kant folgenden Gedanken aus: „Man muß sich wundern wie es noch möglich ist die moralische Lust die der Mensch als Bewußtsein seiner Pflicht (dem Gesetz) gemäß gehandelt zu haben zu einer besondern Art Glückseligkeit zu machen … nachdem ich schon anderwerts gezeigt habe wie der Unterschied der pathologischen Triebfeder von der moralischen davon ganz sicher erkannt werden kann“ (Vorarbeiten, XXIII 373). Kant lässt offen, wo er dies gezeigt hat.
2 Über den Begriff einer „Metaphysik der Tugend“ (Vorrede)
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der praktischen Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft. Kant konstruiert ihn 1797 als einen Widerspruch zwischen dem „moralischen Grunde“, unsere Pflicht auch unangesehen ihrer Folgen für die Glückseligkeit zu befolgen, und dem „pathologischen Prinzip“, die eigene Pflicht nur dann anzuerkennen, wenn wir „auf Glückseligkeit rechnen“ (ebd.) können. Näher äußert er sich zu diesem „Widerspruch“ nicht. Im sechsten Absatz verweist Kant auf seine andernorts eingeführte Unterscheidung zwischen der pathologischen und der moralischen Lust. Sie soll erklären, dass die Befolgung unserer Pflichten mit Lust verknüpft sein kann, wobei die Lust zwar nicht die Ursache, wohl aber die Folge unseres moralischen Handelns ist. Wird dieser Unterschied nicht beachtet, hat dies nach Kant die „Euthanasie (den sanften Tod) aller Moral“ (378) zur Folge. Während Kants Ausführungen in seiner Vorarbeiten zur Vorrede noch an seine Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunft denken lassen (vgl. KpV,V 71 ff.; Vorarbeiten, XXIII 373 f.), verweist er in der publizierten Fassung explizit auf die Berlinische Monatsschrift als den Publikationsort, an dem er sich näher zur Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten von Lust geäußert hat. Er wird dabei an seine Auseinandersetzung mit Christian Garve im ersten Abschnitt seines Aufsatzes Über den Gemeinspruch (1793) gedacht haben, in dem er bereits die Todes-Metapher im Zusammenhang mit seiner Motivationslehre verwendet hat: „Hingegen die Begünstigung des Einflusses solcher [sic. uneigennütziger, HK] Motive sich zur Maxime zu machen, unter dem Vorwande, daß die menschliche Natur eine solche Reinigkeit nicht verstatte (welches er doch auch nicht mit Gewißheit behaupten kann): ist der Tod der Moralität“ (Gemeinspruch,VIII 285). Auch wenn die inhaltlichen Ausführungen im Gemeinspruch sehr gut zur Thematik des sechsten Absatzes passen, ist doch darauf hinzuweisen, dass Kant in diesem Aufsatz nicht explizit von „pathologischer“ und „moralischer“ Lust spricht. Im siebten und letzten Absatz führt Kant die „Ursache dieser Irrungen“ (378) an. Seiner Ansicht nach will der „kategorische Imperativ, aus dem diese Gesetze [der Moral, HK] diktatorisch hervorgehen …, die bloß an physiologische Erklärungen gewöhnt sind, nicht in den Kopf; unerachtet sie sich doch durch ihn unwiderstehlich gedrungen fühlen“ (ebd.). Auf der einen Seite geht Kant davon aus, dass alle Menschen durch die moralischen Gesetze „unwiderstehlich gedrungen“ werden. Auf der anderen Seite sehen sich viele Menschen aber außerstande, über den „Kreis“ physiologischer Erklärungen hinauszugehen. Genau dies ist aber erforderlich, um die „Idee“ der „Freiheit der Willkür“, die den moralischen Gesetzen zugrunde liegt, „erklären zu können.“ (ebd.) Kant führt dieses subjektive Unvermögen vieler Menschen auf die „stolzen Ansprüche der spekulativen“ bzw. „theoretischen Vernunft“ (ebd.) zurück, die „den moralischen Freiheitsbegriff jetzt und vielleicht noch lange, obzwar am Ende doch vergeblich, anzufechten und wo möglich verdächtig zu machen“ (ebd.).
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Mit dem Anspruch von Philosophen, vermittels der theoretischen Vernunft die Unmöglichkeit der Idee der Freiheit zu beweisen, hatte sich Kant beispielsweise im Rahmen seiner Rezension von Schulz‘ Anleitung zur Sittenlehre (1783) kritisch auseinander gesetzt (vgl. Klemme 2015). Seiner Ansicht nach scheitert nicht nur Schulz‘ Versuch, die Idee der Freiheit mit den Mitteln der spekulativen Philosophie zu widerlegen. Es kann seiner Ansicht nach sogar bewiesen werden, dass die Vernunft in ihrem theoretischen (oder spekulativen) Gebrauch unmöglich ihr Beweisziel erreichen kann. Die Idee der Freiheit ist ein möglicher Begriff, die eine praktische Bedeutung hat, sobald sie zur Bestimmung unserer freien Willkür in Anspruch genommen wird.
2.4 Zusammenfassung und Ausblick In der „Vorrede“ versucht Kant den Begriff und die Notwendigkeit einer Abhandlung über die metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre zu erklären und zu rechtfertigen. Dass die Tugendlehre (und damit die Tugend) ihre „ersten Gründe“ in der Metaphysik findet, scheint nur ihrem ersten Anschein nach ihrem Anspruch entgegenzustehen, eine Abhandlung über die Art und Weise zu sein, in der der Pflichtbegriff zur„Triebfeder“ (376) menschlichen Handelns werden kann. Denn das Gegenteil ist der Fall. Weil der Pflichtbegriff auf Begriffen der reinen Vernunft beruht, findet auch die Tugendlehre ihre ersten Gründe in einer Metaphysik, die streng zwischen reinen und empirischen Begriffen unterscheidet. Es ist diese Auffassung von Metaphysik (sie ist eine Art von Philosophie, die ihre Erkenntnisse aus reinen Begriffen gewinnt), die Kant von Wolff (und dessen Anhängern) unterscheidet. Selbstverständlich beruht auch nach Wolff die Ethik auf Metaphysik. Aber es ist eben eine Metaphysik, die auf der empirischen Erforschung von Mensch und Natur beruht. So stellt (beispielsweise) Meier heraus, dass sich der „philosophische Moralist“ als ein „Ausleger der Natur verhalten [muss], welcher die Naturgesetze, und die damit verknüpften Pflichten der philosophischen Sittenlehre, als so viele Züge des Characters der menschlichen Natur betrachtet, die in ihr verborgen liegen, und die er aus ihr selbst zu entdecken sucht. Wie unvernünftig würde es demnach nicht seyn, wenn er solche Pflichten vorschreiben wollte, bey deren Beobachtungen man die Menschheit ausziehen müßte!“ (1753, § 9). Selbstverständlich fordert auch Kant die Menschen nicht auf, ihre Menschheit auszuziehen. Aber er versteht eben etwas ganz anderes unter diesem Begriff als Meier. Dass die Tugendlehre metaphysische Anfangsgründe hat, darf nicht so verstanden werden, als ob sie einzig und allein in Gestalt von reinen Vernunftbegriffen abgehandelt werden könnte. Selbstverständlich spielen für sie auch (und gerade) Gefühle eine große Rolle. Moralisch können diese Gefühle jedoch nur deshalb sein,
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weil sie aus der Perspektive der reinen Vernunft als solche erkannt und bestimmt worden sind. Dass die Sittenlehre auf moralische Gefühle nicht verzichten kann, die ihm Rahmen einer entsprechenden Ästhetik abzuhandeln sind, ist ein Gedanke, der bereits von Meier geäußert wurde. In seinen Anfangsgründe(n) aller schönen Wissenschaften (1748) führt Meier (der hier erneut unter dem Einfluss seines Lehrers Baumgarten steht) folgendes aus: „Endlich will ich noch sechsten anmerken, daß auch die Aesthetick einen ungemeinen Nutzen der philosophischen Sittenlehre hat. Es ist eine von den vornehmsten Pflichten, die wir gegen unsere Seele zu beobachten haben, daß wir alle unsere sinlichen Kräfte der Seele ausbessern müssen. Nun ist es aber eine elende Moral, welche uns zwar sagt, was wir thun sollen, nicht aber wie wir dasselbe bewerkstelligen können. Wenn also die philosophische Sittenlehre vollständig seyn sol, so muß man wissen, wie man den sinlichen Theil der Seele verbessern soll, dieses aber lehrt uns die Aesthetick“ (1748, § 18). Kant folgt dieser Auffassung vor allem im Abschnitt über die „Ästhetischen Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt in der „Einleitung zur Tugendlehre“ (399–403), nicht ohne auf die Bedeutung der von Meier nicht erkannten reinen Vernunftbegriffe als Voraussetzung für diese Vorbegriffe hinzuweisen. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant dies eigens hervorgehoben und zwischen „reiner Moral“ und „eigentlicher Tugendlehre“ unterschieden: Die „reine Moral“ enthält „bloß die notwendigen sittlichen Gesetze eines freien Willens überhaupt“, während die „eigentliche Tugendlehre … diese Gesetze unter den Hindernissen der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, denen die Menschen mehr oder weniger unterworfen sind, erwägt“ (KrV, A 54 f./B 79). Dass diese „Hindernisse“ Thema der Tugendlehre sind, kann jedoch nicht wirklich überraschen. Schließlich vermag der kategorische Imperativ nur deshalb eine Nötigung durch die reine Vernunft auszudrücken, weil der Mensch auch über Sinnlichkeit verfügt. In der „Einleitung zur Tugendlehre“ wird Kant diesen Sachverhalt zum Anlass nehmen, an einer Stelle zwischen Tugendlehre und Sittenlehre zu differenzieren: „Für endliche heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden können), gibt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben“ enthält (383).³
3 In einer Vorarbeit zur Einleitung in die Tugendlehre setzt Kant einen etwas anderen Schwerpunkt: „Tugend ist die moralische Stärke (fortitudo moralis) in Befolgung seiner Pflicht. Sie setzt objektiv Nötigung durchs Gesetz d. i. Pflicht voraus und ist darin von der Heiligkeit unterschieden. Sie ist aber auch sich dieser nötigenden Ursache als in dem Willen des Subjekts selber enthalten bewusst und einer Autokratie (nicht bloß Autonomie) des moralischen Gesetzes gegen alle entgegenstehenden Antriebe der Sinnlichkeit (Neigungen)“ (Vorarbeiten, XXIII 396).
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Tugend bedeutet nach Kant „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (405). Tugend muss erworben werden (und kann deshalb nicht auf eine – eingeübte – Fertigkeit reduziert werden; vgl. 383 f.), und zwar durch dasjenige Vermögen, welches zugleich der Grund unserer moralischen Verbindlichkeit und unserer Pflichten ist: die eigene gesetzgebende Vernunft. Unter Rückgriff auf die politische Gewaltenteilung versteht Kant die Tugend als eine sich selbst konstituierende Gewalt. Die Tugend ist „eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft …, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert“ (405). So wie im Bereich der „reinen Rechtslehre“ das Gesetz nur durch die dazu durch den gemeinsamen Willen des Volkes konstituierte und insofern befugte äußere Zwangsgewalt politisch effektiv werden kann, bedarf es im Bereich der„Tugendlehre“ im Ausgang von ihren „ersten Gründen“ einer Anstrengung des Menschen, seinen Willen für die Anfechtungen durch seine Neigungen zu stärken. Mit seiner Funktionsbestimmung der Tugend als einer Fertigkeit („Stärke“) des Willens, die Pflichten zu erfüllen, bewegt sich Kant, wie wir an den Beispielen von Wolff, Gottsched und Meier gesehen haben, im Fahrwasser der zeitgenössischen deutschen Philosophie. Der tugendhafte Mensch übt Herrschaft über sich selbst aus und ist „frei, gesund, reich, ein König u.s.w. und kann weder durch Zufall noch Schicksal einbüßen: weil er sich selbst besitzt und der Tugendhafte seine Tugend nicht verlieren kann“ (ebd.). Ähnlich hatte Meier über die Aufgabe der „philosophischen Sittenlehre“ geurteilt, dass sie den Menschen dahin „bringen [muss], daß er von selbst einen vernünftigen freyen Entschluß fasse, ihren Forderungen aus einer innern Neigung zur Tugend ein Genügen leisten. … Die wahre Tugend muß aus Einsichten, aus einer Neigung, und aus einem freyen Entschlusse entstehen“ (1753, § 11). Wird ein Mensch zur „Tugend gezwungen“, bekommt er eine „sclavische Gesinnung, indem er aus knechtischer Furcht zwar das äusserliche der Tugend an sich nimmt, aber eine beständige Abneigung von derselben in seinem Herzen ernährt“ (1753, § 11). Wie bei Kant leistet die Sittenlehre einen Beitrag zur Selbstherrschaft des Menschen, zur Aufklärung (die nach Meier und Kant niemals schlecht sein kann; vgl. Meier 1753, § 24 u. Kant XXV, 1048). Ein wichtiger Unterschied zu Meier und auch zu Gottsched besteht natürlich darin, dass Kant die Tugend nicht durch ihre Funktion für die eigene Glückseligkeit bestimmt (vgl. dagegen Meier 1753, § 1–2; Gottsched 1762, § 437, Eberhard 1781, 1 f.). Der Zweck der Tugend ist die Pflichterfüllung – und nur mittelbar die Zufriedenheit und Glückseligkeit. War Gottsched davon ausgegangen, dass alle Menschen, die den Nutzen der Tugend erkennen, ihr gegenüber „Lust und Liebe“ (Gottsched 1762, § 439) empfinden, ist es bei Kant die reine Vernunft, die uns zur Tugend als Mittel der Pflichterfüllung bewegt. Größer könnte der Gegensatz zwischen diesen beiden Versionen der Tugendlehre nicht sein.
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Dass die Kantische Tugendlehre dennoch weit entfernt davon ist, eine klare Zielstellung zu verfolgen, findet ihren Ausdruck auch darin, dass sie Kant (vgl. auch die „Einleitung zur Tugendlehre“; 379) mit dem Begriff der Ethik gleichsetzt. In der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ im ersten Teil der Metaphysik der Sitten wendet er sich dem Begriff der juridischen und der ethischen Gesetzgebung zu. Jede Gesetzgebung umfasst „ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht“, und zweitens „eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft“ (RL, VI 218). Die ethische Gesetzgebung macht „eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder“ (RL, VI 219). Fällt die Tugendlehre nun mit der Ethik zusammen, dann handelt sie gleichermaßen von der Gesetzgebung und von der Triebfeder. Die Tugend im Sinne einer selbsterworbenen Fertigkeit, seine Pflicht zu erfüllen, ist dann nur ein (wenn auch wichtiger) Aspekt der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre. So gesehen hebt Kant die (beispielsweise) von Gottsched intendierte Etablierung der Tugendlehre als einer eigenständigen Lehre gerade wieder auf. Die Theorie und Praxis der Pflicht bezeichnen im Rahmen der Metaphysik der Sitten zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wie genau sich diese beiden Seiten genau aufeinander beziehen, ist in der Tugendlehre allerdings nicht einfach zu bestimmen. Aus den vorherigen Ausführungen mag auch verständlich werden, warum die heute geläufigen Begriffe der Tugendethik („virtue ethics“) und der Pflichtenethik (deontologische Ethik) nach kantischen Begriffen keinen Sinn ergeben. Hierfür können verschiedene Gründe angeführt werden: Erstens gibt es keine Differenz zwischen Tugendlehre und Ethik. Zweitens beruht der Begriff der Tugend auf dem der Pflicht („Tugend“ ist ein Pflichtbegriff ), insofern ersterer die Stärke bezeichnet, seine Pflicht zu erfüllen. Und drittens ist der Grund aller moralischen Verbindlichkeit die reine Vernunft bzw. der kategorische Imperativ. Es gibt keine Tugend, die auf Gewohnheit⁴ oder Tradition beruhen würde. Der Grund der Verbindlichkeit ist immer der freie Entschluss des Menschen, gut sein zu wollen.
4 Dies hebt Kant im Rahmen seiner Kritik an Leonhard Cochius’ Untersuchung über die Neigungen (1769), als Monographie: Prag 1788) ausdrücklich hervor (vgl. TL 383 f. u. 389 und Cochius 1788, § 15, S. 92–93 u. § 16, S. 99). Von seiner Kritik sind Autoren wie Wolff, Gottsched oder Meier allerdings nicht betroffen.
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Literatur Baumgarten, A. G. 1763: Ethica Philosophica, 3. Auflage (1. Auflage 1740), Halle (Abdruck in: Kant, Gesammelte Schriften, Band 27, 871–1028). Cochius, L. 1788: Untersuchung über die Neigungen, Prag. Eberhard, J. A. 1781: Sittenlehre der Vernunft. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen, Berlin (Nachdruck: Frankfurt a. M. 1971). Gottsched, J. Chr. 1762: Erste Gründe der gesammten Weitweisheit, Praktischer Theil. Darinn die allgemeine Sittenlehre, das Recht der Natur, die Tugend- und Staatslehre enthalten ist. Nach der siebenten Auflage (1. Auflage 1734, 2. Auflage 1736), Leipzig (Nachdruck der 7. vermehrten u. verbesserten Auflage 1762: Hildesheim, Zürich, New York). Klemme, H. F. 2011: Johann Georg Sulzers „vermischte Sittenlehre“. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Problemstellung von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: F. Grunert u. G. Stiening (Hrsg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärer zwischen Christian Wolff und David Hume, Berlin, 309–322. Klemme, H. F. 2015: „‚als ob er frei wäre‘. Kants Rezension von Johann Heinrich Schulz’ Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen“, in: C. Jáuregui u. a. (Hrsg.), Crítica y Metafísica. Homenaje a Mario Caimi, Hildesheim, Zürich, New York, 200–211. Meier, G. F. 1748: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle. Meier, G. F. 1753–1761: Philosophische Sittenlehre, 5 Bände, Halle (Nachdruck: Hildesheim u. a., 2007). Meier, G. F. 1769: Auszug aus dem Rechte der Natur, Halle. Wolff, Chr. 1733: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, (1. Auflage 1720), 4. Auflage Frankfurt and Leipzig (Nachdruck: Hildesheim, Zürich, New York 1996). Zöller, G. 2013: Idee und Notwendigkeit einer Metaphysik der Sitten (MS 6:205–209, 214–218 und TL 6:375–378), in: A. Trampota, O. Sensen u. J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin, Boston, 11–24.
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3 Tugendlehre als Lehre von Zwecken (Einleitung zur Tugendlehre, I–VI) 3.1 Einleitung Was ist die Grundlage von Kants Ethik? Was ist das letzte Fundament, von dem aus alle Pflichten und Ansprüche gerechtfertigt werden? In der Kant-Literatur gibt es Ansätze, die behaupten, dass der Kantischen Ethik ein objektiver Zweck zugrunde liege, der selbst als Begründung für Kants kategorischen Imperativ: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, IV 421), diene. Um diese These zu stützen, beruft man sich oft auf die „Einleitung“ der Tugendlehre. Hier sagt Kant, dass ohne einen objektiven Zweck, d. h. ein Zweck, der nicht aus Neigungen entstammt, ein kategorischer Imperativ „unmöglich“ (385) wäre. Die systematische Bedeutung der „Einleitung“ ist somit die Frage, ob Kant hier eine Begründung seiner Ethik durch einen objektiven Zweck vornimmt. Um diese Frage zu beantworten, wende ich mich zunächst der historischen Bedeutung der Textstelle zu. Kant geht es am Anfang der „Einleitung“ darum, den Begriff einer Tugendlehre zu erläutern. Im Abschnitt I. (379–382) verbindet Kant eine Tugendlehre mit einem Zweck, der zugleich Pflicht ist. Im zweiten Abschnitt (382–384) erläutert er diesen Zweckbegriff und gibt im dritten Abschnitt (384 f.) einen Grund dafür an, warum es einen solchen Zweck geben muss. Abschnitt IV. (385 f.) benennt die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, zum ersten Mal, und der fünfte Abschnitt (386–388) erläutert diese. Im sechsten Abschnitt der „Einleitung“ (388 f.) spezifiziert Kant dann genau, welcher Aspekt von unserem Verhalten durch diese Zwecke reglementiert wird. Ich werde dafür argumentieren, dass es Kant mit der Einführung von objektiven Zwecken in der „Einleitung“ nicht um eine Begründung seiner Ethik geht. Die objektiven Zwecke, die er einführt, sind die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer, und er sagt explizit, dass diese aus dem Moralgesetz folgen (vg. 382 u. 385). Statt dessen geht es Kant darum, das Besondere einer Tugendlehre im Gegensatz zu einer Rechtslehre deutlich zu machen.
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3.2 Das Projekt einer Tugendlehre Kant übernimmt den Namen „Tugendlehre“ vom aktuellen Sprachgebrauch seiner Zeit. Kant beschreibt, dass in den „alten Zeiten“ der Name „Ethik“ die gesamte Sittenlehre umfasste, wohingegen in „der Folge“ die Sittenlehre zweigeteilt wurde. Demnach bezeichnete „Ethik“ nur noch den Teil der Sittenlehre, der nicht unter äußeren Gesetzen steht. Diesen zweiten Teil hat man „im Deutschen den Namen Tugendlehre angemessen gefunden“, und Kant übernimmt das: „wobei es denn auch sein Bewenden haben mag“ (379). Im ersten Abschnitt der„Einleitung“ leitet Kant dann den Namen „Tugendlehre“ auch systematisch vom Gegenstand der Ethik her ab. In der Ethik, „welche man auch die Lehre von den Pflichten benannte“ (ebd.), geht es nach Kant hauptsächlich um Pflicht und Verbindlichkeit. Das heißt, die Ethik handelt davon, wozu man verpflichtet ist oder was man tun soll, unabhängig von dem, was man tun will. Das ist das Wesen der Moral. Kant spezifiziert die Vor- und Grundbegriffe der Ethik nicht als Glück, Tugend, Wert, Gründe oder Zweck, sondern als Pflicht, Freiheit und kategorischer Imperativ (vgl. RL,VI 221 f.). Wenn man also fragt, wann etwas ethisch relevant ist – im Gegensatz zu Außermoralischem, was nicht unter die ethische Beurteilung fällt – so würde Kant die Pflicht als den zentralen Begriff der Ethik angeben. Die Wichtigkeit der Pflicht und Verbindlichkeit leitet Kant wiederum aus dem gängigen Sprachgebrauch seiner Zeit ab: „Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten“ (GMS, IV 389). Das Problem, wie eine solche Verbindlichkeit möglich ist, beschäftigt Kant seit seiner frühesten Schrift über Moralphilosophie. Schon 1764 bemerkt Kant: „wie wenig selbst der erste Begriff der Verbindlichkeit noch bekannt ist“ (Preisschrift, II 298). Seine eigene Antwort auf die Frage ist der kategorische Imperativ: „Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“ (RL, VI 225; vgl. GMS, IV 421). Das heißt, der kategorische Imperativ ist zunächst ein meta-ethisches Prinzip, das möglich macht, dass man überhaupt zu etwas verpflichtet sein kann, unabhängig davon, was man will (vgl. Höffe 1979a, 9 f.). Mit der Pflicht oder Verpflichtung – so geht Kants Herleitung weiter – ist nun wesentlich ein Zwang oder eine Nötigung verbunden: „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz“ (379). Der Mensch ist nicht – anders als vollständig vernünftige Wesen oder Tiere –
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notwendig in seinem Handeln vorbestimmt. Vollständig vernünftige oder „heilige“ (ebd.) Wesen haben keine Neigungen, die gegen das Moralgesetz sprechen können, so dass ihre „Maximen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen“ (GMS, IV 439; vgl. IV 414). Tiere hingegen, sofern sie vernunftlos sind, stehen nicht unter dem Moralgesetz, sondern sind notwendig durch ihre Neigungen bestimmt: „Tiere haben keine freie Willkür, sondern diese wird durch ihre sinnliche Antriebe notwendig bestimmt“ (Moral Mrongovius II, XXIX 611). Der menschliche Wille ist gleichzeitig durch das Moralgesetz und Neigungen affiziert: „der Wille ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori … und seiner Triebfeder a posteriori … gleichsam auf einem Scheidewege“ (GMS, IV 400; vgl. TL,VI 380 Anm.). Die Nötigung, die bei einer Verpflichtung stattfindet, ist also nicht eine Handlung, die mit Notwendigkeit vorherbestimmt ist: „Notwendigkeit und Nötigung sind unterschieden“ (Moral Mrongovius II, XXIX 611). Der Mensch, dessen Neigungen ihn gegen das Moralgesetz motivieren, sieht sich durch das Gesetz seiner eigenen Vernunft genötigt und unter Zwang gesetzt: „Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Anspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang“; TL, VI 379). Da der Mensch immer Neigungen ausgesetzt ist, die gegen die Forderung der Moral sprechen, so wird er nur „ungern (mit Widerstand der Neigungen)“ moralisch handeln, „als worin der Zwang eigentlich besteht“ (ebd.; zu Kants Begriff der Verpflichtung siehe Sensen 2015.) Kant unterscheidet zwei Arten von Zwang: „dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein“ (379). Wenn man den Menschen als frei denken will, d. h. als nicht durch äußeren Zwang wie z. B. die Gesetze der Staatsgewalt zum Handeln notwendig bestimmt, „so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten“ (380). Dieser Selbstzwang führt Kant zu dem Tugendbegriff und erklärt, warum es sich bei der Ethik nicht nur im gängigen Sprachgebrauch seiner Zeit, sondern auch aus systematischen Gründen um eine Tugendlehre handelt.
3.3 Tugend Um den Ansprüchen der Neigungen, die gegen die Pflicht auftreten, zu widerstehen, braucht es Stärke oder „Autokratie“ (383), d. h. das Vermögen, über die dem Gesetz widerstreitenden Neigungen Meister zu werden. Um dies tun zu können, ist aber „Tapferkeit (fortitudo)“ erforderlich, d. h. „das Vermögen und der überlegte Vorsatz einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand“ (380) zu leisten. In „Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns“ ist diese Tapferkeit „Tugend (virtus, fortitudo moralis)“ (ebd.). Somit führt der Selbstzwang, der durch die
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menschliche Situation nötig ist, zum Begriff der Tugend und der Inhalt der Ethik zu einer Tugendlehre. Tugend ist für Kant moralische Tapferkeit. Es scheint also, als verwende Kant einen lateinischen Tugendbegriff, demzufolge es sich bei der Tugend um eine Tapferkeit und Stärke handelt, und nicht um einen Aristotelischen oder Griechischen Tugendbegriff. Den Begriff aus der griechischen Antike kann man so verstehen, dass es sich dabei um einen exzellenten Zustand oder eine hervorragende Fertigkeit handelt. Diese kann dann auf die Exzellenz der Geistesvermögen oder des Charakters angewandt werden. Die gegenwärtige Tugendethik arbeitet dabei vor allem mit dem ausgezeichneten Zustand eines Charakters. Dieser wird jenen Autoren zufolge durch einen Habitus oder einen wiederholten Vollzug von Handlungen erworben (vgl. Annas 2006). Wenn man z. B. wiederholt die Wahrheit sagt, so entwickelt man mit der Zeit eine positive Neigung dazu. Diesen Tugendbegriff lehnt Kant ausdrücklich ab. So sagt er: „Tugend ist aber auch nicht bloß eine Fertigkeit und … für eine lange, durch Übung erworbene Gewohnheit moralisch-guter Handlung zu erklären“ (383). Der Grund für Kants Ablehnung ist, dass ein solcher Habitus nicht auf alle Fälle angewandt werden könnte und unflexibel sei. Statt dessen beruht die Tugend auf überlegten, festen und mehr und mehr verfeinerten Grundsätzen. In der Kant-Literatur wird diskutiert, ob man Kants Tugendbegriff anstatt mit dem Aristotelischen Tugendbegriff mit dessen Begriff der Beherrschtheit gleichsetzen könnte (vgl. Engstrom 2002, 290; Baxley 2010, 79–84).
3.4 Die Wichtigkeit von Zwecken In einem letzten Schritt leitet Kant die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, von dem Vorherigen ab. Die Ethik besteht in einem Selbstzwang, dass man auch gegen seine Neigungen das moralisch Gebotene tut. Kant sagt nun sogar, die Annahme eines Selbstzwangs als Merkmals der Ethik „ist bloß die Folge daraus, daß sie eine Lehre der Zwecke ist, weil dazu (sie zu haben) ein Zwang sich selbst widerspricht“ (381). Kant bestimmt den Grund für diesen Zusammenhang wie folgt: „Es gibt nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die durch ihren Begriff schon dazu geeignet wäre, von der Willkür Anderer selbst physische nicht gezwungen werden zu können, als nur die zu einem Zwecke“ (ebd.). Kants Grund scheint plausibel genug: „Ein Anderer kann mich zwar zwingen etwas zu tun … aber nicht dazu, dass ich es mir zum Zweck mache“ (ebd.). Somit führt das Wesen des Selbstzwangs zu einem Zweck, „der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden könne: dieses würde der Begriff von einem Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist“ (ebd.). Wenn die Ethik in einem Selbstzwang gegen seine eigenen Neigungen be-
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steht, und man nur von anderen nicht dazu gezwungen werden kann, einen Zweck anzunehmen, so hat die Ethik wesentlich mit Zwecken zu tun, die zu haben Pflicht ist. Allerdings sollte man Kants Aussagen hier – entgegen seiner deutlichen Formulierung – nicht als exklusiv, sondern als paradigmatisch verstehen. Zwecke sind ein zentrales Beispiel für etwas, wozu man nicht von anderen gezwungen werden kann. Denn Kant selbst nennt sogleich eine andere Gesinnung, zu der man nicht gezwungen werden kann, und bei der es sich nicht um einen Zweck im so spezifizierten Sinn handelt. Kant definiert einen Zweck wie folgt: „Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird“ (ebd.). Ethischer Zwang erschöpft sich aber nicht in Zwecken. So beschreibt Kant „ethische Pflichten …, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck … als bloß das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen“ (383). Kant nennt die Zwecke, die zugleich Pflicht sind, „Tugendpflichten“ und die Gesinnung, das Richtige zu tun, nur weil es geboten ist, die „Tugendgesinnung“ (ebd.): „Eben so korrespondiert aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff, aber nicht alle ethischen Pflichten sind darum Tugendpflichten“ (ebd.). Wenn auch die Tugendgesinnung ethisch geboten ist, sie aber nicht in einem Zweck besteht, so gibt es auch andere Dinge, zu denen man von anderen nicht gezwungen werden kann und die nicht in einem Zweck bestehen, z. B. aus Pflicht zu handeln. Kants Aussage, dass das Merkmal des Selbstzwangs aus dem Merkmal der Zwecklehre folgt, scheint deswegen eher in einem paradigmatischen Sinne zu verstehen zu sein. Zwecke sind zur Illustration des Selbstzwangs besonders geeignet. In dem Abschnitt I. gibt Kant zudem ein Argument, dass es objektive Zwecke geben muss: „Denn da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß“ (380 f.). Wie aber genau ist diese Aussage zu verstehen? Handelt es sich hierbei um (i) eine metaphysische Aussage, dass es ohne diese Zwecke keinen kategorischen Imperativ geben würde (vgl. 385); (ii) handelt es sich um eine epistemische Aussage, dass man ohne objektive Zwecke nicht erkennen könne, was man tun soll, oder (iii) um eine psychologisch-motivationale These, nach der man den Körper nicht in einer moralische Weise bewegen könne, falls es keine objektiven Zwecke gäbe? Mit dieser Frage werde ich im folgenden Abschnitt beginnen. Was bisher feststeht, ist, dass Kant die Ethik als Selbstzwang versteht. Das erklärt zum einen, warum er den Begriff der Tugendlehre auch systematisch für richtig hält, und zum
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anderen, dass der Begriff eines objektiven Zwecks eine wichtige Rolle spielt: „Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird, an die Hand“ (380). Aber warum braucht es einen Zweck?
3.5 Objektive Zwecke und Moralbegründung Was genau ist die Rolle, die objektive Zwecke in Kants Tugendlehre einnehmen? In der Kant-Literatur werden die Stellen der „Einleitung“ oft dazu herangezogen, um die Interpretation zu stützen, dass es hier um die Begründung des kategorischen Imperativs und damit um die letzte Begründung von Kants Ethik gehe. So argumentiert z. B. Christine Korsgaard: „If there is a categorical imperative, then there must be some necessary end or ends, for if there is a categorical imperative there are necessary actions, and every action contains an end“ (Korsgaard 1996, 109 f.). Das Argument wird vor allem im Zusammenhang mit Kants Menschheitsformel des kategorischen Imperativs herangezogen (vgl. auch Allison 2011, 205–7; Stern 2015, 97): „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS, IV 429). Die These ist, dass es sich bei dem objektiven Zweck um die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen handelt, und das die Selbstzweckhaftlichkeit die Begründung des kategorischen Imperativs darstelle: „The argument for the Formula of Humanity as an End in Itself has two parts: Kant first argues that there must be an unconditional end; second, that the end must be humanity“ (Korsgaard 1996, 109). Das Argument lässt sich in drei Schritte zusammenfassen: (1) Jede Handlung hat einen Zweck. (2) Eine moralische Handlung braucht einen moralischen Zweck. (3) Dieser Zweck ist die Menschheit als Zweck an sich selbst. Bestätigt die „Einleitung“ diese Interpretation? Die erste Prämisse ist klar im Text belegt. So sagt Kant: „Eine jede Handlung hat also ihren Zweck“ (385). Für die zweite Prämisse kann man auf die oben erwähnte Stelle verweisen, dass „die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren“ kann, „als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck“ (381). Allerdings scheint diese These paradox (vgl. Reath 2013). Zum einen redet Kant in der Grundlegung immer so, als bräuchte es für moralische Handlungen gerade keinen Zweck, sondern nur Achtung fürs Gesetz (vgl. GMS, IV 393–402). Wenn jemand z. B. versucht ist, ein falsches Versprechen abzugeben, „noch aber hat er so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es
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nicht unerlaubt“ (GMS, IV 422), so kann er seine Maxime als falsch erkennen und aus Achtung für das Gesetz ablehnen, ohne dass er auf einen Zweck rekurriert. Zum anderen scheint es sich bei der These, dass die Vernunft nur dann Einfluss hat, wenn sie einen moralischen Zweck entgegensetzt, nicht um eine Begründung der Existenz oder Gültigkeit des kategorischen Imperativs zu handeln, sondern nur um einen Aspekt seiner psychologisch-motivierenden Kraft oder Wirksamkeit. Wenn dem so ist, dann kann dieses Argument der Einleitung nicht für eine Begründung des kategorischen Imperativs herangezogen werden. Das Hauptproblem aber, das ich für diese Interpretation sehe, ist, dass Kant in der „Einleitung“ nicht die dritte Prämisse vertritt, sondern genau für das Gegenteil argumentiert. Im Abschnitt II. der „Einleitung“, in der es um die „Erörterung des Begriffs von einem Zweck, der zugleich Pflicht ist“ (382) geht, sagt Kant ausdrücklich, dass „in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten“ wird, „die wir uns setzen sollen“ und „nach moralischen Grundsätzen begründen müssen“ (ebd.). Es geht Kant also nicht um einen Zweck, der die Moral begründet, sondern um objektive Zwecke, die aus der Moral folgen (vgl. auch Trampota 2013). Kant beschreibt einen Kontrast zwischen dem Recht und der Ethik. In der Rechtslehre geht man von den Zwecken aus, die sich Menschen tatsächlich setzen: „Es wird jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle“ (382). Die Rechtslehre gibt dann nur die „formalen Bedingung der äußeren Freiheit“ (380) der Subjekte an. Es ist nur „a priori bestimmt: daß nämlich die Freiheit des Handelnden mit Jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.“ (382, vgl. RL, VI 230) In der Rechtslehre führt der Zweck zur Pflicht. „Die Ethik aber nimmt einen entgegengesetzten Weg“ (382). Die Ethik kann nicht von den Zwecken ausgehen, die Menschen sich tatsächlich setzen, „denn das wären empirische Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff abgeben, als welcher (das kategorische Sollen) in der reinen Vernunft allein seine Wurzel hat“ (ebd.). Die Neigungen, auf Grund derer sich Menschen Zwecke setzen und Maximen wählen, sind relativ und kontingent und können keine universelle und absolute Moral begründen (vgl. GMS, IV 440–5; Sensen 2015). „Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen“ (382). Kant ist hier nicht der Ansicht, dass es noch etwas Drittes geben könnte, z. B. einen Zweck, der nicht auf Neigung gegründet ist, aber dem Moralgesetz vorhergeht. Das sollte Zweifel daran aufkommen lassen, dass Kant in der Grundlegung einen solchen Zweck in der Form der Menschheit als Zweck an sich vertritt. Statt dessen sagt Kant auch dort, dass die Menschheitsformel ebenfalls ein a priorisches Gebot ist. Er betont, dass „[d]ieses Prinzip der Menschheit … als Zwecks an sich selbst … wegen seiner Allgemeinheit … aus reiner Vernunft entspringen muß“ (GMS,
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IV 430 f.). Der Gedankengang ist derselbe, den Kant immer wieder in seiner kritischen Philosophie betont. Ein Prinzip, das notwendig und streng allgemein gelten soll, kann nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden, da die Erfahrung nicht alle Fälle an die Hand geben kann: „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori“ (KrV, B 4). Auch in der Moral denken wir, dass es absolute und notwendige Gebote gibt: „Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch … gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte“ (GMS, IV 389). Dementsprechend entstammen auch moralische Gebote a priori aus der Vernunft: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen“ (KpV,V 31). So ein a priorisches Prinzip ist also etwas, was unserer eigenes Vermögen „aus sich selbst hergibt“ (KrV, B 1), „so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach …, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen …, und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt“ (KrV, A 548/B 576). Das gleiche gilt auch für das Gebot, andere zu achten. Man muss nicht erst empirisch erkennen, ob der andere ein Selbstzweck ist, sondern die eigene Vernunft gebietet, andere zu achten (vgl. 417 f.; RL, VI 239). Kant bestätigt diese Lesart noch einmal im Abschnitt III. der „Einleitung“: „Von dem Grunde sich einen Zweck, der zugleich Pflicht ist, zu denken“ (384). Dort sagt er: „Weil aber dieser Act, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches Prinzip ist, welches … den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet“ (385). Die objektiven Zwecke, um die es Kant geht, sind nicht von den menschlichen Neigungen abgeleitet, noch gehen sie moralischen Gesetzen vorher, „dagegen die moralische Zwecklehre, die von Pflichten handelt, auf a priori in der reinen praktischen Vernunft gegebenen Prinzipien beruht“ (ebd.). Schließlich wird die hier vertretene Lesart auch noch dadurch bestätigt, wenn man darauf schaut, was genau die objektiven Zwecke sind, die zugleich Pflicht sind. Das ist Kants Gegenstand der Abschnitte IV. und V. der „Einleitung“.
3.6 Der Inhalt objektiver Zwecke Dass es in der „Einleitung zur Tugendlehre“ nicht um eine Begründung der Moral geht, sieht man auch daran, welche Zwecke zugleich Pflicht sind. Kant benennt sie in Abschnitt IV. und erläutert sie in Abschnitt V. (vgl. 385–388): „Sie sind: Eigene Vollkommenheit – Fremde Glückseligkeit“ (385). Kant geht es bei den objektiven Zwecken also nicht um die Menschheit als Zweck an selbst, sondern um zwei
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Vorgaben, die er in der Grundlegung als Beispiele drei und vier in der Anwendung des kategorischen Imperativs erläutert (vgl. GMS, IV 422 f. u. 430). Auch dort leitet er die Beispiele vom kategorischen Imperativ ab; sie liegen ihm nicht zu Grunde. Man soll die eigene Vollkommenheit und die Glückseligkeit anderer fördern, weil man das Gegenteil nicht als allgemeines Gesetz wollen könne (vgl. auch TL, VI 393 u. 451; Höffe 1979b, 84–119; Sensen 2014). In den beiden Abschnitten der „Einleitung zur Tugendlehre“ liefert Kant nur eine partielle Herleitung der zwei objektiven Zwecke. Hier geht es Kant vor allem darum zu zeigen, dass nicht die umgekehrten Verhältnisse, die eigene Glückseligkeit und die Vollkommenheit anderer hervorzubringen, geboten sein kann. Kant widmet sich später, im Hauptteil der Tugendlehre, ausführlicher den Pflichten der eigenen Vollkommenheit (vgl. 444–7; s. hierzu auch den Beitrag von Monika Betzler in diesem Band) und fremden Glückseligkeit (vgl. 448–461; s. hierzu auch den Beitrag von Karoline Reinhardt in diesem Band). Auch für die Begründung, warum nicht die eigene Glückseligkeit und die Vollkommenheit anderer geboten sind, beruft sich Kant auf den Pflichtbegriff. Zum einen kann es sich bei der Verfolgung der eigenen Glückseligkeit nicht um Pflicht handeln. Denn das eigene Glück ist etwas, was man durch einen Naturtrieb will: „Was ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht; denn dies ist eine Nötigung zu einem ungern genommenen Zweck“ (386). Zwar kann das eigene Glück „indirekt“ eine Pflicht sein, um große Versuchungen zu Lastern wie Armut und Schmerz zu vermeiden. „Alsdann aber ist es nicht meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine Pflicht ist“ (388). Den gleichen Gedankengang wendet Kant gegen Versuche an, die eigene moralische Glückseligkeit, d. h. die Zufriedenheit mit seinem eigenen sittlichen Verhalten, als Pflicht zu deklarieren. Denn das ist eigentlich die Pflicht zur eigenen moralischen Vollkommenheit, die es zu befördern gilt (vgl. 387 f.) Zum anderen kann auch die Vollkommenheit anderer nicht als Pflicht geboten sein. Denn wenn es um eine Pflicht geht, „so muß sie in demjenigen gesetzt werden, was Wirkung von seiner Tat sein kann“ (386). Daher kann sie auf der einen Seite nur in der Kultur der eigenen Naturanlagen liegen, „in welchem der Verstand … das oberste ist“ (387), auf der anderen aber auch in der „Kultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird“ (387). Beide Stufen sind etwas, das der Handelnde nur selbst verfolgen und für sich selbst verwirklichen kann. Die Vollkommenheit anderer ist nicht gefordert. Es „widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas tun soll, was kein anderer als er selbst tun kann“ (386).
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Als Zwecke, die zugleich Pflicht sind, ergeben sich die eigene Vollkommenheit, und die Glückseligkeit anderer. „Wenn es also auf Glückseligkeit ankommt … so muß es die Glückseligkeit anderer Menschen sein“ (388). Kant schränkt die Pflicht aber sofort in zweierlei Hinsicht ein. Auf der einen Seite nimmt man nur die (moralisch) erlaubten Zwecke eines anderen an, wenn man der Pflicht folgt. Auf der anderen Seite bleibt dem Handelnden auch bei den erlaubten Zwecken, die die anderen wählen, noch ein Spielraum: „Was diese zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen überlassen; nur daß mir auch zusteht manches zu weigern, was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte, wenn sie sonst kein Recht haben es als das Ihrige von mir zu fordern“ (ebd.). Die Abschnitte IV. und V. der „Einleitung“ führen also nur ein, was die Zwecke sind, die zugleich Pflicht sind. An dieser Stelle begründet Kant noch nicht, dass die zwei Zwecke tatsächlich Pflicht sind, sondern er führt beide Ausführungen mit einem „wenn“ ein (386, 388). Ihm geht es darum zu zeigen, dass wenn Vollkommenheit und Glück objektive Zwecke sind, dann kann nur die eigene Vollkommenheit und das Glück anderer gefordert werden. Dass sie aber tatsächlich Pflicht sind, wird woanders erläutert werden (vgl. 444, 451). Die Stelle ist also nicht dazu gedacht, alle Fragen zu beantworten, und gleichzeitig wirft sie neue auf. Zum Beispiel definiert Kant die Glückseligkeit an dieser Stelle als „Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer desselben gewiß ist“ (387). Wenn man Kants Argument berücksichtigt, dass von einem nichts gefordert werden kann, was nicht in seiner Macht steht, so könnte man streng genommen argumentieren, dass man den anderen nicht glücklich machen kann. Ich kann den anderen vielleicht in seinen Zwecken unterstützen, ihm Mittel geben und bei der Verwirklichung von Zwecken helfen, aber ob der andere damit zufrieden ist, scheint nicht in meiner Macht zu stehen. Kant schränkt dementsprechend die Pflicht darauf ein, die Zwecke anderer anzunehmen. Aber könnte man das gleiche nicht auch bei der Vollkommenheit von anderen machen? Der andere soll seine eigene Natur- und Moralanlagen kultivieren. Aber auch dazu könnte man dem anderen Mittel und Hilfe geben. Wenn ein anderer z. B. seinen Verstand trainieren soll, könnte man ihm Unterricht oder Hilfsmittel geben. Kant könnte erwidern, scheint es, dass diese Hilfe eine Hilfe zur Glückseligkeit sei. Aber das scheint nicht der Fall, da die Kultivierung der Anlagen ja eine Pflicht des anderen ist. Kant beantwortet in diesem Abschnitt also nicht alle Fragen, sondern es geht ihm darum, die zwei Zwecke, die zugleich Pflicht sind, zu benennen.
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3.7 Drei Spannungen im Text Bisher hat Kant erklärt, warum er den Namen „Tugendlehre“ für die Ethik angemessen hält, und hat zwei Zwecke identifiziert, die der Ethik eigen sind. Aber das Bisherige wirft auch zumindest drei Fragen auf, die als Spannungen im Text erscheinen. Eine Spannung hatte ich schon erwähnt. Kant redet am Anfang so, als ob sich die Ethik in objektiven Zwecken erschöpfen wurde, und genauer, als ob die Ethik sich nur auf unvollkommene Pflichten, dem dritten und vierten Beispiel der Grundlegung, beschränke. Er selbst fügt dann aber in der „Einleitung“ die Tugendgesinnung, aus Pflicht zu handeln, hinzu (siehe oben), und im Haupttext redet er dann auch über vollkommene Pflichten, z. B. die Pflicht, nicht Selbstmord zu begehen (vgl. 422) und andere zu respektieren (vgl. 462), die mit den Beispielen eins und zwei aus der Grundlegung korrelieren. Das stellt die erste Spannung dar: Wenn sich die Ethik in Zwecken erschöpft – was die Grundlegung als unvollkommene Pflichten einführt (vgl. GMS, IV 421) –, warum redet Kant dann auch über vollkommene Pflichten? Wenn umgekehrt vollkommene Pflichten Teil der Ethik sind, warum führt er die Ethik als Lehre von Zwecken ein? Auch eine zweite Spannung habe ich oben schon angedeutet. Kant redet so (vgl. 380 f.), als ob die Vernunft die zwei objektiven Zwecke benötige, um Einfluss zu nehmen. Aber die Vernunft kann doch auch im ersten und zweiten Beispiel der Grundlegung, dem Selbstmordverbot und dem Gebot, kein falsches Versprechen abzugeben, den Neigungen Abbruch tun und so Einfluss haben. Stimmt es also, dass jede moralische Handlung einen moralischen Zweck benötigt? Schließlich, drittens, sagt Kant, dass es ohne die objektiven Zwecke keinen kategorischen Imperativ geben würde (vgl. 385). Auf der anderen Seite sagt er aber auch, dass die objektiven Zwecke dem Imperativ nicht zu Grunde liegen, sondern aus ihm folgen (vgl. 382). Wie passen beide Aussagen zusammen? Alle drei Spannungen, so werde ich argumentieren, lösen sich auf oder lassen sich zumindest entschärfen, wenn man den Abschnitt VI. der „Einleitung“ berücksichtigt. Die offizielle These des VI. Abschnitts ist: „Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut das Ius), sondern nur für die Maximen der Handlungen“ (388). In seiner Erklärung dieser These erwähnt Kant Aspekte, die die oben erwähnten Spannungen im Text reduzieren. Während das offizielle Anliegen der Stelle ist, einen Kontrast zwischen Recht und Ethik herzustellen, so beschreibt er dabei die genaue Rolle von objektiven Zwecken. Der Kerngedanke scheint der folgende zu sein: Der kategorische Imperativ für sich genommen ist nur eine notwendige Bedingung der moralischen Richtigkeit. Als solcher kann er in der Ethik Maximen und im Recht Handlungen ausschließen, die gegen die Forderung der Verallgemeinerbarkeit verstoßen. Aber – für sich allein –
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gibt er keinen Inhalt an, was man positiv tun soll (vgl. Moral Vigilantius, XXVII 578). Das ist die Rolle von den Zwecken, die zugleich Pflicht sind. Sie schließen nicht nur gewisse Maximen und Handlungen aus, sondern schreiben (positiv) vor, gewisse Maximen anzunehmen. Dass sich Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung „qualifizieren“, ist demnach nur ein „negatives Prinzip“. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, „hebt das Willkürliche“ auf und kann „es zu einem Gesetz machen … eine solche Maxime zu haben“ (389). Die erste Spannung – dass Kant einerseits die objektiven Zwecke heraushebt, dann andererseits aber auch andere Elemente der Ethik (Tugendgesinnung und negative Pflichten) erwähnt – wird dadurch entschärft, wenn man bedenkt, dass es Kant um etwas geht, was der Ethik „eigentümlich zugehört“ (389). Kant geht es nicht darum, das ganze Wesen der Ethik zu skizzieren, noch alle Dinge zu benennen, die die Ethik mit dem Recht gemeinsam hat. Es ist so, als ob man zwei Berge vergleicht, von dem der eine Schnee auf seiner Spitze hat. In dem Vergleich benennt man dann nicht, was beide Berge gemeinsam haben, noch andere Charakteristiken, die nur dem Berg mit der Schneespitze zugehören. Sondern was ihm eigentümlich ist, ist der Schnee auf dem Gipfel. Die Frage, die sich Kant im Abschnitt VI. stellt, ist: „Wie kann es aber dann noch ein Gesetz für die Maxime der Handlungen geben?“ (389) Maximen werden von Kant als „solche subjektive Grundsätze angesehen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren“ (ebd.). Bei jeder Handlung, so Kants Auffassung, beabsichtigt der Handelnde „zugleich einen Zweck (als Materie der Willkür)“ (ebd.). Die Maxime der Handlung gibt in dieser Konzeption die „Mittel zu Zwecken“ an. Wenn der Zweck z. B. ist, nach Amerika zu reisen, so könnte die Maxime beinhalten, ein Flugzeug zu nehmen. Dennoch muss man nicht ein Flugzeug nehmen, und die „Maximen der Handlungen können willkürlich sein“ (ebd.). Man könnte in diesem Fall z. B. auch die Maxime haben, ein Schiff zu nehmen, „wogegen der Zweck, der zugleich Pflicht ist, es zu einem Gesetz machen kann eine solche Maxime zu haben“ (ebd.). Nur darum geht es Kant in der „Einleitung“, wie eine Stelle aus den Vorarbeiten zur Tugendlehre deutlich machen kann. Dort sagt Kant: „Tugendlehre der Inbegriff der Pflichten, die sich selbst zur Bewegursache machen“ (Vorarbeiten, XIX 377). Nach Kants Auffassung haben Recht und Ethik das „formale Prinzip der Pflicht“, den kategorischen Imperativ gemein: „Handle so, daß die Maxime diener Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne“ (389). Der Unterschied zwischen Recht und Ethik ist „nur daß in der Ethik dieses als das Gesetz deines eigenen Willens gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille Anderer sein könnte: wo es alsdann eine Rechtspflicht abgeben würde“ (ebd.). Das bedeutet, dass sich Recht und Ethik das gleiche obere Gesetz teilen, aus dem sich dann später Rechts- und Ethikgesetze ergeben: Unter diesem allgemeinen Moralgesetze sind
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sowohl die Rechtsgesetze, als die ethischen Gesetze enthalten (Moral Vigilantius, XXVII 526). Als Gesetz, das „überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei“ (RL, VI 225), ist der kategorische Imperativ beiden Teilen der Metaphysik der Sitten gemein (vgl. RL, VI 221; dazu auch Sensen 2013a). Allerdings wendet die Ethik das Prinzip nicht auf Handlungen an, sondern auf Gesinnungen. Diese beinhalten die Tugendgesinnung, seine Pflicht aus Pflicht zu tun, aber auch Gesinnungen zu vollkommenen Pflichten, wie z. B. das Selbstmordverbot oder das Verbot, andere nicht zu missachten. So spricht Kant bei den Achtungspflichten anderen gegenüber nicht davon, andere nicht zu töten, zu bestehlen oder zu erniedrigen, sondern gegen Gesinnungen wie Hochmut und Arroganz (vgl. 465; Sensen 2013b; s. auch den Beitrag von Moritz Hildt in diesem Band). Aber Kant erwähnt diese nicht in der „Einleitung“ als Teil der Ethik, da sie noch strukturell mit den Rechtspflichten verwandt sind. Sie schließen negativ eine willkürliche Maxime aus, die man sich zu einem willkürlichen Zweck gesetzt hat. Dagegen ist das Besondere der Ethik, dass sie auch positiv Maximen vorschreiben kann. Die erste Spannung löst sich so auf. Die Aussagen im VI. Abschnitt der „Einleitung“ lösen auch die anderen beiden Spannungen auf. Die zweite Spannung trat dadurch auf, dass Kant auf der einen Seite zu sagen schien, dass die Vernunft den Einfluss von Zwecken, die auf sinnlichen Neigungen beruhen, „nicht anders wehren“ (381) kann als durch ihre eigenen Zwecke. Auf der anderen Seite zählt Kant dann aber auch negative Pflichten, d. h. Unterlassungs- oder vollkommene Pflichten, zur Ethik, in welchen Fällen die Vernunft also auch Einfluss haben kann. Die Spannung wird entschärft, wenn es Kant darum geht, dass die Vernunft einen eigenen Inhalt hat, den sie der Materie, die die Neigungen fordern, entgegensetzen kann. Ohne objektive Zwecke könnte die Vernunft immer nur ein Veto einlegen, indem sie die von den Neigung vorgeschlagenen Zwecke einschränkt. Strenggenommen würde die Vernunft auch dann den Einfluss der Neigungen wehren, wenn sie nur ein Veto einlegen würde, aber sie würde immer nur passiv reagieren und hätte – was den Inhalt angeht – keine Eigeninitiative. Geht es Kant also darum, wie die Vernunft positiv, aus sich heraus, den Einfluss der Neigungen wehren kann, so geschieht das durch Zwecke, die zugleich Pflicht sind. Denn das sind vernunftgewirkte Zwecke, „die sich selbst zur Bewegursache machen“ (Vorarbeiten, XIX 377). Die dritte Spannung trat auf, da Kant auf der einen Seite sagt, dass die objektive Zwecke aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden, auf der anderen Seite aber auch, dass ohne objektive Zwecke ein „kategorischer Imperativ“ unmöglich wäre (385). Auch hier löst sich die Spannung auf, wenn man die Betonung von „kategorisch“ im Sinne des Gedankens vom VI. Abschnitt liest. Im Sinne dieses Abschnitts wären alle Maximen und alle Zwecke, die auf Neigungen beruhen und zu denen die Maximen als Mittel dienen, „willkürlich“ (389) und eben nicht katego-
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risch. Damit Maximen auch positiv, kategorisch geboten sein können – wie z. B. die Maxime, anderen zu helfen – und nicht nur willkürliche Maximen – wie z. B. die Maxime ein falsches Versprechen abzugeben – negativ ausgeschlossen werden, bedarf es der objektiven Zwecke. Selbst wenn sich die drei Spannungen auflösen lassen, so drückt sich Kant ein wenig missverständlich aus. Aber selbst wenn er sich darauf beschränkt hätte, dass die Ethik das Besondere hat, dass es dort um Selbstzwang und generell um Gesinnungen geht, so ist nicht klar, dass das alle Spannungen aufgelöst hätte. Denn auch in der Rechtslehre redet Kant von einer inneren Rechtspflicht, „[s]ei ein rechtlicher Mensch (vgl. RL,VI 236). Dabei ist nicht klar, dass diese äußerlich erzwingbar sei und nicht vielmehr – wie ethische Pflichten – auf einem Selbstzwang beruht.
3.8 Fazit Kant geht es in den ersten sechs Abschnitten der „Einleitung zur Tugendlehre“ also nicht um eine Begründung der Moral, sondern um zwei Punkte: Die gängige Bezeichnung der Ethik als Tugendlehre ist wegen des ethischen Wesensmerkmals des Selbstzwangs auch systematisch angemessen, und nur durch Zwecke, die zugleich Pflicht sind, kann die Vernunft auch positiv einen Inhalt kategorisch vorschreiben.
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4 Ein Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht wird. Einleitendes zur Tugendpflicht (Einleitung zur Tugendlehre, VII–XII) Im vorliegenden Abschnitt bestimmt Kant den Begriff der Tugendpflicht näher und grenzt ihn vom Begriff der Rechtspflicht ab. Darüber hinaus stellt er das Materiale der Tugendpflicht vor und begründet das Formale der Tugendpflicht. Anhand eines Schemas veranschaulicht Kant diese zwei Aspekte (398). Eine wesentliche Ergänzung seiner Pflichtenlehre bzw. eine Neuerung stellt Kant in Abschnitt XII vor: die Gemütsanlagen des Menschen. Mit einer Vorstellung und näheren Erläuterung dieser sogenannten „moralischen Beschaffenheiten“ des Menschen (399) endet der Abschnitt.
4.1 Weite und enge Verbindlichkeit Ethische Pflichten und Rechtspflichten werden von Kant hinsichtlich der Art ihrer Verbindlichkeit unterschieden (390). Es scheint Absicht zu sein, dass Kant in diesem Abschnitt statt von Tugendpflichten von ethischen Pflichten spricht, ist sein Begriff der „ethischen Pflichten“ doch weiter gefasst als derjenige der Tugendpflichten: „[N]icht alle ethischen Pflichten sind darum Tugendpflichten.“ (383) Erst im Laufe des VII. Abschnitts grenzt Kant seine Untersuchung auf Tugendpflichten ein, um im folgenden VIII. Abschnitt eine Darstellung der Tugendpflichten „als weiter Pflichten“ anzuschließen (391). Im Zuge der eingangs vorgenommenen Unterscheidung Kants zwischen ethischen Pflichten und Rechtspflichten lässt sich grundsätzlich feststellen, dass die ethischen Pflichten von weiter Verbindlichkeit sind, im Gegensatz zu den Rechtspflichten, die eine enge Verbindlichkeit aufweisen (390). Die Erklärung für diesen Unterschied ergibt sich aus der wesenhaften Beziehung der jeweiligen Pflichtart auf das Verhältnis von Handlung, Maxime und Gesetz: Während die Rechtspflichten konkrete Gebote zu Handlungen und Verbote von Handlungen enthalten, gebieten ethische Pflichten nur Maximen zu Handlungen. Was bedeutet hier „weit“ und „eng“ im Zusammenhang mit Verbindlichkeit? In Bezug worauf sind diese Pflichten weit bzw. eng? Weite Pflichten sind darum als „weit“ charakterisiert, weil es Maximen geben kann, die durch andere Maximen eingeschränkt werden. Zudem ist https://doi.org/10.1515/9783110786958-006
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a priori nicht bestimmbar, welche Handlungen Maximen gebieten (s. Abschnitt 4.3). Kant bemüht zur Erläuterung der weiten Pflichten eine Raummetapher, indem er ausführt, dass der Pflichtbefolgung „ein Spielraum“ gegeben sei. Dieser Spielraum beziehe sich nicht auf die Verbindlichkeit der Pflicht selbst, sondern auf die Pflichtmaximen: „Das Feld für die Tugendpraxis“ erweitere sich durch die Koexistenz von Pflichtmaximen (390). Die Weite einer Pflicht ist demnach als etwas Graduelles zu verstehen („je weiter…“). Der Fokus von Kants Betrachtung hinsichtlich der Pflichtenunterscheidung verengt sich auf die Tugendpflichten als Teil der ethischen Pflichten sobald er von der „Tugendpraxis“ spricht: „Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung“ (390). Wichtig ist hier der Hinweis auf Kants verändertes Verständnis vollkommener und unvollkommener Pflichten im Vergleich zu Aussagen aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet, und da habe ich nicht bloß äußere, sondern auch innere vollkommene Pflichten“ (GMS, IV 421, Anm.). Im Zuge seiner Ausarbeitung einer Einteilung der Pflichten in der Metaphysik der Sitten bleibt zwar die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten aufrecht, die Grenzziehung erfolgt aber nicht mehr hinsichtlich möglicher Neigungen einer Person bei der Pflichtbefolgung, sondern hinsichtlich der „Bestimmungs- und Normierungsreichweite des jeweiligen Pflichtprinzips“ (Kersting 1982, 212). Der Anspruch von Tugendpflichten als weiter Pflichten ist demnach, dass sie von unvollkommener Verbindlichkeit sind bezogen auf die der Pflicht gemäßen Handlungen. Nicht genau angegeben werden kann „wie und wieviel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle.“ (TL, VI 390) Unter Befolgung des Zwecks, den die Tugendpflicht der Person setzt, besteht aber ein gewisser Freiraum in der handlungsmäßigen Entsprechung dieser Tugendpflicht. Die Befolgung von Tugendpflichten ist „verdienstlich“, insofern sie über den Bereich der Schuldigkeit hinausgeht: „Denn der Mensch macht sich dadurch das Recht der Menschheit oder auch der Menschen zum Zweck, und erweitert dadurch seinen Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit“ (ebd.). Dem Begriff des Verdiensts (meritum) steht also der Begriff der Schuldigkeit gegenüber. Jedoch erfolgt hier von Kant keine explizite begriffliche Bestimmung, denn sie findet sich in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten: „Was jemand pflichtmäßig m e h r tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzteren angemessen tut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger tut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum).“ (RL, VI 227) Der verdienstvollen Erfüllung von Tugendpflichten steht bei
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Nichterfüllung nicht etwa das „Verschulden“ gegenüber, sondern lediglich „moralischer Unwert“. Während das Verschulden bestraft und die verdienstvolle Tat belohnt werden kann in Form eines sogenannten „Tugendlohns“ (ebd.; TL, VI 377 u. 391), ist der moralische Unwert eine Übertretung ohne Schuld, und damit prima facie ohne Strafe (390). Dieser moralische Unwert bedeutet nach Kant nämlich keine Gleichsetzung mit „Laster“, vielmehr wird er verstanden als eine Schwäche im Handlungsvorsatz und ist damit bloß „Untugend“, die durch mangelnde moralische Stärke gekennzeichnet ist – und keinesfalls durch die Stärke in dem Vorsatz, seiner Pflicht nicht nachzukommen, wie es beim Laster der Fall wäre. Das Laster ist hier definiert als vorsätzliche Übertretung der Pflicht durch eine „pflichtwidrige Handlung“ (ebd.; s. hierzu den Beitrag von Schönecker u. Schmidt in diesem Band). Im Gegensatz zu äußeren Handlungen, die dem Gesetz nach geschuldet sein können und zu denen eine Person von anderen gezwungen werden kann, sind die verdienstlichen Handlungen nicht äußerlich erzwingbar. Kant begründet dies folgendermaßen: „[W]eil ein anderer aus seinem Rechte wohl Handlungen nach dem Gesetze, aber nicht, daß dieses auch zugleich die Triebfeder zu denselben enthalte, von mir fordern kann“ (391). Deutlich wird dies auch an dem von Kant angeführten Beispiel des ethischen Gebots „handle pflichtmäßig aus Pflicht.“ Dieses enthält zwei Anforderungen zugleich: Nicht nur soll die Handlung äußerlich der Pflicht gemäß sein, sie soll zudem aus Achtung für das Gesetz aus dem die Pflicht abgeleitet ist, erfolgen. Wie Kant bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darlegte: Allein einer Handlung „aus Pflicht“ kommt ein moralischer Wert zu, denn nur sie erfolgt „aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, IV 400). Während jedoch die äußeren Handlungen durch Dritte überprüfbar und bewertbar sind hinsichtlich ihrer Gesetzeskonformität, ist es die Triebfeder einer Handlung nicht. So begründet die Angemessenheit der Maximen der Tugendpflichten, die in der Achtung für das Recht besteht, das Verdienstliche der Pflicht. Welches „Recht“ ist hier aber gemeint? Kant spricht hier weder vom juridischen Recht, noch vom konkreten Recht einer Einzelperson, sondern, wie der nachfolgende Satz klärt: vom „Recht der Menschheit“ (TL, VI 390). Dieses Recht ist bei einer verdienstlichen Handlung Gegenstand der Zwecksetzung.
4.2 Eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit Zur Veranschaulichung weiter Pflichten sind im Folgenden zwei Pflichten Gegenstand von Kants Ausführungen: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit
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(391 u. 395). Sie werden hier nur kurz vorgestellt, da sie als ein Hauptgegenstand der Ethischen Elementarlehre dort in aller Ausführlichkeit dargestellt sind. Die Pflicht zur eigenen Vervollkommnung bezieht sich auf die Kultivierung „aller Vermögen überhaupt“ (391), wobei Kant zwischen den physischen und moralischen Anlagen des Pflichtadressaten unterscheidet. Die Begründung, weshalb diese Pflicht gegen sich selbst eine weite Pflicht ist, lautet, dass die Weise ihrer Befolgung von der jeweiligen Person abhängig ist, weil „kein Vernunftprinzip“ (392) vorschreibt, wie dieser Pflicht handlungsmäßig nachzukommen sei. Gemeint ist, dass aufgrund der Verschiedenartigkeit der Menschen hier a priori keine Gesetze oder konkreten Pflichtinhalte bestimmbar sind, denn es geht hier um die Entwicklung der jeweils eigenen Talente. Aus diesem Grund gibt die Pflicht zur eigenen Vollkommenheit statt konkreten Handlungsgeboten nur folgende Maxime an: „Baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können, ungewiß, welche davon einmal die deinigen werden könnten“ (ebd.). Eine wichtige Erläuterung dieser Maxime findet sich in Kants Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Hier ist erstens Kants teleologische Argumentation in Hinblick auf die Vernunftfähigkeit des Menschen zu betonen. Die Natur habe den Menschen mit Anlagen ausgestattet, die er ausbauen solle. Auch die Vernunft und ein Maß an Willensfreiheit habe die Natur dem Menschen gegeben und die Nutzung dieser Anlagen müsse vom Menschen erst erlernt werden, um sie später ihrem Zweck zuzuführen (vgl. Idee, VIII 18 ff.). Diese Entwicklung der eigenen Naturanlagen bildet für Kant die Voraussetzung nicht nur für den rechten Gebrauch der Vernunft, sondern für das gesellschaftliche Zusammenleben des Menschen überhaupt: „Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann“ (Idee, VIII 21). Die Pflicht zur eigenen Vervollkommnung, derart verstanden, hat daher innerhalb von Kants Moral- und Rechtsphilosophie eine hohe Bedeutung. Dass moralische Vollkommenheit nur der Gegenstand einer weiten Pflicht gegen sich selbst sein kann und nicht in der Verantwortung anderer Personen liegt, erklärt sich durch den Begriff der Vollkommenheit, wie Kant ihn hier formuliert: „Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht bloß die Regel, sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei)“ (TL, VI 392). Wenn moralische Vollkommenheit also in der
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pflichtmäßigen Handlung aus Pflicht besteht, kann sie nur die jeweilige Person selbst anstreben und niemand für sie. Des weiteren leitet sich aus dem Verständnis moralischer Vollkommenheit ab, dass diese Pflicht gegen sich selbst keine enge Pflicht sein kann, sondern eine „weite Pflicht“ sein muss. Geboten kann bei dieser Pflicht nur die Maxime der Handlung sein. Das Moralgesetz kann darüber hinaus auch keine inneren Handlungen gebieten oder verbieten: „[D]as Gesetz gebietet nicht diese innere Handlung im menschlichen Gemüt selbst, sondern bloß die Maxime der Handlung, darauf nach allem Vermögen auszugehen: daß zu allen pflichtmäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder sei“ (393). Kants Differenzierung von inneren und äußeren Handlungen hat unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe zur Folge, ebenso wie unterschiedliche Weisen der Gesetzgebung. Innere Handlungen einer Person können durch kein äußeres Gesetz geboten oder verboten, noch durch äußere Instanzen überprüft und hinsichtlich ihrer Güte bewertet werden. Dies steht im Gegensatz zu äußeren Handlungen, die sich nach äußeren Geboten und Verboten richten und nach (äußeren) Rechtsgesetzen auf ihre Legalität hin überprüft werden können (RL, VI 214 u. 219; vgl. auch TL, VI 394 hinsichtlich innerer und äußerer Nötigung). Eine weitere wesentliche Ergänzung zu dieser Pflicht findet sich in Kants Pädagogik. Hier weist er auf die Wichtigkeit der Erziehung im Zusammenhang mit der Vervollkommnung des Menschen hin. Ein Ziel der Erziehung sei die „allgemeine Kultur der Gemütskräfte“ (Päd., IX 475). Neben der physischen Kultur nennt Kant auch die moralische Kultur als wesentliches Merkmal. Deutlich wird hier auch der Bezug zum Tugendbegriff, wenn Kant als Ziel der moralischen Kultur die Moralität des Menschen setzt: „Man muß dahin sehen, daß der Zögling aus eignen Maximen, nicht aus Gewohnheit gut handle, daß er nicht bloß das Gute tue, sondern es darum tue, weil es gut ist. Denn der ganze moralische Wert der Handlungen besteht in den Maximen des Guten“ (ebd.). Strafen oder Drohungen seien hier völlig fehl, denn die dazugehörige gute Handlungsmotivation muss von der Person selbst kommen und könne nicht durch äußeren Zwang erwirkt werden. Wie die Pflicht zur eigenen Vervollkommnung hat auch die Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit zwei Ebenen: einerseits die „physische Wohlfahrt“ anderer Menschen (TL, VI 393), andererseits deren „moralisches Wohlsein“ (ebd.). Die Begründung der Wohltätigkeitspflicht, wie sie Kant hier (und zuerst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) formuliert, basiert auf der Selbstzweckformel: „Daß diese Wohltätigkeit Pflicht sei, ergibt sich daraus: daß weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfnis, von anderen auch geliebt (in Notfällen geholfen) zu werden, nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für andere machen, und diese Maxime niemals anders als bloß durch ihre Qualifikation zu einem allgemeinen Gesetz … verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zu-
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gleich Pflicht ist“ (393). Weil wir also die Hilfe anderer in der Not wollen und diese Nothilfe durch andere zu einem allgemeinen Gesetz machen können, ist die Wohltätigkeit gegen andere Menschen Pflicht (eine nähere Analyse dieses Arguments findet sich in: Steigleder 2002, 250–253). Es scheint an dieser Stelle nicht klar, unter welchen Bedingungen von Notfällen gesprochen werden kann und ob sich die Wohltätigkeit gegen andere Menschen nur auf diese Situationen bezieht oder allgemeiner zu verstehen ist. Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang auch folgende Stelle zu sein: „Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfnis sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß“ (TL, VI 393). Nicht nur sind also die Weise und das Maß, dieser Pflicht gegen andere nachzukommen, abhängig von den Möglichkeiten der verpflichteten Person, auch die Maßgabe über „wahres Bedürfnis“ des anderen, sowie die Gewichtung zwischen der Pflicht gegen andere und die Pflicht gegen sich selbst liegt beim jeweiligen Pflichtadressaten. Allerdings scheint Kant in einem Nachsatz klarstellen zu wollen, dass es bei diesem Spielraum nur um einen Spielraum von Handlungen basierend auf der gebotenen Maxime geht. Neben physischer Wohlfahrt ist auch die moralische Wohlfahrt anderer Menschen ein Bestandteil dieser Pflicht (394). Während die Beförderung der physischen Wohlfahrt anderer durchaus eine positive Pflicht ist, die im „Wohltun“ besteht (vgl. ausführlich dazu 449–451), beinhaltet diese zweite Ebene der Pflicht gegen andere „nichts zu tun, was nach der Natur des Menschen Verleitung sein könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann, welches man Skandal nennt.“ (394) Sie ist somit eine negative Pflicht bei der es um die „Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit anderer“ als Maxime geht. In ihrer handlungsgemäßen Befolgung sind auch ihr keine Grenzen gesetzt.
4.3 Was ist Tugendpflicht? Zur Einleitung schreibt Kant: „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht.“ (394) Somit sei „die Tugend nicht bloß ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Prinzip der inneren Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht nach dem formalen Gesetz derselben.“ (ebd.) Hier wird also eine Qualifizierung des Selbstzwanges vorgenommen, der bereits in Teil I der Einleitung in die Tugendlehre eingeführt wurde: „Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist“ (379 f.; s. hierzu den Beitrag von Oliver Sensen in diesem Band.). Dieser Zwang wird hier nun einge-
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schränkt auf Prinzipien nach dem Gesetz der Freiheit, während Prinzipien aus dem Gesetz der Natur ausgeschlossen sind (vgl. zu den Gesetzesarten: GMS, IV 387 f. u. 427). Im Gegensatz zu den Rechtspflichten, deren Nötigung durch äußere Rechtsgesetze erfolgt, ist die Nötigung bei den ethischen Pflichten eine innere. Der innere Zwang erfolgt durch die Vernunftbestimmung des Willens (vgl. auch RL, VI 214). So liegt bei beiden Pflichtarten ein legitimer Zwang vor, bei den Rechtspflichten ist es Zwang durch einen anderen, bei den ethischen Pflichten Selbstzwang. Die Handlung, die (gemäß einer ethischen Pflicht) aus Selbstzwang und zwar aus Achtung für das Gesetz erfolgt, ist nach Kant eine „Tugendhandlung“ (TL, VI 394). Sie ist es auch dann, wenn „das Gesetz eine Rechtspflicht aussagt“, d. h., wenn die Handlung dem Rechtsgesetz nach geboten ist. Im Folgenden geht Kant auf die im „Schema der Tugendpflichten“ (398) dargestellte Unterscheidung zwischen dem Formalen und Materialen der Tugendpflicht ein. Zur Erinnerung: In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt er: „Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von allen subjektiven Zwecken abstrahieren; sie sind aber material, wenn sie diese, mithin gewisse Triebfedern, zum Grunde legen“ (GMS, IV 427). Er nimmt also hier die Frage aus der Überschrift wieder auf, was Tugendpflicht sei, und versucht im Folgenden eine genauere Bestimmung des Begriffs der Tugendpflicht zu geben. Unter Rückbezug auf seine Eingangsbemerkung zur Tugend präzisiert er nun: „Aber was zu tun Tugend ist, das ist darum noch nicht sofort eigentliche Tugendpflicht“ (TL,VI 394). Denn das, was zu tun Tugend ist, „kann bloß das Formale der Maximen betreffen“, die Tugendpflicht „aber geht auf die Materie derselben, nämlich auf einen Zweck, der zugleich als Pflicht gedacht wird“ (ebd.). Es ist dieses Verhältnis von Tugend, Zweck und Tugendpflicht, das Kant im Nachfolgenden vertiefend begründet und erklärt. „Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist wie alles Formale bloß eine und dieselbe“ (395). Tugend, wenn sie als praktisches Prinzip verstanden wird, ist also einzig. Betrachtet man jedoch das Materiale der Willensbestimmung, so kann es mehrere Tugenden geben. Ebenso, wie es verschiedene Tugenden gibt, die Teil der Willensbestimmung sein können, gibt es eine Vielzahl gesetzmäßiger Zwecke, die eine Person sich setzen kann. Daraus folgt: „Da aber die ethische Verbindlichkeit zu Zwecken … nur eine weite ist, gibt es viele nach Verschiedenheit des gesetzlichen Zwecks verschiedene Pflichten, welche Tugendpflichten genannt werden“ (395). Sie werden aus zwei Gründen so genannt: erstens, weil diese Pflichten nur dem eigenen Selbstzwang entspringen und keinem äußeren (Fremd‐) Zwang; zweitens, weil diese Pflichten „den Zweck bestimmen, der zugleich Pflicht ist“ (ebd.). Erst nach diesen vertiefenden Vorannahmen erfolgt explizit die Bestimmung des formalen Prinzips der Tugendlehre: „Handle nach einer Maxime der Zwecke,
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die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ (ebd.). Aus diesem Imperativ wird dann sogleich folgende Pflicht abgeleitet: Der Mensch ist „sowohl sich selbst als anderen Zweck, und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist an sich selbst des Menschen Pflicht“ (ebd.). Interessant ist hieran, dass die Tugendpflichten gegen sich selbst und gegen andere Menschen letztlich aus einer der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelten Formeln des kategorischen Imperativs abgeleitet werden (vgl. GMS, IV 429). Dem geht das Argument voraus, dass „vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“ (GMS, IV 428). Bemerkenswert ist hier außerdem die inhaltliche Nähe zwischen der Tugendpflicht und der ersten Rechtspflicht (RL,VI 236). Diese lautet: „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“ (ebd.). Während sich diese zwei Pflichten in der Formulierung ähneln, ist im Gegensatz zur Rechtspflicht, deren Verbindlichkeit aus dem Recht abgeleitet ist, das Grundprinzip der Tugendpflicht der (Mensch als) Zweck an sich. Nachdem sowohl das formale Prinzip der Tugendlehre als auch die aus ihr abgeleitete Pflicht eingeführt wurden, erfolgt eine nähere Bestimmung des Prinzips der Tugendpflicht und schließlich die Beantwortung der Titelfrage. „Was im Verhältnis der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt“ (TL, VI 395). Hier wird von Kant noch einmal der Gedanke der sich selbst Zwecke setzenden praktischen Vernunft aufgegriffen und die Grundprämissen des Arguments angedeutet: „Denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden“ (Rel.,VI 4). Es folgt hieraus, dass der Grundsatz der Tugendlehre ein kategorischer Imperativ ist, der sich aus der reinen praktischen Vernunft ableitet. Die praktische Vernunft ist bei Kant das Vermögen zur Zwecksetzung; sie ist auch die Bedingung der Bestimmung von Maximen zu Handlungen „welche … jederzeit einen Zweck enthalten“ (TL, VI 395). Kant macht nun den Zusammenhang zwischen dem praktischen Gesetz, der reinen praktischen Vernunft und der Notwendigkeit des Zwecks, der zugleich Pflicht ist, deutlich. Aus dem praktischen Gesetz wird mittelbar die Tugendpflicht abgeleitet. In Form des Selbstzwangs vernunftbegabter Wesen erfolgt die Bestimmung des Willens. Die reine praktische Vernunft ist die Vorbedingung für die Geltung des Kategorischen Imperativs und aus ihm abgeleiteter Prinzipien, etwa das Tugendprinzip. Kant führt dieses Verhältnis folgendermaßen zusammen: „Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht als dann Tugendpflicht heißt“ (395).
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Dieser Schlusssatz des Abschnitts beantwortet im Grunde genommen drei Fragen zugleich: erstens, die titelgebende Frage, was Tugendpflicht ist, zweitens, dass das Formale der Tugendpflicht(en) Zwecke sind, drittens, weshalb der Zweck zugleich Pflicht ist.
4.4 Das Prinzip der Tugendlehre Das Prinzip der Tugendlehre hatte Kant in Abschnitt IX formuliert: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ (395). Es wird von ihm nun näher bestimmt, indem er es als „synthetisch“ gegenüber dem „analytischen“ Rechtsprinzip abgrenzt (396). Das Prinzip der Rechtslehre lautet: „Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“ (RL, VI 231). Das oberste Prinzip der Rechtslehre ist nach Kant analytisch, was bedeutet, dass der Zweckbegriff hier zurückgeführt werden kann auf die im Prinzip wesentlichen Begriffe, hier: auf den Begriff der (äußeren) Freiheit. Aus ihm kann ferner eine Definition von Unrecht abgeleitet werden, nämlich „ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ (ebd.). In der Verhinderung eines Freiheitshindernisses nach allgemeinen Gesetzen liegt somit nach Kant die Rechtfertigung legitimer Zwangsbefugnis. Zwang ist insofern legitim, als er sich gegen unrechten Zwang richtet und sich allein auf diese Abwehr des Unrechts bezieht (vgl. Höffe 1999, 56 f.). Im Gegensatz zum analytischen Rechtsprinzip wird beim Tugendprinzip der Zweckbegriff selbst zur Pflicht gemacht: „Dagegen geht das Prinzip der Tugendlehre über den Begriff der äußeren Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur Pflicht macht“ (TL, VI 396). Das Tugendprinzip selbst ist eine „Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“ (395) und allein dadurch möglich (396). Insofern sich die Tugendlehre nicht mehr auf die äußere Freiheit und deren äußere Einschränkungen bezieht, sondern innere Freiheit, Selbstzwang und die Tugend als eigener Zweck neu hinzukommen (ebd.), handelt es sich hier um eine „Erweiterung des Pflichtbegriffs“, denn zur äußeren Nötigung kommt nun das Vermögen des Selbstzwangs durch die reine praktische Vernunft hinzu (ebd.).
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4.5 Die moralischen Gemütsanlagen des Menschen Kants Einführung der vier moralischen Gemütsanlagen des Menschen in der Metaphysik der Sitten ist vor allem auch in der neueren Kantforschung Gegenstand von Diskussionen und unterschiedlicher Interpretationen. Waren doch in Kants früheren Schriften zur praktischen Philosophie seine Grundbedingungen für die Möglichkeit sittlichen Handelns die Vernunftnatur des Menschen, das praktische Gesetz und die Achtung des Menschen für dieses Gesetz. Vor allem der grundlegende Status der praktischen Vernunft in Kants Moralphilosophie ist auch unter an der Philosophie interessierten Laien allgemein bekannt. Umso überraschender scheint es daher, dass Kant in der Einleitung zur Tugendlehre in Abschnitt XII vier Gemütsanlagen einführt. Er scheint hier neben der Relevanz der praktischen Vernunft das Gefühl des Menschen zu betonen und ihm einen Platz im System seiner praktischen Philosophie geben zu wollen. Kant geht von vier Beschaffenheiten des Menschen aus. Sie sind das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten bzw. die Menschenliebe und die Achtung für sich selbst (399). Er definiert diese „ästhetischen Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“ (ebd.) als „[m]oralische Beschaffenheiten, die wenn man sie nicht besitzt, es auch keine Pflicht geben kann, sich in ihren Besitz zu setzen“ (ebd.). Diese Gemütsanlagen sind demnach nicht erwerblich, der Mensch kann sie sich nicht nachträglich aneignen (400) und es kann keine Pflicht dazu geben, sie zu erlangen oder zu haben, denn sie sind nach Kant erst die Vorbedingung für die Autorität des praktischen Gesetzes und folglich dafür, verpflichtet zu werden (ebd.). Gegenstand einer Pflicht gegen sich selbst kann allein die Kultivierung der Gemütsanlagen sein, mit Ausnahme der Achtung, „denn er muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“ (403). Sie sind allesamt „subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, nicht als objektive Bedingungen der Moralität“ (ebd.). Sie sind subjektiv, weil sie sich auf Voraussetzungen des Subjekts beziehen und nicht auf den Gegenstand, etwa das Gesetz. Die moralische Handlung eines jeden „endlichen vernünftigen Wesens“ ist sowohl objektiv als auch subjektiv bestimmt, wie Kant an anderer Stelle schreibt: „Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung objektiv Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber subjektiv Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe“ (KpV, V 81). Die objektiven Bedingungen sind hier Gesetz, Wille und Achtung vor dem Gesetz.
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4.5.1 Das moralische Gefühl Es wird von Kant definiert als „die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze“ (399). Allerdings geht es hier nicht um Lust oder Unlust nach einer erfolgten Handlung, sondern um die Folge einer vorgestellten Handlung nach dem Gesetz (ebd.). „He is talking about moral feeling in connection with possible action, that is, prospective action, not retrospective judgment on action already done. Moral feeling arises from the thought of the correspondence or contrariety of a possible, future action with the moral law, not from judgment of prior action“ (Guyer 2016, 250). Weil es ein moralisches Gefühl ist, geht das praktische Gesetz ihm voraus – aus diesem Grund beschreibt Kant die Gemütsanlagen auch als „vorhergehende“. Zwar gehen sie selbst nicht vorher, aber sie hängen direkt von der ihnen vorgeordneten sittlichen Ordnung ab. Dies wird deutlich an der Definition, die Kant in der Vorrede gibt: „Die Lust nämlich, welche vor der Befolgung des Gesetzes hergehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde, ist pathologisch, und das Verhalten folgt der Naturordnung; diejenige aber, vor welcher das Gesetz hergehen muß, damit sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung“ (378). In diesem Abschnitt fügt Kant noch Folgendes zur Bestimmung hinzu: „Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz) …, das ist es, was wir das moralische Gefühl nennen“ (400). Das moralische Gefühl ist aber nicht nur vom pathologischen Gefühl, etwa im Sinne einer Neigung, zu unterscheiden, sondern auch vom „moralischen Sinn“. Dies ist aus mehreren Gründen für Kant eine besonders relevante Abgrenzung. Er setzt er sich damit erstens gegen Theorien ab, die wie diejenige von Hutcheson einen moralischen Sinn postulieren (vgl. auch GMS, IV 442, Anm.). Zweitens ist es ihm grundsätzlich wichtig zu betonen, dass das moralische Gefühl kein Sinn ist, verstanden als Quelle der Erkenntnis: „Dieses Gefühl einen moralischen Sinn zu nennen, ist nicht schicklich; denn unter dem Wort Sinn wird gemeiniglich ein theoretisches, auf einen Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden: dahingegen das moralische Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt) etwas bloß Subjektives ist, was kein Erkenntnis abgibt“ (400). Das moralische Gefühl ist demnach keine Erkenntnisquelle bezogen auf das Gute und Böse. Wozu dient es aber dann? Es scheint, wie bereits angedeutet, in engem Zusammenhang mit der moralischen Triebfeder, d. h. der Vorstellung des Gesetzes, zu stehen (397). Das moralische Gefühl ist die Folge einer vorgestellten Handlung nach dem Gesetz und scheint so das praktische Gesetz in uns wirksam zu machen, indem wir dafür empfänglich werden (400). Es gibt somit eine Antwort auf die grundlegende Frage, wodurch menschliche Wesen ein Interesse an moralischen Gesetzen nehmen können (vgl. GMS, IV 459 f.).
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4.5.2 Das Gewissen Anders als das prospektive moralische Gefühl, kommt das Gewissen sowohl während einer Handlung als auch in Folge einer bereits erbrachten Handlung zur Geltung. „[W]enn es aber zur Tat kommt oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich“ (401). Während es nicht Pflicht sein kann, sich ein Gewissen anzueignen, weil der Mensch es als Gemütsanlage bereits besitzt, besteht die Pflicht des Menschen darin „die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden …, um ihm Gehör zu verschaffen“ (ebd.). Der gewissenhafte Mensch prüft also eine Handlung oder Maxime auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz, der gewissenlose Mensch hingegen vollzieht eine Handlung oder fasst eine Maxime ohne diese Prüfung (vgl. Klemme 2016, 70). Ein umgangssprachlich als „gewissenlos“ bezeichneter Mensch besitzt demzufolge durchaus ein Gewissen, jedoch hat dieser Mensch sich entschieden, nicht darauf zu hören. In eben dieser Entscheidung liegt eine wichtige Voraussetzung des Gewissens, nämlich die Zurechenbarkeit einer Handlung auf Grundlage der Selbstgesetzgebung (vgl. 437 f.). Kant definiert das Gewissen als „die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft“ (400, Herv. A.S.). Die Begriffe Lossprechen (im Sinne des Freispruchs) und Verurteilen nehmen bereits vorweg, was Kant noch ausführlicher zu Beginn des „Zweiten Hauptstücks“ zum Gewissen anmerkt und in welchen Kontext er es einbettet. Dort fügt er der Definition noch Folgendes hinzu: „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (‚vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen. Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten“ (438). Daraus folgt, dass weder ein irrendes noch ein gänzlich fehlendes Gewissen möglich sind. Der vernunftbegabte Mensch hat ein Gewissen, es ist seine „hier richtende“ praktische Vernunft (401), die über Handlungen urteilt hinsichtlich ihrer sittlichen Qualität. Noch genauer gefasst: „Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen“ (Rel., VI 186).
4.5.3 Menschenliebe Die Menschenliebe als moralische Gemütsanlage ist nicht als pathologisches Gefühl zu verstehen (vgl. zu den unterschiedlichen Zuordnungen von Liebe: 426), etwa im Sinne der Neigung einer Person, alle Mitmenschen zu lieben. Ein Gefühl dieser Art würde keine gültige Grundlage für Handlungen aus Pflicht darstellen.
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Kant unterscheidet hier zwischen zwei Liebesbegriffen: dem „Wohlwollen (amor benevolentiae)“ und der „Liebe des Wohlgefallens (amor complacentiae)“ (vgl. ausführlich zu dieser Differenzierung: Rel., VI 53, Anm. 2). Welche von beiden ist nun aber die Gemütsanlage Menschenliebe? „Wenn es also heißt: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohltun, sondern: tue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken!“ (402) Wohlwollen ist demnach eine Vorbedingung zum Wohltun. Es scheint, dass die amor benevolentiae sich erst sukzessive, durch häufiges Vollbringen wohltätiger Handlungen, in einer Person einstellt (ebd.). Während die Liebe des Nächsten keine Pflicht sein kann, weil sie ein Gefühl ist, ist es das Wohltun im Sinne eines tätigen Wohlwollens durchaus, denn Handlungen können einem Pflichtgesetz unterworfen sein: „Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun, ist Pflicht, man mag sie lieben oder nicht“ (ebd.). Der Status der Menschenliebe als einer der moralischen Gemütsanlagen, um „durch den Pflichtbegriff affiziert zu werden“ (399) scheint aus dem Vorherigen jedoch nicht ganz klar zu werden. In welchem Zusammenhang steht beispielsweise die Menschenliebe mit dem Pflichtbegriff? Sie kann, wie auch die vorherigen Gemütsanlagen, als „Sache der Empfindung“ (401) nicht erzwungen werden. Daraus folgt, dass mit der amor benevolentiae nicht die Menschenliebe gemeint sein kann, denn diese ist ja durchaus dem Pflichtgesetz unterworfen und hat als solche die Gemütsanlage der Menschenliebe zur Voraussetzung. Diese Gründe sprechen dafür, dass Kant mit Menschenliebe die amor complacentiae meint, die Liebe des Wohlgefallens (402). Zudem kommt er später noch einmal auf diese Unterscheidung zurück und bestimmt sie näher: „Die Menschenliebe (Philanthropie) muß, weil sie hier als praktisch, mithin nicht als Liebe des Wohlgefallens an Menschen gedacht wird, im thätigen Wohlwollen gesetzt werden und betrifft also die Maxime der Handlungen“ (450, Hervorh. A.S.). Bemerkenswert ist an Kants Ausführungen zur Menschenliebe, dass sie zu einem großen Teil lediglich negativ bestimmt wird und darüber hinaus die amor complecentiae erst ganz am Schluß und nur sehr knapp eingeführt wird. Eine ausführliche, positive Bestimmung dieser Gemütsanlage unterbleibt hier.
4.5.4 Achtung Im letzten, recht knappen Abschnitt seiner Darstellung der moralischen Gemütsanlagen, behandelt Kant die Achtung, allerdings schränkt er hier den Begriff auf die Achtung des Menschen für sich selbst, d. h. Selbstschätzung, ein. Achtung wird hier
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demnach nicht verstanden als Achtung fürs Gesetz. Allerdings hängt doch im Grunde beides für ihn zusammen: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt“ (GMS, IV 401 Anm.). Sie ist „ein Gefühl eigener Art, nicht ein Urteil über einen Gegenstand, den zu bewirken oder zu befördern, es eine Pflicht gäbe“ (TL , VI 403). Der Mensch als Vernunftwesen besitzt als Gemütsanlage das Gefühl der Achtung, ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen …, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden“, wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt (GMS, IV 401 Anm.). Diesen Zusammenhang zwischen dem Moralgesetz und der Achtung für die Person hebt er nun noch einmal hervor: „[D]as Gesetz in ihm [dem Menschen, A.S.] zwingt ihm unvermeidlich Achtung für sein eigenes Wesen ab“ (TL,VI 402 f.). Inwiefern die Achtung für sich selbst als Vernunftwesen eine Voraussetzung für den Pflichtbegriff ist, betont Kant indem er schreibt: „[E]r muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“ (403). Hinsichtlich der hier eingeführten Gemütsanlagen des Menschen bleibt unklar, wie es möglich sein kann, dass Kant diese moralischen Beschaffenheiten des Menschen als Voraussetzung für die Affizierbarkeit durch den Pflichtbegriff annimmt und immer wieder betont, dass sie zu haben keine Pflicht sein kann – und er zugleich von einer Pflicht zur Kultivierung dieser Beschaffenheiten ausgeht, etwa der Stimme des Gewissens (401). Die Liste der Gemütsanlagen des Menschen ist zudem, wie aus dem Vorangegangenen ersichtlich wird, recht heterogen. Die Anlagen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Status, da einige von ihnen primär auf die Wirksamkeit des praktischen Gesetzes bezogen zu sein scheinen, wie etwa die Achtung, andere beziehen sich auf die Qualifizierung und Güte von Handlungen, wie das Gewissen. Und doch eint diese Anlagen ihre Funktion, die sie innerhalb von Kants Systems der Tugendlehre einnehmen. Ihre Einführung geschieht in der Einleitung zur Tugendlehre, sie stehen neben wesentlichen Begriffen wie der Tugendpflicht, dem Tugendprinzip und grundlegenden Unterscheidungen hinsichtlich der Pflichtarten. Sie sind somit systematischer Teil von Kants Darlegung seiner theoretischen Vorannahmen für die Ausformulierung seiner Ethischen Elementarlehre, darüber hinaus sind sie als wichtige Bestandteile von Kants Beschreibung moralischen Handelns zu sehen (vgl. Falduto 2014, 204–241).
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Literatur Falduto, A. 2014: The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy, in: M. Baum, H. Dörflinger, H. Klemme (Hrsg.), Kantstudien-Ergänzungshefte Bd. 177, Berlin. Guyer, P. 2016: Kant on Moral Feelings: From the Lectures to the Metaphysics of Morals, in: Ders., Virtues of Freedom. Selected Essays on Kant, Oxford. 235–259. Höffe, O. 1999: Der kategorische Rechtsimperativ. ‚Einleitung in die Rechtslehre‘, in: Ders. (Hrsg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin, 41–62. Kersting, W. 1982: Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. Kant und die Pflichtenlehre des 18. Jahrhunderts, in: Studia Leibnitiana, 14/1982. Klemme, H. 2016: Gewissen und Verbindlichkeit. Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith, in: S. Josifović, A. Kok (Hrsg.), Der innere Gerichtshof der Vernunft, Leiden, 63–83. Steigleder, K. 2002: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart.
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5 Kants ethische Pflichtenlehre und der Begriff der Tugend (Einleitung zur Tugendlehre, XIII–XVIII)¹ Die Einleitung zur Tugendlehre als Ganzes dient der Darstellung der zentralen Positionen, welche die Tugendlehre als ethischen Teil des „System[s] der allge- meinen Pflichtenlehre“ (379) charakterisieren. Der Nachvollzug des Argumenta- tionsgangs ist nicht immer einfach, die offenkundigen „Inkohärenzen des Textes“ der Einleitung in die Tugendlehre könnten – wie Bernd Ludwig vermutet hat – darin begründet sein, „daß der Text [der Einleitung zur Tugendlehre, D. H.] aus z.T. schon länger bei Kant bereitliegenden Teilen zusammengesetzt wurde und eine gründliche Zusammenarbeitung zu einer Gesamtkonzeption unterblieben ist“ (Ludwig 1990, XXIII). Die Abschnitte XIII – XVIII der Einleitung behandeln im Rahmen dieser allgemeinen Aufgabenstellung in der Hauptsache drei für das Verständnis des kantischen Projekts einer Tugendlehre konstitutive Themen: 1. den Begriff der Tugend innerhalb einer ethischen Pflichtenlehre, 2. die systematischen Voraus- setzungen der Tugendpraxis und 3. die Prinzipien der Einteilung der Tugendlehre. Bernd Ludwig hat in seiner Neuedition der Tugendlehre den Abschnitt „Von der Tugend überhaupt“ als neuen Abschnitt XIV bezeichnet und damit die Zählung der Akademie-Ausgabe verändert (Ludwig, 1990, XXVII). Werner Euler dagegen erachtet diesen Eingriff „weder für erforderlich noch für überzeugend“ (Euler 2012, 250), weil der besagte Abschnitt – ähnlich wie dies auch in Abschnitt XIV der Fall sei – eine bloß erläuternde Anmerkung zum Haupttext darstelle. Euler hat darüber hinaus eine „kritische Auseinandersetzung mit Ludwigs Kritik am Text- korpus“ der Tugendlehre angekündigt, die m. W. aber bisher nicht erschienen ist. Der Einfachheit halber bleibe ich bei der Zählung der Akademie-Ausgabe. Der Darstellung Eulers verdankt die vorliegende Abhandlung wichtige Anregungen.
1 Ich danke den Mitgliedern des Trierer Forschungskolloquium und insbesondere Kristina Engelhard für hilfreiche Kritik und Verbesserungsvorschläge. https://doi.org/10.1515/9783110786958-007
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5.1 Die Abgrenzung der Tugendlehre gegenüber der Tradition Der XIII. Abschnitt formuliert unter dem Titel „Allgemeine Grundsätze der Metaphysik der Sitten in Behandlung einer reinen Tugendlehre“ drei methodische Überlegungen. Über die systematische Absicht dieser Grundsätze gibt Kant selbst nur bedingt Auskunft. Er beginnt jedenfalls seine Ausführungen ohne irgendeine Anknüpfung an vorhergehende Überlegungen. Es ist aber aufgrund der Überschrift klar, dass es sich um allgemeine Methodengrundsätze handelt. Sie verdanken sich, wie Kant an späterer Stelle betont, der Absicht, die Ethik „nur so fern sie Wissenschaft sein soll“ (412), darzustellen. Ob er mit der Art und Weise, wie er in der Tugendlehre die ethischen Probleme be- handelt, seinem eigenen Anspruch der „methodischen Zusammensetzung aller Sätze“ (412) hinreichend Rechnung getragen hat, steht auf einem anderen Blatt (zur Kritik, s. Gloy 2013, 195 f.: „Kant’s introduction of his three principles of ‚handling a pure doctrine of virtue’ and their opposite principles is systematically imbalanced and cryptic in parts. The respective antitheses do not match well with the theses and are thus particularly in need of discussion“). Die „allgemeinen Grundsätze in Behandlung einer reinen Tugendlehre“, die Kant in den sog. Vorarbeiten zur Tugendlehre noch als „Postulate“ (Vorarbeiten, XXIII 397) bezeichnete, sind folgende: 1. „Für Eine Pflicht kann auch nur ein einziger Grund der Verpflichtung ge- funden werden“ (403), 2. „Der Unterschied der Tugend vom Laster kann nie in Graden der Befolgung gewisser Maximen, sondern muß allein in der spezifischen Qualität derselben […] gesucht werden“ (404; vgl. Vorarbeiten, XXIII 388), 3. „die ethischen Pflichten müssen nicht nach den dem Menschen beigelegten Vermögen dem Gesetz Genüge zu leisten, sondern umgekehrt: das sittliche Vermögen muß nach dem Gesetz geschätzt werden, welches kategorisch gebietet“, d. h. gemäß der rein rationalen Erkenntnis der „Idee der Menschheit“ (404 f.). Wie die Hervorhebung der Überschrift deutlich macht, geht es Kant um den Aspekt der Reinheit der Tugendlehre. Die geforderte Reinheit soll 1. durch die Einheit des Verpflichtungsgrundes, 2. durch die Ablehnung der graduellen Unterscheidung von Tugend und Laster sowie 3. durch die Ablösung der Pflichtenbegründung von der empirischen Natur des Menschen gewährleistet werden. Diesen „drei Maximen der wissenschaftlichen Behandlung einer Tugendlehre“ (405) kommt explizit eine kritisch-abgrenzende Funktion zu, denn sie werden den „älteren Apophthegmen entge-
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gengesetzt“, die Kant offenbar als charakteristisch für die ältere, d. h. auf die antiken Vorbilder zurückgehende Moralphilosophie betrachtet. Die antiken Grundsätze, gegen die sich Kant wendet, lauten: „1) Es ist nur eine Tugend und nur ein Laster.² 2) Tugend ist die Beobachtung der Mittelstraße zwischen entgegengesetzten Meinungen. 3) Tugend muß (gleich der Klugheit) der Erfahrung abgelernt werden“ (405; vgl. auch die Vorarbeiten, XXIII 397 f.). Der erste Grundsatz betrifft das Verhältnis des Verpflichtungsgrundes und der aus ihm hervorgehenden Pflicht. Kant behauptet nun, dass es in dieser Hinsicht „für Eine Pflicht“ auch nur einen einzigen Beweisgrund, eben spezifischen „Grund der Verpflichtung“ geben könne, weil moralische Beweise zur „Vernunfterkenntnis aus Begriffen“ gehören (403; so schon die Formulierung aus der Vorrede der Tugendlehre: 375; vgl. auch RL, VI 224. Diese Aussage scheint allerdings auf den ersten Blick der zuvor in Abschnitt IX. aufgestellten Behauptung zu widersprechen, dass das „oberste Prinzip der Tugendlehre“ keinen Beweis verstatte, wohl aber „eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft“; 395). Bereits im Hinblick auf das Problem eines „Widerstreit[s] der Pflichten“ hatte Kant hervorgehoben, dass ein solcher Widerstreit nur scheinbar sei, insofern bei unterschiedlichen Gründen der Verbindlichkeit der jeweils „stärkere Verpflichtungsgrund“ den Ausschlag gibt. Im XVII. Abschnitt wird diese Auffassung bekräftigt, wenn Kant erklärt: es gebe „nur Eine Tugendverpflichtung, aber viel Tugendpflichten“ (410).³² Die Einheit des Beweisgrundes
2 Zu dieser stoischen Position vgl. Cicero, 1993, 61 (S. 575): „[A]lle Fehler seien gleich schlimm; jedes Vergehen sei ein ruchloses Verbrechen; wer ohne Not einen Haushahn töte, fehle nicht minder als derjenige, der seinen Vater erdrosselt“ (omnia peccata esse paria; omne delictum scelus esse nefarium, nec minus delinquere eum qui gallum gallinaceum, cum opus non fuerit, quam eum qui patrem suffocaverit“), lauteten die stoische „praecepta“ Zenons (vgl. auch Diogenes Laertios 1967,VII, 120). Sie wurde von vielen neuzeitlichen Naturrechtslehrern kritisiert: z. B. Hobbes, 1991, 207. Auch Hegel lehnt die abstrakte Vergehenslehre der Stoa ab, denn es macht für die Beurteilung der Schwere des Verbrechens „einen Unterschied, ob solches Daseyn und dessen Bestimmtheit überhaupt in ihrem ganzen Umfang, […] oder nur nach einem Theile, so wie nach welcher qua- litativen Bestimmung verletzt ist. Die stoische Ansicht, daß es nur eine Tugend und ein Laster gibt, die drakonische Gesetzgebung, die jedes Verbrechen mit dem Tode bestraft, wie die Rohheit der formellen Ehre, welche die unendliche Persönlichkeit in jede Verletzung legt, haben dies gemein, daß sie bei dem abstrakten Denken des freien Willens und der Persönlichkeit stehenbleiben“ (Hegel 2009, § 96). 3 Vgl. hierzu Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV (RL, VI 222): Zu einer Pflicht kann man aber „auf verschiedene Art“ verbunden werden, nämlich je nachdem, ob es sich um eine rechtliche oder ethische Verbindlichkeit handelt. Das scheint Werner Euler in seinem Kommentar zu verkennen, wenn er im Hinblick auf Kants Ausführungen über Einheit der Tugendverpflichtung und die Pluralität der Tugendpflichten erklärt, die „Art der Verpflichtung ist in der Ethik (im allgemeinen) stets dieselbe“ (Euler 2012, 268) und die Differenzierung nur Rechts- und Tugendpflichten bezieht. Dagegen lassen
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erläutert Kant am Beispiel der „Pflicht der Wahrhaftigkeit“. Hier könnte zum einen der „Schaden, den die Lüge andern Menschen verursacht“, oder aber die „Nichtswürdigkeit eines Lügners“ als verschiedene Beweisgründe angeführt werden. Aber solche Überlegungen führten in die Irre, weil im Falle der Reflexion auf den Schaden die moralische Pflicht zur Wahrhaftigkeit durch die „Pflicht des Wohlwollens“ ersetzt werde, also diese Pflicht gar nicht eigenständig begründet, sondern bloß auf eine andere zurückgeführt werde. Das gleiche gilt für den zweiten Fall der Nichtswürdigkeit des Lügners, weil hier an die Stelle der Pflicht zur Wahrhaftigkeit auf die „Verletzung der Achtung gegen sich selbst“ verwiesen wird (403). Kants Forderung nach der Einheit des Verpflichtungsgrundes macht deutlich, dass er in der Bestimmung der Termini Verbindlichkeit (obligatio) und Pflicht (officium) dem moralphilosophischen Verständnis der Wolffschen Schule folgt. Wie dessen Philosophia practica universalis unterscheidet Kant zwischen der Verbindlichkeit („obligatio ethica“; 410), welche „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ (RL,VI 222) ausdrückt, und der Pflicht („officium ethicum s. virtutis“; 410), welche die aufgrund der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes geschuldete „Handlung, zu welcher jemand verbunden ist“ (RL, VI 222), bezeichnet. Kant bezeichnet die Pflicht auch als „Materie der Verbindlichkeit“ (ebd.). Dennoch bleibt unklar, gegen welche Lehre der Tradition sich der erste Grundsatz mit seiner Forderung nach der Einheit des Verpflichtungsgrundes eigentlich wendet: Zwar gingen z. B. die Stoiker davon aus, dass es nur eine Tugend und nur ein Laster gäbe, aber dasjenige, was Kant selbst im ersten „allgemeinen Grundsatz“ behandelt, ist nicht der Gedanke der Einheit des Tugend- bzw. des Lasterbegriffs, sondern die Einheit des Beweisgrundes (Gloy 2013, 196). Der zweite Grundsatz betrifft den „Unterschied der Tugend vom Laster“. Hier liefert Kant eine Kritik des aristotelischen mesotes-Prinzips (Nikomachische Ethik, II, 6) – übrigens eine Einschätzung: Der „belobte Grundsatz (des Aristoteles)“, nach welchem die Tugend „in dem Mittleren zwischen zwei Lastern zu setzen“ sei, wird explizit als „falsch“ zurückgewiesen (TL, VI 404). Die gewöhnlichen, „ethisch-klassischen Formeln“, die sich bei Ovid, Horaz u. a. finden (vgl. die sachlichen Erläuterungen: 525; Gloy 2013, 200), enthalten nur eine „schale Weisheit“ (TL,VI 404 Anm.). Für Kant ist die Suche nach der rechten Mitte der Tugend zwischen zwei Lastern bzw. zwei möglichen Verfehlungen des Guten deshalb unangemessen, weil – wie er am Beispiel der Bestimmung der Sparsamkeit als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung erläutert – die beiden genannten Extreme nicht ein zuviel oder zuweit
sich die beiden Abteilungen der praktischen Philosophie so- wohl nach der „Art der Verpflichtung“ (220) als auch nach den spezifischen Pflichten unter- scheiden.
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einer an sich richtigen Mitte darstellen, sondern vielmehr auf einem „anderen Prinzip“ bzw. Maxime beruhen. Die Maxime der Sparsamkeit selbst – so ließe sich ergänzen –, „den Zweck der Haushaltung nicht im Genuß des Vermögens, sondern mit Entsagung auf denselben bloß im Besitz desselben“ zu setzen (404), ist aber keine moralische Maxime, sondern eine der bloßen Klugheit. Es muss allerdings bezweifelt werden, dass Kant mit seinem Verständnis des „belobten Grundsatzes“ des Aristoteles dessen Intentionen getroffen hat. Während bei Aristoteles mesotes „das Mittlere im Sinn des Richtigen“ (Wolf 1995, 90; Gloy 2013, 199 f.) bezeichnet, hält Kant die Mitte offenbar für den arithmetischen Mittelwert, der quantitativ durch ein zuviel bzw. zuwenig bestimmt werden kann, also einer einer „Verminderung“ bzw. „Vermehrung“ (404) fähig ist. Mit dem dritten Grundsatz reflektiert Kant die Positionen des Eudämonismus, wie er sie wiederholt am Beispiel Christian Garves kritisiert hatte. Einer der Einwände Garves gegen die Ethik Kants lautete, dass unabhängig von dem sub- jektiven Streben nach Glückseligkeit keine moralische Motivation möglich sei, weshalb auch der Tugendhafte „seine Folgsamkeit gegen das Sittengesetz immer in der Beziehung auf sein Wohlseyn, mit welchem sie eine natürliche, in der Vernunft gegründete Verbindung hat“ (Garve 1792, 112, zu Kants Kritik an Garve vgl. Hüning 2021), denke. Die Glückseligkeit ist insofern Bedingung und Schranke der Moralität bzw. das „Vermögen[,] dem Gesetze Genüge zu leisten“ der Grund der Möglichkeit von Pflichten darstelle. Kant nimmt im Sinne der von ihm geforderten „Reinheit“ und Unabhängigkeit der Moralbegründung von allen empirischen Voraussetzung eine nicht bloß terminologische, sondern systematische Umkehrung des Verhältnisses vor. Die Quelle der Bestimmung ethischer Pflichten geschieht notwendigerweise „nicht nach der empirischen Kenntnis, die wir vom Menschen haben“, sondern vielmehr „nach der rationalen […] Idee der Menschheit“, so dass der letzte Grund der Moral eine metaphysische Idee sein muss (404 f.; vgl. Gemeinspruch, VIII 288).
5.2 Tugend- oder Pflichtenlehre? Es folgt im XIII. Abschnitt der Einleitung eine grundsätzliche Überlegung Kants unter der Überschrift „Von der Tugend überhaupt“ (405 f.; vgl. hiermit die Vorarbeiten, XXIII 396 f.), in welcher Kant seine Tugendkonzeption darlegt. Man kann an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob die Benennung des zweiten Bandes der Metaphysik der Sitten als Tugendlehre eine glückliche Entscheidung war. Denn Kant selbst macht darauf aufmerksam, dass die Tugendlehre als zweiter Teil des „System[s] der allgemeinen Pflichtenlehre“ (379) nicht eigentlich von Tugenden, sondern von den ethischen Pflichten und insbesondere von den Tugendpflichten im Unterschied zu den juridischen Pflichten handelt. Dementsprechend beginnt seine
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„Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre“ mit einer Definition des Pflichtbegriffs: „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein“ (379). Die klassischen Tugenden werden zwar genannt bzw. als bekannt vorausgesetzt, aber sie stehen nicht im Zentrum der systematischen Überlegungen Kants. Drei der vier Kardinaltugenden – Tapferkeit (fortitudo moralis): 380, 405; Mäßigung: 409; Weisheit: 405 – finden in der Einleitung zur Tugendlehre wenigstens Erwähnung, aber ihre jeweilige Besonderheit spielt bei Kant keine wesentliche Rolle. Dies liegt daran, dass es für Kant – wie schon angedeutet wurde – nur einen einzigen Verpflichtungsgrund der ethischen Pflichten gibt und diese aus dem „einigen Princip der Tugend“ (406) hervorgehen; wenn dennoch – „wie es denn unvermeidlich ist“– von einer „Mehrheit der Tugenden“ gesprochen wird, dann verdankt sich diese Redeweise nur der Betätigung der Tugend in Bezug auf „verschiedne moralische Gegenstände“ (ebd.). Auffallend ist demgegenüber Kants durchgängiges Schweigen zum Problem der Gerechtigkeit als einer der Kardinaltugenden. Erst in der „Schlußanmerkung“ der Tugendlehre kommt Kant auf die Gerechtigkeit, allerdings bloß auf die göttliche, zu sprechen (488 f.). Ich vermute, dass dieses Schweigen über die Gerechtigkeit durch die Hobbessche Erbschaft innerhalb der Rechtsphilosophie Kants bedingt ist: Der Ort, an welchem Kant die Gerechtigkeit systematisch abhandelt, ist die Rechtslehre: der rechtliche Zustand ist identisch mit der distributiven bzw. der „öffentliche[n] Gerechtigkeit“. Das suum cuique tribue interpretiert Kant in der Nachfolge von Hobbes als die Forderung, aus dem Naturzustand als „Zustand der Rechtlosigkeit“ (RL, VI 312; § 44) in einen „rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, über[zu]gehen“ (RL, VI 3 0 7; § 42; vgl. Hüning 1998). Der Sache nach hätte für den zweiten Band der Metaphysik der Sitten eher der Titel „Ethische Pflichtenlehre“ nahe gelegen.⁴ Wir finden im Text der Tugendlehre den erklärenden Hinweis, warum sich Kant für den Titel ’Tugendlehre’ entschieden hat. Kant unterscheidet die Tugendlehre von der bloßen Sittenlehre: „Für endliche heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht nicht einmal versucht werden können) giebt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben, d. i. ein […] aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz wider-
4 In diesem Sinne spricht auch J. Chr. Schwab in seiner Rezension der Metaphysik der Sitten von der Tugendlehre als der „Lehre von den ethischen Pflichten“ (Schwab 1804, 304). Übrigens spricht auch Kant selbst – worauf schon Bernd Ludwig in seiner Ausgabe der Tugendlehre hingewiesen hat (Bernd Ludwig, Einleitung, S. XXIIf.) − in den beiden Schemata bzw. Tafeln („Erste Einteilung der Ethik“: 413; „Tafel der Einteilung der Ethik“: 492 f.) − jeweils von „Ethik“, nicht von „Tugendlehre“.
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spenstige Neigungen Meister zu werden“ (383). Wenn „in den alten Zeiten“ (379) nur von der „Sittenlehre (philosophia moralis) überhaupt“ (379) als bloßer Doktrin der Pflichten die Rede war, dann deswegen, weil zu dieser Zeit noch nicht der Gedanke der Selbstherrschaft (Autokratie) durch Überwindung der Moralwidrigkeit der Neigungen ausgeprägt war. Wenn Kant wenig später erklärt, dass „aber die Ethik eine Tugendlehre (doctrina officiorum viturtis) sei, folgt aus der obigen Erklärung der Tugend [als der ‚sittlichen Gesinnung in uns’ im Bewusstsein der „Hindernisse der Pflichtvollziehung“, D. H.] verglichen mit der Verpflichtung“ (381), so unterstreicht er damit erneut, dass der zweite Teil der Metaphysik der Sitten mehr sein will, als bloße Pflichtenlehre. Ausschlaggebend für die Titelgebung war somit die Auffassung Kants, dass Sittlichkeit auf dem moralischen Gesinnung, d. h. auf dem Bewußtsein der sittlichen Unangemessenheit der Neigungen (bzw. auf dem Bewusstsein der „Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüth des Menschen“ (380) und der Notwendigkeit ihrer durch das selbst gegebene Gesetz „Meister zu zu werden“, beruht. Sollte Kants Ethik deshalb nicht eher als eine Ethik der Autokratie als eine Ethik der Autonomie bezeichnet werden? Die systematische Orientierung der Moralphilosophie am Begriff der Pflicht bzw. an der Begründung der Verbindlichkeit moralischer Gesetze bei gleichzeitiger Abkehr von der aristotelisch geprägten Tugendethik gehört zu den Innovationen der neuzeitlichen Naturrechtslehre und damit der neuzeitlichen Moralphilosophie. Samuel Pufendorf hat diese Neuorientierung der Moralphilosophie in einem Brief an Christian Thomasius folgendermaßen begründet: „Sonsten halte ich bey vernunftigen leuten für ein starck argument, daß man die morale nach den undecim virtutibus Aristotelicis nicht einrichten soll, wenn ich demonstriren kann, daß sie nur auf gewisse art von republiquen paßen. Vnd ist in universum meine meinung, daß man die morale nicht secundum virtutes sed secundum officia einrichten und tractiren soll“ (Pufendorf 1897, 23). Die Unterscheidung zwischen Pflichten- und Tugendlehre kommt auch in Kants Definition, dass „die Ethik eine Tugendlehre (doctrina officiorum virtutis) sei“ (381), zum Ausdruck, denn die Ethik als „doctrina officiorum virtutis“ lehrt eben in erster Linie Pflichten. Heiner Klemme hat in diesem Band in seinem Kommentar zur Vorrede der Tugendlehre darauf hingewiesen, dass Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft zwischen reiner Moral und Tugendlehre unterschieden hatte, wobei die letztere die „Hindernisse der Gefühle, der Neigungen und Leidenschaften“ im Hinblick auf die Befolgung des moralischen Gesetzes zum Gegenstand hat (KrV, B 79). Die Tugendlehre von 1797 beruht jedoch nicht auf einer derartigen Unterscheidung; Kant scheint hier vielmehr reine Moral und Tugendlehre in der skizzierten Bedeutung vereinigt zu haben.
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5.3 Der Begriff der Tugend Mit Blick auf die klassische Tugendethik könnte man bei Kant von einer Formalisierung des Tugendbegriffs sprechen, denn die Tugend wird von Kant systematisch dem moralischen Gesetz untergeordnet: Die Tugend als erworbene Disposition angesichts der moralwidrigen Neigungen setzt immer schon das moralische Gesetz als seinen geltungstheoretischen Referenzpunkt voraus; der subjektiven Tugendgesinnung geht also geltungslogisch die „objektive Nötigung durchs Gesetz d. i. Pflicht“ (Vorarbeiten, XXIII 396) voraus. Und nur diese geltungslogische Priorität des Pflichtbegriffs erlaubt es, die Moralphilosophie auf das Prinzip der Autonomie zu gründen. Nur dann ist auch gewährleistet, dass dieses Prinzip als Grundlage sowohl der Gesetzgebung als auch des Gesetzesvollzugs gedacht werden kann, eben weil der Pflichtbegriff nichts anderes ist als die „moralische Nötigung“ des Menschen „durch seine eigene gesetzgebende Vernunft, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert“ (405). Bereits zu Beginn des IX. Abschnitts hatte Kant die Tugend als „die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (394; vgl. auch 477: Tugend ist die „Stärke des Vorsatzes in dem Streit mit so mächtigen entgegenstehenden Neigungen“; Denis 2013, 159–163) definiert. Ähnlich sind die Bestimmungen der Tugend in der Kritik der praktischen Vernunft als die „moralische Gesinnung im Kampfe“ (KpV,V 84) bzw. in der Religionsschrift als „Angemessenheit der Gesin- nung zum Gesetze der Pflicht“ (Rel., VI 37) bezeichnet. Eine solche Angemes- senheit der Gesinnung an das moralische Gesetz bezeichnet Kant auch als die „höchste … Stufe“ der für Menschen erreichbaren Moralität; derjenige, der die- ses „Ideal“ zu erreichen scheint, wird „unter dem Namen des Weisen dichterisch personifiziert“ (383). Ihre „wahre Stärke“ entfaltet die Tugend, wenn sie „das Gemüt in Ruhe mit einer überlegten und festen Entschließung ihr Gesetz in Ausübung zu bringen“ vermag (409). Die tradierte Konzeption der Tugend unterzieht Kant in der Anmerkung „Von der Tugendlehre nach dem Prinzip der inneren Freiheit“ (407) einer um- fassenden Kritik. Schon im II. Abschnitt der Einleitung zur Tugendlehre hatte Kant die Auffassung, Tugend sei als bloß „Fertigkeit“ im Sinne der „Leichtigkeit zu handeln“ (407) bzw. als eine „lange, durch Übung erworbene Gewohnheit moralisch-guter Handlungen“ zu verstehen, zurückgewiesen (383). Ein solches „gewohnheits- mäßiges Wohlverhalten“ (Städtler 2011, 293) hätte keinen moralischen Wert, weil es sich nicht um eine Konsequenz des moralisch motivierten Wollens bzw. nicht um eine „Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze“, sondern bloß um eine Art „Mechanism aus technisch-praktischer Vernunft“ (384) handeln würde. Der springende Punkt für Kant besteht also darin, dass die Tu- gend als „Fertigkeit“ keine „freie“ oder „moralische Fertigkeit“ darstellt, sondern bloß eine
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geistlose „Angewohnheit“, die beständige Wiederholung eine „zur Notwendigkeit gewordene Gleichförmigkeit“ wird. Der Differenz von bloßer „Angewohnheit“ und „moralischer Fertigkeit“ entspricht ihre unterschiedliche handlungstheoretische Verortung: Die bloße „Angewohnheit“ bezeichnet nur eine psychologische „Beschaffenheit der Willkür“, während die „moralische Fertigkeit“ die Bestimmung des „Willens“ durch die bloße „Vorstellung des Ge- setzes im Handeln“ betrifft. Nur in dieser Hinsicht – so Kant weiter – gehört die Tugend zur „inneren Freiheit“ (407). Oder anders ausgedrückt: Tugend muss „auf innerer Freiheit gegründet“ sein (408). Sittliche Maximen – so betont Kant an späterer Stelle – können „nicht so wie technische auf Gewohnheit gegründet“ werden. Sie beruhen vielmehr auf der autonomen moralischen Entscheidung des Subjekts, das als moralisches von seiner „Freiheit in Annehmung seiner Maximen“ Gebrauch macht, während es bei einer bloß anerzogenen Gewohnheit eben diese Freiheit verlieren würde (409). Insofern Tugend “,moralische Stärke des Willens„ (405) und “Tapferkeit„ (380, 405; vgl: “Tapferkeit ist gesetzmäßiger Mut, in dem, was Pflicht gebietet, selbst den Verlust des Lebens nicht zu scheuen“; Anthr.,VII 259) im Kampf des um seine Moralität besorgten Subjekts gegen seine widerstreitenden Neigungen ist, erfordert sie eine beständig zu erneuernde und zu bekräftigende Gesinnung der Befolgung des moralischen Gesetzes, sie hebt deshalb „auch immer von vorne an“ (409). Zur Einschätzung, welchen Herausforderungen das moralische Subjekt jeweils durch die sinnlichen Antriebe ausgesetzt ist, und zur angemessenen Bestimmung der Reichweite und des Umfangs der Tugendpflichten bedarf es der „Urteilskraft“ (411). In Abschnitt IX finden wir eine positive Bestimmung der Tugend als „die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (394) bzw. als „die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht“ (395). Hier heißt es nun: „Tugend bedeutet eine moralische Stärke des Willens“. Aber diese Bestimmung wird nun als nicht erschöpfend betrachtet. Denn der entscheidende Punkt ist, dass sich die Stärke des Willens gegenüber einem die Befolgung des moralischen Gesetzes „hindernden Antrieb“ bewährt. Diese Konstellation betrifft aber nur den Menschen, nicht ein „heiliges Wesen“, dem zwar auch eine solche Stärke, aber eben kein widerstreitendes unmorali- sches Motiv zugesprochen werden kann. Tugend erscheint deshalb als eine mo- ralische Kampfaufgabe, sie wird erreicht in dem beständigen „Kampf gegen die Einflüsse des bösen Prinzips im Menschen“ (440) bzw. im Kampf gegen einen „starken, aber ungerechten Gegner“ (380).
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5.4 Die systematischen Voraussetzungen der Tugendpraxis: innere Freiheit und Apathie (Abschnitte XIV-XVI) In Abschnitt XIV der Einleitung in die Tugendlehre behandelt Kant zunächst das „P r i n c i p der Absonderung der Tugendlehre von der Rechtslehre“ (406). Gemeinschaftlich ist beiden Teilen der Sittenlehre, dass diese die „reine[n] praktische[n] Vernunftgesetze für die freie Willkür überhaupt“ enthält (RL,VI 214) und dass diese Vernunftgesetze somit den „Begriff der Freiheit“ voraussetzen. Insofern erklärt Kant, dass von der Freiheit „alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen“ (RL, VI 239). Nun kann aber der Freiheitsgebrauch – wie Kant schon im ersten Abschnitt der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ dargelegt hatte – ein äußerer oder ein innerer sein: Kant unterscheidet dort (RL,VI 214) zwischen der „Freiheit im äußeren Gebrauche“ und dem „innern Gebrauch der Willkür …, sofern sie durch Vernunftgesetze bestimmt wird“. Diese „Absonderung“, die nach Kant zugleich den Grund der „Obereintheilung der Sittenlehre überhaupt“ bildet, unterscheidet die beiden Normierungssphären der Metaphysik der Sitten. Aus diesen unterschiedlichen Normierungshinsichten folgt wiederum die spezifische Differenz von Rechts- und ethischen Pflichten. Auf den ersten Blick scheint es nicht ganz einsichtig, warum Kant an dieser Stelle dieses Problem, über das er schon ausführlich in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten gehandelt hatte, erneut thematisiert und nicht einfach auf die einschlägigen Ausführungen aus der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ verweist. Man kann zunächst konstatieren, dass dies zum einen Kants durchgängiger Praxis entspricht, in der Tugendlehre nicht auf den ersten Band der Metaphysik der Sitten zurückzuverweisen und auch den systematischen Zusammenhang beider Teile nur anzudeuten. Man muss aber zum anderen im Auge behalten, was Kant in den Abschnitten XV – XVI zeigen will: In ihnen werden zwei konstitutive Voraussetzungen der Tugend als „einer moralischen Stärke des Willens“ (405) − innere Freiheit als Bedingung der Herrschaft über sich selbst sowie Apathie − behandelt. Der Abschnitt XIV dient insofern der Erinnerung des Lesers an den Umstand, dass die Tugendlehre insgesamt auf dem „Princip der inneren Freiheit“ (407) beruht und sie sich dadurch von der Rechtslehre unterscheidet. Ganz folgerichtig verweist schon der letzte Abschnitt der Anmerkung „Von der Tugendlehre nach dem Princip der inneren Freiheit“ (ebd.) auf die Themen der beiden folgenden Abschnitte XV. und XVI., nämlich auf die beiden „Stücke“, welche die innere Freiheit ausmachen: erstens Herrschaft über sich selbst sowie zweitens Zähmung der Affekte und Beherrschung
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der Leidenschaften (ebd.). Offenbar hielt es Kant an dieser Stelle nicht für erforderlich, das „Princip der inneren Freiheit“ näher zu begründen. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Hinsicht der Sache nach psychologische und moralpädagogische Fragen der Moralität auftauchen: Wenn Tugend „sittliche Stärke“ (405) in Überwindung „gesetzwidriger Gesinnungen“ ist, dann stellt sich die Frage, wie und durch welche Praktiken ein Mensch diese Willensstärke erwerben kann und wie er das „Gemüt in Ruhe“ (409) versetzen kann, die erforderlich ist, um das Sittengesetz trotz vorhandener „sinnlicher“ Eindrücke „in Ausübung zu bringen“ (409). Mit dem Hinweis, dass es hierzu einer „festen Entschließung“ (ebd.) bedarf, wird auf die ethische „Asketik“ als Kultivierung „der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen“ bzw. als Erwerb der „Kraft zur Ausübung der Regeln“ (477) verwiesen. Eine solche Kultivierung setzt die „Entschließung“ (ebd.), sich in seinem inneren Freiheitsgebrauch nur durch moralische Prinzipien bestimmen zu lassen, voraus. An späterer Stelle spricht Kant von der „ethische[n] Gymnastik“, die darin „in der Bekämpfung der Naturtriebe [besteht],die das Maß erreicht, über sie bei vorkommenden, der Moralität Gefahr drohenden Fällen Meister zu werden“ (485). Abschnitt XV führt die Überlegungen zur Tugend als Weise der Betätigung der inneren Freiheit fort. Der Abschnitt beginnt mit einer psychologischen Unterscheidung der ‚Gemütsbewegungen’ der Affekte und Leidenschaften.⁵ Affekte und Leidenschaften sind für Kant „Gemüths Bewegungen“, die sich aus unterschiedlichen Quellen – Gefühl und Begierde – speisen. Affekte beruhen auf der „Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts (animus sui compos) aufgehoben wird“ (Anthr., VII 252); sie „gehören zum Gefühl, so fern es, vor der Überlegung vorhergehend, diese selbst unmöglich oder schwerer macht. […] Leidenschaft dagegen ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (z. B. der Haß im Gegensatz des Zorns)“ (GMS, IV 408; vgl. Anthr., VII 252). Affekte und Leidenschaften weisen einen unterschiedlichen Zeitbezug auf: Während der Affekt „auf das Gegenwärtige“ geht, bezieht sich die Leidenschaft (z. B. die „Sehnsucht“) auf einen zukünftigen Zustand. In der Anthropologie-Vorlesung Friedländer vom Wintersemester 1775/76 hatte Kant noch angenommen, dass „[b]eydes sowohl Affecten als Leiden-
5 Die Unterscheidung zwischen Affekt und Leidenschaft bzw. zwischen Gefühl und Begierde findet sich sowohl in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 251 ff.) als auch in den Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie. Kant ist der Ansicht, dass diese Unterscheidung zuerst von Francis Hutcheson vorgenommen wurde, so z. B. KU, V 272 Anm., Anthropologie Friedländer XXV 589, Menschenkunde XXV 302: „Affect ist ein Gefühl, das uns außer Fassung setzt, Leidenschaft hingegen eine Begierde, die sich unserer bemeistert, Hutcheson hat diesen Unterschied zuerst bemerkt.“ Vgl. zu der Art und Weise, in welcher sich Kant auf Hutcheson bezieht und sich dadurch zugleich von Wolff und Baumgarten distanziert die differenzierte Analyse von Baum 2006/2020, S. 121−125. Zur Thematik vgl. außerdem Frierson, 2014.
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schaften […] Gemüths Bewegungen und nicht daurender Zustand“ sind (XXV 589). Demgegenüber betrachtet Kant in der Tugendlehre die Leidenschaft im Unterschied zum Affekt als „die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (z. B. der Haß im Gegensatz des Zorns)“ (408). Gerade wegen ihrer unterschiedlichen Dauer sind beide im verschiedenen Maße moralwidrig. Weil die Leidenschaft auf Überlegung beruht, wird in ihr das Böse in die Handlungsmaxime aufgenommen. Sie ist deshalb als ein „qualificirtes Böse[s], d. i. [als] ein wahres Laster“ zu betrachten. Verglichen mit dem Laster der Leidenschaft ist die Schwächung der Überlegung durch Affekt, „verbunden mit der Stärke der Gemütsbewegung, nur eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann“ (408). Affekt und Leidenschaft unterscheiden sich also voneinander als Mangel bzw. als Gegensatz der Tugend. Das Beherrschtwerden durch Affekte als „unglückliche[n] Gemütsbestimmungen“ (Anthr., VII 267) ist insofern eher entschuldbar, da sie „ehrlich und offen“ sind, während sich die Leidenschaften als „hinterlistig und versteckt“ (Anthr., VII 252) erweisen. Auch im Hinblick auf die Gemütsbewegunngen der Affekte und Leidenschaften betont Kant die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung. Die Tugend beruht auf einem „bejahende[n] Gebot“ der praktischen Vernunft, dass der Mensch „alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt“ bringt und somit „Herrschaft über sich selbst“ (408) ausübt. Die Forderung, „daß die Vernunft die Zügel der Regierung [über Affekte und Leidenschaften, D. H.] in ihre Hände“ nimmt, geht über das bloße Verbot, sich nicht von seinen Affekten und Leidenschaften beherrschen zu lassen, d. h. über die bloß negative „Pflicht der Apathie“ (408) hinaus. Die Apathie wird nun im XVI. Abschnitt weiter bestimmt. Sie ist nach Kants Auffassung „zur Tugend […] notwendig vorausgesetzt“ (ebd.; vgl. hierzu: „Das Princip der Apathie … ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affekt macht (mehr oder weniger) blind“; Anthr., VII 253.). Zunächst kritisiert Kant die „Mißdeutung“ der Apathie, die als „subjective Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür“ verstanden und Apathie mit Willensschwäche verwechselt wurde. Er schlägt deshalb eine Unterscheidung vor. Apathie bedeutete nicht „Indifferenz“. Was vielmehr gefordert ist, ist „moralische Apathie“, für welche es – wie schon angeführt – der bewußten und tätigen Bemeisterung der „Gefühle aus sinnlichen Eindrücken“ und damit einer „überlegten und festen Entschließung“, das moralische Gesetz „in Ausübung zu bringen“, bedarf. Apathie muss als „Stärke“, nicht als „Schwäche“ der moralischen Gesinnung betrachtet werden.
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5.5 Prinzipien der Einteilung der Tugendlehre (Abschnitte XVII und XVIII) Abschnitt XVII handelt – entgegen der Ankündigung der Überschrift „Vorbegriffe zur Einteilung der Tugendlehre“ (410) – von der Einteilung der Metaphysik der Sitten. Der Absatz beginnt mit „Dieses Prinzip der Einteilung …“, so dass der Eindruck erweckt wird, als habe Kant dieses Prinzip schon zuvor thematisiert. Der Bezug ist jedoch unklar. Jedenfalls soll das „Prinzip der Einteilung“, durch welches es möglich sein soll, „einen Teil der Sittenlehre von der Rechtslehre“ zu unterscheiden (ebd.), „alle Bedingungen enthalten“, um diesen Unterschied in dreierlei Hinsicht darzustellen: 1. der Form nach: hier thematisiert Kant v. a. den pflichtentheoretischen Unterschied der beiden Abteilungen der Metaphysik der Sitten, 2. der Materie nach: in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Tugendlehre von der Rechtslehre, insofern sie nicht nur Pflichtenlehre, sondern auch „Zwecklehre“ ist, 3. dem Grund der Verpflichtung nach. Die „Bedingungen“, die Kant nennt, sind wie gesagt der Sache nach schon aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten bekannt. In der Anmerkung zu Abschnitt XVII (411 f.) begründet Kant die „Eintheilung der Ethik in Elementarlehre und Methodenlehre“. In der Übersicht zur Einteilung der Ethik (413) macht Kant deutlich, dass diese Unterscheidung auf der „Eintheilung der Ethik nach Prinzipien eines Systems der reinen praktischen Vernunft“ beruht und die „Form der Wissenschaft“ betrifft und den „Grundriß des Ganzen“ der Tugendlehre bestimmt (413). Beide Lehren haben ihrerseits zwei Teile: Die Elementarlehre gliedert sich in Dogmatik und Kasuistik, die Methodenlehre in Katechetik und Asketik. Leider macht Kant nicht deutlich, inwiefern diese Unterscheidungen aus den ethischen „Prinzipien eines Systems der reinen praktischen Vernunft“ eigentlich hervorgehen. Aufgrund ihrer Gliederung in Elementar- und Methodenlehre unterscheidet sich die Tugendlehre in systematischer Hinsicht deutlich von der Rechtslehre. Der Unterschied betrifft allerdings nicht die Dogmatik (als systematische Pflichtenlehre), die in der Anmerkung nicht erwähnt wird, sondern nur die Kasuistik als den zweiten Teil der Elementarlehre. In der Rechtslehre sind die juridischen Pflichten „ihrer Natur nach strenge (präcis)“ (411) bestimmt, so dass auf Seiten des Normunterworfenen nur die strikte „Observanz“ bzw. einfache „Angemessenheit der Handlungen zum Rechte“ (390) gefordert wird, ohne dass es einen „Spielraum“ bei der Beurteilung der geforderten Handlungen bzw. Unterlassungen geben könnte. Die Rechtslehre fällt deshalb mit der Dogmatik zusammen. Anders sieht der Fall in
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der Tugendlehre aus. Denn die ethischen Pflichten, sofern sie weite bzw. unvollkommene Pflichten sind, verstatten einen „Spielraum“ der Anwendung der Pflichtmaxime (vgl. 390 f.). In der Ethik bestimmt das Pflichtgesetz „nur die Maxime der Handlungen, nicht aber die Handlungen selbst“. Aus diesem Umstand resultieren zwei Probleme, die Kant zwar beide behandelt, die er aber nicht explizit unterscheidet. Denn einerseits stellt sich für das handelnde Subjekt das Problem der Beurteilung der Angemessenheit der jeweiligen Handlung im Verhältnis zur Tugendpflicht. So können unterschiedliche Handlungen zur Unterstützung der Armen dienen. Auf der anderen Seite muss es die jeweilige Reichweite der Anwendung bestimmen und auf diese Weise sich über die mögliche „Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere“ Klarheit verschaffen. Insofern ist das moralische Subjekt aufgefordert „auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden“ (411) ist. So kann die Pfichtenmaxime, die Armen zu unterstützen, die Pflicht der Sicherung der eigenen Subsistenz (bzw. derjenigen der eigenen Familie) tangieren. Im Hinblick auf die Tugendpraxis ist daher ein „Wiederstreit der Maximen“ möglich, der allerdings „nicht eine Antinomie heißen kann (denn es ist nicht ein Wiederstreit der Gesetze)“ (Vorarbeiten, XXIII 389). Kant selbst erwähnt als Beispiel den Fall der Einschränkung der „allgemeine[n] Nächstenliebe durch die Elternliebe“ (390). Nun liegt auf der Hand, dass die konkreten Fälle und Entscheidungssituationen, vor denen das moralische Subjekt steht, sowohl hinsichtlich der Beurteilung der angemessenen Handlungen als auch hinsichtlich der Abgrenzung der Pflichtenmaximen gegeneinander ins Unbestimmte gehen können. Diese Anwendungsproblematik liefert zugleich die Grundlage für die kasuistischen Fragen, vor die sich die Urteilskraft gestellt sieht (zur Kasuistik, vgl. 426, 428, 431, 433, 437, 454). Das Problem dieser Kasuistik besteht darin, dass bei den jeweils sich ergebenden Situationen und „besonderen Fällen“ im Hinblick auf die Beurteilung der Maximen „nach einem Prinzip der Anwendung“ gefragt werden kann. Die Kasuistik selbst ist allerdings kein systematischer Bestandteil der Tugendlehre: sie ist „weder eine Wissenschaft, noch ein Teil derselben“ (411; vgl. Vorarbeiten, XXIII 389). Sie setzt vielmehr die „Dogmatik“ als Lehre der ethischen Prinzipien voraus. Als „Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden“, enthält die Kasuistik deshalb bloß „Fallbeispiele zur praktischen Anwendung verschiedener Lehrsätze der Tugendlehre“ auf besondere Fälle (Euler 2012, 287 f.). Ihre Darstellung ist deshalb auch nur „fragmentarisch, […] nicht systematisch“. Es reicht die Illustration der Anwendungsproblematik durch Fallbeispiele, die „gleich den Scholien zum System hinzu getan“ werden (411). Im zweiten Teil der Anmerkung zu Abschnitt XVII thematisiert Kant den Unterschied der beiden Teile der Methodenlehre – die Katechetik betrifft die Übung „in der Theorie [der] Pflichten“ und lehrt die entsprechenden „Tugendbegriffe“, ihr „Gegenstück“ „im Praktischen“ (ebd.) bezeichnet Kant als „Ascetik“. In ihr geht es
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um die Ausbildung des „Tugendvermögen[s]“, durch welches der „Wille in Ausübung gesetzt und cultivirt“ wird (412). Die Gliederung der Methodenlehre entspricht auch der Darstellung der Tafel der „Zweite[n] Einteilung der Ethik“ (413), in welcher Katechetik und Ascetik als die beiden Teile der ethischen Methodenlehre bestimmt werden. Leider hat Kant diese Unterscheidung durch die späteren Ausführungen im Haupttext der Tugendlehre (477 ff.) verunklart, denn nun werden ethische Didaktik und ethische Asketik als die beiden Glieder der Methodenlehre genannt, wie auch die „Tafel der Eintheilung der Ethik“ deutlich macht (493). Deshalb muss konstatiert werden, dass sich die „Architektonik“ der Tugendlehre „in Einleitung und Haupttext unterschiedlich“ darstellt und dass Kant eine konsistente Darstellung nicht mehr gelungen ist (Ludwig 2013, 83). Die Unklarheiten bei der Gliederung der ethischen Methodenlehre mögen ein Hinweis darauf sein, dass Kant die Abfassung der Tugendlehre in großer Eile vorgenommen hat. Der Sache nach hat Kant schon in der Anmerkung zu Abschnitt XVII deutlich gemacht, dass die katechetische Methode nur eine Variante der didaktischen Vermittlung der Pflichtbegriffe darstellt. Die unterschiedlichen didaktischen Lehrarten − akromatisch, erotematisch, katechetisch oder dialogisch (411, 478) − beziehen sich auf die jeweilige moralische Auffassungsgabe des „Lehrlings“, weshalb z. B. das „doctrinale Instrument der Tugendlehre für den noch rohen Zögling“ als „ein moralischer Katechism […], als Grundlehre der Tugendpflichten“ (478 f.) fungiert. Erst im letzten Abschnitt der Einleitung (XVIII) kommt Kant dann tatsächlich auf die Einteilung der Tugendlehre, „welche die praktische Vernunft zu Gründung eines Systems ihrer Begriffe in einer Ethik entwirft“ (412), ausführlicher zu sprechen, die er im letzten Absatz der Anmerkung zu Abschnitt XVII bereits angekündigt hatte, indem er dort die Tugendlehre „nach der Verschiedenheit der Subjekte, wogegen dem Menschen eine Verbindlichkeit obliegt“ und „nach der Verschiedenheit der Zwecke, welche zu haben ihm die Vernunft auferlegt“ (412), unterschieden hatte. Werner Euler hat Kants nur schwer zu verstehenden Ausführungen über die zweifache Einteilung der Ethik in Abschnitt XVIII einen ausführlichen Kommentar gewidmet (Euler 2012, 264 ff.) und auf die zahlreichen Verständnisprobleme dieser Passagen aufmerksam gemacht. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit einigen wenigen Hinweisen. Kant unterscheidet „zweierlei Prinzipien“, gemäß denen die „Eintheilung“ eines „Systems“ der ethischen Begriffe durchgeführt werden kann: Die erste Einteilung betrifft das „subjective Verhältniß der Verpflichteten zu dem Verpflichtenden der Materie nach“. Das Verständnis von Kants Intentionen im Abschnitt XVIII der Tugendlehre wird vielleicht erleichtert, wenn man berücksichtigt, dass Kant eine vergleichbare Einteilung „nach dem subjectiven Verhältniß der Verpflichtenden und Verpflichteten“ (RL, VI 241) bzw. „nach dem objectiven Verhältniß des Gesetzes zur Pflicht“ (RL, VI 240) schon in der Einleitung in die Rechtslehre
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vorgenommen hatte (Ludwig 2013, 81). In Bezug auf das subjektive Verhältnis hatte er dort die Existenz entsprechender Rechtspflichten auf das „rechtliche Verhältnis des Menschen zu Wesen, die sowohl Recht als Pflicht haben“ eingeschränkt; nur dort ist ein nicht nur denkbares, sondern „reales Verhältniß zwischen Recht und Pflicht“ zu finden (RL, VI 241). Die übrigen subjektiven Verhältnisse („zu Wesen, die weder Recht noch Pflicht haben“, „zu Wesen, die lauter Pflichten und keine Rechte haben“ und schließlich „zu einem Wesen, was lauter Rechte und keine Pflicht hat (Gott)“) sind nicht vorhanden („vacat“) und werden nur zum Zwecke der Vollständigkeit der Einteilung genannt. Ebenfalls in der Einleitung in die Rechtslehre findet sich eine Tafel „zur Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht“ (RL, VI 240). Es wird nun deutlich, dass die Tafel der „Erste[n] Eintheilung der Ethik nach dem Unterschiede der Subjekte und ihrer Gesetze“ (413) sich auf das erste pflichtentheoretische Prinzip der Einteilung der Ethik, „welches das subjektive Verhältnis der Verpflichteten zu dem Verpflichtenden der Materie nach“ (412) vorstellt, bezieht, indem es die „Wesen, in Beziehung auf welche eine ethische Verbindlichkeit gedacht werden kann“ (412), bestimmt. Bloß denkbar sind auch Pflichten „des Menschen gegen nicht menschliche Wesen“ („untermenschliche Wesen“, „übermenschliche Wesen“) (413), aber ein „reales Verhältniß zwischen Recht und Pflicht“ liegt auch hier nicht vor. Insofern existieren nur Pflichten „des Menschen gegen den Menschen“, entweder „gegen sich selbst“ oder „gegen andere Menschen“. Die Tafel der „zweite[n] Eintheilung der Ethik nach Principien eines Systems der reinen praktischen Vernunft“ korrespondiert nun erkennbar nicht dem zweiten Prinzip der Einteilung der Ethik, das Kant als das „objective Verhältniß der ethischen Gesetze zu den Pflichten überhaupt in einem System der Form nach“ (412) bezeichnet hatte. Denn eine solche Einteilung gemäß des „objectiven Verhältnisses“ hätte eine Gliederung der Pflichten vorzunehmen, und zwar in Analogie zur entsprechenden Tafel der Rechtslehre (VI 240). Sie würde zwischen Tugendpflichten nach dem jeweiligen Pflichtadressaten – Pflicht der Menschheit in unserer eigenen Person und Pflichten gegen andere Menschen sowie „nach der Verschiedenheit der Zwecke, welche zu haben ihm [dem Menschen, D. H.] die Vernunft auferlegt“ (412) – Tugendzweck der Menschheit in unserer Person bzw. Tugendzweck anderer Menschen – unterscheiden müssen. Die „zweite Einteilung der Ethik“ (413). Warum die beiden Tafeln der „Einteilung der Ethik“ nicht den „zweierlei Principien“ der „architektonische[n]“ Einteilung der Ethik, „welche die praktische Vernunft zu Gründung eines Systems ihrer Begriffe in einer Ethik entwirft“ (412), von der in Abschnitt XVIII die Rede war, entsprechen, darüber gibt Kant keine Auskunft.
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6 Können wir uns selbst gegenüber moralisch verpflichtet sein? (§§ 1–4) Kants Konzeption der Pflichten gegen sich selbst ist kontrovers. Eine oft diskutierte Schwierigkeit betrifft den Inhalt dieser Pflichten. Kants Behauptung, dass Selbstmord, Masturbation und Völlerei einen Verstoß gegen Pflichten gegen uns selbst darstellen, halten viele seiner Leser für unbegründet. Der Inhalt dieser Pflichten scheint von einer objektiven Teleologie abzuhängen, die nicht nur der Begründung entbehrt, sondern sogar Kants fundamentalen erkenntnistheoretischen Annahmen widerstreitet. Auch wenn man diesem Einwand erfolgreich begegnen könnte, gibt es noch ein ganz grundlegendes und genauso unübersehbares Problem. Es betrifft nicht den Inhalt dieser Pflichten, sondern schon den Begriff einer„Pflicht gegen sich selbst“. Viele glauben, dass dieser Begriff „absurd“ ist (Anscombe 1958; Baier 1958). Eine Pflicht ist nicht optional. Der Begriff „Pflicht gegen sich selbst“ impliziert (nach Kant), dass die Pflicht von mir und für mich vorgeschriebenen wird. Aber wenn wir die Gesetzgeber dieser Pflicht sind, dann scheint es auch uns selbst überlassen zu sein, uns von dieser Pflicht zu entbinden. Deshalb gibt es einen Widerspruch zwischen der Nicht-Optionalitätsbedingung und der Idee einer selbstvorgeschriebenen Pflicht. Elizabeth Anscombe hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff der Gesetzgebung die überlegene Macht des Gesetzgebers erfordert (Anscombe 1958, 2). Woher kommt aber die „überlegene Macht des Gesetzgebers“, wenn wir eine Pflicht uns selbst vorschreiben? Wenn wir so handeln, wie wir es uns selbst vorschreiben, handeln wir dann nicht bloß so, wie wir wollen? Und andersherum, wenn wir nicht so handeln, wie wir es uns vorschreiben, handeln wir dann nicht ebenfalls so, wie wir wollen? Im Licht dieser Fragen ist es nicht verwunderlich, dass Bernard Williams behauptet hat, die Rede von „Pflichten gegen sich selbst“ sei nichts anderes als ein gescheiterter Versuch „to launder the currency of desire“ (Williams 1985, 50). Diese Absurditätsbehauptung wurde noch nicht von Kants zeitgenössischen Kritikern wie Christian Garve, Johann Feder und Hermann Pistorious vorgebracht, sondern erst 250 Jahre später. Das ist bemerkenswert, weil Kant sich mit diesem Einwand in den Paragraphen 1–4 der Tugendlehre (1797) ausdrücklich beschäftigt. Wenn wir also beurteilen wollen, ob der Absurditätseinwand berechtigt ist, müssen wir eine mögliche Replik aus Kants Text rekonstruieren. In den genannten Paragraphen bringt Kant ein Argument vor, warum es in der Moraltheorie Platz für „Pflichten gegen sich selbst“ gibt und geben sollte. Er behandelt die Herausforderung des Absurditätseinwands im Rahmen der Konstruktion einer Antinomie. In § 1 begründet er die These: ‚Es gibt keine Pflichten gegen sich selbst.“ In § 2 erwägt er https://doi.org/10.1515/9783110786958-008
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die Antithese „es gibt Pflichten gegen sich selbst“; und in § 3 wendet er sich der Lösung des Konflikts zu, indem er zeigt, warum die These falsch ist und die Antinomie nur „scheinbar“ (417). Nachdem er den Begriff der Pflicht gegen sich selbst vor dem Absurditätseinwand gerettet hat, kann Kant sich schließlich dem Inhalt zuwenden. In § 4 bietet er zwei Taxonomien an, die eine entwickelt er mit Rücksicht auf das Objekt der Pflicht, die andere mit Rücksicht auf das Subjekt. In diesem Aufsatz werde ich zuerst die Implikationen der Kantischen Pflichten gegen sich selbst erläutern. Nur wenn wir die Besonderheiten des Kantischen Begriffs verstehen, können wir auch den Absurditätseinwand oder den antinomischen Konflikt verstehen, den dieser Begriff offenbar hervorbringt. Ich werde die Argumente für die These und für die Antithese in Abschnitt 6.2 behandeln. In Abschnitt 6.3 werde ich mich der „Lösung“ zuwenden. Kants Lösung ist kontrovers. Man hat Kant vorgeworfen, dass die Unterscheidung zwischen homo noumenon und homo phaenomenon, auf der die Lösung beruht, nicht die Einheit des Handelnden erklären kann. Ein noch radikalerer Einwand behauptet, dass die Unterscheidung überflüssig ist. Ich werde diese Einwände erläutern und sie beide in Abschnitt 6.4 zurückweisen, bevor ich mich schließlich im Abschnitt 6.5 mit Kants Taxonomie der Pflichten gegen sich selbst befassen werde.
6.1 Pflichten gegen sich selbst und selbstbezügliche Tugenden Sollensansprüche gegenüber sich selbst werden nicht nur von Kant in Anspruch genommen. Sie sind in der gesamten Philosophiegeschichte präsent. Auf den ersten Blick scheint der Absurditätseinwand deshalb nicht nur Kant zu treffen, sondern auch andere deontologische und eudaimonistische Theorien. In diesem Abschnitt wird jedoch deutlich werden, dass der Absurditätseinwand nur in Bezug auf Kants Theorie seine besondere Schärfe gewinnt. Eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten von Pflichten ergibt sich ganz natürlich, wenn man die Adressaten der Pflichten betrachtet. Der rationalistischen Tradition zufolge haben wir z. B. Pflichten gegenüber Gott, gegenüber anderen Menschen und gegenüber uns selbst. Der tierliebende Atheist wird heute „Gott“ durch „Tiere“ ersetzen. Während die rationalistische und die empiristische Tradition sich hinsichtlich der Reichweite und des Ursprungs der Pflichten uneinig sind, ist es nicht ganz klar, ob sie auch darin uneinig sein müssen, dass es begrifflichen Spielraum für Pflichten gegen sich selbst gibt. Wenn wir mit der hedonistischen Tradition voraussetzen, dass unser höchstes Ziel darin besteht, glücklich zu sein, dann wird uns dieses allgemeine Ziel auch auf andere, besondere Ziele ver-
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pflichten, die dazu führen, das Glück hervorzubringen. Um Glück hervorzubringen, müssen wir „sorgfältig die besten Mittel für die Erreichung unserer eigenen Interessen“ berechnen und „allen irrationalen Impulsen, die unsere Berechnungen unscharf machen oder uns daran hindern, nach ihnen zu handeln“, widerstehen (Sidgwick 1981, 328). Ein Hedonist wie Sidgwick stimmt also mit der antiken Tradition überein, wonach z. B. Mäßigung eine der primären „selbstbezüglichen Tugenden“ ist (ebd.). Es ist naheliegend, eine Unterscheidung zwischen Kant und Sidgwick darin zu sehen, dass Sidgwick nur von selbstbezüglichen Tugenden spricht, während Kant an selbstbezüglichen Pflichten interessiert ist. Diese Unterscheidung bleibt bloß verbal, solange es uns nicht gelingt, eine wirkliche Meinungsverschiedenheit auszumachen. Denn Sidgwick sagt ausdrücklich, dass wir nicht nur selbstbezügliche Tugenden haben, sondern auch, dass es unsere „Pflicht“ sei, diese Tugenden zu kultivieren (Sidgwick 1981, 157). Sidgwick zufolge haben wir also durchaus selbstbezügliche Pflichten, beispielsweise eine Pflicht gegen uns selbst zur Mäßigung. John Stuart Mill widerspricht dieser Auffassung. Er behauptet, dass selbstbezügliche Pflichten nicht eigentlich zur Moral gehören, weil sie nur unser eigenes Wohlbefinden betreffen. Sie werden erst dann moralisch signifikant, wenn sie „einen Verstoß gegen die Pflichten gegenüber anderen bedeuten, um deren willlen das Individuum dazu verpflichtet ist, sich um sich selbst zu kümmern“ (Mill 1991, 93). Für Mill ist etwas eine moralische Pflicht nur, wenn sie (mindestens indirekt) andere betrifft. Das ist eine radikal soziale Konzeption moralischer Pflichten (s. dazu Baier 1958). Was auch immer die Vorzüge einer solchen Konzeption sein mögen, es ist nicht vollkommen klar, warum wir sie auf der Grundlage des Hedonismus befürworten sollten. Wenn wir eine moralische Verpflichtung haben, unser Glück zu realisieren, ist nicht verständlich, wie es erlaubt sein kann, es nicht zu realisieren. Der Unterschied zwischen Kant und dem Hedonisten wird besser verständlich, wenn wir den Ursprung der Pflichten betrachten. Hedonisten sind (bestenfalls) Instrumentalisten hinsichtlich der praktischen Vernunft; sie glauben, dass die Vernunft nur die angemessenen Mittel zur Verwirklichung unseres Glücks bestimmen kann. Es gibt nur zwei Dinge, die uns von der Mäßigungspflicht entbinden könnten: (a) Wir müssten entweder unser Bedürfnis nach Glückseligkeit aufgeben, oder (b) Mäßigung dürfte keine notwendige Bedingung für menschliches Glück darstellen. Das ist aber nicht der Fall. Der Hedonist behauptet, dass es eine Tatsache über die menschliche Natur ist, dass wir nach Glückseligkeit streben, und dass Mäßigung eine notwendige Bedingung für Glückseligkeit ist. Deshalb ist Mäßigung für uns nicht optional. Was ein angemessenes Mittel ist, hängt nicht von uns ab, sondern ist eine Tatsache über die Welt. Wenn wir Mäßigung als ein Mittel für den Zweck eines glücklichen Lebens vorschreiben, sind wir nicht in der Lage, uns von
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dieser Verpflichtung freizusprechen. Weil der praktischen Vernunft für den Hedonisten nur eine instrumentelle Funktion zukommt, sie aber nicht die Quelle der Gesetze ist, die sie vorschreibt, kann der Hedonist leicht erklären, wie die selbstbezüglichen Tugenden oder Pflichten Pflichten gegenüber uns selbst sein können, ohne dem Absurditätseinwand ausgesetzt zu sein. Uns von diesen Pflichten freizusprechen, ist nicht optional, weil ihre Befolgung notwendig ist, um unseren fundamentalen Zweck hervorzubringen. Das Selbstentbindungsproblem ist gravierender für Kant, weil er nicht glaubt, dass Pflichten gegenüber sich selbst Vorschriften des Selbstinteresses sind. Sie sind nicht, um es in Kants Worten auszudrücken, hypothetische Imperative. Eine Pflicht gegenüber sich selbst zu verletzen oder, was für den Nicht-Kantianer auf das Gleiche hinausläuft, eine selbstbezügliche Tugend zu verletzen, ist nur unmoralisch in dem Sinne, dass Moral ein „System von hypothetischen Imperativen“ ist (Foot 1972). Eine Pflicht im Sinne Kants ist dagegen deutlich von einer Vorschrift des Selbstinteresses unterschieden. Instrumentellen empirischen Regeln fehlt die strikte Universalität, die moralische Verpflichtung erfordert (GMS, IV 389). Nur wenn moralische Verpflichtung ihre Quelle in der Vernunft hat, kann sie universell sein. Nur wenn wir moralische Pflichten als Gesetze auffassen, die wir uns mit unserer praktischen Vernunft selbst vorschreiben, erhalten wir unbedingte praktische Notwendigkeit (KpV, V § 8). Diese Idee des moralischen Gesetzes als selbst vorgeschrieben stellt uns vor das Selbstentbindungsproblem. Wenn die normative Kraft unserer moralischen Verpflichtung von etwas anderem als uns selbst kommt, dann sind wir nicht in einer Position, uns selbst davon zu entbinden. Kants Autonomiethese, die These, dass wir das Moralgesetz uns selbst vorschreiben, stellt dieses Problem also erst. Traditionelle Moraltheorien, die die Quelle der Normativität der „Pflichten gegen sich selbst“ in etwas anderem als uns selbst sehen, sind nicht mit dem Selbstentbindungsproblem konfrontiert. Die selbstbezüglichen Tugenden haben Anwendung auf uns, wir sind aber nicht auch deren Quelle. Kants Konzeption der unbedingten praktisch notwendigen moralischen Pflichten führt ihn auf die Idee autonomer Gesetzgebung. Diese Idee führt ihn zu der scheinbar absurden Position, wonach die Pflichten nicht nur auf uns Anwendung haben, sondern auch von uns selbst vorgeschrieben sind. Die Paragraphen 1–4 in der Tugendlehre sind Kants Antwort auf diese scheinbare Absurdität.
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6.2 Die scheinbare Antinomie 6.2.1 Die These In § 1 präsentiert Kant das, was wir die These der Antinomie der Pflichten gegen uns selbst nennen können. Die These, es gibt keine Pflichten gegen sich selbst, wird in der Überschrift zu § 1 indirekt artikuliert: „Der Begriff einer Pflicht gegen sich selbst enthält (dem ersten Anscheine nach) einen Widerspruch.“ Die Argumente für These und Antithese der Antinomie haben die Form einer reductio. In seiner Logik und der Kritik der reinen Vernunft nennt Kant dies das apagogische Beweisverfahren (KrV, B 817–B 823; Logik, IX 52). Der Beweis beginnt mit der Annahme, dass es Pflichten gegenüber uns selbst gibt, und es wird dann versucht zu zeigen, wie diese Annahme auf einen Widerspruch führt. Kant präsentiert zwei im Wesentlichen identische Argumente für die These. Beide Argumente basieren auf der Idee, dass ein und dasselbe Ich nicht die Pflicht vorschreiben und zugleich Adressat der Vorschrift sein kann. Wir können den ersten Einwand den Selbstverpflichtungseinwand nennen. Der zentrale Gedanke dieses Arguments ist, dass in dem Begriff der Pflicht gegenüber sich selbst sowohl der Gedanke „einer passiven Nötigung enthalten (ich werde verbunden) [ist]“ als auch der Gedanke einer „aktiven Nötigung“. Ein und dasselbe Ich kann nicht gleichzeitig sowohl aktiv verbinden und passiv verbunden werden. Der Begriff der Pflicht gegen sich selbst ist daher widersprüchlich (417). Wir können dieses Argument auch folgendermaßen darstellen: 1. Wenn X eine Pflicht gegenüber Y hat (eine Pflicht gegenüber anderen), dann ist X passiv verbunden und Y ist aktiv verbindend. 2. Wenn X eine Pflicht gegenüber X hat (eine Pflicht gegen sich selbst), dann ist X sowohl „passiv verbunden (Ich werden verbunden)“ als auch aktiv verbindend. 3. Ein und dasselbe Ich kann nicht aktiv verbinden und (gleichzeitig) passiv verbunden werden. 4. Also ist der Begriff „Pflicht gegen sich selbst“ widersprüchlich. Das zweite Argument zur Unterstützung der These ist nicht in Begriffen von Passivität und Aktivität formuliert, sondern als (absurde) Möglichkeit der Selbstentbindung. Die zentrale Idee dieses Arguments ist die, dass ich mich „jederzeit“ von einer Pflicht entbinden kann, wenn das verpflichtende Ich, der„auctor obligationis“, und das verpflichtete Ich, das „subiectum obligationis“, identisch sind. Wir haben dies oben bereits den Selbstentbindungseinwand genannt. Hier ist das Argument: 1. Wenn X eine Pflicht gegen Y hat (eine Pflicht gegen andere), ist es Y möglich, X von der Pflicht zu entbinden.
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Wenn X eine Pflicht gegen X hat (eine Pflicht gegen sich selbst), muss es X möglich sein, sich selbst von der Pflicht zu entbinden. Ein und dasselbe Ich kann nicht selbst entbinden und entbunden werden. Also gibt es keine Pflichten gegen sich selbst.
6.2.2 Die Antithese In den Antinomien der ersten Kritik sind These und Antithese entweder beide falsch (die erste und zweite Antinomie) oder beide wahr (die dritte und vierte Antinomie). In der Antinomie der Pflichten gegen sich selbst in der Tugendlehre ist die These falsch und die Antithese wahr. Anders als die These wird die Antithese in der Überschrift direkt formuliert: „Es gibt doch Pflichten des Menschen gegen sich selbst“ (417). Der Angelpunkt von Kants Argument für diese Behauptung ist, dass man, wenn man die Existenz von Pflichten gegen sich selbst verneint, auch negiert, dass es Pflichten gegen andere gibt, was absurd ist. Dieses Argument hat also ebenfalls die Form einer reductio: 1. Wir haben keine Pflichten gegen uns selbst. 2. Wenn wir keine Pflichten gegen uns selbst haben, dann haben wir keine Pflichten gegen andere. 3. Wir haben Pflichten gegenüber anderen. 4. Wir haben keine Pflichten gegen uns selbst, und wir haben Pflichten gegen uns selbst. Kants zentrale Behauptung in diesem Argument ist nicht, dass Pflichten gegen uns selbst Pflichten gegen andere begründen (vgl. Schönecker 2010, 239 ff.). Kant möchte nicht eine Verpflichtung gegen andere von einer primären Verpflichtung gegen uns selbst ableiten. Seine Behauptung ist vielmehr, dass Pflichten gegen uns selbst und Pflichten gegen andere beide auf einen Akt der Selbstgesetzgebung zurückgehen (vgl. Schönecker 2010, 241): „Denn ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde“ (TL,VI 417). Kants zentrale Behauptung im Argument für die Antithese kann also wie folgt reformuliert werden: Wenn die Idee selbstgegebener Gesetze widersprüchlich wäre, würde dieser Widerspruch sich auch auf Pflichten gegen andere übertragen. Aber weil wir nicht glauben, dass Pflichten gegenüber anderen problematisch sind, sollten wir auch nicht glauben, dass Selbstgesetzgebung eine Gefahr für die Pflichten gegen uns selbst darstellt. Das Argument für die Antithese zeichnet bereits Kants Lösung für die scheinbare Antinomie vor. Kant schreibt, dass „das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft her-
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vorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin“ (417 f.). Was Kant hier verneint, ist die Wahrheit der Prämisse (3) in dem Argument der These. Insofern wir uns selbst durch praktische Vernunft verpflichten und nicht durch ein gegebenes Begehren, können wir uns auch von zwei radikal unterschiedlichen Standpunkten beurteilen:Vom Standpunkt des Ichs, das die Verpflichtung uns auferlegt, und vom Standpunkt des Ichs, dem die Verpflichtung auferlegt wird. In der Lösung der Antinomie wird Kant diesen Unterschied zur Geltung bringen. In der Formulierung der These wird deutlich, dass der Ausdruck „Pflicht gegen sich selbst“ widersprüchlich wird (ebd.), wenn das Ich, das die Verpflichtung auferlegt, im selben Sinne verstanden wird wie das Ich, das einer Verpflichtung unterworfen wird. Kants Strategie, um diesen Konflikt zwischen These und Antithese zu lösen, gründet auf der Idee, dass das Ich nicht im selben Sinne verstanden werden darf.
6.3 Die Lösung zur scheinbaren Antinomie 6.3.1 Was macht die Antinomie scheinbar? In den Paragraphen 1 und 2 verwendet Kant nicht den Begriff „Antinomie“, um den scheinbaren Konflikt zu bezeichnen. Erst wenn er sich der Auflösung zuwendet, in der Überschrift zu § 3, erfahren wir, dass er den Konflikt in den Paragraphen 1 und 2 als eine Antinomie begreift. Eine Antinomie ist ein „Widerstreit der Gesetze“ (KrV, B 434). Diese Gesetze sind dogmatische Propositionen, die wahr zu sein scheinen. Sie scheinen auf die allgemeine Anlage unserer Vernunft hinzudeuten, mit sich selbst in Konflikt zu zu geraten. Kant nennt diesen fundamentalen Konflikt der Vernunft, bei dem man keiner der beiden Propositionen „einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt“, eine „Antithetik“ (KrV, B 448). Der Unterschied zwischen einer Antinomie und einer Antithetik ist, dass eine Antinomie einen bestimmten Konflikt zwischen zwei Gesetzen der Vernunft betrifft. „Antithetik“ bezeichnet dagegen die generelle Idee, dass die Vernunft (unser Erkenntnisvermögen) auf einer fundamentalen Ebene in diesen Widersprüchen gefangen ist. Am Anfang des Paragraphen 3 der Tugendlehre sagt Kant, dass die Antinomie bloß „scheinbar“ ist. In den Überschriften zu den Lösungen der vier Antinomien in der ersten Kritik ist dagegen nicht von „scheinbar“ die Rede. Es ist naheliegend, dass dieser Zusatz einen wichtigen Unterschied zwischen den Antinomien der ersten Kritik und den Antinomien der Pflichten gegen sich selbst in der Tugendlehre markiert. Demnach wären die Antinomien der Kritik der reinen Vernunft real, während die Antinomien der Tugendlehre nur scheinbar wären (Timmermann
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2013, Schönecker 2010). Es gibt darüber hinaus noch einen weiteren von der Forschung bereits bemerkten Unterschied. In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von „Auflösung“ der Antinomie (KrV, B 545, B 551, B 560, B 587), während in der Tugendlehre von „Aufschluß“ die Rede ist (418). Diese Differenz wurde als ein weiterer Beleg dafür gewertet, dass der Konflikt im ersten Fall real und im zweiten lediglich scheinbar ist. Ein scheinbarer Konflikt muss nicht gelöst werden; er muss lediglich aufgeschlossen werden (Timmermann 2013, 215 ff.). Ich glaube nicht, dass der Text der ersten Kritik diese Unterscheidung unterstützt. Im „Disziplin“-Kapitel der ersten Kritik sagt Kant ausdrücklich, dass die gesamte Antithetik nur „scheinbar“ ist, weil „kein wirklicher Widerspruch der Vernunft mit ihr selbst“ besteht (KrV, B 768; meine Hervorhebung). Ein wirklicher Widerspruch der Vernunft involviert nicht bloß zwei Propositionen, die sich ausschließen. Wenn tatsächlich ein wirklicher und nicht nur ein scheinbarer Widerspruch besteht, wäre es nicht möglich zu bestimmen, welches Gesetz ein Gesetz der Vernunft ist, nachdem beide Propositionen und unser Erkenntnisvermögen hinreichend untersucht worden sind. Das ist jedoch bei keiner der vier Antinomien der Fall. Wir müssen uns hier nicht mit den Details der Antinomien beschäftigen (s. dazu Bojanowski 2006, 95–99); wir können uns mit den Ergebnissen begnügen. Im Fall der ersten beiden Antinomien, die das Verhältnis von Teil und Ganzem thematisieren, will Kant beweisen, dass These und Antithese konträre Gegensätze sind; deshalb können sie beide falsch sein. Im Fall der dritten und vierten Antinomie (Grund-Folge-Verhältnis) stellt sich heraus, dass These und Antithese subkonträre Sätze sind, wenn ihre Geltung auf Phaenomena bzw. Noumena eingeschränkt wird. Auf diese Weise können sie beide wahr sein. Keine der vier Antinomien stellt tatsächlich einen kontradiktorischen Gegensatz dar. Der Konflikt ist daher nur „scheinbar“ und nicht wirklich (KrV, B XLIV). In der Tugendlehre erweist sich das Verhältnis zwischen der These in § 1 und der Antithese in § 2 als weder konträr noch subkonträr, sondern als kontradiktorisch. Das macht die Antinomie aber nicht „wirklich“, weil sich zeigen lässt, dass eine der Propositionen wahr ist und die andere falsch. Nur wenn der kontradiktorische Gegensatz ungelöst bliebe, wäre der Konflikt wirklich (vgl. Baumgarten 1760, § 85). In der Kritik der reinen Vernunft verwendet Kant den Begriff „Auflösung“ statt „Aufschluß“. Es gibt aber keinen guten Grund anzunehmen, dass „Aufschluß“ in der Überschrift von § 3 in der Tugendlehre den Unterschied zwischen einer wirklichen und einer nur scheinbaren Antinomie markieren soll. Kant sagt ausdrücklich, dass der „transzendentale Schein“ sich nie vollkommen beseitigen lässt: „Die transszendentale Dialektik wird also sich damit begnügen, den Schein transszendenter Urteile aufzudecken und zugleich zu verhüten, daß er nicht betrüge; daß er aber auch (wie der logische Schein) sogar verschwinde und ein Schein zu sein aufhöre, das kann sie niemals bewerkstelligen“ (KrV, B 354). Kants eigener Begriff „Auflö-
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sung“, den er in der Kritik der reinen Vernunft verwendet scheint insofern sogar zu stark zu sein. „Lösung“ oder „Aufschluß“ werden der Sache gerechter.
6.3.2 Wie wird die Antinomie gelöst? Wir werden uns nun Kants Lösung genauer ansehen. Dabei wird auch deutlicher werden, warum die Lösungen in der ersten Kritik und die Lösung in der Tugendlehre grundsätzlich dieselbe Argumentationslinie verfolgen. Wie in der ersten Kritik behauptet Kant, dass die Antinomie auf einem „Mißverständnis“ beruht, „nämlich dem gemeinen Vorurteile gemäß Erscheinungen für Sachen an sich selbst [zu nehmen]“ (KrV, B 768). Die These in § 1 der Tugendlehre begeht diesen Fehler. Wenn die Menschen nichts anderes als Erscheinungen wären (wenn sie bloß Gegenstände in Raum und Zeit wären, die von den empirischen Wissenschaften untersucht werden) und wenn wir keinen Grund hätten, eine andere Perspektive einzunehmen, würden wir uns weder als frei in einem inkompatibilistischen Sinne verstehen noch uns Pflichten gegenüber uns selbst zusprechen. Um also Kants Lösung der Antinomie zu verstehen, müssen wir zuerst erklären, warum Kant glaubt, dass wir Grund dazu haben, uns als etwas anderes als Gegenstände in Raum und Zeit zu betrachten. Die Antwort auf diese Frage liegt in unserem moralischen Selbstbewusstsein. Aber was genau an diesem Selbstbewusstsein ist es, das es uns erlaubt, eine andere als bloß die empirische Perspektive auf uns einzunehmen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Charakter unseres moralischen Selbstbewusstseins besser verstehen. Wenn wir praktischen Prinzipien folgen, dann werden wir uns erstpersonal der normativen Anforderungen der praktischen Vernunft bewusst (KpV,V 29). Wir werden uns des Unterschiedes zwischen Prinzipien bewusst, die nur gut für uns persönlich sind, und Prinzipien, die allgemein gut sind. Prinzipien, die lediglich gut für uns selbst sind, drücken keine praktische Erkenntnis aus. Insofern sie nicht praktisch allgemein sind, weiß ich, dass sie praktisch falsch sind. Wenn ich weiß, dass sie praktisch falsch sind, ist es nicht mehr eine offene Frage, ob ich nach ihnen handeln soll. Als endliches rationales Wesen kann ich keine Prinzipien befürworten, die nur gut für mich, aber nicht allgemein gut sind (siehe dazu Bojanowski 2017a). Indem wir uns der Rationalitätsanforderungen des Wollens bewusst werden, werden wir uns eines Willens bewusst, der über seine bloß empirisch gegebenen Bedürfnisse hinausgeht. Wir werden uns sogar bewusst, dass wir durch eine reine Vernunftidee geleitet sind: von der Idee der praktischen Allgemeinheit. Nach der Vorstellung dieser Idee zu handeln, heißt, die Verwirklichung unserer Handlung von dieser Idee abhängig zu machen. Wir verstehen uns dann als Handelnde, die ihre Wünsche
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suspendieren können. Wir stellen dann die Verwirklichung dieser Wünsche unter die Bedingung ihrer praktischen Verallgemeinerbarkeit. Wir werden uns weder durch die Beobachtung anderer noch durch empirische Selbstbeobachtung aus der Perspektive der dritten Person bewusst, dass wir nach der Vorstellung von Gesetzen handeln sollen. Dieses Bewusstsein ist vielmehr „unmittelbar“ und nicht-observational; es ist die Artikulation des Selbstbewusstseins eines praktischen Vernunftwesens (KpV, V 29). Wir werden uns des fundamentalen praktischen Gesetzes bewusst in derselben Weise, wie wir uns der Gesetze der theoretischen Erkenntnis bewusst werden (KpV, V 30). Indem wir nach der Vorstellung praktischer Gesetze handeln, betrachten wir uns selbst als von unseren Neigungen unabhängig. Wir sind davon überzeugt, dass wir unsere Handlungen von einer reinen Vernunftidee abhängig machen können. Diese Idee ist nicht für uns im empirischen Bewusstsein zugänglich. Wir betrachten uns selbst nicht bloß als ein „Sinnenwesen“, sondern als „Vernunftwesen“ (TL, VI 418). Beide Perspektiven kommen zusammen, wenn wir uns als „Subjekt“ der Pflicht betrachten. Der Begriff der Pflicht im kantischen Sinne impliziert sowohl die Fähigkeit, nach Gesetzen zu handeln, als auch die Möglichkeit, diese Gesetze zu brechen. So müssen wir es verstehen, wenn Kant schreibt, dass „der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung [kommt]“, wenn wir den Menschen bloß als ein Sinnenwesen betrachten (418; für eine ausführlichere Diskussion dieses Satzes s. Schönecker 2010, 255 ff.). Wir haben gesehen, dass es unser Bewusstsein der moralischen Verpflichtung ist, das uns dazu berechtigt, uns von zwei radikal unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Von einem natürlichen Standpunkt betrachten wir uns als ein „vernünftiges Naturwesen“ (418). Dieses Wesen ist uns zugänglich als ein Phänomen in Raum und Zeit; deshalb nennt Kant es „homo phaenomenon“ (ebd.). Als solches unterscheiden wir uns bereits von bloßen Tieren. Bloße Tiere sind Lebewesen, genau wie Menschen es sind. Sie haben ebenfalls ein Begehrungsvermögen, sogar ein Wahlvermögen (d. i. „Willkür“ oder„arbitrium brutum“ (KrV, B 562; TL,VI 213; Metaphysik-Pölitz, XXVIII 589). Ein vernünftiges Naturwesen kann aber darüber hinaus seine Wahl auch noch von Vernunftüberlegungen abhängig machen. Deshalb kann „Vernunft“ und nicht bloß Instinkt die „Ursache [von] Handlungen in der Sinnenwelt“ sein (418). Ein Tier kann zwischen zwei Arten von Nahrung wählen. Diese Wahl ist durch seine Natur festgelegt. Wir dagegen können nicht nur unsere unmittelbaren Bedürfnisse suspendieren, wir können unsere Wahl auch von Gründen abhängig machen. Wenn wir zwischen zwei Optionen von gesunder und ungesunder Nahrung wählen sollen, kann es sein, dass wir uns gegen die ungesunde Option entscheiden, weil wir wissen, dass sie nicht mit unserer Diät vereinbar ist. Es kann sein, dass wir uns instinktiv zu der ungesunden Option hingezogen fühlen, aber unsere theoretische Erkenntnis kann uns davor bewahren, die falsche Wahl zu treffen.
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Dieser instrumentelle Gebrauch der Vernunft ist das entscheidende Merkmal dessen, was Kant in der Religionsschrift „Menschheit“ nennt. Wir sind „lebende und zugleich vernünftige Wesen“ (Rel., VI 26). In der Lösung der Antinomie der Pflichten gegen sich selbst macht Kant auch Gebrauch von dem Begriff der „Menschheit“. Es ist „die Menschheit in seiner [eigenen] Person“, die verpflichtet wird, sie ist aber nicht das, was dem Menschen die Verpflichtung auferlegt (418). Unsere Menschheit unterscheidet uns zwar bereits von den bloßen Tieren. Ihre wesentliche Eigenschaft ist jedoch die bloß instrumentelle Vernunft. Diese unterscheidet uns aber nicht radikal von den bloßen Tieren. Solche vernünftigen Überlegungen sind nicht konstitutiv, sondern bloß instrumentell für einen gegebenen Zweck, nämlich unser Glücksbegehren. Sogar wenn „Vernunft“ (meine instrumentellen Überlegungen) einen kausalen Einfluss auf meine Handlung hat, ist sie letztlich nicht die Ursache. Die Vernunft wird in diesem Fall nicht konstitutiv, sondern nur instrumentell angewendet. Kurz: Wenn wir uns als ein „sinnliches Vernunftwesen“ betrachten, erkennen wir, dass wir von den bloßen Tieren nur dem Grad, aber nicht der Art nach unterschieden sind, weil der Zweck unseres Handelns noch immer derselbe ist (KpV, V 23; zu Kants Unterscheidung zwischen oberem und unterem Begehrungsvermögen s. Höffe 2012, 96 ff.). Mit dem, was Kant „Menschheit“ nennt, bekommen wir das noch nicht in den Griff, was uns zu moralischen Wesen macht. Der radikale Unterschied zwischen Menschen und bloßen Tieren kommt nur in den Blick, wenn wir uns vom moralischen Standpunkt betrachten. „Vernunft“ wird dann nicht bloß als eine instrumentelle Fähigkeit verstanden, sondern als eine Fähigkeit nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. Wie oben deutlich wurde, kann ein Wesen, das die Fähigkeit hat, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, mehr als nur sein Glück auf der Grundlage von instrumentellen Überlegungen verwirklichen. Ein solches Wesen kann darüber hinaus auch noch die Verwirklichung seines Glücks von der Verallgemeinerbarkeit des Inhalts seiner Bedürfnisse abhängig machen. Praktische Universalität ist eine Vernunftidee. Nur weil wir nach der Vorstellung einer Vernunftidee handeln können, unterscheiden wir uns radikal von den Tieren. Nur weil wir nach der Vorstellung von praktischen Gesetzen handeln können, haben wir einen Willen und nicht bloß ein Wahlvermögen („Willkür“; Metaphysik-Pölitz, XXVIII 589). Es ist diese Art des Begehrungsvermögens, die uns nicht bloß zu einem „vernünftige[n] Wesen“, sondern zu einem „der Verpflichtung fähige[n] Wesen“ macht (TL, VI 418). Nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln (und nicht bloß nach der Vorstellung von unserer Glückseligkeit), bedeutet, diese Gesetze zu achten. Es erfordert, dass wir das tun, was unbedingt gut ist, weil es unbedingt gut ist. Wir besitzen „innere Freiheit“ genau deshalb, weil wir unsere Wahl von dieser Idee abhängig machen können, weil wir unabhängig von unserem gegebenen Bedürfnis nach
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Glückseligkeit handeln können (ebd.). Diese innere Freiheit ist eine Art von noumenaler oder transzendentaler Freiheit, weil sie aus einem Vermögen entspringt, nach einer reinen Vernunftidee zu handeln (d. i. einer Idee der praktischen Universalität) statt nach einer Vorstellung von unserer eigenen Glückseligkeit. Es ist dieses Vermögen, das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein, das uns fundamental von den bloßen Tieren unterscheidet. Als solches betrachte ich mich nicht bloß als ein Naturwesen in Raum und Zeit, ein homo phaenomenon, sondern auch als ein nicht-natürliches Wesen, ein homo noumenon, das nach der Vorstellung der praktischen Verallgemeinerbarkeit handeln kann. Dieses Vermögen, das Kant unsere „Persönlichkeit“ nennt (ebd.), lässt uns über unsere Menschheit hinausgehen. Die Unterscheidung zwischen homo noumenon und homo phaenomenon erlaubt es Kant, die Annahme in Prämisse 3 des Selbstverpflichtungseinwandes (und analog des Selbstentbindungseinwandes), die wir im Kontext von § 1 betrachtet haben, zurückzuweisen. Die Prämisse dieses Arguments war, dass dasselbe Ich nicht zugleich aktiv verpflichten und passiv verpflichtet werden kann. Die Prämisse ist wahr, aber die Annahme, dass es dasselbe Ich ist, das sich selbst verpflichtet, ist falsch. „Wenn das verpflichtende Ich mit dem verpflichteten in einerlei Sinn genommen wird, so ist Pflicht gegen sich selbst ein sich widersprechender Begriff“ (417). Der Widerspruch kann vermieden werden, indem wir uns aus zwei Perspektiven betrachten. Als Ich, das die Verpflichtung auferlegt, verstehen wir uns als homo noumenon, als Ich, das verpflichtet wird, betrachten wir uns dagegen als homo phaenomenon. Die These ist falsch, die Antithese ist wahr, und die Antinomie nur scheinbar. Man könnte meinen, dass der homo phaenomenon gar nicht verpflichtet werden kann, weil er nicht frei ist. Es ist deshalb wichtig, sich klar zu machen, dass durch die Betrachtung des Menschen (eines endlichen Vernunftwesens) im allgemeinen als homo phaenomenon nur das vernünftige Wollen, das bereits für sich normativ ist, zu einem Sollen wird. Kurz: Der Mensch als homo phaenomenon unterliegt Verpflichtungen, weil er vernünftig und nicht bloß sinnlich ist und weil die Vernunft (homo noumenon) normativ hinsichtlich unserer Neigungen (homo phaenomenon) ist.
6.4 Einwände gegen Kants Lösung 6.4.1 Der Einwand der Einheit Kants Lösung der Antinomie bringt ein offensichtliches Problem hervor. Die Lösung scheint auf der Idee zu beruhen, dass es zwei homines gibt; einen homo noumenon und einen homo phaenomenon. Der homo phaenomenon existiert und handelt in
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Raum und Zeit. Kants zweite Analogie in der ersten Kritik verpflichtet ihn auf die Behauptung, dass alle Ereignisse in Raum und Zeit determiniert sind. Handlungen des homo phaenomenon sind Ereignisse in Raum und Zeit. Also müssen auch alle Handlungen des homo phaenomenon determiniert sein. Aber wenn sie determiniert sind, so das Argument, dann ist der homo phaenomenon nicht verantwortlich für seine Handlungen. An diesem Punkt könnte man versucht sein, den homo noumenon ins Spiel zu bringen, der frei zwischen gut und böse entscheidet. Das Problem mit dieser Lösung ist, dass sie einen Dualismus voraussetzt, der nicht der Einheit des Menschen Rechnung tragen kann. Wenn der homo phaenomenon nicht frei ist, wie kann er getadelt werden? Es scheint so, als würde Kant sich mit seiner Lösung das folgende Problem einhandeln: „We assume the freedom of the noumenal man, but hang the phenomenal man“ (Beck, 1998, 190). Wir können dieses Problem leicht modifiziert darstellen: Wir setzten die Freiheit des homo noumenon voraus, um uns so zu verstehen, dass wir uns Pflichten auferlegen, aber wir tadeln den homo phaenomenon, weil er pflichtwidrig handelt. Wie kann der Tadel für pflichtwidriges Handeln angemessen sein, wenn der homo phaenomenon nicht frei ist? Wie kann Kant der Einheit des Menschen Rechnung tragen und zugleich die Unterscheidung zwischen homo noumenon and homo phaenomenon aufrechterhalten? Sogar Kant wohlwollende Interpreten haben sich gefragt, ob diese Unterscheidung „with its metaphysical baggage, makes any sense at all in this context“ (Wood 2009, 236). In § 4 macht Kant sehr deutlich, dass er eine einheitliche Konzeption des Menschen vertreten will: „Das verpflichtete sowohl als das verpflichtende Subjekt ist immer nur der Mensch“. Er schreibt außerdem: Obwohl es uns „in theoretischer Rücksicht gleich erlaubt ist im Menschen Seele und Körper als Naturbeschaffenheiten des Menschen von einander zu unterscheiden, so ist es doch nicht erlaubt sie als verschiedene den Menschen verpflichtende Substanzen zu denken“ (418 f.). Kant macht hier nicht von der Unterscheidung zwischen homo phaenomenon und homo noumenon Gebrauch. Der entscheidende Punkt von § 4 ist die Artikulation des „Prinzip[s] der Einteilung der Pflichten gegen sich selbst“. Kants primäres Ziel in dieser Passage ist die Zurückweisung der Unterscheidung zwischen Pflichten gegen die Seele und Pflichten gegen den Körper, wie wir sie z. B. bei Pufendorf (1995) und Baumgarten (1969) finden. Wir werden uns im nächsten Abschnitt auf dieses Thema konzentrieren. Hier soll diese Passage lediglich als Beleg dafür dienen, dass Kant sich dagegen wendet, homo phaenomenon und homo noumenon als zwei verschiedene Entitäten zu begreifen und er vielmehr eine einheitliche Konzeption des Menschen anstrebt. Die Standardlösung dieses Problems besteht darin, die Unterscheidung epistemisch und nicht ontologisch zu lesen. Kant möchte nicht zwei unterschiedliche Entitäten einführen, sondern nur zwei Arten, auf dieselbe Entität zu reflektieren (Beck 1960; Prauss 1974; Allison 1983); der Unterschied ist epistemisch, nicht onto-
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logisch. Diese Lösung scheint aber nur einen Pyrrhussieg darzustellen. Wenn wir den homo phaenomenon als vollständig determiniert verstehen, wie können wir ihn dann zugleich als transzendental (inkompatibilistisch) frei verstehen, ohne uns selbst zu widersprechen? Das Problem ist gravierend in diesem Zusammenhang, weil die noumenale Wahl des Handelnden sich irgendwie in der Sinnenwelt als ein physisches Ereignis materialisieren muss. Wenn es sich nicht materialisiert, wie können wir dann unsere Pflichten überhaupt ausführen? Wie kann der homo phaenomenon, wenn er z. B. dem Bettler auf der Straße Geld gibt, aus Pflicht handeln, wenn er vollständig durch natürliche Ursachen bestimmt ist? Wenn es Pflichten im Kantischen Sinne gibt, dann scheint die Behauptung ausgeschlossen zu sein, dass jede Handlung, die durch den homo phaenomenon vollzogen wird, durch natürliche Ursachen bestimmt ist. Ich glaube, dass die Zwei-Aspekte-Deutung dennoch auf dem richtigen Weg ist: Von einer theoretischen Perspektive aus betrachtet, gibt es keinen Raum für Freiheit. Transzendentale (inkompatibilistische) Freiheit bedeutet, dass die Handlung nicht vollkommen durch vorhergehende natürliche Ursachen bestimmt ist. Wenn sie nicht vollkommen durch natürliche Ursachen bestimmt ist, dann gibt es aus theoretischer Perspektive eine explanatorische Lücke. Also können wir nicht vollkommenes Wissen davon haben, wie die Handlung zustande kam. Wir können diese Lücke nicht dadurch schließen, dass wir eine spontane Ursache annehmen. Denn eine solche Ursache ist nicht durch einen vorhergehenden Zustand in Raum und Zeit bestimmt und ist also nicht ein Gegenstand der Erfahrung. Das verpflichtet Kant aber gerade nicht zu der Auffassung, dass alle Ereignisse vollkommen durch natürlich Ursachen determiniert sind, so dass sie nicht hätten anders sein können. Die zweite Analogie zeigt lediglich, dass jedes Ereignis eine Ursache hat (Beck 1978, 126), aber sie schließt nicht die Möglichkeit aus, dass manche Ereignisse (z. B. dem Bettler auf der Straße helfen oder nicht helfen) nicht vollkommen durch natürliche Ursachen determiniert sind. Was sie tatsächlich ausschließt, ist, dass wir (vollständiges) theoretisches Wissen von den Ursachen dieser Ereignisse haben können. Wenn wir also den Menschen ausschließlich als homo phaenomenon betrachten, dann gibt es tatsächlich keinen Raum für Pflichten. Unsere moralische Erkenntnis gibt uns aber einen Grund zu glauben, dass menschliches Handeln nicht erschöpfend durch die Naturwissenschaften erfasst werden kann, und die „Dialektik“ der ersten Kritik zeigt, warum ein Szientismus der Naturwissenschaften dogmatisch ist. Also bringt der „homo phaenomenon“ alleine nicht den Menschen als moralisch Handelnden in den Blick. Seine Handlungen sind empirische Ereignisse in Raum und Zeit, so wie auch seine Wünsche und Begehrungen Ereignisse in der Zeit sind. Sie können aber durch eine Vernunftidee verändert werden – von einem Noumenon, wie man auch sagen kann. Insofern wir unsere Wahl im Licht dieser Vernunftidee treffen, sind wir in jeder Handlung die Einheit des homo noumenon und homo phaenomenon. Aber wir müssen uns, um uns als gesetzgebend zu betrachten,
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auch zugleich als unabhängig von unseren empirischen Bedürfnissen betrachten. Und um uns als verpflichtet zu betrachten, müssen wir uns auch als Wesen betrachten, deren Begehrungen nicht notwendig mit dem übereinstimmen, was unbedingt gut ist. Die These der Antinomie unterscheidet nicht zwischen den beiden Perspektiven. Deshalb ist aus ihren Voraussetzungen auch nicht verständlich zu machen, wie wir Pflichten gegenüber uns selbst haben können. Aus diesen Voraussetzungen gelingt es nicht einmal, wie die Antithese zurecht geltend macht, die Möglichkeit von Pflichten gegenüber anderen zu erklären. Es besteht aber durchaus die Gefahr, dass die Zwei-Aspekte-Deutung als eine Art von Fiktionalismus missverstanden wird (Vaihinger 1911; Rauscher 2015). Die Tatsache, dass wir nicht theoretisch wissen können, ob eine Handlung frei ist, sollte uns nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass transzendentale Freiheit und damit unbedingte Verpflichtung bloße Fiktionen sind. Wenn transzendentale Freiheit (eine spontane Ursache) eine bloße Fiktion wäre, wäre es falsch, uns nach kategorischen Imperativen verantwortlich zu machen; es wäre uns dann unmöglich aus Pflicht zu handeln. Es gäbe weder Pflichten gegen uns selbst noch Pflichten gegen andere. Kant wäre dann eine Art von Irrtumstheoretiker: Kategorische Verpflichtung ist bloß eine Erfindung und nicht eigentlich gerechtfertigt (s. dazu Bojanowski 2017b, 467). Wir können die Frage beiseite lassen, ob die Irrtumstheorie eine philosophisch attraktive Position ist. Es sollte deutlich genug sein, dass die fiktionalistische Lesart des homo noumenon nicht mit Kants Text kompatibel ist: Praktische Vernunft ist ein Erkenntnisvermögen. Das moralische Gesetz ist eine synthetische Erkenntnis a priori und nicht ein „Hirngespinst“ (GMS, IV 445). Für Fiktionalismus gibt es also bei Kant keinen Platz.
6.4.2 Der Redundanzvorwurf Auch wenn der Vorwurf der Uneinheitlichkeit des Subjekts sich ausräumen lässt, mag man dennoch den Unterschied zwischen homo phaenomenon und homo noumenon zurückweisen. Man kann zum einen die Annahme eines homo noumenon mysteriös finden, weil man Kants moralischen Kognitivismus ablehnt, oder man findet zum anderen diese Unterscheidung redundant, weil die Pflichten gegen uns selbst ohne sie erklärt werden können. Der erste Einwand geht über die Grenzen dieses Aufsatzes hinaus (s. dazu Engstrom 2009). Der zweite Einwand betrifft aber unmittelbar Kants Konzeption der Pflichten gegen uns selbst und soll hier deshalb kurz erörtert werden. Wenn man empiristischere Intuitionen als Kant hat, könnte man Kant noch darin zustimmen, dass es nicht dasselbe Ich sein kann, das Pflichten auferlegt und Pflichten empfängt, man könnte aber gegen Kant einwenden, dass der erforderliche
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Unterschied nicht mit den Begriffen homo noumenon und homo phaenomenon eingeholt werden kann. Man könnte dann versuchen, den Unterschied innerhalb des empirischen Subjekts zu verorten. Ein nicht-natürlicher oder noumenaler Ansatz wäre so nicht erforderlich. Wie wir im ersten Abschnitt gesehen haben, gibt es einen Weg, Pflichten gegen sich selbst zu erklären, ohne die Unterscheidung zwischen homo noumenon und homo phaenomenon in Anspruch zu nehmen. Folgt man diesem Ansatz, könnte man Kants Unterscheidung durch Harry Frankfurts Differenzierung zwischen Wünschen erster und Wünschen zweiter Ordnung ersetzen (Frankfurt 1988). Nach dieser Auffassung ergibt sich Verpflichtung dadurch, dass es eine Lücke zwischen dem gibt, was wir wünschen, und dem, was wir uns wünschen zu wünschen. Es kann sehr wohl der Fall sein, dass wir einen bestimmten Wunsch haben, aber wir uns nicht mit diesem Wunsch identifizieren, wir also wünschen, einen anderen Wunsch zu haben. Wir verstehen den Wunsch erster Ordnung nicht als eine Artikulation desjenigen, der wir eigentlich oder wirklich sind. Wenn ein Konflikt zwischen unseren Wünschen erster und zweiter Ordnung besteht und wir (unser eigentliches Selbst) in diesem Konflikt verlieren, indem wir dem Wunsch erster Ordnung nachgeben, dann erfahren wir unsere Handlung als inauthentisch. Unser Wille ist dann kein Ausdruck unseres eigentlichen Selbst. Wir tadeln uns selbst dafür, dass wir tun, was wir nicht wirklich tun wollen. Diesem Ansatz zufolge ist es der Konflikt zwischen unseren Wünschen erster und zweiter Ordnung, der der Ursprung von Verpflichtungen ist. Und es ist unser wahres Selbst, das als ihr normativer Grund fungiert. Dieser mögliche Konflikt zusammen mit der Tatsache, dass wir uns um „the desirability of [our] desires themselves“ sorgen, unterscheidet uns grundsätzlich von anderen Tieren. Es ist diese selbstreflexive Struktur, die unsere Personalität ausmacht (Frankfurt 1988, 17, 12 f.). Im Unterschied zu Kant versteht Frankfurt den Inhalt unseres eigentlichen Selbst als eine kontingente Tatsache der Person, die wir geworden sind. Er ist das Produkt unserer natürlichen Konstitution, der Bedingungen, in die wir geboren sind, und der Lebensentscheidungen, die wir getroffen haben. Die hervorgebrachten Normen sind also radikal individualistisch. Ob ich mein Bedürfnis, ein Hochstapler zu sein, als Ausdruck meines eigentlichen Selbst verstehe, hängt wesentlich von meiner Biographie ab. Wenn ich mich mit diesem Begehren identifiziere, werde ich mich als verpflichtet betrachten, meine wirklichen Emotionen zu verbergen. Wenn ich dann irgendwann den Wunsch habe, meine wirklichen Gefühle zu offenbaren, dann werde ich diesen Wunsch als nicht wünschenswert betrachten. Ich werde begehren, wünschen, diesen Wunsch nicht zu wünschen, und ich werde glauben, dass ich es mir selbst als Hochstapler schuldig bin, nicht danach zu handeln. Diese Konzeption des Selbst ist eine Verbesserung der klassischen Lockeschen Konzeption des Selbst. Sie bleibt aber empirisch, weil der Inhalt unserer Verpflichtungen seine Quelle in den gegebenen Wünschen hat, die „most important“
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für unser besonderes Ich sind (Williams 1985, 126 f.; Frankfurt 1988, Kap. 7). Der Begriff der „Wichtigkeit“ ist rätselhaft, und es ist eine offene Frage, ob er die Last tragen kann, die er zu tragen verspricht. Es sollte klar sein, dass dieser empirische Ansatz bestenfalls hypothetische Imperative geben kann, denn die Verpflichtung hängt immer von der Wichtigkeit ab, die das Individuum seinem jeweiligen Projekt zuspricht. Kants rationalistischer Ansatz beginnt dagegen mit einer Erkenntnis a priori dessen, was wir als rational Handelnde wollen, d. i. dessen, was praktisch verallgemeinerbar ist. Als die rational Handelnden, die wir sind, halten wir unsere besonderen Bedürfnisse nicht für einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund unseres Handelns. Stattdessen machen wir die Verwirklichung dieser Bedürfnisse von ihrer Verallgemeinerbarkeit abhängig. In dem Grade, in dem wir unsere besonderen Wünsche als einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund betrachten, ist es keine offene Frage mehr, warum wir nicht nach ihnen handeln sollten. Das meint Kant, wenn er sagt, dass das „moralische Sollen … also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt [ist]“ (GMS, IV 455). Es ist als homo noumenon (durch unsere Fähigkeit, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln), dass wir Mitglieder dieser ingelligiblen Welt sind. Wir haben Zugang zu diesem wirklichen Selbst, nicht indem wir unsere eigene autobiographische Geschichte betrachten, sondern durch das Selbstbewusstsein der praktischen Vernunft. Für Kant kann das Leben eines Hochstaplers niemals authentisch sein, weil es nicht Ausdruck eines rational handelnden Vernunftwesens ist, das ich wesentlich bin. Nur weil wir uns vollkommen von unseren besonderen Bedürfnissen distanzieren können und der Universalisierbarkeit eine entscheidende rechtfertigende und motivationale Rolle in unserem Handeln zusprechen können – nur weil wir aus Pflicht handeln können – haben wir überhaupt eine Persönlichkeit. Dies ist Kants nicht-individualistische Konzeption der Person, weil die Frage nicht die ist, ob der Wunsch, den wir haben, ein wahrer Ausdruck unseres besonderen Selbst ist, sondern ob das Begehren ein wahrer Ausdruck unserer allgemeinen Persönlichkeit ist (Charles Taylor (1985) will Frankfurt auch dieser Kantischen Position annähern). Kurz: Kant muss an der Unterscheidung zwischen homo noumenon und homo phaenomenon festhalten, weil sie ihn dazu berechtigt, die Moral als System kategorischer Imperative zu betrachten. Solange unser eigentliches Selbst im Sinne Frankfurts verstanden wird, können wir nicht an Pflichten im Kantischen Sinne festhalten. Wir müssen Raum für eine Erkenntnis a priori des moralischen Gesetzes machen, die in uns ein Gefühl auslöst, das nicht ein zufälliges biographisches Nebenprodukt ist. Moralisches Handeln dieser Art kann nicht richtig verstanden werden, wenn wir Persönlichkeit bloß als ein Vermögen für Begehrungen zweiter Ordnung begreifen. Deshalb ist Kants Unterscheidung zwischen homo noumenon und homo phaenomenon nicht redundant.
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6.5 Die Taxonomie der Pflichten gegen uns selbst Nachdem Kant in den Paragraphen 1–3 den Begriff der Pflichten gegen sich selbst vor der scheinbaren Antinomie gerettet hat, artikuliert er in § 4 das „Prinzip der Einteilung der Pflichten gegen sich selbst“. Er weist zunächst die Unterscheidung zwischen Pflichten gegenüber der Seele und Pflichten gegenüber dem Körper zurück, wie er sie bei Pufendorf (1995) und Baumgarten (1969) findet. Danach schlägt er seine eigene Unterscheidung der Pflichten gegen sich selbst vor. In seiner Schrift De officio hominis et civis prout ipsi praescribuntur lege naturali schreibt Pufendorf: „Der Mensch besteht aus zwei Teilen, der Seele [anima] und dem Körper. Die Seele hat die Funktion des Herrschers, der Körper des Untertans und des Instruments; folglich benutzen wir den Geist [animus] zum regieren und den Körper als Dienstmittel. Wir müssen für beide Sorge tragen, aber besonders für den Geist“ (Pufendorf 1995). Wir können den ersten Absatz von § 4 als Kants Zurückweisung dieses Arguments verstehen. Die erste Prämisse behauptet einen Cartesischen Substanzdualismus. In der ersten Kritik hat Kant argumentiert, dass wir, weil unsere theoretische Erkenntnis auf Gegenstände in Raum und Zeit eingeschränkt ist, nicht in einer epistemischen Position sind, um die Frage zu beantworten, ob die Seele geistiger Natur ist: „Denn durch einen solchen Begriff nehme ich nicht bloß die körperliche Natur, sondern überhaupt alle Natur weg, d. i. alle Prädikate irgend einer möglichen Erfahrung“ (KrV, B 712). Auf der Grundlage dieses Arguments behauptet Kant in § 4, dass wir „weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft hinreichend darüber belehrt [sind], ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken vermögende, d. i. geistige Substanz) enthalte“ (419). Rationale Psychologie geht über unsere epistemischen Beschränkungen hinaus und empirische Psychologie bleibt immer empirisch. Kant hält Pufendorfs Argument für falsch. Doch auch wenn man Pufendorf seinen Substanzdualismus zugestehen würde, gibt es dennoch „keine Pflicht des Menschen gegen einen Körper“ (ebd.). Kant liefert hier kein Argument für diese Behauptung. Seine Idee ist wahrscheinlich, dass wir moralische Wesen wegen unserer Persönlichkeit sind. Persönlichkeit müssen wir hier als das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, verstehen. Ein bloßer Körper hat dieses Vermögen nicht. Wenn der Körper unabhängig vom Geist existiert, wäre es eine offene Frage, warum wir überhaupt dem Körper etwas schuldig sind. Kants alternative Einteilung der Pflichten gegen sich selbst fällt zweifach aus. Zum einen unterteilt er sie hinsichtlich des Gegenstandes der Pflicht (Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung). Zum anderen unterscheidet er sie hinsichtlich des Subjekts der Pflicht (Menschen) in Pflichten gegen sich selbst bloß als ein mo-
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ralisches Wesen und Pflichten gegen sich selbst als ein moralisches und als ein animalisches Wesen. Hier sind die die beiden Taxonomien:
Einige Bemerkungen sind hier angebracht. Erstens: In der ersten Einteilung unterscheidet Kant zwischen formalen und materialen Pflichten gegen sich selbst. Er sagt aber nicht, was mit dieser Unterscheidung erklärt werden soll. Ich denke, dass
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die materialen Pflichten material sind in dem Sinne, dass sie teilweise abhängig sind von dem Zweck, den der Handelnde für gut befindet. Wenn wir uns vervollkommnen sollen, müssen wir nicht nur unsere „Lust zu einer gewissen Lebensart“ kennen, sondern auch unsere „dazu erforderlichen Kräfte“ richtig einschätzen und auswählen können (445) Eine materiale Pflicht ist unvollkommen, „weil sie zwar ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält, in Ansehung der Handlungen selbst aber ihrer Art und ihrem Grade nach nichts bestimmt, sondern der freien Willkür einen Spielraum verstattet“ (ebd.). Dieser Spielraum lässt dann auch Raum für kasuistische Fragen, aber nicht für eine genuine Kasuistik (Kittsteiner 1988; Unna 2003; Schüssler 2012; Bojanowski im Druck). Die formalen Pflichten können im Unterschied dazu einfach gewusst werden. Wir müssen nur auf die Verallgemeinerbarkeit des begehrten Zwecks reflektieren. Indem wir z. B. auf ein lügenhaftes Versprechen reflektieren, können wir uns bewusst werden, dass es nicht praktisch verallgemeinerbar und also moralisch verboten ist. Zweitens: Die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, wie sie in der Taxonomie oben dargestellt ist, finden wir weder in der ersten noch in der zweiten Einteilung. Kant spricht hier schlicht von „Tugendpflichten“; er spezifiziert sie nicht als vollkommen oder unvollkommen. Aber wenn man den Hauptunterschied zwischen dem ersten und zweiten Buch der Tugendlehre in Rechnung stellt, scheint dieser Zusatz legitim zu sein. Er macht auch den Widerspruch sichtbar, der die Kantforschung seit Generationen beschäftigt hat. Der Ausdruck „vollkommene Tugendpflicht“ scheint unvereinbar mit Kants Behauptung in der Einleitung zu sein, dass „die unvollkommenen Pflichten … allein Tugendpflichten [sind]“ (390; s. dazu den Beitrag von Elke Schmidt u. Dieter Schönecker in diesem Band). Ich kann hier nicht in eine Diskussion von Details dieses schwierigen Problems einsteigen. Ich möchte nur bemerken, dass der gerade zitierte Satz aus der Einleitung so gelesen werden kann, dass er keinen Widerspruch ergibt: Die einzigen unvollkommenen Pflichten, die es gibt, sind Tugendpflichten. Mit anderen Worten, es gibt keine unvollkommenen Pflichten, die Rechtspflichten sind. Wenn man den Satz so versteht, bleibt durchaus noch offen, ob es vollkommene Pflichten gibt, die beides, Rechtspflichten und Tugendpflichten, sind. Drittens: Die Existenz der zweiten Taxonomie ist in Anbetracht des Textes nicht selbstverständlich. Im ersten Satz von § 4 sagt Kant, dass die „Einteilung … nur in Ansehung des Objects der Pflicht, nicht in Ansehung des sich verpflichtenden Subjekts gemacht werden [kann]“. Nur die erste Taxonomie wird jedoch in Bezug auf den Gegenstand der Pflicht entwickelt. Die zweite wird dagegen im Unterschied zu dem, was Kant ausdrücklich sagt, in Bezug auf das Subjekt der Pflicht hergeleitet. Das „nur“ im ersten Satz scheint daher nicht am Platz zu sein, weil Kant uns sowohl eine objektive als auch eine subjektive Einteilung vorlegt. Insofern Kant eine Einteilung in Bezug auf das Subjekt vorlegt, ist es auch unklar, wie der zweite Teil des
6 Können wir uns selbst gegenüber moralisch verpflichtet sein? (§§ 1–4)
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Satzes mit dem Rest des Textes vereinbar sein soll. Wir müssen diese Behauptung im Zusammenhang mit Kants Argument gegen Pufendorf lesen: Die Taxonomie der Pflichten kann nicht in Bezug auf die immaterielle Seele, das Subjekt, das die Pflicht auferlegt, entwickelt werden, sondern nur in Bezug auf den Menschen als Ganzen. Das ist auch das, was Kant unternimmt, wenn er die Pflichten hinsichtlich des Subjekts einteilt.
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7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8) Im ersten Teil beschreiben wir die Einordnung der §§ 5–8 in die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre und einige damit verbundene Schwierigkeiten; dabei werden wir einen Lösungsvorschlag skizzieren. Im zweiten Teil werden wir Kants Thesen und Argumente zur Selbstentleibung (§ 6), Selbstschändung (§ 7) und Selbstbetäubung (§ 8) interpretieren. Dabei werden wir § 6 etwas ausführlicher behandeln; das liegt zum Teil daran, dass Kants Ausführungen zur Selbstentleibung schwieriger sind als die zur Selbstschändung und Selbstbetäubung, zum Teil daran, dass wir in Bezug auf § 6 einige Dinge erörtern, auf die wir dann bei den §§ 7 und 8 zurückgreifen können. Abschließend gehen wir auf Kants Kasuistik ein.
7.1 Über Kants Systematik der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst als ein (auch) animalisches Wesen Rufen wir uns zunächst die Grundstruktur der„Ethische[n] Elementarlehre“ (417) in Erinnerung: Im ersten Teil dieser Elementarlehre geht es um die Pflichten gegen sich selbst, im zweiten Teil um die Pflichten gegen Andere. Der hier relevante erste Teil wiederum hat zwei „Abteilungen“; die erste (§§ 1–18) behandelt die vollkommenen, die zweite (§§ 19–22) die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst. In den §§ 1–3 diskutiert Kant die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst; wie wir sehen werden, spielt das bei der Interpretation des Selbstmordes eine Rolle. Wichtig ist auch § 4, in dem Kant die „Eintheilung der Pflichten gegen sich selbst“ (418) thematisiert. Nach einer kurzen Einleitung in § 5, in der die „erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst in der Qualität seiner Tierheit“ (421) als die „moralische Selbsterhaltung“ (419) in seiner „animalischen Natur“ (421) identifiziert wird, erörtert Kant die Themen, um die es bei dieser Pflicht gehen soll: „Selbstentleibung (§ 6), „wollüstige Selbstschänddung“ (§ 7) und „Selbstbetäubung durch Unmäßigkeit im Gebrauch der Genieß- oder auch Nahrungsmittel“ (§ 8). Diese Diskussion von Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung bildet das erste „Hauptstück“ („Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst als ein animalisches Wesen“; ebd.) der ersten Abteilung. Das zweite „Hauptstück“ thematisiert die „Pflicht des https://doi.org/10.1515/9783110786958-009
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Menschen gegen sich selbst, bloß als ein moralisches Wesen“; 428). Die zweite Abteilung schließlich behandelt die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst in Bezug auf die eigene Vervollkommnung.
7.1.1 Systematische Probleme Die Pflichten gegen sich selbst in Bezug auf Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung gehören also zu den ‚vollkommenen Pflichten gegen sich selbst als ein animalisches Wesen‘. Aber diese Einordnung ist problematisch. Vor allem zwei Fragekomplexe drängen sich auf: Wie können, erstens, die gegen die ‚Laster‘ gerichteten, „negativen Pflichten“ (421) als Tugendpflichten zugleich weit sein und also Spielraum und sogar eine Kasuistik erlauben? Welche Rolle spielt, zweitens, Kants Verweis auf so etwas wie einen „Naturzweck“ (424)? Kant sagt eindeutig, dass in den §§ 6–8 „nur von negativen Pflichten, folglich nur von Unterlassungen“ (421, u. H.) die Rede sei (wobei Unterlassungen für Kant Handlungen sind), so dass „die Pflichtartikel“ (ebd.) – Kant meint die drei Artikel des ‚ersten Hauptstücks‘, also die §§ 6–8 – „wider die Laster gerichtet sein müssen, welche der Pflicht gegen sich selbst entgegen gesetzt sind“ (ebd.); die ‚negativen‘ Pflichten „verbieten“ (419) die Laster. Diese Laster sind „der Selbstmord, der unnatürliche Gebrauch, den jemand von der Geschlechtsneigung macht, und der, das Vermögen zum zweckmäßigen Gebrauch seiner Kräfte schwächende, unmäßige Genuß der Nahrungsmittel“ (420). Diese Laster listet Kant in § 4 auf, wo er das „Prinzip der Einteilung der Pflichten gegen sich selbst“ (418) erörtert und diese „Unterlassungspflichten“ (419) als „negative Pflichten“ (ebd.) charakterisiert. Versteht man, wie üblich, ‚vollkommene Pflichten‘ als enge Pflichten, also jedenfalls als Pflichten, die keinen „Spielraum“ (390) lassen, dann ist die Negativität der vollkommenen Pflichten, als solche betrachtet, unproblematisch. Aber die Schwierigkeit erwächst natürlich daraus, dass Kant in der Einleitung zur Tugendlehre wiederholt schreibt, diese habe es ausschließlich mit weiten oder eben unvollkommenen Pflichten zu tun, wobei die Prädikate ‚weit‘ und ‚unvollkommen‘ von Kant scheinbar austauschbar verwendet werden. So heißt es, dass „die ethische Pflicht als weite, nicht als enge Pflicht gedacht werden müsse“ (410), und die Überschrift von Kap.VII lautet: „Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit“ (390). Es scheint also ein Widerspruch vorzuliegen: Auf der einen Seite sagt Kant, es seien die weiten, d. h. „die unvollkommenen Pflichten also allein Tugendpflichten“ (ebd.); auf der anderen Seite sagt er, die Lasterverbote aus den §§ 6–8 seien eben solche „Tugendpflichten“ (419), und dennoch charakterisiert er sie zugleich als ‚negativ‘ bzw. als ‚Unterlassungspflichten‘, also doch wohl gerade nicht als ‚unvollkommene‘ oder ‚weite‘ Pflichten.
7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8)
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Es kommt hinzu, dass Kant bei allen sechs vollkommenen, d. h. bei allen negativen Unterlassungspflichten der §§ 6–12 ‚Kasuistische Fragen‘ stellt, obwohl man solche Fragen ja nur bei den ‚weiten‘ oder ‚unvollkommenen‘ Pflichten erwartet. Kant schreibt nämlich in Kap. XVIII der Einleitung, dass die Tugendlehre (Ethik) „es mit weiten“, die Rechtslehre „aber mit lauter engen Pflichten zu tun hat“ (411), und dann weiter: „Die Ethik hingegen führt wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich … in eine Kasuistik“ (ebd.). Tatsächlich aber findet man diese ‚Kasuistik‘ in der ersten Abteilung aber dann allein bei den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst und bei den unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst gerade nicht. Diese Spannung zwischen der behaupteten Weite aller Tugendpflichten einerseits und der Vollkommenheit und Negativität der Pflichten in den §§ 6–12 andererseits wird weiter verschärft, wenn man sich vor Augen führt, wie sich die in den §§ 5–8 diskutierte ‚vollkommene Pflicht des Menschen gegen sich selbst als ein animalisches Wesen‘ zu dem verhält, was Kant in der Einleitung ‚Tugendpflicht‘ nennt, also zum Begriff eines „Zweck[s], der zugleich Pflicht ist“ (383). Kant identifiziert zwei solche Zwecke, die Pflicht sind: „eigene Vollkommenheit“ (386) und „fremde Glückseligkeit“ (ebd). Kant bezieht die ‚negativen‘ Pflichten der §§ 6–8 in § 4 ausdrücklich auf (den Begriff der) „Vollkommenheit“ (419) und damit, so scheint es jedenfalls, auf einen der Zwecke, die Pflicht sind, nämlich die eigene Vollkommenheit: Die Unterlassungspflichten gehörten „zur moralischen Gesundheit (ad esse) des Menschen, sowohl als Gegenstandes seiner äußeren, als seines inneren Sinnes zu Erhaltung seiner Natur in ihrer Vollkommenheit“ (ebd.); „erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur“ (ebd.), sei hier das Prinzip. Die Unterlassungspflichten seien „jene, welche dem Menschen in Ansehung des Zwecks seiner Natur verbieten demselben zuwider zu handeln, mithin bloß auf die moralische Selbsterhaltung“ (ebd.) gehen. Diese Rede vom ‚Zweck seiner Natur‘ taucht zu Beginn des § 7 wieder auf: Dort identifiziert Kant die „Erhaltung der Person“ (424) und die „Erhaltung der Art“ (ebd.; vgl. 426) jeweils als „Naturzweck“ (424; vgl. 425; 426; RL, VI 277). Kant verbindet diese Rede vom ‚Naturzweck‘ in § 4 ausdrücklich damit, „drei Antriebe der Natur, was die Tierheit des Menschen betrifft“ (420), zu identifizieren – „nämlich a) de[n] Trieb durch welchen die Natur die Erhaltung seiner selbst, b) de[n], durch welchen sie die Erhaltung der Art, c) de[n] Trieb wodurch sie die Erhaltung seines Vermögens zum zweckmäßigen Gebrauche seiner Kräfte, und zum angenehmen aber doch nur tierischen Lebensgenuß beabsichtigt“ (ebd.). Auch aus diesem Befund erwachsen Schwierigkeiten: Erstens stellt sich wieder die Frage: Wie können die Unterlassungspflichten, die doch als ‚weite‘ Tugendpflichten eigentlich alle auf den ‚Zweck‘ der ‚eigenen Vollkommenheit‘ bezogen zu sein scheinen, dennoch ‚negativ‘ bzw. ‚eng‘ sein? Zweitens, welche Rolle spielen überhaupt die Naturzwecke bei der spezifischen Begründung der Pflichten (als Lasterverbote)?
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7.1.2 Eine Lösungsperspektive Kants These ist eindeutig, dass alle Tugendpflichten ‚weit‘ sind. Und das muss auch so sein; wäre dem nämlich nicht so, könnte man nicht nachvollziehen, warum er (u. a.) bei den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst ‚Kasuistische Fragen‘ diskutiert. Da er also in der Tugendlehre ‚vollkommene‘ Pflichten thematisiert und diese auch als ‚Tugendpflichten‘ beschreibt, kann ‚weit‘ nicht gleichbedeutend sein mit ‚unvollkommen‘.Vielmehr muss ‚weit‘ der Oberbegriff sein, unter den sowohl die ‚vollkommenen‘ wie auch die ‚unvollkommenen‘ Pflichten fallen. Stellen wie die oben zitierte, in denen es z. B. heißt, ‚die Ethik führe wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet‘ zu einer Kasuistik, müssen also so gedeutet werden, dass dabei ‚unvollkommen‘, anders als in der Elementarlehre, gleichbedeutend ist mit ‚weit‘. Ein zunächst schlagend wirkender Einwand lässt sich gut entkräften: Zwar schreibt Kant auf Seite 390: „Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten“ (u. H.), und das klingt auf den ersten Blick so, als wären alle Tugendpflichten unvollkommen. Aber nicht nur finden sich ja dann de facto vollkommene Tugendpflichten in der Tugendlehre; sondern man kann diese Stelle auch so lesen: Alle unvollkommenen Pflichten sind Tugendpflichten, aber nicht umgekehrt, d. h. es gibt Tugendpflichten, die vollkommen sind – und genau das ist eben der Fall (z. B. in den §§ 5–8). Zunächst ist klar, dass für Kant vollkommene Pflichten ‚negativ‘ sein können. Tatsächlich glauben wir, dass die Begriffe ‚vollkommen‘ und ‚negativ‘ im Kontext der Tugendlehre gleichbedeutend sind. Es sind de facto alle vollkommenen Pflichten in Kants Tugendlehre negativ (und Kant sagt das ja auch ausdrücklich, vgl. 421; 464). Kants Hinweis am Ende des § 5 („Da in diesen Hauptstücke nur von negativen Pflichten, folglich von Unterlassungen nur die Rede ist …“; 421, u. H.) kann so gelesen werden, dass er damit die Überschrift der Abteilung (‚Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst‘) mit anderen Worten (‚negativ‘ statt ‚vollkommen‘) wiedergibt. Aber inwiefern können negative Pflichten (‚Unterlassungspflichten‘) weit sein? Wie gesagt, das muss so sein, da alle Tugendpflichten ‚weit‘, einige dieser Tugendpflichten aber ‚negativ‘ sind. Es ist daher wichtig daran zu erinnern, dass Kant selbst an einer Stelle eine Pflicht zugleich als ‚weit‘ und ‚negativ‘ beschreibt: Die Pflicht, das „[m]oralische Wohlsein Anderer“ (394) zu befördern, gehört zu der weiten Tugendpflicht, sich die Glückseligkeit Anderer zum Zweck zu machen. Kant beschreibt diese Pflicht als „negative Pflicht“ (ebd.), also so, dass es Pflicht sei, „nichts zu tun, was nach der Natur des Menschen Verleitung“ (ebd.) zu verwerflichen Handlungen sein könnte, weil dies zu Gewissensbissen führen könne, die die Glückseligkeit einschränken. Und dann schreibt er: „Aber es sind keine bestimmte Grenzen, innerhalb welcher sich diese Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit Anderer halten ließe; daher ruht auf ihr nur eine weite Verbindlichkeit“
7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8)
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(ebd.). Anders gesagt: Es gibt die Pflicht, bestimmte Handlungen eines Handlungstyps zu unterlassen; aber welche Handlungen genau zu diesem Handlungstyp gehören, bleibt offen. Einen weiteren Beleg für unsere Interpretation bietet auch eine Stelle in den ‚Kasuistischen Fragen‘, wo Kant in Bezug auf die Pflicht, Selbstschändung zu unterlassen, sagt, diese sei nur von einer „weiten Verbindlichkeit“ (426) – obgleich auch sie ja negativ ist.
7.2 Kants Argumente gegen Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung Es ist wichtig zu sehen, dass es im ersten Hauptstück nicht um die Pflicht gegen sich selbst bloß ‚als ein animalisches Wesen‘ geht.Vielmehr geht es um den Menschen als „animalisches (physisches) und zugleich moralisches“ (420, u. H.) Wesen; umgekehrt betont Kant daher im zweiten Hauptstück, dass es darin um den Menschen „bloß als moralisches Wesen“ (ebd., u. H.) gehe. Die im ersten Hauptstück behandelten Pflichten sind also zwar die Pflichten gegen sich selbst ‚als ein animalisches Wesen‘, aber so, dass sie „bloß auf die moralische Selbsterhaltung“ (419, u. H.) zielen. Selbsterhaltung ist nicht deshalb Pflicht, weil sie als solche ein ‚Naturzweck‘ ist; sondern sie ist Pflicht um der Wirkung willen, die damit verbunden ist: Die physische Selbsterhaltung ist zum Zwecke der ‚moralischen Selbsterhaltung‘ geboten. Das ist der Kern von Kants Würde-Argument gegen den Selbstmord, und diese ‚moralische Selbsterhaltung‘ steht auch bei den anderen Lastern im Zentrum.
7.2.1 Kant über Selbstmord Kant skizziert in § 5 zunächst die verschiedenen Weisen, in denen die Pflicht der „Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur“ (421) verletzt werden kann. Dabei führt er in der ersten Auflage der Tugendlehre (1797) eine Systematik ein, die zweifellos inkonsistent ist. Die zweite Auflage (1803) versucht diesen Mangel zu beheben und gelangt dabei zu folgender Einteilung: Die „Zerstörung seiner animalischen Natur“ (ebd.) wird eingeteilt in die „totale“ (Selbstmord) und die „partiale“, die wiederum eingeteilt wird in die „materiale“ (Verstümmelung) und die „formale“ (Selbstbetäubung).
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7.2.1.1 Selbstmord als Laster In § 4 wird der Selbstmord ausdrücklich als „Laster“ (420) beschrieben. Bei Selbstschändung sowie bei Versoffenheit und Gefräßigkeit mag die Charakterisierung als Laster sofort einleuchten, beim Selbstmord aber zunächst weniger, verstehen wir doch unter einem Laster eine mit Neigung und Leidenschaft verbundene, mehr oder weniger feste Disposition, die über eine bestimmte Zeitspanne hinweg wirkt. Aber wie kann Selbstmord dann ein Laster sein? Eine Antwort lautet, dass Kant eben auch eine einzelne, einmalige Handlung als Laster versteht, sofern eine jede pflichtwidrige Handlung moralisch falsch und damit ein Laster ist. Diese Antwort scheint sich auf Kants Begriff des Lasters berufen zu können: „Eine jede pflichtwidrige Handlung heißt Übertretung (peccatum). Die vorsätzliche Übertretung aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus, was man Laster (vitium) nennt.“ (390) Nun ist der Selbstmord eine pflichtwidrige, vorsätzliche Handlung; also ist der Selbstmord ein Laster. – Aber diese Antwort ist zu einfach. Nach einer Selbstmord-Maxime (wie Kant sie etwa in der Grundlegung formuliert: GMS, IV 422) handelt man natürlich nicht regelmäßig; wie also soll der Selbstmord ‚eine vorsätzliche Übertretung‘ sein, die ‚zum Grundsatz geworden‘ ist? Vom Selbstmord als Laster kann man daher nur dann sinnvoll reden, wenn das Subjekt über einen längeren Zeitraum hinweg eine entsprechende Maxime hat, und nicht erst kurz vor der entsprechenden Tat diese Maxime annimmt. Dies setzt voraus, dass schon das bloße Innehaben der Maxime pflichtwidrig ist, nicht erst der tatsächliche Selbstmord, und dies ist eine durchaus plausible Annahme: Auch für den guten Willen gilt ja, dass er gut ist unabhängig von der konkreten Handlungsausführung und deren Konsequenzen; er ist allein durch das Wollen gut. Dementsprechend kann man annehmen, dass auch das Wollen des Bösen schon durch das Wollen und das heißt durch das Haben der entsprechenden Maxime schlecht ist; besteht diese Maxime über einen längeren Zeitraum als Grundsatz, kann man von einem Laster sprechen. Spontane Suizide wären demzufolge kein Laster im eigentlichen Sinn, über längere Zeit geplante Selbsttötungen aber durchaus.
7.2.1.2 Was wird bewiesen? Die „erste“ (421) Pflicht des Menschen gegen sich selbst als ein ‚animalisches (physisches) und zugleich moralisches Wesen‘ ist die Pflicht der ‚Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur‘, die wiederum auf die ‚moralische Selbsterhaltung‘ abzielt. Durch die Verknüpfung der animalischen mit der moralischen Selbsterhaltung erwächst aber eine Schwierigkeit; es ist nämlich keineswegs unmittelbar klar,
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was überhaupt das Beweisziel des § 6 ist. Man könnte durchaus auf den Gedanken kommen, Kant wolle den Nachweis führen, dass es eine Pflicht gegen sich selbst zur moralischen Selbsterhaltung gibt, ohne eigens nachzuweisen, dass die Selbstentleibung dieser Pflicht widerspricht; vielmehr wäre Letzteres evident unter der allererst zu erweisenden Annahme, dass es eine Pflicht gegen sich selbst zur moralischen Selbsterhaltung gibt. Aber dieser Gedanke führt in die Irre; es verhält sich genau umgekehrt. Tatsächlich wird nämlich in § 6 und auch in den späteren Paragraphen jeweils vorausgesetzt, dass die „Menschheit in seiner Person“ (423) einen absoluten Wert hat und nicht verletzt werden darf; dass die „Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person“ (425) verboten ist, ist bei allen drei Lastern bereits der „Beweisgrund“ (ebd.) im Sinne einer nicht eigens zu beweisenden Prämisse. Das allgemeine Beweisziel der §§ 5–8 besteht also in dem Nachweis, dass es bestimmte Unterlassungspflichten gegen sich selbst als ein animalisches Wesen gibt, also als ein Wesen, das einen Körper hat; es wird nachgewiesen, dass bestimmte Handlungen (Selbstmord, Selbstschändung, Selbstbetäubung) den Körper des Menschen verletzen und damit „zugleich“ (420) die ‚Menschheit in seiner Person‘. – Hat man sich dies erst einmal klar gemacht, sind Kants entsprechende Ausführungen durchaus eindeutig. So fasst Kant die drei Unterlassungspflichten zu Beginn des § 5 zusammen als Pflicht des Menschen gegen sich selbst zur „Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur“ (421, u. H.); diese ‚animalische Selbsterhaltung‘ dient zwar der ‚moralischen Selbsterhaltung‘, aber die Pflicht zur letzteren ist schon der vorausgesetzte Bezugspunkt für die These, dass die ‚Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur‘ eine Pflicht gegen sich selbst ist. Entsprechend fragt Kant in § 6, „ob die vorsätzliche Selbstentleibung eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst sei, und ob … der Mensch doch zur Erhaltung seines Lebens, bloß durch seine Qualität als Person verbunden sei, und hierin eine (und zwar strenge) Pflicht gegen sich selbst anerkennen müsse“ (422, u. H.).
7.2.1.3 Kants Argument gegen den Selbstmord In der Grundlegung hat Kant bekanntlich mit Hilfe der sogenannten Naturgesetzformel und der Menschheitsformel gegen den Selbstmord argumentiert. Während das Naturgesetz-Argument in der Tugendlehre keine Rolle mehr spielt, taucht das Menschheits-Argument durchaus wieder auf. In der Grundlegung läuft dieses Argument so: Alle Handlungen, die den absoluten Wert autonomer Wesen in der eigenen Person nicht respektieren, sind verboten; im Selbstmord wird der absolute Wert autonomer Wesen (die Menschheit) in der eigenen Person nicht respektiert; daher ist Selbstmord verboten. – Was ist nun Kants Argument in der Tugendlehre? Hier die entscheidende Textstelle:
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[S1] [S1.1] Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von Pflichten die Rede ist; folglich so lange er lebt, [S1.2] und es ist ein Widerspruch, dass er die Befugnis haben solle, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, [S1.3] d. i. frei so zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugnis bedürfte. [S2] [S2.1] Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, [S2.2] welche doch Zweck an sich selbst ist; [S2.3] mithin über sich als bloßes Mittel zu einem beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, [S2.4] der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war. (422 f.)
[S1] besagt im Kern, dass jede Pflicht, welche immer es auch sei, für das verpflichtete Subjekt aufgrund seiner ‚Persönlichkeit‘ unaufhebbar ist: Der Mensch ist immer Person, und er bleibt als Person immer ein moralisches Subjekt mit Pflichten; diese These ist, wie wir gleich sehen werden, eine Voraussetzung für das eigentliche Argument gegen den Selbstmord in [S2]. – Es gibt aber zwei Möglichkeiten, den ‚Widerspruch‘ in [S1] und damit die besagte These von der Unaufhebbarkeit der Person zu verstehen. In einer ersten Variante bestünde der ‚Widerspruch‘ darin, dass man sich gemäß [S1.1] keiner Pflicht entbinden kann, und der kontrafaktischen Annahme, man dürfe sich ‚aller Verbindlichkeit entziehen‘ – was die Möglichkeit implizieren würde, sich überhaupt ‚entziehen‘ zu können, was aber eben im Widerspruch zu [S1.1] steht. In dieser Lesart verweist Kant implizit auf ein in den §§ 2– 3 entwickeltes Argument gegen den Skeptiker aus § 1.¹ Dagegen wird gemäß der zweiten Variante in [S1.2–3] begründet, warum man sich nicht ‚der Verbindlichkeit entziehen‘ kann. Man kann es nicht, weil mit der Annahme dieser Möglichkeit ein ‚Widerspruch‘ zu Tage tritt: Könnte man sich entbinden bzw. hätte man die Erlaubnis dazu, käme dies einer selbstwidersprüchlichen Erlaubnis gleich. Es stünde einem ‚frei‘ (man hätte die ‚Befugnis‘), gesetzlos zu handeln (‚als bedürfte es gar keiner Befugnis‘), oder anders gesagt: Es fände eine absurde Selbstaufhebung des moralischen Gesetzes statt. Wir können hier nicht entscheiden, welche Lesart des Widerspruchs besser ist (wenn denn eine besser ist). [S2] rekonstruieren wir folgendermaßen:
1 Kant beginnt den ersten Teil der Tugendlehre mit einer ausdrücklichen Replik (§§ 2–3) auf den Einwand aus § 1, wonach der Begriff der Pflicht gegen sich selbst einen „Widerspruch“ (417) enthalte, der darin bestehe, dass das verbindende Subjekt das verbundene Subjekt, also sich selbst, immer auch von der Pflicht entbinden könne. Kants Antwort besagt, dass der grundsätzliche Gedanke der Autonomie als Selbstverpflichtung widerspruchsfrei ist. Auch Pflichten gegen Andere sind Pflichten, die meiner eigenen reinen praktischen Vernunft entspringen; wäre an diesem Gedanken der Selbstverpflichtung etwas problematisch, dann gäbe es nicht nur keine Pflichten gegen sich selbst, sondern auch keine Pflichten gegen Andere. Denn alle Pflichten sind Pflichten der Autonomie und als solche unauflöslich. Vgl. dazu ausführlich Schönecker 2010.
7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8)
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Jede Selbsttötung ist die Vernichtung eines homo phaenomenon und damit die Vernichtung eines homo noumenon als Subjekt der Sittlichkeit. Die Sittlichkeit, sofern sie in einem bestimmten homo noumenon manifest ist, ist Zweck an sich selbst. Es ist nicht erlaubt, was Zweck an sich selbst ist, zu vernichten. Also: Selbstmord ist nicht erlaubt.
Der Ausdruck ‚Subjekt der Sittlichkeit‘ taucht in Kants Werk erstaunlicherweise nur an dieser einen Stelle auf. Dennoch ist klar, was gemeint ist – der homo noumenon, der sich als autonomes Wesen selbst die Gesetze gibt. Wer sich als Mensch selbst tötet, ‚zernichtet‘ damit auch dieses ‚Subjekt der Sittlichkeit‘, den homo noumenon. Nun sind zwar für Kant moralische Gesetze keineswegs bloße Konstruktionen; vielmehr vertritt Kant (mindestens) einen moderaten Realismus, der besagt, dass moralische Gesetze durchaus in der Welt sind und kategoriale Geltung haben, wenn auch nicht im Sinne von universalia ante res, sondern im Sinne von universalia in rebus. Sittlichkeit ist real; aber sie ist real nur in Menschen. Wer sich tötet, ‚zernichtet‘ damit die Sittlichkeit ‚so viel an ihm ist‘ – sofern sie eben in ihm realisiert ist– ‚aus der Welt‘. Diese manifeste Sittlichkeit aber ist Zweck an sich selbst (das ‚welche‘ zu Beginn von [S2.2] muss auf ‚die Sittlichkeit, so viel an ihm ist‘ bezogen werden) und darf somit nicht zerstört werden. Damit könnte man Kants Argumentation eigentlich als abgeschlossen verstehen. Dennoch schließen sich aber [S2.3] und [S2.4] vermittelst eines ‚mithin‘ an. Kants These in [S2.3], der Mensch dürfe nicht ‚über sich als bloßes Mittel zu einem beliebigen Zweck disponieren‘, verstehen wir so: Im physischen Akt der Selbsttötung wird nicht nur die ‚Sittlichkeit ihrer Existenz nach in seiner eigenen Person zernichtet‘. Vielmehr ‚disponiert‘ der Selbstmörder im Akt der Selbsttötung, der mit dem Tod endet, über seinen Leib: Er nutzt ihn als Mittel (indem er Hand an sich legt) und nutzt dabei zugleich die Anfälligkeit seines Leibes für Verletzung und Zerstörung als Mittel für den Zweck, sein Leben zu beenden. Dabei sind die beiden Aspekte von Kants Argument gegen den Selbstmord – der Würdestatus einerseits, die Instrumentalisierung des Leibes andererseits – extensional nicht voneinander verschieden: Das ‚Subjekt der Sittlichkeit‘ zu ‚zernichten‘ impliziert, dass dieses ‚Subjekt‘, das eigentlich Zweck an sich selbst ist, im Akt der Selbsttötung zu einem bloßen Mittel degradiert wird. (Dass Kant hier von ‚abwürdigen‘ und nicht von ‚zernichten‘ spricht, mag irritieren, ist aber insofern zu erklären, als der Akt, jemanden als Mittel zu gebrauchen, ja noch nicht per se dessen Zerstörung mit sich bringt.) Zu diesem Gedanken passt auch [2.4], wonach der Mensch als homo phaenomenon dem Menschen als homo noumenon ‚anvertraut‘ ist (dies ist in der Tat die einzig grammatisch mögliche Lesart des Satzes); der homo noumenon hat also
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die Pflicht, den homo phaenomenon zu erhalten. Auf den ersten Blick erscheint dies widersinnig: Ist es nicht Kants These, dass das ‚Subjekt der Sittlichkeit‘ erhalten werden muss, so dass also der homo noumenon dem homo phaenomenon anvertraut sein müsste?² Nun geht es im ersten Hauptstück ja gerade um die ‚Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur‘. Die Erhaltung des Leibes ist aber eine Pflicht für den Menschen, sofern in diesem Leib der homo noumenon residiert; mit der Erhaltung des Leibes erhält sich der homo noumenon letztlich selbst (so auch Denis 2001, 102; vgl. Moral Mrongovius, XXVII 1502). Das ‚Selbst‘ in der ‚Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur‘ ist also letztlich nicht der Leib (der homo phaenomenon), sondern das noumenale Selbst. Wie oben schon bemerkt, ist die ‚Pflicht des Menschen gegen sich selbst als animalisches Wesen‘ nicht so zu lesen, als habe der Mensch eine solche Pflicht zur Selbsterhaltung, insofern er bloß ein animalisches Wesen ist. Vielmehr hat er eine solche Pflicht gegen sich selbst, die sich auf die animalische Natur bezieht, nur deshalb, weil in dieser animalischen Natur der homo noumenon residiert; es geht um die moralische Selbsterhaltung. Und daher ist, wie Kant schreibt, „der Mensch doch zur Erhaltung seines Lebens, bloß durch seine Qualität als Person, verbunden“ (422). Um noch kurz auf den Zusammenhang von [S1] und [S2] einzugehen: Gemäß der oben rekonstruierten Prämisse 1 aus dem [S2]-Argument ist jede Selbsttötung die Vernichtung eines homo phaenomenon und damit die Vernichtung eines homo noumenon als Subjekt der Sittlichkeit. [S1] begründet nun, warum dies für jeden Akt der Selbsttötung gilt: Man kann sich unter keinen Umständen seiner Persönlichkeit und das heißt seinen Pflichten entziehen; man ist immer homo noumenon. Jeder Tötungsakt ist also die Tötung des ‚Subjekts der Sittlichkeit‘ und damit verboten.
7.2.2 Kant über Selbstschändung 7.2.2.1 Zum Begriff der Selbstschändung Der Begriff der „Selbstschändung“ (424) ist insofern irreführend, als Kant darunter zwar (vermutlich), dem üblichen Sprachgebrauch entsprechend, die Masturbation als „unnatürlichen … Gebrauch seiner Geschlechtseigenschaft“ (425, u. H.) versteht, tatsächlich aber in § 7 nicht ausschließlich die Masturbation, sondern auch den „unzweckmäßigen Gebrauch“ (ebd., u. H.) erörtert. Zumindest an einer Stelle (424) 2 So liest es zum Beispiel auch James (1999, 46). – Wittwer (2001, 190 ff.) erwähnt zwar die grundsätzliche Problematik der homo noumenon/phaenomenon-Unterscheidung, bezieht sie aber nicht auf § 6 der TL; Forkl (2000, 142) und Ricken (1989, 242) lesen im Kern richtig, gehen aber nicht auf Details und Probleme ein.
7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8)
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umfasst der Begriff der „Schändung“ sowohl Masturbation wie auch den ‚unzweckmäßigen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften‘. Erst bei den ‚Kasuistischen Fragen‘ wird wirklich klar, was Kant mit diesem ‚unzweckmäßigen Gebrauch‘ meint, nämlich den Geschlechtsverkehr ohne das Ziel oder die Möglichkeit der Fortpflanzung (etwa bei Schwangerschaft oder Sterilität). Wie schon erwähnt spricht Kant wiederholt vom ‚Naturzweck‘, den er in Bezug auf die ‚Liebe zum Geschlecht‘ als die ‚Erhaltung der Art‘ bestimmt. Während bei der Masturbation dieser Zweck nicht nur nicht realisiert, sondern der Funktion der Geschlechtsorgane selbst „zuwider“ (426) gehandelt werde, handele es sich beim natürlichen Geschlechtsverkehr ohne das Ziel oder die Möglichkeit der Fortpflanzung um einen sexuellen Akt, „ohne auf diesen [Zweck der Fortpflanzung] Rücksicht zu nehmen“ (ebd.). Masturbation lehnt Kant strikt ab; dagegen hält er im Rahmen der Kasuistik ein „Erlaubnisgesetz“ (ebd.) in Bezug auf Geschlechtsverkehr ohne beabsichtigte Fortpflanzung vielleicht für möglich. (Sodomie und Homosexualität sind hier nicht thematisch; es ist aber klar, dass Kant diese Formen der Sexualität ablehnt wie auch Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe. Die Frage, wie Empfängnisverhütung und auch Geschlechtsverkehr während nicht fruchtbarer Zyklusphasen zu beurteilen ist, wird von Kant hier wohl nicht oder höchstens an einer Stelle (426) thematisiert.)
7.2.2.2 Kants Argument gegen die Selbstschändung Es fällt auf, dass Kant bei allem Appell an die Selbstevidenz einräumt, dass der „Vernunftbeweis“ für diese behauptete „Verletzung … der Pflicht gegen sich selbst … nicht so leicht geführt“ (425) sei. Hier die ganze Passage: [§ 7.1] Der Vernunftbeweis aber der Unzulässigkeit jenes unnatürlichen, und selbst auch des bloß unzweckmäßigen Gebrauchs seiner Geschlechtseigenschaften als Verletzung (und zwar, was den ersteren betrifft, im höchsten Grade) der Pflicht gegen sich selbst, ist nicht so leicht geführt. – [§ 7.2] Der Beweisgrund liegt freilich darin, daß der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgibt, indem er sich bloß zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe braucht. (425)
Tatsächlich führt Kant diesen ‚Vernunftbeweis‘ nicht durch. Er beschränkt sich darauf, jenen ‚Beweisgrund‘ nur zu nennen; im nächsten Satz spricht er wohl noch von der bereits erwähnten „Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person“ (ebd.). Worin aber besteht diese Verletzung? Zunächst denkt man, das ‚dadurch‘ in [§ 7.2] beziehe sich allein auf den sich anschließenden Halbsatz, der mit ‚indem‘ beginnt. Aber man muss den Satz so lesen: ‚Der Beweisgrund dafür, dass der unnatürliche und unzweckmäßige Gebrauch seiner Geschlechtseigenschaften pflichtwidrig ist, liegt darin, dass der Mensch durch diesen Gebrauch seine Per-
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sönlichkeit wegwerfend aufgibt und das heißt: sich dadurch bloß zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe braucht‘. Wir betonen noch einmal: Es geht hier nicht nur um Masturbation, sondern auch um den unzweckmäßigen Geschlechtsverkehr. Die Rede vom ‚Mittel‘ in [§ 7.2] sowie von der ‚Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person‘ lassen erkennen, dass strukturell das gleiche Argument wie gegen den Selbstmord gebraucht wird. Und wie beim Selbstmord wird auch in § 7 bereits vorausgesetzt, dass jede ‚Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person‘ verboten ist. Es gibt aber zwei Unterschiede zwischen der Argumentation in § 6 und der in § 7: Erstens handelt es sich beim Selbstmord um eine Abwürdigung (423) ‚der Menschheit in seiner eigenen Person‘, während es sich beim unnatürlichen und unzweckmäßigen Gebrauch der Geschlechtsorgane eben um eine „Schändung (nicht bloß Abwürdigung)“ (424) handelt. Kant selbst schreibt, dass „der hohe Grad der Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person“ (425, u. H.) durch die ‚Schändung‘ noch nicht erklärt sei. Er sieht ihn darin begründet, dass der Selbstmord immerhin „Mut erfordert“ (ebd.). Zweitens scheint bei der ‚Schändung‘ die schon erwähnte Idee eines ‚Naturzwecks‘ eine viel größere Rolle zu spielen als beim Selbstmord. Aber welche? Kant schreibt, wie gesagt, dass alle Unterlassungspflichten der §§ 6–8 „dem Menschen in Ansehung des Zwecks seiner Natur verbieten demselben zuwider zu handeln“ (419). Nun spielt dieser Naturzweck beim Selbstmord insofern eine Rolle, als auch der natürliche Selbsterhaltungstrieb nicht nur der „Erhaltung seiner selbst“ (420) als eines animalischen Wesens, sondern, „als Liebe zum Leben“, der „Erhaltung der Person“ (424) dient. Dennoch ließe sich die Pflicht zur Selbsterhaltung auch dann begründen, wenn es den Selbsterhaltungsantrieb nicht gäbe. Der Verweis auf diesen ‚Naturzweck‘ ist also bei der Selbsttötung letztlich entbehrlich, und das sagt Kant auch (§ 20; 445). Bei der ‚Schändung‘ verhält es sich anders. Denn das Argument gegen die Masturbation beruht wesentlich auf der natürlichen Funktion der Geschlechtsorgane (Fortpflanzung). Kant scheint hier stillschweigend eine teleologische Überlegung vorauszusetzen, wonach zumindest jeder unnatürliche Gebrauch zweckmäßig eingerichteter Organe pflichtwidrig ist; allein, es ist nicht zu erkennen, wie diese Überlegung begründet wird. Kants Argument gegen den ‚unzweckmäßigen Gebrauch‘ ist komplizierter und wohl auch opak. Zunächst ist bemerkenswert, dass die Unzweckmäßigkeit eines Geschlechtsakts, anders als die Unnatürlichkeit der Masturbation, immerhin nicht ausschließt, dass es ein „Erlaubnisgesetz“ (426) für solche ‚unzweckmäßigen‘ Akte geben könnte (etwa bei Schwangerschaft), obwohl solche Akte ja auch den Naturzweck der Fortpflanzung nicht erfüllen. Vor allem aber gibt es vor dem Hintergrund der Rechtslehre (§§ 24–27) interpretatorische Probleme: Es steht außer Frage, dass für Kant Geschlechtsverkehr, auch mit dem Ziel der Fortpflanzung, außerhalb der Ehe strikt verboten ist; ohne diesen Kontext der Ehe ist der „natürliche Gebrauch, den
7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8)
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ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht“ (RL, VI 278, u. H.), ein Akt, in dem sich „der Mensch selbst zur Sache [macht], welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet“ (ebd.). Dennoch ist es auch in der Ehe nicht geboten, sich den „Zweck, Kinder zu erzeugen und zu erziehen“ (RL, VI 277) – auch wenn dieser ein „Zweck der Natur“ sein „mag“ (ebd.) – selbst zum Zweck zu machen. Daraus erwachsen aber zwei Fragen: Wenn Fortpflanzung weder außerhalb der Ehe erlaubt noch in der Ehe geboten ist, dann ist, erstens, nicht zu sehen, welche Relevanz der Naturzweck der Fortpflanzung überhaupt noch hat und warum Kant in der Tugendlehre den ‚unzweckmäßigen‘ Geschlechtsverkehr zumindest problematisiert (man könnte hier freilich einwenden, dass die Setzung des Zweckes der Fortpflanzung nur vom rechtlichen Standpunkt aus nicht geboten ist, vom ethischen Standpunkt aber durchaus; vgl. Brecher 2019). Zweitens bleibt dann auch unklar, warum die zweckmäßige Einrichtung der Geschlechtsorgane, für sich betrachtet, irgendeine normative Kraft haben sollte auch in Bezug auf deren unnatürlichen Gebrauch.
7.2.3 Kant über Selbstbetäubung Kant diskutiert in § 8 die „Selbstbetäubung durch Unmäßigkeit im Gebrauch der Genieß oder auch Nahrungsmittel“ (427) auf eine Weise, die noch viel weniger als die Diskussion der Selbstschändung in § 7 erkennen lässt, was eigentlich das ethische Problem mit „Versoffenheit und Gefräßigkeit“ (ebd.) ist. Im Grunde genommen schreibt Kant kaum mehr, als dass die angebliche Plichtwidrigkeit der Selbstbetäubung „von selbst in die Augen“ (ebd.) falle; nach einem Argument zumindest im engeren Sinne sucht man vergeblich. Aber ein solches Argument lässt sich mit einigem Wohlwollen rekonstruieren. Dazu muss man sich erneut daran erinnern, dass die ‚animalische Selbsterhaltung‘ auf die ‚moralische Selbsterhaltung‘ zielt. In § 5 bestimmt Kant die Selbstbetäubung so, dass „man sich (auf immer oder auf einige Zeit) des Vermögens des physischen (und hiermit indirekt auch des moralischen) Gebrauchs seiner Kräfte beraubt“ (421, u. H.); diese Formulierung (‚Gebrauch seiner Kräfte‘) nutzt Kant auch in § 4 (420) und in § 8 (427). Die Kräfte, um die es hier geht, sind die „Geisteskräfte“, „Seelenkräfte“ und „Leibeskräfte“ (445). Aber welche Handlungen sind in Bezug auf den Erhalt dieser ‚Kräfte‘ relevant, inwiefern geht es dabei um die ‚moralische Selbsterhaltung‘ und was genau hat das Verbot der Völlerei hiermit zu tun? Folgende Überlegung scheint plausibel: Die §§ 19–20 der Tugendlehre behandeln die unvollkommene „Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit“ (444). Die „Erhaltung seiner Natur in ihrer Vollkommenheit“ (419) ist eine Pflicht, unter die Kant in § 4 alle Pflichten aus den §§ 6–8 subsumiert.
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Sie besteht spezifiziert in § 8 darin, den ‚Gebrauch seiner Kräfte‘ nicht durch Selbstbetäubung zu beeinträchtigen, und es ist plausibel, dass diese Form der Selbsterhaltung eine Voraussetzung dafür ist, jene Kräfte zu ‚entwickeln‘ und zu ‚vermehren‘. Denn wenn diese ‚Entwicklung und Vermehrung‘ ein „Gebot der moralisch-praktischen Vernunft und Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (445) ist, dann muss es auch geboten sein, die ‚Kräfte‘, die ‚entwickelt‘ und ‚vermehrt‘ werden sollen, nicht zugleich durch ‚Selbstbetäubung‘ zu schädigen oder ihren Gebrauch einzuschränken. Unterstützt wird diese Interpretation dadurch, dass Kant im ersten Absatz des § 8 ausdrücklich betont, beim Verbot der Selbstbetäubung gehe es nicht um eine „Klugheitsregel“ (427); es geht nicht um die „Rücksicht auf den Vorteil“ (444). Der zu vermeidende „Schaden“ (427) ist der moralische Schaden; es geht letztlich um die ‚moralische Selbsterhaltung‘ und insofern um den ‚moralischen Gebrauch seiner Kräfte‘. Demgemäß ist die animalische Selbsterhaltung – hier als Verzicht auf Selbstbetäubung – Voraussetzung für die Erfüllung der Pflicht zur eignen Vervollkommnung und jedenfalls insgesamt zur Erfüllung aller Pflichten – die praktische Vernunft (und d. h. die Moralität des Menschen) leidet ganz offenkundig im Zustand der Selbstbetäubung, erst recht, wenn dieser Zustand mehr oder weniger dauerhaft ist. Die allgemeine Pflicht der Selbsterhaltung greift somit auch im Verbot der Selbstbetäubung, um die ‚animalische‘ Voraussetzung für Pflichterfüllung nicht zu gefährden. Kant schreibt, am Rande bemerkt: „Die tierische Unmäßigkeit im Genuß der Nahrung ist der Mißbrauch der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellektuellen Gebrauchs derselben [Genießmittel] gehemmt oder erschöpft wird“ (427, u. H.). Es will nicht recht einleuchten, was mit dem ‚intellektuellen Gebrauch der Genießmittel‘ gemeint sein kann. Am ehesten kann man wohl an so etwas wie den „sittlichen Zweck“ (428) der kommunikativen Geselligkeit denken, die durch einen maßvollen Genuss von Speisen und Alkohol gefördert wird. Und auch der Gedanke der ‚Abwürdigung‘ spielt in § 8 wieder eine wichtige Rolle. In Bezug auf die Selbstschändung (§ 7) spricht Kant von der „unter das Vieh herabwürdigenden Behandlung seiner eigenen Person“ (425); in § 8 heißt es, ‚Versoffenheit‘ und ‚Gefräßigkeit‘ seien „Erniedrigungen selbst unter die tierische Natur“ (427). Inwiefern aber solche lasterhaften Handlungen ‚abwürdigend‘ sind, erläutert Kant nicht explizit. Der Gedanke muss aber dieser sein: Unsere Würde liegt darin begründet, dass wir der Moral fähige Wesen sind. Diese Autonomie zu erhalten und zu befördern ist der Kern aller Pflichten gegen sich selbst. Jemand, der die Pflichten der §§ 6–8 verletzt, macht sich insofern der‚Abwürdigung‘
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schuldig, als seine Handlungen seiner Würde, d. h. seiner „Persönlichkeit“ (418) und damit dem „Zweck seines Daseins“ (445) nicht angemessen sind.³
7.3 Zu Kants Kasuistik Wir hatten oben schon auf die Probleme hingewiesen, die durch die Einbindung einer Kasuistik in Kants System der Pflichten entstehen. Hier wollen wir kurz erläutern, wie ernst diese ‚Kasuistischen Fragen‘ im Allgemeinen zu nehmen sind und welche Gestalt sie bei den §§ 6–8 annehmen.⁴ – Obwohl Kant die ‚Kasuistischen Fragen‘ nie beantwortet und man anhand der Vorlesungsmitschriften stellenweise den Eindruck gewinnen könnte, Kant beantwortete sie alle negativ, sprechen folgende Gründe für die Ernsthaftigkeit und Offenheit der Kasuistik: Erstens ist es nun einmal so, dass es im Text der Tugendlehre acht Abschnitte gibt, die jeweils mit ‚Kasuistische Fragen‘ überschrieben sind. Warum sollte Kant so oft solche Fragen stellen, wenn von vornherein klar wäre, dass de facto gar kein kasuistischer Spielraum da wäre? Zweitens begründet Kant, wie schon bemerkt, eigens die Notwendigkeit einer „Kasuistik“ (411). Drittens wird bei der „Zweite[n] Einteilung der Ethik nach Prinzipien eines Systems der reinen praktischen Vernunft“ (413) neben der „Dogmatik“ die „Kasuistik“ sogar als zweites Glied der „Elementarlehre“ (ebd.) aufgeführt. Wir sollten demnach davon ausgehen, dass wir es in der Tugendlehre mit einer genuinen Kasuistik zu tun haben. Die Beantwortung ihrer Fragen ist offen, und zwar entweder (i) in dem starken Sinne, dass eine abschließende Bewertung der angeführten Fälle prinzipiell nicht möglich ist, und dies auch u. a. durch die Verschiedenheit der „Gründe der Verbindlichkeit“ (RL, VI 224; vgl. Vorarbeiten, XXIII 419). So steht im ersten Fall der Kasuistik von § 6 der legendäre Curtius vielleicht zwischen der Selbsterhaltung und der Rettung der Gemeinschaft, deren Mitglied er ist. Die Kasuistik könnte aber auch insofern (in einem schwächeren Sinne) offen sein, als (ii) die Bewertung der angeführten Fälle nicht so evident und einfach ist wie eben in den meisten Fällen, aber dennoch prinzipiell möglich. So sehr Kant in den Vorlesungsmitschriften die Selbsttötung auch in den schwierigen (kasuistischen) Fällen an diversen Stellen ablehnt, so sehr ringt er doch oft über viele Seiten hinweg mit den Antworten. Kant erweckt hier zweifelsohne den Eindruck, als seien die kasuistischen Fälle in dem Sinne echte Fragen, dass ihre Be-
3 Zur Kritik an der substantiellen Bedeutung des Würdebegriffs bei Kant vgl. Sensen 2011 und Horn (2014, 98–111). Zur Replik wiederum vgl. Schmidt / Schönecker 2018a und 2018b. 4 Vgl. dazu ausführlicher Schmidt / Schönecker 2017. Eine Auswertung der Literatur zu Kants Kasuistik kann hier aus Raumgründen nicht stattfinden; vgl. aber Unna (2003, 454–473), Schüssler (2012, 70–95) und Oggionni 2017.
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antwortung zwar angestrengten Nachdenkens bedürfte, zumindest hier und da aber möglich sei. Die unbestreitbare Tatsache, dass Kant in der Tugendlehre die ‚Kasuistischen Fragen‘ nur formuliert, ohne sie zu beantworten oder auch nur beantworten zu wollen, ist dieser Lesart zufolge der Natur der Tugendlehre geschuldet: „Die Kasuistik ist also weder eine Wissenschaft, noch ein Teil derselben; denn das wäre Dogmatik, und ist nicht so wohl Lehre, wie etwas gefunden, sondern Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden. Sie ist also fragmentarisch, nicht systematisch (wie die Ethik sein mußte) in sie verwebt, nur, gleich den Scholien, zum System hinzu getan.“ (411) Die Kasuistik gehört also nicht im strengen Sinne zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, da diese eine Wissenschaft bilden, ein System, die ‚Kasuistischen Fragen‘ aber, gerade weil sie immer und immer neue Einzelfälle betreffen, in einem solchen System keinen Platz haben (dazu passt allerdings nicht die oben erwähnte ‚Zweite Einteilung‘ der Ethik). Noch ein weiterer, selten bemerkter Befund ist hier bedeutsam: Kant spricht im zweiten Hauptstück des Teils über die Tugendpflichten gegen Andere über die „ethischen Pflichten der Menschen gegeneinander in Ansehung ihres Zustandes“ (468). Dieses Hauptstück fällt sehr kurz aus. Das liegt daran, dass Kant der Auffassung ist, solche Pflichten gehörten, genau wie die Kasuistik, gar nicht zu den „metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“ (ebd.), die nur von den „Prinzipien der Verpflichtung der Menschen als solcher“ (ebd.) handelt. Die eigentliche Tugendlehre achtet nicht auf die „Verschiedenheit der Subjekte“ (ebd.); das geschieht erst in der„Anwendung des Tugendprinzips (dem Formalen nach) auf in der Erfahrung vorkommende Fälle (das Materiale)“ (ebd.). Abhängig vom jeweiligen ‚Zustand‘ des Menschen gibt es verschiedene „Arten der Anwendung (Porismen)“ (469) der ethischen Pflichten. Wie sich dieses Gebiet einer ‚Angewandten Ethik‘ zur Kasuistik verhält, ist eine der vielen Fragen, die wir hier nicht beantworten können. Was nun Kants ‚Kasuistischen Fragen‘ der §§ 6–8 und deren mögliche Beantwortung angeht, sind drei Dinge festzuhalten: Da Kant, erstens, die ‚Kasuistischen Fragen‘ nie beantwortet, hat man Antworten in den Vorlesungsmitschriften gesucht. Abgesehen von der generellen Unzuverlässigkeit dieser Textsorte sind Kants Ausführungen (bzw. eben diese Mitschriften) alles andere als einhellig. So gibt es Stellen, die durchaus denken lassen, Kant halte sehr wohl in manchen Fällen die Selbsttötung für erlaubt; dann wieder gibt es Stellen, in denen er sehr rigide gegen jeden Akt der Selbsttötung argumentiert. Zweitens ist zu beachten, dass die Formulierung der Fragen verschiedene Eindrücke hinterlässt: Während man etwa bei den ‚Kasuistischen Fragen‘ zur Selbstentleibung eher zu denken geneigt ist, dass Kant sie negativ beantworten würde, scheint er die ‚Kasuistischen Fragen‘ zum zweckwidrigen Geschlechtsverkehr (§ 7) und zu den Genussmitteln (§ 8) eher wohlwollend zu formulieren. Drittens gehen wir hier, contra Schüssler, davon aus,
7 Kant über Selbstentleibung, Selbstschändung und Selbstbetäubung (§§ 5–8)
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dass Kant die Formulierungen „Kasuistik“ und „kasuistische Fragen“ synonym gebraucht. Schüssler zufolge sind sie wesentlich voneinander unterscheiden: Während die Kasuistik „ein Unterfangen, bei dem mit Hilfe der Urteilskraft untergeordnete Maximen zu Maximen der Pflicht gewonnen werden“, sei, also eine Art „Ausdifferenzierung von Handlungsregeln“ (Schüssler 2012, 71) im Falle unvollkommener Pflichten beinhalte, seien die Kasuistischen Fragen eine „Methode der Moralpädagogik“ (ebd., 75). Sie dienten, bezogen auf unvollkommene und vollkommene Pflichten, „nur didaktischen Zwecken“ (ebd., 76) und könnten überdies je eindeutig beantwortet werden (Selbsttötung sei immer verboten, Impfung ebenfalls; Ehepartner dürften den Geschlechtsakt vollziehen). – U. E. kann Schüsslers Lesart nicht überzeugen. Fraglich bliebe nämlich, warum Kant die kasuistischen Fragen, wenn sie denn didaktischer Natur wären, nicht in der Methodenlehre verortete, dem Textstück, das eben genau das Einüben der Tugend thematisiert. Zudem bliebe die Erklärung dafür, warum Kant eine Kasuistik im Sinne Schüsslers ankündigte, dann aber in keinem Sinne ausführen würde, wenig überzeugend; und schließlich müsste etwas dazu gesagt werden, warum Kant genau dann, wenn er von Kasuistik spricht, (auch) von „Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden“ (411) spricht.
Literatur Wir zitieren nach der kritischen Neuedition der Tugendlehre, die in Kürze im Rahmen der Neuedition der Werke Kants erscheinen wird und welche die zweite Auflage (1803) zugrundegelegt; die Rechtschreibung wurde für diesen Band modernisiert. Es gibt Widersprüche zwischen den diversen Überschriften und Inhaltsverzeichnissen innerhalb der ersten Auflage der Tugendlehre (1797) sowie zwischen den eigentlichen Texten der ersten und zweiten Auflage.
Brecher, M. 2018: Ehelicher Geschlechtsgebrauch und Fortpflanzungszweck in § 7 der Tugendlehre, in: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses. Im Auftrag der Kant-Gesellschaft hg. v. Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner, unter Mitwirkung v. Sophie Gerber. Band 3: Ethik und Moralphilosophie. Berlin u. Boston, 1761–1768. Denis, L. 2001: Moral Self-regard. Duties to Oneself in Kant’s Moral Theory, New York. Forkl, M. 2001: Kants System der Tugendpflichten. Eine Begleitschrift zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“, Frankfurt/M. u. a. Horn, Chr. 2014: Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie, Berlin. James, D. N. 1999: Suicide and Stoic Ethics in the Doctrine of Virtue, in: Kant-Studien 90, 40–58. Oggionni, E. M. E. 2017: Kantische Antworten auf Kants kasuistische Fragen, die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst betreffend, in: Con-Textos Kantianos. International Journal of Philosophy 5, 38–57. Ricken, F. 1989: Homo noumenon und homo phaenomenon. Ableitung, Begründung und Anwendbarkeit der Formel von der Menschheit als Zweck an sich selbst, in: O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M., 234–252.
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Elke E. Schmidt / Dieter Schönecker
Schmidt E. E. / Schönecker, D. 2018a: Kant’s Ground-Thesis. On Dignity and Value in the Groundwork, in: The Journal of Value Inquiry 52/1, 81–95. Schmidt E. E. / Schönecker, D. 2018b: Kant’s Moral Realism regarding Dignity and Value. Some Comments on the Tugendlehre, in: R. dos Santos / E. E. Schmidt, Moral Realism and Antirealism in Kant’s Moral Philosophy, Berlin u. New York, 119–152. Schmidt E. E. / Schönecker, D. 2017: Kant über Tun, Lassen und lebensbeendende Handlungen, in: F.-J. Bormann (Hrsg.), Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von „Töten“ und „Sterbenlassen“, Berlin u. Boston, 135–168. Schönecker, D. 2010: Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre §§ 1–3), in: H. Busche / A. Schmitt (Hrsg.), Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens, Würzburg, 235–260. Schüssler, R. 2012: Kant und die Kasuistik: Fragen zur Tugendlehre, in: Kant-Studien 103, 70–95. Sensen, O. 2011: Kant on Human Dignity, Berlin u. Boston. Steigleder, K. 2002: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft, Stuttgart u. Weimar. Timmons, M. 2013: The Perfect Duty to Oneself as an Animal Being (TL 6:421–428), in: A. Trampota / O. Sensen / J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s ‚Tugendlehreʻ. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston, 221–243. Unna, Y. 2003: Kant’s Answer to the Casuistical Questions Concerning Self-Disembodiment, in: Kant-Studien 94, 454–473. Wittwer, H. 2001: Über Kants Verbot der Selbsttötung, in: Kant-Studien 92, 180–209.
Otfried Höffe
8 Selbstpflichten eines moralischen Wesens (§§ 9–18) Dieser Abschnitt der Tugendlehre, das zweite Hauptstück im ersten Buch des ersten Teils der Ethischen Elementarlehre, enthält drei Provokationen: (1) Nach der „Einführung“ sind Tugendpflichten von weiter, Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit. Hier aber, in beiden Hauptstücken des ersten Buches, erscheint ein erheblicher Teil der Tugendpflichten als „vollkommene“ Pflichten, sie sind also von der doch bloß den Rechtspflichten zukommenden engen Verbindlichkeit. (2) Nicht in der traditionellen platonisch-aristotelisch-stoischen Ethik, wohl aber in der heutigen Ethik gibt es lediglich Pflichten gegen andere, kürzer: Fremdpflichten, nach Kant dagegen auch Pflichten gegen sich, kürzer: Selbstpflichten. (3) Da einige Tugendpflichten als vollkommen qualifiziert werden, lassen sie der Urteilskraft keinen Spielraum. In den „Kasuistischen Fragen“ des zweiten wie schon denen des ersten Hauptstücks kommt aber unübersehbar etwas ins Spiel, was anscheinend einer Urteilskraft zuzuordnen ist. Allerdings ist noch zu klären, welches Vermögen in welcher Weise herausgefordert ist: tatsächlich und stets die Urteilskraft oder – auch – die reine praktische Vernunft.
8.1 Überblick Auf den Titel dieses zweiten Hauptstücks „Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als einem moralischen Wesen“ folgt ein kurzer Satz, der die dazu einschlägigen Laster nennt. Denn vollkommene Pflichten – im Titel steht der Singular, tatsächlich erörtert Kant drei Pflichten, also einen Plural – werden, wie bei Kants vollkommenen Pflichten üblich und der Sache nach sinnvoll, nicht als Gebote, sondern als Verbote, als Unterlassungspflichten, behandelt. Im Verlauf der Erörterung werden allerdings auch die entsprechenden positiven Haltungen, die Tugenden, genannt. Bei der Lüge (§ 9) geschieht es in sechs Varianten, sogleich zu Beginn als Wahrhaftigkeit, worauf zunächst die Ehrlichkeit, die Redlichkeit und die Aufrichtigkeit sowie später noch die Gewissenhaftigkeit und die Lauterkeit folgen. Kant braucht vom genannten Titel den Gattungsbegriff, die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, nicht zu erläutern, denn deren Wesen und Möglichkeit ist von der „Einleitung“ zur „Ethischen Elementarlehre“ bekannt. Worin der andere, durchaus erläuterungsbedürftige spezifische Gesichtspunkt „moralisches Wesen“ besteht, wird aber ebensowenig erklärt wie im vorausgehenden, ersten Hauptstück https://doi.org/10.1515/9783110786958-010
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deren Aspekt „animalisches Wesen“. Es wird aber, gewissermaßen nachgetragen, sogleich im ersten Satz zum ersten Laster angesprochen: Unter dem moralischen Wesen ist „die Menschheit in seiner Person“ zu verstehen, also der homo noumenon im Gegensatz zum homo phaenomenon. Nach § 4 zur Einteilung der Selbstpflichten geht es um die formale Übereinstimmung der Maximen „mit der Würde der Menschheit in seiner Person“, also mit der inneren Menschenwürde. Diese Übereinstimmung ist ausnahmslos geboten, die Nichtübereinstimmung ohne Ausnahme verboten. Andernfalls würde der Mensch nämlich das aufgeben, was seinen ihn über alle anderen Wesen erhebenden „Vorzug“ ausmacht: die innere Freiheit. Man würde sich „zum Spiel bloßer Neigungen“ machen, also sich zu dem erniedrigen, was der kategorische Imperativ streng verbietet: „zur Sache“ (420). Das zweite Hauptstück behandelt die Selbstpflichten „bloß“ unter dem Aspekt „moralisches Wesen“, woraus man zweierlei erschließen darf. Kant deutet es auch zuvor, noch vor dem ersten, dem Aspekt „animalisches Wesen“ gewidmeten Hauptstück, an: Zum einen wird im ersten Hauptstück der Mensch „zugleich [als] moralisches Wesen“ betrachtet (ebd.), denn ein rein animalisches, dann subhumanes Wesen unterliegt keinen Pflichten. Zum anderen bleibt jetzt, im zweiten Hauptstück, das animalische Wesen außer Betracht; der Mensch wird lediglich als moralischem Wesen erörtert. (Zum innovativen Charakter dieses Lehrstücks, etwa im Vergleich zu Alexander Baumgartens Ethica philosophica, vgl. Bacin 2013). Kant handelt dann sukzessive die drei Laster in der genannten Reihenfolge ab: Lüge, Geiz und Kriecherei, die ersten zwei in je einem, das letzte Laster in zwei Paragraphen, zugleich nicht unter dem zu Beginn (428) genannten Hauptausdruck der falschen Demut, sondern unter dem dort in Klammern gesetzten Nebenausdruck der Kriecherei. Eine Winzigkeit: Die einzelnen Laster werden schlicht als I., II. und III. nummeriert, nicht wie bei den Selbstpflichten als einem animalischen Wesen als „Erster, Zweiter, Dritter Artikel“. Zu jedem der drei Laster fügt Kant „Kasuistische Fragen“ an, die methodisch-systematisch gesehen nicht einheitlicher, sondern heterogener Natur sind. Bei der Lüge geht ihnen eine „Anmerkung“ voran, zum Geiz gibt es eine lange Fußnote. Obwohl die Erörterung der drei Laster des Menschen als moralischem Wesen ähnlich viel Platz beansprucht wie die als animalischem Wesen, ist dieses Hauptstück wegen drei weiterer, sich nur locker daran anschließender Überlegungen erheblich länger. Der „erste Abschnitt“ führt gewissermaßen eine vierte, erneut vollkommene Selbstpflicht ein, allerdings eine Selbstpflicht zweiter Stufe, da es sich nicht um eine weitere, den anderen formaliter nebengeordnete, sondern ihnen übergeordnete Selbstpflicht handelt. Da sie jeder der drei anderen Selbstpflichten gemeinsam zugeordnet ist, liegt ein Meta-Instanz vor.
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Diese vierte Selbstpflicht wird nicht unter ihrem negativen Gesichtspunkt, einem Laster, erörtert, sondern unter dem positiven Gebot, „angeborne Richter über sich selbst“ zu sein. Genauer soll man diese Richterschaft, das Gewissen, kultivieren. Denn ob man wolle oder nicht: „Jeder Mensch hat [!] Gewissen“ (438). Die hier einschlägige Fehlhaltung ist gewissermaßen ein Laster, wird aber vermutlich deshalb nicht so genannt, weil es kein gewöhnliches Laster, sondern erneut ein Phänomen zweiter Stufe ist: Die Gewissenlosigkeit besteht nicht im Nichtbesitz eines Gewissens, sondern darin, dass man „sich daran gar nicht mehr“ kehrt (ebd.). Unter dem Titel „Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als dem angebornen Richter über sich selbst“ betrifft der „zweite Abschnitt“ erneut eine Selbstpflicht zweiter Stufe, das „erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst“, die moralische Selbsterkenntnis. Deren zwei Fehlhaltungen werden, ebenfalls vermutlich weil Fehlhaltungen zweiter Stufe, nicht als Laster bezeichnet: die schwärmerische Selbstverachtung und die „eigenliebige Selbstschätzung“. Der dritte, als „episodisch“, also nebensächlich qualifizierte Abschnitt erörtert eine Zweideutigkeit (Amphibolie) der „moralischen Reflexionsbegriffe, nämlich das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflichten gegen andere zu halten“. Wer erwartet, wegen des Gesichtspunktes „Pflichten gegen andere“ würden gewöhnliche Selbstpflichten als Fremdpflichten erörtert, wird enttäuscht. Kant geht es um Pflichten in Bezug auf außer- und auf übermenschliche Wesen, auf Tiere und auf Gott. Seines Erachtens sind es aber keine Pflichten „gegen“ diese Wesen, sondern „in Ansehung von“ ihnen, während sie ihrem Wesen nach Selbstpflichten bleiben. In einigen Paragraphen, so bei der Lüge (§ 9), beim Geiz (§ 10), auch bei der moralischen Selbsterkenntnis (§ 14), kommt Kant direkt zum jeweiligen Thema, in den beiden ersten Fällen in Form einer Begriffsbestimmung. In anderen Paragraphen holt er zunächst aus, entfaltet nämlich das zum Verständnis und zur Begründung erforderliche Begriffsfeld. Von der Komposition der Schrift her wäre das Begriffsfeld aber zuvor, entweder schon in der generellen Einleitung zur Tugendlehre (379 ff.) oder in der speziellen zu den Pflichten gegen sich selbst (417 f.), zu entfalten. Der Umstand, dass es dort nicht, zumindest nicht ausreichend geschieht, legt den Schluss nahe, Kant habe entweder nicht von Anfang der Tugendlehre an genau und im einzelnen vor Augen gehabt, was er in diesem Text und wie er es abhandeln werde, vielmehr habe er im Verlauf der Niederschrift mehr und mehr an Klarheit gewonnen. Oder er habe schon formulierte Teilstücke unter Zeitdruck zusammengefügt, ohne in einer letzten Überarbeitung gewisse Unstimmigkeiten auszumerzen. Eine bemerkenswerte Auffälligkeit sei wiederholt (s. Kap. 1.1 in diesem Band): Kants neue Formel der Moral, der kategorische Imperativ, taucht zwar im letzten Absatz der „Vorrede“, danach nur an einigen wenigen Stellen der „Einleitung“, in
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den Abschnitten III., VI. und IX, auf, aber selbst dort nur in der Formulierung, nicht auch in seiner Testfunktion. Diese vermisst man vor allem bei den Pflichten, dort nämlich als Argument zu deren Begründung, und zwar sowohl bei den dann erörterten Unterlassungspflichten bzw. Lastern als auch bei den anderen Pflichten, den Selbst- und Fremdpflichten. In der Grundlegung (z. B. IV 403) wird die im ersten der hier behandelten Paragraphen erörterte Unterlassungspflicht, das Lügeverbot, ausdrücklich mit Hilfe des kategorischen Imperatives als moralische Verbindlichkeit ausgewiesen. Die Tugendlehre hätte mindestens daran erinnern können, was jedoch unterbleibt. Man muss sich daher fragen, ob Kant in der Tugendlehre, übrigens nicht anders als in der Rechtslehre, der Testfunktion des kategorischen Imperativs nicht mehr traut. Jedenfalls ist es erstaunlich, dass ein Kernelement von Kants Grundlegung einer Moralphilosophie jetzt, im System der Moral, der Metaphysik der Sitten, so gut wie bedeutungslos geworden ist. Andererseits dürfte Kant weder das semantische Wesenselement des kategorischen Imperativs, die uneingeschränkte Verbindlichkeit, noch das Kriterium dafür, die strenge Allgemeinheit, aufgegeben haben.
8.2 Von der Lüge (§ 9) Das Lügeverbot ist für Kant eine wichtige, vielleicht sogar die überhaupt wichtigste moralische Verbindlichkeit. Der zuständige Text der Tugendlehre beginnt unmittelbar mit dieser These: „Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet, … ist die Lüge“ (429). Kant setzt in Klammern eine lateinische Begriffsbestimmung hinzu, frei übersetzt: „das eine offen im Munde, das andere verschlossen im Herzen tragen“. Denn wer lügt, spricht nicht das aus, was er für wahr hält; er ist unwahrhaftig. Das Gegenteil, die Wahrhaftigkeit, ist, zur obersten Maxime gemacht, nach der Anthropologie „der einzige Beweis des Bewußtseins eines Menschen, daß er einen Charakter hat“ (Anthr., VII 295). In der im Jahr vor der Tugendlehre veröffentlichten knappen Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktates zum ewigen Frieden in der Philosophie wird Kant noch deutlicher. Dort heißt es im letzten Absatz: „der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur“ ist die Lüge (VIII 422). In Anknüpfung an den der Praxis verpflichteten Philosophiebegriff der antiken Philosophie – „wie die Alten das Wort verstanden“, heißt es schon in der Kritik der praktischen Vernunft (V 108; Kant bezieht sich in der Regel auf Cicero) – sieht Kant die „eigentliche Bedeutung der Philosophie“ in einer Weisheitslehre, die nach der zweiten Kritik eine „Lehre vom höchsten Gut“ ist, „so fern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen“ (ebd.). Wenn man nun, behauptet Kant im allerletzten Satz der genannten Verkündigung, das Lügeverbot in die so bestimmte
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Philosophie aufnimmt, so würde es „allein den ewigen Frieden in ihr nicht nur bewirken, sondern auch in alle Zukunft sichern können“ (VIII 422). Ohne diesen Optimismus vollständig teilen zu müssen, erkennt man hier den überragenden, mehr als nur lediglich moralischen Wert, den Kant dem Lügeverbot beimisst. Mit dem Zusatz: „und wenn es auch in der frömmsten Absicht wäre“ (ebd.) bestimmt er es als absolut gültig, keiner auch noch so plausiblen Ausnahme oder Entschuldigung zugänglich. Dass das Lügeverbot keine Ausnahme erlaubt, eben „absolut“ gilt, versteht sich innerhalb von Kants Systematik – es handelt sich um eine vollkommene Pflicht – von selbst. Bald nach Kant wird dies aber besonders heftig angegriffen. Der Vorwurf lautet auf „inhumanen Rigorismus“ (vgl. Geisman/Oberer 1986 und Esser 2004, 258–268). In einem kurzen Aufsatz, der etwa zur selben Zeit wie die Tugendlehre erscheint, „Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ (Berlinische Blätter, 6. Sept. 1797), „bekennt sich“ Kant „schuldig“, das damals vom frankophonen Frühliberalen Benjamin Constant bestrittene Lügeverbot selbst gegen einen Mörder verteidigt zu haben.Vor allem erneuert er sein absolutes Verbot, vorgetragen in vier Schritten. Sie sind allesamt, darf man nicht übersehen, rechtstheoretischer, nicht ethischer Natur, werden also nicht wie in unserem Textstück als eine Pflicht gegen sich, als Selbstpflicht, sondern als Pflicht gegen andere, als Fremdpflicht, behandelt und auch sie nicht als Tugend-, sondern als Rechtspflicht. Nach Kants erstem dort vorgetragenem Argumentationsschritt ist ein Recht auf Wahrheit unmöglich, möglich ist nur „ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit“ (VIII 426). Zweiter Schritt: Eine moralisch legitime Erlaubnis zu lügen würde, gemäß dem kategorischen Imperativ zu einem universalen Recht verallgemeinert, das für die Möglichkeit von Verträgen unverzichtbare Vertrauen zerstören (ebd.). Dritter Schritt: Falls die Lüge aufgrund eines unglücklichen Verhaltens der Umstände den Betreffenden dem Mörder ausliefere, müsse der Lügner die positiv-rechtlichen Konsequenzen, also die Verantwortung für Beihilfe zum Mord, tragen. Vierter Schritt: Wer einen als wahr erkannten Grundsatz wegen eines vermuteten Schadens aufgebe, verwechsele Schaden mit Unrecht (VIII 428 ff.). Mit einem Wort: Das im Vermeinte[n] Recht erörterte angebliche Recht auf eine Ausnahme erweist sich als einer der Sache widersprechende Scheinrechtfertigung. Die Tugendlehre erörtert die Lüge in fünf Absätzen von Paragraph 9. Der erste, längste und komplexe Absatz, durch drei Gedankenstriche in vier Teile untergliedert, bezeichnet die Lüge als größte Pflichtverletzung und definiert sie durch drei Momente, die Unwahrheit, die Vorsätzlichkeit und die „Äußerung seiner Gedanken“. Versteht man das Definitionselement „Äußerung“ eng und streng, so ist die Lüge im Unterschied zu Esser (2004) doch „auf die Sprache beschränkt“ und kann nicht „auch in anderen Kommunikationsformen“ verfolgt werden.
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Nach der erwähnten Verkündigung kann man sich zwar irren, man darf aber auf keinen Fall täuschen. Wer aus Unwissenheit oder wegen eines Irrtums die Unwahrheit sagt, spricht aus, was er denkt. Mangels des begrifflich notwendigen Elements einer geäußerten Täuschungsabsicht – die zugrundeliegende Maxime ist entscheidend –, bleibt man trotz „objektiver“ Unwahrheit doch „subjektiv“ wahrhaftig. Gegen Ende des ersten Abschnitts von Paragraph 9 bringt Kant noch einen anderen Definitionsaspekt ein, bei dem das Gedankenexperiment des sonst nicht verwendeten kategorischen Imperativs sich zumindest andeutet: Wer lügt, widerspricht „der natürlichen Zweckmäßigkeit“ seines Mitteilungsvermögens; er verfolgt einen „gerade entgegengesetzten Zweck“ (429). Worin das Natürliche der Zweckmäßigkeit liegt, erläutert Kant nicht. Wenn man es als von außen an das Mitteilungsvermögen herangetragenes teleologisches Element interpretiert, erscheint es als problematisch, nicht dagegen, wenn man es, wie es später heißt, als „inneren Zweck“, mithin als Begriffselement des Rede- und Mitteilungsvermögens ansieht. In der Tat bezweckt die Mitteilung eines Gedankens, dem Adressaten das zu äußern, was man ihm äußert, eben mitteilt. Sodann erweitert Kant für die Ethik den Geltungsbereich des Lügeverbots über den Bereich des Rechts hinaus. Während dort, im Recht, das Verbot nur bei Verletzung fremder Rechte eine Rolle spielt, ist es hier, in der Ethik, weil der Aspekt mangelnden Schadens nicht zählt, ohne Geltungsbegrenzung in jedem Fall gültig, also selbst dann, wenn die Lüge niemanden schädigt. In der Rechtslehre hatte Kant mit (Pseudo‐)Ulpian drei Rechtspflichten genannt und die erste Rechtspflicht, die rechtliche Ehrbarkeit, als Aufgabe erläutert, sich anderen niemals zum bloßen Mittel zu degradieren (RL, VI 236). In Paragraph 9 der Tugendlehre wird diese Aufgabe generalisiert, nämlich über den Rechtsbereich hinaus erweitert: Die Lüge, darüber hinaus die entsprechende Person, der Lügner, werde von Ehrlosigkeit, damit von moralischer Verachtung begleitet. Wie in der Verkündigung so unterscheidet Kant auch in der Tugendlehre zwei Arten, eine äußere und eine innere Lüge, wobei die innere Lüge laut Verkündigung eine „vor Gott“ ist (VIII 421). Im Paragraphen 9 der Tugendlehre erläutert Kant nach einem Gedankenstrich: Dort, bei der äußeren Lüge, macht man sich gegenüber anderen, hier, bei der inneren Lüge, „was noch mehr ist“, gegenüber sich selbst zum Gegenstand der Verachtung. Zugleich greift Kant jenes schon gegen Ende der Einleitung zu den Selbstpflichten, in Paragraph 4 genannte Verbot auf, „die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person“ zu verletzen, das er hier weder als „Verletzung der Pflicht gegen andere“ betrachtet noch als Selbstschädigung, denn diese wäre nur ein Verstoß gegen einen pragmatischen Imperativ, also ein „Klugheitsfehler“, kein Moralverstoß.
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Die bei der Lüge stattfindende Würdeverletzung, heißt es nach einem weiteren Gedankenstrich, findet nicht etwa auf einer niedrigeren Stufe statt. Sie ist vielmehr der Superlativ, nämlich nichts weniger als „Wegwerfung und gleichsam Vernichtung“ der Menschenwürde. Gegenüber dem Paragraphen 4 nimmt Kant jetzt, in der genauen Erläuterung der Lüge, eine erhebliche Verschärfung vor. Dort macht man sich verbotenerweise „lediglich“ zur Sache, heißt es jetzt, hier ist man nicht einmal eine Sache, denn eine Sache kann noch jemand anderem nützen, was für die in der Lüge stattfindende Lügeverletzung nicht zutrifft. Weil nicht einmal eine Sache ist man überhaupt nichts wert, jedenfalls nur noch scheinbar, nicht mehr in Wahrheit „der Mensch selbst“. Durch einen erneuten Gedankenstrich abgetrennt, führt der letzte Satz des ersten Absatzes zur Wahrhaftigkeit drei annähernd äquivalente Begriffe ein: Die Wahrhaftigkeit „in Erklärungen“ werde auch „Ehrlichkeit“ genannt, die nach der Grundlegung nicht wie bei einem klugen Kaufmann bloß aus Eigennutz erfolgen darf, vielmehr aus Pflicht zu geschehen hat (GMS, IV 397). Im zweiten Fall, dass die genannten Erklärungen die Gestalt eines Versprechens annehmen, also anderen gegenüber geäußert werden und – häufig oder stets? – den Charakter von Verträgen haben, handle es sich um Redlichkeit, die nach den Reflexionen (Nr. 6915) „notwendig jedermann“ gefalle (XIX 205). Der dritte gleichwertige Begriff schließlich, die Aufrichtigkeit, gilt als die Wahrhaftigkeit „überhaupt“. In der Fußnote zum Geiz wirft Kant einem Blick zurück zur Lüge. Er betont, dass sie zur Wahrhaftigkeit im kontradiktorischen Gegensatz steht, daher kein Mittleres – mehr oder weniger Lüge – zulässt. Hingegen ist ein anderer Gegensatz, der zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung, konträrer Natur, denn, wie es in der Religionsschrift heißt, muss die Offenherzigkeit nicht alles, was man weiß, auch kundtun, wohl aber muss alles Gesagte „mit Wahrhaftigkeit“ gesagt sein (Rel., VI 190). Zum Thema der Offenherzigkeit ist auch Kants Schrift Zum ewigen Frieden heranzuziehen, deren zweiter Zusatz, unter dem Titel „Geheimer Artikel“ ironischerweise Geheimnisse verbietet. Dieses Verbot betrifft aber nicht jede einzelne Verhandlung und Vereinbarung. Kant verbietet dort weder Geheimverhandlungen noch Geheimdienste. Er fordert die Politik nicht zu etwas auf, was sensible Diplomatie und deren gelegentliche Erfolge unmöglich machen würde, zu stets vollständiger Transparenz. Wohl aber gebietet er, über die zugrundeliegenden Grundsätze, „Maximen“ genannt, eine freie öffentliche Diskussion zu erlauben. (Zum systematischen Problem vgl. Höffe 2018.) Der zweite Absatz in Kants Erörterung der Lüge bekräftigt zwar wichtige Aussagen des ersten Absatzes, bringt aber nicht grundsätzlich Neues: In der ethischen Bedeutung ist die Lüge, die „vorsätzliche Unwahrheit überhaupt“, grundsätzlich verwerflich, sowohl unabhängig von der etwaigen Folge, anderen zu
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schaden, als auch unabhängig von der Motivation, bestehe diese in Leichtsinn, in Gutmütigkeit oder selbst in Beabsichtigung eines guten Zweckes. Die Lüge macht als „ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person“ diesen nichtswürdig und in den eigenen Augen verächtlich. Die beiden nächsten Absätze suchen den scheinbaren Widerspruch aufzulösen, der im Gedanken einer „inneren“ Lüge bzw., positiv formuliert, in der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst enthalten sei: Um lügen zu können, brauche man etwas, das der vorsätzliche Betrug seiner selbst ausschließe: nämlich eine zweite Person, die man zu hintergehen beabsichtige. Kant löst den scheinbaren Widerspruch durch die schon genannte Unterscheidung von zwei Begriffen des Menschen auf. Als physisches Wesen, als homo phaenomenon, kann der Mensch zwar sein Redevermögen als bloßes Mittel, als „Sprachmaschine“, verwenden. Er handelt dann aber dem inneren Zweck oder, wie es vorher heißt, der „natürlichen Zweckmäßigkeit“ des Redevermögens, der „Gedankenmitteilung“, zuwider. Das wiederum ist dem moralischen Wesen Mensch, dem homo noumenon – der letzte Absatz spricht auch von innerem Richter, der als eine Person gedacht wird –, mit dem Argument verboten, dann würde man, mit dem kategorischen Imperativ der Verallgemeinerbarkeit im Hintergrund, die moralisch gebotene Übereinstimmung von innerem Zweck und geäußerter Erklärung verletzen. (Zum exemplarischen Fall, dem Rechtsbeispiel des falschen Versprechens in der Grundlegung, vgl. Höffe 42010, 206–233, wieder in Höffe 2012, Kap. 7.3). Kant führt schließlich zwei Beispiele innerer Unwahrhaftigkeit an. Der letzte Absatz bleibt bei diesem Thema, nennt dabei zwei weitere Beinahe-Äquivalente zur absolut gebotenen Wahrhaftigkeit: die Gewissenhaftigkeit, deren Fehler sich auf Unredlichkeit beläuft, und positiv bestimmt die Lauterkeit, die in einer von sinnlichen Motiven ungeteilten Offenheit vor dem inneren Richter besteht. Die einschlägige Lüge erscheint als Schwachheit, was nach einer harmlosen Verletzung des moralisch Gebotenen klingt, in Wahrheit aber die in der menschlichen Natur wurzelnde Falschheit ist, von der aus – ein erstaunlich konsequentialistisches Argument?! – „das Übel der Unwahrhaftigkeit sich auch in Beziehung auf andere Menschen verbreitet“. In einer Anmerkung weist Kant auf die „merkwürdige Übereinstimmung“ seiner moralischen Einschätzung des Lügeverbots mit der Bibel hin. Nach ihr besteht das erste Verbrechen nicht im Brudermord (von Kain an Abel), also der Verletzung des elementarsten Recht, des auf Leib und Leben, wogegen sich laut Kant schon „die Natur empört“, sondern in der Lüge, was nicht den Mörder, sondern den Lügner zum „Urheber alles Bösen“ erklärt. Kant dürfte die dem Sündenfall vorangehende Lüge der Versucherin, der Schlange, meinen, die der ersten Frau, Eva, wider ihr Wissen etwas versprach, was aber bekanntlich nicht zutraf, sie werde, wenn sie von der verbotenen Frucht esse, nicht sterben (Genesis 3.4).
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Vom entsprechenden elementaren Hang zur Gleisnerei, also Heuchelei, in Klammern als „esprit fourbe“, betrügerischer oder arglistiger Geist, erläutert, könne die Vernunft „keinen Grund weiter angehen“. Kants Argument erklärt damit den Hang zur Heuchelei zu einem Freiheitsakt, der sich als solcher dem Kausalitätsdenken entziehe, deshalb weder deduziert noch erklärt werden könne. Kant beendet die Überlegungen zur Lüge mit „Kasuistische[n] Fragen“, (aber nicht einer Kasuistik, vgl. Schüssler 2012), was nicht erstaunlich und zugleich doch erstaunlich ist. Weil Kant schon bei allen drei Pflichten des Menschen gegen sich als animalischem Wesen derartige Fragen aufwirft, sind erneute kasuistische Fragen zu erwarten, trotzdem könnten sie in zwei Hinsichten problematisch sein. Erstens: Warum überhaupt können vollkommene Pflichten jene Anwendungsprobleme haben, die zu kasuistischen Fragen führen. Zweitens behandelt Kant hier zwei in methodisch-systematischer Hinsicht grundverschiedene Problemfelder: Die beide Fragen des ersten Problemfeldes könnten ähnlicher Natur sein wie die kasuistischen Fragen zur ersten Selbstpflicht qua animalischem Wesen, dem Selbstmordverbot: Mit Hilfe einer bestimmenden Urteilskraft könnte zu klären sein, ob bei den aufgeworfenen Problemen überhaupt ein Fall des Verbotes, nämlich eine Lüge, vorliege. Kant geht aber nicht so vor. Auf die erste Frage, ob die Höflichkeitsformel eines Briefschlusses „gehorsamster Diener“ als Unwahrheit einzuschätzen sei, bezieht er sich erstaunlicherweise nicht auf das Gebot der Höflichkeit, das nach dem „Zusatz“, mit dem die Elementarlehre der Tugendlehre endet (§ 48), zu den unter den Menschen gebotenen Umgangstugenden gehört. Das dort vorgebrachte Argument, jeder wisse, wie man den schönen tugendähnlichen „Schein“ zu verstehen habe, passt doch bei der genannten Briefformel. Trotzdem sagt Kant hier, bei der ersten kasuistischen Frage zur Lüge, nicht, die Briefformel sei nicht wörtlich zu verstehen. Vielmehr weist er auf jenen dabei fehlenden Schaden hin, der aber in der vorangehenden Diskussion als sachfremder Gesichtspunkt beiseite geschoben war. (Vgl. die in der ethischen Dialektik generell zu den Lastern gemachte Bemerkung, dort sogar in kursiv hervorgehoben: „Die Schändlichkeit nicht Schädlichkeit des Lasters“: 483) Zu Kants moralischer Beurteilung von Briefformeln wie „gehorsamster Diener“ – im österreichischen Begrüßen als „Servus“, Frauen müssten „Serva“ sagen, klingt die Formel noch heute an – könnte man auf den zweiten Paragraphen zur Kriecherei zurückgreifen, wo Kant Achtungsbezeugungen als Selbsterniedrigung verwirft. Zu fragen ist allerdings, ob die Briefformel tatsächlich darunter, also unter eine Pflichtverletzung fällt, nicht eher unter eine Umgangstugend mit deren zu gewissen Zeiten herrschenden Höflichkeitsformeln. Ist das heute zu findende „Herzlich, Ihr N.N.“ eine gegen die Pflicht zur Selbstschätzung verstoßende Selbsterniedrigung?
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Bei der zweiten Frage, ob man, von einem Autor gefragt, wie einem das Werk gefalle, „zum Munde reden“ dürfe, bleibt sowohl die Antwort als auch das etwaige Argument offen. Nach der vorangehenden Erörterung könnte man mit dem Argument, es handele sich nicht ernsthaft um eine Lüge, das „zum Mund reden“ erlauben. Denn die Alternative, aus Liebenswürdigkeit „zum Mund reden“, also lügen, ist wegen Kants absolutem Lügeverbot ausgeschlossen. Das zweite Problemfeld betrifft die Frage, wer im Fall, dass ein Dienstbote seinen Hausherrn auf dessen Verlangen verleugnen soll, etwaige Folgen der entsprechenden Lüge zu verantworten hat. Falls man hier eine Aufgabe für die bestimmende Urteilskraft sucht, müsste sie im Vorfeld am Werk sein. Sie hat nämlich die Reaktion des Dieners, seinen Hausherrn gebotsgemäß zu verleugnen, als klare Lüge zu identifizieren. Unter dieser Voraussetzung besteht Kants eindeutige, von seinem Lügeverständnis her auch überzeugende Antwort nicht in einer Allein-, wohl aber in einer Mitverantwortung. Er sagt nämlich vom Dienstboten, er habe „auch“ eine Schuld, womit er weder die zum Verleugnen angestiftete Person, den Dienstboten, noch dessen Anstifter, den Hausherrn, von Schuld freispricht. Nach Kants Ansicht, einer geteilten, vermutlich sogar gestuften Verantwortung, liegt die erste und größere Schuld beim Anstifter, dem Hausherrn, die zweite und geringere, aber nicht ganz fehlende Schuld beim Angestifteten, dem Diener, da er sich auf die zwar nicht vom eigenen Inneren, sondern von außen gebotene Lüge einlässt: Auch wer als Dienstbote in einer abhängigen Position steht, eventuell sogar eine Kündigung und mit ihr den Verlust des Lebensunterhaltes befürchten muss, bleibt eine mit einem eigenen Gewissen ausgestattete (431), folglich für seine Ehrlichkeit verantwortliche Person. Wie weit es sich bei der Mitschuld um eine rechtliche Mitschuld handelt, wird nicht klar. Der einleitende Hinweis „In wirklichen Geschäften“, erläutert als „wo es auf Mein und Dein ankommt“, mithin auf die in der Rechtslehre fundamentale Institution des Privatrechts, das Eigentum, spricht für „rechtliche“ Schuld, Kants Präzisierung der Schuld als „nach ethischen Grundsätzen“ dagegen. Im Fall einer rechtlichen Schuld müsste der Dienstbote etwaige Rechtsfolgen mittragen. Wegen der „ethischen“ Grundsätze und dem Bezug aufs eigene Gewissen verstehe ich aber die Folgen – nur – als Gewissensbisse: Wer lügt, selbst wenn es im Auftrag eines Vorgesetzten geschieht, darf sich nicht ein reines Gewissen einbilden.
8.3 Vom Geize (§ 10) Mancherorts herrscht immer noch das Bild von Kant als einem lebens- und sinnenfeindlichen Gelehrten vor. In Wahrheit pflegt er im Kreis von Freunden und Bekannten ein ausgedehntes Mittagsmahl zu halten. Und wie es sich für einen
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Philosophen ziemt, macht er sich über eine gute Mahlzeit in guter Gesellschaft Gedanken, die sich auf die Theorie einer gelungenen Mittags- oder Abendgesellschaft belaufen (Anthr., VII 277 ff.). In dieser Anthropologie-Vorlesung, die er vom Jahr 1772 bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1796 in jedem Wintersemester hält, führt er positive Beispiele von Sinnenlust an. Er hält „das Spiel (vornehmlich um Geld)“ für attraktiv, allerdings auch die „Arbeit für die beste Art sein Leben zu genießen, weil sie durch die Ruhe nach der an sich beschwerlichen Arbeit zur fühlbaren Lust, dem Frohsinn, wird“ und findet sogar ein gutes Argument, den „Tobak (er werde geraucht oder geschnupft)“ zu genießen (Anthr., VII 232). Diese biographischen Hinweise sind freilich kein Argument zur Beurteilung von Kants Theorie des Geizes. Sie zeigen jedoch, dass Kants Kritik an einem genussfeindlichen Umgang mit Geld und Gut keine „graue Theorie“ ist. Der Text zum Geiz, der wieder in fünf Absätze unterteilte, um eine lange Fußnote erweiterte Paragraph 10, beginnt mit einer gedrängten Differentialanalyse von drei Arten des Geizes und schiebt zwei von ihnen als Verletzung von Pflichten gegen andere beiseite: den habsüchtigen Geiz, weil er der Wohltätigkeit zuwiderhandelt, und den kargen Geiz oder die Knickerei und Knauserei, weil sie die Liebespflichten vernachlässigen. Zu Beginn der zuständigen „Kasuistischen Fragen“ werden die entsprechenden Laster prägnant definiert, die Habsucht als „Unersättlichkeit im Erwerbe“, die Knauserei als „Peinlichkeit“ (im Sinne von übertriebener Sorgfalt und Genauigkeit) „im Vertun“. Was Kant mit „Vertun“ genau meint, ist nicht leicht zu sagen. Nach dem Deutschen Wörterbuch (Bd. 25, Sp. 1895–1901) hat „vertun“ ein sehr weites Bedeutungsspektrum, das von „zustande bringen“, „verbrauchen“, „verarbeiten“und „zunichtmachen“ über „vergebens tun“ und „sich vorwagen“ bis zu „sich verflüchtigen“, „sich vergreifen“ und „sich verirren“ reicht. Nach Kants Zusammenhang geht es um so etwas wie Kleinlichkeit im Verbrauchen qua Nutzen seiner materiellen Mittel. Gemäß dem Themenfeld, zu dem der Geiz gehört, der Verletzung einer Selbstpflicht, erörtert Kant hier allein den Geiz, den man gegen sich selbst übt, der sich nicht einmal jene „Mittel zum Wohlleben“ gönnt, die dem „Maß des eigenen Bedürfnisses“ entsprechen. Kant nimmt dieses Laster, sich jeden Genuss zu versagen, eine Art von negativer Maßlosigkeit oder Unmäßigkeit, zum Anlass, um in den verbleibenden vier Absätzen eine These aus Abschnitt XIII der „Einleitung zur Tugendlehre“ noch einmal zu behandeln. Dort weist Kant Aristoteles’ (angeblichen) Grundsatz zurück, Tugend und Laster unterscheiden sich nicht graduell. Beispielsweise sei „gute Wirtschaft“ nicht in dem Sinn „als das Mittlere zwischen zwei Lastern, Verschwendung und Geiz“ zu verstehen, dass sie durch die „allmähliche Verminderung“ der Verschwendung, durch „Ersparung“ oder „durch die Vermehrung der Ausgaben“ vor-
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zustellen sei. Vielmehr lägen je eigene, einander notwendig widersprechende Maximen vor (404), folglich gehe es um eine qualitative Differenz. Bei seiner erneuten Zurückweisung des „Aristotelischen Grundsatzes“ (432) handelt es sich nicht etwa bloß um eine Wiederholung der im genannten Einleitungsabschnittes vorgenommenen Kritik. Vielmehr argumentiert Kant dort, im Abschnitt III, prägnanter und leichter verständlich als hier, im Paragraphen 10, was wieder einmal gegen die Erwartung einer überlegenen Komposition der Tugendlehre spricht. Eventuell ist die „Einleitung“ etwas später als die „Elementarlehre“, zumindest als einige ihrer Teile verfasst worden, so dass Kant mittlerweile zu größerer Klarheit finden konnte. Kants Leitgedanke zum Geiz, der der qualitativen Differenz – man beschafft sich, was legitim ist, gewisse Mittel in der Absicht auf deren Genuss oder aber, so das Laster des Geizes, ohne diese Absicht –, also die These, Geiz sei keine übertriebene Sparsamkeit, sondern folge einer grundlegend anderen Maxime, nämlich einer Art von Selbstkasteiung, die sich jeden Genuss verbietet, dieser These lässt sich leichter zustimmen als einigen der im Paragraphen 10 vorgetragenen Argumente. (Viele Interpreten äußern gegen Kants Aristoteles-Kritik selbst Kritik, z. B. in seiner schönen Dissertation Forkl 2001, 166.) Zum Beispiel versucht Kant, Aristoteles’ Tugendbegriff, die „Mittelstraße zwischen zwei Lastern“, ad absurdum zu führen. (Nach der Fußnote im Paragraphen 10 ist der Satz: man soll „keiner Sache zu viel oder zu wenig tun“ hingegen „tautologisch“.) Er berücksichtigt auch nicht die in Aristoteles’ Begriffsbestimmung enthaltene Botschaft: Wenn laut Aristoteles der Verschwender zu viele, der Geizige zu wenige Mittel sich gönnt, dann bedeutet gemäß griechischem Denken die Mitte nicht bloß im mathematischen Sinn die von zwei Punkten oder Linien gleich weit entfernte Stelle, sondern etwas Vollkommenes. Nach Aristoteles folgen der Verschwender und der Geizige auf je verschiedene Weise einer unüberlegten und unkontrollierten Antriebskraft, einer Leidenschaft bzw. einem Affekt (kata pathos), während der Tugendhafte kata logon, aus einer überlegten und überlegenen, einer „vernünftigen“ Distanz zum pathos herausagiert. (Im Gegensatz von kata pathos und kata logon zên klingt durchaus Kants Gegensatz von homo phaenomenon und homo noumenon, vom Menschen als physischen und vernünftigen Wesen, an.) In diesem Sinn als einer qualitativ andersartigen Antriebskraft bestimmt Aristoteles die Tugend durch Superlative wie das Beste, das Äußerste und das Vorzüglichste (Nikomachische Ethik II 2, 1104b28; II 5, 1106b22; II 6, 1107a8 und a23 u. a.), womit er das graduelle Verständnis eindeutig zugunsten eines qualitativen Begriffs aufhebt. Infolgedessen kann man Kant sowohl in seiner Kritik an der bloß graduellen Differenz als auch in der positiven Tugendbestimmung folgen, ohne sich deshalb von seiner Aristoteles-Kritik überzeugen zu lassen.
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Im vierten und fünften Absatz von Paragraph 10 erläutert Kant erstaunlicherweise das falsche Verständnis des Unterschieds von Tugend und Laster nicht anhand jener Art des Geizes, die eine Selbstpflicht verletzt, sondern an den beiden anderen, hier deshalb eigentlich nicht zuständigen Arten des Geizes, an der Habsucht und der Kargheit, die Fremdpflichten zuwiderlaufen. Die „Kasuistischen Fragen“ zum Geiz behandeln wieder ein anderes, überdies von den kasuistischen Fragen zur Lüge verschiedenes Thema, nämlich kein Anwendungs-, sondern ein Relevanzproblem. Mitlaufend erfahren Laster und Tugend eine nähere Begriffsbestimmung. Erneut behandelt Kant die Habsucht und die Knauserei (einige Zeilen später: Kargheit), ausdrücklich unter dem Titel „Pflichten gegen sich selbst“, obwohl sie doch den Pflichten gegen andere zugeordnet wurden. Kant sieht eine Gemeinsamkeit beider Laster, den Bezug auf Armut, was ihn zur Frage führt, ob überhaupt Pflichten verletzt werden, mithin Laster vorliegen, oder nicht „bloße Unklugheit“, also ein Verstoß gegen den pragmatischen Imperativ des eigenen Wohlergehens. Kant beantwortet die Frage mit: Nein, denn die Kargheit ist „nicht bloß missverstandene“, folglich unkluge „Sparsamkeit“, die ihrerseits wohl keine Tugend ist. Als „sklavische [!] Unterwerfung seiner selbst unter die Glücksgüter“ beläuft sie sich auf eine „Verletzung der Pflicht gegen sich selbst“ (434). Ähnlich, nämlich „sklavenartig“, hatte schon Aristoteles das Genussleben (bios apolaustikos: Nikomachische Ethik I 3, 1095b17 ff.) qualifiziert, da es sich der jeweiligen Lust unterwirft, also Kants Begriff des pflichtwidrigen, weil den Neigungen folgenden Handelns nahekommt. Auch in dieser Hinsicht besteht zwischen Kant und Aristoteles kein Gegensatz. Das Gegenteil des Lasters, wovon laut Kant die Freigebigkeit (liberalitas sumptuosa: eine Aufwand betreibende Liberalität), seit Aristoteles die Tugend im Umgang mit Geld und Gut, nur einen Teil ausmacht, die Liberalität (liberalitas moralis: moralische Liberalität), bestimmt Kant gewissermaßen als eine in moralischer Hinsicht personale Souveränität, nämlich als „Unabhängigkeit von allem anderen außer von dem [moralischen] Gesetz“. Das Gegenteil nennt er Defraudation: Betrug an sich selbst.
8.4 Von der Kriecherei (§§ 11–12) Kant erörtert dieses Thema in anderer Weise als die zwei vorangehenden Laster, Geiz und Lüge. Im ersten Paragraphen – Kant behandelt nämlich das Thema dieses Mal in zwei Paragraphen – setzt er nicht etwa bei einer Definition an, sondern klärt zuerst und ausführlich die beiden dafür nötigen Begriffsfelder. Als sachgerechten Ort für diese Klärung könnte man sich aber auch die „Einleitung zur Tugendlehre“ vorstellen.
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Die beiden Begriffsfelder stehen wieder in einem kontradiktorischen, folglich nichts Mittleres zulassenden Gegensatz von homo phaenomenon und homo noumenon bzw. von Tiermensch und Vernunftmensch. Die weiteren hier eingeführten Begriffe und deren Gegensätze sind im wesentlichen aus der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft bekannt: Der Mensch als Naturwesen bzw. als Tiermensch ist „von geringer Bedeutung“, hat einen „gemeinen“, hier im Sinne des erläuternden „vulgare“, einen alltäglichen oder gewöhnlichen Wert, der bemerkenswerterweise sogar durch die Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, nicht wesentlich aufgewertet wird, denn er ist dann in seiner Brauchbarkeit für die Mitmenschen bloß ein Mittel zu den Zwecken anderer Menschen (434). Fundamental und radikal, nämlich bis zu den Wurzeln anders verhält es sich nur beim Menschen „als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralischpraktischen Vernunft“. Dann ist er nämlich Zweck an sich selbst, besitzt einen absoluten inneren Wert, „Würde“ genannt, und darf von jedem anderen Menschen Achtung fordern. Er ist aber auch – hier wird die Pflicht gegen andere zu einer Pflicht gegen sich selbst überschritten – zur „moralische[n] Selbstschätzung“ und dem „Bewußtsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage“ verpflichtet. Wer dagegen verstößt, entsagt also seinem Anspruch auf moralischen Wert und verhält sich – erst jetzt kommt der Titelbegriff der Kriecherei ins Spiel – „kriechend“ und „knechtisch“ (435, vgl. 434, wo Kant in Bezug auf den Geiz noch vorwurfsvoller von „sklavisch“ spricht). Zur näheren Profilierung führt Kant weitere Begriffe ein. Der Tugendstolz, als Fremdwort „moralische Arroganz“, überschätzt den eigenen moralischen Wert, weil er sich nicht mit dem moralischen Gesetz – zu ergänzen: dessen größeren Ansprüchen – vergleicht. Wer dies unternimmt, wird sich seines geringen moralischen Werts bewusst, findet daher zur wahren, „moralischen Demut“. Nach der Kritik der Urteilskraft ist die Demut die „unnachsichtliche Beurteilung seiner Mängel“ (KU, V 264), und nach der Pädagogikvorlesung ist sie „eigentlich nichts anderes, als eine Vergleichung seines Wertes mit der moralischen Vollkommenheit“ (Päd., IX 491). Diese Demut zu pflegen lässt sich insofern als eine Pflicht gegen sich verstehen, was Kant aber nicht so ausspricht, sondern nur, dass Demut im Vergleich mit anderen Menschen „gar keine Pflicht“ ist. Sich hingegen für höherwertig anzusehen, wäre Hochmut und beliefe sich ebenso wie das Gegenteil, seinen moralischen Wert in Form von Heuchelei und Schmeichelei zu verringern, auf eine Pflichtverletzung. Dort, beim Hochmut, würde eine Pflicht gegen andere, hier, bei Heuchelei und Schmeichelei als „Abwürdigung seiner [moralischen] Persönlichkeit“, eine Pflicht gegen sich, die moralische Selbstschätzung, verletzt. Allerdings könnte man auch den Hochmut nicht nur als Verletzung einer Fremdpflicht, sondern ebenso als die einer Selbstpflicht verstehen. Denn man verletzt die moralische Selbstschätzung.
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Vermutlich ist folgende Beobachtung erneut weder ein Zeichen überlegener Komposition noch eines letzter Klarheit: dass Kant die Selbstschätzung in der Tugendlehre an mindestens vier Stellen behandelt, dabei in einer wichtigen Hinsicht sich sogar widerspricht. In der „Einleitung“ der Schrift, zu Beginn des Abschnitts XII, werden die vier danach sukzessive behandelten „moralischen Beschaffenheiten“, dabei als vierte die „Achtung für sich selbst“ genannt, diese mit „Selbstschätzung“ gleichgesetzt und wird eine Verbindlichkeit, sie zu haben, verworfen (399). Dieser Ansicht folgt die in Abschnitt XII.d zur Achtung gegebene nähere Erläuterung. Kant spricht dort nämlich von einer Selbstschätzung, zu der es keine Pflicht gebe (402 f.). An der dritten Stelle jedoch, bei der Kriecherei, qualifiziert Kant die Selbstschätzung als Pflicht, und zwar, wie zu erwarten, als Pflicht des Menschen gegen sich selbst (435). An der vierten Stelle schließlich, bei der Achtung als Verbindlichkeitsgrund für Fremdpflichten, ist erneut von einer „Pflicht der Selbstschätzung“ die Rede, hier als Argument für die Fremdschätzung (462). Auf diese Weise bekräftigt Kant den im Paragraphen 2 der „Ethischen Elementarlehre“ behaupteten Vorrang der Selbstpflichten von den Fremdpflichten. Der Begriffskern freilich bleibt sich gleich. Die Selbstschätzung oder Selbstachtung richtet sich nicht auf den gesamten Menschen, nämlich nicht auf sein empirisches So-Sein, wo es offensichtliche, zugleich legitime Unterschiede der Begabung, der Leistung usf. und der darauf basierenden persönlichen und sozialen Wertschätzung gibt. Vielmehr geht es um die praktische Vernunftnatur, um den Menschen als Person. Unter diesem Blickwinkel sind unter Ausschluss aller Ungleichheiten alle Menschen im strengsten Sinne gleich. Nur in Klammern: Kants sprachliche Ableitung der Heuchelei von „häucheln“ und dem „Stoßseufzer“ und die Ableitung des Schmeichelns von „Schmiegeln“ scheint etymologisch kaum zuzutreffen. Nach Kluge, dem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache (242002), bedeutet „heucheln“ ursprünglich „etwas bilden, formen“ (410), während „schmeicheln“ von „streichen“ kommt (813). Im zweiten Paragraphen zur Kriecherei, im Paragraphen 12, versucht Kant die Pflicht, seine innere Würde zu wahren, an Beispielen zu illustrieren („kennbar machen“). Unter anderem wendet er sich gegen Schmarotzer und Bettler und hält das Hinknien, selbst wenn es zur Verehrung himmlischer Gegenstände geschieht, für „der Menschenwürde zuwider“. Denn man demütigt sich dann nicht unter einem Ideal, der Vernunft, sondern einem Idol, einem Götzenbild. Die „Kasuistischen Fragen“ beginnen mit einer indirekten Begriffsklärung: Kant überlegt, ob die moralische Selbstschätzung nicht mit dem der wahren Demut entgegengesetzten Eigendünkel zu nahe verwandt ist oder ob sie im Gegenteil der Geringschätzung der eigenen Person Vorschub leistet. Sich vor einem Menschen zu bücken, hält er jedenfalls für unwürdig. Sodann verwirft er die vielen verbalen und
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anderen „Achtungsbezeugung[en]“ und erklärt, damit die Selbstverantwortung betonend, gegen den Hang zur Kriecherei abschließend: „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.“ Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Der hier kritisierte Durchgang durch die kasuistischen Fragen bei den erörterten drei Selbstpflichten, den Verboten von Lüge, Geiz und Kriecherei, bestätigt die oben, unter Abschn. 8.1 vertretene Ansicht, dass Kant in methodisch-systematischer Hinsicht unterschiedliche Probleme aufwirft, für die er teils eine Lösung anbietet, teils die Lösung offen lässt. Gleichwohl findet sich eine formale Gemeinsamkeit: Kant praktiziert, was ihm nach voreiligen Kritikern angeblich fehle, einen esprit de finesse. (Zum philosophisch-theologischen Hintergrund, der Kasuistikdebatte des 17. und 18. Jahrhunderts, s. Di Giulio/Frigo 2019.)
8.5 Kants zusätzliche Überlegungen In fünf weiteren Paragraphen, den Paragraphen 13–18, erörtert Kant zunächst das Gewissen (§ 13), sodann die Pflicht zur moralischen Selbsterkenntnis (§§ 14–15), schließlich die Zweideutigkeit (Amphibolie) moralischer Reflexionsbegriffe (§§ 16– 18). (Zur Interpretation dieser Paragraphen s. auch Esser 2013.) Angesichts der Bedeutung, die Kant dem Gewissen in der Tugendlehre beimisst, muss es überraschen, dass im ersten Teil der Metaphysik der Sitten, der Rechtslehre, selbst in den dort eingeführten „Vorbegriffen zur Metaphysik der Sitten“, das Gewissen fehlt. In der Tugendlehre hingegen wird es schon in der „Einleitung zur Tugendlehre“ behandelt, dort als jener Aspekt der praktischen, gemeint ist wohl: der reinen praktischen Vernunft, bei jedem Fall eines moralischen Gesetzes den Handelnden loszusprechen oder zu verurteilen. Kant hatte dort behauptet, dass jeder Mensch als sittliches Wesen das Gewissen „ursprünglich in sich“ hat, weshalb die hier einschlägige Pflicht nicht darin bestehe, sich ein Gewissen zu verschaffen, also es überhaupt auszubilden. Die Religionsschrift ist im zuständigen Paragraphen vom Gewissen in Glaubenssachen nicht so deutlich. Wenn es dort heißt: „Das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist“ (Rel.,VI 185), wird nicht klar, was genau Pflicht ist: das Gewissen zu haben oder, wie es in der Tugendlehre heißt, es zu „kultivieren“ (400 f.) Die erneute Behandlung des Gewissens im Paragraphen 13 arbeitet mit der Metapher des „inneren Gerichtshofes“, vor dem das in der „Einleitung“ genannte Lossprechen oder Verurteilen stattfinde. Dort war offen geblieben, worauf sich das Lossprechen oder Verurteilen bezieht, auf Handlungen bzw. Unterlassungen oder auf die ihm vorangehenden Überlegungen. Jetzt, im Paragraphen 13, spricht Kant
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von „Gedanken“, die „einander verklagen oder entschuldigen“, was den Handlungen vorausgeht. Im Fortgang der Überlegung unterscheidet Kant drei Phasen: (1) das warnende Gewisse „vor der Entscheidung“; (2) sobald „die Tat beschlossen“ ist, der Streit zwischen Ankläger und Anwalt (Advokat) (dazu vgl. die „Kritische Beleuchtung“ in der zweiten Kritik: KpV, V 98 f.); schließlich (3) die rechtskräftige Entscheidung, der „Spruch des Gewissens“. Die Gerichtsmetapher für das Gewissen ist alles andere als neu, neu dürfte allenfalls sein, dass Kant sie bis ins einzelne ausbuchstabiert. Schon in der Kritik der reinen Vernunft spielt die Gerichtsmetapher, ausgehend vom Titelbegriff dieser Schrift, der Kritik, eine zentrale Rolle. Denn Kant nimmt sich dort nichts weniger vor, als die „endlosen Streitigkeiten“ der Fundamentalphilosophie, der Metaphysik, in einem veritablen Gerichtsprozess zu schlichten. Da dieser Prozess die Ansprüche der reinen spekulativen bzw. theoretischen Vernunft auf ihre Berechtigung hin überprüft, handelt es sich nicht um einen Straf-, sondern um einen zivil-, zusätzlich einen verwaltungsrechtlichen Prozess. Im Gewissen hingegen findet ein Strafprozess statt, der eine in Gedanken in Erwägung gezogene oder schon beschlossene Tat auf seine moralische Zulässigkeit hin beurteilt, dann den entsprechenden Menschen freispricht oder verdammt, und auf diese Weise „über Glückseligkeit oder Elend“ entscheidet (439). Wie bei einem Strafprozess üblich gibt es im ersten Fall keine Belohnung, nicht einmal, positiv, eine „Freude“, sondern lediglich, negativ, die Entspannung, „ein Frohsein“, verbunden mit der „Beruhigung, nach vorhergegangener Bangigkeit“ (449). Zuvor legt Kant darauf wert, dass ein Gericht wie das Gewissen zwei Personen benötigt. Auf der einen Seite steht der Angeklagte, auf der anderen Seite der Ankläger oder aber der Richter. Denn obwohl es für den Prozess auf der Gegenseite beide Rollen, den Ankläger und den Richter, braucht, in Kants Erläuterungen auch beide Rollen auftauchen, werden sie nicht als eine gegenüber dem Angeklagten in sich differenzierte Aufgabe, als Doppelrolle, behandelt. Darin könnte man eine Grenze der Gerichtsmetapher sehen: Während in einem Strafprozess drei Personen agieren, (1) ein Angeklagter, eventuell zusammen mit seinem Anwalt, dem Verteidiger, (2) ein Ankläger, der Staatsanwalt, und (3) der das schließliche Urteil fällende Richter, tritt gemäß Kant im Fall des Gewissens ein und „derselbe Mensch“ als – nur – „zweifache Persönlichkeit“, als das „doppelte Selbst“ auf. Der Mensch als intelligibles Wesen, als autonomes Moralwesen beurteilt, klagt an und richtet zugleich das angeklagte sinnliche Vernunftwesen. Dieser Beurteilungsprozess macht das moralische Selbstbewusstsein, eben das Gewissen aus. Im Rahmen seiner Gewissens-Erörterung widmet Kant dem Gedanken einen breiten Raum, das Gewissen sei eine von der Vernunft geschaffene „idealische Person“, erläutert als „Gewissensrichter“, womit hier denn doch die dritte Rolle, das
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Richteramt, auftaucht. Diese zeichnet sich durch drei Eigenschaften aus. Als erstes kennt sie die letzten inneren Antriebskräfte. Weil sie „das Innerste der Gesinnung eines jeden“ durchschaut und weil Kant mit „Herz“ den subjektiven Grund der Wahl moralischer oder unmoralischer Maximen bezeichnet, heißt sie in dem Sinn „Herzenskundiger“ bzw., so die Akademieausgabe, „Herzenskündiger“, dass sie hinsichtlich der letzten Antriebskräfte des Menschen, seiner basalen Einstellung, kundig, sogar allwissend ist. Zum zweiten gehen von der idealischen Person alle moralischen Pflichten aus, sie ist „allverpflichtend“. Nicht zuletzt besitzt sie „zugleich alle Gewalt (im Himmel und auf Erden)“, was sie allmächtig macht. Da „ein solches über alles machthabende Wesen aber Gott heißt“ (439), wird das Gewissen in einer Weise gedacht, die die Autonomie der Moral zu gefährden, nämlich zugunsten einer Theonomie, einer von Gott stammenden Gesetzgebung, aufzuheben scheint. Kant entgeht dieser für seine Moralphilosophie „tödlichen“ Folge durch eine aus der Postulatenlehre der zweiten Kritik bekannte, hier aber nicht als solche erinnerte Unterscheidung: Die Annahme des im genannten Sinn höchsten Wesens ist „nicht objektiv“, durch theoretische Vernunft, sondern „bloß subjektiv, durch praktische sich selbst verpflichtende Vernunft“ berechtigt. Infolgedessen ist die Religion bzw. Religionspflicht hier für den Menschen lediglich „ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote“ (439 f.). Ein Defizit fällt auf: In der Tugendlehre, sowohl in der einleitenden Erörterung als auch hier, im Paragraphen 13, fehlt der Begriff der Reue, der aber in der Kritik der praktischen Vernunft an der oben erwähnten Stelle (KpV, V 98) eine Rolle spielt. Dem nächsten Abschnitt, den Paragraphen 14–15, liegt die aus dem Ersten Stück der Religionsschrift bekannte Unterscheidung eines natürlichen Hanges zum Bösen, der Ursünde, die sich der Mensch selbst zugezogen hat, und der ursprünglichen, angeborenen Anlage zum Guten zugrunde. Im Paragraphen 14 führt Kant eine neue Selbstpflicht ein, eine Art große Schwester des Gewissens, die moralische Selbsterkenntnis. Während das Gewissen sich jeweils auf „die Quelle“ im Sinne der Antriebskraft oder entscheidenden Maxime eines konkreten Tun oder Lassen richtet und über die Lauterkeit oder aber Unlauterkeit urteilt, soll die Selbsterkenntnis in die „Tiefen (Abgrund) des Herzens“ vorzudringen suchen. Sie soll also in der basalen Grundeinstellung (Disposition) der handelnden Person die gemeinsame Wurzel des Versuchtseins zu unmoralischem Handeln erforschen, um den dort nistenden bösen Willen als inneres Hindernis moralischen Handelns einzusehen und wegzuräumen. Dadurch werde die ursprüngliche Anlage eines guten Willens freigelegt, zugleich werden zwei konträre Fehlhaltungen verhindert: die „schwärmerische Verachtung seiner selbst“ und die egoistische („eigenliebige“) Selbstschätzung.
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Im letzten Paragraphen zu den Selbstpflichten, im Paragraphen 22, erklärt Kant wie auch an den anderen Stellen seiner moralphilosophischen Werke die „Tiefen des menschlichen Herzens“ für „unergründlich“ (447). Zu überlegen ist, ob er damit als unmöglich behauptet, was er zuvor, bei der moralischen Selbsterkenntnis, für geboten, mithin wohl für möglich behauptet? Wenn man diesen Widerspruch ausräumen will, müsste man zwei Arten von Tiefenforschung unterscheiden: eine unergründliche, die die Lauterkeit einer gewissen Handlung für unentscheidbar hält, und eine ergründbare, die die prinzipielle Gefährdung des Menschen durch seinen natürlichen Hang zum Bösen erkennt und anerkennt. In der Tat erscheint die erstgenannte, konkrete Tiefenbohrung als nie eindeutig erfolgreich, denn jeder anscheinend aus Pflicht erfolgenden Handlung kann ein sowohl dem Beobachter als auch dem Handelnden verborgener eigensüchtiger Antrieb zugrundeliegen. Er besteht im natürlichen Hang zum Bösen. Auf der nicht mehr konkreten, sondern prinzipiellen Ebene hingegen ist die Erkenntnis dieses Hangs zum Bösen möglich. Sie ist sogar eine Voraussetzung der These der Unergründlichkeit jeder konkreten Tiefenbohrung: Seiner unaufgebbaren Natur nach ein sinnliches Moralwesen kann der Mensch sich seiner lauteren Moralität nie sicher sein. Im Unterschied zu der bekannten, auf einen Orakelspruch aus Delphi zurückgeführten generellen Aufforderung zur Selbsterkenntnis beschränkt die von Kant thematisierte Selbstbeurteilung sich auf die moralische Seite. Aus ihr, der moralischen Selbstschätzung, sieht Kant zwei Selbstpflichten unmittelbar folgen: eine unparteiliche moralische Selbstbeurteilung und ein aufrichtiges „Selbstgeständnis seines inneren moralischen Werts oder Unwerts“. Der dann folgende „episodische Abschnitt“ zur Amphibolie der Paragraphen 16–18 setzt bei einer Gemeinsamkeit der Selbst- und Fremdpflichten an. Es sind nach Paragraph 16 Pflichten „bloß gegen den Menschen“, der, um verpflichtet werden zu können, eine Person sein muss, die in der Erfahrung gegeben ist. Aus diesen Gründen gibt es sowohl gegen subhumane, „vorrmenschliche“ (Tiere, Pflanzen, anorganische Substanzen) als auch gegen transhumane, „übermenschliche“ Wesen (Engel, Gott) keine Pflichten. Die ersteren sind mangels Vernunft keine Personen – Kant denkt hier in der seit dem Römischen Recht vertretenen kontradiktorischen Gegensatz: Person oder Sache, etwas Mittleres kann es nicht geben –, die zweiten sind mangels Erfahrbarkeit kein empirischer Gegenstand. Der Mangel an „Pflichten gegen“ schließt laut Kant aber keine Pflichten „in Ansehung“ dieser Wesen aus. Es sind dann zwar keine direkten, wohl aber indirekte Pflichten gegen sie. (1) Wer im Bereich des Subhumanen, in der Kristall-, der Pflanzen- oder der Tierwelt, Schönes zerstört, schwächt die der Moralität förderliche Haltung, etwas „auch ohne Absicht zu lieben“. (2) Nach Kant steht dem sinnlichen Vernunftwesen
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Mensch, weil er der Zweck, und zwar der einzige Zweck der Natur ist, das Recht zu, subhumane Lebewesen als Mittel zu seinen Zwecken zu gebrauchen (vgl. Anfang, VIII 114). Infolgedessen haben auch die Tiere keinen Eigenwert, dessentwegen sie Respekt verdienen, so dass der Mensch keine Pflichten gegen Tiere hat, wohl aber für den Umgang mit Tieren Pflichten gegen sich selbst.
8.6 Exkurs zur neueren Tierethik Erwartungsgemäß lehnt die neuere Tierethik diese Einstellung ab. Sie räumt zwar ein, dass Tiere trotz gewisser kognitiver Fähigkeiten nicht über jene praktische (moralische) Vernunft verfügen, deretwegen sie, für ihr Tun und Lassen verantwortlich, zu Rechenschaft gezogen und gegebenenfalls bestraft werden dürfen. Der für moralische Verantwortung erforderliche Status einer zurechnungsfähigen Person kommt ihnen in der Tat nicht zu, wie Chr. Korsgaard 2021 schon im Titel „Tiere wie wir“ erklärt. Aus diesem Grund ist die Beziehung zu ihnen fundamentalerweise nicht gleichrangig. Das schließt aber nicht Wechselseitigkeit aus, weshalb Tiere keine Pflichten gegen die Menschen haben, eventuell aber die Menschen gegen die Tiere. Dort, zum Beispiel wo Wechselseitigkeit vorliegt, kann es eine Gerechtigkeitspflicht geben. (Im Folgenden greife ich zurück auf Höffe 42000, Kap. 13): In der wilden Natur mögen Menschen und Tiere Gegner, gelegentlich sogar Feinde sein. Im Fall der Domestikation wird diese Situation jedoch grundlegend verändert. In den Grenzen, die einerseits die Spezies, andererseits der menschliche Zweck setzen, entsteht zwischen Menschen und Tieren eine Kooperation, die in der Regel nicht um ihrer selbst willen, jedoch zu gegenseitigem Nutzen erfolgt. Zugleich wird die seit dem Römischen Recht vorherrschende Alternative „Person oder Sache“ unterlaufen. Denn das Tier wird weder zu einer Person erhoben noch zu einer bloßen Sache degradiert. Denn es wird gleichsam wie ein Geschäftspartner, fast wie ein Kompagnon behandelt. Im Rahmen der Domestikation wird das Tier in einem wörtlichen Sinn zum Domestiken, zu einem Diener zwar, der aber in den Domus, den Lebensraum des Menschen, integriert ist. Dabei stellt sich der Mensch auf die Bedürfnisse des Tieres ein, beispielsweise ergänzt er die zum Haus gewordene Bleibe um Stall und Weide. Vielleicht herrscht die Wechselseitigkeit sogar von Anfang an vor. Vermutet wird nämlich, dass das älteste Haustier, der Hund, von den Fischresten angezogen wurde, die die im Küstengebiet siedelnden Menschen übrig ließen: Der Hund erhält die Fischreste, der Mensch einen Wächter. Diese angedeutete Wechselseitigkeit lässt sich verallgemeinern. Die Domestikation bringt beiden Seiten einen Vorteil. Auf der einen Seite steigert der Mensch im
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Verhältnis zur Jagd den Ertrag; zudem erweitert er seine Überlegenheit, nicht zuletzt stehen domestizierte Tiere ihm zur ständigen und so gut wie gefahrlosen Verfügung. Auf der anderen Seite müssen die Tiere nicht mehr um ihr Überleben kämpfen, sondern erhalten vom Menschen Nahrung und Schutz. Erreicht wird dieser beiderseitige Vorteil nun auf einem zwar technischen, aber doch moralisch angemessenen Weg: Durch die Züchtung wird die Erbsubstanz dergestalt verändert, dass dem neuen Domestiken der Dienst am Menschen keine aufgezwungene Äußerlichkeit ist; in einem wesentlichen Sinn wird der Vorteil artgerecht, aus dem Inneren des Tieres heraus, in Anspruch genommen. Auf der anderen Seite bezahlt das Tier in Jägerkulturen seine Dienstbarkeit notwendigerweise mit dem Leben, in Hirtenkulturen nicht: Hund, Katze und Pferd sind (fast) ausschließlich, Schaf, Ziege, Schwein und Rind vornehmlich als lebende Wesen von Nutzen. Schließlich wird auf der Jagd die Beute oft genug bis zur Todesangst gehetzt; andere Tiere entkommen, aber verwundet; wieder andere müssen irgendwo qualvoll verenden. Tiere, die man weidet, werden am Ende zwar auch getötet, aber in der Regel auf eine schmerz- und leidensärmere Art – wenn die vielerorts „inhumane“ Weise der Tierhaltung, des Tiertransports und des Schlachtens überwunden würde. Beruft man sich, wie heute vorwiegend, auf Mitleid, so wird für alle schmerzund leidensfähigen Tiere dieselbe Zuwendung gefordert; sie haben aber kein Recht darauf. Nach dem angedeuteten Gedanken der Gerechtigkeit gibt es unterschiedliche Stufen der Verantwortung, zumindest ansatzweise sogar Rechte: Da der Mensch in der Domestikation die Tiere von sich abhängig gemacht hat, trägt er gegen sie eine größere Verantwortung als gegen die von außerhalb. Allerdings besteht auch gegen wildlebende Tiere insofern eine Gerechtigkeitsverpflichtung als eine Zivilisation, die ihnen den natürlichen Lebensraum mehr und mehr einschränkt, alle Tiere zumindest indirekt abhängig macht. Für die Vernichtung von Lebensraum und gegen die Gefahr der Ausrottung schuldet der Mensch einen Ausgleich, indem er beispielsweise Tierreservate schafft. Kant sieht es anders, denn er erkennt nur indirekte Pflichten an. Wer Tiere grausam behandelt, schwächt das Mitgefühl mit Wesen, die leiden, ab. Tiere zu töten, sofern es „ohne Qual“ geschieht, oder sie arbeiten zu lassen, ist jedoch legitim, nicht dagegen jeder„martervolle Tierversuch“. Dieses Verbot ist laut Kant allerdings nicht grundsätzlich gültig, sondern nur dann, wenn der Zweck auch ohne den Tierversuch erreicht werden kann. Wer glaubt, dass Kant, von heute aus gesehen erstaunlicherweise, grausame Tierversuche nicht als grundsätzlich verboten ansieht, unterstellt, dass in den zulässigen Fällen das Mitgefühl nicht abgestumpft werde. In bezug auf übermenschliche, also reine Vernunftwesen ohne jede Sinnlichkeit – Paragraph 18 spricht freilich nicht wie Paragraph 16 auch von Engeln, son-
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dern nur von Gott – gibt es ebensowenig eine Pflicht „gegen“ sie, sondern nur „in Ansehung“ von ihnen. Gott ist nämlich seinem wissenstheoretischen Status nach eine Vernunftidee, von der es deshalb keine Erfahrung gibt. (Der Kantische Gott, würde Pascal sagen, ist nur der Gott der Philosophen, nicht der von Abraham, Isaak und Jakob, also der der jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaft.) Der Schlusssatz des episodischen Abschnitts bekräftigt die in der Gewissenserörterung vertretene Religionspflicht „Religion zu haben“, hier die Idee von Gott auf das moralische Gesetz in uns anzuwenden – Kant spricht auch von der bloßen Gewissenhaftigkeit – „ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst“.
Literatur Aristoteles: Ethica Nicomachea, hrsg. v. I. Bywater 1884 (viele Nachdrucke); dt.: Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. v. U. Wolf, Reinbek 2006. Bacin, St. 2013: The Perfect Duty to Oneself Merely as a Moral Being (TL 6:428–437), in: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston, 245–268. Constant, B.: Des réactions politiques, 1797, Nachdruck: Paris 1986; dt. Über politische Reaktion, Berlin 1972. Di Giulio, S. / Frigo, A. 2019 (Hrsg.): Kasuistik und Theorie des Gewissens. Von Pascal bis Kant, Berlin u. New York. Esser, A. M. 2004: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart. Esser, A. M. 2013: The Inner Court of Conscience, Moral Self-Knowledge, and the Proper Object of Duty (TL 6:437–444), in: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston, 269–291. Forkl, M. 2001: Kants System der Tugendpflichten. Eine Begleitschrift zu den ‚Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre‘, Frankfurt/M. Geisman, G. / Oberer, H. 1986: Kant und das Recht der Lüge, Würzburg. Höffe, O. 42000: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt/M. Höffe, O. 2012: Kants Kritik der praktischen Vernunft, München. Höffe, O. 42010: Kants nichtempirische Verallgemeinerung: zum Rechtsbeispiel des falschen Versprechens, in: Ders. (Hrsg.), Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M., 206–233. Höffe, O. 2018: Erlaubt eine Demokratie Geheimnisse?, in: Zeitschrift für Politik 2/2018, 137–149. Kluge, F. / Seebold, E. 242002: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin u. New York. Schüssler, R. 2012: Kant und die Kasuistik. Fragen zur Tugendlehre, in: Kant-Studien 103, 70–95. Korsgaard, Chr. M. 2021: Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben; orig. Fellow Creatures. Our Obligations to the Other Animals, Oxford 2018.
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9 Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung. Zu Kants Konzeption der unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seines Zwecks (§§ 19–22) 9.1 Einleitung Kant entwickelt in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten u. a. seine Auffassung weiter, dass die eigene Selbstvervollkommnung eine Tugendpflicht und somit ein moralisch geforderter Zweck ist. Als moralisch handelnde Personen sind wir demnach verpflichtet, sowohl unsere „natürliche“ als auch unsere „moralische“ Vervollkommnung anzustreben. Doch warum sollten wir uns überhaupt selbst vervollkommnen? Was ist unter Selbstvervollkommnung genauer zu verstehen? Und wie sollten wir uns selbst vervollkommnen? Um Antworten auf diese Fragen nach der Begründung, der Natur und den richtigen Mitteln der Selbstvervollkommnung zu finden, verorte ich zunächst das hier zu verhandelnde zweite Buch der ethischen Elementarlehre – in dem sich Kant erstaunlich knapp der Pflicht zur Selbstvervollkommnung widmet, – in Kants Theorie der Pflichten gegen sich selbst. Vor diesem Hintergrund versuche ich dann, Kants bruchstückhafte Argumentation gründlich zu rekonstruieren und zu interpretieren. Ich werde zeigen, dass er sowohl eine eigenständige Angemessenheitstheorie der Selbstvervollkommnung bezüglich unserer eigenen Natur als auch eine psychologisch sensible Theorie moralischer Verbesserung vertritt. So verteidigt er zum einen die Auffassung, dass unsere natürlichen Fähigkeiten in dem Maße zu entwickeln sind, wie sie zu unseren selbst gesetzten Zielen passen. Zum andern wird deutlich, dass Kant für ein erfahrungsgesättigtes moralisches Training eintritt. Damit legt er die Basis für eine interessante Alternative sowohl zu perfektionistischen und optimierenden Theorien der Selbstvervollkommnung als auch zu einer zu rigoristischen Lesart seiner eigenen Moraltheorie.
https://doi.org/10.1515/9783110786958-011
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9.2 Selbstvervollkommnung als unvollkommene Pflicht gegen sich selbst Kant geht es in der Tugendlehre darum zu zeigen, dass wir angesichts unserer sinnlichen Neigungen, die uns zu unmoralischen Zwecken (oder Zielen) „verleiten“ (380), darauf angewiesen sind, uns selbst moralische Zwecke vorzuschreiben. Zu diesen zählt Kant die eigene Vervollkommnung und die Glückseligkeit anderer (386). Er bemüht hierbei sowohl die Universalisierungs- als auch die Zweckformel des kategorischen Imperativs, um dies näher zu begründen. So stellen die eigene Vervollkommnung sowie die Glückseligkeit anderer allein Zwecke dar, die zu haben, so Kant, sich jeder als allgemeines Gesetz machen könnte (395). Dies scheint wiederum der Tatsache geschuldet, dass dadurch der Mensch sich selbst und anderen Zweck ist (ebd.). Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung ist daher als Pflicht gegen sich selbst eine genuin moralische Pflicht (und nicht etwa als Gebot der Klugheit) (vgl. Denis 1997, 324 ff.). Denn sofern wir vernunftfähig sind und den Zweck der Menschheit in unserer Person repräsentieren, schulden wir es uns selbst, unsere Fähigkeit, uns durch die Vernunft selbst zu bestimmen, zu erhalten und zu befördern. Kant unterscheidet genauer zwei Pflichten gegen sich selbst,¹ nämlich die der Selbsterhaltung und die der Selbstvervollkommnung. Sofern es darum geht, die Fähigkeit vernünftiger Selbstbestimmung zu erhalten, ist die Pflicht gegen sich selbst vollkommen. Sie verbietet, Handlungen auszuführen, die diese Fähigkeit behindern oder untergraben. Sofern es darum geht, diese Fähigkeit zu kultivieren, ist die Pflicht gegen sich selbst unvollkommen. Sie gebietet, sich Maximen zu eigen zu machen, die die Vervollkommnung dieser Fähigkeit gewährleisten. Unvollkommene Pflichten lassen einen Spielraum in ihrer Befolgung (vgl. 390). Allerdings bedeutet dies nicht, davon entbunden zu sein, seine eigene Vervollkommnung anzustreben. Dazu gehört vielmehr, sich um die „Kultur“ seiner Naturanlagen (386) zu bemühen sowie einen starken Willen zu erwerben. Doch selbst wenn Kant darlegt, was es heißen kann, sich die Vervollkommnung seiner selbst zum Zweck zu machen, so bleibt die Schwierigkeit zu zeigen, inwiefern einzelne dafür dienliche Handlungen überhaupt in den Bereich der Pflicht fallen. Denn da die Pflicht zur Selbstvervollkommnung unvollkommen ist, können nicht alle dafür dienlichen Handlungen selbst verpflichtend sein. Kant selbst bietet hierzu keine Lösung an. Mit etwas Wohlwollen könnte man seine Konzeption unvollkommener
1 Siehe zu Kants Theorie der Pflichten gegen sich selbst den Beitrag von Jochen Bojanowski in diesem Band.
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Pflichten dahingehend ergänzen, dass das, wozu die Vervollkommnung seiner selbst – wenn man sie sich als Zweck gesetzt hat – verpflichtet „disjunktive Pflichten“ (Stratton-Lake 2008, 216 ff.) sind. Wir sind in der genauen Ausführung frei, aber wir sind zur Ausführung in der einen oder anderen Art verpflichtet. Abschließend kann festgehalten werden, dass Kants Pflicht zur Selbstvervollkommnung im Kontext seines Argumentationsgangs in der Metaphysik der Sitten als eine von zwei Pflichten gegen sich selbst (neben der Selbsterhaltung) und als eine von zwei Tugendpflichten (neben der Glückseligkeit anderer) zu verorten ist, die unvollkommen verpflichten. Sie wird zum einen durch den kategorischen Imperativ, zum anderen durch die Zweckformel als moralische Pflicht begründet. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun Kants Ausführungen zur Pflicht der Selbstvervollkommnung argumentativ rekonstruieren.
9.3 Vervollkommnung der eigenen Natur Im ersten Abschnitt des zweiten Buchs der ethischen Elementarlehre „Von den unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst (in Ansehung seines Zwecks)“ widmet sich Kant zunächst der Pflicht gegen sich selbst „in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit, d. i. in pragmatischer Absicht“ (444–446). Ein interessantes Ergebnis der knappen Ausführungen ist, dass Kant eine Angemessenheitstheorie bezüglich der Selbstvervollkommnung der eigenen Natur nahelegt. In dem zu verhandelnden Abschnitt lässt sich folgendes Argument rekonstruieren, aus dem dieses Ergebnis folgt: (i) Der Zweck des menschlichen Daseins ist, Tugend zu entwickeln, um sich vernünftig selbst zu bestimmen. (ii) Naturinstinkte sind nicht allein hinreichend, um diesen Zweck zu realisieren. (iii) Um Tugend zu entwickeln und sich vernünftig selbst zu bestimmen, müssen Menschen als vernunftfähige Wesen ihre intellektuellen und körperlichen Vermögen für allerlei Ziele kultivieren. (iv) Die intellektuellen und körperlichen Vermögen sowie die sozialen Voraussetzungen eines jeden Menschen sind jedoch in unterschiedlicher Weise für verschiedene Ziele geeignet. (v) Deshalb sollen einzelne Ziele so gewählt werden, dass sie zu den jeweiligen Vermögen und Voraussetzungen des einzelnen Menschen, der sie verfolgt, passen. (vi) Einzelne Ziele dienen nur dann dem Zweck des menschlichen Daseins, wenn sie zum einen zu den intellektuellen und körperlichen Vermögen eines ein-
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zelnen Menschen passen und zum anderen garantieren, dass der Mensch, der sie verfolgt, ein nützliches Glied der Gesellschaft ist. Kant verteidigt dieses Argument, das sich nur indirekt aus seinen Ausführungen erschließen lässt, indem er die unvollkommene Pflicht zur Vervollkommnung seiner Naturanlagen begründet, näher darlegt, worin die Naturanlagen bestehen, und zeigt, auf welche Weise diese vervollkommnet werden sollen. Kurz: Er konzentriert sich auf die Begründung, auf das Wesen und auf die relevante Art der Kultivierung der Naturanlagen.
9.3.1 Begründung der Pflicht zur Vervollkommnung seiner Naturanlagen Kant geht zunächst davon aus, dass die Pflicht zur Kultivierung der eigenen Naturanlagen eine Pflicht gegen sich selbst ist. Wichtig ist nun, wie Kant diese Pflicht in dieser Passage näher begründet: Es geht ihm zufolge darum, „ein dem Zweck seines Daseins angemessener Mensch zu sein“ (445). Kritiker haben zwar darauf hingewiesen, dass Kants Ausführungen eine unplausible teleologische Konzeption menschlicher Natur zugrunde liegt, der zufolge die Naturanlagen selbst einen Zweck verfolgen (vgl. Aune 1979, 120–130). Doch selbst wenn Kant dieser Deutung Vorschub leistet (vgl. GMS, IV 423; KU,V 253 und 267 ff.), so ist er zumindest nicht der Auffassung, dass die menschliche Natur (und ein wie auch immer von ihr verfolgter Zweck) die Pflicht begründet, sie zu kultivieren. In der Grundlegung rekurriert Kant zur Begründung einer solchen Pflicht der Selbstkultivierung noch allein auf die erste Formel des kategorischen Imperativs. Eine Person – für Kant dient der „Südsee-Einwohner“ als anschauliches Beispiel –, die sich nur dem Genuss hingibt und ihre „Talente“ (wie Kant die Naturanlagen hier nennt) rosten lässt, könne ein solches Leben nicht als Gesetz wollen: Vielmehr, so Kant, muss ein vernünftiges Wesen notwendig wollen, dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, „weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind“ (GMS, IV 423). In der Einleitung zur Tugendlehre bietet Kant eine auf die Zweckformel rekurrierende Begründung an. Diese ist den Ausführungen des zu verhandelnden Abschnitts ähnlicher, wenn auch weniger präzise: Da wir in unserer eigenen Person den Zweck der Menschheit und somit das Sittengesetz repräsentieren, haben wir auch die Pflicht, uns „um die Menschheit durch Kultur überhaupt verdient zu machen“ (392). Dazu gehört auch die Pflicht zur Kultivierung der rohen Naturkräfte, „wodurch das Tier sich allererst zum Menschen erhebt“ (ebd.). Wenig später fügt Kant hinzu, dass es die Pflicht des Menschen sei, „den Menschen überhaupt sich
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zum Zwecke zu machen“ (395). Wir schulden uns selbst und den anderen die Kultivierung unserer Fähigkeiten aus Achtung vor dem Menschen als Zweck vernünftiger Selbstbestimmung. Kant bezieht sich in seinen weiteren Ausführungen im Rahmen der Tugendlehre aber auch auf „den Endzweck des Daseins der Menschen auf Erden“ (405). Dieser ähnelt der bereits zitierten Formulierung in der zu verhandelnden Passage: „dem Zweck seines Daseins ein angemessener Mensch zu sein“ (445), am meisten. Damit scheint Kant meiner Ansicht nach jedoch nicht ganz dasselbe zu meinen wie die in der Einleitung der Tugendlehre noch bemühte Zweckformel. Während letztere von einem Ideal vernünftiger Selbstbestimmung ausgeht, bezieht sich die Formel vom Zweck des Daseins auf Erden [meine Hervorhebung] darauf, wie dieses Ideal für ein lediglich vernunftfähiges – und eben nicht durchweg vernünftiges – Wesen zu erlangen ist. Deshalb ist der Zweck eines lediglich vernunftfähigen Wesens, sich diesem Ideal näher zu bringen. Dies geschieht durch die Kultivierung der Tugend. So wird Kants Bemerkung plausibel, dass der höchste, unbedingte Zweck, den die reine praktische Vernunft in sich hat, „darin gesetzt wird: dass die Tugend ihr eigener Zweck und, bei dem Verdienst, das sie um den Menschen hat, auch ihr eigener Lohn sei“ (396). Kurz: Um das Ideal vernünftiger Selbstbestimmung zu erreichen, ist es für lediglich vernunftfähige Wesen notwendig, Vermögen zu kultivieren, die ihre Tugend ausbilden. Neu gegenüber den Formulierungen der Einleitung zur Tugendlehre ebenso wie gegenüber der Grundlegung ist zudem, dass die Pflicht, nach diesem Ideal zu streben, „angemessen“ erfüllt werden muss. Kant bietet hier zwei weitere Erläuterungen an, warum und wie wir unsere eigene Natur vervollkommnen sollen. Zum einen verweist er ex negativo darauf, dass der „Instinkt der Natur“ (444) nicht hinreichend dafür ist, den Zweck des Daseins oder den Zweck der Menschheit in uns zu realisieren. Warum nicht? Man kann sich etwa vorstellen, dass wir nicht in der Lage sind, uns vernünftig selbst zu bestimmen, wenn wir einfach unseren Neigungen nachgeben. Wir würden dann unsere Ziele häufig nicht vernünftig auswählen oder wären willensschwach in ihrer Ausführung (vgl. GMS, IV 423). Daraus folgt für Kant, dass nicht die Naturinstinkte, sondern die Kultivierung unserer Naturanlagen dem Zweck des menschlichen Daseins dient. Denn nur sie trägt zu vernünftiger Selbstbestimmung durch die Stärkung des Willens bei. Um diesen Beitrag genauer zu verstehen, ist es hilfreich, sich der zweiten Erläuterung Kants zuzuwenden. So verweist er zum anderen darauf, dass die Kultivierung unserer Naturanlagen „in pragmatischer Absicht“ erfolge. Demzufolge ist diese ein Mittel zur Realisierung vernünftiger Selbstbestimmung. Allerdings nicht derart, dass dieses Mittel mit „Rücksicht auf den Vorteil“ (445), den die Kultur seines Vermögens (zu allerlei Zwecken) verschaffen kann, gewählt werden sollte. Damit meint Kant, dass Nut-
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zenerwägungen die falsche Art von Grund sind, die Naturanlagen zu befördern. Sie könnten nämlich erlauben, diese Vermögen in ihrem rohen Naturzustand zu belassen und somit keine Pflicht zur Selbstvervollkommnung begründen. So sind immer Fälle denkbar, in denen es uns glücklicher machen könnte, die Anlagen nicht zu vervollkommnen. Um solche Fälle auszuschließen, bedarf es einer anderen Begründung als des Rekurs auf Nutzenerwägungen. Vielmehr scheint es letztlich der Respekt vor dem Zweck der Menschheit und damit vor dem Wert vernünftiger Selbstbestimmung, der die Wahl dieses Mittels notwendig macht und nach dem zu streben jede einzelne Person verpflichtet ist. Die Kultivierung der Naturanlagen ist insofern ein Mittel, das zu realisieren, was die Vernunft selbst gebietet und insofern aus Respekt für diesen Zweck gewählt wird. Der Grund für die Kultivierung kann daher nicht sein, dass die Naturanlagen verschiedenen Zwecken dienlich sind. Vielmehr geht es darum, diejenigen Fähigkeiten nicht zu missachten, die uns zu vernünftigen und damit auch kooperativen Mitgliedern der Gesellschaft machen (vgl. Hill 2013, 302).
9.3.2 Drei Arten der Naturanlagen Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, welche Naturanlagen Kant überhaupt als dafür geeignete Mittel im Auge hat. Kant unterscheidet hierbei drei verschiedene Vermögen, die er etwas irreführend „Naturkräfte“ nennt (444). Damit kann jedoch weder gemeint sein, dass sie unsere Menschennatur charakterisieren, noch, dass sie unserer sinnlichen im Gegensatz zu unserer geistigen Natur entspringen. Denn Kant zählt zu den Naturkräften die sogenannten Geisteskräfte, die durch die Vernunft a priori ausgeübt werden. Hierzu gehören nach Kant die Mathematik, Logik und Metaphysik der Natur. Ebenso zählt er die Seelenkräfte, wie Gedächtnis und Einbildungskraft (die wiederum Gelehrtheit und Geschmack begründen können) dazu. Deren Funktion besteht darin, den Verstand anhand von Erfahrung in der Verfolgung beliebiger Absichten anzuleiten. Leibeskräfte schließlich versetzen den Menschen überhaupt erst in die Lage, Zwecke auszuführen. Kant setzt sich hierbei dezidiert von Baumgarten ab, der sich auf Seelenund Leibeskräfte beschränkte (vgl. Bacin 2015, 31 f.). Während also Leibeskräfte sinnlicher Art sind, charakterisieren sie nicht notwendig die Natur des Menschen (sondern auch die von Tieren). Geisteskräfte wiederum sind nicht-sinnlicher Art, charakterisieren jedoch die Natur des Menschen. Was also meint Kant mit „Naturkräften“? Es ist naheliegend, dass er sie als Naturkräfte charakterisiert, da sie als Mittel wirksam sind, die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen zu befördern. Als Naturkräfte sind sie Menschen einfach von Natur aus gegeben. Kant benutzt hierbei die Begriffe „Naturkräfte“, „Vermö-
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gen“ und „Anlagen“ gleichbedeutend. Es handelt sich also um von Natur aus gegebene Fähigkeiten, die der Entwicklung der Tugend und damit der vernünftigen Selbstbestimmung dienen und deren Ausübung von dieser geboten sind. Sie hängen von der „natürlichen Anlage“ des Menschen ab und nicht von Unterweisung (vgl. KpV, V 153). Alle Naturanlagen scheinen einerseits konstitutiv, andererseits kausal notwendig für den Erwerb von Willensstärke² und damit letztlich dafür, sich vernünftig selbstzubestimmen. Wer etwa logisch korrekt schließt, seine Überzeugungen auf beste Gründe basiert und aus Erfahrungen lernt sowie seinen Körper durch Gymnastik trainiert, der hat Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Wille sich im Lichte rationaler Erwägungen in robuster Weise selbst bestimmt. Warum? Wenn wir etwas dafür tun, unseren Körper gesund und fit zu erhalten, schaffen wir Bedingungen, die rationale Selbstkontrolle erleichtern. Ein gut funktionierender Körper ist eine Vorbedingung dafür und die Kultivierung der körperlichen Fähigkeiten spielt insofern eine erleichternde Rolle. Wer aus Erfahrungen lernt, der ist imstande, auf die besten Gründe zu reagieren. Dies spielt für die rationale Selbstkontrolle eine konstitutive Rolle. Denn nur derjenige, der sich an den bestmöglichen Gründen orientiert, besitzt wahre Überzeugungen und kann seine Selbstkontrolle der Realität hinreichend anpassen. Und nur, wer logisch korrekt schließt, verfügt über Einstellungen, die kohärent sind.
9.3.3 Mittel der Selbstvervollkommnung Es bleibt dennoch näher zu erklären, warum Kant nur die Kultivierung solch grundlegender Fähigkeiten für eine Pflicht hält. So könnte man ja stattdessen der Auffassung sein, man solle seine besonderen Begabungen befördern, um sich dann bestimmter wertvoller Tätigkeiten zu befleißigen. Kants frühere Rede von „Talenten“ (vgl. GMS, IV 395 u. KpV, V 153) scheint diese Interpretation zu stützen. Warum konzentriert er sich also auf solch allgemeine Fähigkeiten? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, sich Kants argumentatives Ziel nochmals zu verdeutlichen. Kants Konzeption der Selbstvervollkommnung gründet in der Idee, den Zweck seines Daseins angemessen zu verfolgen, d. h. sich mit starkem Willen und damit tugendhaft vernünftig selbst zu bestimmen. Um diesen Zweck zu realisieren, bedarf es keiner Kultivierung bestimmter Begabungen oder anderweitiger persönlicher Verbesserungen, die etwa perfektionistische oder optimierende Theorien des guten
2 Zu Kants Konzeption der Tugend als Stärke des Willens siehe auch den Beitrag von Oliver Sensen in diesem Band.
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Lebens nahelegen. Ganz im Gegenteil: Um sich mit starkem Willen vernünftig selbst zu bestimmen, bedarf es zum einen eines Trainings der Willensstärke, zum anderen aber ist es notwendig, das, was als jeweiliges Ziel verfolgt werden soll, selbst zu bestimmen. In diesem Sinne wird deutlich, warum das, was vernünftige Selbstbestimmung fordert, „inhaltsleer“ (vgl. Betzler 2013, 15 f.) sein muss und der Willkür überlassen bleibt. Was das Training der Willensstärke anlangt, so erwähnt etwa Vigilantius in seiner Nachschrift einige hilfreiche Hinweise Kants, die in der Metaphysik der Sitten nicht zu finden sind: Dazu gehört, einen Zustand zu erlangen, mit dem man zufrieden sein kann, und denjenigen zu vermeiden, der unzufrieden machen würde. D. h. so viel zu entbehren als nötig, um „Zufriedenheit auf die kleinstmöglichen Bedingungen zu setzen“ (XXVII 649). Neben der Einübung, mit möglichst wenig zufrieden zu sein, gilt es, die Unabhängigkeit von allen Naturdingen sowie von Menschen als Bedürfnis zu suchen (vgl. XXVII 651). Damit werden in der VigilantiusNachschrift Voraussetzungen deutlich gemacht, die eine Person selbst schaffen kann, um willensstark zu werden. Was aber die vernünftige Selbstbestimmung anlangt, so ist für Kant zentral, dass ein vernunftfähiges Wesen auch in die Lage versetzt wird, sich selbst allerlei Ziele zu setzen. So ist Kants Bemerkung in der Einleitung der Tugendlehre zu verstehen, wo er folgendes Gesetz vorschlägt: „Baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können, ungewiss, welche davon einmal die deinigen werden könnten“ (392). In der Vigilantius-Nachschrift ist in diesem Zusammenhang von „formeller Perfection“ die Rede: So notiert Vigilantius, „Vollkommenheit überhaupt und als genus in abstracto genommen, ist Vollständigkeit, Tauglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken, oder formelle Perfection im Verhältniss gegen jede materielle Perfection, die man einzeln in Ansehung aller Geistes- oder körperlichen Fähigkeiten aufzählen kann“ (XXVII 651). Durch die Kultivierung der genannten grundlegenden Naturanlagen soll der Mensch in diesem Sinne tauglich gemacht werden, selbst alle möglichen Ziele zu wählen und zu verfolgen. Die Formulierung in der Grundlegung, dass ein vernünftiges Wesen notwendig wolle, „dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind“ (GMS, IV 423), scheint daher von Kants Auffassung in der Tugendlehre trotz der Verwendung des Begriffs des „Talents“ nicht so verschieden. Erst nach ausreichender Entwicklung kann die Vernunft von diesen Naturanlagen „dereinst Gebrauch machen“ (444). So verwundert es nicht, dass Kant in der Pädagogik die besondere Kultur der Gemüts- und Leibeskräfte empfiehlt (vgl. Päd., IX 87 f.). Diese Fähigkeiten sind zum einen grundlegender als besondere Begabungen, weil sie überhaupt erst die Bedingungen schaffen, sich willensstark vernünftig selbst zu bestimmen. Zum anderen ist es Kant aber auch nicht notwendig um besondere Begabungen zu tun,
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weil die Kultivierung einer solchen Begabung willensstarke vernünftige Selbstbestimmung untergraben kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Konzentration auf diese Begabung die Kultivierung grundlegender Fähigkeiten behindert. So ist auch sein Diktum „mens sana in corpore sano“ (Vorarbeiten, XXIII 400) in den Vorarbeiten zur Summe aller Pflicht gegen sich selbst zu verstehen. Kant betont hierbei, dass Gesundheit in der „Entfernung des Schmerzes u. im leichten Gebrauch aller Vermögen“ besteht. Der „leichte Gebrauch der Vermögen“ legt nahe, dass es nicht um eine besondere Perfektion von Begabungen, sondern um eine hinreichende Kultivierung der Naturanlagen geht. In diesem Sinne haben wir eine Pflicht zur Vervollkommnung unserer Naturanlagen, weil diese eine Bedingung der Möglichkeit vernünftiger Selbstbestimmung sind. Nun könnte man gegen diese Lesart einwenden, dass Kant doch selbst fordert, sich den Menschen „überhaupt“ zum Zweck zu machen (395). Dieser Mensch wird so charakterisiert, dass er seine Fähigkeiten „as fully as possible“ (Hill 2013, 289) realisiert hat. Wenn dies also ein Ideal ist, dem wir nachstreben sollten, dann liegt doch der Gedanke nahe, dies so gut wie nur möglich zu tun. Demzufolge wäre gefordert, die körperlichen Kräfte ebenso wie die geistigen und seelischen Vermögen maximal zu trainieren. Der Supersportler, der Mathematiker und der Wissenschaftler oder Künstler, die aus Erfahrung besonders viel schöpfen, wären dann das Ideal, das es zu kultivieren und möglicherweise sogar in sich zu vereinen gälte. Aber dies ist nicht Kants Auffassung. Dafür bieten sich mindestens drei weitere Erklärungen an. Erstens kann der Zweck des Menschen an sich und damit vernünftige Selbstbestimmung gar nicht angestrebt werden. Es würde sich um ein so abstraktes und damit leeres Ziel handeln, dass man gar nicht wüsste, was zu tun ist. Vielmehr bedarf es konkreterer und damit lebensweltlich gesättigterer Ziele. Erst diese können darauf überprüft werden, ob sie dem Zweck des Menschen an sich entsprechen. Nur wenn jeder seine selbst gewählten Ziele verfolgt, wird letztlich zu diesem Zweck beigetragen. Zweitens ist dieser Zweck des Menschen an sich plausibler als kollektives Ziel der Menschheit zu verstehen, zu dem jeder seinen Beitrag leistet (vgl. auch Johnson 2011, 29). In der Anthropologie bemerkt Kant entsprechend, dass Menschen nur als Spezies ihre Bestimmung erlangten (vgl. Anthr., IX 324). Auch seine Äußerungen dahingehend, dass ein endliches menschliches Leben keine Vollendung erzielen kann, können so verstanden werden (vgl. KpV, V 122 f.). Sofern wir als endliche und vernunftfähige Wesen dem Zweck unseres Daseins auf Erden entsprechen, geschieht dies nicht durch eine idealisierte Perfektionierung unserer selbst, sondern dadurch, dass wir uns in die Lage bringen, uns überhaupt durch Vernunft selbst zu bestimmen und lediglich einen Beitrag zur Vervollkommnung unserer Spezies leisten.
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Drittens gibt uns Kant zwei weitere Kriterien an die Hand, die zu bestimmen erlauben, wann die Wahl und Verfolgung eines Ziels vernünftig ist. Hierbei handelt es sich um Angemessenheitskriterien und keine Perfektionierungs- oder Optimierungskriterien. Demzufolge entsprechen wir dem Zweck unseres Daseins, wenn wir uns für die Wahl und Bestimmung aller möglichen Ziele tauglich machen (vgl. 392). Da sich Menschen in ihren Umständen und Naturanlagen jedoch unterscheiden, sollten sie diejenigen Ziele auswählen, die zu ihnen passen.Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Kant neben der grundsätzlichen Kultivierung der Naturkräfte erlaubt, diese unterschiedlich zu priorisieren, und zwar „unter denselben eins mehr als das andere, nach Verschiedenheit der Zwecke“ (445). Je nach gewähltem Ziel sollte das dafür passende Vermögen mehr kultiviert werden. So gesteht Kant zu, dass es „in Ansehung der Lust zu einer gewissen Lebensart“ (ebd.) darum geht, in vernünftiger Überlegung herauszufinden, welche der Vermögen, auch unter Berücksichtigung seiner dafür vorhandenen Voraussetzungen, in welchem Maße konkret zu befördern sind. So bleibt es auch jedem überlassen, ob er etwa als Beruf das Handwerk, den Handel oder die Wissenschaft verfolgt (vgl. Anthr., IX 119). Selbst wenn jemand von sich aus mit einem geringen Maß der Kultivierung zufrieden ist, steht dies nicht dem Zweck unseres Daseins entgegen, sofern es durch die Vernunft gerechtfertigt werden kann (vgl. 444). Es geht Kant folglich auch nicht darum, dass wir uns nur für diejenigen Ziele entscheiden sollten, die unsere besonderen Begabungen befördern oder unsere Fähigkeiten besonders trainieren (vgl. Denis 1997, 338; Esser 2004, 326; Johnson 2011, 29). Wesentlich ist nur, dass das gewählte Ziel hinreichend zu den jeweiligen Voraussetzungen und Fähigkeiten passt. Für dieses Angemessenheitskriterium lässt sich also anführen, dass nur so der Zweck des Daseins erreicht werden kann. Denn wer Ziele wählt, die nicht zu ihm passen, wird diese kaum erfolgreich ausfüllen und somit auch kein kohärentes Leben führen. Als weiteres Kriterium für die Wahl eines Ziels fügt Kant hinzu, dass es zum unbedingten Wert der Menschheit in der eigenen Person gehöre, „ein der Welt nützliches Glied zu sein“ (446). Damit will Kant die Kultivierung von Fähigkeiten für unmoralische Ziele ausschließen. So sollte man nicht seine mathematischen Fähigkeiten trainieren, um dann ein besonders betrügerischer Spekulant an der Börse zu werden (vgl. Hill 2013, 300). Mit dem Kriterium, „ein der Welt nützliches Glied zu sein“, kann Kant auch die Kultivierung bestimmter anderer Arten von Fähigkeiten ausschließen, wie etwa die Fähigkeit, Grashalme zu zählen oder Telefonbücher auswendig zu lernen. Wer seine Fähigkeiten in solchen moralisch an sich unproblematischen Bereichen kultiviert, macht dennoch moralisch etwas falsch. Er verhindert, seinen Teil zur Realisierung des Zwecks der Menschheit beizutragen, weil er keine wertvollen Ziele wählt. Und derjenige, der zu Lasten anderer Fähigkeiten nur eine einzige exzellent ausbildet, verhindert überhaupt in der Lage zu sein,
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zwischen verschiedenen Zielen vernünftig in Bezug auf seine individuellen und sozialen Voraussetzungen auszuwählen. Auf diese Weise vereitelt er ebenfalls, den Zweck der Menschheit an sich hinreichend zu respektieren. Er macht sich vielleicht sogar zum Mittel seiner einzelnen Begabung. Abschließend lässt sich festhalten, dass Kant eine nicht-perfektionistische und nicht-optimierende Auffassung von Selbstvervollkommnung bezüglich der eigenen Natur vertritt. Es geht ihm weder darum, bestimmte natürliche Fähigkeiten maximal zu kultivieren, noch darum, mithilfe eigener Begabungen einen bestmöglichen Zustand zu erlangen. Um dem Zweck des Daseins angemessen zu dienen, bedarf es vielmehr der allgemeinen und hinreichenden Kultivierung der Naturanlagen hinsichtlich der Wahl verschiedenster Ziele. Dies macht einen starken Willen und damit vernünftige Selbstbestimmung erst möglich. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Voraussetzungen und Fähigkeiten kann die Vernunft dann nur gebieten, Ziele zu wählen, die zu einem passen und die nicht unmoralisch sind.
9.4 Moralische Vervollkommnung seiner selbst Im zweiten Abschnitt des zweiten Buches der ethischen Elementarlehre wendet sich Kant der Pflicht gegen sich selbst „in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit, d. i. in bloß sittlicher Absicht“, zu. Hierbei geht es darum, sich vollkommener zu machen als die bloße Natur den Menschen schuf (vgl. 419). Kant führt zwei Möglichkeiten moralischer Selbstvervollkommnung an. Diese bestehen im Erwerb reiner Pflichtgesinnung und von Willensstärke. Auf diese Weise soll eine genuin moralische Motivation für genuin moralische Zwecke ermöglicht werden. Auch hier möchte ich versuchen, Kants knappen und lückenhaften Argumentationsgang zu rekonstruieren, um ihn in einem weiteren Schritt vor dem Hintergrund neuerer Interpretationen zu Kants Theorie moralischer Selbstvervollkommnung zu kommentieren. (i) Die moralische Vervollkommnung seiner selbst besteht zum einen in der Lauterkeit der Pflichtgesinnung. (ii) Die Lauterkeit der Pflichtgesinnung kann jedoch nicht mit Sicherheit gewusst werden. (iii) Die moralische Vervollkommnung seiner selbst besteht zum anderen in der tugendhaften (und damit willensstarken) Verfolgung seines ganzen moralischen Zwecks um seiner selbst willen. (iv) Nach der moralischen Vervollkommnung seiner selbst zu streben, lässt sich jedoch für endliche Menschen nur so realisieren, dass man von einer Vollkommenheit oder konkreten Tugend zur anderen kontinuierlich fortschreitet.
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(v)
Die Vollständigkeit oder Mängel der vielen unterschiedlichen Tugenden, die im Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur anderen relevant werden, kann jedoch nicht hinreichend erkannt und überschaut werden. (vi) Nach der moralischen Vervollkommnung seiner selbst zu streben ist zwar eine der Qualität nach enge und vollkommene Pflicht. (vii) Aufgrund der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur ist die Pflicht zur moralischen Vervollkommnung seiner selbst eine unvollkommene Pflicht. (viii) Also sind alle Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks der Menschheit in unserer eigenen Person nur unvollkommene Pflichten. Kants Ziel in diesem Abschnitt ist, die moralische Vervollkommnung „in bloß sittlicher Absicht“ – also nur in Bezug auf die Realisierung des Sittengesetzes und damit des Zwecks der Menschheit in uns – genauer zu charakterisieren. Hierbei ist es wichtig nachzuvollziehen, was diese Pflicht genau ausmacht und v. a. wie sie erfüllt werden kann.
9.4.1 Die unvollkommene Pflicht, vollkommen zu sein Wenn man Kants eigene Schlussfolgerung am Ende des Abschnitts, die mit „also“ beginnt, ernst nimmt, scheint er lediglich zeigen zu wollen, warum die Pflichten gegen sich selbst unvollkommen sind. Dies wird dadurch gestützt, dass er auf für moralische Selbstvervollkommnung notwendige Motive verweist, die ausschließlich vernunftfähige Menschen nicht gewinnen können. So erwähnt er zum einen die „Lauterkeit der Pflichtgesinnung (puritas moralis)“ (446), der zufolge subjektiv für jeden Einzelnen das Sittengesetz allein unabhängig von den Neigungen das relevante Handlungsmotiv ist. Die „größte moralische Vollkommenheit“ (392) besteht folglich darin, die Pflicht aus Pflicht zu tun. Sie bleibt jedoch insofern ein unerreichbares Ideal, da „[d]ie Tiefen des menschlichen Herzens“ (446) unergründlich sind. Wie Kant bereits in der Grundlegung ausführte, können wir nie vollständig sicher sein, ob wir wirklich aus Pflicht handeln oder ob sich nicht doch ein Gedanke auf den eigenen Nutzen als Handlungsmotiv beigemischt hat (447; vgl. GMS, IV 407; vgl. Rel., VI 68). Da uns unsere Handlungsmotive subjektiv nie vollständig transparent sind, scheint moralische Vervollkommnung im Sinne des Handelns aus Pflicht nicht realisierbar. Nun könnte man daraus schließen, dass wir deshalb gut beraten sind, uns objektiv auf den Zweck der Menschheit zu richten, den wir selbst repräsentieren. Um aber die „Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst“ (446) zu erlangen, bedarf es eines weiteren Motivs: der moralischen Willensstärke. Diese besteht darin, sich durch Tugend an dem als moralisch und damit
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„objektiv“ bestimmten Zweck der Menschheit zu orientieren (vgl. auch XXVII 651). Doch auch dieser Zweck kann nicht unmittelbar verfolgt werden – Kant verweist hier auf die Endlichkeit eines Menschenlebens (vgl. 446). In einem begrenzten Leben kann es immer nur um ein Fortschreiten von einer „Vollkommenheit“ zur anderen, und damit um die Realisierung verschiedener einzelner Tugenden gehen. Der vernunftfähige und endliche Mensch ist daher mit der Schwierigkeit konfrontiert, die „Vollständigkeit oder Mängel“ (447) der Tugenden in ihrer Summe nicht hinreichend zu erkennen.Vermutlich hat Kant hier das Problem im Auge, dass wir nicht hinreichend überblicken, wie sich die einzelnen realisierten Vollkommenheiten und die dafür relevanten verschiedenen Tugenden zu einer Harmonie der Tugenden in einem Leben zusammenfügen. Auch aus diesen Bemerkungen könnte der Eindruck entstehen, Kant halte moralische Selbstvervollkommnung für unmöglich. Diesem Eindruck leistet er selbst Vorschub, da er sich wenig dazu äußert, wie moralische Selbstvervollkommnung erzielt werden könnte. So bezieht sich Kant lediglich auf das Neue Testament: „Ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem trachtet nach“ (446). Kant hält jedoch persönliche moralische Verbesserung nicht für unerreichbar. Unerreichbar ist moralische Vervollkommnung als eine Art Endzustand. Erreichbar ist jedoch, sich in einen Prozess der graduellen Kultivierung moralischer Fähigkeiten zu begeben. Da es in unserer Macht steht, nach moralischer Vervollkommnung und damit nach moralischer Reinheit und vollständiger Tugendhaftigkeit zu streben, auch wenn es nicht in unserer Macht steht, dies in idealer Art zu realisieren, ist die Pflicht eigener moralischer Vervollkommnung selbst eine der „Qualität nach enge und vollkommene Pflicht“ (446). Aufgrund der „Gebrechlichkeit (fragilitas)“ (ebd.) der menschlichen Natur ist diese Pflicht jedoch in der Ausführung weit und unvollkommen. Zu dieser„Gebrechlichkeit“ scheint Kant einerseits zu rechnen, dass wir einfach auch durch Neigungen motiviert sind, die dem Streben nach moralischer Vervollkommnung entgegenstehen. Andererseits ist sie durch epistemische Unsicherheit charakterisiert: „Die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergründlich“ (ebd.). So können wir einfach nie genau wissen, ob sich nicht doch ein anderes Motiv zum eigenen Vorteil beimischt und wir können nicht überschauen, wie sich einzelne Tugenden zu tatsächlicher moralischer Vervollkommnung unserer selbst zusammenfügen. Daraus schließt Kant, dass die Pflicht moralischer Vervollkommnung seiner selbst nur eine „unvollkommene Pflicht, vollkommen zu sein“ ist (447). Kants Begründung ist auffallend, denn es geht ihm hier weniger darum, dass wir einen Spielraum in der Ausführung und somit eine disjunktive Pflicht haben, dieses oder jenes zu tun, um uns moralisch zu verbessern. Vielmehr betont er, dass wir motivationalen Hindernissen und epistemischen Beschränkungen unterliegen, die uns
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davon abhalten, die Pflicht zur moralischen Vervollkommnung zu erfüllen. Unvollkommen sind daher unsere eigenen Voraussetzungen. Daraus folgt jedoch nicht, dass unsere Anstrengungen, uns moralisch zu verbessern, lediglich verdienstvoll, aber nicht geboten sind (vgl. Wood 2009, 243 f.). Vor dem Hintergrund von Kants Ausführungen über moralische Vervollkommnung scheint mir die Lesart viel naheliegender, dass jeder eine Pflicht hat, nach dieser zu streben und sich entsprechend zu verbessern. Dies wird zwar nicht vollkommen gelingen, wer sich darum nicht bemüht, ist jedoch sehr wohl tadelnswert. Er verletzt die unvollkommene Pflicht, vollkommen zu sein. Kants letzter Satz, der wie eine Schlussfolgerung klingt, folgt nicht unmittelbar aus seinem bisherigen Gedankengang. Im Fall der Naturanlagen betont Kant zwar auch die Endlichkeit unseres Daseins und damit eine andere unvollkommene Voraussetzung, aber er betont hier ebenso, dass wir einen Spielraum in der Ausführung dieser Pflicht besitzen. Diesen Spielraum besitzen wir im Fall der moralischen Vervollkommnung nicht in gleicher Weise. Vielmehr werde ich noch zeigen, wie sich das Streben nach moralischer Verbesserung mit Kant operationalisieren lässt. Auf den ersten Blick könnte Kants Theorie die moralische Selbstvervollkommnung zwar als ein unerreichbares Ideal erscheinen lassen. Doch auch seine Theorie der moralischen Selbstvervollkommnung ist alles andere als perfektionistisch. Sie lässt sich über die Kultivierung einzelner Tugenden und guter Zwecke unvollkommen realisieren. Insofern geht es Kant nicht um Selbstvervollkommnung als Errungenschaft, sondern um moralische Verbesserung als kontinuierlicher Prozess des Bemühens.
9.4.2 Moralisches Training Da sich Kant in dem hier zu verhandelnden Abschnitt kaum darüber äußert, wie genau nach moralischer Vervollkommnung gestrebt werden soll und wie sehr sich eine Person bemühen muss (vgl. Hill 2013, 307), ist es hilfreich, sich sowohl seinen früheren Äußerungen in der Tugendlehre zuzuwenden als auch neuere Interpretationen zu seiner Vorstellung moralischer Verbesserung zu konsultieren. Zentral sind hierbei Möglichkeiten, sich selbst kennenzulernen sowie Selbstvertrauen und einen gestärkten Willen in moralischen Dingen zu gewinnen. So notiert Kant in der ethischen Methodenlehre der Tugendlehre, deren ersten Abschnitt er selbst mit „ethische Didaktik“ überschreibt, dass – um die Tugend überhaupt üben zu können – „die Entschließung auf einmal vollständig genommen werden muss“ (477). Es ist also eine Festlegung auf die Moral notwendig, um sich in einen Prozess moralischer Selbstverbesserung begeben zu können. Doch selbst
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wenn dies der Fall ist, handelt es sich um einen unendlichen Prozess (vgl. Rel., VI 46 f.), da eine vernunftfähige Person immer Versuchungen und der Neigung zum Bösen ausgesetzt ist. Deshalb, so Kant, kann die Tugend sich nie „in Ruhe und Stillstand versetzen …, sondern [vielmehr ist es so, dass sie], wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt“ (409). Was derjenige, der sich moralisch verbessern will, tun kann, ist, seinen Willlen zu stärken. Kant erwähnt im ersten Buch zu den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst folgende, dafür relevante Methode: Moralische Selbsterkenntnis, die die „Wegräumung der inneren Hindernisse“ sowie die „Entwicklung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens“ (441) voraussetzt. Was nun moralische Selbsterkenntnis anlangt, so kann die unparteiliche Beurteilung eigener Motive und damit die Erkenntnis eigener Fehler – wie etwa Selbsttäuschung – nach Kants Auffassung Wege der Verbesserung aufzeigen. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass bloße intellektuelle Einsicht nicht hinreichend moralische Verbesserung motivieren könne (vgl. O’Hagan 2009, 535) Jeanine Grenberg hat demgegenüber versucht zu zeigen, dass das zentrale Ziel moralischer Selbstverbesserung nach Kant darin besteht, gegenüber der Erfahrung moralischer Verpflichtung aufmerksam zu sein und zu bleiben (vgl. Grenberg 2010, 164). Doch auch in diesem Vorschlag wird nicht deutlich genug, wie moralischer Fortschritt durch die Praxis der Aufmerksamkeit auf die Erfahrung moralischer Verpflichtung genau erzielt werden könnte. Wie genau kann eine nicht vollständig tugendhafte Person durch Aufmerksamkeit auf die Erfahrung moralischer Verpflichtung dazu kommen, noch tugendhafter zu werden? Mavis Biss‘ Interpretationsvorschlag der Kantischen Konzeption moralischer Verbesserung seiner selbst geht hierbei noch einen Schritt weiter. Sie schlägt vor, moralische Verbesserung als einen diachronen Prozess zu betrachten, der sowohl Selbsterkenntnis als auch Aufmerksamkeit involviert. So kann eine Person sich ihres bisherigen Verhaltens bewusst werden und erkennen, inwiefern sie selbst dazu neigt, Versuchungen zu erliegen, anstatt dies selbsttäuschend zu rationalisieren. Diese Erfahrung von Widerstand gegen die Forderungen der Moral stellt zugleich eine Erfahrung ihres verpflichtenden Charakters dar. Dadurch kann – sofern dies immer wieder wahrgenommen wird – eine moralische Veränderung in Gang kommen. Dieser Veränderungsprozess kann etwa von der Erkenntnis, wie schwer es ist, einer Versuchung nicht nachzugeben, zu dem Entschluss reichen, sich trotz der Versuchung nicht abbringen zu lassen, moralisch zu handeln. Diese wiederholte Erfahrung stellt eine Übung in Willensstärke dar und befördert das Selbstvertrauen, diese entwickeln zu können. (vgl. Biss 2015, 19; vgl. Louden 2000, Kap. 6). Kant hat zwar selbst nicht genau aufgezeigt, worin moralische Verbesserung seiner selbst besteht. Mithilfe der skizzierten Interpretationsversuche lässt sich
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zumindest vor dem Hintergrund Kants eigener Äußerungen plausibel machen, wie diese erzielt werden könnte. Damit lässt sich auch belegen, dass Kant zwar moralische Vervollkommnung seiner selbst für unerreichbar hält, aber Ressourcen bereit hält zu zeigen, wie moralische Verbesserung über die Zeit hinweg erzielt werden kann. Dazu gehören moralische Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung mit den Forderungen der Moral, die dazu führen können, unsere Pflichtgesinnung und damit unseren Willen zu stärken. Sobald seine Überlegungen auf die Praxis der Selbstveränderung angewendet werden, wird deutlich, dass der ihm häufig attestierte Rigorismus dem Eindruck eines psychologisch sensiblen Moraltrainings weichen muss.³
Literatur Aune, B. 1979: Kant’s Theory of Morals, Princeton/NJ. Bacin, St. 2015: Kant’s Lectures on Ethics and Baumgarten’s Moral Philosophy, in: L. Denis, O. Sensen (Hrsg.), Kant’s Lectures on Ethics. A Critical Guide, Cambridge:15–33. Betzler, M. 2013: Einleitung: Begriff, Konzeptionen und Kontexte der Autonomie, in: Dies. (Hrsg.), Autonomie der Person. Münster, 7–36. Biss, M. 2015: Kantian Moral Striving, in: Kantian Review 20, 1–23. Denis, L. 1997: Kant’s Ethics and Duties to Oneself, in: Pacific Philosophical Quarterly 78, 321–348. Esser, A. M. 2004: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart. Grenberg, J. 2010: What is the Enemy of Virtue?, in: L. Denis (Hrsg.), Kant’s Metaphysics of Morals: A Critical Guide, Cambridge, 152–169. Hill, Th. E. 2013: Imperfect Duties to Oneself, in: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s „Tugendlehre“, Berlin und Boston, 293–308. Johnson, R. N. 2011: Self-Improvement. An Essay in Kantian Ethics, Oxford. Louden, R. B. 2000: Kant’s Impure Ethics. From Rational Beings to Human Beings, Oxford. O’Hagan, E. 2009: Moral Self-Knowledge and Kantian Ethics, in: Ethical Theory and Moral Practice 12, 525–537. Stratton-Lake, Ph. 2008: Being Virtuous and the Virtues: Two Aspects of Kant’s Doctrine of Virtue, in: M. Betzler (Hrsg.), Kant’s Ethics of Virtue. Berlin, 101–122. Wood, A. 2009: Duties to Oneself, Duties of Respect to Others, in: Th. E. Hill (Hrsg). The Blackwell Guide to Kant’s Ethics, Malden/MA, 229–252.
3 Für wertvolle Hinweise zu einer früheren Version dieses Beitrags danke ich André Chapuis, Dieter Schönecker, Oliver Sensen und Inken Titz sowie den Teilnehmenden des Symposions zu „Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“, das im Februar 2017 an der Universität Tübingen stattfand. Otfried Höffe danke ich für die Einladung, diesen Beitrag im Rahmen der von ihm herausgegebenen Reihe „Klassiker auslegen“ zu veröffentlichen.
Karoline Reinhardt
10 Von den Liebespflichten gegen andere Menschen. Wohltätigkeit, Dankbarkeit und Teilnehmung (§§ 23–36) 10.1 Einleitung Im zweiten Teil der ethischen Elementarlehre behandelt Kant die Tugendpflichten gegen andere Menschen. Das erste Hauptstück ist dabei den Tugendpflichten gegen andere „bloß als Menschen“ gewidmet. Der Zusatz „bloß als Menschen“ muss dabei im Gegensatz zu jenen Tugendpflichten verstanden werden, die im zweiten Hauptstück des zweiten Teiles der ethischen Elementarlehre erörtert werden, den Tugendpflichten gegen andere „unter Berücksichtigung ihres Zustandes“ (s. hierzu den Beitrag von Moritz Hildt in diesem Band). Die Tugendpflichten gegenüber anderen Menschen bloß als Menschen unterteilen sich nach Kant wiederum in Liebespflichten und Pflichten aus der den anderen gebührenden Achtung. Dieser Beitrag wird Kants Untersuchung der Liebespflichten zum Inhalt haben. In den §§ 23–28 stellt Kant zunächst allgemeinere Überlegungen zur Frage an, inwiefern Liebe als Pflicht betrachtet werden, und ob es überhaupt Liebespflichten geben kann. In den folgenden §§ 29–35 erörtert er dann spezifische Liebespflichten, nämlich jene der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der Teilnehmung, wie auch ausgewählte kasuistische Fragen, d. h. die Frage, ob bestimmte (Spezial‐)Fälle unter die entsprechenden Pflichten fallen. In § 36 schließlich stellt Kant der allgemeinen Menschenliebe den Menschenhass entgegen. Anschließend geht er, nach einer Anmerkung zur Frage, ob Laster wie der Menschenhass wohl „menschlich“ seien und in welchem Sinne, zur Behandlung der Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung über, die im nächsten Kapitel dieses Bandes eingehender untersucht werden. Die Liebespflichten haben in der Diskussion der Tugendlehre schon einiges an Aufmerksamkeit erfahren (s. u. a. Baron 2002; Horn 2008 und Schönecker 2013). Ich möchte in diesem Beitrag die folgenden Punkte ins Zentrum rücken: Zunächst wird Kants Begriff der Liebe und die Frage, inwiefern so etwas wie Liebespflichten gedacht werden kann, diskutiert. Anschließend werden die einzelnen Liebespflichten interpretiert. Abschließend wird noch auf Kants Untersuchung des Menschenhasses einzugehen sein, die in der Literatur bislang weniger Beachtung gefunden hat.
https://doi.org/10.1515/9783110786958-012
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10.2 Vom Begriff der Liebespflicht Für Kant ist Liebe, wie er in der „Einleitung zur Tugendlehre“ ausführt, „eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber, weil ich soll […]; mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding“ (401). Inwiefern ist es dann überhaupt möglich, von Liebespflichten zu sprechen? Was soll es heißen, dass Kant dennoch von der Existenz von Liebespflichten gegen andere Menschen ausgeht, wenn „eine Pflicht zu lieben ein Unding“ ist? Im Abschnitt IV (nach der Ludwig-Ausgabe der Rechtslehre Abschnitt III) der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ definiert Kant den Begriff der Pflicht folgendermaßen: „Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit“ (RL, VI 222). „Verbindlichkeit“ wiederum „ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ (ebd.). Der kategorische Imperativ bestimmt dabei, was (der Form nach) überhaupt als Verbindlichkeit zu verstehen ist. Er lautet in einer der Formulierungen der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“: „handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann“ (RL, VI 225). Wenn also die Liebespflichten in diesem Sinne Pflichten sein sollen, dann müssen sie freie Handlungen ausweisen, d. h. Handlungen, die auf Maximen beruhen, die „zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten“ könnten und als solche ein kategorisches Sollen darstellen. Das heißt auch, dass sie – zumindest prinzipiell – im Widerspruch zur Neigung stehen können, da dort, wo Gewolltes und Gesolltes immer zusammenfallen, kein Imperativ vonnöten wäre. Wie lässt sich dieser Pflichtbegriff nun auf die Liebespflichten anwenden? In § 25 unterstreicht Kant zunächst erneut den Punkt, dass man nicht zu einem Gefühl verpflichtet werden könne, führt dann aber aus: „Die Liebe wird hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch), d. i. als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen, nicht als Liebe des Wohlgefallens, verstanden“, vielmehr müsse sie „als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat“ (449). Die Liebe wird im Abschnitt zu den Liebespflichten in der Tugendlehre also gerade nicht als pathologische Empfindung diskutiert, d. h. nicht als ein durch Bewegursachen der Sinnlichkeit angeregtes Gefühl (vgl. KrV, III 363). Sie wird vielmehr in ihrer praktischen, d. h. handlungsbezogenen Hinsicht erörtert. In dieser praktischen Hinsicht wird sie „als Maxime des Wohlwollens“ verstanden, die „das Wohltun zur Folge hat“. Das heißt, sie hat nicht nur kontemplativen Charakter: Es handelt sich nicht allein um ein „Wohlgefallen an Menschen“, sondern sie betrifft das „tätige Wohlwollen“ (450).
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Die „Maxime des Wohlwollens“ ist dabei, wie Kant in § 27 darlegt, „aller Menschen Pflicht gegeneinander“. „Denn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen“, führt Kant begründend aus, „ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d. i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsüchtig … sein können“ (451). Bereits in der Grundlegung hatte Kant die egoistische, selbstbezogene oder selbstsüchtige Maxime als nicht universalisierbar ausgewiesen (GMS, IV 423; s. auch Abschn. 10.3.1 in diesem Beitrag). Hier wiederholt er diesen Punkt und begründet damit die „Maxime des Wohlwollens“ einerseits e contrario: Weil ihr Gegenteil, die selbstsüchtige Maxime, nicht universalisierbar sei und damit nicht dem kategorischen Imperativ genüge, ist die Maxime des Wohlwollens Pflicht. Er begründet sie aber auch positiv, wenn er ausführt: „Ich will jedes anderen Wohlwollen […] gegen mich; ich soll also auch gegen jeden anderen wohlwollend sein“ (451) – mit der Ergänzung, dass diese Pflicht auch einen jeden selbst einschließt, denn: „Da aber alle andere außer mir nicht alle sein, mithin die Maxime nicht die Allgemeinheit eines Gesetzes an sich haben würde, welche doch zur Verpflichtung notwendig ist: so wird“, folgert Kant, „das Pflichtgesetz des Wohlwollens mich als Objekt desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen“ (ebd.). Die Maxime des Wohlwollens, die „das Wohltun zur Folge hat“ (449), d. h. wohltätige Handlungen, ist dabei als unabhängig vom (pathologischen) Gefühl der Liebe zu betrachten. Sie ist Pflicht gegen andere, „man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht“ (450). Sie kann also prinzipiell im Gegensatz zur Neigung stehen. Die Ausübung der Liebespflichten wird nicht durch die Neigung diktiert. Sie ist daher als nicht-heteronom, sondern als autonom, d. h. als frei zu betrachten: Man kann der Maxime des Wohlwollens aus freiem Entschluss folgen und hat ihr aus freiem Entschluss zu folgen, gleichwohl kann das Gefühl der Liebe die Ausübung dieser Pflicht „begleiten“ (448). Es begründet die Pflicht aber nicht. Kant spricht also im Abschnitt zu den Liebespflichten von der Liebe in ihrer praktischen, nicht ihrer pathologischen Bedeutung: Da es hier um die nicht-pathologische Liebe geht, sondern um eine tätige Liebe aus freiem Entschluss, ist diese auch nicht heteronom. Die Maxime des Wohlwollens weist dabei die Allgemeinheit eines Gesetzes auf und hat daher den Charakter einer kategorischen Verbindlichkeit.
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10.3 Die Liebespflichten: Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Teilnehmung Kant unterscheidet in der Tugendlehre drei Gruppen solcher Liebespflichten: Pflichten der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der Teilnehmung. Während die Pflicht zur Wohltätigkeit bereits in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft ausführlicher diskutiert wurde, wird die Teilnehmung in der Grundlegung nur beiläufig erwähnt (GMS, IV 423) und in der Kritik der praktischen Vernunft mit der Maxime des Wohlwollens zusammengeführt („aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen“; KpV, V 82). Die Dankbarkeit wird dagegen weder in der Grundlegung noch der Kritik der praktischen Vernunft eigens diskutiert. Ich werde im Folgenden Kants Erläuterung des Inhalts wie auch der Begründung dieser drei Gruppen der Liebespflichten erläutern und auf die jeweiligen kasuistischen Fragen, die er hinsichtlich dieser Pflichten diskutiert, eingehen.
10.3.1 Pflichten der Wohltätigkeit Das Gebot, gegen fremde Not nicht gleichgültig zu sein, erörtert Kant bereits innerhalb des zweiten Abschnitts der Grundlegung, als eines der vier Beispiele zu den vollkommenen und unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst und gegen andere. Die Pflicht zur Hilfe bildet dabei das vierte Beispiel und stellt eine unvollkommene Pflicht gegen andere dar. Kant erläutert dort, dass man es nicht wollen könne, dass ein jeder gegen fremde Not gleichgültig sei: „Denn ein Wille, der dies beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf“ (GMS, IV 423). Die eigennützige Maxime: „Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Not habe ich nicht Lust etwas beizutragen!“ (ebd.), ließe sich nicht widerspruchsfrei universalisieren. Zwar sei eine Welt, in der alle dieser Maxime folgen, denkmöglich, d. h. die Verallgemeinerung der Maxime lässt sich zwar widerspruchsfrei denken. Widerspruchsfrei wollen ließe sie sich nach Kant aber nicht, denn das eigene Bedürfnis nach Hilfe in Notsituationen ließe sich nicht mit dem Bedürfnis, anderen in Not nicht zu helfen, vereinbaren: Wäre die eigennützige Maxime die Maxime aller, würde man sich selbst der Möglichkeit von Hilfe in Notsituationen berauben. In der Tugendlehre erklärt Kant nun, dass es die Pflicht eines jeden Menschen ist, wohltätig zu sein, und dies heiße, „anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu
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sein“ (453). Interessanterweise rekurriert er hier in der Begründung dieser Pflicht nicht auf einen möglichen Wollenswiderspruch, sondern auf das Prinzip der Öffentlichkeit. Er schreibt, dass „jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, … so würde ihm“, führt Kant aus, „wenn er selbst in Not ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen oder wenigstens zu versagen befugt sein“ (ebd.; zur unterschiedlichen Begründung der Hilfspflicht und der Pflicht zur Wohltätigkeit in der Grundlegung und der Metaphysik der Sitten s. auch Reinhardt 22021, Kap. 17.2). In beiden Fällen hebt Kant hervor, dass die Hilfe den Möglichkeiten der betreffenden Person entsprechen muss: Man muss helfen, wenn man dazu in der Lage ist („denen er auch wohl helfen könnte“, GMS, IV 423), und entsprechend der eigenen Fähigkeiten und zur Verfügung stehenden Mittel („nach seinem Vermögen“, TL, VI 453). Eine wichtige Anschlussfrage hierbei lautet: „Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben?“ (454). Sie diskutiert Kant dann auch sogleich als erste der kasuistischen Fragen, die er an die Erläuterung der Pflicht zur Wohltätigkeit anschließt. Und er führt – halb antwortend, halb fragend – aus: „Doch wohl nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer Wohltätigkeit bedürftig würde“ (ebd.). Die Grenze der Wohltätigkeit gegen andere liegt für Kant also dort, wo man durch die eigenen Hilfeleistungen selbst hilfsbedürftig würde. Doch jede und jeder Helfende ist nach Kant kritischen Nachfragen ausgesetzt: Kant unterstreicht, dass „das Vermögen wohlzutun“, da es „von Glücksgütern abhängt“, das heißt nicht allein vom Vorsatz und der Bereitschaft zur Hilfe, sondern auch von der faktischen Ausstattung mit den Mitteln zur Hilfe – beispielsweise den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten. Diese seien aber „größtenteils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes, die Anderer Wohltätigkeit notwendig macht, einführt“ (454). Kant stellt hier also klar, dass die Wohlstandsunterschiede, die die Hilfe erst ermöglichen, diese oft gleichzeitig überhaupt erst notwendig machen. Die Wohlstandsunterschiede selbst seien dabei zumeist Ausdruck einer politischen Ungerechtigkeit, die einzelne Menschen ungerechtfertigterweise bevorteilt. Es folgt die rhetorische Frage: „Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?“ (ebd.). Man kann diese Frage auf zwei Weisen verstehen. Einerseits könnte man die Betonung auf den Nebensatz „mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet“ legen: Den Reichen kostet diese Wohltätigkeit (fast) nichts und sei daher auch nicht
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als Verdienst zu betrachten. Es handele sich dabei nicht im eigentlichen Sinne um ein „verdienstliches“ Mehr, wie Kant die Tugendpflichten auch beschreibt. Andererseits kann man die Betonung auch auf den Hauptsatz legen: „Verdient unter solchen Umständen der Beistand … wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit“? Dies hieße, dass es sich hier eigentlich überhaupt nicht um Wohltätigkeit handelt: Unter den beschriebenen Umständen sind die Glücksgüter ungerecht verteilt. Durch den vermeintlich wohltätigen Akt würde den Schlechtergestellten nur das zu Teil, worauf sie von jeher schon einen Anspruch haben. Letztlich ist vermutlich beides zutreffend: Die Umverteilung von Gütern, die ungerechterweise erworben wurden, kann nicht im eigentlichen Sinn als Wohltätigkeit bezeichnet werden, auch wenn diese Verteilung nun freiwillig und zum Vorteil der Schlechtergestellten vorgenommen wird. Sie stellt daher auch kein „verdienstliches Mehr“ dar. Aber selbst da, wo wir zu Wohltätigkeit im eigentlichen Sinne verpflichtet sind, ermahnt uns Kant, den Menschen, der unserer Hilfe bedarf, nicht durch diese zu erniedrigen, „da diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meinem Großmut enthält“, und daher sei „es Pflicht, dem Empfänger durch sein Betragen, welches diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demütigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten“ (448 f.).
10.3.2 Pflichten der Dankbarkeit Abschnitt B der „Einteilung der Tugendpflichten“ befasst sich mit der Pflicht der Dankbarkeit: Kant bestimmt zunächst den Begriff der Dankbarkeit, erläutert dann im § 32 den Pflichtcharakter derselbigen, um in § 33 die Frage nach der „Extension“, d. h. die Frage, wem Dankbarkeit gebührt, und der „Intension“, d. h. die Frage nach dem Grad der Verbindlichkeit, zu diskutieren. „Dankbarkeit ist“ für Kant „die Verehrung einer Person wegen einer uns erwiesenen Wohltat“ (454). Er unterscheidet dabei die „tätige“ von der „bloß affektionellen Dankbarkeit“ (455). Die affektionelle Dankbarkeit ist „ein bloßes herzliches Wohlwollen des anderen, ohne physische Folgen“ (ebd.), während die tätige Dankbarkeit in konkreten Handlungen, „Dienstleistungen“ gegenüber dem Wohltäter, oder sollte dieser bereits verstorben sein, gegenüber anderen, besteht (456). Für Kant steht im Kontext der Liebespflichten die tätige Dankbarkeit im Mittelpunkt (s. Abschn. 10.2), wobei auch schon „ein bloßes herzliches Wohlwollen des Anderen, ohne physische Folgen, den Namen einer Tugendpflicht verdient“ (455). Die Dankbarkeit ist dabei nicht nur aus Klugheit geboten: Sie ist nicht allein geboten, weil man durch sie das Gegenüber zu weiteren Wohltaten bewegen kann. Nach
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Kant ist jener, der Hilfe empfängt, zur Dankbarkeit aufgefordert, weil Dankbarkeit Pflicht ist, das heißt „unmittelbare Nötigung durchs moralische Gesetz“ (ebd.). Er hebt dabei hervor, dass es sich bei der Dankbarkeit nicht allein um eine „gemeine Pflicht“, sondern sogar um eine „heilige Pflicht“ handele. Was aber ist eine „heilige Pflicht“?
10.3.2.1 Dankbarkeit als „heilige Pflicht“ Der Begriff der „heiligen Pflicht“ ist bereits aus der Kritik der praktischen Vernunft (V 35) und aus der Religionsschrift (VI 173) bekannt, wird dort aber nur beiläufig eingeführt. In der Tugendlehre findet er erstmalig eine systematische Untermauerung. Für Kant hat die Verletzung einer heiligen Pflicht im Gegensatz zur Verletzung einer gemeinen Pflicht die Vernichtung „der moralischen Triebfeder zum Wohltun in dem Grundsatz selbst“ zur Folge (455). Die Triebfeder ist bei Kant nach der Grundlegung der „subjektive Bestimmungsgrund des Begehrens“ (GMS, IV 427), bzw. in der ausführlicheren Bestimmung der Kritik der praktischen Vernunft: „der subjektive Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens …, dessen Vernunft nicht, schon vermöge seiner Natur, dem objektiven Gesetze notwendig gemäß ist“ (KpV, V 72). Dem subjektiven Bestimmungsgrund des Willens steht der objektive „Bewegungsgrund“ gegenüber (GMS, IV 427). Für eine moralische Handlung müssen objektiver Bewegungsgrund und subjektive Triebfeder zusammenfallen, „mithin der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein“ (KpV, V 72). In der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant dann weiter aus, dass die „Achtung fürs moralische Gesetz … die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ sei (KpV, V 78). Wenn also die Verletzung einer heiligen Pflicht die Vernichtung der moralischen Triebfeder zum Wohltun zur Folge haben kann, dann heißt dies, dass durch eine solche die Achtung vor dem Moralgesetz als Triebfeder zur Wohltätigkeit – im Gegensatz beispielsweise zur pathologischen Liebe, die mich einer spezifischen Person gegenüber geneigt macht, mich ihrer wohltätig zu erweisen – zerstört werden würde. Es stellen sich hier nun mehrere Anschlussfragen: Was soll es heißen, dass die moralische Triebfeder zum Wohltun in dem Grundsatze vernichtet wird, und welche Folgen hätte dies? Außerdem wird im Text nicht klar, bei wem die Verletzung der heiligen Pflicht die Zerstörung der moralischen Triebfeder zur Wohltätigkeit zur Folge habe.
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Auf den ersten Blick könnte man denken: bei jenem, dem keine Dankbarkeit zuteil wird. Dies kann aber eigentlich nicht gemeint sein, denn Kant wird später in der Untersuchung des Lasters der Undankbarkeit herausstellen, dass Menschen „mit echtmoralischer Gesinnung, eben in der Verschmähung alles solchen Lohnes ihrem Wohltun nur einen desto größeren inneren moralischen Wert setzen“ (459, s. Abschn. 10.4.2). Das macht es wahrscheinlicher, dass die Zerstörung der moralischen Triebfeder durch die Verletzung der heiligen Pflicht bei jenem erfolgt, der sich nicht als dankbar erweist, wo er dies tun sollte. In diesem Fall würde aber Kants Rede vom „skandalösen Beispiel“, das eine solche Verletzung darstelle, wenig Sinn machen. Der Undankbare stellt kaum für sich selbst ein „skandalöses Beispiel“ dar. Daher ist vermutlich gemeint, dass die Verletzung der heiligen Pflicht für andere ein „skandalöses Beispiel“ abgibt und die Vernichtung der moralischen Triebfeder zum Wohltun bei den Zeugen der Verweigerung der Dankbarkeit zur Folge haben kann. Es wird aber nicht deutlich, welche der drei Möglichkeiten Kant meint. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Bestimmung, die Kant anschließend für das Attribut „heilig“ liefert: „Denn heilig ist derjenige moralische Gegenstand, in Ansehung dessen die Verbindlichkeit durch keinen ihr gemäßen Akt völlig getilgt werden kann (wobei der Verpflichtete immer noch verpflichtet bleibt)“ (ebd.). Der Pflicht zur Dankbarkeit kann man sich nicht durch andere Handlungen ‚entledigen’. Die Verbindlichkeit, die durch den wohltätigen Akt entsteht, besteht weiter. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Kants Konzeption grundsätzlich von Aristoteles’ „Gegengabe“ (Nikomachische Ethik, 1133a), die häufig als ein Beleg für die traditionelle „Hochschätzung der Dankbarkeit“ verstanden wird (so auch bei Brinkmann 2015). Die Gegengabe steht bei Aristoteles jedoch im Kontext der Frage der Kommensurabilität verschiedenartiger Güter, der Notwendigkeit der Geldwirtschaft für den Tausch solcher und der Gemeinschaftsbildung über den Tausch (vgl. Geiger 2005, 377). Die wohltätige Handlung bei Kant fordert dagegen nicht allein zu einer Gegengabe auf. Sie verpflichtet zwar ebenfalls zu dieser, außerdem aber auch zu einer über sie hinausgehenden Dankbarkeit. Diese weitergehende Verbindlichkeit kann nicht durch die Gegenleistung aufgehoben werden. Wir scheinen somit zwei auf den ersten Blick voneinander verschiedene Bestimmungen der „heiligen“ Pflicht in § 32 zu erhalten: Zum einen ist eine Pflicht als heilig zu betrachten, wenn ihre Verletzung die Vernichtung der moralischen Triebfeder zum Wohltun zur Folge haben kann. Zum anderen ist sie heilig, wenn sie einen moralischen Gegenstand betrifft, der eine Verbindlichkeit auferlegt, die nicht getilgt werden kann; der man sich also nicht durch eine entsprechende Leistung entledigen kann. Der Text des § 32 legt nahe, dass die zweite Bestimmung eine Erläuterung der ersten darstelle („Denn…“). Der Sache nach scheinen jedoch beide Bestimmungen
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unterschiedliche Schwerpunkte zu legen. Die beiden Bestimmungen schließen einander zwar nicht aus, ob aber beide Aspekte zusammenfallen müssen, oder ob die Erfüllung eines der beiden Aspekte ausreicht, um eine Pflicht zu einer „heiligen Pflicht“ zu machen, wird im § 32 der Tugendlehre nicht eindeutig beantwortet.
10.3.2.2 Extension und Intension In § 33 wendet Kant sich der Frage nach dem zu, was er die „Extension“ und die „Intension“ der Verbindlichkeit zur Dankbarkeit nennt. In der Beantwortung der Frage nach der Extension, also der Frage, wem gegenüber Dankbarkeit Pflicht ist, plädiert Kant für eine auf die Vergangenheit gerichtete, ‚intergenerationelle‘ Pflicht zu Dankbarkeit und gegen eine geschichtsphilosophische Verfallsthese. Kant ist der Ansicht, dass sich die Pflicht zur Dankbarkeit „nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren bezieht“ (455). Für diese These führt er aber nur die (moralischen) Konventionen an. Er schreibt: „Das ist auch die Ursache, weswegen es für unanständig gehalten wird, die Alten, die als unsere Lehrer angesehen werden können, nicht nach Möglichkeit wider alle Angriffe, Beschuldigungen und Geringschätzungen zu verteidigen“ (ebd.). Ein Argument dafür, warum diese Konvention als (moralisch) richtig zu erachten ist, bleibt er jedoch an dieser Stelle schuldig. Kant führt dagegen weiter aus, dass die Dankbarkeit gegenüber den Vorfahren nicht Anlass zur Geringschätzung der Gegenwart liefern sollte, „gleich als ob die Welt in kontinuierlicher Abnahme ihrer ursprünglichen Vollkommenheit nach Naturgesetzen wäre“ (455 f.). Auch für diese These gibt er an dieser Stelle kein Argument. Es ließe sich ein solches aber leicht mit Rückgriff auf Kants geschichtsphilosophische Überlegungen, beispielsweise in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), der Schrift Mutmaßlichen Anfang der Menschheitsgeschichte (1786), dem ersten Zusatz von Zum ewigen Frieden (1797) oder Der Streit der Fakultäten (1798), rekonstruieren. In all diesen Schriften liefert Kant – man mag sie überzeugend finden oder nicht – Argumente für die Annahme einer der im § 33 angesprochenen Verfallsthese entgegengesetzten These von einer Fortschrittsbewegung innerhalb der Geschichte. Nach der Frage der „Extension“ der Pflichten der Dankbarkeit, erörtert er nun auch jene der „Intension“: „Was aber die Intension, d. i. den Grad der Verbindlichkeit zu dieser Tugend betrifft“, führt Kant aus, „so ist er nach dem Nutzen, den der Verpflichtete aus der Wohltat gezogen hat, und der Uneigennützigkeit, mit der ihm diese erteilt worden, zu schätzen“ (456).
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Interessanterweise besteht für Kant die Verbindlichkeit zur Dankbarkeit nicht in Relation zu den Kosten, die sie für den Wohltäter bedeutet haben, wie man nach der kasuistischen Frage hinsichtlich der Wohltätigkeit des reichen Mannes durchaus vermuten könnte. Vielmehr ist der Nutzen, den der Empfänger aus der wohltätigen Handlung zieht, und die Uneigennützigkeit, aus der sie ausgeführt wurde, entscheidend. Als Wohltäter darf man für wohltätige Handlungen keine Dankbarkeit erwarten. Denn es gehört zur Definition der Wohltätigkeit, „anderen Menschen in Nöten“ zu helfen, „ohne dafür etwas zu hoffen“ (453). Die Hilfe gegenüber Menschen in Not darf nach Kant nicht an Verpflichtungen geknüpft sein.
10.3.2.3 Dankbarkeit als Liebespflicht Die Aufnahme der Dankbarkeit in den Katalog der Liebespflichten kann dabei durchaus verwundern – und dies in mindestens zweifacher Hinsicht. Zunächst einmal hinsichtlich des Umstands, dass, obzwar die Dankbarkeit in der Philosophiegeschichte einiges an Wertschätzung erfährt, stellt sie in Kants Werk kein zentrales Thema dar. Wenn sie auftaucht, dann vor allem in Bezug auf die Bewunderung der Schönheit und das sie begleitende Gefühl der Dankbarkeit gegenüber ihrer uns unbekannten Ursache sowie verschiedentlich als Gefühl gegenüber Gott, Jesus (Rel., VI 64) und der Naturvorsehung (Geschichte und Naturbeschreibung, I 458; KU, V 445 f. und 482; Rel., VI 64). Die Dankbarkeit gegenüber einem Wohltäter taucht dagegen nur an einer weiteren Stelle auf – und dort auch nur beiläufig (II 221). In den im engeren Sinne moralphilosophischen Schriften spielt sie sogar überhaupt keine Rolle. Sodann überrascht die Aufnahme der Dankbarkeit als Liebespflicht auch mit Hinblick auf die Passagen der Tugendlehre selbst, die die Dankbarkeit zwar den Liebespflichten zuordnen, sie jedoch als ein Gefühl der Achtung beschreiben. Obgleich Kant die Dankbarkeit als eine der Liebespflichten untersucht, weist er darauf hin, dass Dankbarkeit „eigentlich nicht Gegenliebe des Verpflichteten gegen den Wohltäter [ist], sondern Achtung vor demselben“ (458, vgl. auch 454) sei. Der Grund der Dankbarkeit, die erhaltene Wohltat, ist für Kant als ein Akt der Menschenliebe zu betrachten: Der Wohltäter wird „gegen den Empfänger nur als im Verhältnis der Liebe betrachtet“ (454 f.). Die aus dem Akt der Wohltat resultierende oder zu resultierende Dankbarkeit sei aber ein „Gefühl der Achtung gegen den ihn verpflichtenden Wohltäter“ (454). Warum also ist die Dankbarkeit für Kant überhaupt eine Liebespflicht? Warum untersucht er sie nicht im folgenden zweiten Abschnitt des ersten Hauptstücks, in welchem er sich den „Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung“ widmet?
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Hierauf könnte man antworten, dass die Dankbarkeit dort wohl auch nicht besser aufgehoben wäre, denn die Tugendpflichten aus Achtung betreffen nur solche, die wir anderen schulden, unabhängig von ihren Handlungen. Darüber hinaus handelt es sich bei diesen Pflichten um negative Pflichten (vgl. 467), d. h. sie bestimmen Handlungen, die zu unterlassen sind, und sind nicht wie die Pflichten zur Dankbarkeit mit positiven Leistungen verbunden (vgl. hierzu auch den Beitrag von Moritz Hildt in diesem Band). Entscheidender für die Beantwortung der Frage, warum Kant, obwohl er die Dankbarkeit zu den Liebespflichten zählt, hier nun das Gefühl der Achtung ins Spiel bringt, ist wohl der Umstand, dass die zitierte Passage am Beginn der Untersuchung der Dankbarkeit steht. An dieser Stelle spricht Kant noch nicht von der tätigen Dankbarkeit. Wie schon bei der Liebe beginnt Kant seine Untersuchung mit dem pathologischen Aspekt des zu untersuchenden Begriffs: Die Dankbarkeit wird als von einem „Gefühl der Achtung“ gegen einen Wohltäter begleitet beschrieben. Dieses Gefühl hat pathologischen Charakter – und kann nicht Pflicht sein. Die Maxime des praktischen Wohlwollens, die tätige Dankbarkeit aber schon, sie ist Liebespflicht.
10.3.3 Pflichten der Teilnehmung Die letzte der drei Liebespflichten, die Kant in der Tugendlehre diskutiert, ist jene der Teilnehmung. In der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft wurde diese Pflicht immer gemeinsam mit jener der Wohltätigkeit diskutiert. In der Tugendlehre erfährt sie eine eigenständige Untersuchung.
10.3.3.1 Teilnehmung als „indirekte Pflicht“ Nach Kant ist Mitleid mit Anderen zu haben keine Pflicht, denn es kann „unmöglich Pflicht sein“ durch den Schmerz, den das Leid anderer auslöst, auch noch „die Übel in der Welt zu vermehren“ (457) heißt es in § 34 der Tugendlehre. Gleichwohl „ist es doch tätige Teilnehmung an ihrem Schicksale, und zu dem Ende also indirekte Pflicht“ (ebd.), das Gefühl des Mitleids in uns zu kultivieren. Daher sei es auch Pflicht: „nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Notwendigste abgeht, zu umgehen,“ führt Kant weiter aus, „sondern sie aufzusuchen, nicht die Krankenstuben oder die Gefängnisse der Schuldner und dergl. fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen“ (ebd.). Dies heißt also man darf nach Kant die Augen vor dem Leid anderer nicht verschließen, wenn man auch nicht dazu verpflichtet ist, ‚mit ihnen zu leiden‘.
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Dabei muss man festhalten, dass es Kant auch hier nicht um eine pathologische Teilnehmung geht: Es ist nicht „die Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens (humanitas aestetica)“ gemeint, welche unfrei ist, sondern der Wille, „sich einander in Ansehung seiner Gefühle mitzuteilen (humanitas practica)“, welcher frei ist (456). Nur zu letzterem, der humanitas practica, besteht für Kant eine Verbindlichkeit. Die Pflicht zur Teilnehmung scheint dabei von Kant als wohltätigkeitsfunktional verstanden zu werden. So schreibt er beispielsweise, es sei Pflicht, Mitfreude und Mitleid „als Mittel zu Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen“ (ebd.). Und unter diesem Gesichtspunkt ist es vielleicht auch verständlich, warum Kant in der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft die Wohltätigkeit und die Teilnehmung in einem Atemzug nennt. Sie scheinen für ihn eine funktionale Sinneinheit zu bilden.
10.3.3.2 „Was geht’s mich an?“ Interessant ist in jenen §§ 34 und 35, die die Teilnehmung betreffen, auch Kants kurze Diskussion zur Freundschaft und der dort auftauchenden (vermeintlich) eigennützigen Maxime, die man eventuell beim ersten Lesen für eine Wiederholung jener Maxime halten könnte, die Kant in der Grundlegung als nicht universalisierbar zurückgewiesen hatte. In der Grundlegung führte Kant hinsichtlich des Gebotes, gegen fremde Not nicht gleichgültig zu sein, folgendes Beispiel an: Einer, „dem es wohl geht“, denkt, „indessen er sieht, daß andere mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl helfen könnte): was geht’s mich an?“ Und dieser fährt fort: „Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Not habe ich nicht Lust etwas beizutragen!“ (GMS, IV 423). Diese Maxime wird von Kant als nicht universalisierbar zurückgewiesen. In der Tugendlehre lässt Kant dann aber einen stoischen Weisen sagen: „Ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armut, Krankheit, in der Gefangenschaft u.s.w. Hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne“, aber „wenn sein Freund nicht zu retten ist,“ dann „spricht ebenderselbe Weise, zu sich selbst: was geht’s mich an?“ (457). In der Grundlegung verwirft Kant die selbstbezogene Maxime mit der Begründung, dass obzwar eine Welt, in der alle so denken, denkmöglich sei, man eine solche Welt aber unmöglich wollen könne: „Denn ein Wille, der dies beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen kön-
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nen, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf“ (GMS, IV 423; s. auch oben Abschn. 10.2). Die wortgleiche Äußerung „was geht’s mich an?“ in der Passage aus der Tugendlehre erregt jedoch keinen Widerspruch seitens Kants. Was ist, trotz des Gleichlauts, der Unterschied zwischen den beiden Fragen? Während in der Grundlegung die betreffende Person die Handlungsmaxime hat, nicht zu helfen, d. h. den Grundsatz, auch wenn es in ihrer Macht stünde („denen er wohl auch helfen könnte“), dies zu unterlassen, hat der Weise in der Tugendlehre die Maxime der Hilfsbereitschaft („damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten kann“). Er vermag es aber, im Gegensatz zum Beispiel aus der Grundlegung, nicht zu helfen („wenn sein Freund nicht zu retten ist“). In dieser Situation, so Kant, kann es nicht Pflicht sein, durch den eigenen Schmerz über das Leid des Freundes „die Übel in der Welt zu vermehren“ (457). Wir haben es also mit Hinblick auf die Grundlegung mit der Untersuchung einer eigennützigen Handlungsmaxime zu tun, die in der rhetorischen Frage „was geht’s mich an?“ Ausdruck findet, mit Hinblick auf die Tugendlehre aber mit der Frage nach dem die eigene Hilflosigkeit – nicht: die mangelnde Hilfsbereitschaft – begleitenden Gefühl. Uns mag die Reaktion des Weisen (obzwar im Einklang mit der stoischen Ethik) vielleicht als kaltherzig erscheinen, eine Pflicht aber, etwas anderes als dieser zu empfinden, ließe sich mit der Tugendlehre nicht begründen.
10.4 Doppelte Pflichtverletzung: Die Laster des Menschenhasses Im § 36 und der ihm folgenden Anmerkung, die den Abschnitt über die Liebespflichten beschließen, geht Kant auf die „der Menschenliebe gerade (contrarie) entgegengesetzen“ Laster des Menschenhasses ein: der Neid, die Undankbarkeit und die Schadenfreude. Der gemeinte Hass sei „aber hier nicht offen und gewalttätig, sondern geheim und verschleiert, welches zu der Pflichtvergessenheit gegen seinen Nächsten noch Niederträchtigkeit hinzutut, und so zugleich die Pflicht gegen sich selbst verletzt“ (458). In den Lastern des Menschenhasses werden nach Kant also gleich zwei Gruppen von Pflichten verletzt, die gegen sich selbst, was vielleicht weniger offensichtlich ist, und die gegen andere, was offensichtlicher ist. Alle diskutierten Laster werden dabei von Kant als zwar „inhuman, objektiv betrachtet, aber doch menschlich, subjektiv erwogen“ (461), beschrieben, wie es in der Anmerkung zu § 36 heißt. Die Laster des Menschenhasses sind, „wie die Erfahrung uns unsere Gattung kennen lehrt“ (ebd.), dem genus humanum durchaus zueigen, gleichwohl widersprechen sie der humanitas, der Menschlichkeit (zu die-
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sem Begriffspaar s. Höffe 2012, 239). Objektiv sind sie also unmenschlich, subjektiv freilich allzu menschlich. Der Trias der Liebespflichten – Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Teilnehmung – steht nach Kant nun also eine Trias der Laster – Neid, Undankbarkeit, Schadenfreude – gegenüber. Um was für eine Art von Gegensatz handelt es sich aber?
10.4.1 Liebespflichten und Laster des Menschenhasses In gewisser Hinsicht finden die Liebespflichten der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der Teilnehmung in den genannten Lastern ihre Entsprechung: Der Neid ist der Wohltätigkeit entgegengesetzt, die Undankbarkeit der Dankbarkeit und die Schadenfreude der Teilnahme. Bei den Lastern handelt es sich dabei aber nicht, wie man vielleicht vor allem auf das Gegensatzpaar Dankbarkeit und Undankbarkeit bezogen der Ansicht sein könnte, allein um privative Gegensätze: Auch wenn man zunächst meinen könnte, dass die Undankbarkeit in einer bloßen Abwesenheit, einem bloßen Mangel an gebotener Dankbarkeit bestünde, zeigt Kants Ausführung bald, dass dieses Laster mehr umfasst als das Nichtvorhandensein von Dankbarkeit. Bei der Schadenfreude ist dies sogar bereits in der allgemeinsprachlichen Bedeutung des Begriffs offensichtlich. Schadenfreude besteht nicht allein in der Abwesenheit von Teilnehmung. Der Neid geht ebenfalls ganz eindeutig weit über eine bloße Nichterfüllung der Pflicht zur Wohltätigkeit hinaus. Es handelt sich also nicht um einen privativen Gegensatz. Die Laster des Menschenhasses stehen vielmehr, wie sich im Folgenden zeigen wird, in einem polar-konträren Gegensatz zu den Liebespflichten – daher auch Kants Rede von den „Ideen von einem Maximum, als Maßstab zum Behuf der Vergleichung des Grades der Moralität“ in der Anmerkung zu § 36: Die Liebespflichten und die Laster des Menschenhasses stellen die jeweiligen Enden einer Skala menschlichen Handelns dar – und Fühlens, denn für die Bestimmung der Laster des Menschenhasses ist das Gefühl, wie wir sehen werden, wieder von Bedeutung.
10.4.2 Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude Der Neid wird von Kant definiert „als Hang, das Wohl anderer mit Schmerz wahrzunehmen, ob zwar dem seinigen dadurch kein Abbruch geschieht“ (458). Dieser kann sich in Handlungen niederschlagen, die es zum Ziel haben, das Wohl der anderen zu schmälern. Er kann aber auch nur als „indirekt-bösartige Gesinnung“, als Missgunst bestehen (ebd.).
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Die Undankbarkeit gegen einen Wohltäter wiederum entsteht nach Kant aus „der mißverstandenen Pflicht gegen sich selbst, die Wohltätigkeit anderer, weil sie uns Verbindlichkeit gegen sie auferlegt, nicht zu bedürfen und aufzufordern, sondern lieber die Beschwerden des Lebens selbst zu ertragen, als andere damit zu belästigen“ (459). Dieser Möglichkeit fühle man sich durch die Hilfe anderer beraubt. Das Laster der Undankbarkeit sei aber, obwohl auf nachvollziehbaren – und durchaus tugendhaften – Gründen fußend und weit verbreitet, strikt abzulehnen. Diese Ablehnung wird dabei von Kant nicht allein empirisch-sozialpragmatisch aufgrund des zu erwartenden Schadens begründet, „den ein solches Beispiel Menschen überhaupt zuziehen muß, von fernerer Wohltätigkeit abzuschrecken“ (ebd.). Dieser sei nämlich bei Menschen mit „echtmoralischer Gesinnung“ gar nicht zu erwarten, „denn diese können … in der Verschmähung alles solchen Lohns ihrem Wohltun nur einen desto größeren inneren moralischen Wert setzen“ (ebd.). Das Laster der Undankbarkeit gegenüber einem Wohltäter sei vielmehr abzulehnen, „weil die Menschenliebe hier gleichsam auf den Kopf gestellt, und der Mangel der Liebe gar in die Befugnis, den Liebenden zu hassen, verunedelt wird“ (ebd.). Als drittes und letztes Laster des Menschenhasses geht Kant auf die Schadenfreude ein. Hierbei sei es durchaus gestattet „sein Wohlsein und selbst sein Wohlverhalten stärker zu fühlen, wenn Unglück, oder Verfall anderer in Skandale, gleichsam als die Folie unserem eigenen Wohlstande untergelegt wird, um diesen in ein desto helleres Licht zu stellen“ (460). Problematisch ist es aber, sich „über die Existenz solcher das allgemeine Weltbeste zerstörenden Enormitäten unmittelbar… zu freuen, mithin dergleichen Ereignisse auch wohl zu wünschen“ (ebd.). Als „die süßeste, und noch dazu mit dem Schein des größten Rechts“ (ebd.) ausgestattete Unterform der Schadenfreude diskutiert Kant die Rachbegierde. An diesem Punkt berühren sich nun Rechts- und Tugendlehre. Kant führt nämlich aus: „Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe; wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächet (nicht bloß der zugefügte Schaden ersetzt) wird“ (ebd.). Ohne an dieser Stelle tiefer in die Straftheorie Kants vordringen zu können, möchte ich doch einen für das Laster der Rachbegierde als Unterform der Schadenfreude wichtigen Punkt herausgreifen: Kant unterstreicht, dass „Strafe nicht ein Akt der Privatautorität“ ist, und im Rahmen der Ethik, in welcher„wir die Menschen … in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten … hat niemand die Befugnis Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen“ (ebd.). Während im bürgerlichen Zustand dem Souverän das Strafrecht zukommt (RL, VI 328 und 331 ff.), hat innerhalb der Ethik, jenseits der juridischen Gesetzgebung diese Autorität nach Kant nur „der moralische Gesetzgeber“, Gott – und er verweist dabei auf das Buch Mose: „Die Rache ist mein; ich will vergelten“ (Mose 32,35 und
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Römer 12,19). Dem Einzelnen steht es nach Kant nicht frei, dieser Strafinstanz zuvorzukommen. Aus dem Verbot der Rache folgt für Kant sodann eine weitere Tugendpflicht, die er en passent in den Schlusszeilen des § 36 einführt: Man solle nicht die Feindseligkeit anderer mit Hass erwidern; „Versöhnlichkeit (placabilitas) ist Menschenpflicht“ (461).
10.5 Zusammenfassung Im ersten Abschnitt des zweiten Hauptstücks der Elementarlehre der Tugendlehre behandelt Kant die Liebespflichten gegen andere Menschen, deren er drei nennt, die Pflichten der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der Teilnehmung, und die der Menschenliebe entgegengesetzten Laster des Neides, der Undankbarkeit und der Schadenfreude. Die Liebe betrachtet er dabei nicht in ihrer pathologisch, d. h. sinnlich affizierten Bedeutung, sondern in ihrer praktischen, d. h. auf Handlungen bezogenen Hinsicht. Liebe wird von Kant als „Maxime des Wohlwollens“ verstanden, die das Wohltun zur Folge hat. Dieses so verstandene tätige Wohlwollen ist gegenüber allen Menschen Pflicht unabhängig davon, ob man jenen gegenüber auch ein Gefühl der Liebe empfindet. Die Wohltätigkeit und die Teilnehmung sind dabei als Pflichten bereits aus der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft bekannt – auch wenn ihre Erläuterung in der Tugendlehre ausführlicher erfolgt und ihre Begründung von jener in der Grundlegung abweicht. Die Dankbarkeit wird in der Tugendlehre neu in den Katalog der Liebespflichten aufgenommen: Anders als die Pflichten der Wohltätigkeit und der Teilnehmung sind jene der Dankbarkeit nicht bereits aus anderen moralphilosophischen Schriften Kants bekannt. In der Tugendlehre bestimmt Kant sie als „heilige Pflicht“. Es hat sich gezeigt, dass diese Bestimmung einige Anschlussfragen nach sich zieht, die nur zum Teil unter Rückgriff auf andere Kantische Argumentationsstränge beantwortbar sind. Die Laster des Menschenhasses, Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude, wiederum stellen für Kant nicht nur eine Verletzung der Pflichten gegen andere dar, sondern aufgrund ihrer Niederträchtigkeit auch der Pflichten gegen sich selbst. Sie sind dabei jedoch nicht allein als privative Gegensätze zu den diskutierten Liebespflichten, sondern als polar-konträr zu verstehen: Die Liebespflichten und die Laster des Menschenhasses bilden die jeweiligen Enden einer Skala menschlichen Handelns und Fühlens. Die Laster des Menschenhasses werden dabei von Kant als inhuman, aber doch menschlich beschrieben.
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Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. v. U. Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006. Baron, M. 2002: Love and respect in Kant’s Doctrine of virtue, in: M. Timmons (Hrsg.), Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays, Oxford, 391–407. Brinkmann, W. 2015: Dankbarkeit, in: M. Willaschek u. a. (Hrsg.), Kant-Lexikon, Bd. 1, Berlin, 339–340. Geiger, R. 2005: nomisma/ Geld, in: O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart, S. 376–377. Höffe, O. 2012: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München. Horn, Chr. 2008: The Concept of Love in Kant’s Virtue Ethics, in: M. Betzler (Hrsg.), Kant’s Ethics of Virtue, Berlin u. New York, 147–173. Reinhardt, K. 22021: Migration und Weltbürgerrecht. Zur Aktualität eines Theoriestücks der politischen Philosophie Kants, Freiburg i. Br. Schönecker, D. 2013: Duties to Others from Love, in: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s Tugendlehre. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston, 309–341.
Moritz Hildt
11 Was Anderen gebührt. Kant über Achtung und Würde (§§ 37–45) 11.1 Einleitung Die „Ethische Elementarlehre“ nimmt in der Tugendlehre den weitaus größten Raum ein. Während sich ihr erster Teil mit denjenigen Tugendpflichten beschäftigt, die Menschen gegenüber sich selbst haben, geht es im zweiten Teil um die Frage, wozu wir gegenüber anderen Menschen verpflichtet sind. Kant untergliedert diesen zweiten Teil im Hinblick auf diese anderen Menschen: Werden sie „bloß als Menschen“ betrachtet – so die Überschrift des „Ersten Hauptstücks“ –, dann lassen sich Liebespflichten (TL, §§ 23–36; s. hierzu den Beitrag von Karoline Reinhardt in diesem Band) und Pflichten aus Achtung (§§ 37– 44) unterscheiden. Schaut man dagegen auf die anderen Menschen „nach Verschiedenheit ihres Zustandes“ („Zweites Hauptstück“: § 45), dann geht es nicht mehr darum, wozu ich gegenüber Anderen verpflichtet bin, bloß weil sie Menschen sind, sondern insofern sie dieser oder jener, also ein bestimmter Mensch sind, und ich in einer gegebenen Situation in einer bestimmten Beziehung zu ihnen stehe – also um sehr viel konkretere Fragen. Gegenstand dieses Beitrags sind die Pflichten aus Achtung, sowie Kants knappe Ausführungen zur Frage, welche Pflichten man gegenüber anderen Menschen „nach Verschiedenheit ihres Zustandes“ hat. Ich werde zunächst darstellen, was Kant unter „Achtung“ und den ihr korrespondierenden Tugendpflichten versteht (Abschn. 11.2). Anschließend wird der Ausdruck der „Würde“ im Zentrum stehen. Er stellt für Kant die „Grundlage“ der Achtung dar, und hat in der Forschungsliteratur – insbesondere auch hinsichtlich der Frage, inwiefern Kant als ein Vordenker des heutigen Begriffs der „Menschenwürde“ gelten kann – einige Aufmerksamkeit erfahren (Abschn. 11.3). In einem dritten Schritt werde ich die drei „Laster“ interpretierend vorstellen, die nach Kant den Tugendpflichten aus Achtung entgegenstehen (Abschn. 11.4). Der letzte Abschnitt widmet sich Kants äußerst kurzen, auf einen einzigen Paragraphen beschränkten Ausführungen zum Zweiten Hauptstück (Abschn. 11.5).
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11.2 Achtung, die Anderen gebührt Der Begriff der „Achtung“ taucht an der Stelle, an der sich Kant systematisch den Tugendpflichten aus Achtung zuwendet, nicht zum ersten Mal in der Tugendlehre auf (Abschn. 11.2.1). Kant setzt hier gleichwohl in gewisser Weise neu an, indem er die Achtung als eine Bescheidenheit bestimmt, die er zwischen zwei Arten von Unbescheidenheit verortet (Abschn. 11.2.2). Drei Eigenschaften zeichnen die Tugendpflichten aus Achtung in besonderem Maße aus: Erstens ist die Achtung sowohl ein Anspruch, den jeder Mensch gegenüber seinen Mitmenschen hat – man kann sie also von anderen einfordern –, als auch eine Pflicht: man ist gleichermaßen verpflichtet, den Anderen die ihnen gebührende Achtung entgegenzubringen (Abschn. 11.2.3). Zweitens steht die Achtung in einem Begründungszusammenhang mit der menschlichen Würde: Sie stellt, sagt Kant, die Anerkennung einer Würde dar, über die jeder Mensch verfügt (Abschn. 11.3). Und drittens lassen sich die Tugendpflichten aus Achtung nur negativ, bzw. indirekt bestimmen: Während sich positive Liebespflichten anführen lassen (s. §§ 29–35), kann bei Pflichten aus Achtung nur angegeben werden, wann und inwiefern sie verletzt werden (Abschn. 11.4).
11.2.1 Was wir bislang schon über die Achtung wissen Der Begriff der „Achtung“ ist für den Leser der Tugendlehre zu Beginn von Paragraph 37 nicht neu. So erfahren wir bereits in der „Einleitung“, dass es sich bei der Achtung um ein Gefühl handelt. Kant schreibt dort, dass für dieses „Gefühl eigener Art“ das moralische Gesetz ursächlich ist: Letzteres zwinge dem Menschen „unvermeidlich Achtung für sein eigenes Wesen ab“ (402 f.). Bereits in diesem Zusammenhang erwähnt Kant außerdem, dass das Gefühl der Achtung einen „Grund gewisser Pflichten“ darstellt (403). Im Paragraph 11 der Tugendlehre – Kant erörtert hier eigentlich die „Kriecherei“ – erhalten wir einen weiteren wichtigen Hinweis auf die systematische Funktion der Achtung. Jeder Mensch, „als Person betrachtet“, besitze nämlich „eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt“ (435). Es scheint also einen gewissen Zusammenhang zwischen Würde und Achtung zu geben; einen Begründungszusammenhang. Hinsichtlich der Tugendpflichten gegen andere Menschen unterscheidet Kant, wie bereits erwähnt, Liebespflichten und Pflichten aus Achtung. Das Kriterium für diese Unterscheidung ist ebenfalls eng an den Begriff der Achtung geknüpft. Es gebe
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nämlich, so Kant im Paragraph 23, „Pflichten gegen andere, sofern du sie durch Leistung derselben zugleich verbindest, und … solche, deren Beobachtung die Verbindlichkeit Anderer nicht zur Folge hat“ (448). Pflichten der ersten Art sind verdienstliche Pflichten und werden vom Gefühl der Liebe begleitet, die der zweiten Art sind schuldige und werden vom Gefühl der Achtung begleitet (ebd.).
11.2.2 Zwei Arten von Unbescheidenheit Ungeachtet dieser früheren Erwähnungen der Achtung setzt Kant nun, zu Beginn der systematischen Abhandlung über die „Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung“, neu an. Er beginnt seine Ausführungen, indem er die Achtung als eine „Mäßigung in Ansprüchen überhaupt“ bestimmt (462): Man beschränkt sich in seinen eigenen Ansprüchen, da man erkennt, dass auch jeder Mensch um einen herum derartige Ansprüche hat und verfolgt. In Kants Worten handelt es sich dabei um eine „freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen durch die Selbstliebe Anderer“ – um eine Form der „Bescheidenheit“ (ebd.). Kant beschreibt, als Kontrast zu dieser Bescheidenheit, zwei mögliche Formen von „Unbescheidenheit“. Dabei treten bereits zwei Aspekte zutage, die für die endgültige Bestimmung der Achtungspflichten wichtig sein werden. Es gibt nämlich, erster Aspekt, so etwas wie die „Würdigkeit, von anderen geliebt zu werden“ (ebd.): Als Menschen sind wir, so Kant, der Liebe Anderer würdig (vgl. hierzu auch Kants Ausführungen in § 27: 450 f.). Wer aber sein Augenmerk allein auf seine eigene Würdigkeit legt, der droht, der „Eigenliebe“ zu verfallen. Bei dieser Form der Unbescheidenheit geraten die Ansprüche der Anderen deshalb aus dem Blick, weil man sich selbst nur noch als Empfänger bzw. Profiteur von Liebespflichten sieht, ohne diesen in gleicher Weise gegenüber Anderen nachzukommen. Die zweite Form der Unbescheidenheit nennt Kant „Eigendünkel“. Jemand, der ihr verfällt, fordert andauernd, und über die Maßen, die Achtung Anderer für sich ein, ohne dass er jenen dieselbe Achtung entgegenbringt (vgl. 462). Beiden Formen von Unbescheidenheit liegt also zugrunde, dass sich die unbescheidene Person über die anderen Menschen erhebt: Sie fordert für sich etwas ein, was sie den Anderen nicht im selben Maße entgegenzubringen bereit ist. Die Achtung als Bescheidenheit, wie Kant sie im Paragraph 37 einführt, ist also offenbar so etwas wie eine Haltung, mit der man Anderen begegnet. Den aufmerksamen Leser der Tugendlehre mag das irritieren: Sagte Kant nicht zuvor, dass es sich bei der Achtung um ein Gefühl handelt?
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Diese Erinnerung trifft zu. Es gibt tatsächlich mehrere Stellen in der Tugendlehre, und auch schon in Kants früheren Schriften zur Moralphilosophie, an denen er die Achtung explizit als ein Gefühl bezeichnet (z. B. 402 f. u. 448; vgl. auch schon KpV, V 73 u. 80 f.; s. dazu auch oben, Abschn. 11.2.1). Das scheint bislang sogar Kants vorrangiges Verständnis des Ausdrucks zu sein. Wie geht das nun aber damit zusammen, dass die Achtung hier als eine Art von Bescheidenheit im Umgang mit den eigenen Ansprüchen bestimmt wird? Aufschluss vermag eine Stelle aus einem früheren Paragraphen zu liefern: Im Kontext der Erörterungen der Liebespflichten führt Kant aus, dass die Liebe einerseits als Gefühl verstanden werden kann, andererseits aber auch als „Maxime des Wohlwollens“ (449). Ebenso, sagt Kant dort, verhalte es sich auch mit der Achtung: Sie sei, wenn es um die Tugendpflichten aus Achtung gehe, gleichermaßen nicht als ein Gefühl zu verstehen, sondern als „Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines Anderen Person“ (ebd.). Dieses Verständnis der Achtung – Achtung also nicht als moralisches Gefühl, sondern als Maxime – bezeichnet Kant dort auch als „Achtung im praktischen Sinne“ (ebd.).¹ Es scheint also naheliegend anzunehmen, dass es dieses Verständnis von Achtung als „Achtung im praktischen Sinne“ ist, das Kant seinen Ausführungen zu den Tugendpflichten aus Achtung zugrundelegt.
11.2.3 Achtung als Anspruch und Pflicht Die Bestimmung der Achtung als einer Haltung der Bescheidenheit führt Kant unmittelbar zu einer der zentralen Aussagen des gesamten Abschnitts: „Achtung, die ich für Andere trage, oder die ein Anderer von mir fordern kann …, ist also die Anerkennung einer Würde an anderen Menschen“ (462). In diesem Zitat klingen die beiden wichtigsten Thesen an, die Kant hier über die Achtung aufstellt: Erstens 1 Die sich daran anschließende Frage, wie sich nun das „Gefühl der Achtung“ zur „Achtung als Maxime“ verhält, scheint nicht leicht zu beantworten. Für den hier relevanten Zusammenhang ist es hilfreich, sich die jeweils verschiedene Funktion vor Augen zu halten: Während sich das Gefühl der Achtung auf das moralische Gesetz bezieht und als solches die moralische „Triebfeder“ bildet, also handlungsmotivierend ist (z. B. 403, 464 u. 466; zur Erläuterung konzise Höffe 2012, Kap. 8.5), stellt die Achtung als Maxime die Quelle von Tugendpflichten dar und ergibt sich als geforderte Haltung im Angesicht der Würde, die jedem Menschen zukommt (462). Zum Begriff der Achtung bei Kant, s. Schadow 2015, die sich allerdings im infrage stehenden Fall an keiner genaueren Verhältnisbestimmung versucht. Für eine solche Verhältnisbestimmung im Zusammenhang mit den Tugendpflichten aus Achtung, s. Sensen 2013, 356 f. Zur Funktion der Achtung als moralischem Gefühl in Kants Moralphilosophie, s. aufschlussreich Scarano 2002.
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ist die Achtung etwas, was ich anderen entgegenbringen soll – Achtung als Pflicht –, und gleichermaßen auch etwas, was ich von anderen einfordern kann – Achtung als Anspruch. Und zweitens ist die Achtung die „Anerkennung einer Würde“. Die Tugendpflichten aus Achtung hängen also, in einer noch näher zu untersuchenden Weise, damit zusammen, dass Menschen über eine solche Würde verfügen. Auf die Achtung seitens ihrer Mitmenschen hat jede Person einen „rechtmäßigen Anspruch“ (ebd; das „rechtmäßig“ bezieht sich hier plausiblerweise nicht auf ein juridisches Recht im Sinne eines zwangsbefugten Gesetzes, sondern, da wir uns im Kontext der Tugendlehre befinden, auf ein moralisches Recht). Diesen Anspruch kann ich gegenüber Anderen geltend machen und bin berechtigt, sie darauf hinzuweisen, wenn sie ihm nicht nachkommen. Es ist außerdem wichtig, zu sehen, dass ich diesen Anspruch auch gegenüber mir selbst habe: Auch ich darf mich mir gegenüber nicht in einer Weise verhalten, die diese Achtung verletzt. Aus der Achtung erwächst also nach Kant auch eine „Pflicht der Selbstschätzung“ (ebd; da es sich bei dieser Selbstschätzung um eine „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ handelt, erwähnt Kant sie folgerichtig schon im „Ersten Teil“ der Elementarlehre, der jene Pflichten zum Thema hat: 434 f.). In dieser „Pflicht der Selbstschätzung“ klingt schon an, inwiefern die Achtung nicht nur ein Anspruch ist, den ich einfordern kann, sondern auch eine Pflicht darstellt: Ebenso wie die Selbstschätzung es gebietet, dass ich mir selbst gegenüber immer die nötige Achtung entgegenbringe, führt der Umstand, dass alle Menschen einen solchen rechtmäßigen Anspruch auf Achtung haben, dazu, dass ich gleichermaßen verpflichtet bin, diese Achtung allen Anderen entgegenzubringen. Die Tugendpflichten aus Achtung sind also, das wird bereits an dieser Stelle klar, weit mehr als das, woran man gemeinhin beim Wort „Bescheidenheit“ denken mag: Es geht nicht bloß um eine freiwillige, möglicherweise lobenswerte Einstellung, die man gegenüber Anderen an den Tag legt – es handelt sich bei ihnen um erstzunehmende und keinesfalls zu vernachlässigende Pflichten.
11.3 Würde Mit der zweiten im obigen Zitat angeklungenen These setzt Kant die Tugendpflichten aus Achtung in einen Zusammenhang mit dem Ausdruck „Würde“: Die Achtung sei, so schreibt er, „die Anerkennung einer Würde an anderen Menschen“ (462). Sie ist offenbar etwas, das allen Menschen zukommt. Aber was genau versteht Kant darunter?
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11.3.1 Würde in der Tugendlehre Angesichts der zentralen Funktion, die der Würde in Bezug auf die Tugendpflichten aus Achtung zukommt, ist es erstaunlich, wie beiläufig Kant sie in der Tugendlehre einführt. Er nimmt sich wenig Zeit, um den Begriff und seine Funktion systematisch zu entwickeln. Darüber hinaus wirft schon die erste Nennung des Ausdrucks in den Passagen zu den Tugendpflichten aus Achtung eine nicht leicht zu beantwortende Frage auf: Es fällt ins Auge, dass Kant den Ausdruck mit einem unbestimmten Artikel versieht: Die Achtung für Andere sei „Anerkennung einer Würde“ (462; meine Kursivierung). Und später auf derselben Seite spricht er davon, dass die „Menschheit selbst eine Würde“ sei (ebd.; meine Kursivierung). Als heutige Leser, die mit der Idee der Menschenwürde vertraut sind, würden wir erwarten, dass es hier um die Würde geht. Warum also verwendet Kant statt dessen den unbestimmten Artikel? Gibt es vielleicht sogar mehrere Arten von Würde? Es ist wichtig, sich Fragen wie diese im Kopf zu behalten, wenn man sich einem angemessenen Verständnis dessen, was Kant hier unter „Würde“ versteht, annähern möchte. Sie geben Anlass zur Vorsicht, Kants Rede von der Würde von Vornherein mit dem gleichzusetzen, was wir heute unter „Menschenwürde“ verstehen: einen einzelnen, jedem Menschen innewohnenden Wert, der bestimmte unveräußerliche Rechte begründet, die sogenannten Menschenrechte. Was also erfahren wir in den einschlägigen Passagen der Tugendlehre zur Würde? Und in welchem Zusammenhang steht sie mit der Achtung, die Anderen gebührt? Zunächst einmal gibt Kant Auskunft darüber, wem diese Würde zukommt: Jeder Mensch verfügt darüber. Ausschlaggebend hierfür sind zwei Bestimmungen: Dem Menschen kommt diese Würde zu „als Person betrachtet“ (434 f.), und deswegen, weil die „Menschheit selbst … eine Würde“ ist (462; vgl. hierzu auch GMS, IV 435 und KpV, V 88 u. 152). Was aber versteht Kant hier unter „Menschheit“? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich, im Rahmen der Tugendlehre, im Abschnitt V der „Einleitung“ finden. In der Erörterung des ersten Zwecks, der zugleich Pflicht ist – der eigenen Vollkommenheit –, taucht der Begriff der Menschheit an prominenter Stelle auf. Der Mensch hat, schreibt Kant, die „Pflicht, sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit … immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, emporzuarbeiten“ (387). Die Menschheit ist also ihrerseits eine Eigenschaft, die in jedem Menschen „wohnt“ (ebd.), und die für die praktische Vernunft von größter Bedeutung ist: Nur durch die Menschheit in sich ist der Mensch fähig, sich selbst Zwecke zu setzen – eine existentielle Eigenschaft, die nicht zuletzt das gesamte Projekt der Tugendlehre bestimmt, der es ja darum geht, einen moralischen
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Zweck zu identifizieren, der den Zwecken der sinnlichen Neigungen entgegenwirken kann (vgl. 380 f.). Doch damit nicht genug: Die Menschheit umfasst für Kant noch mehr als die bloße Fähigkeit, sich Zwecke setzen zu können: Sie bezeichnet nichts weniger als die „vernünftige Natur“ des Menschen (GMS, IV 430), bzw. den Menschen, „bloß als moralisches Wesen betrachtet“ (TL,VI 429). Es handelt sich dabei also nicht um eine bloße Aussage über die Gattungszugehörigkeit (Menschheit als genus humanum), sondern Kant versteht darunter das, was den Menschen seinem Wesen nach ausmacht (Menschheit als humanitas; s. zu dieser Unterscheidung konzise Höffe 2012, 239): seine Persönlichkeit als autonomiefähiges vernünftiges Wesen. Dieses Wesensmerkmal ist es nun, das nach Kant eine Würde darstellt („die Menschheit selbst ist eine Würde“; 462). Und insofern jeder einzelne Mensch darüber verfügt, kommt auch jedem einzelnen Menschen diese Würde zu. Sie ist damit auch etwas, das die Menschen im Reich der Natur zu etwas Besonderem macht. So schreibt Kant, dass sich der Mensch durch seine Würde „über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt“ (ebd.). Ein mögliches Problem hierbei diskutiert Kant allerdings nicht: Für ihn ist die Menschheit im oben bestimmten Sinn nämlich nichts, was dem Menschen einfach so gegeben wäre. Kant sagt explizit, dass man sich der Menschheit in sich durch Kultivierung erst „würdig“ machen muss (vgl. 387). Es handelt sich also gewissermaßen um eine Anlage, die wir kultivieren sollen. Bedeutet das in Bezug auf die Würde, dass auch sie nur als Anlage, also gewissermaßen graduell vorhanden ist; dass wir uns auch ihrer erst würdig machen müssen? Die Würde, die jedem Menschen qua Menschheit zukommt, hat jedenfalls eine ganz spezielle Beschaffenheit: Sie ist der einzige „Wert, der keinen Preis hat“ (ebd.): Die Würde stellt keinen bloß relativen, durch andere Werte aufwiegbaren Wert dar; bei ihr handelt es sich um „einen absoluten inneren Wert“ (462; vgl. auch GMS, IV 428 f. u. 435). Als eine derart herausragende menschliche Eigenschaft ist das Wort „Achtung“, so schreibt Kant bereits in der Grundlegung, dasjenige, das „allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung“ der Würde darstellt (GMS, IV 436). Von ganz besonderer Bedeutung für den Zusammenhang mit den Tugendpflichten aus Achtung ist die unmittelbare moralische Relevanz, die mit der Würde einhergeht: Da die Menschheit, in dem oben diskutierten Sinn, eine Würde darstellt, kann nämlich der Mensch „von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden“ (TL, VI 462). Die Würde bringt also offenbar ein Verbot der (reinen) Instrumentalisierung mit sich: Ich bin moralisch dazu verpflichtet, Andere immer auf eine Weise zu behandeln, die sie nie als bloße Mittel gebraucht. Die Formulierung, die Kant hier in
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der Tugendlehre verwendet, um diese moralische Relevanz der Würde herauszustellen, erinnert dabei fast wortwörtlich an die sogenannte „Selbstzweckformel“ des kategorischen Imperativs, wie Kant sie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten anführt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS, IV 429). Zusammengenommen ist die Würde also etwas, das jedem Menschen zukommt, und zwar letzten Endes aufgrund seiner Fähigkeit zur Autonomie. Mit dem Ausdruck „Menschheit“ bezeichnet Kant eben diese Wesenseigenschaft des Menschen als vernünftigem, moralischem Wesen. Die Würde ist dasjenige, was die Menschen vom Rest der Natur unterscheidet, bzw. abhebt. Kant bezeichnet sie, um ihre Bedeutung herauszustellen, als einen absoluten inneren Wert, der durch nichts aufzuwiegen ist. Und in moralphilosophischer Hinsicht steht sie, wie wir gesehen haben, in einem engen Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ selbst: Denn sie bringt das Verbot einer bloßen Instrumentalisierung mit sich.
11.3.2 Würde, Menschenwürde und die Frage nach der Begründung Es gibt in der Forschungsliteratur eine anhaltende Debatte über die Frage, in welchem Zusammenhang Kants Begriff der Würde mit demjenigen steht, der uns heute so vertraut ist – sei es aus dem politischen Kontext wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder dem Deutschen Grundgesetz (Artikel 1.1), oder aus den philosophischen Debatten um die Begründung der Menschenrechte. Dabei findet sich in der Debatte ein breites Spektrum an Positionen. Auf der einen Seite steht die These, dass Kant einer der wichtigsten Vordenker des heute geläufigen Begriffs der Menschenwürde ist, dass es also eine direkte systematische Linie von Kant bis in die Gegenwart gibt. Vor diesem Hintergrund wird Kant etwa eine „epochale Neubestimmung“ attestiert, „die sich in der inzwischen weltweit geläufigen Rede von Menschenwürde sowie der Kodifizierung dieses Begriffs in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und neueren Verfassungstexten niederschlägt“ (Hoffmann 2015, 2693). Manche Interpreten gehen noch weiter und finden in Kants Ausführungen zur Würde sogar die meta-ethischen und begründungstheoretischen Voraussetzungen des heutigen Würde-Verständnisses: einen moralischen Realismus, der die Würde als einen intrinsischen, absoluten und nicht-reduzierbaren Wert bestimmt, der allen Menschen innewohnt und als solcher die Pflicht zur Achtung begründet (s. zu dieser Position etwa Wood 2009, neuerdings Schmidt/Schönecker 2018).
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Dem halten andere Autoren entgegen, dass Kants Bestimmung der Würde und seine Verwendungsweise dieses Begriffs bei genauerer Draufsicht vom heutigen Verständnis der Menschenwürde in zentralen Aspekten deutlich verschieden ist. Insbesondere komme der Würde bei Kant keine eigenständige rechtfertigende Funktion zu, und erst recht diene sie nicht zur Begründung einer Klasse von grundlegenden Rechten, wie die Menschenrechte es sind (für eine Darstellung dieser Position, s. Sensen 2011). In begründungstheoretischer Hinsicht ist es nach dieser Lesart nicht die Würde, die die Achtung rechtfertigt, sondern der kategorische Imperativ selbst: Die Würde wird, als Aussage über die „Menschheit“, verstanden als Ausdruck der Forderung, dass jeder Mensch niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandelt werden soll, und diese Forderung schließe mitlaufend die Maxime der Achtung ein. (Zu einer konzisen Übersicht über diese Begründungsfrage inkl. Einschätzung, s. Sensen 2013, insb. Abschn. 1.) Ein Grund für das beständige Anhalten dieser Debatte dürfte – abgesehen freilich von dem Desiderat, Kant richtig zu verstehen – darin zu finden sein, dass nicht wenige Autoren, die Kant als Vordenker der Menschenrechte und Menschenwürde verstehen wollen, sich vom ihm dabei systematische Anregungen für eine heutige Begründung der Menschenrechte erhoffen. (Dass eine derartige Begründung auch Anknüpfungspunkte bei Kant finden kann, wenn sie nicht über den Wertbegriff, sondern über Unparteilichkeit oder vertragstheoretische Überlegungen geschieht, zeigt anschaulich Klemme 2013.) Auch wenn diese Debatte hier nicht entschieden werden kann und soll, scheint doch ein mögliches caveat für derartige Versuche vor Augen zu treten, wenn man sich den Ort in Erinnerung ruft, an dem Kant über Würde spricht: Er behandelt sie, wie aus dem Vorherigen deutlich wird, in seinen Ausführungen zu den Tugendpflichten aus Achtung, also in der Tugendlehre – einem Werk zur Ethik. Weitere Stellen zur „Würde“ (und viele sind es nicht), finden sich außerdem in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und der Kritik der praktischen Vernunft (1788). In der Rechtslehre dagegen – der Schrift, in der Kant seine Rechtsphilosophie vorlegt und die daher der sehr viel naheliegendere Ort wäre, um nach systematischen Anleihen für die rechtsphilosophische Frage nach der Begründung der Menschenrechte zu suchen –, spielt die Würde keine nennenswerte Rolle. (Angesichts dessen scheint es einigen Autoren, die die heutigen Menschenrechte mit Kant in Verbindung bringen wollen, angemessener, die Verknüpfung nicht über den Begriff der Würde, sondern über das „eine angeborene Recht“ zu versuchen, das einen grundlegenden Gedanken von Kants Rechtsphilosophie darstellt: RL, VI 237 f. Für ein solches systematisches Unterfangen, s. exemplarisch Höffe 2012, Kap. 14.)
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11.3.3 Fazit So bedeutsam diese und ähnliche Interpretationsfragen für ein angemessenes Verständnis von Kants Moralphilosophie und ihre Nachwirkung auf heutige Debatten auch sein mögen, so brauchen sie doch nicht letztgültig beigelegt zu werden, um die Passagen der Tugendlehre, um die es hier geht – Kants Ausführungen zu den Tugendpflichten aus Achtung –, zu verstehen. Hierfür ist entscheidend, dass Kant die Menschheit, worunter er die vernünftige Natur der Menschen versteht, als eine Würde bezeichnet und damit ihre besondere Bedeutung herausstellt. Diese Würde bringt die normative Forderung mit sich, Menschen – Andere wie sich selbst – immer zugleich auch als Zweck (und niemals bloß als Mittel) zu behandeln. Und diese normative Forderung ist es, die sich in den Tugendpflichten aus Achtung niederschlägt: Anderen die ihnen gebührende Achtung entgegen zu bringen bedeutet, sich ihnen gegenüber auf eine Weise zu verhalten, die ihre Würde nicht verletzt, indem man sie nie als bloße Mittel zu eigenen Zwecken gebraucht.
11.4 Die der Achtung entgegenstehenden Laster Ebenso wie Kant an seine Erörterung der Liebespflichten eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise anschloss, wie gegen sie verstoßen werden kann (vgl. § 36), verfährt er auch hier: Nachdem die Paragraphen 37 bis 40 die Begriffe der Achtung und der Würde zum Thema hatten, widmet sich Kant nun der möglichen Verletzung der Tugendpflichten aus Achtung. Nach zwei systematischen Hinweisen, die Kant im Hinblick auf diese Tugendpflichten noch gibt (Abschn. 11.4.1), wird es im Folgenden um die drei Laster gehen, mit denen sich Kant auseinandersetzt (Abschn. 11.4.2). Da Kant damit seine Darstellung der Tugendpflichten aus Achtung beendet und wir sie somit vollständig vor uns haben, werde ich zum Abschluss noch eine interpretative Frage diskutieren, die sich dem Leser an dieser Stelle womöglich stellt: Denn die Art und Weise, mit der Kant die Tugendpflichten aus Achtung bestimmt, könnten den Eindruck entstehen lassen, dass es sich dabei genauer besehen gar nicht um Tugend-, sondern um Rechtspflichten handelt (Abschn. 11.4.3).
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11.4.1 Zwei systematische Hinweise Bevor er sich den drei Lastern – er nennt sie „Hochmut“, „Afterreden“ und „Verhöhnung“ – zuwendet, gibt Kant im knappen Paragraph 41 noch zwei wichtige systematische Hinweise. Erstens klärt er den Begriff des Lasters, indem er ihn von dem – weniger gravierenden – Begriff der „Untugend“ abgrenzt: Während die Unterlassung von Liebespflichten bloß Untugend darstelle, sei „die Unterlassung der Pflicht, die aus der schuldigen Achtung für jeden Menschen überhaupt hervorgeht“, ein Laster (464; die Frage, wie sich diese Bestimmung des Ausdrucks zu derjenigen aus der „Einleitung zur Tugendlehre“ verhält, wo Kant den Ausdruck „Laster“ als vorsätzliche Pflichtübertretung definiert (390), lässt er gleichwohl offen). Wenn einer Liebespflicht nicht nachgekommen wird, wird dadurch kein Mensch beleidigt oder düpiert. Die Verletzung einer Tugendpflicht aus Achtung wiegt dagegen ungleich schwerer. Denn jeder Mensch hat, wie wir gesehen haben, einen Anspruch darauf, dass ihm die gebührende Achtung entgegengebracht wird. Eine Missachtung der entsprechenden Tugendpflicht käme, so Kant, daher letzten Endes einem Versuch gleich, „den Wert“ des infrage stehenden Menschen aufzuheben (vgl. ebd.). Der zweite Hinweis klärt eine wichtige systematische Frage, die dem aufmerksamen Leser bereits aufgefallen sein mag: Kant hat bislang überhaupt noch nichts darüber gesagt, welchen Inhalt die Tugendpflichten aus Achtung haben – er hat kein einziges Beispiel für eine solche Pflicht genannt. Dies hat, erfahren wir nun, einen systematischen Grund: Die Tugendpflichten aus Achtung können nämlich „nur negativ ausgedrückt“ werden (464); bei ihnen handelt es sich um „eine negative Pflicht“ (467). Diese „indirekte“ Bestimmung ergibt sich aus der Funktion dieser Art von Tugendpflichten: Sie dienen zum Schutz und zur Wahrung der Würde. Auskünfte darüber, wozu die Tugendpflichten aus Achtung positiv verpflichten – welche konkreten Handlungsweisen sie also zur Folge haben –, gehören, so Kant, nicht in den Kontext der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre. Denn sie beruhten auf der „Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen oder ihrer zufälligen Verhältnisse“ (468). Diese Anmerkung verweist bereits auf einen Punkt, den Kant später, im Zweiten Hauptstück, ausführen wird (vgl. unten, Abschn. 11.5).
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11.4.2 Die drei Laster Das erste Laster, dem sich Kant nun zuwendet, ist der „Hochmut“. Kant versteht darunter eine „Ehrbegierde (ambitio), nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen“ (465). Es fällt angesichts dieser Bestimmung nicht schwer zu sehen, warum und inwiefern eine solche Haltung die Achtung, die Anderen gebührt, verletzt: Wenn wir darauf hinwirken, dass andere Menschen sich selbst als weniger wertvoll als uns einschätzen, dann zielen wir unmittelbar darauf ab, dass sie sich selbst (und ggf. auch untereinander) in einem geringeren Maße Achtung entgegenbringen. Kant stellt diesen Punkt deutlich heraus, indem er den Hochmut vom Stolz abgrenzt: Während letzterer „Ehrliebe“ sei und auf die Sorgfalt ziele, „seiner Menschenwürde in Vergleichung mit Anderen nichts zu vergeben“ (465), verlange der Hochmut „von Anderen eine Achtung, die er ihnen doch verweigert“ (ebd.). Und hierin, in dieser Ungleichbehandlung, liegt das entscheidende Moment dieses Lasters und der Grund, warum der Hochmut eine Verletzung der Tugendpflicht aus Achtung darstellt. Anderen die ihnen gebührende Achtung entgegenzubringen erfordert also, sie in grundlegender Weise als Gleichgestellte zu betrachten und zu behandeln; der Achtung wohnt demnach ein – durchaus nicht selbstverständliches – Gleichheitsmoment inne: Ich soll mich nicht über Andere erheben. Das zweite Laster, mit dem sich Kant auseinandersetzt, ist die „üble Nachrede“ bzw. das „Afterreden“. Dieses Laster sei „eine auf keine besondere Absicht angelegte Neigung …, etwas der Achtung für Andere Nachteiliges ins Gerücht zu bringen“ (466). Auch hier ist schnell klar, warum eine solche Neigung eine Verletzung der Achtung mit sich bringt: Denn derartige Gerüchte zielen auf eine Abwertung des Anderen und schmälern dadurch dessen Achtung. Bemerkenswert ist in der dazugehörigen Passage, in der sich Kant über die Verbreitung von „Skandalen“ auslässt, dass er auch die Verbreitung solcher Geschehnisse, die wahr sind, für unvereinbar mit der Tugendpflicht aus Achtung hält. Denn auch deren Verbreitung würde die Ehre eines Anderen absichtlich schmälern, und dabei nicht nur die Achtung verringern, die ihm entgegengebracht wird, sondern auch diejenige „für die Menschheit überhaupt“ (466). Hier tritt eine öffentliche, soziale Dimension der Achtung zutage, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal geht es darum, was man in der Öffentlichkeit verbreiten sollte, und worüber man schweigen sollte. Und zum anderen geht es darum, dass eine Beförderung von Skandalen die Achtung für die Menschheit überhaupt verringert, und daher rundum abzulehnen ist: Ein unterhaltsames Weiden an den Verfehlungen Anderer – mögen es Gerüchte sein oder tatsächliche Fehler – stellt nach Kant eindeutig eine Verletzung der Tugendpflicht aus Achtung dar.
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Das dritte und letzte Laster ist mit der „üblen Nachrede“ eng verbunden: Kant bezeichnet es als „Verhöhnung“, die er als „leichtfertige Tadelsucht“ bestimmt (467). Darunter zählt er auch den Hang, „Andere zum Gelächter bloßzustellen, die Spottsucht, um die Fehler eines Anderen zum unmittelbaren Gegenstande seiner Belustigung zu machen“ (ebd.). Kant unterscheidet diese Spottsucht vom – unproblematischen – Scherz unter Freunden und sagt klar und deutlich: „Wirkliche Fehler …, oder, gleich also ob sie wirklich wären, angedichtete, welche die Person ihrer verdienten Achtung zu berauben abgezweckt sind, dem Gelächter bloßzustellen“ – dieser Hang habe „etwas von teuflischer Freude an sich“ (ebd.). Er ist daher eine umso vehementere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen Andere. Zusammengefasst wird deutlich, dass allen drei Lastern in gewisser Weise derselbe Fehler zugrunde liegt: Diejenigen, die sich ihrer schuldig machen, missachten allesamt die Maxime, sich nicht über Andere zu erheben. Dabei können die drei Laster als eine stete Zuspitzung bzw.Verschlimmerung verstanden werden (vgl. Sensen 2013, 359 f.): Der Hochmütige sieht Andere als niedriger an; derjenige, der üble Nachrede praktiziert, trägt diese Verringerung des Ansehens der Anderen in die Öffentlichkeit; und derjenige, der verhöhnt, hat an dieser öffentlichen Bloßstellung sogar noch seinen Spaß. Erinnert man sich an Kants einleitende Verortung der Achtung als Haltung der Bescheidenheit zwischen zwei Arten von Unbescheidenheit – Eigenliebe und Eigendünkel (vgl. 462; s. a. oben, Abschn. 11.2.2) –, dann wird offenbar, wie diese beiden Arten in allen drei Lastern zusammenspielen: Der Lasterhafte sieht sich als würdiger an, von den Anderen geliebt zu werden, als er es ihnen zugestehen möchte, und versagt gleichermaßen den Anderen die Achtung, die er für sich selbst einfordert.
11.4.3 Die schuldige Pflicht aus Achtung – Tugend- oder Rechtspflicht? Kant beschließt seine Darlegung der drei Laster mit dem erneuten Hinweis darauf, dass es im Begriff der Achtung selbst liege, dass die ihr entsprechenden Tugenden nur negativ bestimmt werden könnten – eben durch die sie verletzenden Laster –, denn das Entgegenbringen der Achtung sei eine „negative Pflicht“ (467). Die Tugendpflichten aus Achtung scheinen sich damit in mehrerer Hinsicht markant von den anderen Tugendpflichten zu unterscheiden: Ihre Übertretung stellt nicht nur Untugend dar, sondern, schwerwiegender, Laster (465, vgl. 390). Es handelt sich bei ihnen um keine „verdienstliche“, sondern um eine „schuldige“ Pflicht (464). Jeder Mensch hat nach Kant einen „gesetzmäßigen Anspruch“ auf
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Achtung (ebd. u. 465) – was bei Liebespflichten nicht der Fall ist. Nicht zuletzt können die Tugendpflichten aus Achtung, wie bereits erwähnt, „nur negativ ausgedrückt“ werden (464), also als Unterlassungspflichten. Es ist diese Beschreibung der Tugendpflicht aus Achtung als einer schuldigen, negativen Pflicht, auf deren Wahrung jeder einen gesetzmäßigen Anspruch hat, die die Rückfrage aufkommen lässt: Sollten diese Pflichten nicht viel eher zu den Rechtspflichten als zu den Tugendpflichten gerechnet werden? Auch Kants Überlegungen zur Auswirkung der Achtung auf das Strafmaß (vgl. 463) scheinen nahezulegen, dass Würde und Achtung direkte rechtsphilosophische Konsequenzen haben können. Wie sind die Pflichten aus Achtung, die Kant in den Paragraphen 37 bis 44 der Tugendlehre diskutiert, also in Kants System der Pflichten einzuordnen? Die genaue Verhältnisbestimmung der verschiedenen Arten der Pflichten, die Kant in der Tugendlehre (und in seiner Moralphilosophie allgemein) unterscheidet, ist, wie hinreichend bekannt sein dürfte, keine einfache Angelegenheit. Für die Tugendlehre wie für das gesamte Projekt der Metaphysik der Sitten ist die grundlegendste Unterscheidung wohl die zwischen Rechts- und Tugendpflichten. Während sich erstere auf äußere Handlungen beziehen und „schuldige“ Pflichten darstellen, befassen sich letztere mit den Maximen der Handlung selbst und sind „verdienstliche“ Pflichten. (Zu dieser Verhältnisbestimmung, s. insb. 388–391 und RL, VI 218–221 u. 239 f.; sowie die Beiträge von Oliver Sensen und Amelie Stuart in diesem Band.) Ohne diese Frage in ihrer letztgültigen Gründlichkeit erörtern zu können, scheint doch naheliegend, dass die Eigenschaften, die die Pflichten aus Achtung in die Nähe von Rechtspflichten rücken – die Bestimmung als negative, geschuldete Pflicht –, sie damit noch nicht zu tatsächlichen Rechtspflichten machen. Der offenkundigste Grund dafür ist die Tatsache, dass Kant sie nicht in der Rechtslehre, sondern in der Tugendlehre verhandelt. Auch die Laster, die Kant in diesem Zusammenhang diskutiert, legen nahe, dass es sich bei den Pflichten aus Achtung um genuine Tugendpflichten handelt: denn bei der gebotenen Unterlassung von Hochmut, übler Nachrede und Verhöhnung geht es um ein soziales Verhalten, das nicht von den Rechtsgeboten abgedeckt wird: Kant verhandelt dort nicht den juristischen Tatbestand der Rufschädigung, sondern eine Haltung des sich-über-Andere-Stellens. (Angesichts dessen liefert Kants Erörterung dieser Laster einen weiteren Grund dafür, eine menschenrechtliche Interpretation der Würde bei Kant mit Vorsicht zu genießen, vgl. oben, Abschn. 11.3.2: denn Kant erwähnt hier, wenn es um die Verstöße gegen die Achtung und damit um eine Missachtung der Würde geht, nichts, was einem Verstoß gegen Menschenrechte gleichkäme.)
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Und nicht zuletzt gibt es trotz der Ähnlichkeiten in der Bestimmung noch einen wesentlichen Aspekt der Tugendpflicht aus Achtung, der sie von den Rechtspflichten unterscheidet und zu einer genuinen Tugendpflicht macht: Die Achtung, die den Anderen gebührt, äußert sich in einer Maxime, die man sich zum Vorsatz machen soll. Rechtspflichten beschränken sich dagegen definitionsgemäß nur auf äußere Handlungen. Die Bestimmung der Tugendpflichten aus Achtung als negative geschuldete Pflichten ist also von Kant wohl eher als als Hinweis darauf zu verstehen, wie bedeutsam diese Tugendpflicht ist. Dessen ungeachtet bleibt Folgendes aber wichtig: Anders als die übrigen Tugendpflichten reichen die Implikationen der Tugendpflichten aus Achtung in den Bereich der Rechtsphilosophie hinein, und zwar in mindestens doppelter Hinsicht: Erstens wohnt der Achtung ein Moment der Wechselseitigkeit inne. Dieses Moment tritt sowohl in der Bestimmung der Achtung als Anspruch und Pflicht zutage („ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung … und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden“; 462), als auch als gemeinsamer „Fehler“ bei den Lastern: In allen Fällen erhebt sich die entsprechende Person dort ungerechtfertigterweise über Andere. Die Tugendpflichten aus Achtung führen damit qua Wechselseitigkeit eine basale Gerechtigkeitsforderung mit sich. Und zweitens zeigen die knappen Ausführungen zu den „entehrenden Strafen“ im Paragraph 39, dass nach Kants Dafürhalten Achtung und Würde, obwohl sie im Kontext der Tugendpflichten erörtert werden, durchaus rechtsphilosophische Konsequenzen haben können: Mit dem für seine Zeit keineswegs unstrittigen Argument, dass ein Mensch seine Würde nicht durch eigene Taten verwirken kann und man somit „selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen“ darf, lehnt Kant eine Reihe von Strafmaßnahmen ab, wie etwa das Vierteilen oder das Abschneiden von Körperteilen, die er als „schimpfliche, die Menschheit selbst entehrende Strafen“ verurteilt (463; für eine ausführliche Untersuchung der strafrechtlichen Implikationen der Würde bei Kant, s. Klemme 2011, bes. Abschn. II.1 u. II.3). Wie sich diese Position Kants gleichwohl zu seiner Befürwortung der Todesstrafe verhält (vgl. hierzu RL, VI 331 ff.), muss hier offen bleiben.
11.5 Das Zweite Hauptstück (§ 45) Der zweite Teil der Elementarlehre der Tugendlehre besteht, wie eingangs gesagt, aus zwei Hauptstücken. Das erste, das die Behandlung der Liebespflichten und der Tugendpflichten aus Achtung zum Inhalt hat, steht unter der Überschrift „Von den Pflichten gegen Andere, bloß als Menschen“ (§§ 23–44). Das zweite Hauptstück ist ungleich kürzer: Es umfasst nur einen einzigen Paragraphen (§ 45) und trägt den
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Titel: „Von den ethischen Pflichten der Menschen gegeneinander in Ansehung ihres Zustandes“. Unter dieser Überschrift fasst Kant diejenigen Tugendpflichten, die in einer „reinen Ethik“, also in einer Untersuchung der„metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre“, wie sie die Schrift unternimmt, keinen eigentlichen Platz haben: Es geht um solche Pflichten, die keine „Prinzipien der Verpflichtung der Menschen als solcher gegeneinander“ enthalten – wie es die Liebespflichten und die Tugendpflichten aus Achtung tun –, sondern nur „modifizierte Regeln“ sind, in denen das Tugendprinzip „nach Verschiedenheit der Subjekte … auf in der Erfahrung vorkommende Fälle“ angewandt wird (468). Eben darin, dass sie bloß kontextabhängige Anwendungen darstellen, liegt für Kant auch der Grund dafür, dass sie „keine gesichert-vollständige Klassifikation zulassen“ (ebd.). Warum, mag man versucht sein zu fragen, verfasst Kant dann überhaupt dieses Zweite Hauptstück, wenn es erstens so kurz ist, und sich zweitens offensichtlich keine einzelnen Tugendpflichten darunter subsumieren lassen? Auch wenn Kant dies nicht eigens benennt, scheint doch ein gewisser Zusammenhang dieses Zweiten Hauptstücks mit der von Kant so genannten „Kasuistik“ zu bestehen. Darunter versteht er die Erörterung von „Fragen, welche die Urteilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei“ (411). Bei diesen Fragen, die er verschiedentlich im Verlauf der Tugendlehre aufwirft und diskutiert, geht es ebenfalls um Fälle, die in der Erfahrung vorkommen oder vorkommen können, und in denen eine Tugendpflicht entsprechend Anwendung findet. Doch nun, im Zweiten Hauptstück, möchte Kant offenbar noch mehr sagen. Und indem er hier die Frage nach der Möglichkeit einer vollständigen Klassifikation aller Tugendpflichten resümiert, tritt dabei doch ein Grund dafür zutage, warum es dieses Zweiten Hauptstücks, trotz seiner Kürze, bedarf: Denn obwohl diese Ausführungen nur knapp zwei Seiten umfassen, dienen sie Kant dazu, zu betonen, dass das Verhalten, dass wir im Alltag gegenüber uns selbst und gegenüber Anderen an den Tag legen, für die ethische Integrität keiner erschöpfenden Auflistung aller Verhaltensweisen in spezifischen Kontexten bedarf: denn es „gibt nicht so vielerlei Arten der ethischen Verpflichtung (denn es ist nur eine, nämlich die Tugend überhaupt), sondern nur Arten der Anwendung“ (469). Diese verschiedenen Arten der Anwendung mögen einem ethischen System angehängt werden, sagt Kant abschließend. Da sie aber nicht mehr a priori aus dem Vernunftbegriff hervorgehen, verlässt ihre Bestimmung gleichwohl den Aufgabenbereich einer Untersuchung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre.
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12 Kant über Freundschaft und Umgangstugenden (§§ 46–48) 12.1 Einleitung Der „Beschluss der Elementarlehre“ besteht aus drei Paragraphen, die gewissermaßen eine separate Einheit bilden. In § 46 wird die Freundschaft in ihrer Reinheit bzw. Vollkommenheit behandelt, eine praktisch notwendige Idee, die in der Wirklichkeit aber kaum erreichbar ist. § 47 erörtert eine Variation derselben, die moralische Freundschaft: In völligem Vertrauen eröffnen sich zwei Personen gegenseitig Urteile und Empfindungen – eine „Freiheit“, die man „im großen Haufen entbehrt“. Hinzugefügt ist § 48 mit dem Titel „Zusatz: Von den Umgangstugenden“: Gesellige Manieren des Verkehrs sind zwar nur „tugendähnlicher Schein“, deren Kultivierung kann aber die Tugend indirekt befördern. Freundschaft, ein in der antiken Philosophie – besonders bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik – bedeutendes Thema, scheint in der neueren Philosophie, und dies exemplarisch bei Kant, ihre Stellung verloren zu haben. Bei Kant wird Freundschaft weder in den drei Kritiken noch in der Grundlegung, sondern in der Tugendlehre, und da bloß als „Beschluss“ der Elementarlehre und nur auf wenigen Seiten behandelt. Der geringe Seitenumfang und der marginale Auftritt des Themas in der Tugendlehre sprechen dafür, dass der Freundschaft in Kants Moralphilosophie keine wichtige Funktion eingeräumt wird. Andererseits spielten, wie wir wissen, Freundschaft und Gesellschaft eine wichtige Rolle in Kants Privatleben. Diesem enzyklopädischen Denker entgeht das Phänomen der Freundschaft nicht. In mehreren Vorlesungsmitschriften finden wir umfangreiche Erläuterungen über dieses Thema (siehe Vorarbeiten, XXVII). Kant betont sogar in seiner Vorlesung, dass dieses Thema schwierig zu entwickeln ist, „da sich diese Idee [der Freundschaft] gleichsam als etwas Übersinnliches und Mysteriöses darstellt“ (Metaphysik der Sitten Vigilantius, XXVII 675).
https://doi.org/10.1515/9783110786958-014
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12.2 Die Freundschaft in ihrer Vollkommenheit (§ 46) 12.2.1 Die Freundschaft als Ideal In der Freundschaft sehen wir exemplarisch, wie kompliziert sich in der Tugendlehre die moralmetaphysischen Faktoren zur Empirie verhalten. Die Freundschaft ist nicht nur eine bloße Verbindung der als Pflicht zu erfüllenden Liebe und Achtung. Sie ist die innigste Verbindung dieser Elemente. In der Freundschaft zählt nicht nur praktische Vernunft, sondern auch Gefühl und Beziehung. Als eine Idealisierung bzw. Maximierung der freundschaftlichen Phänomene hat diese Idee eine phänomenale Wurzel. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre wird die Freundschaft aber nicht als ein zu beschreibendes und zu verstehendes Phänomen, sondern als eine Idee, bzw. ein Ideal eingeführt, und zwar mit der Funktion, die Liebes- und Achtungspflichten in Verbindung zu bringen. Die Freundschaft ist eine „praktisch-notwendige Idee“; nach dieser Idee zu streben, ist „von der Vernunft aufgegeben“ (469). Deren begriffliche Bestimmung lautet: „Freundschaft (in ihrer Vollkommenheit betrachtet) ist die Vereinigung zweier Personen durch gleiche wechselseitige Liebe und Achtung“ (ebd.). Kant fügt direkt danach eine nähere Erläuterung hinzu: „Man sieht leicht, daß sie ein Ideal der Teilnehmung und Mitteilung an dem Wohl eines jeden dieser durch den moralisch guten Willen Vereinigten sei“ (ebd.). Was kann es bedeuten, dass zwei Personen „durch den moralisch guten Willen vereinigt“ sind? Das Wort „durch“ verweist hier auf zweierlei: Erstens darauf, dass der moralisch gute Wille von beiden Personen eine normative Bedingung der Freundschaft darstellt. Zweitens, und noch wichtiger, gilt der moralisch gute Wille für die Freundschaft mehr als äußerliche Beschränkung bzw. Bedingung. Die zwei Personen sind „durch den moralisch guten Willen vereinigt“, und genau in diesem Sinn entsteht eine freundschaftliche „Vereinigung zweier Personen“. Der moralisch gute Wille ist deshalb dasjenige konstitutive Moment, wodurch zwei Personen miteinander verbunden sind. „Vereinigung“, bzw. „vereinigt“, muss nicht als Metapher verstanden werden, in dem Sinn nämlich, dass die zwei Personen „in eine Person … zusammenschmelzen“ (471), bzw. eins werden. Das Wort „Vereinigung“ ist hier wohl in dem wörtlichen Sinn zu nehmen und etwas ähnlich wie „Vereinigung“ in dem folgenden rechtssprachlichen Sinn: Die Vereinigung ist ein Zusammenschluss, bzw. eine Verbindung, von Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks. Bei der Vereini-
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gung in der Freundschaft tritt, so Kant, die Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks jedoch in den Hintergrund. Dass Kant die Freundschaft eine Idee nennt, ist leicht nachzuvollziehen. Denn Freundschaft ist von der Vernunft gefordert und praktisch notwendig. Dass sie auch ein Ideal genannt wird, scheint auf den ersten Blick problematisch. Wie kann Freundschaft eine Idee und zugleich ein einzelnes Wesen sein, das der Idee adäquat darstellt (dies ist die Bedeutung von „Ideal“ bei Kant)? Dieses Problem lässt sich folgenderweise auflösen: Das Ideal gibt nach der Kritik der reinen Vernunft „ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft“ ab, „die des Begriffs von dem, was in seiner Art ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“ (KrV, A 569 f./ B 597 f.). Das Ideal dient der Vernunft zum Richtmaß, so dass daran gemessen werden kann, inwiefern die entsprechenden Phänomene unvollständig sind. Als Ideal ist die Freundschaft etwas Vollkommenes, an ihr gemessen ist ersichtlich, inwiefern die „Teilnehmung und Mitteilung an dem Wohl eines jeden“ (469) noch mangelhaft ist. Die Freundschaft als Ideal ist in mindestens zweierlei Hinsicht ein Vollkommenes, bzw. ein Superlativ: Erstens: Sie ist die innigste Vereinigung der Liebe mit der Achtung. Die Ausdrücke „innigst“ und „Vereinigung“ in dem Freundschaftstext lassen sich im Vergleich zu den §§ 23–24, wo die Notwendigkeit der Verbindung von beiden im Rahmen der Pflicht gegen Andere erörtert wird, als Steigerung verstehen. In § 23 spricht Kant von „akzessorisch“, also hinzutretend: Die Liebe und die Achtung sind als Pflichten aneinander „akzessorisch geknüpft“ (448). Die akzessorische Verknüpfung der Liebe und Achtung miteinander, die wir im alltäglichen Umgang mit Anderen erfüllen sollen wird im Grad eindeutig überboten von der innigsten Verbindung der Liebe und Achtung bei der Freundschaft. Außerdem sind bei der Freundschaft als der„innigsten Vereinigung der Liebe mit der Achtung“ Liebe und Achtung nicht nur als Maximen bzw. Pflicht, sondern auch als Gefühl miteinander verbunden. Zweitens: Sie ist diejenige zwischenmenschliche Verbindung, die vielseitige Elemente in sich vereinigt und die wohl umfassendste menschliche Beziehung darstellt. Nicht nur Maximen und Handlungen sind verpflichtungsfähig, sondern auch „teilnehmende Empfindung ist überhaupt Pflicht“ (456). Liebe und Achtung sind in der vollkommenen Freundschaft sowohl Maximen, als auch Umsetzungen der Maximen, nämlich die Handlungen, zudem aber noch Gefühle. Die drei Dimensionen – Maxime, Handlung und Gefühl – sind in der Freundschaft vereinigt. Außerdem ist in dieser Idee eine konkret aufgebaute Freundschaft mit der allgemeinen Bereitschaft, mit Anderen Freundschaft zu schließen, vereinigt. Eine auf gewisse Individuen beschränkte Freundschaft ohne allgemeine wohlwollende Gesinnung ist parteilich und moralisch mangelhaft. Mit einem jeden Freundschaft zu schließen ist nicht realistisch, aber eine Gesinnung, allgemein Freundschaft zu suchen, ist mo-
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ralisch gefordert. In der Freundschaft ist zudem die Würdigkeit, glücklich zu sein, und das Glück miteinander verbunden. Kants Ausdruck „wenn es [das Ideal der Freundschaft] auch nicht das ganze Glück des Lebens bewirkt“ (469) deutet an, dass die Freundschaft durchaus ein Teil des Glücks ausmachen kann. Freundschaft enthält „Süßigkeit der Empfindung“ (471). Über die Moral hinaus bilden auch soziale und finanzielle Faktoren Bedingungen der Freundschaft. Zwischen dem Beschützer und dem Beschützten kann wohl Wechselliebe, aber keine Freundschaft existieren (473). Mit diesem doppelten Superlativ, innigst und umfassendst, geht es hier nicht mehr nur um die Vollkommenheit der Freundschaft, sondern auch um das zwischenmenschliche Verhältnis in seiner Vollkommenheit, so dass die kantische Freundschaft ein Ideal, bzw. ein Maximum der zwischenmenschlichen Beziehung darstellt. Freundschaft spielt in der Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft keine Rolle. Dies weist darauf hin, dass die Freundschaft nichts zur Erläuterung und Begründung des moralischen Prinzips beitragen kann. Jetzt in der Tugendlehre tritt sie endlich vor, und zwar als „Beschluss“ der ganzen Elementarlehre. Man könnte dies als einen Hinweis auf ihre marginale Stellung auch in dem Pflichtensystem verstehen. Der auf den ersten Blick marginale Stellenwert, nämlich Beschluss der Elementarlehre zu sein, kennzeichnet aber gerade die besondere und signifikante Rolle der Freundschaft in der Tugendlehre: Verschiedene Pflichten gegen Andere integrieren sich endlich zu der Pflicht der Freundschaft und findet hier ihre Vervollkommnung.
12.2.2 Die Begründung der Freundschaftspflicht Um zu begründen, dass die Freundschaft eine Pflicht ist, weist Kant in einem ersten Schritt darauf hin, dass die Aufnahme des freundschaftlichen Ideals in die beiderseitige Gesinnung die Würdigkeit enthalte, glücklich zu sein (469). Kant meint, dass man dies „leicht“ sehen kann. Der zweite Argumentationsschritt lautet: Diese Würdigkeit verweist darauf, dass „Freundschaft unter Menschen eine Pflicht derselben ist“ (ebd.). Der Argumentationsgang sieht wie folgt aus: Freundschaft enthält etwas Wertvolles in sich und auf Grund dieses wertvollen Elements kann die Freundschaft die Würdigkeit, glücklich zu sein, enthalten. Und wenn man zustimmt, dass die Freundschaft die Würdigkeit, glücklich zu sein, enthält, würde man auch anschließend zustimmen, dass sie eine Pflicht ist. Kant geht deshalb einen Umweg, anstatt direkt darzulegen, warum die Freundschaft eine Pflicht bzw. eine praktischnotwendige Idee ist.
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Das Element der Freundschaft, das die Würdigkeit, glücklich zu sein, ausmacht, formuliert Kant deutlich: Es ist die Aufnahme des freundschaftlichen Ideals in die beiderseitige Gesinnung. Dass ein Ideal in die Gesinnung aufgenommen wird, impliziert, dass nicht die Empfindung der Lust und Unlust, sondern die Vernunft den Willen bestimmt. Die Frage bleibt aber immer noch: Warum ist die Freundschaft eine praktisch notwendige Idee, bzw. warum hat die Vernunft uns diese Idee aufgegeben, so dass wir diese Idee bzw. dieses Ideal in die Gesinnung aufnehmen müssen? Meines Erachtens nimmt die praktische Vernunft in dreierlei Hinsicht ein Interesse an der Freundschaft und fordert uns deshalb, diese Idee in die Gesinnung aufzunehmen. (1) Die Freundschaft ist die Vereinigung der zwei Personen, und zwar eine Vereinigung „durch den moralisch guten Willen“. Es interessiert die Vernunft, nach einer Form der menschlichen Verbindung zu suchen, die auf dem moralisch guten Willen beruht. (2) In der Freundschaft verbindet sich Liebe und Achtung. Liebes- und Achtungspflichten sind aber die beiden Bestandteile der „Pflicht gegen Andere“. Es bestehen Gründe, die beiden Pflichten in eins zu bringen. (3) Die Freundschaft ist mehrfache Verbindung von Elementen, die sich eigentlich entgegenstehen: das Glück und die Würdigkeit, glücklich zu sein, die Maxime und das Gefühl, die Liebe und die Achtung. Die Vernunft hat ein Interesse daran, nach der Integration solcher entgegenstehenden Elemente zu suchen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die genannte zweite Hinsicht.
12.2.3 Die Verbindung der Liebe mit der Achtung Die Notwendigkeit, Liebe und Achtung miteinander zu verbinden, ist der systematische Anfangspunkt der kantischen Freundschaftslehre. Die Erläuterung dazu findet sich schon am Anfang des zweiten Hauptstücks der Tugendlehre (§§ 23–25). Die Dynamik, die sich zwischen Liebe und Achtung entwickeln, und der Konflikt zwischen beiden, der sich aus dieser Dynamik entstehen könnte, werden aber wieder im Freundschaftstext (§§ 46–47) bekräftigend dargestellt. Liebes- und Achtungspflicht sind beide keine neuen Themen, die erst in der Tugendlehre zur Sprache kommen. Neu ist in der Tugendlehre das Nebeneinanderstehen der beiden Pflichten: Die beiden werden als Anziehungs- und Abstoßungskraft in der moralischen Welt (in § 24) gekennzeichnet und somit als parallele Bestandteile der Pflichten gegen Andere bestimmt. So begegnen wir dem Problem: Ist diese Begriffsparallelisierung zufällig? Wenn nicht, worin besteht der Grund dafür? Mit dieser Parallelisierung ist die Dichotomie der Pflichten gegen Andere in schuldige und verdienstliche Pflichten verbunden. Verdienstlichkeit und Schuldig-
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keit stehen von der Bedeutung her symmetrisch, so erhalten Liebes- und Achtungspflicht in der Pflichtenstruktur auch symmetrische Positionen. Wohltätigkeit ist verdienstlich, weil sie über die schuldige Pflicht der Achtung hinausreicht. Trotzdem wird Wohltätigkeit von der praktischen Vernunft als notwendig, und genauer als unvollkommene Pflicht, gefordert. Dieses über das Schuldige hinausgehende Notwendige, wurde von Kant in der Grundlegung als „positive Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst“ (Grundlegung, IV 430) bestimmt, im Gegensatz zu der bloßen Achtung als negativer Übereinstimmung. Die eventuelle Spannung zwischen Liebe und Achtung kann mit folgendem Beispiel anschaulich gemacht werden: Eine Wohltat gegenüber einem Armen, welche eine Erfüllung der Liebespflicht ist, kann die Erniedrigung des Empfängers zur Folge haben, „weil diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meiner Großmut enthält“ (448 f.). Der gleiche Sachverhalt, nämlich die durch Wohltat entstandene Ungleichheit, wird wieder im Freundschaftstext (471 u. 473) behandelt. Intuitiv ist diese durch Wohltat entstandene Ungleichheit leicht nachzuvollziehen. Sie begrifflich festzuhalten und zu erläutern ist jedoch schwierig. Ist diese Erniedrigung und Demütigung das, was man fühlt, und somit etwas bloß Subjektives? Oder ist diese durch Wohltat entstandene Ungleichheit eine tatsächliche Ungleichheit und etwas Objektives? Die Notwendigkeit, Liebe und Achtung miteinander zu verbinden, hat für die Freundschaft eine doppelte Bedeutung: Erstens besteht die Idee der Freundschaft gerade in der Verbindung der Liebe und Achtung miteinander; und zweitens resultiert der Umstand, dass die Freundschaft so seltsam wie kaum mehr möglich ist, unter Anderem aus der Spannung zwischen Liebe und Achtung.
12.3 Moralische Freundschaft (§ 47) Nachdem Kant die Notwendigkeit und die Schwierigkeit der Freundschaft erläutert hat, entfaltet er in § 47 seinen Gedankengang zur moralischen Freundschaft. Sie ist keine Unterart der Freundschaft, sondern erfährt eine eigene begriffliche Bestimmung: Statt der Verbindung der Liebe mit Achtung ist jetzt „das völlige Vertrauen“ das Stichwort, und zwar Vertrauen in „wechselseitiger Eröffnung“ der „geheimen Urteile und Empfindungen, soweit sie mit beiderseitiger Achtung bestehen kann“ (471). Die betreffende Freundschaft heißt „moralisch“, nicht weil hier die moralische Gesinnung besonders hervorragt, als ob es außer der moralischen Freundschaft auch noch unmoralische oder pragmatische Freundschaft gäbe, sondern „zum Unterschied von der ästhetischen“ (ebd.).
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Was an der moralischen Freundschaft im Vergleich zur Idee der Freundschaft überhaupt fehlt, ist die Liebe im Sinne der teilnehmenden Empfindung und die innigste Vereinigung der beiden Personen. Was bei der moralischen Freundschaft hervortritt, ist die sprachliche Mitteilung der Empfindung und vor allem die der Gedanken. Kant argumentiert nicht, dass die moralische Freundschaft eine Pflicht sei. Stattdessen wird sie als ein Phänomen behandelt, Kant beschreibt und erklärt es. Anders als die „Freundschaft in ihrer Reinigkeit oder Vollständigkeit“, die obwohl „das Steckenpferd der Romanschreiber“ ist, sich tatsächlich aber nirgendwo in der Welt finden lässt, existiert die moralische Freundschaft in ihrer Vollkommenheit wie der „schwarze Schwan“ „wirklich hin und wieder“ (472). Kants Erörterung fängt mit derjenigen Wesensbestimmung des Menschen an, die sich empirisch wohl teilweise, aber nicht vollständig überprüfen lässt: „Der Mensch ist ein für die Gesellschaft bestimmtes (obzwar doch auch ungeselliges) Wesen“. Eine Artikulation dieser gesellschaftlichen Natur des Menschen besteht darin, dass man „in der Kultur des gesellschaftlichen Zustandes mächtig das Bedürfnis fühlt, sich Anderen zu eröffnen (selbst ohne etwas dabei zu beabsichtigen)“ (471). Die moralische Freundschaft erfüllt eben das Bedürfnis, sich Anderen zu eröffnen. In der Kantforschung wird diskutiert, warum hier das Sich-Eröffnen so wichtig ist (s. Veltman 2004; Baron 2013, 371 ff.). Sich-Eröffnen kann mit dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft und somit mit der „Aufklärung“ zu tun haben. Um der Aufklärung willen braucht man die Freiheit, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (Aufklärung, VIII 36). Der genannte öffentliche Gebrauch der Vernunft ist jedoch anders als der Kontext in der Tugendlehre, wo es um die Mitteilung der eventuell geheimen Gedanken und Empfindung geht, und zwar um Mitteilung mit der vertrauten Person. Gemeinsam ist aber, dass der Austausch der Ansichten die Möglichkeit eröffnet, die eigenen Urteile zu präzisieren und eventuell auch zu korrigieren. Der Vorteil, den der genannte Austausch hervorbringt, wird in diesem Paragraphen jedoch nicht differenziert dargestellt. Kants Ausführung läuft vielmehr darauf hinaus, dass es hier um ein Bedürfnis geht, das von der menschlichen Natur stammt. Es kann sogar sein, dass man dieses Bedürfnis empfindet, „selbst ohne etwas dabei zu beabsichtigen“ (471). Findet einer jemandem, mit dem er sich ohne Vorbehalt austauschen kann, „so kann er seinen Gedanken Luft machen; er ist mit seinen Gedanken nicht völlig allein wie im Gefängnis, und genießt eine Freiheit, die er in dem großen Haufen entbehrt“ (472). Die Ausdrücke, die Kant hier verwendet, weisen darauf hin, dass er empirische Sachverhalte beschreibt. Solche Sachverhalte können durchaus intelligible Gründe haben. Zum Beispiel kann das Bedürfnis, sich Anderen zu eröffnen, mit dem Wesen
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des Verstandes und der Vernunft zusammenhängen. Kant entwickelt dies aber nicht von der Perspektive der praktischen Notwendigkeit her. Man kann fragen, was für einen Platz diese empirische Beobachtung in einer Schrift über die „metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre“ haben kann. Gehört sie zum System der Metaphysik der Sitten? Die Antwort lautet: „Nein“. Der Stellenwert der moralischen Freundschaft ist nur ein Anhang zur Ausführung der Freundschaft, wobei letztere als praktisch notwendige Idee aber zum System der Metaphysik der Sitten gehört. Weil die moralische Freundschaft mit dem Thema der Freundschaft sachlich verwandt ist, findet sie in diesem „Beschluss der Elementarlehre“ einen Platz.
12.4 Zusatz. Von den Umgangstugenden (§ 48) Der einsiedlerische Lebenswandel, eine selbst gewählte Einsamkeit, wird in § 48, „Zusatz. Von den Umgangstugenden (virtutes Homileticae)“ als moralisch unakzeptabel beurteilt. Unter Menschen „Verkehr zu treiben“, „sich nicht zu isolieren“ sei „Pflicht sowohl gegen sich selbst als auch gegen Andere“ (473), dies aber unter der Bedingung, dass man diesen Verkehr „mit seinen sittlichen Vollkommenheiten“ pflege. Hierbei verwendet Kant eine Metapher, die auf den ersten Blick absurd scheint, die den Sachverhalt aber gut darstellt. Mein Leben, meine Welt sei wie ein Kreis, dessen „unbeweglicher Mittelpunkt“, von dem aus alle meine Grundsätze quellen, das Ich selbst ist. Dieser Kreis ist aber zugleich ein Teil von einem „allbefassenden“ Kreis, „der weltbürgerlichen Gesinnung“ (473). Was Kant mit diesem „allbefassenden“ Kreis meint, ist wohl die Gesamtheit der moralischen Welt, in der alle vernünftigen Wesen als Mitbürger jeweils einen Teil ausmachen; durch die „weltbürgerliche Gesinnung“, die von allen Mitbürgern geteilt wird, wird die moralische Welt zu einem integrierten Ganzen. In dieser Metapher kann ich selbst der unbewegliche Mittelpunkt meiner Grundsätze sein in dem Sinn, dass ich auf meinen eigenen moralischen Einsichten und Maximen beharre und mich nicht durch die Gesellschaft oder die Anderen beirren lasse. Ich schließe mich selbst aber nicht in diesen Kreis ein, sehe mich stattdessen als einem größeren gemeinsamen Wesen zugehörig an. Die Einstellung der Offenheit, bzw. die weltbürgerliche Gesinnung, kann als Pflicht facettenreiche Artikulationen haben. In dem hiesigen umgangstugendlichen Zusammenhang bezieht sie sich nicht auf die Eröffnung der eigenen Gedanken, bzw. eine verallgemeinerbare Denkweise, sondern auf die „Verträglichkeit“, auf die „Leutseligkeit und Wohlanständigkeit“ usw., welche an sich noch nicht Tugenden im echten Sinn genannt werden können, weil sie etwas Äußerliches sind und bloß das
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Benehmen, aber noch nicht die Gesinnung unmittelbar betreffen. Nach Kant sind sie „Außenwerke oder Beiwerke (parerga), welche einen schönen, tugendähnlichen Schein geben“ (473). Die im Alltag positiv eingeschätzten Eigenschaften wie „Zugänglichkeit“, „Gesprächigkeit“, „Höflichkeit“, „Gelindigkeit“, sind insgesamt „bloße Manieren des Verkehrs“ (473 f.). Sie stehen zwar wesentlich niedriger als die Tugenden, indem sie immer noch der Ebene der „Zivilisierung“ angehören, sie können aber unser „Tugendgefühl“ befördern, wenn wir bestrebt sind, „diesen Schein der Wahrheit so nahe wie möglich zu bringen“ (473). Der Leser mag sich die Frage stellen, was die hier genannte „Wahrheit“ sein kann, die sich dem Schein, d. h. den geselligen Manieren des Verkehrs, entgegenstellt und zugleich das ist, was man über den Schein hinaus erlangen soll. Ähnlich lässt sich fragen: Was können „Umgangstugenden“ sein, wenn Verträglichkeit und Höflichkeit usw. als bloße Manieren nur „tugendähnlichen Schein geben“? Der Titel dieses Paragraphen kündigt doch an, dass die Umgangstugenden das hier zu behandelnde Thema sind. Die Antwort kann meines Erachtens folgendermaßen lauten: die oben genannte weltbürgerliche Gesinnung bildet die Grundlage für die Umgangstugenden; mit dieser Gesinnung als Grundlage ist die Verträglichkeit, Höflichkeit usw. nicht mehr bloßer Schein, sondern Erscheinung der Wahrheit. Zugleich ist hervorzuheben: Die Information, die Kant uns in diesem Paragraphen hauptsächlich übermitteln will, ist, dass die Tugend, bzw. Gesinnung alleine nicht ausreicht, sondern „der Tugend die Grazien beizugesellen“ sind. Die Verträglichkeit, die Leutseligkeit und Wohlanständigkeit zu kultivieren ist selbst auch Tugendpflicht. Zweierlei Gründe kann man dafür in Kants Text finden: Erstens können solche Manieren mein eigenes Tugendgefühl befördern, wenn ich ihnen eine weltbürgerliche Gesinnung zum Grund lege; zweitens können die oben genannten Manieren eine Verbindlichkeit mit sich führen, hier aber wohl nicht die moralische, sondern eine lockere, die Umgangsform betreffende Verbindlichkeit. Diese Manieren können nämlich die Anderen auf gleichartiges Benehmen verbinden (473 f.), so dass auch die Anderen dadurch in ihrem Tugendgefühl befördert werden. Diese zweierlei Gründe können „zur Tugendgesinnung hinwirken“ (474).
12.5 Der kosmopolitische Charakter der Kantischen Freundschafts- und Umgangslehre Grob gesprochen sind der Kosmopolitismus und die Hervorhebung der Achtung die Charakteristiken der Kantischen Freundschaftslehre. Kants Auffassung der
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Freundschaft steht in der Konstellation einer Reihe Begriffe, auf welche in § 46–48 der Tugendlehre bloß eilig hingewiesen wird. Einen eingehenden Blick auf diese Konstellation machen die Vorlesungsmitschriften möglich, vor allem die von Vigilantius (XXVII). Dort bildet die Diskussion der Philanthropie, Kultur der Menschheit, Misanthropie, Kosmopolitismus, Patriotismus etc. den Kontext und die Vorbereitung für eine Analyse der Freundschaft. Das Zentrum dieser Konstellation ist der Kosmopolitismus. Im Rahmen dieses Beitrags beschränke ich mich auf die kosmopolitischen Elemente, die sich in der Tugendlehre bezüglich der Freundschaft und der Umgangstugenden finden lassen. Ein erstes kosmopolitisches Element besteht darin, dass bei Kant das allgemeine Wohlwollen gegen Andere als Pflicht und die Pflicht der Freundschaft koexistieren. Freundschaft darf nicht die Bereitschaft, den Anderen wohlzutun, auch wenn sie mir fremd sind, verdrängen. Freundschaft im kantischen Sinn ist eine Beziehung, die mit der kosmopolitischen Gesinnung zusammen besteht und die Parteilichkeit sowie die Beschränktheit der Denkweise überwindet. Ein zweites kosmopolitisches Element liegt in dem Bewusstsein der gemeinsamen Abstammung, der ich und alle anderen Vernunftwesen teilhaftig sind und von der aus ich selbst und alle Vernunftwesen als Brüder unter einem allgemeinen Vater anzusehen sind. Kant entwickelt diese Vorstellung im Rahmen des Begriffs des „Freundes des Menschen“ (472): Erniedrigung und Hochmut können sich aus Wohltaten ergeben. Um aber die Selbstachtung zu bewahren, damit eine weder hochmütige noch erniedrigte Selbstschätzung möglich ist, muss diese Erniedrigung eine Korrektur erfahren. Die „Idee der Gleichheit“, nämlich dass alle Menschen „gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der Aller Glückseligkeit will“ anzusehen seien (473), ist das begriffliche Mittel zu dieser Korrektur.Von dieser Idee ausgehend würde man sich selbst „verpflichtet zu werden“ finden, „indem man Andere durch Wohlthun verpflichtet“ (ebd.). Dieses Selbstbewusstsein der allgemeinen Brüderlichkeit und die darauf basierende Gleichheitsidee bedeutet etwas mehr als die bloße wohltätige Gesinnung. Im letzteren Fall geht es um ein Subjekt, das sowohl ein Mitglied der Gesetzgebung im Reich der Zwecke als auch dessen Untertan ist, im ersteren Fall handelt es sich aber um ein Subjekt, das seiner Verwandtschaft mit allen anderen vernünftigen Wesen bewusst ist. (Zu der eventuellen theologischen Relevanz dieser Metapher, s. Rel., VI 102, wo von einer „Hausgenossenschaft (Familie) unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater“ und Jesus als dem heiligen Sohn gesprochen wird.) Ein drittes kosmopolitisches Element findet sich in Kants Erörterung der Umgangstugenden: Ich soll den um mich selbst gezogenen Kreis, dessen Mittelpunkt (das Prinzip meiner Grundsätze) ich ausmache, zugleich als ein „Teil von einem allbefassenden der weltbürgerlichen Gesinnung“ ansehen (473). Die weltbürgerli-
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che Gesinnung bedeutet hier die Bereitschaft, mit meiner eigenen Moralität Verkehr mit Menschen zu treiben und mich nicht zu isolieren.
12.6 Schluss Die Freundschaft ist bei Kant im Vergleich zur Behandlung bei Aristoteles idealisiert und im Hinblick auf begriffliche Extension enger geworden, so dass zum Beispiel die Rede von der bürgerlichen Freundschaft oder der Freundschaft zwischen Eltern und Kinder nicht mehr möglich ist. Zudem, wegen der Veränderung des Diskussionsrahmens, kann die Freundschaft bei Kant auch nicht mehr wie bei Aristoteles als Ergänzung und Überbietung der Gerechtigkeit gelten. Interessanterweise ist Kants Freundschaftslehre aber auch nicht als ein Gegenmodell zu Aristoteles zu verstehen. In Kants Behandlung finden sich stattdessen Spuren der aristotelischen Erörterung der Arten der Freundschaft. In der gegenwärtigen Debatte wird Kant immer noch oft dafür kritisiert, dass seine Moraltheorie, die von der formalen Seite der Gesetzlichkeit der Moral ausgeht, mit den intimen zwischenmenschlichen Verhältnissen wie der Freundschaft nicht zurechtkommen kann. Die genannten Kritiken richten sich gegen die Makrostruktur der kantischen Moralphilosophie und berücksichtigen dabei merkwürdigerweise die Freundschaftslehre von Kant selbst kaum. Eine Interpretation der kantischen Freundschaftslehre kann deshalb nicht nur eine Bedeutung für das Verständnis der Freundschaft haben, sie kann auch zu einer fairen Beurteilung von Kants Moralphilosophie als Ganzer beitragen.
Literatur Baron, M. W. 2002: Love and Respect in the Doctrine of Virtue, in: M. Timmons (Hrsg.), Kant’s Metaphysics of Morals, Oxford, 391–407. Baron, M. W. 2013: Friendship, Duties Regarding Specific Conditions of Persons, and the Virtues of Social Intercourse (TL 6:468–474), in: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s Tugendlehre. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston, 365–382. Fasching, M. 1998: Zum Begriff der Freundschaft bei Aristoteles und Kant. Würzburg. Marcucci, S. 1999: Moral Friendship in Kant, in: Kant-Studien 90, 434–441. Veltman, A. 2004: Aristotle and Kant on Self-Disclosure in Friendship, in: The Journal of Value Inquiry 38, 225–239.
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13 Wie Tugend gelernt und eingeübt werden kann (§§ 49–53) 13.1 Elementarlehre und Methodenlehre Die Unterscheidung von Elementarlehre und Methodenlehre führt Kant in seinen Veröffentlichungen erstmals in der Kritik der reinen Vernunft ein, als eine Unterschneidung, die aus der (von ihm als allgemeine bezeichneten) formalen Logik übernommen sei (KrV, B 29, B 77 ff.), deren Kern traditionell die Lehre von Begriff, Urteil und Schluss bildet. Die Unterscheidung der Logik in Elementar- und Methodenlehre scheint eine Neuerung Kants zu sein. Im Gegensatz zu den nachkantischen Logiken im 19. Jahrhundert, in denen sich diese Unterscheidung weitgehend durchgesetzt hat, findet sich diese Einteilung in den Logiken vor Kant – die allerdings meist Vernunft- oder auch Denklehre genannt werden – nicht. Wie die Bezeichnung Vernunft- oder Denklehre schon anzeigt, ist ihr Inhalt auch nicht bloß die formale Logik, sondern eine Erkenntnislehre insgemein. In der Logik der Wolffschen Schule unterscheidet man – wenn auch nicht immer terminologisch – zwischen einer theoretischen und einer praktischen Logik. Letztere heißt manchmal auch angewandte Logik. Deren Aufgabe ist zu zeigen, wie die Logik dazu dienen kann, die Wahrheit zu finden, zu prüfen und anderen mitzuteilen, aber auch die Art sie zu lehren und zu lernen. Diese Einteilung findet sich sowohl bei Wolff und den Vertretern der Wolffschen Schule, wie außerhalb dieser Schule, z. B. bei Christian Thomasius, Lambert, Reimarus oder Crusius (Die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Logik in der Wolffschen Schule ist sehr bündig aufgearbeitet bei Elfriede Conrad 1994, 77–86). Eine der Kantischen Logik viel nähere Einteilung findet sich dagegen in älteren Logiken, etwa der von Pierre Gassendi, (Institutio Logica, postum als der erste Teil seiner Syntagma philosophicum, veröffentlicht in: Opera omnia, Tom. 1, 1658) oder der sog Logik von Port-Royal (unter diesem Namen wurde die von Antoine Arnauld und Pierre Nicole erstmals 1662 anonym herausgegebene Schrift La logique, ou l’art de penser bekannt). Beide enthalten je einen Teil zu Begriff, Urteil und Schluss wie einen zur Methode. Kant selbst ist sich seiner Neuerung durchaus bewusst. In seinen, von Jaeschke redigieren Vorlesungen lehnt er die Einteilung der Logik in theoretische und praktische als contradictio in adjecto ausdrücklich ab. Weil die allgemeine Logik von allen Objekten abstrahiere, könne sie keinen praktischen Teil haben, „weil eine praktische Logik die Kenntnis einer Art von Gegenständen, worauf sie angewandt https://doi.org/10.1515/9783110786958-015
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wird, voraussetzt“. Kants Verständnis der Logik als rein formaler Wissenschaft läßt darum keinen praktischen Teil der Logik zu, „als praktisch“ betrachtet könne sie daher bloß „eine Technik der Gelehrsamkeit überhaupt“ sein (Logik, IX 17 f.). Daraus leitet Kant nun seine neue Gliederung ab: „Dieser Einteilung zufolge würde also die Logik einen dogmatischen und einen technischen Teil haben. Der erste würde die Elementarlehre, der andere die Methodenlehre heißen können“ (Logik, IX 18 ff.). Im Einleitungsabschnitt zur Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft heißt es dann weiter, sie solle „dasjenige in transszendentaler Absicht leisten, was unter dem Namen einer praktischen Logik in Ansehung des Gebrauchs des Verstandes überhaupt in den Schulen gesucht, aber schlecht geleistet wird“. Wiederum begründet Kant diesen Tadel mit seinem Logikverständnis, dass die allgemeine Logik von allen bestimmten Gegenständen abstrahiert und darum nichts anderes tun kann, als „technische Ausdrücke“ vorzutragen, „deren man sich in allen Wissenschaften zur Erlangung eines Systems bedienen kann“ (KrV, A 708/ B 736). Die Methodenlehre leistet nach Kant also keine Anwendung auf spezielle Gegenstände, sondern eine Technik der Anwendung auf alle möglichen Gegenstände. Sie bleibt also eine formale, von den spezifischen Eigenschaften der Gegenstände abstrahierende Wissenschaft (zur Herausarbeitung dieses Gliederungspaars von Elementar- und Methodenlehre in Kants Logikvorlesungen, vgl. Conrad 1994, 86–100). Den spezifischen Beitrag der Methodenlehre, wie den Unterschied von Elementar- und Methodenlehre erläutert Kant in der Kritik der reinen Vernunft erstmals in der Einleitung zur transzendentalen Methodenlehre. Er verstehe darunter „die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft“ (KrV, A 708/ B 736). Kant erläutert dies anhand des Beispiels von einem Bauwerk, zu dem die Elementarlehre das Bauzeug liefere, wohingegen die Methodenlehre unter den Bedingungen der in der Elementarlehre aufgezeigten Beschränkungen unseres Erkenntnisvermögens den Plan zu einem Gebäude entwerfe. Die transzendentalen Methodenlehre teilt Kant in vier Abschnitte, Disziplin, Kanon, Architektonik und Geschichte der reinen Vernunft. Die Disziplin soll einen „Zwang“ bewirken, „wodurch der beständige Hang von gewissen Regeln abzuweichen eingeschränkt, und endlich vertilget wird“ (KrV, A 709/ B 737). Sie soll mithin eine Einstellung bewirken, die die Anmaßung verhindert, durch theoretische Spekulation den Vernunftideen Realität zu schaffen. Der Kanon hingegen soll ausmessen, welchen positiven Gebrauch die Vernunftideen haben können, ob ihre Realität – auch wenn sie theoretisch nicht erkannt noch bewiesen werden kann – doch in praktischer Rücksicht angenommen werden kann (KrV, A 796/ B 824). Erst die Architektonik soll „die systematische Einheit“ hervorbringen, „die gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft“ und „aus einem bloßen Aggregat derselben
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ein System“ macht (KrV, A 832/ B 860). Konkret geht es um den systematischen Aufbau der Philosophie aus einer Idee, nach der ihre Teile zu einem Ganzen verbunden werden. Schließlich soll in der Geschichte der reinen Vernunft die Geschichte der Philosophie gemäß einer Idee geordnet werden. Kant hat die Unterscheidung von Elementarlehre und Methodenlehre dann in allen drei Kritiken übernommen, in der Kritik der Urteilskraft allerdings nur für die teleologische Urteilskraft. Sie findet sich außerdem in der Logik, wie ebnen in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre (nicht aber in der Rechtslehre). Die Methodenlehre der praktischen Vernunft kann man zufolge der Einführung in diesen Teil nicht wie in der theoretischen Vernunft als ein Verfahren zur wissenschaftlichen Erkenntnis verstehen, „nach Prinzipien der Vernunft“ „das Mannigfaltige einer Erkenntnis“ zu einem „System“ zu verbinden. Sie ist vielmehr die Art, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüt, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die objektiv praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne“ (KpV,V 151). Die Methodenlehre der praktischen Vernunft ist mithin die Art, wie man für Moral sensibel macht, sie ist keine Methode zur Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnis, etwa über die moralischen Pflichten bzw. eines Systems derselben, denn dies war schon Thema der Elementarlehre, sondern eine Technik, die vernunftgemäßen Anlagen des Menschen zu aktivieren. Die Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft behandelt zwei Aspekte, sie begründet einerseits, dass der Mensch – ja selbst ein zehnjähriges Kind, so ihm das Beispiel eines sittlichen Mannes vorgeführt wird – qua Vernunftwesen eine Achtung für das Gesetz und zugleich „Achtung für uns selbst im Bewusstsein unserer Freiheit“ (KpV, V 161) empfindet. Andererseits begründet die Methodenlehre, dass dieses Gefühl kultiviert werden kann, weshalb eine ethische Erziehung möglich ist. Allen Methodenlehren ist mithin der Anspruch gemein, 1.) ein Verfahren bereitzustellen, um ein System der Vernunft zustande zu bringen, einen „Zusammenhang … aus einem Prinzip“ zu bewirken (KrV, A 645/ B 673; vgl. A 832/B 860; Logik, IX 139). Sie ist systematisch, nicht rhapsodisch, sie bewirkt ein System, kein Aggregat. Sie liefert 2.) eine Technik, die subjektiven Seelenvermögen zu disziplinieren und zu kultivieren, eine „Methode der Gründung und Kultur echter moralischer Gesinnungen“ (KpV, V 153). Als solche ist sie lehrbar und lernbar (an einen Lehrling adressiert, wie Kant mehrfach erwähnt; vgl. KrV, A 709/ B 737; A 837/ B 865; KpV, V 161; TL, VI 376, 478, 480, 484).
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13.2 Wozu eine ethische Methodenlehre? Ähnlich der Kritik der praktischen Vernunft und mit ähnlichen Intentionen hat auch die Tugendlehre eine eigene, die ethische Methodenlehre. Sie gliedert sich in zwei Abschnitte, die ethische Didaktik (§ 49–52) und die ethische Asketik (§ 53). Ihnen folgt ein Schlussabschnitt (Beschluß) zum Verhältnis der Moralphilosophie zur Religionslehre (486 ff.). Auf die Didaktik wie auf den Beschluß folgt je eine längere Anmerkung, in der ersten entwickelt Kant das Bruchstück eines moralischen Katechismus als ein Exempel, wie Moral gelehrt werden müsse (480 ff.). Diese Gliederung scheint für Kant erst sehr spät festzustehen. Eine erste Einteilung hatte Kant in einem Schema in dem Abschnitt Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt am Ende der Einleitung in die Rechtslehre gegeben. Nach diesem Schema gliedert sich die Moral insgesamt in Elementarlehre und Methodenlehre, erstere zerfällt in die Rechtspflichten und die Tugendpflichten, letztere in Didaktik und Asketik (RL, VI 242). Die Methodenlehre würde also sowohl für die Rechtslehre wie die Tugendlehre von Bedeutung sein. Tatsächlich hat Kant die Einteilung von Elementarlehre und Methodenlehre dann nur für die Tugendlehre als besonderen Teil der Metaphysik der Sitten übernommen. Begründet wird das Fehlen einer Methodenlehre in der Rechtslehre damit, dass diese es mit strengen, die Tugendlehre aber mit weiten Pflichten zu tun habe, weswegen die Rechtslehre (darin der Mathematik vergleichbar) keine Methodenlehre bedürfe. Hingegen bedürfe die Ethik einer Übung der Urteilskraft „wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei“. Allerdings führt dies dann zunächst zu einer „Kasuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß“, die aber auch in der Tugendlehre nicht Teil der Methodenlehre ist und auch keinen eigentlichen Teil der Elementarlehre bildet, als Kant einzelnen Pflichten „Kasuistische Fragen“ hat folgen lassen. Von ihr wird darum auch behauptet, sie sei „weder eine Wissenschaft, noch ein Teil derselben“, denn als Wissenschaft wäre sie dogmatisch, zudem systematisch, beides Eigenschaften, die der Kasuistik nach Kant abgehen, weil sie keine Dogmatik, sondern „fragmentarisch …, nicht systematisch“ ist, wohl aber der Methodenlehre zukommen (den systematischen Charakter der Methodenlehre betont Kant dann nochmals im § 50). Die Kasuistik ist also keine Wissenschaft, sondern „in sie verwebt, nur gleich den Scholien zum System hinzu getan“ (alle Zitate: 411), also als Anmerkungen zu einzelnen Teilen des Systems hinzugefügt und kein systematischer Teil. Die Kasuistik und die Übung der Urteilskraft ist daher, anders als Bernd Dörflinger (2013, 383–385) in seinem Kommentar zur Methodenlehre ausführt, gerade nicht Gegenstand der Methodenlehre. „[N]icht sowohl die Urteilskraft, als vielmehr die Vernunft und zwar in der Theorie seiner Pflichten sowohl als in der Praxis zu üben“, fährt Kant dann fort,
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gehöre zum Gegenstand der „Ethik als Methodenlehre der moralisch-praktischen Vernunft“. Sie ist, erläutert Kant dann weiter, so etwas wie das theoretische Erlernen und praktische Einüben moralischer Pflichten bzw. der Kultivierung des Tugendvermögens (411 f.). Am Ende dieses Abschnittes gibt Kant dann erneut zwei Einteilungsschemata, diesmal allein für die Tugendlehre, wovon die letzte diese in die ethische Elementarlehre und die ethische Methodenlehre teilt, letztere wiederum in Didaktik und Asketik [korrigiert nach der zweiten Auflage]. Der erste Paragraph der ethischen Didaktik (§ 49) begründet erneut die Notwendigkeit einer ethischen Methodenlehre wie deren Einteilung in Didaktik und Asketik. Die Tugendlehre bedarf nach diesen Ausführungen einer Methodenlehre, weil die „Tugend erworben werden müsse (nicht angeboren sei)“. Tugend ist Überwindung der Neigungen durch die Vernunft allein aufgrund des Sittengesetzes. Da der Mensch ein von sinnlichen Neigungen und Vernunft bestimmtes Wesen, durch erste äußerlich, also heteronom, durch letztere durch sich und darum durch Freiheit bestimmt ist, muss die Beherrschung der Neigungen durch Vernunft gelernt und eingeübt werden. „Tugend“, so Kant unter Berufung auf die Stoiker„könne nicht durch bloße Vorstellung der Pflicht, durch Ermahnungen … gelehrt, sondern sie müsse durch Versuche der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen (asketisch) kultiviert, geübt werden“ (477). Gelehrt und geübt werden bilden dann die beiden Stücke der ethischen Methodenlehre – Didaktik und Asketik. Gelehrt und geübt werden soll dabei allerdings nicht die Tugend als ein System der Pflichten – das war ja bereits Gegenstand der Elementarlehre, sondern die Fähigkeit zur tugendhaften Haltung, Tugend zu einem wirksamen Motiv des Handelns zu machen. Der Lehrer ist dem Schüler genau in dieser Eigenschaft Exempel. Darum ist ein praktischer Philosoph nicht der, der Kenntnisse des Systems der Pflichten hat, sondern der sich den Vernunftzweck zum Grund (Triebfeder) seines Handelns macht (375 und Anm.).
13.3 Die Lehrarten der Tugendlehre In den § 50–52 diskutiert Kant dann die angemessenen Methoden der Didaktik oder die Lehrart, in der die Tugendlehre vorgetragen werden müsse. Intention muss es nach Kant dabei sein, das was in der Vernunft des Menschen an sich vorhanden ist, auch akut zu machen. Dabei greift er offensichtlich auf seine Ausführungen zur Methodenlehre aus seinen Logikvorlesungen zurück. Die Lehrart kann zufolge Kant daher nicht akromatisch (aus dem griechischen: nur zum Anhören), also in der Form, in der Lehrer allein doziert und der Schüler dem Lehrer zuhört, sie muss vielmehr erotematisch (ebenfalls aus dem griechischen: Fragen vortragend), also eine Lehrart, in der Lehrer solche Fragen stellt, dass damit die dem jeweiligen
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Zweck entsprechenden Antworten hervorgerufen werden. Allein diese kommt nach Kant für die ethische Methodenlehre in Frage. Diese unterscheidet Kant wiederum in die dialogische oder sokratische Lehrart, wenn Lehrer und Schüler gegenseitig fragen und antworten, und die katechetische, wo allein der Lehrer fragt und der Schüler antwortet. Die dialogische Methode ist nach den Ausführungen von § 50 nun diejenige, da der Lehrer der Vernunft des Schülers etwas abfragt, oder besser, ihn dazu anleitet, die Anlage zu gewissen Begriffen selbst zu entwickeln und erkennt, „daß er selbst zu denken vermag“, die katechetische hingegen diejenige, da der Lehrer nur aus dem Gedächtnis abfragt, was zuvor gelehrt worden ist (vgl. dazu 478; ähnliche Überlegungen hat Kant auch schon in der „Einleitung zur Tugendlehre“ angestellt: 411; vgl. auch Logik, IX 149 f.). Den Leser mag es daher erstaunen, dass Kant den folgenden Paragraphen (§ 51) mit der Behauptung einleitet, „[d]as erste und notwendigste doktrinale Instrument der Tugendlehre für den noch rohen Zögling ist ein moralischer Katechism“ (478), da die erste Unterweisung nicht die sokratisch-dialogische Lehrart gestatte, „weil der Schüler nicht einmal weiß, wie er fragen soll; der Lehrer ist also allein der Fragende“ (479) sei. Andererseits wird nun auch der katechetischen Lehrart die Fähigkeit zugeschrieben, ihren Inhalt „aus der gemeinen Menschenvernunft“ zu entwickeln, die Antwort der Vernunft des Lehrlings zu entlocken (ebd.; vgl. auch die einführenden Bemerkungen zum Buchstück eines moralischen Katechismus: 480). Allerdings hatte Kant auch schon in der Vorrede zur Tugendlehre von einem Lehrer gesprochen, der seine Schüler „sokratisch zu katechisieren sucht“ (376), und auch in der Pädagogik findet sich eine Stelle, in der Kant von der sokratischen Methode als eine Regel der katechetischen spricht, um Vernunfterkenntnisse aus den Schülern herauszuholen (Päd., IX 477). Ganz offensichtlich hat Kant die Unterscheidung von dialogischer Lehrart als aus der Vernunft und katechetischer als aus dem Gedächtnis abfragend nicht stringent durchhalten können. Möglicherweise dient die Rede vom sokratischen Katechismus aber auch dazu, dass der Übergang von der Tugendlehre zur Religionsphilosophie gelingen kann. Der § 51 unterscheidet im weiteren nämlich den moralischen vom religiösen Katechismus als eine von der Religionslehre abgesonderte Lehre. Der moralische Katechismus als Lehre rein moralischer Grundsätze muss gesondert von der Religionslehre vorgetragen werden, „weil dieser ihre Bekenntnisse sonst unlauter sein würden“ (478). Diese zunächst irritierende Behauptung – warum sollen die Bekenntnisse eines moralischen Katechismus, der nicht dem religiösen vorhergeht, unlauter sein – hängt sicherlich mit Kants Diktum zusammen, die Erfüllung moralischer Pflichten hätten moralische Dignität nur, wenn sie allein um der Pflicht willen erfüllt werden. Die ethische Methodenlehre muss die Befolgung der Pflichten als rein moralische Grundsätze lehren, ein Überschritt zur Religionslehre – den Kant im folgenden vollziehen will – kann nur vollzogen werden, wenn zuvor klargestellt ist, dass die
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Tugendlehre verlangt, die Pflichten um der Pflicht willen zu erfüllen. Ein Überschritt zur Religionslehre mit dem Gedanken, dass die moralischen Gebote als Befehle Gottes zu denken sind und darum aus Furcht vor Gottes Strafe verrichtet werden, nähme dem moralischen Handeln ihren tugendhaften Charakter. Genau diese Überlegung führt Kant dann am Ende des Bruchstücks eines moralischen Katechism aus. Nachdem Kant dort noch einmal wiederholt, dass der moralische Katechismus getrennt vom und vor dem religiösen Katechismus vorgetragen werden müsse, führt er als Grund auf, „ohne dieses wird nachher aus der Religion nichts als Heuchelei, sich aus Furcht zu Pflichten zu bekennen und eine Teilnahme an derselben, die nicht im Herzen liegt, zu lügen“ (484). Sich aus Furcht vor Gott zu den Pflichten zu bekennen wäre demnach nicht tugendhaft, sondern Heuchelei. Im § 52 behandelt Kant die Rolle des exemplarischen Verhaltens – hier ist vor allem das des Lehrers selbst angesprochen – als Vorbild für die „Begründung einer beharrlichen Neigung“ zur Tugend. Diese Gewöhnung oder gleichsam habituelle Prägung ist jedoch ein „Mechanism der Sinnesart statt eines Prinzips der Denkungsart“ (479), d. h. sie wirkt auf das Gefühl hat aber keinen Einfluss auf die Maximenbildung. Es fördert die Bereitschaft zu tugendhaftem Handeln, fungiert aber nicht als „Beispiel“, an dem einzelne moralische Regeln abgelesen werden können. Diese Überlegung wiederholt Kant nochmals in der folgenden Anmerkung des Bruchstücks zum moralischen Katechism. Die Regeln tugendhaften Handelns gebieten allein in der Vernunft, sie liegen nicht in der Erfahrung oder dem Vorbild anderer, heißt es dort (481). Obwohl die Nachahmung die Bereitschaft zur Tugend fördert, ist sie gleichwohl nicht Triebfeder, diese besteht „in der subjektiven Autonomie der praktischen Vernunft eines jeden Menschen, mithin daß nicht Anderer Menschen Verhalten, sondern das Gesetz uns zur Triebfeder dienen müsse“ (480). Darum insistiert Kant in der Fußnote darauf, dass die Exempel keine Beispiele sind, an denen sittliche Pflichten erkannt werden. Das Beispiel ist ein Fall, an dem die Urteilskraft geübt werden kann, das Exempel das Vorbild einer musterhaften Person, die die Möglichkeit eines geforderten Verhaltens demonstriert. Ersteres gehört in die Kasuistik, letzteres in die Methodenlehre.
13.4 Bruchstück eines moralischen Katechismus Kant beendet die ethische Didaktik mit einer längeren Anmerkung, überschrieben als Bruchstück des moralischen Katechism (480). Es liefert einerseits ein Beispiel der katechetischen Lehrart, in der der Lehrer dem Schüler durch seine Fragen Antworten in den Mund legt, die letzterer aus seiner eigenen Vernunft entwickelt haben soll. Die Antworten des Schülers werden dabei im Laufe dieses Beispiels
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immer erlaborierter. Sind sie zunächst nur kurz und affirmativ, entwickeln sie zum Schluss eigene, über die Fragen des Lehrers hinausgehende Folgerungen. Kern des Bruchstücks ist Kants Lehre vom höchsten Gut. Sie findet sich zuerst im Zweiten Abschnitt des Kanons der Kritik der reinen Vernunft, der vom „Ideal des höchsten Guts“ handelt (KrV, A 804–819/ B 832–847); dann in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, V 110–119) und in der Religionsschrift (Rel., VI 3–9). In etwas modifizierter Form dann in den §§ 86–87 der Kritik der Urteilskraft (KU, V 442–453). An dieser Stelle wird das Lehrstück z.T. vom Lehrer in der Fragestellung, z.T. vom Schüler mit eigenen Überlegungen entwickelt. Inhaltlich knüpft es hier an den § 51 an und liefert den Übergang von der Moral zur Religion. Ganz ähnlich hatte Kant schon in der Religionsphilosophie anlässlich der Erörterung dieser Idee ausgeführt, Moral führe unumgänglich zur Religion (vgl. Rel., VI 6–8 und Anm.). Das Bruchstück eines moralischen Katechismus entwickelt Kant in acht Lehrsätzen. In den ersten fünf legt der Lehrer dem Schüler die Beweisführung in den Mund, dass wir als sinnliche Wesen, die naturnotwendig nach Glückseligkeit streben, deren Vernunft andererseits gebietet, dass diese auf die Vereinbarkeit mit der Glückseligkeit anderer eingeschränkt sei, durch dieselbe Vernunft wollen müssen, dass diese nach Glückswürdigkeit verteilt sein soll (oder falls dies in unserer Macht stünde, so verteilen würden). Im sechsten läßt der Lehrer dem Schüler am Beispiel des Lügenverbots demonstrieren, dass die Regeln, des Glücks würdig zu werden, allein aus der Vernunft und nicht aus der Erfahrung fließen und Pflichten genannt werden; im siebten schließlich, dass eine Verteilung des Glücks gemäß der Glückswürdigkeit nicht in der Macht der Menschen steht und wir sie daher von einer anderen Macht erwarten müssen. Im achten Satz geht das Bruchstück des moralischen Katechismus aber über das Lehrstück vom höchsten Gut hinaus, insofern Kant den Schüler zunächst eine Form des physikotheologischen Gottesbeweises vortragen und daran anschließend von Gott als den Urheber einer zweckmäßigen Natur auf ihn als den Urheber einer Welt unter einer sittlichen Ordnung schließen läßt. Zunächst läßt Kant die Frage des Lehrers, ob die Vernunft Gründe hätte, „eine solche die Glückseligkeit nach Verdienst und Schuld austeilende … Macht als wirklich anzunehmen, d. i. an Gott zu glauben“ (482) bejahen. Bis dahin sind die Ausführungen an dieser Stelle mit den klassischen Ausführungen des Lehrstücks vom höchsten Gut konform. Danach ist die Annahme des Daseins Gottes als notwendige Bedingung des höchsten Gutes nur in praktischer Hinsicht berechtigt, erlaubt uns aber gerade nicht, in theoretischer Hinsicht die Wirklichkeit Gottes zu behaupten (KpV, V 4; Rel., VI 6 Anm.). Der Schüler fügt dann aber als Begründung hinzu: „wir sehen an den Werken der Natur, die wir beurteilen können, so ausgebreitete und tiefe Weisheit, die wir uns nicht anders als durch eine unaussprechlich große Kunst eines Weltschöpfers erklären können“. Von Gott als dem Schöpfer der
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zweckmäßig eingerichteten Natur schließt der Schüler dann darauf, dass dieser auch Garant einer vernunftgemäßen sittlichen Ordnung der Natur sein müsse, wonach wir, sofern wir uns selbst des Glückes nicht unwürdig machen, desselben auch teilhaftig werden (482). Problematisch an dieser Demonstration ist zunächst, dass der Schüler die Existenz Gottes nicht nur in praktischer Rücksicht annimmt, sondern auch in theoretischer Hinsicht aus der Zweckmäßigkeit der Natur behauptet. Dabei handelt es sich offensichtlich um den nach Kant unzulässigen physikotheologischen Gottesbeweis (vgl. KrV, A 620–630/ B 648–658; KU, V 436–442). Denn es handelt sich dabei gerade nicht um eine praktisch konsequente Annahme, die keinen objektiv gültigen Beweis für das Dasein Gottes liefert (so KU, V 450 f, Anm.), sondern um eine theoretische Annahme aus empirischen Voraussetzungen (der Zweckmäßigkeit der Natur). Nicht zulässig ist dann natürlich auch der Schluss, dass dieser Gott – der die Welt so zweckmäßig eingerichtet hat – dieselbe auch so eingerichtet haben müsse, dass sie einer sittlichen Ordnung der Welt genüge (darauf hat bereits Dörflinger 2013, 399 ff. hingewiesen).
13.5 Die ethische Asketik Tugend ist nicht nur Gegenstand der Lehre, wie man sich tugendhaft verhalten solle, sie muß auch praktisch „kultiviert, geübt werden“ (477). Geübt werden soll dabei eine gewisse Haltung bzw. das Haben von Gemütsbestimmungen, genauer zweier Gemütsbestimmungen das wackere und das fröhliche Gemüt (animus strenuus et hilaris). Kant spricht von einer „Kultur der Tugend“ (484), also einer Habitualisierung und Erwerbung von Fähigkeiten zur Ausübung der Tugend. Wie die Formulierung das wackere und das fröhliche Gemüt schon ausdrückt, hat die Asketik zwei Aspekte: Tugend hat mit der Überwältigung von Hindernissen zu kämpfen, gemeint sind natürlich die sinnlichen Begierden, sofern sie der Erfüllung der Tugend im Wege stehen. Kant spricht von einer„Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten“ oder von einer ethischen Gymnastik (485). Auch an anderen Stellen seines Werkes benutzt Kant eine ähnliche Metaphorik (vgl. Fak., VII 100). Die Überwindung der der Tugend entgegenstehenden Hindernisse soll aber nicht bloß Verzicht bedeuten, sie soll auch frohen Mutes erfolgen, mit einer Art Lust verbunden sein, andernfalls wird sie als „Frondienst“ empfunden, macht das Gemüt „finster und mürrisch“, was nicht geneigt macht, den Tugendpflichten zu folgen, sondern vielmehr dazu bewegt, „die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich“ zu fliehen (484). „Es muß etwas dazu kommen“, folgert Kant darum, „was einen angenehmen Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist“ (485), denn was nicht mit Lust ausgeführt wird, ist für den, der seiner Pflicht so gehorcht, ein bloßer Fron-
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dienst. Die Befolgung der Tugendpflicht muß also von einer Art Lust, begleitet sein. Diese kann aber keine sinnliche sein, denn dann erfolgte die Pflichterfüllung aus sinnlichen Antrieben. Sie muss daher aus der Pflichtbefolgung selbst entspringen. „Die Zucht (Disziplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden“ (485), lautet daher der letzte Satz dieses Abschnitts. Der angenehme Lebensgenuss, der doch bloß moralisch ist, meint mithin eine Lust, einen Frohsinn, von dem das tugendhafte Handeln begleitet wird. Gemeint ist damit offenbar das, was Kant in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten als „intellektuelle Lust“ (RL, VI 212 f.), bzw. in der Einleitung zur Tugendlehre als „moralisches Gefühl“ (399) bezeichnet, ein Gedanke, den Kant in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt und in der Metaphysik der Sitten weiter ausgeführt hat (vgl. dazu Hespe 2017, 98–111). Offensichtlich denkt Kant bei der intellektuellen Lust daran, dass die Vorstellung von der Gesetzmäßigkeit unseres Handelns eine Lust an dieser Vorstellung erzeugt und dazu führt, dass das Subjekt an der Ausführung einer entsprechenden Handlung ein Interesse nimmt. Diese Lust kann zwar selbst nicht Triebfeder der Pflichterfüllung sein, sondern ist nur ihre Begleiterscheinung, kann aber immerhin dazu dienen, uns der Pflichterfüllung geneigter zu machen. Von dieser Lust behauptet Kant nun, sie zu kultivieren, habituell zu machen, sei eine Schutzmauer gegen eine vorsätzliche Übertretung des Gesetzes: „Denn wer sollte wohl mehr Ursache haben frohen Muts zu sein …, als der, welcher sich keiner vorsätzlichen Übertretung bewußt und wegen des Verfalls in eine solche gesichert ist“ (485). Kant fügt dem ein fragmentarische Zitat aus einem Brief von Horaz an Maecenas an, das vollständig lautet: hic murus aeneus esto nil conscire sibi, nulla pallescere culpa) (Das sei unsere eherne Mauer, sich keiner Schuld bewußt zu sein, vor keiner Schuld zu erblassen (Horaz, epistulae, 1.1.60 f.). Die Sentenz beendet eine Frage des Horaz, wer eher Recht hat, die römischen Gesetze, die den Wert eines Menschen an seinem Besitz messen, d. h. von Besitz abhängig machen, ob jemand dem Plebs oder dem Rittertum angehört, oder die Kinder, die den Wert eines Mitspielers am rechten Tun im Ballspiel messen. Wie das Recht Handeln im Spiel der Kinder soll die habituelle Einübung und spielerische Leichtigkeit der Tugendausübung wie eine eherne Mauer Schutz vor der Gesetzesübertretung gewähren. Den Gedanken hat Kant in seinen Pädagogikvorlesungen noch einmal wiederholt: „Die Fröhlichkeit des Herzens entspringt daraus, daß man sich nichts vorzuwerfen hat“ (Päd., IX 499). Die ethische Asketik endet mit einer Polemik gegen die Mönchsasketik als bloße Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung, die „den Frohsinn, der die Tugend begleitet, nicht bewirken“ könne und daher „nicht ohne geheimen Haß gegen das Tugendgebot statt“ finde. Auch wenn Schiller hier nicht explizit genannt wird,
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gibt Kant damit implizit auch eine Erwiderung auf dessen Vorwurf des Rigorismus, den er in Anmuth und Würde, im Juni 1793 in der Zeitschrift Neue Thalia erschienen, gegen Kants Pflichtbegriff erhoben hatte. Kant hatte darauf ausführlich in einer Anmerkung zur Religionsschrift geantwortet. Der Pflichtbegriff enthält danach unbedingte Nötigung und flößt daher Achtung ein. Da der Pflichtbegriff aber in uns selbst begründet ist, erweckt er ein Gefühl der Erhabenheit, woraus sich das „fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht“ ergebe, wohingegen die „sklavische Gemütsstimmung“ in der Unterwerfung unter das Gesetz „nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes statt finden“ könne (Rel., VI 23 f., Anm.; ähnliche Ausführungen, ebenfalls ohne Bezug auf Schiller, finden sich auch in der Päd., IX 485). Den beiden Aspekten der ethischen Asketik ordnet Kant zwei antike, genauer hellenistische Schulen zu, die Stoa und die Epikureer. Für den Kampf mit den Hindernissen der Tugend steht nach Kant die Stoa, als deren Wahlspruch er zitiert: „gewöhne dich die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren (assuesce incommodis et desuesce commoditatibus vitae)“ (484). Meist benutzt Kant als Wahlspruch für die Ethik der Stoa allerdings eine Formulierung von Epiktet, sustine et abstine. Als eine Einübung in die „Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen“ hatte Kant das Tugendprinzip der Stoa schon in ersten Paragraphen der Methodenlehre gelobt (477) und in der Religionsphilosophie erkennt Kant der Stoa einen Wert in der Ausbildung einer tugendhaften Haltung zu, d. i. in der Übung, die der Tugend entgegenstehenden sinnlichen Neigungen der menschlichen Natur zu überwinden. Tugend sei im griechischen wie lateinischen die Bezeichnung für „Mut und Tapferkeit“ und setze also „einen Feind“ voraus (Rel., VI 57). Als Mut in der Bekämpfung der Leidenschaften interpretiert Kant den animus strenuus auch in seinen Vorlesungen (vgl. XXVII 655; Päd., IX 486 f.). Die bloß moralische Lust identifiziert Kant hingegen mit dem „jederzeit fröhliche[n] Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs“ (485). Kant unterstellt Epikur an dieser Stelle also, dass die Lust, die Prinzip seiner Ethik ist, nicht die sinnliche, sondern die intellektuelle ist. Diese Ausführungen sind jedoch nicht nur schwer mit Kants früheren Einschätzungen der beiden Schulen zu vereinbaren, sondern auch schwer mit deren Lehren in Einklang zu bringen. Zwar spricht Kant auch schon in der Kritik der praktischen Vernunft vom tugendhaften Epikur (KpV, V 116), jedoch habe der tugendhafte Lebenswandel theoretisch eine ganz falsche Begründung erfahren. Auch das stets fröhliche Herz ist eine Standardfigur, die Kant im Zusammenhang mit Epikur gebraucht. Nach Kant ist es die Epikureische hêdonê oder voluptas, die von dessen Gegnern als Wollust verunglimpft worden sei. Epikur hingegen rechne „die uneigennützigste Ausübung des Guten mit zu den Genussarten der innigsten Freude, und die Genügsamkeit und Bändigung der Neigungen, so wie sie immer der strengste Moralphilosoph fordern mag, gehörte mit zu seinem Plane eines Ver-
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gnügens“ (KpV, V 115). Kant interpretiert somit die Epikureische Lust als Erfüllung eines bescheidenen, das maßlose überwindende Begehren. Sie findet ihre Erfüllung in einer Beschränkung auf das lebensnotwendige, ist keine schrankenlose und daher nie zu befriedigende Begierde. Das mit der Befriedigung dieses Begehrens einhergehende Glücksgefühl (Lust) bezeichnet Kant als das fröhliche Herz. Es ziele im Grunde auf die Erhöhung und Verstetigung der Lust durch Vermeidung aller Beeinträchtigung des Seelenfriedens durch Begierde, Furcht und Schmerz (KpV, V 115; vgl. auch Anthr.,VII 235; Log., IX 30; ähnlich, wenn auch ohne Bezug auf Epikur, Päd., IX 485; auch in den Vorlesungen zur Moralphilosophie hat Kant diese Überlegungen mehrfach vorgetragen: vgl. XXVII 100 f.; 104; 250). Dennoch hält Kant die Begründung, „daß das Bestreben nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe“, für „schlechterdings falsch“ (KpV, V 114). Der Fehler Epikurs liegt nach diesen Ausführungen also darin, das aus der Tugendhaftigkeit entspringende Lustgefühl zum Movens tugendhaften Handelns gemacht zu haben, weswegen die Stoiker ihm zurecht widersprochen hätten. Seine Auseinandersetzung mit der Stoa und Epikur führt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft im Rahmen der Erörterung des höchsten Gut. Für beide sei Glückseligkeit das höchste Gut, jedoch unterschieden sie sich in der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit. Für die Epikureer sei Tugend, einer Maxime zu folgen, die zur Glückseligkeit führe. Tugend sei mithin nur ein Klugheitskalkül. Für die Stoiker hingegen sei Tugend das höchste und Glückseligkeit resultiere daraus, sich seiner Tugend bewusst zu sein. Für die Epikureer sei Tugend daher nur Klugheit, für die Stoiker hingegen wahre Weisheit (KpV, V 111, 115, 126 f.). Die stoische Ethik ist daher in der Kritik der praktischen Vernunft der epikureischen überlegen, beider Mangel ist allerdings, dass sie Tugend und Glückseligkeit, zwei völlig heterogene Dinge, das erstere ein Vernunftbegriff, das letztere ein empirischer Gegenstand, in eins gesetzt hätten und ihre proportionale Übereinstimmung als in diesem Leben und durch menschliches Tun für erreichbar hielten. Das Inakzeptable der stoischen Auffassung liegt daher für Kant in der Meinung, der Mensch als endlich vernünftiges Wesen sei allein durch die vollkommene Orientierung am Sittengesetz glücklich. Von diesem Verhältnis ist in der Asketik der Tugendlehre nicht mehr viel erhalten. Nicht nur fehlt im Verhältnis von Stoa und Epikur der Bezug aufs höchste Gut bzw. die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die Beurteilung der Ethik Epikurs und der Stoa hat sich auch praktisch umgekehrt. Während die Stoa bisher die wahre Tugend verkörperte, wirft er ihr nun jenen Rigorismus vor, den Schiller ihm selbst vorgeworfen hatte. Sie repräsentiert eine rigoristische Tugendpraxis, die zwar im Rahmen der Überwindung der Neigungen, sofern sie der Moralität im Wege stehen, ihre Berechtigung hat, die Kant aber faktisch mit der Mönchsaskese gleichsetzt, während Epikur jenen mit der Tugendausübung einhergehenden, aber
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bloß moralischen Lebensgenuss verkörpert, die tugendhaftes Handeln erst garantieren kann. Auch in der bereits erwähnten Erwiderung zu Schiller stellt Kant – ohne Epikur eigens zu erwähnen – das fröhliche Herz der sklavischen Gemütsstimmung gegenüber. Von einem schlechterdings falschen Ansatz ist an beiden Stellen keine Rede mehr. Irritierend ist aber auch die Kantische Interpretation der Hellenistischen Philosophie selbst. Für den an Kant orientierten Leser scheinen Formulierungen wie die von der Glückseligkeit als letztem Ziel, „um dessentwillen alles getan wird, während es selbst um keines anderen Zweckes willen getan wird“ (SVF, III 16)¹ und Ausführungen zur Tugend, die „um ihrer selbst willen erstrebenswert“ sei (SVF, III 39), nicht vereinbar zu sein, weil es für Kant essentiell ist, dass Tugend nicht um des Glückes willen, sondern nur als Selbstzweck anzustreben ist. Für Stoiker und Epikureer stehen Tugend und Glück nicht in einem gegensätzlichen Verhältnis, so dass das Streben nach Glück niemals Grund tugendhaften Handelns sein kann, sondern in einem konstitutiven Verhältnis, so dass die Tugend eo ipso der Weg zum Glück ist. Darum heißt es an der ersten Stelle weiter, Glückseligkeit bestehe in einem Leben gemäß der Tugend, einem Leben in Übereinstimmung mit sich selbst oder einem Leben gemäß der Natur. Alle drei Formulierungen werden von den Stoikern wohl als synonym aufgefaßt (vgl. auch Hossenfelder 1985, 54; Forschner 1981, 212). Stoiker und Epikureer sind sich einig, das Glückseligkeit (eudaimonia) das letzte Ziel ist. Glückseligkeit wird erreicht durch Gleichgültigkeit (aletheia) gegenüber äußeren Geschehnissen, die man nicht selbst beherrscht, und äußeren Dingen, deren Erreichbarkeit oder Verlust nicht in der eigenen Macht steht. Durch diese Gleichmut stellt sich der durch kein äußeres Geschehen gestörter Seelenfrieden (ataraxia) ein, der gleichbedeutend mit Glück ist. Gestört wird dieser Seelenfriede durch falsche Zwecke und Bedürfnisse, die im Falle ihrer Nichterreichbarkeit oder Nichtbefriedigung Affekte auslösen. Es kommt also darauf an, sich nur solche Zwecke zu setzen, die man sicher erreichen kann ( für Epikur vgl. Men. 128) Hier nun beginnen die Unterschiede zwischen den Stoikern und Epikureern. Für den Stoiker kommt es darauf an, durch Vernunft einzusehen, dass alle äußeren Dinge, auf die der Mensch keinen Einfluss hat, wie Unglück, Mangel, Not und Leid, äußere Güter, Reichtum und Macht, bedeutungslos sind, das einzige hingegen, worüber wir wirklich verfügen, ist unsere Einstellung zu den Dingen. Wert hat daher allein die Einsicht der Vernunft, dass der Besitz äußerer Güter und die Verfügung über äußere Geschehnisse nicht von Bedeutung, belanglos ist (SVF, III 29–73; I 374). Diese Vernunfteinsicht führt bei dem Stoischen Weisen die ange-
1 Für die in diesem Beitrag verwendeten Siglen für antike Literatur, s. das Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags.
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strebte Gleichmut herbei, weil er nicht mehr falschen Begierden zu erfüllen sucht oder sich aufgrund deren Nicht-Erfüllbarkeit grämen kann. Eine derartige Einstellung führt zur erwähnten Apathia und Ataraxia (SVF, III 201). Dieser Zustand bedeutet eo ipso Glück, da ich alle meine Zwecke erreiche, weil ich nur noch Zwecke habe, die ich notwendig erreichen kann. Im Erreichen aller selbstgesetzten Zwecke aber besteht das Glück. Diese Einsicht ist Tugend, Tugend dient somit nur einem Zweck, der Erreichung der Glückseligkeit (SVF, III 280) und ist darum das einzig wahre Gut (SVF, III 73 ff.). Durch die vernünftige Einsicht in die Bedeutungslosigkeit der äußern Güter folgt unmittelbar, dass ihr Besitz keine Rolle mehr spielt, es bedarf keines Kampfes mit den Neigungen bzw. dem Begehren dieser Güter, weil der stoische Weise sich in einem Zustand völliger Gleichgültigkeit gegen die Neigungen befindet (vgl. Horn 2008, 1089 ff.). Der Weise wird nicht mehr von Affekten beherrscht, weil es außer dieser inneren Einstellung zu den äußeren Gütern keine Güter mehr gibt, die für ihn von Bedeutung sind. Glück stellt sich nicht als Selbstzufriedenheit über die eigene Tugendhaftigkeit (so Kant in KpV, V 112) ein, sondern durch den Seelenfrieden, der dadurch eintritt, dass alle selbstgesetzten Ziele erreicht werden. Tugend ist somit weniger eine Norm, sondern eine Haltung, die aus einer Vernunfteinsicht folgt und Glück zur unmittelbaren Folge hat. Außer der Einsicht in die Belanglosigkeit äußerer Güter braucht es kein eigenes Movens, dass man sich das Gute auch tatsächlich zum Zweck setzt. Kants Einschätzung der stoischen Tugend als Askese, d. i. als Überwindung der Neigungen, statt einer völligen Harmonie mit sich selbst durch die Vernunfteinsicht von der Gleichgültigkeit äußerer Dinge, ist wohl dem Einfluss Epiktets, eines jüngeren Stoikers verschuldet. Dessen von Aulus Gellius, einem Schriftsteller aus dem 2. Jahrhundert u. Z. überlieferter Leitspruch, sustine et abstine (anechou kai alechou; ertrage und entsage; häufig sprichwörtlich, eigentlich aber falsch als leide und meide zitiert: Noctes Atticae, XVII,19,6) wird zu Kants Zeiten oft als Leitspruch der Stoa angeführt und von Kant selbst in den einschlägigen Arbeiten häufig zitiert (vgl. 419; Fak., VII 100; Päd., IX 486, 487, 499). Die in dieser Phrase zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, zu dulden, was uns widerfährt und Dinge und Vergnügungen zu entsagen, nach denen zu verlangen nicht naturgemäß (tugendhaft) ist, gibt nun genau die Ansicht wieder, die Kant in der Asketik der Tugendlehre als die der Stoa ausgibt. Auch an die Einführung dieses Sinnspruchs bei Gellius, „wer diese Worte beherzige, bleibe ohne Schuld und lebe in Ruhe“, scheint Kant sich mit den oben zitierten Worten, die Fröhlichkeit des Herzens entspringe daraus, dass man sich „keiner vorsätzlichen Übertretung bewußt“ sei, oder „sich nichts vorzuwerfen“ habe, anzulehnen. Im Vordergrund der Philosophie Epiktets steht die praktische Umsetzung philosophischer Überlegungen. Tugend besteht nicht allein in der vernünftigen Einsicht
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von der Gleichgültigkeit äußerer Dinge, sondern in der praktischen Absetzung vom Begehren dieser Dinge. „Es gibt nur einen Weg zur Gemütsruhe“ heißt es in den Diatrieben (meist mit dem lateinischen Titel als Dissertationes zitiert), den von seinem Schüler Arrian nach Vorlesungen aufgezeichneten Lehrgesprächen, „nimm Abstand von dem, was nicht in deiner Macht steht, und halte es nicht für dein Eigenes, … beschäftige dich nur mit dem einen allein, was dein und von allem unabhängig ist“ (Diss 4.4.39), wobei Eigenes und Mein wiederum das ist, was zu Bewirken in meiner Macht steht. Der Gedanke wird von Epiktet häufig wiederholt, oft an Beispielen erläutert (Diss 1.22.10 ff.; 1.1.17; 1.4.18 ff.; 2.16.28), mit ihm beginnt das Encheiridion (Handbuch der Moral), ein ebenfalls vom Arrian zum praktischen Gebrauch herausgegebener Auszug aus den Lehrgesprächen (vgl. Ench 1.1–3). Anders als die Stoiker, für die die Vernunfteinsicht von der Wertlosigkeit von Allem, was vom Gefühl bestimmt wird, Lust und Unlust zwar nicht verschwinden, aber doch gleichgültig werden läßt, hält Epikur es für eine evidente Tatsache, dass alle Menschen von Natur nach Lust streben und Unlust zu vermeiden suchen (Men 128 f.). Lust und Vermeidung von Unlust sind daher das höchste Gut, das es zu erstreben gilt und worin Tugend besteht. Lust entsteht, wenn das Begehrte erreicht wird, das Verabscheute nicht eintritt. Wenn nun das Erreichen dessen, was man will, Lust bereitet, so ist Lust bzw.Vermeidung von Unlust das oberste Ziel. Also darf man sich nur solche Zwecke setzen, die mit Gewissheit erreichbar sind und muss solche die nicht in unserer Verfügung stehen vermeiden (Men 130). Darum gilt auch für den Epikureer, das Unverfügbare zu vermeiden, d. h. alle Beeinträchtigungen des Seelenfriedens zu vermeiden, die aus falschen Begierden, Furcht und Schmerz erwachsen können, damit dauerhafte Lust und Seelenfrieden erreicht werden kann. Nur die Erfüllung der Grundbedürfnisse galt Epikur daher als unabwendbar für den Genuss. Was darüber hinausgeht, erzeuge unersättliche Begierden, begleitet von der Furcht, das Begehrte nicht zu erreichen oder vor dem Verlust dessen, was wir erreicht haben. Solche Begierde komme nie zur Ruhe und beeinträchtige daher den Seelenfrieden (Men 130 f; RS 15 und 21; Us fr 181). Es kommt also darauf an, Begierde, Furcht und Schmerz als die Quellen unerfüllter Bedürfnisse und der Unlust durch Vernunft zu kontrollieren (Men 132; RS 10 ff.), weshalb für die Epikureer wie die Stoiker vernünftige Einsicht der wahre und einzige Weg zum Glück ist. Nach beiden Schulen wird Tugend nicht um ihrer selbst, sondern um des Glückes willen erstrebt. Stoiker und Epikureer unterscheiden sich durch die Wege zum Glück, worin für sie Tugend bestehen. Kant – und darin ist er keineswegs allein – schätzt diese als Selbstzweck ein, und so werden ihm Überwindung der Leidenschaften (gar Kampf gegen die zuwiderlaufenden Kräfte unserer menschlichen Natur) und Erlangung der Lust das Wesen der Stoischen und Epikureischen Ethik.
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13.6 Beschluß Der Beschluß der Tugendlehre zieht die Grenzen zwischen reiner Moralphilosophie und Religionslehre und begründet die in der Überschrift aufgestellte These: „Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie“ (486). Sie gehört nach Kant mithin, anders „wie es sonst wohl gewöhnlich war“ (488), nicht zur Ethik als apriorischer Vernunftwissenschaft. Mit anders als es sonst üblich war bezieht Kant sich auf Beispiele aus der Schulphilosophie, etwa Wolffs Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, die im III (von vier Teilen) „Von den Pflichten der Menschen gegen Gott“ handelt, oder Baumgartens Ethica Philosophica, nach der Kant seine Vorlesungen über Moralphilosophie hielt, die im ersten Teil, gleich nach der Prolegomena mit der Religion beginnt. Die Religionslehre gehört nach Kants Ausführungen insofern zur Moralphilosophie, als wir uns die moralischen Pflichten formal als Befehl Gottes denken können. Dies ist subjektiv nötig, insofern wir uns die Pflichten nur anschaulich machen können, indem wir sie uns als Befehl eines Willens, in diesem Fall Gottes vorstellen. Allein diese Pflichten sind eigentlich nur Pflichten des Menschen gegen sich selbst – und nicht gegen Gott – und „nur subjektiv zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft“ als göttliche Befehle vorgestellt (487). Die Religionslehre ist aber kein Teil der philosophischen Moral, wenn wir sie uns als materiale Pflichten gegen Gott enthaltend denken. Dann enthält sie besondere, nicht von der allgemein-gesetzgebenden Vernunft ausgehende, sondern von der geoffenbarten Religion gebotene Pflichten, die das Dasein eines besonderen Gottes und nicht bloß die Idee Gottes in praktischer Rücksicht voraussetzt. Denselben Gedanken hatte Kant auch schon im letzten Abschnitt des Buches über die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst ausgeführt (443 f.). Die Religion „als Lehre der Pflichten gegen Gott, liegt jenseits aller Grenzen der reinphilosophischen Ethik“. Die Erörterung dieser Fragen verweist Kant daher in eine andere Disziplin, einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.
Literatur Arnauld, A., Nicole, P. 2011: La logique ou l’art de penser (dite Logique de Port-Royal), édition critique par Dominique Descotes, Paris. Conrad, E. 1994: Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Die Ausarbeitung der Gliederungsentwürfe in den Logikvorlesungen als Auseinandersetzung mit der Tradition, Stuttgart-Bad Cannstatt.
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Dörflinger, B. 2013: Ethische Methodenlehre: Didaktik und Asketik, in: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hrsg.), Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston, 383–410. Epiktet: Encheiridion, hrsg. v. G. Boter, Berlin u. New York 2007 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana 1302) (zit. als Ench). Epiktet: Epicteti dissertationes ab Arriano digestae. Accedunt fragmenta; enchiridion ex recensione Schweighaeuseri, gnomologiorum Epicteteorum reliquiae, hrsg. von H. Schenkl, Leipzig 1916 (zit. als. Diss). Epikur: Wege zum Glück, griechisch-lateinisch-deutsch, herausgegeben und übersetzt von R.Nickel, Mannheim 2011 (Sammlung Tusculum). darin: Us fr = Fragmente Men = Epistula ad Menoeceum (An Menoikeus) RS = Ratae sententiae (Kyriai doxai / Maßgebende Sätze) Forschner, M. 1981: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart. Gassendi, P. 1658: Petri Gassendi, Opera omnia, in sex tomos divisa, hrsg. von H. L. Habert de Montmor, Lyon, Tom. 1. Gellius, A.: A. Gellii Noctium Atticarum libri XX, hrsg. v. C. Hosius, zwei Bde., Leipzig 1903 (zit. als: Noctes Atticae). Hespe, F. 2017: Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, in: D. Hüning, B. Dörflinger, G. Kruck (Hrsg.), Das Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, Hildesheim, 91–130 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 92). Horaz: Sermones – Epistulae/Satiren – Briefe, lateinisch-deutsch, übersetzt von G. Herrmann, hrsg. von G. Fink, Düsseldorf u. Zürich 2000 (Sammlung Tusculum). darin: Horaz, epistulae Horn, Chr. 2008: Kant und die Stoiker, in: B. Neymeyr, J. Schmidt, B. Zimmermann (Hrsg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Bd. 2, Berlin, 1081–1103. Hossenfelder, M. 1985: Stoa, Epikureismus und Skepsis, München (Geschichte der Philosophie, hrsg. von W. Röd, Bd. III, Die Philosophie der Antike 3). Stoicorum veterum fragmenta, zusammengestellt von H. von Arnim, 4 Bde., Leipzig 1903 ff. (zit. als SVF = nach Band und Fragment).
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14 Ausblick: Tugendethik im Geiste Kants 14.1 Wiederentdeckung des Tugendbegriffs und der Tugendethik In der moralphilosophischen Debatte der Neuzeit spielt der Tugendbegriff, griechisch aretê, lateinisch virtus, immer wieder eine Rolle. Im Unterschied zur Tradition wird er aber nicht mehr zu einem prominenten Begriff. Für diesen Verlust an Bedeutung sind zahlreiche Faktoren verantwortlich. Insbesondere tritt mehr und ein Begriff in den Vordergrund, der der Pflicht, während das häufige Plädoyer für periphere, instrumentale und funktionale, als „bürgerlich“ diskreditierte Tugenden wie Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Fleiß, den moralischen Rang der Tugend abwertet. Schon vorher tritt eine außermoralische Bedeutung auf. In Machiavellis Il principe/Der Fürst beispielsweise klingt im Begriff der virtu die wörtliche Bedeutung von vir, vom Mann, an, von dem man eine Tüchtigkeit, eine „Mannhaftigkeit“, erwartet, die sich in Standhaftigkeit, Stolz und Tapferkeit, sogar Waghalsigkeit zeigt. In Kapitel 6 bezeichnet virtu die „moralisch indifferente Fähigkeit eines Herrschers, selbst im Umgang mit der unberechenbaren Fortuna sich erfolgreich durchzusetzen.“ Dort, wo der Tugendbegriff seine moralische Bedeutung behält, löst er sich trotz verschiedener Erneuerungen antiker Traditionen aus der zuvor herrschenden engen Verbindung mit der aristotelischen, der stoischen und der christlichen Ethik. (Zur Geschichte: Stemmer u. a. 1998.) Die heute sogenannte internationale Debatte wird vielerorts von den englischsprachigen Beiträgen beherrscht, die überwiegend einen „Großprovinzialismus“ pflegen: Sie setzen sich, von großen Klassikern abgesehen, am liebsten, oft sogar ausschließlich mit ihren neueren anglophonen Kollegen auseinander. In diesem Sinn geht, was man mittlerweile einer Wiederentdeckung von Tugendbegriff und Tugendethik nennt, wesentlich auf eine Abhandlung der Gilbert Ryle- und Ludwig Wittgenstein-Schülerin G.E.M. Anscombe (1958) zurück. Im deutschen Sprachraum hingegen hatte der Tugendbegriff seine Bedeutung zwar nie vollständig verloren, so dass es heute keine wahrhafte Wiederentdeckung braucht. Beispielsweise hebt Max Weber in seiner einflussreichen Studie über den „Geist des Kapitalismus“ so nützliche Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß und Mäßigkeit hervor, da sie den für den Kapitalismus unverzichtbaren, „Kredit erbringen“. Im Rahmen der Philosophie spielt der Tugendbegriff bei Max Scheler (1921), Nicolai Hartmann (1925), O.F. Bollnow (1958), in anderer Weise bei Ernst Bloch https://doi.org/10.1515/9783110786958-016
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(1954–1959) und wieder anders bei Josef Pieper (1965) eine größere Rolle. Trotzdem sieht es hier nicht grundlegend anders als in der englischsprachigen Debatte aus. Bei so wirkungsmächtigen Denkern wie Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und dem Wiener Kreis sowie der kritischen Theorie taucht der Begriff der Tugend gar nicht oder so nebensächlich auf, dass man sein Auftreten übersieht.
14.2 Vorbild Aristoteles Zeitgenössische Vertreter einer Tugendethik, aber nicht etwa O’Neill, pflegen sich auf Aristoteles, namentlich seine Nikomachische Ethik, gelegentlich zusätzlich auf die Stoa und auf den großen Neoaristoteliker des Hochmittelalters, Thomas von Aquin, zu berufen. Teils ausdrücklich, teils stillschweigend, gelegentlich sogar unbemerkt wollen sie dabei eine Alternative zu Kants Moralphilosophie anbieten. Über die bei Anscombe anklingenden Vorzüge der aristotelisch-thomistischen Tradition hinaus können sich die neueren Verfechter der Tugendethik eine Reihe weiterer Vorzüge zugutehalten. Diese beginnen mit der Fülle an Themen, die das vorherrschende Muster einer Tugendethik, Aristoteles’ Ethik, bietet. Hinzukommt deren einzigartige Verbindung von philosophischer Handlungstheorie mit einer Ethik im engeren Sinne und mit der Politik und im Rahmen der Ethik die Auseinandersetzung mit dem nicht bloß damaligen, sondern bis heute anerkanntem Vorbild von Philosophie, mit Platon. Platons Ethik ist in vielen Dialogen über die Ideenlehre mit einer Metaphysik verknüpft. Aristotelesʼ Nikomachische Ethik hingegen ist, beginnend mit der Kritik von Platons Ideenlehre, von aller Metaphysik frei. Selbst die Begründung jener Lebensform, der Theoria, die der Metaphysik und anderen Fundamentaltheorien gewidmet ist, kommt ohne metaphysische Argumente aus. Allenfalls im Hinweis, die Theorie sei die von der Gottheit gepflegte Lebensform, kann man einen gewissen theologischen oder metaphysischen Gehalt finden. Für die neuere Renaissance von Aristoteles’ Tugendethik ist selbst dieser Minimalgehalt unerheblich. Wie das Vorbild Aristoteles so hält sich auch die neue Wiederbelebung der Tugendethik in der Regel von aller Theologie und Metaphysik frei. Ein weiterer Vorrang von Aristotelesʼ Tugendethik liegt im Gegensatz zu einer heute generell vorherrschenden thematischen Engführung. Statt die Ethik wie üblich geworden auf eine Sozialethik zu verkürzen, kennen Tugendethiker auch Pflichten gegen sich selbst und den damit verbundenen Gedanken eigener Vollkommenheit. Aristoteles’ Nikomachische Ethik beginnt sogleich im ersten Satz mit einer charakteristischen Handlungstheorie: Menschliches Handeln ist seinem Wesen nach, weil ziel- und zweckorientiert, ein Streben (orexis). Folgerichtig tritt in Ari-
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stoteles’ Prinzip der Ethik, dem Glück im Sinne von Eudaimonie, die im Begriff des Strebens gründende Teleologie zutage: Das Streben läuft auf Zwischenziele, dann auf Endziele, schließlich auf das nicht mehr überleitbare, schlechthin höchste Endziel, eben die Eudaimonie, zu. Diese ist nämlich ihrem Wesen nach sowohl das dominante, alle anderen Ziele und Zwecke überragende Ziel als auch jenes inklusive Ziel, das alle für den Menschen wesentlichen Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen erfüllt. Das so verstandene Glück ist allerdings kein direkter Gegenstand menschlichen Strebens, sondern die Begleiterscheinung im Fall des Gelingens: Wer ein gutes, sinnvolles Leben führt, ist eudaimon, mithin in Aristoteles‘ Verständnis eo ipso glücklich. Aus diesem Grund kann man sich zum Streben nach Glück qua Eudaimonie nicht wie zum Streben nach Lust, Macht, Geld oder Erkenntnis entschließen. Wohl aber kann man eine Lebensform wählen, die die Qualität des guten, folglich glücklich gelungenen Lebens erwarten lässt. Sieht man von der Theoria, der wissenschaftlich-philosophischen Lebensform, dem bios theoretikos, ab, so besteht die das Glück verheißende Lebensform im sittlich-politischen Leben, dem bios politikos. Gäbe sich eine der Eudaimonie verpflichtete, eudaimonistische Ethik mit diesen Gedanken zufrieden, so wäre sie eine bloße Prinzipienethik, also einem Vorwurf von Anscombe gegen die Prinzipienethik, dem Mangel an Situationsbezug, der fehlenden Kontextualisierung, ausgesetzt. Nach Aristoteles braucht man aber, um das sittlich-politische Leben zu führen, das Zusammenspiel von zwei Arten der Tugend, der sittlichen Tugenden der Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit usf., die für die moralische Grundausrichtung verantwortlich sind, und der intellektuellen Tugend der sittlichen Urteilskraft, der Klugheit, die die in der jeweiligen Situation sachgerechte Mittel und Wege bestimmt.
14.3 Kant als Alternative Die von Aristoteles oder auch von Thomas von Aquin inspirierten Tugendethiker stehen in der Regel in einer britischen oder aber US-amerikanischen Ethik-Tradition, in der Kants Moralphilosophie kein hohes Ansehen genießt. Sofern man Kant doch studiert, beschränkt man sich auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Deren dominante Lektüre kann freilich nicht gründlich heißen, da schon in der Grundlegung der Tugendbegriff eine Rolle spielt, so z. B. in Band IV der Akademieausgabe, auf den Seiten 404, 407 und 411 sowie vor allem in der Fußnote IV 426. Dort sagt Kant von der Tugend, „in ihrer eigentlichen Gestalt“ sei sie „nichts anderes als die Sittlichkeit, von aller Bewunderung des Sinnlichen und … der Selbstliebe entkleidet“. Zu berücksichtigen wären außerdem Hinweise, die gegen Anscombes
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zweiten Vorwurf gegen eine Prinzipienethik, die Kontextferne, sprechen. Denn Kant erhebt zumindest den Anspruch, dass man „mit diesem Kompasse in der Hand“, gemeint ist der kategorische Imperativ, „in allen vorkommenden Fällen“, also situations- und kontextbezogen, „sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei“ (IV 404). Wer zusätzlich zur Grundlegung noch auf Kants zweite Grundlegungsschrift, auf die Kritik der praktischen Vernunft, keinen zu kurzen Blick wirft, der sähe, dass auch hier die Tugend eine jetzt sogar erhebliche Rolle spielt. Schon in der „Analytik“, dort als Gegensatz zum Vergnügen (§ 3, Anmerkung zur Folgerung), gilt die Tugend als „das Höchste, was endliche praktische Vernunft bewirken kann“ (§ 7, Anmerkung zur Folgerung). Ferner wird sie als „moralische Gesinnung im Kampfe“ bestimmt, und in der „Dialektik“ unter anderem als oberste Bedingung der Glückswürdigkeit. Vor allem fällt aus dem Lektürekanon der meisten Tugendethiker Kants System der Moralphilosophie, die Metaphysik der Sitten, heraus. Denn andernfalls hätte man bemerkt, dass deren zweiter Teil, die „Tugendlehre“, das heißt die systematische Darstellung der die „Rechtslehre“ ergänzenden Verbindlichkeiten, den unterschätzten Begriff schon im Titel trägt. Kant übernimmt die traditionelle Bezeichnung der Ethik als Sittenlehre, auf Latein philosophia moralis, womit für ihn die heute da und dort beliebte Differenz von Ethik und Moralphilosophie hinfällt. Er erklärt sie zur Lehre (im Sinne von System) der Pflichten und unterscheidet überzeugend die Pflichten, die der äußeren und die der inneren Gesetze fähig sind. Infolgedessen besteht die praktische Philosophie nicht wie bei Aristoteles und in seiner Tradition aus einer Ethik und einer Politik bzw. politischen Philosophie, sondern aus einer Philosophie der Tugend und einer Philosophie des Rechts (einschließlich des öffentlichen Rechts, also des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts). Wie schon Kants erste und zweite Kritik so gliedert sich auch die „Tugendlehre“ in eine (weit umfangreichere) „Elementarlehre“ und eine (knappe) „Methodenlehre“. Die den beide Teilen vorangehende sehr ausführliche „Einleitung“ führt, für Kants Moralphilosophie auf den ersten Blick überraschend, Zwecke ein. Das erste der beiden Tugendprinzipien, die eigene Vollkommenheit, also eine „teleologische“ Aufgabe, beläuft sich auf das Leitprinzip des ersten Teils, der „Pflichten gegen sich selbst“, der Selbstpflichten, das zweite Tugendprinzip, die fremde Glückseligkeit, auf die Pflichten gegen andere, der Fremdpflichten. Auf die Interpretation dieser Begriffe und mancherlei Schwierigkeiten sind die vorangehenden Kapitel dieses kooperativen Kommentars eingegangen. Für eine moderne, Kant verpflichtete Tugendethik können sie beiseite bleiben. Wichtiger ist als erstes die Frage der Systematik. Können die beiden Begriffe, eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit, als mittlere Moralprinzipien überzeugen?
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Ohne Zweifel geht eine gründliche Antwort auf diese Fragen über die hier verfolgte Absicht eines Ausblickes hinaus. Denn dafür müsste man die intendierte Kantische Tugendethik in Einzelheiten entwickeln und sorgfältig sowohl gegen Einwände als auch etwaige Alternativvorschläge verteidigen. Unplausibel ist Kants Systematik aber gewiss nicht: Gemäß seinem strengen Begriff von Philosophie sucht Kant keine dem jeweiligen Gegenstand („Objekt“) äußere, sondern ihm innere, insofern objektive Gründe. Wie er an der entsprechenden Stelle (VI 386 f.) knapp ausführt, muss der Mensch, um überhaupt ein moralisches Wesen zu sein, dessen Voraussetzung, einen Willen, entwickeln. Nun besteht der Wille in der Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen und entsprechende Anlagen zu entwickeln, sich folglich zu einem zwecksetzungsfähigen Wesen „emporzuarbeiten“. Weil er nur dann seiner ihm innewohnende Menschheit, seiner Eigenverantwortlichkeit, würdig sei, gilt die Entwicklung der Zwecksetzungsfähigkeit als moralische Pflicht. Ein Wille ist aber noch kein moralischer Wille, die praktische Vernunft ist noch keine reine praktische Vernunft. Deshalb gibt es eine zweite Pflichtstufe: Die Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu setzen, ist zur Fähigkeit und Bereitschaft zur höchsten Stufe der Moral, zur Moralität, fortzubilden. Erst dann wird das moralisch Gebotene, das Pflichtgemäße, nicht aus moralexternen Gründen, sondern um der Moral selber willen getan. In Kantischer Terminologie ist das Pflichtmäßige, die Legalität, zusätzlich aus Pflicht zu erfüllen.
14.4 Selbstpflichten, Fremdpflichten und Gewissen Die traditionelle, vorkantische Tugendethik gibt sich nicht mit einem obersten Moralprinzip und der Unterscheidung zweier Tugendarten zufrieden. Sie nimmt sich auch jede der einzelnen dort sittlichen, hier intellektuellen Tugenden vor, ergänzt sie unter anderem noch um die Quasi-Tugend der Freundschaft, ferner um die Themen der Lust und der akrasia, der Willensschwäche, und zeichnet sich in dieser Weise durch eine überaus reiche Themenfülle aus. Nur wer sich bei Kant auf die Grundlegung konzentriert und auf die Kritik der praktischen Vernunft nur oberflächlich eingeht, kann eine vergleichbare Themenfülle bei Kant vermissen. In Wahrheit findet sie sich auch bei Kant. Seine Tugendlehre begnügt sich nicht mit den genannten zwei mittleren Prinzipien, der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit, sondern fächert beide nach systematischen Gesichtspunkten in zahlreiche einzelne Tugendpflichten auf. Da Kant zusätzlich weitere Gegenstände, darunter auch die Freundschaft behandelt, steht er hinsichtlich der The-
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menvielfalt keiner traditionellen Ethik, selbst der gegenstandsreichen Nikomachischen Ethik nicht nach. Dass Kants Themenreichtum selten beachtet wird, sei hier erinnert, und da und dort um Hinweise zur systematischen Tragweite ergänzt: Die heutige Ethik erliegt wie gesagt überwiegend einer Engführung, der Reduktion der Ethik auf eine Sozialethik, zumindest der Konzentration auf sie. Um gegen andere moralisch zu handeln, muss man aber allererst selber ein realiter zur Moral fähiges Wesen sein. Da der Mensch laut Kants überzeugender These nicht als aktuelles, sondern nur als potentielles Moralwesen geboren wird und da seine Moralfähigkeit sich nicht wie etwa das aufrechte Gehen gewissermaßen wie von selbst entfaltet, muss er sich zum aktualen Moralwesen noch ausbilden. Die entsprechende Pflicht obliegt biographisch gesehen zunächst anderen, etwa den Eltern und Lehrern, im Fortgang der Biographie aber auch der Person selbst. Genau deshalb braucht eine sachlich überzeugende Ethik außer ihrem sozialen Anteil, der Sozialethik, zusätzlich einen personalen Anteil. Dieses, die personale Ethik, ist der Sozialethik sachlich sogar vorgeordnet. Denn nur dann, wenn der Mensch sich zu einer realiter moralfähigen Person ausgebildet hat, ist er zu den Verbindlichkeiten der Sozialethik fähig und bereit. Wer, wie heute üblich, die Sozialethik überbewertet, sollte sich mit folgenden Argument Kants aus der„ethischen Elementarlehre“ auseinandersetzen (417 f.): „ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde“. Der Grund: „weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht“. In einer dazugehörenden Fußnote verweist Kant zustimmend auf eine alltägliche Redensart: „Ich bin mir das selbst schuldig.“ Die zugehörigen Pflichten bilden in systematischer Hinsicht die erste Pflichtengruppe, die der „Pflichten gegen sich selbst überhaupt“. Kant untergliedert sie in vollkommene und unvollkommene Selbstpflichten und beide noch einmal in zwei Gruppen. Bei den vollkommenen Selbstpflichten gibt es die Selbstpflichten hinsichtlich der animalischen und hinsichtlich der moralischen Natur des Menschen, die als vollkommene Pflichten keine Ausnahmen erlauben, folglich in (zwei Mal drei) Verboten bestehen. Die Frage, ob Kants Argumente überzeugen, haben die vorangehenden Kommentare erörtert. Hier genügt es, um die Themenvielfalt aufzuzeigen, die Verbote aufzuzählen: die Verbote der „Selbstentleibung“ einerseits und andererseits die Verbote von Lüge, Geiz und Kriecherei. Vermutlich, weil sie auf der Hand liegen und unstrittig sind, behandelt Kant die unvollkommenen Pflichten knapper: zum einen die Pflicht, seine Naturkräfte, untergliedert in Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte, möglichst umfassend und weit zu entwickeln, zum anderen seine moralische Vollkommenheit, namentlich die Lauterkeit seiner Pflichtgesinnung, auszubilden, also erneut eine teleologische Aufgabe.
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Ähnlich themen- und gehaltreich fällt die Erörterung der „Tugendpflichten gegen andere“ aus. Von der erneuten Zweiteilung sei der erste Teil herausgehoben, weil nur er ausführlich behandelt wird. Es geht um die Pflichten in Bezug auf den anderen „bloß als Menschen“, worunter zum einen drei Liebespflichten, die der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der teilnehmenden Empfindung, zum anderen drei Pflichten, die anderen in ihrer Würde zu achten, wogegen drei Laster verstoßen: Hochmut, üble Nachrede und Verhöhnung. Von den zusätzlich behandelten Themen ist ein Gegenstand, das Gewissen, von herausragender Bedeutung. Dass es in vielen modernen Ethiken fehlt, ist kein Zufall, denn sie schränken sich auf die Sozialethik ein, womit die innere Instanz, das Gewissen, notwendig verdrängt wird. Kant gibt eine kundige, zudem überzeugende Definition: „Das Bewusstsein eines innern Gerichtshofes im Menschen, (vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen) ist das Gewissen“ (438). Laut Kant hat jeder Mensch diesen „inneren Richter“, das Gewissen, denn es sei „seinem Wesen einverleibt“ (ebd.), womit er die Moralnatur des Menschen meint.
14.5 Kants neuer Tugendbegriff Kants bündiger Begriff der Tugend scheint der Tradition nicht zu widersprechen, die Betonung „überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze“ (383). Nach der überlieferten Bestimmung ist die Tugend eine zum Charaktermerkmal gewordene feste Disposition des sittlich bzw. moralisch Gebotenen zu dem, was der moralischen Stärke entspricht. In der Kants Tugendbegriff zugrundeliegenden Anthropologie findet sich ebensowenig ein wesentlicher Unterschied. Die Tradition spricht vom vernunftbegabten Tier: zôon logon echon und animal rationale, Kant vom sinnlichen Vernunftwesen. Kant selbst kommt es aber nicht auf die Gemeinsamkeiten, sondern auf die Unterschiede an. An der einschlägigen Stelle, Abschnitt XIII der „Einleitung in die Tugendlehre“, vertritt er mit Nachdruck ein von der Tradition abweichendes Tugendverständnis. Tugend als einen Habitus, was er als „Festigkeit“ übersetzt, als „eine Leichtigkeit zu handeln“ erläutert und im Unterschied zu nichtmoralischen Fertigkeiten, bloßen Angewohnheiten, der inneren Ausbildung des Charakters, der inneren Freiheit, obliegt (407). Dann aber nennt Kant drei der älteren näheren Bestimmungen, die er allesamt ablehnt (403–405). Da die Frage, ob er damit Recht hat, in diesem Band schon erörtert worden ist, sie sei hier nur knapp skizziert: Die erste Bestimmung, es gebe „nur eine Tugend und nur ein Laster“, mag in der Tradition vorkommen, herrscht dort aber nicht vor, weder in Platons Lehre von vier Kardinaltugenden noch bei Aristoteles, der noch weit mehr Tugenden vorstellt. Kant
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selber erkennt jedoch an, dass es „nur eine Tugendverpflichtung“ gibt, die „tugendhafte Gesinnung“, aber schon deshalb „viel Tugendpflichten“, weil es die beiden genannten den Menschen verpflichtenden Zwecke gibt, die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit. Beim zweiten Punkt ist Kant Recht zu geben, dass Tugend sich vom Laster nicht „in Graden der Befolgung gewisser Maximen“, sondern nach der „spezifischen Qualität“ unterscheidet. Anders als Kant hier annimmt, ist aber auch Aristoteles’ meson-Lehre – dass die Tugend im Mittleren zwischen zwei Lastern besteht – qualitativ zu verstehen. Tapfer beispielsweise ist, wer in Gefahrensituationen nicht feige und nicht tollkühn ist, sondern wer einen kühlen Kopf bewahrt und unerschrocken agiert. Das beläuft sich auf eine grundlegend andere, nicht leidenschaftliche, sondern souveräne und überlegene Haltung (zur entsprechenden Kritik an Kant, s. o. Kap. 8 in diesem Band). Kants dritte Kritik an der doch nicht so einheitlichen Tradition kann nicht rundum überzeugen. Nach Aristoteles erwirbt man die Tugenden durch Lob und Tadel, Vorbild und Nachahmen und vor allem durch wiederholtes Einüben: besonnen wird man durch besonnenes, gerecht durch gerechtes Handeln. Das Wesen der Tugend aber, die Qualität der Vortrefflichkeit, ist in seinem Superlativcharakter nicht empirischer Natur. Infolgedessen könnte Aristoteles Kant zustimmen, wenn dieser betont, der Begriff der Tugend ergebe sich „nicht nach der empirischen Kenntnis, die wir vom Menschen haben, wie sie sind, sondern nach der rationalen, wie sie gemäß der Idee der Menschheit sein sollen“. Aristoteles sagt es zwar nicht ausdrücklich. In dessen hier entscheidenden Begriff, dem ergon tou anthrôpou, der für den Menschen charakteristischen Leistung, klingt es aber deutlich genug an, da diese Leistung im Logos, in der Vernunft des Menschen, liege. Dass es auf die „reine“ praktische Vernunft ankomme und dem erkenntnistheoretischen Status nach auf ein synthetisches Apriori, sagt Aristoteles freilich nicht. Weitere erhebliche Unterschiede kommen hinzu. Von Haupttugenden, um die sich alle anderen Tugenden wie um eine Triangel (cardo) drehen, von Kardinaltugenden, wie von Platon über die Kirchenväter und Thomas von Aquin bis hin zu Schleiermacher, Natorp und Nicolai Hartmann vertreten, ist bei Kant keine Rede. Ferner kann niemand, erneut anders als nach der Tradition, seiner moralischen Stärke sicher sein. Tugend ist für Kant ein unerreichbares Ideal, „sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht“ (409). In diesem Sinne hat Tugend im Kantischen Geist ein Problem bei der Lauterkeit, die die Tradition ebenso wenig kennt. Rundum lauter handelt derjenige, bei dem die der Pflichtgesinnung entgegenstehende (praktische) Sinnlichkeit keine Rolle mehr spielt, was das sinnliche Vernunftwesen Mensch zwar anstreben, aber nie erreichen kann.
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14.6 Empfehlungen für eine moderne Tugendethik Auf folgende Kantische Elemente kann eine moderne Tugendethik schwerlich verzichten: Als erstes drängt sich der im Begriff des Willens enthaltende, gegenüber dem Strebensbegriff radikalere Verantwortungsbegriff auf: Zwecke sind keine vorgegebenen Ziele, die man anstrebt, sondern in letzter Hinsicht in Freiheit zu setzen. Infolgedessen gehört zur Handlungstheorie der Wille statt das Streben und als Moralprinzip die Autonomie, nicht die Eudaimonie. Dem entspricht zweitens die reine praktische Vernunft. Die Ausbildung moralischer Tugenden ist drittens uneingeschränkt geboten, Tugenden sind insofern Pflichten im Sinne von kategorischen Imperativen. Die zugehörige Fähigkeit und Bereitschaft auszubilden, viertens, ist dem Menschen als selbstverantwortliche Person ebenfalls uneingeschränkt geboten, und bildet eine Pflicht des Menschen gegen sich, eine Selbstpflicht, auf die die Ethik nicht verzichten kann. Im Gegensatz zur vorherrschenden Verkürzung der Ethik auf eine Sozialethik, braucht es also ebenso eine personale Ethik. Da es ihr fundamentaliter auf die Ausbildung einer überhaupt moralfähigen Person ankommt, gebührt ihr sogar der systematische Vorrang: keine Fremdpflichten ohne vorangehende Selbstpflichten, keine Sozialethik ohne zuvor eine personale Ethik zu begründen. Fünftens überzeugen als mittlere Tugendprinzipien die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit. Im Rahmen der personalen Ethik ist sechstens eine Theorie des Gewissens unerlässlich und siebtens die Einsicht, dass der Mensch sich zwar so entwickeln soll, dass er es aber, weil seine Natur als sinnliches Vernunftwesen nicht abzustreiten ist, nie voll zu realisieren vermag. Dieses ebenso anspruchsvolle wie weitläufige Programm hat meines Erachtens keine der neueren Kantischen Ethiken, am wenigstens die Diskursethik, aber auch John Rawls nur in Ansätzen erfüllt: Eine Tugendethik auf dem Niveau Kantischer Moralphilosophie bleibt eine Aufgabe für die Zukunft.
Literatur Anscombe, G.E.M. 1958: Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33, 1–19. Bollnow, O.F. 1958: Wesen und Wandel der Tugenden, Berlin. Hartmann, N. 1925: Ethik, Berlin (ND 2010). Pieper, J. 1965: Über die Tugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß, München. Scheler, M. 1921: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle. Stemmer, P. u. a. 1998: Art. Aristoteles’ Tugend, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1532–1570.
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Auswahlbibliographie 1 Textausgaben der Tugendlehre Erste Auflage: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre von Immanuel Kant, Königsberg 1797. Zweite Auflage: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre von Immanuel Kant. Zweyte verbesserte Auflage, Königsberg 1804. Heutige Ausgaben: —, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften („Akademie-Ausgabe“), Bd. VI, Berlin 1907, 373–493. —, in: Immanuel Kant. Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt/M. 1977, 501–634. —, in: Immanuel Kant. Die Metaphysik der Sitten, hrsg. v. H. Ebeling, Stuttgart. —, neu herausgegeben und eingeleitet von B. Ludwig, Hamburg 22008 (Philosophische Bibliothek Meiner, Bd. 430).
2 Einführungen und Nachschlagewerke zu Kants Leben und Werk Brandt, R. 22010: Immanuel Kant – Was bleibt?, Hamburg. Gerhardt, V. 2002: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart. Höffe, O. 92020: Immanuel Kant, München (Beck’sche Reihe Denker). Höffe, O. 2023: Was hat Immanuel Kant uns heute noch zu sagen? Frankfurt/M. (Verlagshaus Römerweg). Klemme, H. F. 2004: Immanuel Kant, Frankfurt/M. (Campus Einführungen). Willaschek, M. u. a. (Hrsg.) 2015: Kant-Lexikon, 3 Bd.e, Berlin. s. auch die weiteren „Klassiker auslegen“-Bände zu Kants praktischer Philosophie, hrsg. v. O. Höffe: Zum ewigen Frieden (Bd. 1, 22004), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (Bd. 19, 1999) Kritik der praktischen Vernunft (Bd. 26, 22011), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Bd. 41, 2011), Schriften zur Geschichtsphilosophie (Bd. 46, 2011).
3 Sammelbände zur Tugendlehre Betzler, M. (Hrsg.) 2008: Kant’s Ethics of Virtue, Berlin. Denis, L. (Hrsg.) 2010: Kant’s Metaphysics of Morals. A Critical Guide, Cambridge. Denis, L. / Sensen, O. (Hrsg.) 2015: Kant’s Lectures on Ethics: A Critical Guide, Cambridge. Di Giulio, S. / Frigo, A. (Hrsg.) 2019: Kasuistik und Theorie des Gewissens. Von Pascal bis Kant, Berlin u. New York. https://doi.org/10.1515/9783110786958-017
232
Auswahlbibliographie
Euler, W. / Tuschling, B. (Hrsg.) 2012: Kants „Metaphysik der Sitten“ in der Diskussion. Ein Arbeitsgespräch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2009, Berlin. Hüning, D. / Dörflinger, B. / Kruck, G. (Hrsg.) 2017: Das Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, Hildesheim (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 92). Timmons, M. (Hrsg.) 2002: Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays, Oxford. Trampota, A. / Sensen, O. / Timmermann, J. (Hrsg.) 2013: Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, Berlin u. Boston.
4 Monographien und Aufsätze zu Themen der Tugendlehre Acton, H. B. 1970: Kant’s Moral Philosophy, London. Alves, J. 2010: Vollkommene Tugendpflichten. Zur Systematik der Pflichten in Kants Metaphysik der Sitten, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 64, 521–546. Anderson, G. 1921: Die ‚Materie‘ in Kants Tugendlehre und der Formalismus in der kritischen Ethik, in: Kant Studien 26, 289–311. Atwell, J. E. 1986: Ends and Principles in Kant’s Moral Thought, Dordrecht. Baum, M. 2007: Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie, in: J. Stolzenberg (Hrsg.), Kant in der Gegenwart, Berlin u. New York, 213–226. Baxley, A. M. 2010: Kant’s Theory of Virtue, Cambridge. Bojanowski, J. 2017a: Kant on the Justification of Moral Principles, in: Kant-Studien 108 (1), 1–34. Bojanowski, J. 2017b: Naturalism and Realism in Kant’s Ethics, in: Kantian Review 22 (3), 463–474. Denis, L. 1997: Kant’s ethics and duties to oneself, in: Pacific Philosophical Quarterly 78 (4), 321–348. Denis, L. 2006: Kants Theorie der Freiheit, Berlin u. New York. Esser, A. M. 2004: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart. Forkl, M. 2001: Kants System der Tugendpflichten. Eine Begleitschrift zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“, Frankfurt/M. u. a. Gregor, M. 1963: Laws of Freedom. A Study of Kant’s Method of Applying the Categorical Imperative in the Metaphysik der Sitten, Oxford. Guyer, P. 2016: Kant on Moral Feelings: From the Lectures to the Metaphysics of Morals, in: Ders., Virtues of Freedom. Selected Essays on Kant, Oxford, 235–259. Heubült, W. 1980: Die Gewissenslehre Kants in ihrer Endform von 1797, Bonn. Höffe, O. 1979: Recht und Moral: Ein kantischer Problemaufriss, in: Neue Hefte für Philosophie 17, 1– 36. Höffe, O. 2012: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München. James, D. N. 1999: Suicide and Stoic Ethics in the Doctrine of Virtue, in: Kant-Studien 90, 40–58. Kittsteiner, H. 1988: Kant and Casuistry, in: E. Leites (Hrsg.), Conscience and Casuistry in Early Modern Europe. Cambridge u. a.: 185–213. Lauener, H. 1981: Der systematische Stellenwert des Gefühls der Achtung in Kants Ethik, in: dialectica 35, 243–264. Louden, R. B. 2006: Moralische Stärke: Tugend als eine Pflicht gegen sich selbst, in: H. F. Klemme u. a. (Hrsg.), Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, Hamburg, 79–95. Marcucci, S. 1999: Moral Friendship in Kant, in: Kant-Studien 90, 434–441.
Auswahlbibliographie
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Personenregister Allison, H. 32, 89 Annas, J. 30 Anscombe, G. E. M. 77, 221–223 Aquin, Th. v. 222, 223, 228 Aristoteles 8, 9, 12, 63, 127–129, 162, 191, 211, 222–224, 227, 228, 240 Arnauld, A. 203 Aune, B. 142 Bacin, St. 118, 144 Baumgarten, A. G. 13, 14, 23, 69, 84, 89, 94, 144 Baier, K. 77, 79 Baron, M. W. 155, 197 Baxley, A. M. 30 Beck, L. W. 89, 90, Betzler, M. 35, 146, Biss, M. 153. Bloch, E. 221 Bojanowski, J. 84, 85, 91, 96, 140 Bollnow, O. F. 221 Brecher, M. 111 Brinkmann, W. 162 Chapuis, A. 154 Cicero, M. T. 63, 125 Cochius, L. 61, 120 Conrad, E. 203, 204, 218 Constant, B. 121 Crusius, Chr. A. 203 Denis, L. 66, 108, 140, 148 Di Giulio, S. 132 Diogenes Laertios 61 Dörflinger, B. 206, 211 Eberhard, J. A. 24 Engstrom, St. P. 30, 91 Epiktet 213, 217, Epikur 213, 214, 215, 217 Esser, A. M. 121, 132, 148 Euler, W. 59, 61, 72, 73
https://doi.org/10.1515/9783110786958-018
Falduto, A. 56 Feder, J. 77 Foot, Ph. 80 Forkl, M. 108, 128 Forschner, M. 215 Frankfurt, H. G. 92, 93 Frigo, A. 132 Garve, Chr. 20, 21, 63, 77 Gassendi, P. 203 Geiger, R. 162 Geisman, G. 121 Gellius, A. 216 Gloy, I. 60, 62, 63 Gottsched, Chr. 14–16, 24, 25 Grenberg, J. 153 Guyer, P. 53 Hartmann, N. 221, 228 Hegel, G. W. F. 61 Heidegger, M. 222 Herder, J. G. 3 Hespe, F. 212 Hildt, M. 39, 155, 165 Hill, Th. E. 144, 147, 148, 152 Hobbes, Th. 61, 64 Höffe, O. 4, 28, 35, 51, 87, 123, 124, 136, 154, 168, 176, 179, 181 Hoffmann, Th. S. 180 Horaz 62, 212 Horn, Chr. 113, 155, 216 Hossenfelder, M. 215 Hüning, D. 63, 64 Hutcheson, F. 3, 53, 69 James, D. N. 108 Johnson, R. N. 147, 148 Kersting, W. 44 Kittsteiner, H. 96 Klemme, H. F. 20, 22, 54, 65, 181, 187 Korsgaard, Chr. 32, 136
236
Personenregister
Louden, R. B. 153 Ludwig, B. 59, 64, 73, 74 Meier, G. F. 13, 14, 22–25 Mill, J. St. 79 Natorp, P. 228 Nicole, P. 203 Oberer, H. 121 Oggioni, E. M. E. 113 O’Hagan, E. 153 O’Neill, O. 222 Ovid 62 Pieper, J. 222, 229 Pistorious, H. 77 Platon 8, 222, 227, 228 Prauss, G. 89 Pufendorf, S. 65, 89, 94, 97 Rauscher, F. 91 Rawls, J. 229 Reath, A. 32 Reimarus, H. S. 203 Reinhardt, K. 35, 159, 173 Ricken, F. 108 Scarano, N. 176 Schadow, St. 176 Scheler, M. 221 Schiller, F. 212–215 Schleiermacher, F. 228
Schmidt, E. E. 45, 96, 113, 180 Schönecker, D. 45, 82, 84, 86, 96, 106, 113, 154, 155, 180 Schopenhauer, A. 7 Schüssler, R. 96, 113, 114, 125 Schwab, J. Chr. 64 Sensen, O. 29, 33, 35, 39, 48, 145, 154, 176, 181, 185, 186 Sidgwick, H. 79 Städtler, M. 66 Steigleder, K. 48 Stemmer, P. 221 Stratton-Lake, Ph. 141 Stuart, A. 186 Sulzer, J. G. 20 Taylor, Ch. 93 Thomasius, Chr. 65, 203 Timmermann, J. 83, 84 Titz, I. 154 Trampota, A. 33 Unna, Y.
96, 113
Vaihinger, H. 91 Veltman, A. 197 Weber, M. 221 Williams, B. 77, 93 Wittgenstein, L. 221, 222 Wittwer, H. 108 Wolff, Chr. 3, 14–16, 22, 24, 25, 69, 203, 218 Wood, A. W. 89, 152, 180
Sachregister Achtung 5, 6, 11, 33, 45, 49, 50, 54, 56, 130, 131, 143, 155, 160, 161, 164, 165, 173–178, 180– 188, 193, 195, 196, 205, 213 – Pflicht, Achtungspflicht 195, 196 Anlage, moralische; Gemütsanlage 36, 43, 46, 52, 53–56, 83, 130, 208, 225 – Natura. 35 Anthropologie 4, 5, 7, 69, 227 Asketik, ethische 10, 69, 73, 206, 207, 212, 213 Autonomie 4–6, 8, 23, 64–66 106, 112, 134, 180, 209, 229 Begehrungsvermögen 6, 86, 87 Begierde 69, 70, 214, 217 Bescheidenheit 174–177, 185 Dankbarkeit 12, 155, 158, 160–165, 167, 168, 179, 226 Diätetik 211
Gesetzgebung 7, 8, 25, 38, 47, 61, 66, 77, 80, 134, 157, 169, 200 Gesinnung 8, 9, 29, 31, 39, 44, 49, 65–67, 134, 162, 193, 194, 195, 198–200 Gewissen 11, 32, 48, 52, 54, 56, 126, 132–134, 227, 229 Gewohnheit 8, 9, 30, 47, 67 Glückseligkeit 1, 4, 7, 10, 15, 20, 21, 24, 27, 35, 36, 45, 63, 79, 87, 88, 101, 140, 158, 210, 214–216, 224, 225, 228, 229 Gott 4, 7, 10, 12, 78, 119, 122, 134, 135, 138, 164, 169, 209, 210, 218 Handlung 3, 6, 14, 15, 25, 30, 32, 33, 37, 38, 43–49, 53, 54, 62, 72, 85, 87, 90, 100, 104, 156, 161, 164, 186, 212 Hochmut 39, 130, 184, 186, 200, 227 Imperativ, kategorischer
2, 27, 28, 34, 50
Endzweck, s. Zweck Erfahrung 3, 11, 16, 34, 61, 90, 94, 114, 135, 138, 144, 147, 153, 167, 188, 209, 210 Ethik, Tugendethik 8 f., 12, 27, 29 f., 32 f., 39–42, 62, 67, 196, 214 f., 229–237 – E. vs. Recht 11, 35, 40, 103, 126, 178
Kasuistik, kasuist. Fragen 12, 71, 72, 96, 99, 100, 101, 109, 113–115, 125, 206, 209 Katechismus 12, 206, 208–210 Kausalität 4 Klugheit 140, 160, 214, 223 Kriecherei 11, 118, 125, 130, 131, 174, 226
Fertigkeit, moralische 8, 14, 15, 24, 25, 30, 55, 66, 67 Freiheit 4, 6–8, 10, 16, 22, 28, 33, 48, 51, 67, 68, 88, 90, 91, 191, 197, 205, 207, 227, 229 Freundschaft 166, 191–201, 225
Laster 11, 12, 45, 60, 61, 62, 70, 100, 104, 117– 119, 127–129, 155, 167–170, 182, 184, 185, 227, 228 Leidenschaften 23, 65, 69, 70, 213, 217 Liebe 12, 24, 52, 54, 55, 109, 155–158, 165, 169, 170, 175, 192, 193, 195–197 Liebespflichten 12, 127, 155–158, 164, 165, 167, 168, 170, 173–176, 182, 186, 188 Lüge 12, 62, 117, 118, 120–126, 129, 132, 226, Lust 20, 21, 24, 53, 127, 129, 148, 156, 158, 166, 195, 211–214, 217, 223, 225 – moralische L. 20, 213
Gefühl 3, 10, 18, 20, 52, 54–56, 69, 93, 156, 157, 164–168, 170, 174, 176, 192, 195, 205, 209, 213, 217 – moralisches G. 3,11, 19, 20, 53, 54, 176, 212 Gemüt, fröhliches 47, 52, 66, 69, 205, 211 Gemütsanlage 43, 52, 55, 56 Gerechtigkeit 64, 137, 201, 223 Gesetz, moralisches 6 – juridisches G. 177
https://doi.org/10.1515/9783110786958-019
Maxime 2, 7, 8, 21, 27, 28, 33, 38, 40, 43, 46, 48, 49, 51, 54, 63, 67, 72, 96, 104, 120, 122,
238
Sachregister
128, 134, 156–158, 165, 166, 170, 176, 181, 185, 187, 188, 195, 214 Menschenliebe, s. Liebe 11, 52, 54, 55, 121, 155, 164, 167, 169, 170 Menschenwürde, s. Würde 118, 123, 131, 173, 178, 180, 181, 184 Menschheit, Idee der 11, 60, 63, 228 Metaphysik 4, 10, 15, 18–24, 137, 230 Mitleid 137, 165, 166 Natur 2, 4, 6, 14, 16, 22, 46, 50, 79, 86, 94, 101, 105, 114, 118, 121, 123, 136, 139, 141, 161, 179, 197, 210, 213, 226, 229 Naturanlage, s. Anlage 46 Naturzweck, s. Zweck 100, 101, 109–111 Neid 167, 168, 170 Neigung 53–56, 69, 70, 104, 153, 156, 157, 184 Nötigung 2, 23, 24, 28, 29, 47, 49, 51, 64, 66, 81, 161, 213 – Zwang 10, 28, 30, 31, 47, 48, 49, 51, 64, 204 Person, Persönlichkeit 7, 15, 18, 32, 44–46, 54– 56, 61, 74, 86, 88, 92–94, 105, 106, 108, 110– 113, 130, 122, 124, 133–135, 142, 146, 148, 152, 159, 179, 192, 197, 209, 226, 229 Pflicht 6, 8, 9, 11, 16–27, 30–33, 37, 43, 47, 54– 56, 62–65, 74, 77, 81, 94, 96, 102, 105, 112, 121, 141, 164, 169, 185, 20, 217 – Achtungspflicht 175, 192, 195, 196 – gegen sich selbst, Selbstpflicht 118, 119, 121, 125, 127, 129, 130, 134, 229 – Rechtspflicht 11, 12, 18, 38, 39, 40, 43, 49, 50, 74, 96, 100, 117, 121, 122 , 182, 186, 206 – Tugendpflicht 7, 10, 11, 18, 31, 43, 44, 45, 50, 61, 73, 96, 100–102, 114, 117, 141, 155, 160, 165, 173, 174, 182, 186–188, 206, 211, 225 Recht, Rechtslehre 2, 7, 17, 18, 24, 27, 33, 36, 37, 38, 40, 45, 51, 68, 71, 74, 109, 121, 135, 169, 177, 181, 205, 206, 212, 224, 227, s.a. Pflicht Rechtspflicht, s. Pflicht Religion 134, 209, 210, 218 Schadenfreude 167–170 Selbstliebe 47, 175, 223 Selbstmord 12, 37, 77, 99, 100, 104–107, 110 Selbstpflicht, s. Pflicht
Sittenlehre 13–15, 22–24, 28, 64, 65, 71, 181, 224 Sittlichkeit 2,7 35, 65, 107, 108, 223 Spottsucht 185 Stärke, moralische 9, 18, 23, 24, 45, 67 Stolz 184, 221 Tapferkeit 9, 29, 30, 64, 67, 213, 221, 223 Triebfeder 4, 7, 11, 18, 20, 29, 35, 45–47, 53, 162, 176, 207, 209, 212, 218 Tugend 8, 11, 14, 15, 18, 22, 24, 28, 30, 48, 49, 60, 62–64, 66, 80, 115, 121, 127, 141, 145, 191, 199, 207, 211, 214–216, 221, 222, 227, ; s.a. Ethik; Fertigkeit; Pflicht Tugendethik, s. Ethik Tugendpflicht 7, 10–12, 18, 31, 43–45, 48–51, 56, 61, 67, 72, 96, 100, 102, 114, 117, 139, 141, 155, 160, 170, 177–179, 182, 184 Umgangstugend 191, 198, 199, 200 Untugend 45, 70, 183, 185 Verbindlichkeit 1, 2, 7, 11, 24, 25, 28, 39, 43, 49, 61, 62, 65, 73, 74, 86, 100, 102, 106, 113, 117, 120, 131, 156, 160, 162, 163, 175, 199 Verdienst 143, 159, 160, 210 Vernunft 1, 3–5, 11, 19, 23, 24, 32, 37, 39, 46, 50, 70, 71, 73, 79–82, 112, 117, 125, 131, 132, 135, 140, 143, 144, 156, 178, 192, 193, 195, 203, 205, 208, 215, 225, 226, 228 – praktische V. 5, 6, 50, 51, 54, 73, 83, 91, 112, 117, 131, 143, 178, 192, 195, 205, 224, 225, 228, 229 Vernunftwesen 1, 2, 10, 56, 86, 87, 133, 137, 200, 205, 227, 228, 229 Vollkommenheit 3, 10, 12, 14, 27, 34, 35, 45, 46, 101, 111, 130, 146, 149, 156, 163, 178, 191, 194, 222, 224–226 – eigene V. 10, 27, 34–36, 45, 101, 224, 228, 229 – moralische V. 46, 150, 226 Wille 7, 29, 38, 52, 92, 145, 166, 192, 225, 229 Willkür 6, 7, 17, 22, 25 Wohltätigkeit 47, 48, 127, 155, 158, 160, 164, 165, 168, 169, 170, 196, 227 Wohlwollen 55, 111, 140, 156, 157, 160, 170, 200
Sachregister
Würde, Menschenwürde 180, 181
118, 123, 131, 173, 178,
Zwang 10, 28, 29, 30, 31, 47, 49, 64, 204; s.a. Nötigung
239
Zweck 4, 6, 10, 17, 27, 31–35, 37, 44, 49, 80, 87, 96, 101, 107, 111, 113, 115, 124, 130, 136, 140– 145, 150, 151, 179, 196, 208, 217 – Endz. 143 – Naturz. 101, 103, 109, 110, 111
Hinweise zu den Autoren Monika Betzler hat seit 2014 den Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Ethik an der LMU München inne. Sie ist u. a. Leiterin des Forschungskollegs „Münchner Kolleg Ethik in der Praxis (MKEP), Sprecherin des Münchner Kompetenzzentrums Ethik sowie gewähltes Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Moralpsychologie, der normativen Ethik und der Theorie der Normativität. Diese systematischen Themen verbindet sie mit einem Interesse an der Ethik Kants. Sie erhielt den Robert Papazian Essay Prize 2018 des International Journal for Philosophical Studies für ihren Aufsatz The Relational Value of Empathy. Neben Empathie arbeitet sie zu Themen wie Willensschwäche, Moralismus, Autonomie, Paternalismus, Ethik der Familie, persönliche Beziehungen und Projekte, Parteilichkeit und die Grenzen der Moral, Bedauern und andere reaktive Einstellungen sowie praktische Konflikte. Herausgeberin: Kant’s Ethics of Virtue (2008). Jochen Bojanowski ist derzeit Humboldt-Fellow an der Universität Bonn. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Ethik und der politischen Philosophie. Sein historischer Schwerpunkt liegt in der praktische Philosophie Kants. Er arbeitet an einer Monographie zu Kants Moralphilosophie mit dem Titel „Kant’s Moral Idealism“ und einer Monographie zur politischen Philosophie mit dem Titel „Geschwisterliche Gerechtigkeit“. Dahan Fan ist Assistenzprofessor an der Tsinghua-Universität in Beijing, China. Er forscht zu Kants praktischer Philosophie, insbesondere dessen Theorie der Urteilskraft, sowie zu Themen der gegenwärtigen Ethik und Ästhetik. Buchveröffentlichung: Die Problematik der Interesselosigkeit bei Kant. Eine Studie zur Kritik der ästhetischen Urteilskraft (2019). Franz Hespe lehrt Philosophie an der Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Politische Philosophie der Neuzeit, Deutscher Idealismus, Kontraktualismus. Buchveröffentlichung: Sittlichkeit als konkrete Allgemeinheit, Interpretationen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes (1987). Herausgeber: G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 13; G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828. Nachgeschrieben von Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter (1994, zus. mit B. Tuschling).
https://doi.org/10.1515/9783110786958-020
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Hinweise zu den Autoren
Moritz Hildt forscht derzeit im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten eigenständigen PostDoc-Projekts zum Thema „Hedonismus als Theorie des guten Lebens?“. Vor seinem gegenwärtigen Projekt war er Koordinator der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen, wo er noch immer als Dozent tätig ist. Neuere Veröffentlichungen: Das (vermeintliche) Ungenügen des Hedonismus, in: Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 1/2018, 75–89; Die Herausforderung des Pluralismus. John Rawls’ Politischer Liberalismus und das Problem der Rechtfertigung (2016). Otfried Höffe ist Prof. (em.) und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles (1971, 32008); Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse (1975, 21985); Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie (1979, 72012), Immanuel Kant (1983, 9 2020); Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat (1987, 42003); Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999, 22002); Kleine Geschichte der Philosophie (2001, 62018); Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie (2003, 52011); Lebenskunst und Moral Oder: Macht Tugend glücklich (2007, 22009); Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit (2012); Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015); Geschichte des politischen Denkens (2016); Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens (2018, 52021); Was hält die Gesellschaft noch zusammen? (2021); Gerechtigkeit denken. John Rawls’ epochales Werk der politischen Philosophie (2021, 22021); Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion (2022); Für ein Europa der Bürger! Den Europa-Diskurs erneuern (2023); Was hat Immanuel Kant uns heute noch zu sagen? (2023). Herausgeber u. a. der Reihe „Klassiker auslegen“ und „Lexikon der Ethik“ (1977, 82023). Dieter Hüning ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Trier. Buchveröffentlichungen: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes (2008); als (Mit‐)Herausgeber (Auswahl): Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant (1998), Der lange Schatten des Leviathan (2005), Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants und ihrem Umfeld (2013), Das Verhältnis von Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie (2017). Heiner F. Klemme ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Halle-Wittenberg. Leiter des Immanuel-Kant-Forums in Halle und Erster Vorsitzender der „Christian-Wolff-Gesellschaft für die Philosophie der Aufklärung“. Gastprofessuren in China und Brasilien. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Kants Philosophie des Subjekts (1996, 22013); Immanuel Kant (2004); David Hume zur
Hinweise zu den Autoren
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Einführung (2007, 22014); Immanuel Kant. Philosophie für Einsteiger (zusammen mit A. Lorenz, 2017); Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Ein systematischer Kommentar (2017); Thomas Hobbes. Philosophie für Einsteiger (zusammen mit A. Lorenz, 2018; im Druck); Ethik. Philosophie für Einsteiger (zusammen mit A. Lorenz, 2019; im Druck). (Mit‐)Herausgeber (Auswahl): Kant-Studien (seit 2008); Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung (2009); The Bloomsbury Dictionary of 18th Century German Philosophers (2016). Karoline Reinhardt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Neuere Veröffentlichungen: Migration und Weltbürgerrecht. Zur Aktualität eines Theoriestücks der politischen Philosophie Kants (2019), Die ‚Bedingungen der allgemeinen Hospitalität‘. Welchen Schutz bietet Kants Weltbürgerrecht für Flüchtlinge und Staatenlose?, in: D. Hüning u. St. Klingler (Hrsg.), … jenen süßen Traum träumen. Kants Friedensschrift zwischen objektiver Geltung und Utopie, Baden-Baden 2018, S. 127–150. Dieter Schönecker ist Professor für Philosophie (Siegen). Forschungsschwerpunkte: Kants Ethik, Metaethik, Religionsphilosophie. Buchveröffentlichungen: Selbst philosophieren. Ein Methodenbuch (22013, mit G. Damschen); Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit(2005); ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Ein einführender Kommentar (42011, mit A. Wood, übersetzt ins Englische und Portugiesische); Kant: Grundlegung III. Die Deduktion des kategorischen Imperativs (1999). Herausgeber: Essays on „Warranted Christian Belief“ (2015); Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III. Neue Interpretationen (2015). Mitherausgeber: Kant zur Philosophie der Mathematik. Eine Auswahl aus seinen Schriften (2018); Wirklichkeit und Wahrnehmung des Heiligen, Schönen, Guten – Neue Beiträge zur Realismusdebatte (2011); Kant verstehen/Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte (22004); Der moralische Status menschlicher Embryonen (2003). Elke Elisabeth Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Siegen). Forschungsschwerpunkte: Kants Ethik, Philosophie der Emotionen und der Liebe, Metaethik. Veröffentlichungen: Kleines Kant-Lexikon (2018, hg. mit L. Berger); Realism and AntiRealism in Kant’s Moral Philosophy (2018, hg. mit R. dos Santos); The Dilemma of Moral Naturalism in Nagel’s Mind and Cosmos (2018, Ethical Perspectives 25/2); Are Lovers Ever One? Reconstructing the Union-Theory of Love (2018, Philosophia, 46/3); Kant’s Ground-Thesis. On Dignity and Value in the Groundwork (2017, The Journal of Value Inquiry, mit D. Schönecker); Kant on moral necessitation by another subject’s will, Tugendlehre, § 16 (2016, Studi Kantiani XXIX, mit D. Schönecker).
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Hinweise zu den Autoren
Oliver Sensen ist Associate Professor in Philosophie an der Tulane University (New Orleans). Wichtigste Veröffentlichungen: Kant on Human Dignity (2011), Human Dignity (im Erscheinen); als Herausgeber: Kant on Moral Autonomy (2013), und Mitherausgeber: Kant’s Tugendlehre (2012), Kant’s Lectures on Ethics (2015), The Emergence of Autonomy in Kant’s Moral Philosophy (2019); zahlreiche Aufsätze zu Kants Moralphilosophie. Er ist der Vizepräsident der North American Kant Society. Amelie Stuart ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Weber-Kolleg in Erfurt. 2019 wurde sie an der Karl-Franzens-Universität Graz in Philosophie promoviert. Gegenstand ihrer Dissertation ist eine Ausarbeitung von Pflichten zur Armutsprävention auf der Grundlage von Kants Rechts- und Moralphilosophie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die politische Philosophie der frühen Neuzeit, insbesondere Eigentumstheorien, sowie Theorien des klassischen Liberalismus und deren Kritik. Zuletzt erschienen: Helping the Needy – Duties of Right and Duties of Virtue Within the Modern State, in: D. Vujeva / L. Ribarevic (Hrsg.), European Crisis and the Heritage of Modernity, Zagreb 2017.