„Ich weiß, dass ich nichts weiß“: Fatale Fehldeutungen philosophischer Klassiker 9783495995471, 9783495995464


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1. Fatum: »Schicksal« philosophischer Deutungen
2. Sokrates: »Wissen« des Nichtwissens
3. Heraklit: »Krieg« als Vater aller Dinge
4. Platon: »Ideenlehre« der Philosophenherrschaft
5. Aristoteles: »Mittelmaß« als Glücksverheißung
6. Augustinus: »Gnade« Gottes
7. Luther: »Freiheit« eines Christenmenschen
8. Hobbes: »Absolutistische« Herrschaft des Staates
9. Rousseau: »Totale« Entäußerung als totalitäres Konzept
10. Kant: »Reine« Vernunft
11. Hegel: »Wirkliche« Vernunft
12. Feuerbach: »Atheismus« des religiösen Gefühls
13. Nietzsche: »Wille zur Macht« als politische Ideologie
14. Wittgenstein: »Sprachspiele« als Untergang der Philosophie
Literatur
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„Ich weiß, dass ich nichts weiß“: Fatale Fehldeutungen philosophischer Klassiker
 9783495995471, 9783495995464

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Rolf Gröschner | Wolfgang Mölkner

»Ich weiß, dass ich nichts weiß« Fatale Fehldeutungen philosophischer Klassiker

https://doi.org/10.5771/9783495995471 .

https://doi.org/10.5771/9783495995471 .

Philosophie erzählt Band 11

https://doi.org/10.5771/9783495995471 .

Rolf Gröschner | Wolfgang Mölkner

»Ich weiß, dass ich nichts weiß« Fatale Fehldeutungen philosophischer Klassiker

https://doi.org/10.5771/9783495995471 .

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99546-4 (Print) ISBN 978-3-495-99547-1 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995471 .

Inhaltsverzeichnis

1. Fatum: »Schicksal« philosophischer Deutungen . .

6

2. Sokrates: »Wissen« des Nichtwissens . . . . . . . .

9

3. Heraklit: »Krieg« als Vater aller Dinge . . . . . . . .

21

4. Platon: »Ideenlehre« der Philosophenherrschaft . .

30

5. Aristoteles: »Mittelmaß« als Glücksverheißung . .

43

6. Augustinus: »Gnade« Gottes . . . . . . . . . . . . .

53

7. Luther: »Freiheit« eines Christenmenschen . . . . .

66

8. Hobbes: »Absolutistische« Herrschaft des Staates

77

9. Rousseau: »Totale« Entäußerung als totalitäres Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

10. Kant: »Reine« Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . .

98

11. Hegel: »Wirkliche« Vernunft . . . . . . . . . . . . .

114

12. Feuerbach: »Atheismus« des religiösen Gefühls . .

125

13. Nietzsche: »Wille zur Macht« als politische Ideologie

136

14. Wittgenstein: »Sprachspiele« als Untergang der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Fatum: »Schicksal« philosophischer Deutungen

R »W« steht für meinen Partner dieses Dialogs: Wolfgang Mölk­ ner ... W ... und »R« für meinen Dialogpartner: Rolf Gröschner. R Als Duzfreunde treten wir unter unseren abgekürzten Vornamen auf. Im ersten »Auftritt« sprechen wir über die Titelei unseres Buches. W »Ich weiß, dass ich nichts weiß« wird als geflügeltes Wort gewohn­ heitsgemäß blind zitiert. Das Blindzitat ist jedoch in sich widersprüch­ lich, verfälscht das Original und verkennt das dialogische Prinzip Sokratischen Philosophierens. R Der Buchtitel verwendet es als Musterbeispiel für Zitate aus zweiter Hand, verhärtete Vorurteile und irrige Interpretationen philo­ sophischer Klassiker. W Im Untertitel ist die Rede von »fatalen Fehldeutungen«. R Durch die literarische Leichtigkeit, in der wir das bedeutungs­ schwere Wort »fatal« gebrauchen, hat es in unserem Sprachspiel nicht die assoziative Last des Todes zu tragen. W Deine geradezu poetische Formulierung wendet sich ja wohl gegen das verbreitete, aber verengte Verständnis von »fatal« als »tödlich«. R Ja. Unser erweitertes Verständnis des Lehnwortes spielt mit der Herkunft aus dem lateinischen »fatum«: einem schicksalhaften – aber nicht notwendig tödlichen – Götterspruch. Interpreten, die in ihrer

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jeweiligen Zunft als Autoritäten anerkannt sind, können durch die Macht ihrer Deutungshoheit das Schicksal eines Textes in vergleich­ bar fataler Weise bestimmen. W Im Extremfall ruiniert eine derartige Deutung den Ruf eines Philo­ sophen – jedenfalls bei denjenigen, die ihr kritiklos folgen. Als Opfer solch unkritischer Übernahme ideologisch verfestigter Deutungen nenne ich fürs erste nur Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und Ludwig Feuerbach. R Hobbes hat nicht den »absolutistischen Staat« konzipiert, Rousse­ aus Staatskonzeption war nicht »totalitär« und Feuerbach hat keinen »gewöhnlichen Atheismus« vertreten. W Es gibt aber auch philosophische Entwürfe, in deren Grundkon­ zeption ein Fatum lauert. Wir werden sehen, warum dies für die »Ideenlehre« Platons in ähnlicher Weise gilt wie für die »reine« Vernunft Immanuel Kants. In beiden Fällen hatte ein dichotomisches Denksystem fatale Folgen für die weitere Entwicklung der Philoso­ phiegeschichte. R »Dichotomisch« oder in zwei kontradiktorische Teile gespalten ist das System Platons durch die Entgegensetzung von Idee und Wirklichkeit. Bei Kant wird daraus der Gegensatz zwischen »intelligi­ bler« und »sensibler« Welt und zwischen dem Vernunftmenschen und dem Sinnenmenschen. W Inwiefern der Platonismus dieser Spaltung ein philosophiege­ schichtliches »fatum« darstellt, wird ausführlich zu besprechen sein. Zu betonen ist aber bereits hier, dass die betreffende Kritik auf einer anderen Ebene stattfindet als in den sonstigen Fällen. R Bei Platon und Kant kritisieren wir den philosophischen Ansatz als solchen, nicht die fehlerhafte Interpretation. W Demnach sind die fatalen »Fehldeutungen« im Untertitel unseres Buches in der Regel, nämlich in elf Fällen, auf fatale Fehl-Interpreta­ tionen bezogen und nur in den beiden genannten Ausnahmefällen auf fatale Fehl-Konzeptionen.

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R Wir diskutieren die dreizehn ausgewählten Fehldeutungen in der Form oder besser im Modus des Dialogs. Mit dieser dialogischen Art und Weise des Philosophierens folgen wir der Tradition des frühplatonischen Sokrates – die wir im zweiten Kapitel eingehend erläutern und vom Platonismus der mittleren und späten Dialoge Platons ausdrücklich abgrenzen. W Das dialogische Wechselspiel zwischen den Gesprächspartnern erleichtert die Darstellung, erlaubt eine Prise Humor und eine Mes­ serspitze Ironie – wie sie als literarische Würze in der Reihe »Philo­ sophie erzählt« erwartet werden dürfen –, ohne dass wir auf eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung verzichten müssen. R Apropos literarische »Würze«. Ich erlaube mir die Warnung vor einem weit verbreiteten Fehler in der Schreibweise »conditio sine qua non«. Wer die »Bedingung« meint, ohne die es nicht geht, muss zwingend »condicio« schreiben. Denn »conditio« kommt von »condire«, würzen. »Conditio« ist die Würze, die einem »Konditor« den Namen gibt, aber mit einer Bedingung im Lateinischen nicht das mindeste zu tun hat. W Dagegen kommt »condicio« als Bedingung von »condicere«, zusammen oder gemeinsam verabreden – was mit würzen nichts zu tun hat. R Unsere literarisch gewürzte aber gleichwohl philosophisch ernst­ hafte Auseinandersetzung hat nicht den Charakter eines Streitge­ sprächs. Ohne an Kontroversen orientiert zu sein, lebt sie von dialo­ gisch angeregten Einfällen, die einen Gedanken wechselseitig und »kon-kreativ« weiterführen. W Konkreativität bringen wir gegen Kanzel und Katheder in Stellung. Bei uns wird nicht monologisch gepredigt und doziert, sondern dialo­ gisch argumentiert. R Dann sollten wir uns jetzt die Argumente einfallen lassen und einander konkreativ zuspielen, mit denen Sokrates gegen das fatale Fehlzitat »Ich weiß, dass ich nichts weiß« verteidigt werden kann.

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2. Sokrates: »Wissen« des Nichtwissens

R Stellen wir uns vor, wir lebten im Jahre 399 vor der christlichen Zeitrechnung. Dann würden wir kaum glauben können, was aus Athen berichtet wird: Sokrates sei angeklagt worden, die Götter verunglimpft und die Jugend verdorben zu haben. Er müsse sich vor Gericht verantworten. W Das ist ja unglaublich. Aber die Richter werden nicht wagen, den Mann zu verurteilen, von dem das Orakel von Delphi sagt, er sei der Weiseste aller Athener. Tag für Tag diskutierte er auf der Agora, dem Marktplatz unterhalb der Akropolis, darüber, wie das Leben zu leben sei. Warum sollte das Gericht an seinem Prinzip des Philosophierens im Dialog Anstoß nehmen? R Um uns vor Ort über den Verlauf der Verhandlung zu informieren, wären wir wahrscheinlich nach Athen gereist. Durch diese Überle­ gung kamen wir auf die Idee einer fingierten Zeitreise zurück zum Prozess gegen Sokrates. W In spannungsreicher Erwartung, den »historischen Sokrates« – der bekanntlich nichts Schriftliches hinterlassen und seine berühmten Dialoge nur mündlich geführt hat – einmal »live« zu erleben, begaben wir uns auf die nicht ganz einfach zu buchende Reise. R Als wir das unter freiem Himmel tagende Volksgericht mit seinen 501 Geschworenen erreichten, sprach Sokrates gerade das Schluss­ wort seiner Verteidigungsrede: »Nun ist es Zeit, zu gehen, ich, um zu sterben, ihr, um zu leben. Wer aber dem besseren Zustand entgegen­ geht, ist allen verborgen, außer nur Gott.« W Das war für uns buchstäblich nicht zu fassen. »Was ist passiert?«, fragte ich den Mann neben mir, der seine Erschütterung kaum verber­ gen konnte. »Sie haben ihn zum Tod verurteilt«, erklärte er mühsam.

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R Inzwischen war Sokrates, umringt von seinen Schülern, auf dem Weg zum Gefängnis. Im Zentrum der Menge, die ihn begleitete, sahen wir einen siebzigjährigen Mann, der wenig Wert auf sein Äußeres legte. Der Bart war nur nachlässig gestutzt und der Bauch nur unvollkommen eingezogen. Eine Knollennase dominierte das leicht gerötete Gesicht. W Sokrates machte keineswegs den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Im Gegenteil, er wirkte auf eine merkwürdige Weise gelas­ sen und heiter. Unser Athener Nachbar bemerkte unsere Verwunde­ rung und erklärte: »Sokrates sagte: ›Niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern‹.« Mit diesen Worten stand er auf und verschwand. R Die Versammlung löste sich auf und wir machten uns beklommen und mit gewissem Entsetzen auf den Rückweg. Da wir die Verteidi­ gungsrede des »unsterblichen Sokrates« versäumt hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als Platons Aufzeichnungen über den Prozess zu studieren. W Halten wir vorerst einen offensichtlichen Widerspruch fest: Das Orakel erklärte Sokrates zum weisesten Mann Athens. Dieser Weise soll von sich gesagt haben: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« R Diese Standardformel, die selbst in den Humanistischen Gym­ nasien Deutschlands verbreitet wird, verfehlt jedoch den Sinn des Sokratischen Nichtwissens in einer Weise, die wir philosophisch als Paradebeispiel – platonisch: »paradeigma« – einer fatalen Deu­ tung behandeln. W Das Schicksal, das der fehlinterpretierten Sokratischen Formel beschieden ist, besteht in einem logischen Widerspruch, nämlich im Widerspruch zwischen der Aussage, »nichts« zu wissen, und der Behauptung, eben dies zu wissen – was der Behauptung, »nichts« zu wissen, widerspricht. Einen solchen Widerspruch hätten sich weder Sokrates mündlich noch Platon schriftlich leisten können.

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R Schleiermachers wörtliche Übersetzung der »Apologie« – der Verteidigungsrede des Sokrates, die durch seinen Meisterschüler Platon in literarisch wohlgestalteter Form überliefert ist – hilft uns hier weiter. W Sokrates zweifelte zunächst an der Wahrheit des Orakelspruchs. Im Gespräch mit einem ihm scheinbar überlegenen Staatsmann Athens wollte er den Wahrheitsgehalt prüfen. R Platon überliefert: »Beim Weggehen aber sagte ich (Sokrates) zu mir: ›Verglichen mit diesem Menschen bin ich doch weiser. Wahr­ scheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes; aber dieser glaubt, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß; ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.‹« W Das entscheidende Wörtchen in diesen Passagen ist das griechi­ sche »ouk« – die schwächste Form der Verneinung, die nur einfach »nicht« bedeutet und von »nichts« als der stärksten Form der Negation strikt unterschieden werden muss. R So ist es. Die schlichte Verneinung, »nicht« zu wissen, wird zudem auf »etwas« bezogen, verlangt also eine Unterscheidung zwischen den Gegenständen möglichen Wissens. Es kommt demnach immer erst darauf an, das Phänomen, das in Frage steht, zu bestimmen und zu fragen, was man von ihm wissen kann. W Auf die Frage nach dem Ergebnis von »zwei mal zwei« hätte Sokrates selbstverständlich »vier« geantwortet. Und für die Konstruk­ tion eines rechtwinkligen Dreiecks wäre er ohne Zögern auf jenen Halbkreis über der Hypotenuse der zu konstruierenden geometri­ schen Figur gekommen, den Thales hundert Jahre vorher erfunden hatte. Sein Grundprinzip war weder auf mathematisches noch auf empirisches Wissen – »nachts ist es dunkel« – bezogen.

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R Sokrates ging es nicht um bestimmtes Fachwissen, deshalb können die Handwerker in ihrem Fachgebiet auch weiser sein als er. Im Zentrum seiner Dialoge steht die Frage, wie zu leben sei als Ausdruck der »Sorge um die Seele«. Dies schließt die Frage nach dem Guten und den Tugenden ein. W Das sind Fragen, die nicht mit präzise definierbarem begrifflichen Wissen beantwortet werden können. R Als dünkelhaft dargestellt wird in den Sokratischen Dialogen typischerweise das vermeintliche Wissen über Tugenden von der Art der Gerechtigkeit (Thrasymachos: Politeia I), der Tapferkeit (Laches), der Besonnenheit (Charmides), der Freundschaft (Lysis) oder der Frömmigkeit (Eutyphron). W Nur von solchen Themen sagt der frühplatonische Sokrates zu Charmides: »Ich suche erst mit dir, was wir uns aufgegeben haben, weil ich es eben selbst nicht weiß.« Vom Gesprächspartner heißt es in dem nach ihm benannten Dialog (Charmides), er werde »bei weitem für den besonnensten unserer Jünglinge gehalten«; deshalb müsse er auch etwas von der Besonnenheit »auszusagen wissen«. R Charmides und sein Vetter Kritias werden zu Definitionen aufge­ rufen, scheitern jedoch mit ihren Bestimmungsversuchen, weil sie Besonnenheit als einen Gegenstand begreifen, über den ein scheinbar endgültiges inhaltliches Urteil abzugeben ist. Im Dialog wird jedoch klar, dass ihre Bestimmungsversuche nur Teilaspekte des Phänomens erfassen. Daher bleibt ein Rest des Nichtwissens. W Gernot Böhme schreibt: In den Fragen, wie zu leben sei, einerseits zu wissen und andererseits nicht zu wissen, sei, »wie Sokrates selbst sagt, eine Art innerer Helligkeit, ein waches Sich-selbst-Begleiten«. Es bezieht sich nicht nur auf das tugendhafte Handeln im Einzelfall und in der konkreten Situation, sondern auf das Gutsein des tugend­ haften Menschen im Ganzen.

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R Und zwischen Guthandeln und Gutsein besteht ein dialektisches Wechselspiel, das der Dialektik von Wissen und Nichtwissen ent­ spricht: Der Gerechte weiß, wie er situativ konkret zu handeln hat, um anderen gerecht zu werden. Dagegen weiß er nicht, wie Gerechtigkeit generell zu definieren ist. W Man könnte jedoch einwenden, dass es doch genüge, in der jeweiligen Situation zu wissen, wie zu handeln ist. Wozu da noch Definitionen bzw. ein entsprechendes Allgemeinwissen? R Da die Dialoge demonstrieren, dass vermeintliches Wissen doch zu falschen Entscheidungen führen kann, ist Sokrates bestrebt, mehr Klarheit zu gewinnen. Außerdem vermag der vermeintlich Gerechte faktisch nicht wirklich gerecht zu handeln. W Sokrates war überzeugt, dass jemand, der wisse, was gut ist, auch das Gute tun werde. Folglich würde die richtige Erkenntnis auch zum richtigen Handeln führen, wodurch dieser Jemand zu einem guten Menschen würde. R Daher kommt es wesentlich darauf an, das entsprechende Wissen zu vervollständigen. Aber dieses Wissen liegt nicht einfach auf der Hand, sondern lässt sich nur im offenen Dialog gewinnen. W Die betreffende Bewusstheit, eine Tugend zwar selbst-verständ­ lich leben, aber nicht allgemein-gültig bestimmen zu können, wird in allen frühplatonischen Dialogen zum Thema: Beim Besonnenen betrifft sie die Besonnenheit, beim Tapferen die Tapferkeit, beim Frommen die Frömmigkeit et cetera. R Als Beispiel sei der Dialog »Laches« herangezogen: Zwei erfah­ rene Feldherren, Nikias und Laches, streiten über die Frage, ob sie ihre Söhne zum Fechtunterricht schicken sollen: »Ist die Kunst den Jünglingen ersprießlich, in der ganzen Rüstung fechten zu lernen, oder nicht?« W Weil sie sich nicht einigen können, wird Sokrates sozusagen zum Schiedsrichter berufen und das Gespräch wie im Rahmen einer Gerichtsverhandlung inszeniert. Ganz dieser Inszenierung entspre­

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chend fragt Sokrates zunächst – juristisch gesprochen – nach dem Streitgegenstand, nämlich: »was es eigentlich ist, worüber wir berat­ schlagen und untersuchen«. R Denn das »Eigentliche« der dialogischen Auseinandersetzung ist nicht der Fechtunterricht als solcher, sondern dessen Beitrag zur »ersprießlichen« Erziehung der Söhne. Da die Tugend, auf die das Fechten abzielt, die Tapferkeit ist, verlangt Sokrates in der für ihn typischen Weise Rechenschaft über den »logos« der Tapferkeit. W Zu dessen Bedeutung heißt es bei Helmut Kuhn: Dieser Logos führe »sein Eigenleben«; »er befiehlt, gibt nach, läuft davon, narrt uns und lacht uns aus. Immer aber ist er es, dem als oberstem Richter Gehorsam geleistet werden muss.« Seine dialogische Struktur liege »in der Entfaltung des Redesinns« im Gespräch, wodurch zugleich »die Gemeinschaftlichkeit des Miteinanderfragens und Miteinander­ sprechens ermöglicht« werde. R Durch dieses »Miteinander« entsteht ein »Zwischenreich des Dia­ logs« – so der Titel der Habilitationsschrift von Bernhard Waldenfels –, in dem die individuelle Erfahrung mit der besprochenen Tugend so zur Sprache gebracht werden muss, dass mehr als eine Einzeler­ fahrung damit zu verbinden ist. Darauf bezieht sich das permanente und durchaus penetrante Fragen des Sokrates: auf die Frage, ob man etwas – im eigentlichen Sinn der heutigen Redensart – »allgemein so sagen kann«. W Das zeigt der Fortgang des Dialogs zwischen Laches und Nikias. Denn es fragt sich, ob man, wie Laches, allgemein sagen kann, Tapferkeit bestehe darin, »in Reihe und Glied standhaltend die Feinde abzuwehren und nicht zu fliehen«. Das ist eine einseitige Sicht, die der Allgemeinheit des Wortes »Tapferkeit« nicht entspricht. R Sokrates hält daher entgegen: »Ich wollte nicht nur erfahren, welches die Tapfern im Fußvolk wären, sondern auch in der Reiterei und in allem, was zum Kriege gehört; und nicht nur die im Kriege, sondern auch die Tapfern in den Gefahren zur See, ferner auch die, welche in Krankheiten und in Armut und in der Staatsverwaltung

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tapfer sind, ja noch mehr, nicht nur die gegen den Schmerz tapfer sind und gegen die Furcht, sondern auch die gegen Begierden und Lust stark sind zu fechten.« W Weil es nicht gelingt, dies in einer allgemeingültigen Definition auf den Begriff zu bringen, endet der Dialog mit der aporetischen Feststellung, nicht gefunden zu haben, was Tapferkeit als solche ist. R Eine ähnliche Situation finden wir in allen frühplatonischen Dia­ logen. Deshalb hat sich der Ausdruck »Sokratische Aporie« eingebür­ gert, die dann sogar als Scheitern des Dialogs interpretiert wird. W Wir verstehen das offene Ende dieser Dialoge jedoch im Sinne eines frühen Kritizismus, der sich letzte Antworten versagt, weil er die Grundhaltung des prinzipiellen Infragestellens niemals aufgibt. Das verlangt gerade den Verzicht auf endgültige Definitionen von Tugend­ begriffen. R Damit werden diese Begriffe nicht etwa der Beliebigkeit anheim­ gegeben. Vielmehr hat die Sokratische Dialogik nach Helmut Kuhn eine »Gewissenhaftigkeit der Rede« in die Welt gebracht, »die Höhe­ res fordert als wissenschaftliche Exaktheit und die die leere Gläubig­ keit des Nachtuns und Nachsprechens in Unruhe hält«. W Wenn ich das Zitat fortsetzen darf: »Alle Sokratische Rede« dreht sich um die Frage, »wie das Leben zu leben sei«, und diese Frage ist nie abschließend zu beantworten, wohl aber gegenüber vermeintlich Wissenden immer wieder anzusprechen: Der Angesprochene spürt dann, dass er »beim Wort genommen« wird und dass er in diesem Wort »er selbst ist mit der Art seines Lebens«. R Konsequent zu Ende gedacht, würde man von hier zu jener exis­ tenzphilosophischen Interpretation der Sokratischen Dialogik gelan­ gen, um die Sören Kierkegaard die Wirkungsgeschichte Sokratischen Philosophierens bereichert hat: »Sokrates akzentuiert wesentlich das Existieren, während Plato, dies vergessend, sich in Spekulationen ver­ liert.«

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W Wenn der Erkennende »ein Existierender« ist, vollzieht sich Erkenntnis nicht aus der Platonischen Erinnerung (»anamnesis«) an das vor der leiblichen Existenz Erkannte, sondern auf das jeweils akut bzw. aktuell zu Erkennende hin. Das wäre aber ein Thema für sich. Stattdessen sollten wir nach der Aktualität des Sokratischen Philosophierens fragen. R Diese Aktualität zeigt sich, wenn man den Vergleich mit einem Gerichtsverfahren in die heutige Zeit transferiert und die forensische Auseinandersetzung mit den Begriffen der gegenwärtigen Sprachphi­ losophie interpretiert. Vor Gericht geht es um die Würdigung eines Geschehens, das sowohl tatsächlich als auch rechtlich umstritten ist. Die Vorstellung, Richter könnten unstreitig festgestellte Tatsachen unter unstreitig interpretierte Rechtsnormen schlicht monologisch subsumieren, ist eine krasse Fehlvorstellung. W Die beste Begründung dafür findet sich in Wilhelm Schapps »Phi­ losophie der Geschichten« (im Plural). »Geschichten« sind Phäno­ mene unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit, in die wir »verstrickt« werden. Zu »Fällen« werden sie, wenn Rechtsansprüche aus ihnen hergeleitet werden. R Weder Alltagsgeschichten noch Rechtsfälle bestehen aus Bauele­ menten mit sprachlich vorgefertigter Bedeutung, die analytisch aus Klassifikationsbegriffen in wahrheitsgemäß formulierten Aussagen erschlossen werden können. Ihre entscheidenden Bestandteile sind Wörter, die als »Überschrift« zu verstehen sind oder »ungefähr gleich­ bedeutend« als »Titel, Thema, Stichwort«. W In der aktuellen Sprachphilosophie nennt man solche nicht-klas­ sifikatorischen Begriffe, unter die nicht einfach monologisch subsu­ miert werden kann, »Inferenzbegriffe«, von »infero«, ich trage hinein. Sie sind sozusagen Einträge im Wörterbuch unserer Erfahrungen. R Wir bringen erlebte Geschichten aus unserer Alltagswirklichkeit nicht durch Einordnung in ein System klassifikatorischer Begriffe zur Sprache, sondern durch typisierende Verwendung von Wörtern, mit denen diese Geschichten stichwortartig überschrieben oder betitelt werden können, um ihre Bedeutung abgekürzt zum Ausdruck zu bringen. Wie man Inferenzbegriffe nicht durch Blättern in einem

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beliebigen Lexikon zu verwenden lernt, erwirbt man auch kein Ver­ ständnis für die Überschrift einer Geschichte, ohne sich auf die ganze Geschichte einzulassen. W Hermann Lübbe hat insoweit auf eine »überraschende Überein­ stimmung« aufmerksam gemacht, die zwischen Schapps Geschich­ tenphilosophie und Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie besteht: »Geschichten« sage Schapp genau dort, wo Wittgenstein »Sprachspiele« sagt. Hier wie dort werden Wörter erst und nur dadurch zu Begriffen, dass sie in Sprachspielen beziehungsweise Geschichten gebraucht werden, in denen sie den Mit-Spielern respek­ tive Mit-Verstrickten etwas bedeuten. R Mit der Frage nach den Bedeutungen des Wortes Tapferkeit »in seinem Gebrauch in der Sprache« (Wittgenstein) wird die »Über­ schrift« für die im gemeinsamen Gespräch zu erfragenden Geschich­ ten (Schapp) vorgegeben und nach deren richtig verstandener und gut begründeter Bedeutung gefragt. In der oben zitierten Passage des »Laches« kann das Wort Tapferkeit als Überschrift über der ganzen Fallreihe verstanden werden, die Sokrates dort ansprach: als Tapferkeit der Krieger und Seeleute, der Kranken und Armen, der Politiker, aber auch der einfachen Leute, die tapfer sind in ihrem Schmerz, ihren Ängsten und Leidenschaften. W Wer dazu keine Geschichten zu erzählen weiß, hat keinen Begriff von Tapferkeit. Und erst aus dem Erzählen dieser Geschichten ergibt sich die Bedeutung des Wortes im allgemeinen Sprachgebrauch. So interpretiert, beginnt die sprachphilosophische Traditionslinie, die zu Schapp und Wittgenstein führt, mit Sokrates. R Selbstverständlich ist mit dieser Interpretation nicht die anachro­ nistische Behauptung verbunden, von den alten Griechen sei schon Sprachphilosophie im heutigen Sinne betrieben worden. Behauptet wird »nur«, dass die methodologischen Modelle der Überschrift über Geschichten und des Wortgebrauchs in Sprachspielen sich sehr gut mit dem Sokratischen Modus des Dialogs vertragen. Denn in diesem Modus geht es – um es zu bekräftigen – nicht darum, Wörter wie »gerecht«, »tapfer« oder »fromm« nach rein sprachlichen Merk­

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malen zu »definieren«, um dann die betreffenden lebensweltlichen Phänomene unter einen vermeintlich exakten Klassifikationsbegriff subsumieren zu können. W Die Absurdität einer subsumtionslogischen Deutung Sokratischer Dialogik dürfte evident sein: Sokrates hätte sein Leben nach die­ sem absurden Deutungsschema damit verbracht, nach Definitionen zu fragen, die am Ende jedes Dialogs verworfen werden. Solches Scheitern einer Lebensaufgabe hätte tödliche Frustration zur Folge gehabt. Kriton berichtet aber von lebenslanger Lust auf Gespräche und sagenhafter Seelenruhe vor und nach dem Trunk aus dem tod­ bringenden Schierlingsbecher. R Wir haben das Ende des Prozesses erlebt und lassen offen, ob die Verurteilung dem damals geltenden Recht entsprach. Für den »Wendepunkt« der »sogenannten Weltgeschichte« (Nietzsche) steht aber eines fest: Sokrates kümmerte sich nicht um göttliche oder weltliche Autoritäten, glaubte nicht an eine von ihnen verkündete Wahrheit, sondern war so frei, den »logos« eines lebenspraktischen Phänomens in dialogischer Auseinandersetzung zu entwickeln. So ist er zum Protagonisten des Dialogs und zum Vorkämpfer eines nicht-absolutistischen Wahrheitsbegriffs geworden. W Hannah Arendt hat sich in ihrer Sokrates-Vorlesung mit dem schönen Titel »Apologie der Pluralität« gegen Platons »Tyrannei der Wahrheit« und für die Sokratische Position ausgesprochen, den Absolutheitsanspruch »der« Wahrheit aufzugeben. »In einem wahr­ haftigen Dialog« könne jeder »die Wahrheit begreifen ... die in der Meinung des anderen liegt« oder, »ein wenig trivial« formuliert: könne jeder »die Dinge vom Standpunkt des anderen aus« sehen«. Eine »absolute Wahrheit«, die »keinerlei Beziehung zur Individualität hätte«, könne es in der Frage eines guten Lebens nicht geben. R Die Betonung dieser Individualität verlangt die Anerkennung jener Pluralität der Perspektiven, die im Zentrum ihres Plädoyers zur Verteidigung des Dialogikers Sokrates steht.

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W Ob mit oder ohne Hannah Arendt begründet, steht am Ende unseres ersten Kapitels fest: »Ich weiß, dass ich nichts weiß« ist eine Formel, mit der ein ernsthafter philosophischer Dialog über den Sokrates der frühen Platonischen Dialoge nicht geführt werden kann. R Wirkungsgeschichtlich gilt dies auch für das Nichtwissen als Prinzip Sokratischen Philosophierens, das heißt: für den prinzipiell anzuerkennenden Modus des Dialogs in der erwähnten Frage eines guten Lebens, auf die es in der Tradition des unsterblichen Sokrates keine monologische Antwort gibt. W Durch seine philosophische Unsterblichkeit ist Sokrates mit einem schönen Wort Hans-Georg Gadamers zur »ewigen Gestalt des Phi­ losophen« geworden. Das hat einen zutiefst humanen Grund: Im Sokratischen Dialog dürfen alle mitreden, die sich Gedanken über das Gelingen ihres Lebens machen. R Gut gesagt: »Mitreden lassen« ist der Imperativ aller Sokratiker. Er zieht die philosophische Konsequenz aus der trivialen – aber keineswegs banalen – Tatsache, dass unser Leben nur gemeinsam gelingen kann ... W ... und wir nur unter freien Menschen frei sein können. R Der Sokratische Dialog ist ein Gespräch unter Freien, weil kein Gesprächspartner den Anspruch absoluten Wissens erhebt. Das Mit­ reden erfolgt in einem Durchsprechen des Gesprächsgegenstands, in dem die verschiedenen Ansichten über ihn zu Wort kommen. Am Ende weiß man mehr als am Anfang, aber niemals alles. W »Alles« zu wissen wäre ebenso wenig im Sinne des ewigen Sokra­ tes wie »nichts« zu wissen. »Nicht« zu wissen, heißt für Sokratiker damals wie heute: die Frage, wie wir gemeinsam gut leben können, nicht mit monologischem Wissen zu beantworten. R Mancher Zeitgenosse wird sich fragen, wozu dieses Sokratische Wissen nützt. Was sagen wir dazu?

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W Was ist nützlicher, als sich darüber klar zu werden, wie man ein gelingendes Leben führen kann? Sokrates hält es für »das größte Gut für den Menschen, täglich über die Tugend sich zu unterhalten«, weil die Sorge um die Seele das Wichtigste im Leben ist. Er betont, dass »ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient, gelebt zu werden«. R Werfen wir zur Frage der Nützlichkeit abschließend einen Blick in die »Apologie«. »Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich lieber dem Gott als euch, und solange ich noch atme und die Kraft dazu habe, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und jeden von euch, den ich antreffe, zu ermahnen und auf meine gewohnte Art zurechtzuweisen, etwa: ›Mein Bester, du bist doch ein Athener, ein Bürger der größten und an Bildung und Macht berühmtesten Stadt. Schämst du dich nicht, dass du dich zwar darum bemühst, wie du zu möglichst viel Geld, zu Ruhm und Ehre kommst, aber dich nicht um die Einsicht und die Wahrheit sorgst und kümmerst und darum, dass deine Seele möglichst gut werde?›... Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, nicht mehr so sehr für den Leib zu sorgen und für das Geld, sondern euch mehr um die Seele zu kümmern und darum, dass sie möglichst gut werde.«

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3. Heraklit: »Krieg« als Vater aller Dinge

R Diogenes Laertius berichtet in seinem Buch über »Leben und Mei­ nungen berühmter Philosophen«, Heraklit habe im Artemistempel zu Ephesos »mit den Knaben Würfel gespielt«. Der Tempel sei außerdem Aufbewahrungsort seiner Schriften gewesen. W Sie sind leider verlorengegangen, wahrscheinlich verbrannt. Über­ liefert sind nur Fragmente, die Heraklit jedoch nicht als solche ver­ fasste. Es sind nur kleinere oder kleinste Bruchstücke erhalten, die sich in Texten späterer griechischer, römischer und byzantinischer Autoren finden. R Heraklit gehört neben anderen »Vorsokratikern« wie Thales, Ana­ ximander, Anaximenes und Demokrit zu den sogenannten Naturphi­ losophen. Sie fragten nach dem Ursprung allen Seins und nach einem universalen Ordnungsprinzip für die Natur als Ganze. W Er starb im Jahr 460 vor der christlichen Zeitrechnung. Schon in der Antike hatte er den Beinamen »Der Dunkle«, weil seine Philosophie oft in aphoristischer Kürze unklar geblieben war und unterschiedliche Deutungen zugelassen hatte. R Deshalb haben wir uns anders als im Fall des Sokrates gegen eine fiktive Reise in die Vergangenheit entschieden ... W ... weil sie uns »den Dunklen« nicht ins helle Licht der Erkenntnis gerückt hätte. Stattdessen greifen wir auf die Texte zurück, die im griechischen Original und in deutscher Übersetzung in der Sammlung »Die Fragmente der Vorsokratiker« von Hermann Diels enthalten sind. Die Zählung der Fragmente ist beliebig, sagt also nichts über die inhaltliche Relevanz aus.

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R Unsere Kritik bezieht sich auf das Fragment Nummer 53 nach Diels Zählung. Es ist eine weit verbreitete, fast schon allgemeine Ansicht, dass die Sentenz »Krieg ist der Vater aller Dinge« repräsen­ tativ für Heraklits Philosophie sei. W Weil das betreffende Fragment zur ständig wiederholten Stan­ dardformel geworden ist, wurde es philosophiegeschichtlich beson­ ders wirksam. R Die griechische Fassung des zugrundeliegenden Satzes lautet: »polemos panton pater esti.« Wir fragen uns – jeder sich selbst und wir einander –, ob die herkömmliche Übersetzung von »polemos« haltbar ist oder eine fatale Fehldeutung im Sinne unseres Verständnis­ ses darstellt. W Wenn Philosophie, mit Hegel gesprochen, »ihre Zeit in Gedanken erfasst« ist, erscheint die Deutung wenig plausibel, Heraklit habe »polemos« als »Krieg« verstanden. Denn zu seinen Lebzeiten wäre dies der verlustreiche, grausame oder sogar brutale Krieg gegen die Perser gewesen. R Dass du Heraklit mit Hegel kommentierst, kann kein Zufall sein. Denn wie wir noch erläutern werden, feiert die Hegelische Dialektik Heraklit als ihren Entdecker. Was das zeitgenössische Urteil über die Unvernunft der Perserkriege betrifft, brauchte Heraklit das literarische Zeugnis Herodots, das erst dreißig Jahre nach seinem Tod entstand, nicht abzuwarten. Im Übrigen erscheint es mir abwegig, einen Naturphilosophen auf den Krieg als kosmisches Prinzip festle­ gen zu wollen. W Denn bei dieser Festlegung hätte sich seine Philosophie der Natur an der Vernichtung eines Gegners, der Verwüstung eroberter Land­ striche und der Versklavung von Frauen und Kindern orientieren müs­ sen, die in den Perserkriegen das brutale Kriegsgeschehen bestimm­ ten.

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R Wenn man allerdings an die Kriege der Götter in der griechischen Mythologie denkt, haben Zeus, Poseidon und Hades als olympische Brüder ihre Herrschaft durch den Sieg über die Titanen begründet. Insofern könnte Heraklit dem Götterkrieg theoretisch durchaus eine Art Vaterrolle zugeschrieben haben. W Theoretisch vielleicht, praktisch aber keinesfalls. Denn die Rolle des Krieges war nicht sein Thema. Er fragte wie die anderen Natur­ philosophen nach der Ur-Sache der Naturerscheinungen, nach deren Ur-sprung oder Ur-grund (»arche«). Das Fragment muss im Kontext der anderen verstanden und auf die Frage nach der »arche« bezogen werden. Die Bedeutung von »polemos« ergibt sich erst, wenn das Bruchstück Nummer 53 mit anderen Bruchstücken zu einem Ganzen verbunden ist. R Dafür ist eine Art archäologischer Arbeit mit den Textbruchstü­ cken erforderlich: Sie sind so zusammenzufügen, dass – wie bei den Scherben einer Vase – die ursprüngliche Form erkennbar wird. Wir sollten den Scherbenhaufen der Fragmente daher zunächst daraufhin durchsuchen, ob sich noch weitere Bruchstücke mit der Aufschrift »polemos« finden. Das ist in Fragment 80 der Fall. Dort ist auch die Rede vom Streit (»eris«), der das Recht kennzeichne. W Ich halte die Übersetzung von »polemos« mit »Krieg« gerade im Zusammenhang mit »eris« für verfehlt und berufe mich dafür – wie du bereits vorweggenommen hast – auf Hegel. Er sieht in den beiden von uns zitierten Fragmenten 53 und 80 die Entdeckung der Dialektik »als Prinzip« und übersetzt »polemos« in diesem Zusammenhang mit »Kampf«. Allerdings scheint mir diese Übersetzung kein wirklicher Gewinn zu sein. R Im Sinne eines nicht-kriegerischen Kampfes ist vor allem auch Fragment 8 zu verstehen, in dem es heißt, »alles entsteht durch den Streit« (»eris«). W Polemos und eris bilden vermutlich eine Bedeutungseinheit.

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R So sehe ich das auch. »Alles« verweist auf das Prinzip des Logos, dessen Bedeutung wir nun näher betrachten sollten. In seinem Stan­ dardwerk »Vom Mythos zum Logos« beschreibt Wilhelm Nestle eine epochale Entwicklung: das Ende mythischer Erzählungen vom Walten der Götter in der Welt. W Das Weltliche wurde nun zum Kosmos sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungen. Und die »Kosmologen« – wie man die Naturphiloso­ phen dieser Zeit auch nennt – fragten nach dem stofflichen Urprinzip, das den Kosmos im Innersten zusammenhält. Das Interesse galt der Suche nach der Einheit des jeweiligen Prinzips in der Vielheit seiner Erscheinungen. R Heraklits herausragende Stellung in der Naturphilosophie der Vorsokratiker hat ihren Grund in der Tatsache, dass er anders als alle anderen kein stoffliches Prinzip zum Ursprungsprinzip erklärt. Bei Thales war der Urstoff das Wasser, bei Anaximenes die Luft. Heraklit benennt sein nicht-stoffliches Urprinzip mit einem Wort, das seinen vollen metaphysischen Sinn nur entfalten kann, wenn es unübersetzt bleibt: »logos«. W So sagt es im Ergebnis auch Wilhelm Capelle in seiner von ihm übersetzten und erläuterten Sammlung »Die Vorsokratiker«. Gleichwohl gibt er hilfreiche Hinweise auf den Bedeutungsumfang: »Logos meint eigentlich das sinnerfüllte Wort, die vernünftige Rede« – so haben wir den Logos des Sokratischen Dialogs verstanden – und »dann die Vernunft, hier bei Herakleitos die ›Weltvernunft‹, die gleich dem Weltgesetz ist.« R Kurz vorher wird das Fragment 1, von dem man weiß, dass es tatsächlich »ganz zu Anfang« der Schriften Heraklits stand, als »von fundamentaler Wichtigkeit« bezeichnet. W Vom »logos« als fundamentalem oder basalem Begriff der Philo­ sophie Heraklits heißt es dort, »alles« (»panton«) erfolge durch ihn (»kata ton logon«). Dieses »Erfolgs«-Prinzip ist die ewige, alles len­ kende Weltvernunft, die den Charakter eines göttlichen Weltgesetzes hat, für das gilt: »alles ist eins«. Nochmals Capelle: »Die Weltver­ nunft, der Logos, ist identisch mit der Gottheit, die das Weltprinzip, das Weltgesetz ist.«

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R In Fragment 2 übt Heraklit Kritik an einer Mehrheit derjenigen, die nicht dem gemeinsamen Weltgesetz folgen: »Obgleich aber der Logos allen gemeinsam ist, leben doch die Vielen, als ob sie eine eigene Denkkraft hätten.« W Thomas A. Szlezák schreibt in seinem Buch »Was Europa den Griechen verdankt«: »Göttlich« war für jeden Vorsokratiker »sein jeweiliger Urstoff«. Sie verstanden ihn aber »nicht als bloße Materie«, sondern – im Sinne der späteren Vierursachenlehre des Aristoteles – als »Wirkursache«. W Heraklits Logos ist das alles bewirkende Entstehungs-, Erhal­ tungs- und Erneuerungsprinzip der kosmischen Vernunft. R Angesichts der zerstörerischen Unvernunft der Perserkriege wird hier nochmals deutlich, wie verfehlt die Übersetzung von »polemos« mit »Krieg« ist. W Das Erneuerungsprinzip des Logos hat zwei Seiten, die so mit­ einander verbunden sind wie die beiden Seiten einer Münze: eine Inhaltsseite und eine Verfahrensseite. Auf der Inhaltsseite zeigt sich der Logos als Prinzip kosmischer Vernunft, auf der Verfahrensseite als notwendiger Widerstreit im Werden der Dinge. R Über den Menschen in diesem Kosmos sagt ein Fragment: »Lebend rührt er an den Toten, wachend rührt er an den Schlafenden.« Leben und Sterben, Wachen und Schlafen sind bei Heraklit keine kontradiktorischen, sondern polar-konträre Gegensätze: Pole einer Skala mit fließenden Übergängen. W »Panta rhei« – »Alles fließt« ist diejenige Formel, die man auch außerhalb fachphilosophischer Diskurse mit Heraklit in Verbindung bringt. Sie besagt im Sinne einer natürlichen Dialektik der Verände­ rung: Die Natur und mit ihr das Wesen des Menschen ist nicht auf ein statisches Sein festgelegt, sondern auf ein dynamisches Werden. R »Das Kalte wird warm, Warmes kalt; Feuchtes trocken, Trockenes feucht.« Das sind zutreffende Beschreibungen von natürlichen Verän­ derungen, die uns in alltäglichen Erfahrungen begegnen.

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W Vielleicht könnte man die fließenden Übergänge bei solchen Ver­ änderungsprozessen mit den drei Aggregatzuständen des Wassers vergleichen: Es kann zu Eis erstarren oder als Dampf entweichen, bleibt aber doch immer Wasser und ist als solches nicht auf den flüssigen Zustand beschränkt – wobei sofort auffällt, wie wenig das Wort »Zustand« mit dem Adjektiv »flüssig« harmoniert. R Auf das Phänomen des Fließens beziehen sich drei Fragmente. Sinngemäß lauten sie: In denselben Fluss steigt man nicht ein zweites Mal; in ihm fließt uns immer neues Wasser zu und wir sind es und sind es nicht, die in denselben Fluss steigen. W Das Fließen des Wassers ist ein sehr anschauliches Bild für die ständige Veränderung desselben Flusses. Als philosophische Meta­ pher für die Veränderung des Kosmos profitiert sie von dieser Veran­ schaulichung. R Nach diesen Überlegungen können wir das Fließen auch als hilf­ reiches Bild für die Interpretation von »polemos« nutzen: Kampf und Streit sind Kräfte, die eine Verfestigung des Kosmos verhindern und seine flüssige Natur begründen. W In eben diesem Sinne spricht Hegel in einer seiner bekanntesten Bestimmungen der Dialektik von der »flüssigen Natur« der drei »Momente« einer Pflanze: Knospe, Blüte und Frucht. Sie widerstrei­ ten und verdrängen einander in ihrer Gegensätzlichkeit, machen aber dennoch erst zusammen »das Ganze« der Pflanze aus. R Am Ursprung der Dialektik waren es schon bei Heraklit nicht die Gegensätze als solche, die sein Philosophieren bestimmten; es war ihr Potential, eine über den Gegensätzen stehende neue Einheit hervorzubringen: Die Natur bringe aus dem »Entgegengesetzten« den »Einklang« hervor, »nicht aus dem Gleichen«. Das zeige die Paarung von männlichem und weiblichem Geschlecht. W Diese Dialektik gilt auch für das Feuer, aus dem nach Heraklits Vorstellung der Kosmos entstanden ist. Auch dabei wäre es verkehrt, an die vernichtenden Brände eines mörderischen Krieges zu denken. Das Feuer, das alles Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht, brennt

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auf der Sonne. Es verzehrt sich zwar langsam selbst. Aber schon Heraklit betonte, dass es sich aus Sicht menschlicher Erdenwesen täglich erneuert: »Die Sonne ist neu an jedem Tag.« R Weil der Logos »alles« steuert, hat auch das Feuer der Sonne Anteil an der göttlichen Weltvernunft. Dazu nochmals Szlezák: »Die Gott­ heit ›Zeus‹ hat die Welt nicht geschaffen, denn sie ist ungeschaffen, ewig lebendiges Feuer.« W Und weiter: »Doch der Blitz, in der mythischen Religion das Symbol von Zeus’ uneingeschränkter Macht, kehrt auch in Heraklits philosophischer Religion wieder«: »Das All steuert der Blitz ... Das Feuer, das die Welt ist und zugleich [als Blitz] steuert, ist vernunftbe­ gabt ... [es ist] jener Logos, der verstehen lässt, dass alles eins ist.« R Das Begriffspaar »mythische Religion« und »philosophische Reli­ gion« trifft die Entwicklung des griechischen Denkens noch besser als Nestles Wandel vom Mythos zum Logos. Denn ein Rest an Religion blieb im göttlichen Logos ja erhalten. W Wolfgang Welsch betont, Logos habe bei Heraklit »in erster Linie die Bedeutung von Grund« – und zwar Grund alles Seienden in der Struktur von Gegensätzen: »Das Große ist groß nur gegen das Kleine, das Einfache einfach nur gegenüber dem Komplexen, das Dichte dicht nur im Verhältnis zum Dünnen.« R Für diese göttliche Struktur des Logos haben die Menschen kein Verständnis, klagt Heraklit: »Obgleich die Vernunft allen gemeinsam ist, lebt die Masse der Menschen, als ob sie eine eigene Einsicht hätte.« W Welsch kommentiert im dialektischen Sinne des Logos: »Die Menschen erkennen nicht, dass das, was ihnen vor Augen tritt, jeweils eine Fügung aus Gegensätzen darstellt ... So folgen die Men­ schen, statt auf den Logos zu hören, selbstgemachten Anschauungen: sozialen Phantasmen, autoritären Vorgaben, Kapriolen des Eigenden­ kens.«

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R In der Heraklitischen Forderung, dem Logos der Welt zu folgen, sieht Welsch die philosophische Alternative zum Sokratischen Prinzip einer »Beschränkung auf das Bloßmenschliche«. Diese Beschränkung sei »in Heraklits Augen der ärgste Irrweg«. Nur habe er »wenig Hoff­ nung« gehabt, »dass seine Mahnung auf Dauer Gehör finden werde«. W Fragen wir dennoch nach der aktuellen Bedeutung Heraklits. R »Der Streit ist der Vater aller Dinge« ist ein zukunftsfähiger Satz. Für ein Gebiet und eine Wissenschaftsdisziplin dürfte dies evident sein: Die streitige Auseinandersetzung darüber, wer Recht hat und Recht bekommt, ist das Konstitutionsprinzip oder mit Kant der Anfangsgrund der Jurisprudenz. W Auch die Politik lebt ganz offensichtlich vom Streit um die beste Gestaltung unseres Gemeinwesens – das mit dem lateinischen Lehn­ wort »Republik« und auf Deutsch »Freistaat« heißt. Genaueres wird sich aus unserem Dialog über Rousseau ergeben. R Die Verfahrensseite des Heraklitischen Logos werden wir in Hegels Dialektik wiedererkennen. War der Widerstreit der Kräfte bei Heraklit ein kosmisches Prinzip, wird der Widerspruch gegensätz­ licher Momente bei Hegel zum Prinzip der Genealogie des Geistes. W Den Herklitischen Blitz könnte man kosmologisch auf den Urknall beziehen, den Anfang des evolutiven Weltprozesses. Ursprünglich war »Big Bang« nur ein lautmalerischer Ulk, mit dem Fred Hoyle die Hypothese einer Entstehung des Universums aus einem großen Knall despektierlich abzutun versuchte. Inzwischen ist das Ulkige in Vergessenheit geraten und »Big Bang« kursiert als vermeintlicher Fachausdruck für ein kosmisches Faktum. R Was für eine Ironie! Physiker wie Stephen Hawking hingegen sprechen von einer kosmischen Singularität, für die es bis heute keine mathematische Beschreibung gibt und auf die auch die Relativitäts­ theorie keine Anwendung findet.

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W An der sich beschleunigenden Expansion des Universums gibt es jedoch keinen sinnvollen Zweifel. Und das Hubble-Weltraumteleskop lieferte Bilder vom Anfangsstadium des Kosmos, die sogenannte Hintergrundstrahlung, sodass ein kosmisches Ereignis der Art eines Urknalls angenommen werden muss. R Fassen wir zusammen: Heraklit auf den »Krieg« als Vater aller Dinge festzulegen, ist eine fatale Fehldeutung, weil der Heraklitische Logos als kosmisches Prinzip der Weltvernunft nicht von der Ver­ nichtung eines Kriegsgegners lebt, sondern von der Veränderung widerstreitender Kräfte im fließenden Wandel einer sich selbst erneu­ ernden Welt.

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4. Platon: »Ideenlehre« der Philosophenherrschaft

R Wie angekündigt, wechseln wir bei Platon die Ebene unserer Kritik: Wir kritisieren nicht die irrige Interpretation eines philosophi­ schen Systems, sondern die originale Konzeption des Systems. W Die schärfste Kritik stammt von Friedrich Nietzsche. Der »schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer« der Philosophie sei ein »Dogmatiker-Irrtum« gewesen, »nämlich Platons Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich«. R Der »Kampf« gegen diesen Irrtum sei, »um es verständlicher zu sagen«, »der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden – denn Christentum ist Platonismus fürs ›Volk‹«. W Ob wir uns dieser Kritik anschließen können, wird sich bei der Diskussion des Platonischen Idealismus »reinen« Geistes herausstel­ len. Richtig ist jedenfalls, dass dieser Idealismus die europäische Philosophie über zweieinhalb Jahrtausende maßgeblich geprägt hat. R In diesem Sinne ist Alfred N. Whiteheads Diktum zu verstehen, die philosophische Tradition bestehe aus einer Reihe von Fußnoten – »a series of footnotes« – zu Platon. Am Ende der Reihe kritischer Fuß­ noten wird Nietzsches Absage an das »Gute an sich« durch Hannah Arendts Angriff auf eine »Tyrannei der Wahrheit« noch übertroffen. W Dass die Wahrheit tyrannisch wurde, könnte sich als fatale Wir­ kung der oft so benannten »Ideenlehre« Platons herausstellen. Dabei ist zunächst fraglich, ob Platon seine Position überhaupt in einer philosophischen »Lehre« entwickelt hat.

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R Es gibt keinen Dialog, der Platon zugerechnet werden kann, in dem er eine ausgefeilte Lehre der »Ideen« vorstellt. Zwar sprechen etliche Dialoge vom »eidos«, aber nur aus einer Synopse dieser Dialoge könnte so etwas wie eine Lehre erschlossen werden. W Dies gilt allerdings nur für die späteren Werke, in denen nicht mehr der »historische« Sokrates spricht, sondern sozusagen ein zwei­ ter Sokrates, der Platons Philosophie vertritt. R Im siebenten Brief Platons – sofern er tatsächlich authentisch ist – schreibt er: »Über alle jetzigen und künftigen Autoren, die versichern, über die Hauptgegenstände meines Studiums etwas zu wissen, sei es unmittelbar oder mittelbar durch mich selbst oder durch eigene Forschung, äußere ich mich folgendermaßen« ... W ... Ich setze fort: »Nach meiner philosophischen Grundanschauung jedenfalls verstehen sie von der Philosophie rein gar nichts. Über solche Inhalte gibt es auch weder jetzt noch künftig irgendwelche Schriften von mir. Denn man kann sich darüber nicht wie über gewöhnliche Wissensgebiete äußern. Vielmehr wird die Seele das Wesentliche unvermittelt gewahr.« R Die Absage an eine zu vermittelnde »Lehre« ist deutlich. Außer­ dem variiert der epistemische Charakter der Ideen in der Entwicklung der Dialoge, also in einem Zeitraum von ca. 50 Jahren, ebenso wie ihr ontologischer Status. W Dies ist erklärungsbedürftig. Platons sogenannte Ideenlehre wird häufig primär als Erkenntnistheorie verstanden. Nicht durch sinnliche Wahrnehmung würden wir das Wesen der Dinge erfassen, sondern wir erkennen sie nur im Licht der Ideen. R Sie allein garantieren wahre Aussagen nicht nur über sinnlich Wahrnehmbares wie die Angelfischerei, sondern erst recht über immaterielle Dinge wie die Tapferkeit und die Gerechtigkeit. W Das sind Angelegenheiten, um die sich der besinnliche Mensch sorgen soll, wenn er ein gelingendes Leben führen will. In diesem Punkt kommt Platon mit Sokrates überein: in der Sorge um die Seele.

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R Aber Platon sorgt sich im Unterschied zu seinem Meister nach dessen Verurteilung und Tod auch und zunehmend um die Politik, denn eine Polis, die es zulässt, dass der Weise von Athen – wie das Orakel von Delphi sprach – zum Tode verurteilt wird, war für Platon ein fürchterlicher Schock. W In der »Apologie des Sokrates« verteidigt er nicht nur seinen philosophischen Lehrer und Freund, sondern er lässt ihn quasi wieder auferstehen von den Toten. Und je älter Platon wird, umso mehr macht er den »zweiten Sokrates« zum Wortführer seiner eigenen Gedanken und umso weniger findet ein wirklich dialogischer Aus­ tausch von Argumenten statt. R Der Prozess gegen Sokrates ist für Platon zu einem traumatischen Erlebnis geworden. Er erkannte, dass Philosophie und Politik in einem Grundkonflikt stehen. Deshalb konnten die Verteidigungsargumente des Sokrates dessen Ankläger und die Mehrheit der 501 Laienrichter nicht überzeugen. W Aber Sokrates hat sich doch nicht in politische Angelegenhei­ ten eingemischt. R Ja, dies nicht unmittelbar, aber er hat jene Söhne der athenischen Aristokratie, die als seine Schüler angesehen werden können, zum kritischen Nachdenken aufgeweckt. Das dürfte manchem Vater nicht gefallen haben. W Der Konflikt zwischen den Vätern und Sokrates wird für Platon zum Konflikt zwischen der Polis und der Philosophie. Die philosophi­ schen Reden des Sokrates richten nicht nur nichts aus, sie gehen unter und mit ihnen der Sprecher. R Für Platon ergibt sich daraus eine fatale Schlussfolgerung: Wenn die Polis den Philosophen nicht schützen kann, muss der Philosoph die Polis regieren. In seinem Spätwerk »Politeia« wird diese Auffas­ sung zur vielzitierten »Philosophenherrschaft«. W Der vermutete Ideenprediger greift nach politischer Herrschaft – eine überraschende Wendung. Dies wäre aber eine irreführende Interpretation. Zwar hat Platon sich in Syrakus beratend politisch

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betätigt, aber er war weit davon entfernt, eine Philosophenherrschaft anzustreben. In der »Politeia« wollte er ein ideales Modell für den guten und gerechten Staat entwerfen, in dem die Philosophen eine bedeutende Aufgabe übernehmen. R Betrachten wir einige Fakten. Platon hat auch nach eigenem Bekunden drei Reisen nach Syrakus unternommen: die erste im Jahr 388 v. Chr., die zweite nach 22 Jahren im Jahr 366 und die dritte im Jahr 361, bei der er bereits 67 Jahre alt war. W Alle drei Reisen, die das Ziel hatten, Tyrannen von Syrakus, Dio­ nysios I. und Dionysios II., philosophisch-politisch zu »bekehren«, sind letztlich gescheitert. Während Platon in Athen keine Möglichkeit sah, politisch wirksam zu werden, erblickte er im Stadtstaat Syrakus dafür gewisse Voraussetzungen. In dem genannten siebenten Brief erläutert er die Umstände. R Dionysios’ Schwager namens Dion war begeisterter Anhänger der Platonischen Philosophie und bewegte Platon zu reformieren­ den Maßnahmen nach dessen Ideen. Zehn Jahre vor der zweiten Syrakus-Reise verfasste der Meisterdenker die »Politeia« vermutlich 377 v. Chr., deren Konzept er als die beste Regierungsform für die Polis erachtete ... W ... aber möglicherweise nur als paradigmatischen Entwurf, als Muster für die beste Regierung. R Woraus schließt du dies? W Platon schreibt in der »Politeia«, er stelle in der Art eines guten Malers »ein Musterbild eines gutes Staates« auf und der Philosoph sei ein »Zeichner des Staates«, der »die schönste Zeichnung« desselben verfertigt. Damit relativiert er gewissermaßen den Anspruch auf reale Umsetzung der »Zeichnung«. R Bei diesem »Entwurf« geht es um die Frage, wie ein gerechter Staat garantiert werden kann. Denn Platon perhorresziert die Entwicklung von der ursprünglichen Monarchie über die Oligarchie zur Demokra­ tie als Herrschaft der niederen Schichten.

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W Die Demokratie sei besonders anfällig für Populisten, die sich dann zu Tyrannen entwickelten. Dieses Elend müsse verhindert wer­ den. Daher die Forderung: »Wenn nicht ... entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten, oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren, und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie ... eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten.« R Eine zweite Besonderheit gilt es zu betrachten. Das zu großer Berühmtheit gelangte »Höhlengleichnis« findet sich ausgerechnet in der »Politeia«. Die Verteidiger einer Platonischen »Lehre« von den Ideen nehmen an, Platon habe sie zusammen mit dem Linien- und Sonnengleichnis vorgestellt. W Dass er diese Vorstellung nicht in diskursiv-dialogischer Rede entwickelt hat, sondern in der Sprachform des Gleichnisses, spricht aber eher gegen die Annahme einer »Lehre«! R Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben, zu behaupten, dass die Gleichnisse und insbesondere das Höhlengleichnis tragende Säulen der Konstruktion des gerechten Staates sind und dass zwischen bei­ den, »Ideenlehre« und Politik, ein innerer Verweisungszusammen­ hang besteht, den es zu erfassen gilt. W Unser Hauptaugenmerk richtet sich auf das Höhlengleichnis, aber es wird gedanklich durch das Sonnengleichnis verstärkt, weil Platon hier die Idee des Guten als höchste Idee darstellt. Für den guten Herrscher reicht es nicht aus, über die Grundtugenden der Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit zu verfügen ... R ... die durch die Tugend der Gerechtigkeit in ein harmonisches Verhältnis zueinander gebracht werden. W Ja. Aber der gerechte Herrscher muss seine Tugenden zusätzlich noch im Licht der höchsten Idee erfassen, der Idee des Guten. R Dieses Licht spendet sinnbildlich die Sonne. Platon schreibt: »Denn dass die Idee des Guten die größte Einsicht ist, hast du schon vielfältig gehört, als durch welche erst das Gerechte und alles was sonst Gebrauch von ihr macht nützlich und heilsam wird.«

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W Und weiter: »Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung ... Eben so nun sage auch, dass dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt.« R Dem Guten, versinnbildlicht durch die Sonne, kommt ein einzig­ artiger Rang zu. Die Idee des Guten steht über allen Ideen, sie hat gewissermaßen göttlichen Rang. Wer einen Staat regieren soll, muss seine Erkenntnis der Gerechtigkeit, zu der er seine Seele gebildet hat, an der Idee des Guten messen. Da nur wahrhafte Philosophen die Idee des Guten geschaut haben, sind sie berufen, einen gerechten Staat zu regieren. W Nun können wir uns dem Höhlengleichnis widmen und es in drei Schritten darstellen. Die gefesselten Höhlenbewohner, die nur auf die Höhlenwand schauen können, sehen dort die Schatten, die ein vor der Höhle brennendes Feuer von Gegenständen und Figuren erzeugt, die draußen hin- und hergetragen werden. Sie halten die Schattenbilder an der Wand für reale Personen und Sachen. R Im zweiten Schritt wird einer der Höhlenbewohner von den Fesseln befreit und zum Umwenden der Blickrichtung gezwungen. Er vermag den Unterschied von Schatten und realen Gegenständen zu erfassen, gleichwohl bleiben diese noch verdunkelt. W Der letzte Schritt dient der Befreiung des Entfesselten aus der Höhle ins Tageslicht, an das er sich aber erst langsam gewöhnen muss. Erst im Licht der Sonne erscheinen die Dinge in ihrem wahren Sein. R Schließlich gelingt es dem Befreiten, in die Sonne zu blicken, »dass zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, dass sie für Alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend ...«.

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W Und nun stellt Platon die Verbindung zwischen der Erkenntnis des Guten und dem guten Herrscher her: »...und dass also diese sehen muss, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentliche Angelegenheiten«. R Platon betont, dass jeder Schritt mit einer Umkehr der ganzen Seele verbunden ist. Wir würden sagen: mit einer radikalen Verände­ rung des Bewusstseins. W Den Aufstieg aus der Höhle beschreibt Platon als Befreiung zur wahren Erkenntnisfähigkeit und zum wahren Menschsein, wobei die Befreiung nicht selbst gelingt, sondern durch den »Retter« veranlasst wird. Platon lässt offen, ob dieser Retter Sokrates ist. In der Höhle, im normalen Dasein, ist der Mensch nicht wirklich Mensch. Er lässt sich blenden von den sinnlichen Erscheinungen. Erkenntnis und wahres Menschsein gehören zusammen. R Zu den höchsten Ideen gehören: das Wahre, Schöne und Gute. Die höchste Idee schlechthin ist jedoch die Idee des Guten. Obwohl man normalerweise nicht in die Sonne sehen kann, ist es dem Befreiten zumindest im Gleichnis vergönnt, die Sonne zu erblicken. W Platon überlegt zum Schluss, was geschehen würde, wenn der Befreite seine Erkenntnis des Guten gegenüber den Höhlenbewoh­ nern rechtfertigen wollte. »Wenn ein solcher nun wieder hinunter­ stiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne her­ kommt? – Ganz gewiss. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet ... würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen, und es lohne nicht, dass man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?« R Mit dieser Wendung spielt Platon auf das Schicksal des Sokrates an und behauptet zugleich einen Grundkonflikt zwischen der Philoso­ phie und den Normalbürgern. Der Philosoph wird aus zwei Gründen

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kein Bestreben haben, wieder in die Welt der Finsternis zurückkehren zu wollen. Er hat sinnbildlich die beste Speise genossen und will sich nicht mehr von verdorbenen Dingen ernähren und er weiß um die Gefahr für sein Leben. W Und in Bezug auf den möglichen Wettkampf in der Höhle hat er keine Chance, mit denen »zu streiten über die Schatten des Gerechten oder die Bilder, zu denen sie gehören, und dies auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen haben«. R Auch hier verweist Platon auf das Politische. Wie sollte einer aus ihren Reihen einen gerechten Staat regieren können, der weder die Gerechtigkeit noch das Gute erblickt hat. Und er folgert: »dass weder die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden noch auch die, welche man sich immerwährend mit den Wissenschaften beschäftigen lässt«. W Damit macht Platon eine weitere Unterscheidung. Möglicher­ weise könnten durchaus kundige Menschen regieren, aber ihnen fehlt die entscheidende Kompetenz: die Erkenntnis des Guten und damit auch des Gerechten. R Für Platon kommt es nicht in Frage, sich von der Welt und den staatlichen Gegebenheiten abzuwenden und sich nur der Philosophie zu widmen, denn es geht um das Gesamtwohl des Staates; daher glaubt er nicht, »dass wir den bei uns sich bildenden Philosophen auch kein Unrecht tun werden ... wenn wir ihnen zumuten, für die anderen Sorge zu tragen und sie in Obhut zu halten ... Ihr müsst also nun wieder herabsteigen.« W Aus diesen Worten geht hervor, dass es für den Philosophen eine Zumutung ist, die Herrschaft zu übernehmen, dass er somit nicht nach einer Philosophenherrschaft strebt. Denn: »der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten verwaltet werden«. R Abschließend fragt Platon: »Welche anderen also willst du nöti­ gen, mit der Fürsorge für den Staat sich zu befassen, als welche dessen am kundigsten sind, wodurch ein Staat gut verwaltet wird ...?«

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W Die Laufbahn eines Philosophenregenten ist mühselig. Er muss sich umfassend bilden (Mathematik, Astronomie, Musik, Dialektik) und die wichtigen Tugenden erwerben: Weisheit, Tapferkeit, Beson­ nenheit und Gerechtigkeit. R Erst mit einem Alter von 50 Jahren ist er befähigt, die Leitung des Staates zu übernehmen. Er wird aus dem Kreis der besten Wächter gewählt und muss auf Besitz und Familie verzichten. Dies ist nicht für jeden erstrebenswert. Und man kann sich vorstellen, dass die Tyran­ nen in Syrakus zu einer derartigen Umerziehung nicht bereit waren. W Hannah Arendt macht darauf aufmerksam, dass Platon nicht die Idee des Schönen zur höchsten Idee erklärt, sondern das Gute. Sie schreibt: »Vom Standpunkt der Ideenwelt aus gesehen – die Ideen werden definiert als das, dessen Erscheinung uns erleuchtet – hätte das Schöne, das sich nicht benutzen lässt, sondern nur glänzt, ein viel größeres Recht gehabt, zur Idee der Ideen zu werden.« R Im Unterschied zur Idee des Schönen hat die Idee des Guten aber eine politische Dimension. Dies eröffnet die Verbindung von der Ideenlehre zur Politeia. Denn Platon beansprucht die Erkenntnis der höchsten Idee exklusiv für den Philosophen. W Wir können uns der Vorstellung anschließen, dass ein gerechter Staat auf der Grundlage des Guten aufbauen soll. Aber wir kritisieren den Anspruch, dass nur Philosophen befähigt sind, einen guten Staat zu regieren, weil sie allein zur höchsten Erkenntnis fähig sind. Und Platon weiß sehr wohl, dass es auch für den wahren Philosophen die Versuchung gibt, die absolute Macht für sich zu gebrauchen. R Im Grunde widerspricht dieser Status dem Selbstverständnis des Philosophen als einem Freund der Weisheit, der »philo-sophia«, weil Platon ihm als Philosophenkönig indirekt die Position eines Wissenden, Weisen zuweist. W Außerdem widerspricht diese Auffassung der wichtigen Äußerung im siebenten Brief, in der der Verfasser erklärt, dass die Erkenntnis nur im Prozess des Dialogs gelingt, die man weder in einer Schrift festhalten noch aus einer Schrift entnehmen kann.

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R Durch die Dialogsituation ist die Erkenntnis gewissermaßen plu­ ralisiert, weil die Teilnehmer daran mitwirken. Sie wird quasi konkreativ gewonnen. Die Vorstellung eines Philosophen-Herrschers, der im Besitz der höchsten Idee wäre, widerspricht der Idee des Freundes einer Weisheit, an die man sich nur im Kreis der Freunde annähern kann. W Insofern ist Hannah Arendts Rede von einer »Tyrannei der Wahr­ heit« zuzustimmen. Wenn man die Rolle des Sokrates mit der Platons vergleicht, dann wird erkennbar, dass beispielsweise der Versuch, aus verschiedenen Meinungen über die Tugend eine Gemeinsamkeit zu ermitteln, bei Platon zu der Position führt, dass das vermeintlich Gemeinsame durch die Idee repräsentiert wird. R Aber als eine Idee, die »sich selbst gemäß« (»auto kat' hauto«) zu bestimmen ist und keine meinungsmäßigen Momente enthält. Mit der Idee ist das Geschwätz der Meinungen beendet und ihm enthoben. Die Einheit einer Idee wird wiederum mit der absoluten Einheit der Idee des Guten begründet. W Weil diese nur wahrhaft philosophischer Erkenntnis zugänglich ist, kann nur der Philosoph bestimmen, was das Gute ist und wie eine Polis regiert werden soll. Das idealistische Einheitsdenken Platons gipfelt im Anspruch des Einen, der die Polis leitet. R Wäre die Idee der Gerechtigkeit oder der Wahrheit oder der Schönheit die höchste aller Ideen, wäre eine Philosophenherrschaft weniger leicht zu begründen gewesen. W Mich beschleicht ein leiser Verdacht, dass Platon den Philoso­ phenherrscher in den Rang des göttlichen Weisen erhebt, insofern er im »Phaidon« erklärt, dass die Ideen himmlischen Ursprungs seien. Warum gebraucht er eine mythologische Redeweise, um die ontologische Verfasstheit der Ideen zu begründen? R Vermutlich um ihnen den Status ab-soluter Wahrheit zu garantie­ ren. Solange sie dem bloßen Meinen ausgesetzt sind, können sie ihren Glanz nicht entfalten. Sie glänzen nur durch himmlischen Schein.

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W Wenn man sich vorstellte, dass Platon mit dem Konzept einer Philosophenherrschaft die Tyrannen in Syrakus überzeugen wollte, wäre sein Scheitern durchaus zu erwarten. Aber in welcher Weise er sie zur Philosophie bewegen wollte, wissen wir trotz der Kenntnis des siebenten Briefes nicht. R Dennoch können wir erschließen, dass es ihm primär um Beratung in Tugend und vernünftiger Lebensführung gegangen ist, denn er riet Dionysos: »So solle er vor allem bestrebt sein, sich gute Freunde in seinem Alter in seiner Verwandtschaft zu erwerben. Diese sollten mit ihm im Ringen nach geistiger Mannes-Tugend wetteifern ... Erst durch die ihm aufgezeigten Lebensweise werde auch er selbst ein Kind des Geistes und der besonnenen Selbstbeherrschung.« W Werfen wir noch einen weiteren Blick in den Brief. Der Verfas­ ser schreibt: »Ich muss nämlich zur Ehre der wahren Philosophie gestehen, dass nur durch sie zu erkennen ist, was dem Wohle des Staats- und Privat-Lebens wirklich dient. Dementsprechend kann die Menschheit von ihrem Elend erst erlöst werden, wenn entweder der Stand der wahrhaften Philosophen die Staaten regiert oder wenn der Stand der Regierenden sich infolge göttlicher Fügung dem gründli­ chen Studium der Philosophie unterzieht.« R Vermutlich hat Platon bei Dionysos die mögliche »Erlösung« durch ein gründliches philosophisches Studium verfolgt. Aber eines will ich festhalten: Mir erscheint es wenig wahrscheinlich, dass der Schüler des Sokrates den siebenten Brief geschrieben hat. W Was die konkrete Umsetzung des Entwurfs der Politeia betrifft, schließen wir uns dem Urteil Hannah Arendts an, die aufs Ganze gesehen von einem »unmenschlichen Idealstaat« spricht. Aber Platon ist selbst abgerückt von diesem Konzept und hat in seinem letzten Werk »Nomoi« (Gesetze) ein »zweitbestes« Staatsmodell entwickelt, in dem ebenso wie in der Politeia der Erziehung ein großes Gewicht beigemessen wird.

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R In diesem »zweitbesten Staat« regieren nicht die Philosophen, sondern die Gesetze. Es ist daher ein fatales Fehlurteil, wenn Karl Popper Platons politischen Absichten unterstellt, »einen Klassenund Kastenstaat mit repressivem, sogar totalitärem Charakter« – so Otfried Höffe – zu propagieren. W Allerdings halten wir auch Platons Vorstellung von Gerechtigkeit für problematisch. Um inneren Frieden in der Polis zu garantieren, solle jeder nur das tun, was seiner Natur bzw. seinen besonderen Begabungen entspricht. Derjenige, der gut schmieden kann, soll Schmied werden, aber auch immer bleiben. Denn Gerechtigkeit bedeute, »dass jeder das Seinige verrichtet«. R Damit können die drei Klassen der Polis begründet werden: der erwerbenden Klasse (Bauern, Händler, Handwerker) gebührt die Besonnenheit, wenn sie nur ihrer »Begabung« nachgehen und keine anderen Berufe, für die sie keine Kompetenz haben, anstreben. W Die Mutigen und Tapferen übernehmen die beschützende Funk­ tion als Wächter des Staates und die der Weisheit Kundigen sollen beratend und schließlich leitend tätig werden. R Andererseits fordert Platon doch elementar die Erziehung der Begabtesten. Hans-Georg Gadamer nennt die Politeia im Titel eines Aufsatzes einen »Staat der Erziehung«. Widerspricht nicht gerade der Erziehungsgedanke einer Klassen- oder Ständeordnung? Und sollen nur wirklich diejenigen eine umfassende Erziehung genießen, die in der Kindheit als scharfsinnig und schnell begreifend aufgefallen sind? W Offensichtlich nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Platon die Politeia nach dem Muster einer geometrischen Figur entwirft und diesen Entwurf durchspielt, um festzustellen, dass er letzten Endes untauglich ist. R Damit schließt sich der Kreis unserer Überlegungen zu Platon. Am Anfang haben wir mit dem Gedanken gespielt, seine Philosophie als Fatum für die europäische Ideengeschichte zu verstehen. Jetzt können wir ein solches Verständnis auf die typisch Platonische Dichotomie zweier Welten beziehen.

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W Der sinnlichen Wirklichkeit des Werdens und Vergehens – die das Thema Heraklits war – stellt Platon eine ewige, an sich seiende, wahre Wirklichkeit der Ideen entgegen. Und dieser Dichotomie entspricht im Politischen der Gegensatz zwischen den Philosophen, die zur Ideenerkenntnis fähig sind, und den Normalbürgern, die sich an die üblichen Meinungen halten. R Auf Nietzsches Spuren sehen wir in Platons metaphysischer Dichotomie eine Abwertung der sinnlichen Wirklichkeit mit der fatalen Folge einer Abwertung des Daseins überhaupt. Wir leben nicht im Himmel der Ideen, sondern in der Wirklichkeit unserer alltäglichen Existenz.

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5. Aristoteles: »Mittelmaß« als Glücksverheißung

W In seiner »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral« problemati­ siert Heinrich Böll die typische Haltung einer Ökonomisierung des Lebens. Wir werden sie kurz vorstellen. R Ein Tourist erblickt einen dösenden Fischer im Hafen und will ihn motivieren, nicht nur einmal, sondern mehrfach auszufahren, um seinen Ertrag zu erhöhen. Dann könne er sich zuerst ein Motorboot und bald ein zweites leisten. W Später könne er ein Kühlhaus, eine Räucherei und eine Marina­ denfabrik bauen, »mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen ...« und so weiter und so weiter. R Was Böll hier als eine Art ironischer Dystopie karikiert, ist längst Wirklichkeit geworden. Die Meere sind überfischt, das Übermaß maximaler Ausbeutung der Meere führt zu einem bedrohlichen Schwund der Arten. W Also vom Prinzip der Nutzenmaximierung zurück zum Mittelmaß à la Aristoteles? R Dieser Übergang ist erstens sehr abrupt und zweitens bringt er die sogenannte Mesotes-Lehre des Meisterdenkers in Misskredit. W Mesotes als Mittelmaß ist eine schäbige Verfälschung der bedeut­ samen Einsicht des Aristoteles. Wir müssen die fatale Fehldeutung selbst gegen den Großmeister Kant verteidigen, der sie in der Tugend­ lehre seiner »Metaphysik der Sitten« als »Mittelstraße zwischen zwei Lastern« sogar für unbrauchbar erklärt.

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R Bevor wir klären, wie Kant zu diesem Urteil kommt, ist es erfor­ derlich, die Mesotes-Lehre im Kontext der Aristotelischen Ethik zu erfassen ... W ... die im Unterschied zu Kants Pflichtenethik eine Strebens­ ethik darstellt. R So ist es. Aristoteles entwickelt sie exemplarisch in der »Nikoma­ chischen Ethik«. Er beginnt seine Überlegungen mit der Frage, worum es dem Menschen in seinem Leben letztlich geht, worauf sich all sein Streben und Handeln richtet. W Auf das eigene Leben bezogen, lautet Aristoteles’ Antwort: Alle Menschen streben nach Glück: »eudaimonia«. Das eigentliche Prob­ lem besteht jedoch darin, wie dieses Glück zu verstehen und zu erreichen ist. R Offensichtlich kann mit Glück hier weder das kleine noch das egomanisch übergroße und schon gar nicht das mittelmäßige Glück des Einzelnen gemeint sein, wenn Aristoteles sagt: »Das Glück setzt ethische Vollkommenheit voraus und ein Vollmaß des Lebens.« W Die Begriffe Vollkommenheit und Vollmaß stehen in deutlichem Kontrast zum Mittelmaß. Dies gilt es im Blick zu behalten. Aber zunächst sollten wir die leitenden Begriffe vorstellen: »mesotes« ist das griechische Wort für Mitte; »eudaimonia« ist zusammengesetzt aus »eu«, zu Deutsch »gut«, und »daimon«, wörtlich »Dämon, Geist«. Aristoteles verwendet das Wort für das Lebensglück oder besser: für ein gelingendes Leben. R Um gleich zu Beginn mit analogen Fehldeutungen aufzuräumen: die »Goldene Mitte« ist nicht das Mittlere zwischen zwei Extremen. In Malerei und Architektur ist der »goldene Schnitt« nicht in der Mitte der entsprechenden Größen zu finden. Er beschreibt eine als gelungen empfundene Relation nicht als genau halbiertes Mitte-Verhältnis von 1:2 oder 4:8, sondern als ein neben der arithmetischen Mitte liegendes Verhältnis von 5:8!

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W Zurück zu Aristoteles. Seine Strebensethik sieht in der eudaimo­ nia das oberste Ziel, auf das alles menschliche Handeln bezogen ist. Er resümiert: »So erweist sich denn offenbar die eudaimonia als abschließend und selbstgenügend, und darum als das Endziel für alle Gebiete menschlicher Tätigkeit.« Mehr als Glück kann niemand sinn­ voll wollen. Allerdings schreibt Aristoteles niemandem vor, was den Einzelnen glücklich machen soll. Dies muss jeder für sich entscheiden und für sich abwägen. R »Entscheiden« ist der zentrale Begriff. Im Bereich der Erkenntnis gibt es nichts zu entscheiden. Hier gilt das Prinzip der Wahrheit bzw. Klarheit und Genauigkeit. Wir neigen dazu, das mathematische Exaktheitsideal für universal zu halten. W In Bereichen, in denen nach Art der Mathematik oder more mathematico verfahren werden kann, handelt es sich um kontextun­ abhängige Bestimmungen. Auf dem Gebiet der Ethik geht es jedoch immer um die Kontexte. Hier spielt die jeweilige konkrete Situation die wichtigste Rolle. R Bei der Ethik ist ein anders gearteter Genauigkeitstypus gefragt. Daher betont Aristoteles, man müsse sich in ethischen Fragen »damit zufrieden geben, die Wahrheit bloß grosso modo und im Umriss zu beschreiben«. Dies gilt deshalb, weil in der Praxis des Lebens ganz andere Verhältnisse herrschen als in der reinen Erkenntnis. W Das darf nicht so verstanden werden, als dürften in der Ethik nur zweitklassige Ergebnisse zu erwarten sein. Sondern Aristoteles unter­ scheidet die beiden Methoden, die den beiden unterschiedlichen Wis­ sensgebieten korrespondieren, weil »die Form der Untersuchung, die wir verlangen dürfen, dem Erkenntnisgegenstand entsprechen muss«. R Im Unterschied zur herstellenden »poiesis« gibt es für die han­ delnde »praxis« keine bestimmte Technik, die für die Herstellung einer Sache zwingend vorgegeben ist. »Der Handelnde ist im Gegen­ teil auf sich selbst gestellt und muss sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten.«

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W In der Praxis, mit der es die Ethik zu tun hat, ist ein eigener Wissens-Typus erforderlich, der sich von reiner Rationalität unter­ scheidet. Für diese Art des Wissens ist nach Aristoteles das Vermögen der »phronesis« zuständig; im Lateinischen heißt dieses Vermögen »prudentia«, im Deutschen »Klugheit«. R Wie ich in einer konkreten Situation am besten handle, lässt sich mit formaler Logik nicht beantworten, wohl aber mit der »phronesis«. Man könnte sie als situative Intelligenz, als Kompetenz für den Einzelfall oder als praktische Urteilskraft bezeichnen. W »Phronesis ist das Vermögen für die Einzelfallentscheidung.« Daher sagte ich vorhin »Entscheiden ist der zentrale Begriff«. Oft treffen wir unsere Entscheidungen entweder aus dem Bauch oder aus Gewohnheit. Dann folgen wir dem, was sich für unser Leben »irgendwie« bewährt hat. R Solche Gewohnheiten können sich charakterlich verfestigen, und wenn es dann oder auch öfter schief läuft, hört man: So bin ich eben, ich kann nicht anders. Daniel Goleman, erfolgreicher Autor des Buches »Emotionale Intelligenz« würde ebenso wie Aristoteles wider­ sprechen. W Wir orientieren uns aber weiterhin an Aristoteles. Wir können aus Gewohnheiten und emotionalen Versteifungen ausbrechen, wenn wir unsere phronesis einsetzen. Da der Begriff wenig verbreitet ist, zitie­ ren wir noch seine Bestimmung durch Wolfgang Welsch: »Phronesis bezeichnet ... das Vermögen, in spezifischen Situationen das jeweils Angebrachte, Treffliche und Förderliche ... herauszufinden.« R Es kommt also auf die Trefflichkeit an. Sie preist Aristoteles im Hinblick auf die eudaimonia: »Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter Trefflichkeit tätig ... ist.« Bezüglich des Trefflichen gibt es offensicht­ lich qualitative Unterschiede. W Auf dieses Mehr oder Weniger kommt es an. »Als erste Erkenntnis ist festzuhalten, dass alles, was irgendwie einen Wert darstellt, seiner Natur nach durch ein Zuviel oder ein Zuwenig zerstört werden kann.« Diese Überlegung zielt bereits auf die »mesotes«, die dann im Anschluss erörtert wird.

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R Aristoteles nähert sich dem Thema in abgrenzender Weise. Das Mittlere »in Hinsicht auf uns« ist vom »Mittleren eines Dings« ebenso zu unterscheiden wie »das arithmetische Mittel«. Er betont: »Das Mittlere jedoch in Hinsicht auf uns darf nicht so verstanden werden«, d. h. es ist »nicht das rein quantitativ Mittlere«. W Dass dieses Mittlere etwas mit der Harmonie des Menschen zu tun hat, verdeutlicht der Vergleich mit den Kunstwerken. »Man pflegt beim Anblick vollendeter Kunstwerke zu urteilen: ›hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen‹. So erkennt man, dass ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mitte dagegen sie erhält.« R Die innere Harmonie ist Ergebnis der eigenen Kunst, »mesotes« richtig einzusetzen. Richtig heißt konkret: »das Mittlere ist ein Treffen des Richtigen«, d. h. es ist nicht durch bloße Mittelung zwischen Gegensätzen zu bestimmen. Das Richtige zu erkennen, bezieht sich auf drei verschiedene »Gegenstände«: das Allgemeine, das technisch Herzustellende und auf die Praxis des Handelns. W Entsprechend unterscheidet Aristoteles drei verschiedene Formen der Erkenntnis und deren Vermögen: das Allgemeine bzw. unver­ änderlich Gesetzmäßige kann mit dem Verstand erfasst werden. Das praktische Können bezüglich des Herstellens kann systematisch erlernt werden. Für das Erkennen dessen, was für den Menschen selbst gut ist, kommt die »phronesis« ins Spiel. R Denn diese Erkenntnis ist weder wissenschaftlicher noch techni­ scher Art. Sie erfordert einen anderen Lern-Typus. Es kommt darauf an, lernend zu erfahren, wie man mit sich und seinen Bestrebungen gut umgehen kann. W Aristoteles ist der Auffassung, dass bereits ein junger Mensch intellektuell fähig sein mag, mathematische Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln oder syllogistische Ableitungen zu vollziehen, weil es hierfür keiner Lebenserfahrung bedarf.

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R Um sittliche Einsichtsfähigkeit zu erwerben, um zu erkennen, worauf es im Leben wesentlich ankommt, bedarf es der Reife durch Lebenserfahrung. Es ist eine Grundeinsicht des Philosophen, dass der Mensch nicht glücklich sein kann, ohne zugleich ein guter Mensch zu sein bzw. zu werden. W Daher ist es für ihn wichtig, Tugenden erwerben zu wollen, denn sie dienen zur Ausbildung eines guten Charakters, der sich zu einer sittlichen Grundhaltung festigen kann. R Die Strebensethik des Aristoteles sieht in den Tugenden keine Forderung entsprechend einer Pflichtenethik im Sinne Kants, sondern Ermöglichungen für ein gutes oder, wie schon gesagt, gelingendes Leben im Glück der »eudaimonia«. W Zwischen dem Streben nach Glück und sittlicher Trefflichkeit besteht keine Spannung, sondern die »eudaimonia« stellt sich ein, indem der Mensch tugendhaft handelt. Das Vermögen, im konkreten Einzelfall richtig handeln zu können, ist nicht die Vernunft, sondern die »phronesis«, die aber durchaus vernünftig strukturiert ist. R Sie wirkt handlungsleitend und ermöglicht es, in konkreten Situa­ tionen die richtige Entscheidung zu treffen. Die »mesotes« gilt als eine Art Richtlinie. Aber sie kann nicht wie eine Messlatte verwendet wer­ den. W Die Messlatte wäre wieder das mathematische Modell, das gene­ rell für alle exakten Vermessungen gilt. »Mesotes« ist dagegen ein Modell des individuell und situativ richtigen Maßes. Wer eine ent­ sprechende sittliche Grundhaltung erworben hat, entwickelt das rich­ tige »Auge« für die Situation und das gute, d. h. richtige Handeln. Er wird die »Mitte« im konkreten Einzelfall nicht verfehlen und Extreme vermeiden. R Für die Tapferkeit heißt das: Er wird weder zur Feigheit noch zur Verwegenheit tendieren und situationsgerecht tapfer handeln.

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W Dasselbe gilt für die Besonnenheit. Sie ist die rechte Mitte zwi­ schen übersteigerter Zügellosigkeit im Bereich der Lust und Stumpf­ sinnigkeit als Vermeidung jeglicher Lust. Hochsinnigkeit ist die Mitte zwischen dem Zuviel dummen Stolzes und dem Zuwenig bornier­ ter Engstirnigkeit. R Das Mittlere ist nicht deshalb zu wählen, weil es geboten, sondern weil es gut für den Menschen ist. Wenn es darum geht, großzügig zu sein, wäre es schädlich, sein Vermögen zügellos zu verschenken. Sich knausrig zu verhalten, wäre das andere, ebenso falsche Extrem. W »Phronesis« unterscheidet sich von reiner Vernunft durch das Vermögen, mit dem Gebrauch an Schärfe und Klarheit zu gewinnen. Deshalb betrachtet Aristoteles sie auch als Tugend, eine Fähigkeit, die zunehmen kann und tauglich ist für das Erfassen des konkret Richti­ gen. R Die Übersetzung der »phronesis« mit sittlicher Einsicht erfasst primär den vernünftigen Aspekt, während die Übersetzung durch praktische Urteilskraft den tätigen Aspekt aufgreift. Denn es gilt: »Phronesis hat befehlende Kraft, ihr Ziel ist es, zu bestimmen, was zu tun und was zu lassen ist.« W Es ist daran zu erinnern, dass das sittliche Urteilen der »phronesis« auf einer Beratung mit sich selbst beruht: »Denn dies bezeichnen wir vor allem als die Leistung des Einsichtsvollen, dass er klug mit sich zu Rate geht.« Dennoch ist diese Klugheit kein vorhandenes Vermögen, auf das man beliebig zurückgreifen könnte, sondern, man muss trotzdem zugeben, »dass es keine leichte Sache ist, ein wertvoller Mensch zu sein; denn in jedem einzelnen Fall die Mitte zu fassen, ist keine leichte Sache«. R Die Auffassung der Mesotes als Mittelmaß oder Mittelmäßigkeit ist auch schon deshalb falsch, weil Aristoteles die höchste Auszeich­ nung des sittlichen Menschen in der »megalopsychia« sieht: in der Groß-Gesinntheit oder Seelengröße. Sie ist das Gegenteil von Mittel­ mäßigkeit.

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W Aristoteles gibt folgende Kennzeichnung: »Die Großgesinntheit scheint schon dem Namen nach auf Hohes und Großes zu gehen ... Seelengröße scheint zu besitzen, wer sich selbst großer Dinge für würdig hält und deren auch würdig ist.« R »Der Großgesinnte ist eine Art ›Kenner‹, denn er versteht es, jeweils das Geziemende zu erkennen.« Er ist großzügig nicht nur im Geben, sondern er handelt »mit Freude und überströmend«. Er besitzt großes Format, indem es ihm gelingt, »bei jedem Anlass, der sich ihm bietet, das Ziel in großartiger Weise zu verwirklichen«. W Das Gegenteil des Großgesinnten ist der Großmannssüchtige. Aufgrund seiner auftrumpfenden Art lässt er kein Format erkennen. Im weitesten Sinne höre ich auch im Begriff Format die »mesotes«. R Ich betrachte es als Gewinn, großgesinnten Menschen zu begeg­ nen, denn sie sind eine Seltenheit geworden. W Dagegen treffen wir fast überall auf Mittelmäßigkeit. R Kants Kritik an der »mesotes«-Lehre haben wir schon kurz erwähnt. Wir sollten sie uns jetzt näher ansehen, wobei wohl klar geworden sein dürfte, dass es sich eigentlich nicht um eine »Lehre« handelt. W Die Kritik basiert auf einem völlig anderen Tableau dessen, was Kant unter Ethik oder Morallehre versteht. Anders als die Strebens­ ethik des Aristoteles entwirft Kant eine reine Pflichtenethik. Die Tugenden sind als Pflichten gegen sich selbst und gegenüber den anderen zu verstehen. R Nicht die Orientierung am Glück als dem guten, gelingenden Leben ist das Motiv des Tugendhaften, sondern die Pflicht, »von allem Empirischen (jedem Gefühl) gereinigt«, soll die »Triebfeder« sein. Um »die lastergebärenden Neigungen zu überwältigen«, hat die Tugend als »Waffe« zu dienen.

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W Dies klingt reichlich martialisch! Aber auch die »Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre« findet entsprechende Worte: »Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff einer Nötigung (Zwang)«, wobei es sich um »keinen anderen als den Selbstzwang« han­ deln kann. R Auch Kant orientiert sich indirekt an Glück, aber nicht an einem Glück, das der Mensch durch tugendhaftes Handeln selbst erreichen kann, sondern an der Glückseligkeit in einem jenseitigen Leben. W Durch die Erfüllung der Pflichten wird der Mensch würdig, der Glückseligkeit in einem ewigen Leben teilhaftig zu werden. Auch wenn Kant den Lohnaspekt entschieden, ja kategorisch ablehnt, ist es doch nicht unerheblich, was durch pflichtgemäßes Handeln heraus­ kommt. R Also schielt Kant doch auf etwas, das er Glückseligkeit nennt. Eine reine Pflichtenethik ist nur ein Ideal. Es kommt darauf an, der künftig erhofften Glückseligkeit würdig zu werden, das irdische Glück darf keine Rolle spielen. W Im Unterschied zu Aristoteles sind die Tugenden Kants festste­ hende Größen, die der Mensch unbedingt befolgen muss, aber nicht weil sie ihm ermöglichen, ein gutes, gelingendes Leben zu führen, sondern weil sie vom Sittengesetz geboten sind. R Kant parodiert die Aristotelische »mesotes«, wenn er anführt: »Es gibt zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge kein Mittleres.« Ausdrücklich betont Aristoteles dagegen, dass die »Theorie der Mitte nicht auf jedes Handeln und auf alle irrationalen Regungen angewendet wer­ den« kann. W Als Beispiele nennt er Neid, Schamlosigkeit, Ehebruch und Dieb­ stahl. Für sie gilt: »es gibt nur das Falschmachen«. Lüge wird zwar nicht in dieser Reihe aufgeführt, aber wir können sie zum »Falschma­ chen« zählen. Denn das »Mittlere« eines Diebstahls würde dessen generelle Anerkennung voraussetzen, die es bei Aristoteles selbstver­ ständlich nicht gibt.

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R Kant gibt zu, dass es in der Ausübung »der Grundsätze der Tugend« ein »Weniger« geben kann, das dann aber als Fehler bzw. als Laster zu bewerten sei. Aber dass jemand »gar zu tugendhaft« sei, »d. i. seiner Pflicht gar zu anhängig« sei, »würde ohngefähr so viel sagen: als einen Zirkel gar zu rund, oder eine gerade Linie gar zu gerade machen«. W Daraus kann ich nur den Schluss ziehen, dass Kant rein gar nichts von Aristoteles’ »megalopsychia« gehalten hat, die er als Vollendungsform aller Tugenden, als »das Große in jeder Tugend« hätte verstehen müssen. R Während Kant fordert, man müsse seine »sauere Pflicht« tun, weiß Aristoteles zu sagen, dass der Großgesinnte die Tugenden mit Freude erfüllt. W Fassen wir zusammen: Die Tugenden der Aristotelischen Ethik werden durch die »Mesotes«-Formel auf den konkreten Einzelfall bezogen. Der Tapfere muss dann durch Einsatz seines Erfahrungswis­ sens und aufgrund der Urteilskraft seiner Phronesis selbst abwägen, wo die Verwegenheit auf der einen und die Feigheit auf der anderen Seite beginnt. R Fatal fehlgedeutet wird die Formel, wenn man sie als generelle Herabstufung der ethischen Tugenden auf Mittelmäßigkeit interpre­ tiert.

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6. Augustinus: »Gnade« Gottes

R Bevor wir uns mit einer fatalen Deutung der Lehre von Aurelius Augustinus (354–430) beschäftigen, sollten wir erklären, warum wir einem Kirchenlehrer die Ehre erweisen, ihn zu den philosophischen Klassikern zu zählen. W Das haben andere schon vor uns getan; so zum Beispiel Karl Jaspers. In seinem Werk »Die großen Philosophen« steht Augustinus unmittelbar zwischen Platon und Kant. Selbst Jürgen Habermas kommt nicht umhin, ihm in seinem Alterswerk »Auch eine Geschichte der Philosophie« etwa dreißig Seiten zu widmen. R Augustinus kommt dabei die Rolle zu, als wichtiger Vermittler zwischen »Glauben und Wissen« zu fungieren. Das entsprechende Kapitel lautet: »Plotin und Augustinus. Die christliche Transforma­ tion des Platonismus«. W Unsere Betrachtung richtet sich vor allen Dingen auf seine theo­ logische Position, die für das mittelalterliche Christentum bis ein­ schließlich Martin Luther bedeutsam wurde. Im Mittelpunkt der Kritik steht die irrlichternde Lehre von der Gnade Gottes, deren fatale Wirkungen im scheinbaren Glanz Gottes verblassen. R Betrachten wir kurz den Denkweg des späteren Kirchenlehrers. Die Philosophie des Platonikers Plotin hatte neben dem dualistischen Manichäismus prägenden Einfluss, bevor sich der spätere Bischof von Hippo, einer nordafrikanischen Kleinstadt im heutigen Algerien, mit etwa 32 Jahren zum Christentum bekehrte. W In seinen »Confessiones« beschreibt er sein Leben vor und nach der Bekehrung im Jahr 386: weltlichem Ehrgeiz und der Fleischeslust der »cupiditas« verfallen und dann zur Gottesliebe der »caritas«

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bekehrt. Seine Bekehrung gestaltet er als Kampf zweier Willen zwi­ schen dem sinnlichen Liebesverlangen und dem Willen zur Enthalt­ samkeit. R In diesem Antagonismus erkenne ich Spuren dualistischen Den­ kens. So verlangt die Gottesliebe nach Augustins Vorstellung die radikale Absage an sexuelle Erfüllung und andere Formen weltlicher Lust. Neben Ohren- und Augenlust wird sogar die Lust der Erkennt­ nis als sündige Versuchung denunziert. W Der Kirchenheilige sublimiert seine erotische Energie in eine Liebe zu Gott. So schreibt er in Kapitel 27 des 10. Buches: »Spät hab’ ich Dich geliebt, o Schönheit, immer alt und immer neu, spät hab’ ich Dich geliebt! Und sieh’, Du warst in mir; ich aber suchte Dich draußen und warf mich an die schönen Dinge weg, die doch nur Deine Schöpfung sind ... Du hast Deinen Duft verströmt, ich habe ihn eingeatmet und nun sehne ich mich nach Dir. Ich habe Dich verkostet; nun hungere und dürste ich nach Dir. Du hast mich berührt, und nun brenne ich vor Verlangen nach Deinem Frieden.« R In diese Gottesliebe werden in penetranter und für mein Empfin­ den peinlicher Weise sinnliche Elemente hineinprojiziert. Gottesliebe fordert aber den Verzicht auf sexuelle Liebe. »Gib, was Du von mir forderst, dann fordere, was Du haben willst! Die Keuschheit ist es, die Du uns anbefiehlst ... Wer nämlich neben dir noch ein anderes liebt, das er nicht um Deinetwillen liebt, hat für Dich zu wenig Liebe. Liebe, Du mein Gott, Liebe, die allzeit lodert und nie mehr erlöschen will, entfache in mir Dein Feuer! Keuschheit verlangst du! Gib, was Du forderst, und dann fordere, was Du verlangst!« W Dieser offensichtlich problematische Umgang mit Sexualität kommt dann später in der Erbsündenlehre zum Tragen. Vorweg so viel: das männliche Spermium ist für Augustinus Träger der Sünde Adams. Durch Sexualität wird die Ursünde als »peccatum originale« auf die in Sünde gezeugten Kinder übertragen. R Unglaublich! Aber was haben diese Aspekte mit unserer Themen­ stellung zu tun?

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W Augustinus bekennt, dass er nicht vermochte, sich selbst »von der Fessel sinnlichen Liebesverlangens« zu befreien, daher betrachtet er seine Bekehrung als Gnade Gottes. »Gib, was du forderst«, nämlich die Fähigkeit zur Keuschheit; sie ist eine Gnade, die dann zur Gottes­ liebe befähigt. R Nach dieser Vorstellung wären die verbrecherischen Akte von Kindesmissbrauch durch geweihte Priester als Versagen der göttlichen Gnade zu bewerten. Nicht bei den priesterlichen Tätern wäre die Schuld zu suchen, sondern im Versagen der Gnade Gottes. Mit dieser absurden Logik will ich auf die Absurdität eines Antagonismus von Sexualität und Gott hinweisen. W Aus seiner eigenen Biographie schließt Augustinus in späteren theologischen Kommentaren auf die dogmatische Konzeption des gefangenen Willens, die dann in der grundsätzlichen Bestreitung der Willensfreiheit gipfelt. Nur durch die Gnade wird der versklavte Wille befreit. R Man muss sich dies vor Augen halten: Gnade als Befähigung zum Sexualverzicht. Wer mit Sexualität leben will, kann Gott nicht lieben. Jetzt werden mir die übersteigerten Formulierungen der Liebe zu Gott als Sublimationsausbrüche erst richtig verständlich. Die negative Beurteilung der Sexualität kann als Residuum des ursprünglich leib­ feindlichen manichäistischen Denkens Augustins interpretiert wer­ den. W Unter Gnade stellen sich die meisten Zeitgenossen, sofern sie dafür überhaupt eine Antenne haben, etwas anderes vor. Daher wollen wir nun kirchengeschichtlich bedeutsame Aspekte der Gna­ denlehre Augustins darstellen. Rückblickend gilt es festzuhalten, dass der Bischof von Hippo dem Menschen die Grundfähigkeit der freien Willensentscheidung abspricht, weshalb er der Gnade Gottes bedarf. R Augustinus konstruiert die Denkfigur: Du sollst, aber du kannst nicht; daher bist du auf Gnade angewiesen. Wenn Augustinus die Gottesliebe als höchstes Gut predigt, wollen wir doch sehen, welchem Gott er seine Liebe darbringt.

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W Der Gott, auf den er seit 397 hinausdenkt, wird zunehmend unheimlich. Kurt Flasch nennt ihn unverblümt: »ein Ungeheuer«. R Soll das heißen, die Entwicklung der Gnadenlehre bringt am Schluss ein göttliches Ungeheuer hervor? W Genau dies. Gegen dieses Denken haben sich mutige Männer wie Julian von Aeclanum gestellt, der aber auf Grund beharrlicher Initia­ tive des Bischofs von Hippo als Ketzer verurteilt wurde. Die Lehre des Kirchenheiligen siegte – eine entscheidende Weichenstellung für das westliche Christentum. R Ich überlege, woher der Begriff Gnade stammt, da er bei den Klassikern der altgriechischen Philosophie nicht vorkommt. Mir ist er nur aus der römischen Rechtspraxis bekannt, womit die Strenge des Rechts – »rigor iuris« – gemildert wurde. Mit dem Gnadenrecht konnte eine rechtmäßig auferlegte Strafe im konkreten Einzelfall ganz oder teilweise erlassen werden. W Wenn man sich die Majestät Gottes überproportional zu weltli­ chen Majestäten vorstellt, kommt ihm theoretisch ebenso das Gna­ denrecht zu, sofern es nicht mit seiner göttlichen Gerechtigkeit kon­ fligiert. Dieses Problem wird auch Augustinus behandeln. Gnade ist ein genuin christlicher Begriff, obwohl Jesus nicht wörtlich von Gnade spricht. R Religionsgeschichtlich steht Gnade im direkten Verweisungszu­ sammenhang mit der Sünde. Gott kann dem Sünder gnädig sein. Eine »gerechte« Gnade bemisst sich nach der Größe der Sünde. W Der Zorn des alttestamentlichen Gottes ist nur bei der Sintflut unbändig. Aber auch dort gibt es für einen einzigen Gerechten, Noah, Schonung. Demgegenüber erfindet der Heilige Apostel Paulus eine Tat, die den Zorn Gottes radikal grenzenlos werden lässt: die Sünde Adams im Paradies. Mittels seiner soteriologischen Funktio­ nalisierung des Paradies-Mythos erfährt die gesamte Menschheit unendliche Strafe und stürzt ins Unheil. R Den Ausdruck soteriologisch halte ich für erklärungsbedürftig.

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W Unter Soteriologie versteht man die christliche Erlösungslehre. Paulus brauchte einen Grund dafür, dass Christus die Menschen erlöst. Angesichts der Sünde Adams kann sich niemand rechtfertigen. Die Schuld ist so gigantisch, dass sie nur durch den Fleisch geworde­ nen Sohn Gottes abgetragen werden kann, indem sich dieser selbst zum Opfer bringt. R Das heißt: Der Paulinische Gott erteilt nicht großherzig seine Gnade, sondern er fordert das Opfer seines eingeborenen Sohnes. Dies ist in verkürzter Form die theologische Konzeption des Paulus. W Aber gerade das Opfer des göttlichen Logos, Christus, wird als Gnade Gottes gepredigt, durch die sich der gnädige Vater in seiner Liebe zum Menschen erweist. Im Johannesevangelium wird Gnade mit Liebe interpretiert. »Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingegeben hat, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe« (Johannes 3,16). Im ersten Brief findet der Evangelist die Formel: Gott ist die Liebe. R Du wirst es mir nicht verübeln, wenn ich ein Menschenopfer als Liebesbeweis oder Gnadentat für bestialisch inhuman halte. W Dies ist dir unbenommen, aber es liegt wohl daran, dass dir der rechte Glaube fehlt. Nun kommt es darauf an, den Gott der Liebe bei Johannes mit dem Gott der Gnade bei Augustinus zu vergleichen. R Aber nicht Johannes, sondern Paulus ist Favorit Augustins. Dessen Lektüre führte schließlich zu seiner Bekehrung. W Du hast recht. Seine ehemaligen Favoriten, die Augustinus zusam­ menfassend als Platoniker bezeichnet, sind seit der Bekehrung abge­ schrieben. Aber zunächst versucht er das Christentum aus einer Plotinistischen Perspektive zu verstehen, nach der Bischofsweihe kehrt sich die Blickrichtung um: Nun gilt die Autorität der Schrift als Maßstab, dem sich das Philosophische beugen muss.

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R Die höchste Autorität scheint Paulus einzunehmen. Dessen Briefe werden für die Gnadenlehre richtungweisend. Dies ergibt sich auch aus der Tatsache, dass in Augustins frühen Texten der Begriff Gnade prominent nicht vorkommt. W Anfänglich vertritt Augustinus die Vorstellung, dass Glauben eine freie Willensentscheidung sei. Dies kann er durch Johannes begründen: »damit jeder, der glaubt, nicht verloren gehe«. Doch eine neue Pauluslektüre lässt diese Vorstellung als Irrtum erscheinen. In der Schrift »De diversis quaestionibus ad Simplicianum« von 397 geht Augustinus ein auf dessen Bitte um eine Erläuterung einer Stelle aus dem Brief von Paulus an die Römer. R Die Antwort enthält eine grundlegend andere Auffassung von Gnade. Der Sache nach geht es um die Frage, wie der Glaubensakt zu deuten ist. Ist er ein Akt des Menschen oder ist er ausschließlich durch Gott bewirkt? W Der Textstelle Römer 9,18 »Also erbarmt er sich, wessen er will, und verstockt, wen er will« entnimmt Augustinus die Vorstellung, dass für Gott nicht der freie Entschluss zum Glauben ausschlaggebend für die Erteilung der Gnade ist, sondern sein Wille. Der Glaube kann nicht Gottes Gnade herbeiführen, denn Gottes Majestät macht sich nicht von menschlichen Entscheidungen abhängig. R Einerseits erkenne ich darin eine Art Wiederholung des alttesta­ mentlichen Topos des auserwählten Volkes: Gott erwählt aus allen Völkern Israel, andererseits wird die Möglichkeit zur Umkehr aufge­ geben. Verkürzt formuliert bedeutet dies: Auch wenn du umkehrst, auch wenn du glaubst – es nützt dir nichts, Gottes Wille entscheidet. Gottes Wille steht über dem menschlichen Willen. W Lass uns dies ausbuchstabieren. Für Paulus hat die Alternative: erbarmen oder verstocken eine besondere Funktion. Ihm geht es darum zu begründen, warum Gott die Christen den Juden vorzieht, bzw. dass der Glaube an Christus rettet, nicht das Gesetz des Alten Bundes. Bei Augustinus bekommt die Stelle eine andere Funktion. Er stellt sie in den Kontext der Allmacht und absoluten Souveränität Got­ tes.

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R Von Plotin her denkend sieht er in der Unveränderlichkeit eine wesentliche Eigenschaft Gottes. Daher ist auch der Wille Gottes unveränderlich. Diese Konzeption gipfelt in der Lehre der Prädestina­ tion. Gott weiß nicht nur alles im Voraus, sondern er hat alles von Anbeginn bestimmt. Darin liegt seine Allmacht. W Für den Glauben bedeutet dies, dass Gott vorherbestimmt, wen er zum Glauben befähigt, denn der Glaube geht nicht auf eine Wil­ lensentscheidung des Menschen zurück. Gottes Wille bestimmt, wer glauben kann und wer nicht. Zugleich ist der Glaube die Vorausset­ zung für Erlösung und Rettung. R Somit stellen wir fest, dass die »gratia fidei«, die Glaubensgnade, wesentliches Element der Augustinischen Gnadenlehre ist. Das heißt aber, dass Gott nur diejenigen rettet, denen er die Glaubensgnade erteilt; Rettung und Gnade fallen zusammen. Nicht der Glaubenswille des Menschen, sondern Gottes Wille rettet. W Da der Mensch überhaupt keine Rolle spielt, ist dieser wählende Gotteswille reine Willkür. Denn Augustinus hat sich entschieden, dass nicht das Vorherwissen Gottes über künftige Handlungsweisen des Menschen Grund für die rettende Gnade ist, sondern allein sein prädestinal wählender Wille. Die Gnadenlehre wird von der Lehre der Prädestination flankiert. R Wenn es für die Wahl Gottes kein Kriterium gibt, warum er den einen erwählt und den anderen verstößt, dann muss man dies tatsäch­ lich als reine Willkür bezeichnen. Das steht nach meiner Einschätzung im krassen Widerspruch zu einer göttlichen Gerechtigkeit. W Ja, Willkür missachtet Gerechtigkeit. Aber Augustinus schließt sich seinem Bruder im Geiste an, denn Paulus ist die Autorität. Dieser hat auch erkannt, dass seine Redeweise im Römerbrief problematisch ist. Daher schließt er unmittelbar an: »Was werden wir nun sagen? Ist etwa bei Gott Ungerechtigkeit? Das sei ferne!«

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R Und er setzt nach: »O Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Darf etwa das Gebilde zu dem Bildner sagen: ›Warum hast du mich so gemacht?‹ Oder hat nicht der Töpfer Gewalt über den Ton, aus der gleichen Masse ein Gefäß zur Ehre, das andere zur Unehre herzustellen?« W Die Verteidigungsrede gegen den möglichen Vorwurf einer Unge­ rechtigkeit Gottes gipfelt aber in folgender Rede: »Wenn nun Gott, da er seinen Zorn zeigen und seine Macht kundtun wollte, Gefäße des Zornes, die für das Verderben bestimmt waren, in großer Langmut ertragen hat, um den Reichtum seiner Herrlichkeit gegen die Gefäße des Erbarmens, die er zur ...« R Aufhören! Das ist ja unerträglich! Wie kann ein philosophisch gebildeter Mensch wie Augustinus diesen Unsinn übernehmen? Man stelle sich vor: Gott schafft Menschen, damit er sie verderben kann, und andere, die er verschont, ganz nach Belieben. Das hat mit einem Gott der Gerechtigkeit oder der Liebe nicht das Geringste zu tun. W Und trotzdem folgt Augustinus diesem barbarischen Gedanken, denn die Autorität der Schrift, hier des Paulus, ist nicht zu hinterfra­ gen, ist die Schrift doch das Wort Gottes. Höre, wie Augustinus inter­ pretiert: »Was nutzt es den zur Vernichtung bestimmten Gefäßen, dass Gott sie geduldig erträgt, um sie auf geordnete Weise zugrunde zu richten und sie als Mittel für das Heil anderer zu benutzen, derer er sich erbarmt? Jedenfalls nutzt es denen, zu deren Heil er sie benutzt, dass, wie geschrieben steht, der Gerechte seine Hände im Blut des Sünders wasche.« R Noch einmal: unerhört! Augustinus übertrifft Paulus an Barbarei. Die zur Vernichtung Bestimmten werden zusätzlich vernutzt. W Augustinus erläutert: »Der Gerechte soll durch die Furcht vor Gott von bösen Werken gereinigt werden, wenn er die Strafen an den Sündern vollzogen sieht.« R Der Begriff Strafe ist hier fehl am Platz, denn Strafe setzt Verfeh­ lung voraus. Nach Augustinus sind die »Gefäße des Zorns« jedoch von vornherein zur Vernichtung bestimmt, ungeachtet der möglichen Tatsache, dass sie sündigen.

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W Augustinus stellt sich vor, dass eine universale Barmherzigkeit kein Bewusstsein für die »unermessliche« Gnade ermöglicht, wenn es nicht die zur Vernichtung Bestimmten gäbe ... R ... entsprechend der Vorstellung, dass wir nicht wüssten, wie herrlich das Tageslicht ist, gäbe es keine Nacht. Auch in diesem Punkt herrscht dualistisches Denken. W Der Römerbrief enthält noch eine weitere Fundstätte für Augusti­ nus. Ich zitiere zunächst Paulus, dann betrachten wir, was Augustinus daraus folgert. »Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod und so der Tod auf alle Menschen überging auf Grund der Tatsache, dass alle sündigten« (Römer 5,12). R Wir sollten auch erwähnen, dass für Paulus nicht nur der Tod, sondern auch die Verdammnis Folge dieser einen Sünde Adams ist, denn er schreibt im Anschluss: »Also: wie durch den Fall des Einen über alle Menschen die Verdammnis kam ...«. W Wie Paulus interpretiert Augustinus die Paradieserzählung als historischen Bericht, obwohl er in seiner ersten Genesisauslegung eine allegorische Lesart verfolgte. Aber Paulus zwingt ihn zur wörtli­ chen Interpretation. Eine Verdammung aller Menschen als Folge der Ursünde ist nicht mehr allegorisch verschämt zu verstecken. R Augustinus sieht sich herausgefordert, die radikale Verdammung der Menschheit zu erklären. Zunächst wollen wir aber seine Deutung des Römerbriefes betrachten: »Da nun der Apostel sagt, in Adam alle sterben – hat sich doch von ihm als dem Ursprung die Beleidigung Gottes über das ganze Menschengeschlecht ausgebreitet – so sind folglich alle Menschen wie ein einziger Sündenklumpen (massa pec­ cati), der von der höchsten Gerechtigkeit die Todesstrafe verdient hat. Wird sie eingefordert oder erlassen, so ist beides keine Ungerechtig­ keit.« W Die Rechnung lautet folglich: Alle haben die Verdammung ver­ dient, wenn Gott die Strafe einigen erlässt, so ist das seine Sache, die anderen dürfen zwar neidisch sein, aber seinen Willen nicht für ungerecht ansehen. Wenn wir kleinen Menschlein Gott der Ungerech­

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tigkeit zeihen, so antwortet Augustinus: »Und er erbarmt sich derer nicht, denen Erbarmen aus Gründen einer völlig verborgenen und von menschlicher Einsicht weit entfernten Gerechtigkeit nicht gewährt werden kann; denn unerforschlich sind seine Entscheidungen und unaufspürbar seine Wege.« R Mit diesem Argument kann man alles und nichts erklären. Die Verteidigung Gottes kann nicht auf weltlicher Bühne stattfinden, denn der Angeklagte verbirgt sich hinter dem Vorhang der Unerforschlich­ keit. Der Status, den Augustins Gnadenlehre mit der Antwort an Simplicianus erreichte, wird später nicht mehr von ihm korrigiert. Auch in dem Spätwerk »De civitate Dei« wiederholt er: Wegen der »Ruchlosigkeit« der Adamstat »ward auch die ganze Masse des menschlichen Geschlechts verdammt; denn der zuerst den Frevel beging, wurde mitsamt seiner in ihm wurzelnden Nachkommenschaft bestraft, so dass keiner von diesem gerechten und wohlverdienten Strafgericht gerettet wird, es sei denn durch erbarmende und unver­ diente Gnade.« W Es ist kein Geheimnis, dass Augustinus der griechischen Sprache, in der die Paulusbriefe verfasst sind, nicht besonders mächtig war. Daher bezieht er sich auf die lateinische Übersetzung der Vulgata. Um verständlich zu machen, dass die Erbsündenlehre des Kirchenvaters auf einer Fehlinterpretation beruht, muss die entsprechende Stelle in der lateinischen Version vorgestellt werden. R Ich zitiere: »Per unum hominem peccatum intravit in mundum, et per peccatum mors et ita in omnes homines pertransiit, in quo ommnes peccaverunt.« Es kommt darauf was, wie »in quo« gram­ matikalisch zu interpretieren ist. Die Wendung »in quo« vertritt das griechische Original »eph' hô«. Nach einhelliger Meinung der Exegeten ist »in quo« nicht relativ – wie bei Augustinus (in welchem, in Adam) – sondern kausal zu verstehen. W Die korrekte Übersetzung muss also lauten: »Durch einen einzi­ gen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil (eph' hô) alle sündigten.« Sie sündigen laut Paulus nicht »in Adam«.

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R Mit der Erbsündenlehre schließt sich der Kreis zu den »Confes­ siones«. Durch Sexualität wird die Sünde Adams an alle Menschen weitervererbt. Augustinus betont ausdrücklich: »Hoc propagationis est, non imitationis.« Zu Deutsch: Es geschieht durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung. W Der Mensch wird nicht durch eigene Taten zum Sünder, sondern er wird als Sünder geboren. Cupiditas, sexuelle Lust, ist Folge der Erbsünde. Bei Sloterdijk heißt es: »Die Nachkommen haben das peccatum originale auf eigene Rechnung erneut zu begehen, um ihre Verdammnis – genauer ihre Verdammnis zur Verdammnis – zu verdienen. Und sie begehen es unfehlbar, weil sie mit dem Makel des Sündigenmüssens ins Leben treten. Das ist es, was Augustinus’ listige und zudringliche Wendung vom non posse non peccare als letzte Wahrheit der natürlichen conditio humana nach dem Fall besagt.« R Da allen Menschen die Verdammnis droht, dürfte dies wohl Grund für die Kindertaufe sein, denn ohne Taufe gehören die Kinder dem Teufel. Augustinus hat auch überlegt, wie Gott mit Säuglingen verfährt, die vor der Taufe sterben. Nach seiner Logik müssen sie ver­ dammt werden. Ihnen gebührt nach Augustinus keine Gnade. Auch hier wird Gott in seiner Unerforschlichkeit gerecht entschieden haben. W Die als Logik bezeichnete Gnadenlosigkeit nennt Kurt Flasch in Bezug auf die Gnadenlehre Augustins von 397 eine »Logik des Schre­ ckens«. R Wie vielen der zurecht Verdammten gewährt Gott seine Gnade? W Augustinus richtet sich nach Paulus. Dieser weiß: »Nur ein Rest wird gerettet.« »So gibt es einen Rest ... nach der Auswahl der Gnade.« R Die »Gnade« Gottes ist folglich nicht gerecht-austeilend, son­ dern ungerecht-ausschließend. W Gott könnte alle Menschen retten, aber er will nur wenige vor der Verdammnis verschonen. Die »massa damnata« ist nicht auserwählt und verdient die Gnade nicht. R Wie kann Augustinus einen solchen Gott lieben?

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W Man könnte vermuten, dass die Liebesschwüre in den »Confessio­ nes« den absurden Erwägungen in der Schrift an Simplicianus von 397 zeitlich vorangehen, aber mit den »Confessiones« begann Augustinus im selben Jahr. Diese Gnadenlehre, auf der Erbsündenlehre basierend, atmet nicht mehr den Geist der Philosophie. Der Kirchenlehrer hat sich Paulus unterworfen und feiert mit ihm einen Triumph des Glaubens über die Vernunft. R Kant verurteilt in seiner Schrift »Die Religion innerhalb der Gren­ zen der bloßen Vernunft« die Paulinische Rede vom göttlichen Willen – erbarmen oder verstocken –, wenn sie wie bei Augustinus wörtlich interpretiert wird, als »salto mortale der menschlichen Vernunft«. W Mit Heraklit beginnt eine Überwindung des Mythos durch den Logos. Augustinus wendet sich vom Logos zurück zum Mythos, kann doch die Erbsündenlehre als sekundärer Mythos verstanden werden, der auf dem Paradies-Mythos basiert. R Im Fehlurteil über Augustinus wird in fataler Weise verkannt, dass der vermutete helle Schein einer »Gnade Gottes« die faktische »Logik des Schreckens« überstrahlt und daher keinen liebenden, sondern einen grausamen Gott voraussetzt. W Nach allem, was wir hier an Originaltexten vorgestellt und disku­ tiert haben, ist es völlig unverständlich, dass Augustins Gnadenlehre nicht als Häresie verurteilt wurde, sondern die seines Gegners Julian von Aeclanum. R Augustins Menschenbild prägt bis heute christliches Denken: die »miseria hominis«. W Nach Sloterdijk löste Augustinus »mit seiner verschärften Sün­ den-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der die westliche Welt sich bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt.« R Diese Verdüsterung hat nur einen Grund: die fatale Deutung der biblischen Paradieserzählung als Ursünde der Menschheit, die sich angeblich »in Adam« versündigte.

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W Ein Übersetzungsfehler des Kirchenvaters als Schicksalsspruch über die Kirchengläubigen – kaum zu glauben!

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7. Luther: »Freiheit« eines Christenmenschen

W Mit Martin Luther (1483–1546) haben wir ein ähnliches Problem wie mit Augustinus. R Du beziehst dich wohl auf Aussagen wie: die Vernunft sei eine »Teufelsbraut« und andere polemische Äußerungen. W Nicht unbedingt. Sie zeigen nur in überspitzter Form seine Posi­ tion, wenn es darum geht, den Glauben zu »heiligen«, hingegen das Wissen zu verteufeln. Aber nicht seine reformatorische Lehre steht hier im Fokus unserer Kritik, sondern der usurpatorische Versuch der Evangelischen Kirche in Deutschland, den Reformator zum Vorreiter der Aufklärung zu erklären. R In »Berlin.de. Das offizielle Hauptstadtportal« steht zu lesen: »Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) stellt zum Reformations­ jubiläum 2017 die Rolle Martin Luthers als Vordenker für den moder­ nen Freiheitsgedanken und den Rechtsstaat in den Vordergrund.« W Anlässlich »500 Jahre Reformation« gab die EKD ein Werk mit dem Titel »Rechtfertigung und Freiheit« heraus. Dort heißt es: »Weil Rechtfertigung Menschen befreit, kann die Rechtfertigung mit dem Stichwort Freiheit erläutert werden.« Der »Wunsch nach Freiheit von ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen« wird ebenso genannt wie die Tatsache, dass »in vielen anderen Weltgegenden noch für jene elementare politische Freiheit gekämpft« wird. R Dieser undifferenzierte Gebrauch des »Stichworts Freiheit« ist mehr als bedenklich. Aber es verschlägt mir den Atem, wenn ich lese: »Sie (die Reformation) wirkte als Bildungsimpuls, trug zur Ausbildung der modernen Grundrechte von Religions- und Gewis­ sensfreiheit bei, veränderte das Verhältnis von Kirche und Staat,

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hatte Anteil an der Entstehung des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs und des modernen Demokratieverständnisses – um nur einige Beispiele zu nennen.« W Im Fall der EKD handelt es sich nicht um eine irrtümliche Fehlin­ terpretation einer Schrift des Reformators aus dem Jahr 1520 mit dem Titel »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, sondern um eine gezielte Aneignung des Freiheitsbegriffs hinsichtlich eines entschie­ denen Kämpfers gegen die Willensfreiheit. R Mit der Materie Unvertraute könnten sich fragen, ob es neben der menschlichen Freiheit noch eine besondere christliche Freiheit geben könne und ob sich im Vergleich beider Formen der Freiheit Gemeinsames finden lasse, sodass die EKD dann durchaus berechtigte Bezüge hergestellt haben könnte. W Um dies profund beantworten – und letztlich bestreiten – zu kön­ nen, ist eine detaillierte Analyse der Schrift erforderlich. Dabei wird sich herausstellen, dass Luther das Wort Freiheit im Wesentlichen für Freiheit von Sünden gebraucht. R Luther stellt den 30 Punkten seiner Schrift zwei programmatische »Beschlüsse« voraus: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. – Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Er glaubt, sie durch zwei Paulus-Worte begründen zu können, die er wörtlich zitiert: 1. Kor. 9,19: »Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu eines jedermann Knecht gemacht.« sowie Röm. 13,8: »Ihr sollt niemandem etwas verpflichtet sein, außer dass ihr euch untereinander lieb habt.« W Schon hier erhebe ich kritischen Einspruch, aber nicht weil der erste Beschluss scheinbar skandalös klingt, sondern weil Luther den Sinn des Paulinischen Sprachspieles missdeutet. »Sich zum Knecht aller machen« meint im Paulinischen Kontext: sich auf die Denkge­ wohnheiten und Redeweisen seiner Hörer einstellen, die er für seine Mission gewinnen will. Um der größeren Sache willen, »um die Mehr­ zahl zu gewinnen«, ist er so frei, auf das spezifisch jüdische Sprachspiel zu verzichten. »Knecht sein« hat hier eindeutig hermeneutische und nicht theologische Funktion.

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R Außerdem spricht Paulus von sich als Individualperson, nicht als Stellvertreter des Christenmenschen schlechthin. Für die Gesamtwür­ digung ist auch der einleitende Satz zu berücksichtigen: »Damit wir gründlich erkennen mögen, was ein Christenmensch sei, und wie es getan sei, um die Freiheit, die ihm Christus erworben und gegeben hat«. Schon hier wird Freiheit auf Christus und damit auf den Glauben bezogen. Die Grundorientierung ist folglich vorgezeichnet. W Die beiden kontrastreichen Beschlüsse werden dann auf den Kontrast Seele – Leib bezogen: Ein »jeglicher Christenmensch« hat »zweierlei Naturen«, »eine geistliche und eine leibliche« »Und um dieses Unterschiedes willen werden in der Schrift von ihm Aussagen gemacht, die völlig gegeneinander stehen, nämlich, wie ich gerade gesagt habe, von der Freiheit und Dienstbarkeit.« R Seele und Freiheit – Leib und Dienstbarkeit sind die Pole. Ent­ sprechend ist die Schrift gegliedert in Freiheit und Glauben bzw. Dienstbarkeit und Werke. Thematisch fokussiert wird die Erörterung auf das Verhältnis von Glauben und Werken. Mit dem 3. Punkt beginnt die Untersuchung: »So nehmen wir uns den inwendigen geistlichen Menschen vor, um zu sehen, was dazu gehört, dass er ein guter, freier Christenmensch sei und heiße.« W Die Seele des Christenmenschen setzt Luther mit dem inwendi­ gen, geistlichen Menschen gleich und behauptet diesbezüglich, »dass ihn kein äußerliches Ding frei, noch gut machen kann«. Daraus ist zu schließen, dass die angezielte Freiheit eine Sache der Seele bzw. des Geistes ist, aber keine äußere, politisch-soziale. Und da Luther frei-sein mit gut-sein zusammenstellt, erhält diese Freiheit eine moralische Dimension. R Was macht die Seele frei und gut? Luthers Antwort lautet: »Zum 5.: hat die Seele kein anderes Ding, weder im Himmel noch auf Erden, worin sie leben kann, gut, frei und Christ sein kann, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes von Christus gepredigt.« Es ist der christliche Glaube, der die Seele gut und frei werden lässt. Mit diesem Punkt lenkt Luther auf den Zusammenhang von Glauben und Gnade, den er im nächsten ausführt.

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W Durch die Gnade erfährt der Mensch die Vergebung der Sünden, nicht durch bestimmte Werke. »So sollen dir um eben dieses Glaubens willen alle deine Sünden vergeben, all dein Verderben überwunden sein, und du sollst gerecht, wahrhaftig, befriedet, gut sein, und alle Gebote sollen erfüllt sein, und du von allen Dingen frei sein.« Der Glaube macht frei von vererbter Sünde und der Pflicht zur Werkerfül­ lung. R Freiheit bedeutet Sündenfreiheit. Auf eine einfache Formel gebracht: Ohne den Glauben keine Freiheit von Sünden, wodurch der Mensch erst gut werden kann. Diesen Grundgedanken schärft der 8. Punkt ein: »Hier ist fleißig zu merken und mit Ernst zu behalten, dass allein der Glaube ohne alle Werke gut, frei und selig macht, wovon wir später mehr hören werden.« W »Gut, frei und selig« haben bei Luther die gleiche Bedeutung. Die drei so gut wie synonym gebrauchten Begriffe stehen im Zentrum des Sprachspiels der christlichen Freiheit. R Weitere Begriffe werden in diesem Sprachspiel vernetzt: Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Dies geschieht im 9. Punkt: »Willst du alle Gebote erfüllen, von deiner bösen Begierde und Sünde gelöst werden, wie es die Gebote erzwingen und fordern, siehe da, glaub an Christus, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Glaubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht.« Freiheit ist allein eine Sache, ein Geschenk des Glaubens. W Punkt 10 liefert die volle Definition: »Das ist die christliche Freiheit, der eine Glaube, der nicht macht, dass wir müßiggehen oder übeltun, sondern dass wir keines Werkes bedürfen, um Güte und Seligkeit zu erlangen; wovon wir später mehr sagen wollen.« Durch den Glauben wird der Christenmensch frei von Sünden und frei von Werken, um selig und gut zu werden. R Auch wenn Luther bisher den Ablass als Werkleistung, die nach päpstlicher Lehre frei von Sünden machen soll, noch nicht erwähnt, so zielt seine Rede doch in diese Richtung: »Daraus erkennt man klar, wie ein Christenmensch frei ist von allen Dingen und über alle

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Dinge, so dass er keiner guten Werke dazu bedarf, dass er gut und selig sei, sondern der Glaube bringts ihm alles im Überfluss.« Später wird Luther formulieren: »sola fide«, allein durch den Glauben. W In dieser Untersuchung hält sich Luther von Angriffen gegen die päpstliche Autorität zurück, doch er kämpft mit gezähmten Worten: »Wer kann nun die Ehre und Hoheit eines Christenmenschen ergrün­ den? Durch sein Königtum ist er aller Dinge mächtig, durch sein Priestertum ist er Gottes mächtig, denn Gott tut, was er bittet und begehrt.« Durch das Priestertum aller Gläubigen steht kein anderer über dem Christenmenschen. R Der Verteidiger des Glaubens gegen die Ablasswerke setzt nach: »Aber nun ist aus der Haushaltung eine solch weltliche, äußerliche, prächtige, furchterregende Herrschaft und Gewalt geworden, dass die eigentliche weltliche Macht in keiner Weise mit ihr vergleichbar ist, gerade, als wären die Laien etwas anderes als Christenleute. Damit weggenommen ist der ganze Sinn christlicher Gnade, Freiheit, Glau­ bens und alles, was wir von Christus haben, und auch Christus selbst; dafür haben wir viele Menschengesetze und -werke bekommen, und sind ganz Knechte geworden der alleruntüchtigsten Leute auf Erden.« Der Affront ist nicht zu überhören. W Es kommt nach Luther darauf an, die christliche Freiheit rich­ tig auszulegen. Durch das Priestertum ist der Christenmensch der päpstlichen Autorität nicht untertan. Insofern verwandelt Luther die christliche Freiheit durch den Glauben in eine Waffe gegen den Papst: »Das geschieht, wo man recht auslegt die christliche Freiheit, die wir von ihm (Christus) haben, und wie wir Könige und Priester sind, aller Dinge mächtig.« R Punkt 19 greift den zweiten Beschluss »dienstbarer Knecht – jedermann untertan« auf und leitet thematisch über vom Glauben zu den Werken, vom geistigen zum leiblichen Menschen. Luther unterscheidet Werke im Dienst des eigenen Glaubens von gebotenen Werken gegenüber dem Nächsten.

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W Das Knecht-Sein besteht nach Luther im leiblichen Dasein; der Mensch ist den Mächten des Leibes unterworfen, denn auch der Chris­ tenmensch findet »doch in seinem Fleisch einen widerspenstigen Willen, der der Welt dienen will und suchen, wonach es ihn gelüstet.« Hier kommt das dualistische Denken Augustins zum Tragen. R Zu den eigenen Glaubenswerken gehört: »Alle, die Christus ange­ hören, kreuzigen ihr Fleisch mit seinen bösen Gelüsten.« Der gläubige Christ muss seine irdischen Lüste bezähmen und Macht über das Fleisch bekommen. Dies kann ihm nach Luther durch die Gnade gelingen. Kant fordert dies auch ohne Gnade. »Du sollst, denn du kannst«, lautet seine Formel. Luther hingegen predigt das Gegenteil. W Luther betont das richtige Verhältnis von Glauben und Werken. Nicht gute Werke führen zum Glauben, sondern gute Werke entste­ hen durch den Glauben. »Aber der Glaube, gleich wie er gut macht, so macht er auch gute Werke.« Und es gilt, »dass kein Werk, kein Gebot einem Christen zur Seligkeit notwendig ist, sondern er frei ist von allen Geboten und aus reiner Freiheit alles umsonst tut, was er tut«. R Der Glaube befreit nicht von guten Werken, aber sie müssen aus dem Glauben kommen. »Darum verwerfen wir die guten Werke nicht um ihretwillen, sondern um dieses bösen Zusatzes und falscher verkehrter Meinung willen, was bewirkt, dass sie nur gut scheinen, obwohl sie nicht gut sind ...«. W Im letzten Abschnitt werden Werke in Bezug auf den Mitmen­ schen thematisiert. Das christliche Gebot der Nächstenliebe fordert Werke im Dienste derer, die ihrer bedürfen. Solche Werke sind gut, aber sie machen den Handelnden deshalb nicht gut, wenn der Glaube fehlt. R Im Schluss lässt Luther seine Waffe blitzen. »Hieraus mag ein jeder ein gewisses Urteil und eine Unterscheidung unter allen Werken und Geboten vollziehen, auch welches blinde, verrückte oder vernünf­ tige Prälaten sind.« W Und er wird noch deutlicher im Hinblick auf den Ablass: »Denn ich befürchte, dass in all dem ein jeder nur das Seine sucht, in der Annahme, damit seine Sünde zu büßen und selig zu werden. Dies

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alles kommt aus Unwissenheit des Glaubens und christlicher Freiheit und aufgrund einiger blinder Prälaten, die die Leute dahin treiben und solches Wesen preisen, mit Ablass schmücken und den Glauben nicht mehr lehren.« R »Sola fide, sola gratia«: Allein durch den Glauben, allein durch die Gnade und zusammengenommen allein durch das göttliche Gnaden­ geschenk des Glaubenkönnens ist die christliche Freiheit begründet. Sie ist also ausschließlich eine Sache des Glaubens, nicht eine Sache des Menschseins. Zwischen dem »natürlichen« und dem »christli­ chen« Menschen liegen Welten. W Wie absurd die Vorstellung und wie fatal der Irrtum ist, Luther zum Vordenker der Freiheit zu nominieren, wird schon allein aus seiner Schrift von 1525 erkennbar. Sie ist eine unmittelbare Antwort auf das Werk des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1524 mit dem Titel: »De libero arbitrio«, Vom freien Willen. R Darin geht es ihm um die Rettung der Willensfreiheit neben der Gnade. Die Schrift kann als eine vorsichtige Kritik an Augustins Bestreitung des freien Willens verstanden werden. Auf die Argu­ mente des Humanisten können wir hier nicht eingehen. W Luther schießt mit dem Titel »De servo arbitrio«, Vom knechti­ schen Willen, zurück. Wo Erasmus auf Argumente setzt, reagiert Luther despektierlich. In der Einleitung schreibt er: »Dein Büchlein ... kommt mir ... so nichtssagend und gering vor, dass ich dich heftig bemitleide, der du deine ausgesprochen schöne und geistreiche Aus­ drucksweise mit solchem Dreck besudelst.« Im weiteren Verlauf überwiegt dann ein sachlicherer Ton. R Im Streit zwischen Erasmus und Luther wiederholt sich die Aus­ einandersetzung zwischen Julian von Aeclanum und Augustinus. Durch die Behauptung der Willensfreiheit sieht Luther seine Recht­ fertigungslehre unterhöhlt, im Glauben die Gnade Gottes wirksam zu erfahren. Auf eine Formel gebracht: Gnade oder Willensfreiheit. Ein Mittelding ist für Luther wiederum ausgeschlossen.

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W Gegen Erasmus’ Einwand, die Paulinische Rede von »erbarmen und verstocken«, sei »ungereimt« und bilde nicht das Zentrum christlichen Glaubens, behauptet Luther, wahrer Glaube beweise sich gerade darin, dass er das der Vernunft absurd erscheinende Wort hinnimmt und darin eine höhere Gerechtigkeit Gottes erblickt. R Luther konstruiert ein paradoxes Verhältnis: Glaube, Absurdität und Gnade gegen Vernunft, freien Willen und Sünde. »Absurd näm­ lich bleibt (nach dem Urteil der Vernunft), dass jener gerechte und gute Gott vom Willensvermögen Unmögliches fordert und, obwohl das freie Willensvermögen das Gute nicht wollen kann und notwen­ digerweise der Sünde dient, dies ihm dennoch zurechnet.« W Zu den Prüfsteinen des Glaubens gehört auch die gehorsame Anerkennung der Erbsünde. Auf die rhetorische Frage: Warum hat Gott »zugelassen, dass Adam fiel, und warum schafft er uns alle mit derselben Sünde befleckt, während er doch jenen hätte bewahren und uns anderswoher oder erst nach Reinigung des Samens schaffen kön­ nen« ... R ... antwortet Luther wie Augustinus: »Gott ist der, dessen Wille keine Ursache noch Grund hat, die ihm als Richtschnur und Maß vorgeschrieben würden ... Denn nicht daher, weil er wollen muss oder musste, ist es richtig, was er will. Sondern im Gegenteil: Weil er so will, daher muss es auch richtig sein, was geschieht.« Man erkennt, dass Luther sich wie Augustinus gegen einen vernünftigen Umgang mit der Bibel immunisiert. W Das Konkurrenzverhältnis von Gnade und Willensfreiheit spie­ gelt sich im Konkurrenzverhältnis von Glaube und Vernunft. Die entschiedene Bestreitung der Willensfreiheit und die Entmachtung der Vernunft sind zwei Seiten einer Medaille. R Wie Augustinus begründet Luther die Lehre vom unfreien Willen mit dem Sündenfall Adams, wodurch der Mensch seine Freiheit verloren hat und damit das Vermögen, Gutes zu wollen. Luther wirft Erasmus vor, er missachte, »was es heißt und welche Bedeutung es hat zu sagen: Der Mensch hat die Freiheit verloren, er ist gezwungen, der Sünde zu dienen, und er kann nicht irgendetwas Gutes wollen.«

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W Man erinnere sich an Augustinus: non posse non peccare! Luther vollstreckt Augustinisches Dogma. Ausdrücklich bestätigt er seine »völlige Übereinstimmung mit Augustinus: Das freie Willensvermö­ gen vermag aus eigener Kraft nichts, außer zu fallen, und ist zu nichts im Stande, außer zu sündigen«. Daher nennt Augustinus es im 2. Buch gegen Julianus »lieber ein geknechtetes als ein freies Willensvermö­ gen«. R Luther kennt die Auseinandersetzung, aber er bleibt an Augustins 900 Jahre alte Lehre gefesselt. Wiederholung mag für Luther eine Form des Argumentierens sein, denn er insistiert: »Das freie Willens­ vermögen vermag aus eigener Kraft nichts, außer zu fallen, und es ist zu nichts im Stande, außer zu sündigen.« W Wenn man beide Schriften vergleicht, dann zeigt sich, dass nur die Glaubensgnade des Christenmenschen frei macht, aber nur von Sünden und Werken, während der natürliche Mensch mit einem unfreien Willen geboren wird. Aus christlich-religiösen Motiven, zur Verteidigung der Erbsünden- und Gnadenlehre, bestreitet Luther die menschliche Freiheit. R Aber selbst der begnadete Christ verfügt über keine Glaubensfrei­ heit, weil Gott bestimmt, ob er ihn frei setzt oder nicht. In einem üblen Vergleich demonstriert Luther den geknechteten Willen des Menschen, indem er ihn zum Objekt göttlicher bzw. teuflischer Macht herabwürdigt: »So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will ... Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten.« W Manichäistisches Denken wie bei Augustinus – und dies nach 900 Jahren! Ich frage mich, wie man guten Gewissens behaupten kann, Luther sei »Vordenker für den modernen Freiheitsgedanken und den Rechtsstaat« gewesen. Dies ist eine fatale Fehlinterpretation. Selbst seine Rolle als Streiter für die Gewissensfreiheit ist kritisch zu sehen. R Aber hat sich Luther vor dem Reichstag zu Worms nicht auf sein Gewissen berufen, um zu begründen, dass er nicht widerrufen könne?

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W Es kommt darauf an, was er tatsächlich gesagt hat. Folgende Aus­ sage Luthers ist in den deutschen Reichstagsakten protokolliert: »... wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst wider­ sprochen haben, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!« R Zunächst bekundet Luther seine Bereitschaft zum Widerruf, wenn er »durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe« überzeugt werden könnte. Damit erklärt er die Entscheidung primär zu einer Sach- und Vernunftfrage. Erst sekundär führt er sein Gewissen an. Aber beruft er sich dadurch auf Gewissensfreiheit? W Zwei Dinge erscheinen mir in dieser Begründung wichtig. Erstens, dass er sich durch die Schrift in seinem Gewissen gebunden fühlt, und zweitens, dass es nicht heilsam ist, gegen dieses gebundene Gewissen zu handeln. Würde er widerrufen, setzte er sein Seelenheil aufs Spiel. R Wie kommst du zu dieser Deutung? W Es ist ein Brief Luthers an Karlstadt erhalten, in dem er schreibt: »Das weiß ich, dass ich der Allerangenehmste und Liebste wäre, wenn ich dies einzige Wort spräche: ›revoco‹, das ist: ›ich widerrufe‹. Aber ich will nicht zum Ketzer werden durch den Widerruf ... eher will ich sterben, verbrannt, vertrieben und vermaledeit werden.« R Der Brief erklärt Luthers Position in aller Deutlichkeit. Wer den Zorn Gottes im Urteilsspruch der letzten Instanz christlicher Gerichtsbarkeit mehr fürchtet als den physischen Tod, hat keine Wahl. Er kann sich in seinem durch die »Heilige Schrift« »überwundenen« und im Wort Gottes »gefangenen« Gewissen nur für das »Heil« ent­ scheiden.

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W Eine so zustande gekommene Glaubensentscheidung ist keine Entscheidung eines freien Gewissens im Sinne der rechtsstaatlich garantierten Gewissensfreiheit. Die Berufung auf den Rechtsstaat durch die EKD ist demnach verfassungsrechtlich verfehlt. R Luther predigt den Christen ein Freisein von Sünde, das allein durch Gottes Gnade geschenkt wird. Dieser im Grunde mittelalterli­ che Gedanke der Sündenfreiheit beruht auf einem kategorial anderen Freiheitsbegriff als die neuzeitliche Idee der Freiheit. Im Humanismus der italienischen Renaissance erfunden, bestimmt sie den neuzeitli­ chen Begriff der Freiheit bis heute. W Luther zum »Vordenker für den modernen Freiheitsgedanken und den Rechtsstaat« zu erklären, stellt keine irrtümliche Fehlinter­ pretation dar, sondern einen fatalen Irrtum: Jener Luther, der die menschliche Freiheit so vehement bestritten hat, wird zum Vordenker der Freiheit ver-kehrt! R Das dürfte eine nicht mehr steigerungsfähige Form fatalen Irr­ tums sein.

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8. Hobbes: »Absolutistische« Herrschaft des Staates

W Thomas Hobbes (1588–1679) gilt gemeinhin als Ahnherr des Absolutismus. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb gehört sein 1651 in englischer und 1670 in lateinischer Sprache erschienenes Werk »Leviathan« zu den meistzitierten Büchern der Staatsphiloso­ phie und der Politischen Theorie. R Die fatale Deutung, das theoretische Fundament für ein absolutis­ tisches Staatsmodell gelegt zu haben, hätte sich nicht so hartnäckig gehalten, wenn das umfangreiche Werk zunächst studiert und dann erst zitiert worden wäre. W »Leviathan« ist der hebräische Name eines Meeresungeheuers mit echsen-, krokodil- und drachenartigem Aussehen. Schon die Wahl des Titels hat manchen Interpreten verführt, »den Staat als bedrohliches Ungeheuer (als einen ›Leviathan‹, daher der Werktitel)« zu deuten und damit die Fehlinterpretation zu verbinden, Hobbes habe »die Herrschaftsform des monarchischen Absolutismus« legitimiert. So liest man es in Christoph Horns Einführung in die Politische Philoso­ phie. R Das Titelkupfer der Londoner Originalausgabe wäre nicht weltbe­ rühmt geworden, wenn es nichts weiter als die Darstellung eines Meeresungeheuers geboten hätte. Tatsächlich hat es dem gezähmten Ungeheuer in Gestalt des menschenähnlichen Leviathan ein ikono­ graphisches Denkmal gesetzt, das künstlerisch genial gestaltet die Autorisierung des Staates durch seine Bürger versinnbildlicht. W Es zeigt einen dem Meer entsteigenden gekrönten Riesen, der rechts ein Schwert und links einen Bischofsstab als Zeichen seiner weltlichen und geistlichen Macht in den Händen hält. Sein Schuppen­ körper wird aus Menschen gebildet, die dem Betrachter den Rücken

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und dem mächtigen Herrscher das Gesicht zuwenden. Als Überschrift ist in Latein zu lesen, dass keine Macht auf Erden mit »ihm«, dem in Kupfer gestochenen Leviathan, vergleichbar sei. W Dieses Bibelzitat aus dem Buch Hiob und die Bezeichnung des Leviathan als »sterblicher Gott« durch Hobbes selbst haben weitere Beiträge zur »absolutistischen« Fehldeutung des Werkes geleistet. So schreibt Burkhard Schöbener in seiner Allgemeinen Staatslehre: »Der Herrscher als Verkörperung des allgewaltigen Staates« werde »in gewisser Weise Gott gleich« und Hobbes lege damit »zugleich die staatstheoretische Grundlage für den Absolutismus«. R Leider bieten heute sogar Habilitationsschriften keine Gewähr mehr für einen seriösen Umgang mit dem Original. So habe ich in einer solchen Schrift die Behauptung gefunden, der Hobbes’sche Staat sei »die Fluchtburg einzelner vor dem Krieg aller gegen alle mit einem absolutistischen Regime«. Unsere Widerlegung dieser Behauptung setzt am Standardzitat vom »Krieg aller gegen alle« an, weil es die Basis der Hobbesschen Theoriekonstruktion nicht in jener quasi geometrischen Exaktheit zum Ausdruck bringt, die für Hobbes charakteristisch ist. W Dazu ist wenigstens eine kurze Erklärung erforderlich: Zum wichtigsten Bildungserlebnis des Thomas Hobbes wurde das akribi­ sche Studium der »Elementa« des Euklid. Die Euklidische Methode, Behauptungen »more geometrico« aus Axiomen zu beweisen, über­ trug er auf die Art und Weise seiner philosophischen Argumentation. Hobbes-Interpreten sind daher gehalten, jeweils auf die Argumente zurückzugreifen, die den Exaktheitsanspruch des »Euklidianers« am besten erfüllen. R Die Erfüllung dieses Anspruchs beginnt schon bei der Auswahl der zu zitierenden Ausgaben. Welche Quelle bevorzugen wir, wenn wir den fingierten Vertrag interpretieren, der den Krieg des Naturzu­ stands beendet und jenen Staat begründet, der die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten soll? W In der preisgünstigen, leicht zugänglichen Reclam-Übersetzung heißt es in der Einleitung, »das allgemeine Geschäft« des vertraglich geschaffenen Staatskunstwerks sei »das Glück des Volkes«.

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R In der lateinischen Ausgabe steht an dieser Stelle »Salus populi, pro Negotio«, in der englischen »salus populi (the people’s safety) is business«. Wer daraus nur »safety« (Sicherheit) übernimmt, »salus populi« (das Wohl des Volkes) aber verschweigt, macht sich einer Textunterschlagung schuldig, die guter Wissenschaftspraxis wider­ spricht. W Interpretationen, die aus dem angeblichen Anliegen absoluter Sicherheit den Anspruch absolutistischer Herrschaft herauskonstru­ ieren, stehen daher von vornherein unter Vorurteilsverdacht. Das­ selbe gilt für Konstruktionen, die den Staatszweck der Sicherheitsge­ währleistung unkritisch überhöhen. R Ein aktuelles Beispiel dafür bietet die Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts. In einer vielzitierten Passage der Entscheidung zum Kontaktsperregesetz heißt es: »Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewähr­ leistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtferti­ gung herleitet«. W Wodurch wird ein Verfassungswert, der mit anderen Werten der Verfassung gleichrangig ist, zum »eigentlichen« Wert und »letzten« Rechtfertigungsgrund? Da die Entscheidung dazu schweigt, wird man vermuten dürfen, dass die Karlsruher Richter der gängigen These gefolgt sind, der Sicherheitszweck sei der oberste Zweck des Staates. R Gestützt wird diese These in aller Regel auf das Konstrukt vom »Krieg aller gegen alle« – »bellum omnium contra omnes« –, dessen anthropologische Ursache in der Wolfsnatur des Menschen liege. »Homo homini lupus« stammt jedoch aus der Widmung von »De Cive« und ist dort ausdrücklich auf das Verhältnis von Staaten bezo­ gen, nicht auf die Beziehung zwischen Bürgern. W Offensichtlich hat sich auch Hobbes Zeitgenosse Descartes keine besondere Mühe gegeben, das Werk des Engländers genau zu stu­ dieren, denn er äußert sich in einem Brief fast herablassend: »Ich kann aber keine seiner Maximen gut heißen, die sehr verwerflich, ja gefährlich sind, weil er alle Menschen für schlecht hält.«

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R Und dann formuliert auch er das fatale Urteil: »Alles, was er will, ist für die Monarchie zu argumentieren.« W Hans Buchheim, ein altphilologisch gebildeter Gelehrter aus der geisteswissenschaftlichen Tradition der Politikwissenschaft, schreibt dazu in schlichter Deutlichkeit: »Ein Beispiel dafür, wie man vonein­ ander abschreibt, anstatt das Buch einmal aufzuschlagen.« R »Bellum omnium contra omnes« kommt in der von Hobbes selbst stammenden lateinischen Edition des »Leviathan« zwar vor, die staatstheoretisch genauere Fassung in derselben Ausgabe lautet jedoch in grammatisch glänzendem Latein »bellum uniuscuiusque contra unumquemque«. W »A war, as is of every man against every man« ist das entspre­ chende Original in der englischen Erstausgabe von 1651. R Warum ist es genauer, vom »Krieg eines jeden gegen jeden« zu sprechen statt vom »Krieg aller gegen alle«? W Weil das Gedankenexperiment des Naturzustands »alle« als Kol­ lektiv nicht kennt, sondern nur die jeweils auf sich selbst angewiese­ nen Einzelnen, die Leib und Leben gegen dauernde Übergriffe vertei­ digen müssen. Eben diese Einzelnen schließen im Rahmen desselben experimentum mentale jenen staatskonstituierenden Vertrag, der die natürliche Freiheit zur individuellen Selbstverteidigung kollektiviert und als Aufgabe auf den aus allen Einzelnen konstruierten künstlichen Staatskörper des Leviathan transformiert. R Prägnanter als mit dessen aus einzelnen Menschen bestehendem Schuppenpanzer einer Art Urechse der Staatstheorie hätte sich diese Konstruktion bildlich nicht darstellen lassen. W Die begrifflich präzise Entsprechung lautet in der ersten Margina­ lie des 17. Kapitels: »Particular Security«. Jeder partikulare Einzelne, allein auf sich selbst gestellt, will dem elenden Kriegszustand entkom­ men. Hobbes findet für dieses Elend drastische Worte: »Es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.«

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R In der Exaktheit, die das Euklidische Wissenschaftsideal des Thomas Hobbes wie erwähnt kennzeichnet, kann deshalb auch nur jeder Einzelne Partner des Leviathanvertrags sein. Und erst das so zustande gekommene, am gemeinsamen Wohl orientierte Gemein­ wesen, das Hobbes bezeichnenderweise »Common-wealth« nennt, schützt dann neben der persönlichen Sicherheit als Individualrechts­ gut den Frieden als kollektives öffentliches Gut. W Das ist sowohl juristisch als auch philosophisch eine enorm wichtige Unterscheidung: Sicherheit ist ein individuelles, Frieden ein kollektives Rechtsgut. Sicherheit hat der Staat jedem einzelnen Bürger zu gewährleisten, indem er erstens den Bürgerkrieg verhindert und zweitens wirksamen Schutz für die Individualrechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum zur Verfügung stellt. R Die individuelle Sicherheit bildet den Zweck, der kollektive Frieden das Fundament des Staates. Bleibendes Verdienst des Hobbes’schen »Leviathan« ist es, den Staat als weltliche Friedens­ ordnung zum Gegenstand einer höchst konsequent konstruierten Legitimationstheorie gemacht zu haben. W »Suche Frieden und halte ihn ein«, im »Leviathan« das »erste und grundlegende Gesetz der Natur«, ist das fundamentale Prin­ zip inneren und äußeren Friedens geblieben. Im Nahen Osten, auf dem afrikanischen Kontinent und in anderen Teilen einer unbefrie­ deten Welt wie in der Ukraine sieht man, wie beides miteinander zusammenhängt. Die Geschichte hat Westdeutschland seit 1949 und dem wiedervereinigten Deutschland seit 1990 Bedingungen beschert, unter denen der Frieden gestiftet und gesichert werden konnte. R Hobbes bleibt hierfür der maßgebliche Theoretiker, weil er nicht den absolutistischen Herrscher legitimiert hat, sondern nach der gesamten Theoriearchitektur des »Leviathan« ausschließlich das staatliche Gewaltmonopol. Absolut gesetzt wird nur jene Autorität des Leviathan, die den Bürgerkrieg beendet, die Sicherheit des Einzel­ nen gewährleistet und den gesamtgesellschaftlichen Frieden garan­ tiert.

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W Und die Autorisierung des Staates durch friedfertige Bürger, die ihr natürliches Recht zur Selbstverteidigung auf den Leviathan über­ tragen, ist nach wie vor ein ansprechendes Theoriedesign – zumal das Titelkupfer den riesigen Staatskörper in glänzend gelungener Anschaulichkeit mit exakt der körperlichen Kraft ausstattet, die der Summe der Einzelkörper entspricht, aus denen er besteht. R Die Darstellung bildet ganz genau ab, was Hobbes more geo­ metrico als Autorisierung des Staates zum Schutz seiner Bürger konstruiert hat: »Jeder Einzelne einer großen Menge« überträgt sein Selbstverteidigungsrecht auf den Staat, der seine so zustande gekommene staatliche Gewalt »für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt.« W Die betreffende Autorisierung des Staates ist der legitimations­ theoretische Sinn der bekannten Formel im 26. Kapitel der lateini­ schen Ausgabe des »Leviathan«: »Auctoritas non veritas facit legem« – nicht die Wahrheit, sondern die Autorität erzeugt das Gesetz. Und die lateinische »auctoritas«, die Hobbes als »authoritas« bezeichnet, meint die Rückführung der Herrschaftsgewalt und des Gewaltmono­ pols eines Staates auf die Bürger als deren Urheber. R Diese Urheberschaft ist für Hobbes die philosophische Bedingung legitimer Staatlichkeit. W Für unseren Geschmack – über den wir uns oft genug verstän­ digt haben – liegt diese Bedingung aber außerhalb eines kontrak­ tualistischen Rahmens. Das heißt: Wir sind keine Anhänger des »Kontraktualismus«, einer Theorie, die den Staat auf einen fingierten Vertrag mit den Staatsbürgern zurückführt. Wir folgen der Philoso­ phie der verfassunggebenden Gewalt, die wir in unserem Gespräch über Rousseau vorstellen werden. R Lassen wir zu seiner Theorie noch einmal Hobbes zu Wort kom­ men: Ohne Leviathans »alle im Zaum haltende Macht« leben die Menschen »in einem Krieg eines jeden gegen jeden«. »Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist ... Jede andere Zeit ist Frieden.«

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W Dabei darf man nicht übersehen, dass Hobbes keine Beschreibung eines historischen Kriegszustands gibt – den er im Englischen Bür­ gerkrieg selbst erlebt hat –, sondern die gedankliche Fiktion eines vorstaatlichen »Natur«-Zustands vorträgt und sein Konzept eines friedenssichernden Staates daraus entwickelt. R Wie der Naturzustand, so der Staat, der ihn überwindet. Herrscht im Naturzustand Krieg, muss der Staat den Frieden bringen. Lebt der Mensch im Naturzustand in Freiheit, muss der Staat die Frei­ heit sichern, die durch gesellschaftliche Entwicklungen bedroht ist. Letzteres ist die Position Rousseaus, die wir im nächsten Kapitel vorstellen werden. W Was Hobbes betrifft, sollten wir uns noch etwas näher mit dem »Willen zum Kampf« beschäftigen, den er, wie zitiert, als Kriterium für den Kriegszustand nennt. Offenbar ist es nicht so, dass die staatliche Gewährleistung individueller Sicherheit schon genügt, um das Kollektivgut Frieden zu garantieren. R Sonst hätte es des erwähnten »ersten Gesetzes« nicht bedurft: »Suche Frieden und halte ihn ein.« Fällt ein solches Gesetz einfach vom Himmel oder hat es seinen Grund in der mit anderen geteilten Lebenswirklichkeit der Menschen? W Gut gefragt, weil die Frage schon die Richtung vorgibt, in der die Antwort zu finden ist: Frieden ist die Grundbedingung der Mög­ lichkeit des Menschseins. Als ein mit Würde geborenes Wesen, das seine in der Würde liegende Freiheit nicht »solipsistisch« allein auf sich selbst bezogen verwirklicht, sondern zusammen mit seinesglei­ chen, ist der Mensch für ein Leben mit seinen Mitmenschen auf Frieden angewiesen. R Die Freiheit bedarf außer einer staatlichen Ordnung, die den Rechtsfrieden garantiert, auch einer inneren Einstellung friedenslie­ bender Bürger, die sich in der Grundgestimmtheit friedlicher Kon­ fliktbewältigung äußert.

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W Das nächste Kapitel bietet Gelegenheit, dies anhand Rousseaus Herzensrepublikanismus zu vertiefen. Wir sollten unser HobbesKapitel aber mit einem Fazit beenden: Welche Argumente sprechen gegen die Deutung des »Leviathan« als Legitimationstheorie absolu­ tistischer Herrschaft? R An erster Stelle das »negotium« oder »Geschäft« des vertraglich konstituierten Staates: »salus populi« oder Wohl des Volkes. In der Aristotelischen Grundunterscheidung, die wir im vierten Kapitel eingeführt haben, legitimiert der Leviathanvertrag keine despotische Herrschaft, sondern nur eine politische Regierungsweise. Die Will­ kürherrschaft absolutistischer Monarchen oder – aktuell – autokrati­ scher Staatspräsidenten ist mit dem »Leviathan« nicht zu rechtferti­ gen. W An zweiter Stelle stehen die Staatsaufgabe der Friedenssicherung und das Staatsziel der Sicherheitsgewährleistung sowie der Zusam­ menhang von Schutz und Gehorsam, den Hobbes selbst ausdrücklich betont: Wenn der Staat des Leviathan seine Schutzpflichten nicht erfüllt, entfällt die Gehorsamspflicht seiner Bürger. R Anders als ein »absolutistischer« Herrscher, der »legibus absolu­ tus«, an keine Gesetze gebunden ist, gibt das »natürliche Gesetz« mit der vernunftrechtlich begründeten Aufgabe des Staates sowohl den Grund der staatlichen Souveränität als auch deren Grenze vor. Denn nur, was »nicht dem Gesetz der Natur widerspricht, kann im Namen des Inhabers der souveränen Gewalt zum Gesetz gemacht werden.« W Obwohl der Leviathan nicht Partner des staatskonstituierenden Vertrags ist – was irrigerweise als Argument pro Absolutismus gebraucht wird –, hat er »natürlich«, aufgrund seiner vernünftig verstandenen »Natur« die Aufgabe, für Frieden auf Erden zu sorgen. R Dazu ein letztes Zitat: »Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der sou­ veränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. Hierzu ist er kraft natürlichen Gesetzes verpflichtet.«

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W Mit diesem Zitat können zwei Fehldeutungen widerlegt werden: die verpflichtende »Aufgabe« widerlegt den »absolutistischen« Staat und die souveräne »Versammlung« den »monarchischen Absolutis­ mus«. Beides sind objektive Begrenzungen des Staates. Subjektive Rechte – Menschen- und Bürgerrechte – als Grenzsteine gegen den Staat findet man bei Hobbes ebenso wenig wie bei anderen Denkern seiner Zeit. R Dann darf ich das Zitat noch kurz fortsetzen: »Mit ›Sicherheit‹ ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt.« W Wenn Hobbes als »Ahnherr« bezeichnet werden kann, dann also nicht als Ahnherr des Absolutismus, sondern – im Sinne des zuletzt zitierten weiten Sicherheitsverständnisses – als Ahnherr des libera­ len Rechtsstaates.

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9. Rousseau: »Totale« Entäußerung als totalitäres Konzept

R Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hat nicht nur als Philosoph gewirkt, sondern auf vielen anderen Gebieten: als Roman- und Büh­ nenautor, Opernkomponist, Musiktheoretiker, Pädagoge und Publi­ zist. W Seine radikale Kritik an der dekadenten Gesellschaft seiner Zeit hat allerdings von Anfang an Anti-Rousseau-Affekte erzeugt und Polemiken gegen ihn als Mensch und Autor hervorgebracht. Unser Thema ist die fatale Fehldeutung, er habe den totalitären Staat propa­ giert. R Prominent vertreten wird diese Deutung in Jacob Talmons »Geschichte der totalitären Demokratie«. Dort wird Rousseau als phi­ losophisches Ziel die Erfüllung eines »absoluten kollektiven Zwecks« unterstellt. Tatsächlich hat Rousseau in seinem »Contrat Social« im Jahre 1762 eine Freiheitskonzeption entwickelt, die in ihrem Anspruch von keinem anderen Autor der Politischen Philosophie übertroffen wird. W Das sollte uns veranlassen, diesen Anspruch ernst zu nehmen und sorgfältig zu begründen. Das erste Zeugnis dafür ist die von Rousseau selbst so bezeichnete »illumination« – also »Erleuchtung« –, die ihm im Jahre 1749 blitzartig zuteilgeworden und lebenslange Inspiration geblieben ist: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.« So lesen wir es am Anfang des »Émile«. R »Entartet« hat wegen des Gebrauchs im Nationalsozialismus einen scheußlichen Beigeschmack. Rousseau verwendet dafür das aus dem lateinischen »depravare« – verkehren, entstellen, verderben – entlehnte Wort »depravé«. Das ist sein Terminus für das, was andere »denaturiert« nennen.

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W In der positiven Bestimmung des nicht-depravierten »Naturzu­ stands« setzt Rousseau sich ausdrücklich von den Naturzustands­ lehren seiner Vorgänger ab: Sie haben vom wilden Menschen des »homme sauvage« gesprochen, aber den zivilisierten Menschen des »homme civil« beschrieben. R Der noch nicht denaturierte, durch soziale Kontakte noch nicht verdorbene homme sauvage folgt nur den einfachen Antrieben der Natur: »Die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, sind Nahrung, ein Weibchen und Ruhe ...«. W Rousseau schreibt tatsächlich »femelle« oder Weibchen und nicht »femme« oder Frau, nennt den Menschen seines Naturzustands »un animal«, hebt ihn aber dennoch vom Tier ab. Was ihn jedoch vom Tier unterscheidet, ist nicht seine Ratio; folglich ist er kein »animal ratio­ nale«. R Zur wahrhaften Ursache dieses Unterschieds zwischen dem natür­ lichen und dem gesellschaftlichen Zustand heißt es: »Der Wilde lebt in sich selbst – »en lui-même« –, der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben« und depraviert durch Selbstbespiegelung hinsichtlich dieser Meinungen. Erst, indem er »sociable« wird, denaturiert er und wird zum Sklaven, schwach, ängstlich und kriecherisch, böse und unzufrieden. W Rousseaus zentrales Begriffspaar lautet »amour de soi« und »amour propre«, Selbstliebe und Eigenliebe. »Selbstliebe« bezeichnet das Bei-sich-selbst-Sein des nicht depravierten, sozusagen edlen Wilden, der sich noch nicht im Spiegel der anderen sieht und sich danach definiert – wie es in den Pariser Salons der Mitte des 18. Jahrhunderts geschah ... R ... die Rousseau in seinem Ersten Diskurs im Jahre 1750 als Gegenbild des Naturzustands vor Augen hatte. Mit seiner Salon-Kri­ tik gewann er den Preis der Akademie zu Dijon, anonym unter der Autorenangabe »Par un Citoyen de Geneve«. Diese Angabe fügte er seinem Namen in den späteren Schriften stets hinzu.

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W Du erwähnst dies sicher ganz bewusst, weil der Begriff des »Citoyen« der Schlüsselbegriff zur Politischen Philosophie Rous­ seaus ist. R Genau. Leider gibt es im Deutschen keine Entsprechung zum fran­ zösischen Gegensatzpaar von »Citoyen« und »Bourgeois«, sondern für beide Formen der Bürgerschaft nur das eine Wort »Bürger«. W Vielleicht könnte man den Gegensatz durch die Adjektive »privat« und »politisch« zum Ausdruck bringen: »Bourgeois« ist der private, »Citoyen« der politische Bürger. R Jener wird durch Grundrechte geschützt, die ihm ein Privatleben nach dem Motto »My Home is my Castle« ermöglichen. Wenn das Wortspiel erlaubt ist: In ihren Burgen treffen wir »Burger«, mit denen buchstäblich kein Staat zu machen ist. »Bürger« im Sinne von »Citoyen« werden sie erst, wenn sie ihren Rückzug ins Private beenden und durch Wort und Tat öffentlich werden. W Bevor wir die Freiheitskonzeption Rousseaus erläutern, möchte ich noch seine besondere Eigenständigkeit herausstellen, denn er befreit sich sowohl von philosophischen als auch von religiösen Vorgaben. Sein Menschenbild unterscheidet sich nicht nur von dem seiner philosophischen Vorläufer, sondern in einem wesentlichen Punkt auch von kirchlicher Lehre: Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, hat er weder die Last der Erbsünde zu tragen wie bei Augustinus noch seine Freiheit verloren wie bei Luther. R Trotz aller Rekurse auf Aristoteles, den er mehrfach ausdrücklich erwähnt und oft inhaltlich aufgreift, bestimmt Rousseau die Natur des Menschen nicht im Aristotelischen Sinne. Weder die Begabung mit der Vernunft des »logos« noch die Angewiesenheit auf die »polis« des »zoon politikon« spielen im Naturzustand eine Rolle. W Stattdessen gehören zu den ursprünglichen Naturanlagen das Streben nach persönlichem »Wohlergehen« und eigener »Erhal­ tung« sowie »ein natürlicher Widerwillen dagegen, irgendein füh­ lendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen«.

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R Begrifflich geht es um die »commisération«. Mit dem deutschen Wort Mitleid wäre dieser Begriff nur unzureichend übersetzt. Was Rousseau meint, ist Folgendes: Weil der homme naturel kein Leid sehen kann, ist er wesensmäßig friedlich gestimmt und der Gewalt abgeneigt. W Im »Contrat Social« greift er diesen Gedanken auf. Dort schreibt er: »Die Menschen sind schon deswegen von Natur aus keine Feinde, weil sie, solange sie in ihrer ursprünglichen Unabhängigkeit leben, untereinander keinerlei Beziehungen haben, die dauerhaft genug sind, um einen Friedens- oder Kriegszustand zu begründen.« R Die Formulierung »ursprüngliche Unabhängigkeit« meint Frei­ heit, die im Naturzustand so selbstverständlich ist, dass der homme naturel davon noch keinen Begriff hat, weil seine Reflexion in der Entwicklung der Gattung Mensch erst später einsetzt. W Das Aristotelische Attribut des »politikon« zoon ersetzt Rousseau durch Freiheit. Der Mensch ist ursprünglich ein Wesen, das Freiheit hat und Freiheit will. Dieser Freiheitswille ist die Basis für seinen Contrat. Im Sinne Rousseaus würde ich behaupten, dass er Freiheit für ein Gattungsmerkmal des Menschen hält. R Natürlich ist der Gegensatz »frei geboren« und »in Ketten« – »né libre« und »dans les fers« – im Eingangssatz des ersten Kapitels eine gewollte Pointierung. Sie hat den Sinn, den Leser für ein Grundphä­ nomen politischer oder freistaatlicher Philosophie zu sensibilisieren: Überall dort, wo staatliche Herrschaft nicht durch Freiheit legitimiert ist, liegt der Mensch wie ein Gefangener in den eisernen Ketten eines illegitimen Regimes. W Ohne Hobbes und Locke beim Namen zu nennen, greift Rousseau ihre Konzeptionen an, weil sie die angeborene Freiheit nicht angemes­ sen bedenken. Ihre Gesellschaftsverträge garantieren zwar den Schutz des Lebens und des Privateigentums, aber nicht die politische Freiheit.

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R Rousseau schreibt wörtlich: »Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch ... verzichten.« Politische Herrschaft muss die natürliche Freiheit des menschlichen Gattungswesens wah­ ren, denn es gilt: »Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen.« W Es dürfte jetzt deutlich geworden sein, welche Relevanz der Natur­ zustand für Rousseau hat, denn aus ihm leitet er alle Forderungen für eine legitime politische Ordnung als Freiheitsordnung ab. Ein Aspekt ist für den Naturzustand noch zu ergänzen: Die gemeinsame Freiheit bedingt die Gleichheit der Menschen. Oder um es anders zu formulieren: Die Menschen sind von Natur aus frei und in eben dieser Freiheit – nicht in irgendeiner anderen Hinsicht – gleich. R Aus dieser gattungsgemäßen Gleichheit in der Freiheit resultiert für Rousseau, dass »kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt«. Da bloße Macht und »Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder recht­ mäßigen Herrschaft unter Menschen«. Und Rousseau will eine solche Vereinbarung für jene einzig legitime Herrschaft zugrunde legen, die politische Freiheit garantiert. W Weil sein Naturzustand nicht aus einer göttlichen Schöpfung hervorgeht, ist der Verlust dieses »Paradieses« nicht durch den Sün­ denfall verursacht, sondern Rousseau macht natürliche Ursachen dafür verantwortlich: klimatische Veränderungen, Naturkatastrophen und ähnliches. R Deshalb »kann dieser ursprüngliche Zustand nicht weiterbeste­ hen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte«. So die Worte im »Contrat«. Die Menschen, die bisher je für sich ihr Auskommen hatten und nicht aufeinander angewiesen waren, müssen sich nun zusammen­ schließen. Damit entsteht eine völlig neue Situation, die Rousseau den Kulturzustand nennt.

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W Je weiter sich der Mensch aber vom Naturzustand entfernt, desto mehr denaturiert oder »depraviert« er. Jetzt vergleichen die Einzelnen sich miteinander und somit entstehen Konkurrenz und alle anderen Depravationen, die Rousseau als Übel der Zivilisation beklagt. Jetzt liegt der zivilisierte Mensch »überall in Ketten«. R Aus der ursprünglichen »amour de soi« entsteht die »amour propre«. »Die ›amour de soi‹ ist ein natürliches Gefühl.« – »Die ›amour-propre‹ ist nur ein relatives, künstliches, in der Gesellschaft entsprungenes Gefühl.« Es »gibt den Menschen all die Übel ein, die sie sich gegenseitig antun«. Und das schlimmste Übel ist für den bekennenden Aristoteliker Rousseau die Unterdrückung der Menschen durch despotische Herrschaft. W Der Aristotelische Gegensatz von »despotischer Herrschaft« und »politischer Regierung« ist Grundlage einer ideengeschichtlichen Tradition, die in den aktuellen Diskursen der Politischen Philoso­ phie zu einer bemerkenswerten Renaissance des Republikanismus geführt hat. R Rousseau als einem Herzensrepublikaner bricht es geradezu das Herz, wenn er die Ketten betrachtet, in denen der frei geborene Mensch in einer bürgerlichen Ordnung liegt, in der es keine politische Freiheit gibt. Der Zusammenschluss der Menschen nach dem Verlust des Naturzustandes muss daher neu konzipiert werden. Das Ergebnis seiner Neukonzeption ist der sogenannte »Gesellschaftsvertrag«. W Die »wahre Grundlage der Gesellschaft« verortet Rousseau in einem Akt, »durch welchen ein Volk zum Volk wird«. »Peuple« oder »Volk« ist dabei mehr und anderes als eine massenhafte Anhäufung von Menschen, nämlich eine »association« und keine bloße »aggre­ gation«. Hier höre ich eine alte Aristotelische Weisheit heraus: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. R Genau hingehört! Rousseau formuliert seine Aufgabe einer Neu­ konzeption mit folgenden Worten: »Finde eine Form des Zusammen­ schlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und

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durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor. Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt.« W Der vertragliche Zusammenschluss erfolgt in einem Akt der »association«, den Rousseau geradezu gravitätisch formuliert: »Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur der ›volonté générale‹; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.« R Wir haben dieses »assoziative« und nicht »aggregative« Ganze also im Sinne des Aristoteles richtig gedeutet. Freiheitsphilosophisch betrachtet, bedeutet das: Die eigene Freiheit kann in einer republi­ kanisch verstandenen Assoziation nur begründet werden, wenn der Gründungsvertrag in seiner philosophischen Konzeption die gleiche Freiheit aller mitbegründet. W Die freiheitliche Unterwerfung unter die »volonté générale« – ein von Rousseau erfundenes Kunstwort, das wir zunächst unübersetzt und uninterpretiert lassen – wird an anderer Stelle provokativ als »aliénation totale« bezeichnet. Dieser nur Kennern Rousseaus geläu­ fige Begriff hat jene fatale Fehldeutung hervorgerufen, gegen die wir uns in diesem Kapitel wenden. R Üblicherweise wird die betreffende Passage wie folgt übersetzt: Die »aliénation totale« verlange »die völlige Entäußerung jedes Mit­ glieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes«. W Unkundige oder missgünstige Interpreten verstehen die »Entäu­ ßerung« so, dass der Einzelne in der Gemeinschaft aufgeht wie in Talmons unterstelltem »kollektiven Zweck« oder in der unsäglichen Naziparole »Du bist nichts, dein Volk ist alles«. Dies ist jedoch eine fatale Fehlinterpretation, denn Rousseau mahnt, wie schon gesagt: »Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch ... verzichten.« R Man kann auch missverstehen wollen. Rousseau nimmt dem Ein­ zelnen aber nichts, ohne ihm etwas zu geben. Es ist gerade umgekehrt: Der Gewinn ist höher als der Verzicht. Er führt aus: »Schließlich gibt

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sich jeder, da er sich allen gibt, niemandem, und da kein Mitglied existiert, über das man nicht das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich einräumt, gewinnt man den Gegenwert für alles, was man aufgibt, und mehr Kraft, um zu bewahren, was man hat.« W Insofern er Geben und Gewinnen einander gegenüberstellt, könnte man von einem gegenseitigen Vertrag sprechen. Mit dem Titelbegriff »Contrat Social« stellt Rousseau sich in die vertragstheo­ retische Linie seiner Vorgänger, jedoch mit dem Anspruch, den besten Vertrag konstruiert zu haben. Die Konstruktion ist allerdings mehr Akt als Pakt. R Bleiben wir vorerst beim Begriff »aliénation«. In diesem Wort steckt das Substantiv »lien«, was so viel wie Fessel, Band, Bindung, Verbindung bedeutet. Das Verbum »aliéner« kann man mit »entbin­ den, verzichten, übertragen« übersetzen. W In diesem Kontext bekommt »aliénation« eine andere Bedeutung als »Entäußerung« oder gar »Entfremdung«. Im Akt der »aliénation« überträgt der Einzelne seine natürliche Freiheit an die Gemeinschaft, um dadurch eine doppelte Freiheit zurückzuerhalten: die private und die politische. R In diesem Verständnis erweist Rousseau sich erneut als Aristote­ liker. Die zu findende Form des politischen Verbandes muss also mehr sein als die Summe der Interessen privater Individuen, die ihren eigenen Nutzen maximieren und das öffentliche Interesse ignorieren. Der uno actu mit dem fiktiven Vertragsschluss entstehende Kollektiv­ körper des politischen Verbandes gewinnt durch die Orientierung an der volonté générale seine ureigene Identität als republikanische oder freistaatliche Einheit. W Wörtlich heißt es bei Rousseau: »Dieser Akt des Zusammen­ schlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Ver­ tragspartners eine sittliche Körperschaft ... die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Wil­ len erhält.«

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R Mit dem Rückgriff auf den Begriff »Polis« bekräftigt Rousseau seine ideengeschichtliche Herkunft aus dem politischen Aristote­ lismus. Denn er schreibt: »Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis.« W Da Rousseau davon ausgeht, dass der ursprüngliche Begriff der Polis verloren gegangen ist, erläutert er in einer Fußnote: »... die meisten verwechseln Stadt (ville) und Polis (cité). Sie wissen nicht, dass die Häuser die Stadt, die Bürger aber die Polis machen.« R Im Französischen heißt es: »les maisons font la ville, mais les Citoyens font la Cité.« Im Deutschen könnte der zweite Halbsatz so lauten: »aber die Republikaner machen die Republik«. Auch wenn »machen« kein schönes Verbum ist, bringt es das Machen als Macht der Republikaner in zweifacher Weise zum Ausdruck: erstens als Macht ihrer republikanischen Gründungsaktivität und zweitens als Macht im Alltag ihrer Republik. W Eins nach dem andern: Auf welche historische Situation würde Rousseau den Gründungsakt der Republik beziehen? R Er lässt sich nicht historisch verorten. Dies räumt Rousseau ausdrücklich ein, wenn er sagt, dass die Vereinbarung »vielleicht niemals förmlich ausgesprochen wurde«, dass sie aber »allenthalben stillschweigend in Kraft und anerkannt« ist, solange sie nicht verletzt wird. Es handelt sich folglich um einen fiktiven bzw. hypothetischen Akt, in dem nur eines proklamiert wird: der ursprüngliche und unbedingte Wille, frei zu sein, oder philosophisch präziser: im politi­ schen Zustand so frei sein zu wollen wie im natürlichen. Das ist der »allgemeine Freiheitswille«, der in der Überschrift des vorliegenden Kapitels als Paraphrase der »volonté générale« erscheint. W Du sagst »Paraphrase«, weil es sich nicht um eine Übersetzung, sondern um eine Umschreibung handelt. Wörtlich zu übersetzen wäre die »volonté générale« – die im Französischen weiblich ist – mit »allgemeiner Wille«, »Allgemeinwille« oder »Gemeinwille«.

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R Bei diesem Schlüsselwort der Rousseau’schen Freiheitsphiloso­ phie handelt es sich nicht um einen präzise definierbaren Begriff, sondern um eine Metapher für die wirkliche Freiheitsliebe einer Bür­ gerschaft, die ein Gespür dafür hat, dass man politische Freiheit nur für alle wollen kann und persönliche Freiheit ohne politische Freiheit undenkbar ist. Weil »allgemeiner Wille« zu diesem Grundanliegen der Philosophie Rousseaus – zur Freiheit – schweigt, halte ich die betreffende Übersetzung nicht für optimal. W Wie um vorzubeugen, dass man sein Verständnis von »aliéna­ tion« nicht falsch deutet, unterstreicht Rousseau den positiven Ertrag einer »transformation« oder »Übertragung« des Ich in die Allgemein­ heit, durch die der Citoyen seine Grundposition verbessert: Für die ursprüngliche Unabhängigkeit erhält er seine politische Freiheit. R Wenn man den Begriff Vertrag beibehalten möchte, könnte man von einem Tauschvertrag reden, aber im Grunde weiß Rousseau, dass das Wort Vertrag bzw. Contrat unangemessen ist, um den Grün­ dungsakt der Republik zu bezeichnen. Obwohl man mit sich selbst keinen Vertrag schließen kann, wagt er die paradoxe Formulierung, »dass jeder Einzelne, indem er sozusagen mit sich selbst einen Vertrag schließt, sich in doppelter Hinsicht verpflichtet findet, nämlich als Glied des Souveräns gegenüber den Einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän«. Deutlich besser als »Contrat Social« wäre daher der ursprünglich geplante Titel »Institutions Poli­ tiques« gewesen. W Davon ist wenigstens der Untertitel »Principes du Droit Politique« übrig geblieben. R Aber vergessen wir bei aller Zustimmung nicht den Satz, der Rousseau in den Verdacht des Totalitarismus gebracht hat. Er lau­ tet: »Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die ande­ ren ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein.« W Jemanden zu »zwingen«, frei zu sein, klingt beim ersten Hören tatsächlich totalitär.

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R In der Logik des von allen gewollten Gründungsaktes der frei­ staatlichen Ordnung einer Republik ist Rousseaus Konzeption aber buchstäblich zwingend. Denn der Freiheitswille der volonté générale trägt diesen Akt nur dann, wenn er ausnahmslos von allen mitge­ tragen wird. Eine einzelne Ausnahme oder ein einziger Vorbehalt ließe die Konstruktion einer von allen gewollten Freiheitsordnung in sich zusammenbrechen. W Da der Gründungsakt ja, wie bereits betont, hypothetischen Cha­ rakter hat, ist die Rede vom Zwang zur Freiheit als eine rhetorische Übertreibung zu verstehen, um die Einstimmigkeit zu betonen, die für die Konstituierung einer republikanischen Freiheitsordnung erforder­ lich ist. R Außerdem betont Rousseau: »Das Gesetz der Stimmenmehrheit beruht selbst auf Übereinkunft und setzt zumindest einmal Einstim­ migkeit voraus.« W Wir haben die zweite Bedeutung des »Machens« in Rousseaus Leitsatz »Les Citoyens font la Cité« noch nicht erklärt. Auf welche Macht der Citoyens bezieht sich dieser Satz, wenn es nicht mehr um die Gründung, sondern um den Alltag in der Republik geht? R Rousseau hat darauf eine Antwort, die ihn erneut als Herzensrepu­ blikaner ausweist: Die wahre Verfassung der Cité »wird in die Herzen der Citoyens geschrieben«; »sie erhält ein Volk im Geiste seiner Errichtung und setzt dann unmerklich die Kraft der Gewohnheit an die Stelle staatlicher Autorität«. W Da der Gründungsakt der Republik, in dem der politische Körper sich bildet und zusammenschließt, noch nicht festlegt, was zu seiner Erhaltung zu tun ist, kommt es in zweiter Linie darauf an, den natürlichen Willen zur Selbsterhaltung des Einzelnen auf die institu­ tionalisierte Freiheitsordnung zu übertragen. Denn deren wichtigste Sorge ist »sa propre conservation«. R Die volonté générale wird so zu dem auf sich selbst gerichteten Erhaltungswillen des Ganzen der Republik. Auch hier ist sie kein Programm für die Alltagsarbeit des Regierens ...

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W ... die Rousseau mit einer Maschine vergleicht ... R ... sondern eine politische Leitidee für den Ernstfall, in dem der Bourgeois sich auf seine Rolle als Citoyen besinnen muss, um seiner Republik die Fähigkeit zu erhalten, die gleiche Freiheit aller zu gewährleisten. W Dieses Ende zeigt nochmals in aller Deutlichkeit: Rousseaus Republik, das Paradigma eines freiheitlichen Staates, als totalitä­ res Regime zu diskreditieren, ist eine fatale Deutung von besonde­ rer Dreistigkeit.

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10. Kant: »Reine« Vernunft

R »Reine« Vernunft ist im philosophischen System Kants die von allen »empirischen Beimengungen« gereinigte »transzendentale« Vernunft. Als Denkart der theoretischen Philosophie bestimmt sie die »Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis«. W Diese sind: die »reinen Anschauungsformen« des Raumes und der Zeit sowie die »Kategorien«, etwa die Kausalität im Verhältnis von Ursache und Wirkung. R Bei allem Respekt vor der weltweiten Wirkung dieser Differenzie­ rung: Sie ist und bleibt gebunden an die Dichotomie von transzen­ dentaler und empirischer Welt, »mundus intelligibilis« und »mundus sensibilis«. Die fatale Wirkung dieser dichotomischen Erkenntnis­ theorie zeigt sich im Vergleich mit der Evolutionstheorie. W Die Erkenntnisse Charles Darwins haben einen neuen Denkstil begründet: das evolutive Denken. Von Theodosius Dobzhansky, einem der bedeutendsten Evolutionsbiologen des 20. Jahrhunderts, stammt das Wort: »Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution.« R Inzwischen ist dieser Denkansatz nicht auf die Biologie beschränkt, sondern er hat den Status eines neuen Paradigmas gewonnen. Alles ist aus seinem Gewordensein, aus seiner Genese zu begreifen. W Werner Ebeling fasst dieses Denken wie folgt zusammen: »Im Verlauf eines langen historischen Prozesses, den wir Evolution nen­ nen, hat sich auf der Erde durch Selbstorganisation aus anfänglich thermischem Chaos Ordnung gebildet. Als höchste Form der Ord­ nung haben sich lebende Systeme entwickelt, die die Fähigkeit zur Aufnahme, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe von Informa­ tionen besitzen.«

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R Der Mensch gilt allgemein als dasjenige Wesen, das diese Fähig­ keiten in besonderem Maße entwickelte. Für Evolutionsbiologen steht außer Frage, dass das menschliche Gehirn eine besondere Neuerfin­ dung der Evolution ist, die seine Animalität sprunghaft transzendiert. Dieser evolutive Sprung hat aus der tierischen Instinkthaftigkeit menschliche Rationalität entstehen lassen. W Konsequent gedacht, erfordert das Paradigma Evolution als Selbst­ organisation keine fremde Zugabe zur Entstehung menschlicher Intelligenz von außen. Die Emergenz menschlichen Geistes ent­ spricht der Emergenz des Lebendigen aus unbelebter Materie. Es gibt nur die eine Natur, keine überirdische Herkunft menschlicher Intelli­ genz. R Der »homo sapiens« ist als evolutionäre Fortentwicklung der Pri­ maten zu verstehen, wobei eine relativ kontinuierliche Vergrößerung des Gehirnvolumens zu beobachten ist. Durch das evolutive Denken kann die alte Trennung von Materie und Geist bzw. Leib und Seele überwunden werden. W Wenn man Äußerungen Kants aus seiner »Kritik der Urteilskraft« zur Kenntnis nimmt, kann man den Eindruck gewinnen, dass er die­ sem Denken auf der Spur war. So schreibt er: »Diese Analogie der For­ men, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften, nach mecha­ nischen Gesetzen (gleich denen, wonach sie in Kristallerzeugungen wirkt), die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint.«

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R Heute würde man wohl vom Prinzip der Evolution sprechen. Kant betrachtet diesen Entwicklungsprozess aber unter der Idee der Zweckmäßigkeit. Er spricht »vom Prinzip der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen«. W Obwohl Kant die Entstehung komplexen Lebens aus anorgani­ scher Materie vorstellbar erscheint, hält seine Transzendentalphiloso­ phie am fundamentalen Unterschied zwischen Geist und Materie bzw. einer Welt des Intellekts und der Sinne, intelligibler und sensibler Welt, fest. Ohne diese Trennung würde insbesondere sein moralphi­ losophisches Gebäude zusammenstürzen. R Das evolutive Denken untergräbt Kants metaphysisches Funda­ ment, weil sich die grundsätzliche Trennung zwischen einer empiri­ schen und einer transzendentalen Welt nicht mehr begründen lässt. Für Kant sind Verstand und Vernunft apriorisch bestimmt und unter­ liegen keinem evolutionären Prozess. Im Lichte des evolutiven Den­ kens wird die Spaltung der Welt und des Menschen als schicksalhaftes philosophisches Fatum der Kantischen Dichotomie offensichtlich. W Trotz seiner Nähe zum Grundgedanken der Evolution ist Kant der Platonischen Zweiweltenlehre verpflichtet und wiederholt auf seine Weise die fatale Dichotomie dieses Denkens. Während Platon der irdischen Welt des Werdens und Vergehens die Welt der unvergäng­ lichen Ideen entgegenstellt, spricht Kant von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen der transzendentalen oder noumenalen und der empirischen oder phänomenalen Welt. R Kant radikalisiert die Platonische Dichotomie. Zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen – zwischen der Natur und der Freiheit – besteht »eine unübersehbare Kluft ... so dass von dem ersteren zum anderen ... kein Übergang möglich ist, gleich also ob es so viel verschiedene Welten wären«. W Einen Übergang konstruiert Kant jedoch, insofern das Übersinnli­ che der Freiheit im Sinnlichen der Natur ursächlich werden kann. Er spricht sogar von einer »Kausalität aus Freiheit« und von »Gesetzen der Freiheit«.

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R Aus der Perspektive Nietzsches bedeutete der Platonische Dua­ lismus eine Entwertung der irdischen Realität. Bei Kant gehört der natürliche Mensch als Leibwesen zu den Tieren. Auch darin sehe ich eine Abwertung des Menschen, der seinen Wert nur durch die Vernunft erhält. W Im »Beschluss« der »Kritik der praktischen Vernunft« betrachtet Kant den irdischen Menschen als »tierisches Geschöpf«, »das die Materie, daraus es ward, dem Planeten wieder zurückgeben muss«, während »das moralische Gesetz in mir« »meinen Wert [erhebt], als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart«, das »nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht«. R Den spezifischen Wert seiner Würde gewinnt der Mensch nicht auf Grund seines natürlichen Daseins, sondern nur durch das Vermögen der Vernunft. Das Tier ist durch Instinkte bestimmt, der Mensch als Vernunftwesen aber hat Freiheit als eine überweltliche Qualität. W So sehr wir die Ausrichtung der Philosophie auf Freiheit bejahen, so sehr problematisieren wir Kants Orientierung an einer transzen­ dental begründeten Freiheit des »reinen« Denkens. R Freiheit ist für Kant eine Idee der Vernunft. Die völlige Unabhän­ gigkeit der Vernunft von allem empirisch Weltlichen bringt er durch die Rede von der »reinen Vernunft« zum Ausdruck. Kraft ihrer Rein­ heit ist sie über alles Werden und Vergehen erhaben und kann nicht als Produkt eines evolutionären Prozesses entstanden sein. Woher die Begriffe des Verstandes und die Ideen der Vernunft stammen, bleibt ungeklärt und wird einfach als Faktum konstatiert. Denn der Grund der Freiheit ist für Kant »unerforschlich«. W Kant ist sich der Problematik, Freiheit als Idee zu konstruieren, bewusst. Um die Freiheit als übersinnliches Faktum über den Status des Subjektiven zu erheben, sucht er nach Tatsachen, die Freiheit objektiv vermittelbar machen. In der »Kritik der Urteilskraft« schreibt er: »Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunf­ tidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch

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keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit, fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besondern Art von Kausalität (von welcher der Begriff in theoreti­ schem Betracht überschwenglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft, und, diesen gemäß, in wirklichen Hand­ lungen, mithin in der Erfahrung, dartun lässt. – Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist ...«. R Dieser Abschnitt ist erklärungsbedürftig. Kant entwirft ein System der Doppelungen. Neben der reinen theoretischen Vernunft gibt es im Kantischen System eine reine praktische Vernunft. Die erstgenannte ist »das Vermögen der Erkenntnis a priori«, die dem Verstand als Erkenntnisquelle übergeordnet ist. Die reine praktische Vernunft ist grundlegend für sittliches Handeln. Die Reinheit der praktischen Vernunft gründet in der Freiheit, die nach Kant per definitionem unabhängig von allem Empirischen ist. W Freiheit ist die notwendige Bedingung für sittliches Handeln. Ohne Freiheit unterliegt alles den Kausalgesetzen der Natur. Sittliches Handeln begreift Kant als den natürlichen Antrieben des Menschen und seinen Neigungen entgegengesetzt. Frei ist der Mensch, wenn er seine Natur kontrolliert, unterdrückt und dem Sittengesetz unter­ wirft. Im moralischen Handeln bezieht sich der Mensch also auf ein Gesetz, das in der reinen praktischen Vernunft ruht. R Es mutet mehr als seltsam an, dass Kant aus einer transzendenta­ len Freiheit ein Sittengesetz hervorgehen lässt, wobei das Verhältnis von Freiheit und Sittengesetz zirkulär gedacht ist. Einerseits ist das »moralische Gesetz die Bedingung ... unter der wir uns allererst der Freiheit bewusst werden können ... Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.« W Kant hält es für ausgemacht, dass der »Begriff der Freiheit ... durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«. Dieses Zauberkunststück ist mir mehr als verdächtig. Kant behauptet, für mich allerdings nicht nachvollziehbar, dass die objektive Realität des Sittengesetzes »dadurch bewiesen ist, dass Freiheit wirklich ist. Denn diese offenbaret sich durchs Gesetz.«

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R Vereinfacht formuliert, behauptet Kant die Tatsache einer reinen praktischen Vernunft, die aus sich das Sittengesetz entwirft. Im Bereich der Moral ist die Vernunft nicht erkenntnisleitend, sondern handlungsleitend. Sie gibt dem Willen die Gesetze der Moral vor, nach denen sich dieser zu richten hat. W Freiheit ist für Kant ein »merkwürdiger« Indikator für die trans­ zendentale Realität des Übersinnlichen, Absoluten. In der »Kritik der Urteilskraft« schreibt er: »Es bleibt hiebei immer sehr merkwürdig: dass unter den drei reinen Vernunftideen, Gott, Freiheit und Unsterb­ lichkeit, die der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur, durch ihre in derselben mögliche Wir­ kung, beweiset ... und dass wir also in uns ein Prinzip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns, zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntnis zu bestimmen vermögend ist ... mithin der Freiheitsbegriff (als Grundbegriff aller unbedingt-praktischen Gesetze) die Vernunft über diejenigen Grenzen erweitern kann ...«. R Wie aus dem Zitat hervorgeht, gründet Kant seine Moral auf die Freiheit als reine Vernunftidee, die er zusammen mit den Ideen Gott und Unsterblichkeit zu einer philosophisch problematischen Einheit zusammenfügt. Warum seine Morallehre ohne diese beiden Ideen nicht auskommt, wollen wir erläutern. W Vorher möchte ich auf eine Problematik hinweisen, die in Kants Vernunftsystem liegt. Die Parallelität des Apriorischen in der Erkenntnistheorie und in der Moral erscheint mir besonders aus der Perspektive der Evolution unhaltbar. Ich würde Kant dahinge­ hend folgen, dass das Erkenntnisvermögen ohne apriorische Struktur nicht auskommt. Allerdings würde ich nicht vom transzendentalen, sondern vom genetischen Apriori sprechen, insofern das Erkennt­ nisvermögen durch Evolution entstanden ist. Für das Moralische bestreite ich ein Apriori. Kant dagegen behauptet: »Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe, und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend.« Kant unterstellt also, dass die praktische Vernunft in gleicher Weise wie die theoretische Vernunft über ein apriorisches Gesetz verfügt.

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R Es ist die Grundthese seiner Transzendentalphilosophie, dass den Kausalgesetzen der Natur eine entsprechende Kausalität der Freiheit, d. h. eine apriorische Gesetzlichkeit des Sittlichen entspricht. Sein Bestreben ist strikt auf eine reine Gesetzesmoral gerichtet und nur, »sofern sie als a priori gegründet und notwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze«. Aber dieses Einsehen erweist sich nach unserem Urteil als höchst problematisch. W Wir halten es mit Aristoteles, der auch zwei Formen der Vernunft unterscheidet: eine theoretische und eine praktische Vernunft. Die erstere bezieht sich auf das unveränderlich Gesetzmäßige, die prak­ tische Vernunft hat es mit dem Veränderlichen zu tun. Sie soll im Veränderlichen Orientierung bieten. Aber er kennt keine reine (aprio­ risch verfasste) praktische Vernunft. Ausdrücklich betont Aristoteles den wesentlichen Unterschied des Theoretischen zum Praktischen. Im Bereich der Moral lassen sich keine Gesetze begründen, sondern nur Regeln, die sich im gesellschaftlichen Leben bewährt haben und die ein gelingendes Leben ermöglichen. R Kant dagegen fordert eine reine, absolute Moral, deren tyranni­ scher Charakter unverkennbar ist. Vergleichbar zur Tyrannei der Wahrheit bei Platon – die Hannah Arendt treffend auf den Begriff gebracht hat – kann man von einer Tyrannei der Moral bei Kant spre­ chen. W Was der Mensch tun soll, sage ihm das reine Sittengesetz der Vernunft. Kant unterstellt, dass die Vernunft bei allen Menschen gleich ist. Moralisch handelt der Einzelne nur, wenn er seine Tier­ heit beherrscht und auf Grund freiwilliger Unterwerfung unter das Sittengesetz seine Pflicht erfüllt. Er formuliert: »Die Handlung, die nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung, objektiv praktisch ist, heißt.Pflicht, welche, um dieser Ausschließung willen, in ihrem Begriffe praktische.Nötigung, d. i. Bestimmung zu Handlungen, so ungerne, wie sie auch geschehen mögen, enthält.« R Die Formulierung macht den inneren Konflikt zwischen den Bestrebungen des Sinnenmenschen und des Vernunftmenschen deut­ lich, der sich fatal auswirkt. »Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht wer­

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den soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstands der Handlung ab ...«. Nicht das Ergebnis bzw. die Wirkung der Handlung hat moralischen Wert, sondern nur der gute Wille, wie er sich in der Maxime bestimmt. W Im Unterschied zur Verantwortungsethik, welche die Folgen einer Handlung erwägt, ist Kants Metaphysik der Sitten reine Gesinnungs­ ethik. Deren kategorischer Imperativ lautet: »... ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« R Es ist schwer vorstellbar, die Wirkungen des moralischen Han­ delns außer Acht zu lassen. Und Kant räumt in der Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« ein, dass ein absolutes Absehen von Wirkungen nicht möglich ist. Er schreibt: »Obzwar aber die Moral zu ihrem eigenen Behuf keiner Zweckvorstel­ lung bedarf, die vor der Willensbestimmung vorhergehen müsste, so kann es doch wohl sein, dass sie auf einen solchen Zweck eine notwendige Beziehung habe, nämlich, nicht als auf den Grund, son­ dern als auf die notwendigen Folgen der Maximen, die jenen gemäß genommen werden. – Denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann.« W Hat Kant mit dieser Betrachtung nicht seine Gesinnungs­ ethik relativiert? R In gewissem Sinn schon, aber in der »Kritik der Urteilskraft« kommt er zur Erkenntnis, dass es moralisch geboten sei, das höchste Gut als Endzweck zu bewirken. Dieses umfasst zwei Aspekte: Tugend und Glückseligkeit. W Kant gibt zu, dass der Mensch überfordert ist, wenn sein mora­ lisches Handeln bloße Gesinnung bleibt. »Reine« Moral ohne jede Ergebnisorientierung ist Fiktion. Er schreibt: »Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmög­ lich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was denn aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme ...«.

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R Gemeint ist in erster Linie nicht, was das moralische Handeln erreicht, sondern was der Handelnde von seiner moralischen Praxis, die oft als »saure Pflicht« empfunden wird, hat und ob er denn hoffen kann, dass ihm seine Tugend vergolten wird. W Die dritte Grundfrage in der »Kritik der reinen Vernunft« lautet: »was kann ich hoffen?« Diese Frage zielt auf die Glücksthematik, die schon immer im Hintergrund seines Philosophierens mitspielt. R Unter dem Titel »Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft« erklärt Kant: »Die ganze Zurüstung also der Ver­ nunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet ... nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei ist, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist.« W Kants Metaphysik der Sitten funktioniert nicht ohne Gott und eine künftige Welt, denn beide sind denk-notwendig, um das versteckte Motiv des moralischen Handelns, die Glückseligkeit zu ermöglichen. R Die Reinheit der Vernunft bezieht sich auf Ziele, die das weltliche Glück nach Kant nicht bieten kann. W In Entsprechung zu seiner Grundthese, der Mensch sei Bürger zweier Welten: der intelligiblen bzw. noumenalen und der empi­ risch-phänomenalen Welt, unterscheidet er zwischen Glück und Glückseligkeit. Der Sinnenmensch strebt nach Glück auf Erden, der Vernunftmensch jedoch nach Glückseligkeit in einer künftigen Welt. R Der Tiermensch sucht nach Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse und erreicht damit insgesamt eine gewisse Zufriedenheit. Dem Vernunftmenschen verheißt Kant eine Glückseligkeit, für die er durch sein moralisches Handeln würdig werden kann. W Unter Glückseligkeit versteht Kant »die Befriedigung aller unserer Neigungen (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade und auch protensive, der Dauer nach)«. Diese Maximalisierung des Glücks ist auf Erden nicht erreichbar. Also setzt Kant auf das religiöse Versprechen eines Glücks in einer anderen, zukünftigen Welt.

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R Für mich führt diese Überlegung zu der Frage, ob Kant nicht ähnlich wie Platon eine Entwertung der Welt vollzieht. Glückseligkeit in einer anderen Welt gegen das bescheidene Glück weniger und das Unglück so vieler, die täglich um das Überleben kämpfen. W Ich kann dir nur zustimmen. Es wird zunehmend deutlich, dass Kants Philosophie, von der er selbst sagt, Vernunft sei »eigentlich nur aufs Moralische gestellet«, in der Glückseligkeit ihr eigentliches Motiv hat. R Deshalb räumt er in der Religionsschrift ein, dass sich die Vernunft genötigt fühlt, zu den »Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken. Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasje­ nige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« W Diese Art von Logik halte ich für gewollt. Die Verhältnisse von Moral und Religion sind wohl umgekehrt zu denken. Religion mit dem Versprechen einer Glückseligkeit ist schon von vornherein der Horizont seines Denkens. Untergründig zielt sie und damit die »reine« Vernunft auf den »Erfolg«. R Kants »reine« Vernunft erscheint in dieser Hinsicht als eine Kon­ zeption in den Grenzen der Religion. Kant erhebt den Anspruch einer autonomen Moral, aber er hat die religiöse Matrix nicht wirk­ lich überwunden. Kants »Kritik der praktischen Vernunft« gipfelt in einem Vernunftglauben. W Kant stattet die praktische Vernunft mit Bedürfnissen aus, wobei anzumerken ist, dass der Begriff Bedürfnis sonst dem Tiermensch zukommt. Er schreibt: »Ein Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauche führt nur auf Hypothesen, das der reinen praktischen Vernunft aber zu Postulaten.«

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R Das will sagen: Die Ideen von Gott, Unsterblichkeit und einer zukünftigen Welt kann man denken, aber sie bleiben bloße Ideen. Sobald man sie zu Postulaten erhebt, bekommen sie eine praktische Verbindlichkeit, wenn man sie für wahr hält. Daher spricht Kant »Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnis der reinen Vernunft«. W Das Fürwahrhalten bekommt in einem weiteren Schritt den Status eines Glaubens, den Kant einen Vernunftglauben nennt, weil die »reine« praktische Vernunft Gott und eine zukünftige Welt vorausset­ zen muss, um das Moralgebäude schlüssig zu machen. R Kant nennt das besagte Bedürfnis »ein Bedürfnis in schlechter­ dings notwendiger Absicht«, weil es »auf einer Pflicht gegründet« ist. Daher ist das Bedürfnis »objektiv (praktisch) notwendig« und »der Grund einer Maxime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d. i. ein reiner praktischer Vernunftglaube«. W Die sogenannten moralischen Bedingungen: Gott, Unsterblichkeit und zukünftiges Leben würde ich als religiöse Hoffnungsgegenstände bezeichnen, nicht aber als Ideen einer reinen Vernunft anerkennen. Für Kant sind sie jedoch deshalb rein, weil sie nicht empirisch, sondern nur transzendental erfassbar sind. R Kant verdeutlicht an einem Gedankenspiel, was es bedeutete, wenn ein absolut moralisch gesinnter Mensch die von Kant pos­ tulierten Ideen ignorierte bzw. seine Moral ohne die moralischen Bedingungen (Gott etc.) existierte. W Dieser rechtschaffene Mensch »verlangt von Befolgung desselben (des Sittengesetzes) für sich keinen Vorteil, weder in dieser noch in einer andern Welt; uneigennützig will er vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz allen seinen Kräften die Richtung gibt«. Kant urteilt: »... sein Bestreben ist begrenzt«. R Dieser und andere seiner Art würden »allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren«.

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W Moral ohne Vernunftglaube bleibt ohne Hoffnung. So will Kant nicht enden. Er baut seine Hoffnung auf die Postulate, die durch seinen Glauben Wirklichkeit werden. R Kants Moral kreist faktisch um die Möglichkeit der Glückseligkeit, die nicht auf Erden, sondern nur in einer künftigen Welt möglich ist, wozu die Postulate Gott und Unsterblichkeit der Seele notwendige Bedingungen sind. W Besonders durch die Erkenntnisse der kosmischen Evolution ist der Gedanke der Endlichkeit grundlegend geworden. Nichts ist unendlich, auch nicht der gewaltige Kosmos. Das Unendliche hatte sich als Art weltlichen Glaubens etabliert, der heute nicht mehr gilt. Daher kann der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, der ja die Idee der Unendlichkeit unterstellt, kein Motiv der Moral mehr sein. R Im Übrigen spielt der Begriff der Seele in Kants Vernunftsystem keine Rolle. Aber um Glückseligkeit zu garantieren, greift er reichlich unkritisch auf eine traditionelle Vorstellung von der Seele zurück. W Der kategorische Imperativ gilt als Kernstück der Kantischen Moral. Eine Version lautet: »Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit allgemeines Gesetz werden könne.« Diese allge­ mein formale Direktive lässt nicht vermuten, dass Kant auf sie eine konkrete Tugendlehre gründet. R Während er in früheren Werken den Begriff der Pflicht stets im Singular verwendet, entwickelt er in seinem Alterswerk »Metaphysik der Sitten« eine Vielzahl bestimmter Pflichten. Moralisches Handeln sollte gerade nicht vom Zweck der Handlung bestimmt sein, sondern allein vom guten Willen. In seiner Tugendlehre spricht er jedoch vom »Zwecke, der zugleich Pflicht ist«. W Darin sehe ich eine Kehrtwendung. Er schreibt: »Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen, die in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach morali­ schen Grundsätzen begründen müssen.« Folglich spricht er jetzt von »Tugendpflicht«, die der moralisch handelnde Mensch zu erfüllen hat.

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R Der alte Kant setzt den Menschen nicht mehr frei, Maximen zu bestimmen, sondern nun gibt der Morallehrer Maximen vor, aus denen er dann konkrete Tugendpflichten entwickelt, die sich aber dann als Verbote gestalten. So z. B. »Von der wollüstigen Selbstschän­ dung«. Im »Delikt« der Masturbation sieht Kant einen »hohe(n) Grad der Verletzung der Menschheit in seiner eigenen Person«, die schlimmer sei als Selbstmord. W Unter dem Aspekt der »Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als einem moralischen Wesen«, lässt er sich über die Lüge aus: »Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst ... ist das Widerspiel der Wahrheit: die Lüge. ... Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde ... Die Lüge (in der ethischen Bedeutung des Wortes), als vorsätzliche Unwahrheit überhaupt, bedarf auch nicht, anderen schädlich zu sein, um verwerflich erklärt zu werden.« R Selbst wenn durch die Lüge »ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt« wird, »so ist doch die Art, ihm nachzugehen, durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person«. Dass Kant auch im Spätwerk die religiöse Matrix nicht verlässt, kommt zum Beispiel in folgender Betrachtung zum Ausdruck: »Wenn er (der Lügner) z. B. den Glauben an einen künftigen Weltrichter lügt«, aber aus »Furcht vor Strafe« vorgibt, an Gott zu glauben, bleibt seine »Nichtswürdigkeit« bestehen. W Die religiöse Matrix wird auch in der anschließenden »Anmer­ kung« erkennbar. Kant schreibt: »Es ist merkwürdig, dass die Bibel das erste Verbrechen, wodurch das Böse in die Welt gekommen ist, nicht vom Brudermorde (Kains), sondern von der ersten Lüge datiert ... und als den Urheber alles Bösen den Lügner von Anfang an den Vater der Lügen nennt ...«. In dem biblischen Text findet sich jedoch ein solcher Ausdruck nicht, vielmehr folgt Kant der Spur Augustins. R Würde man in der Paradieserzählung die Schlange als diesen Lüg­ ner identifizieren wollen, zeigte sich, dass sich die angeblich »falschen Versprechungen« der Schlange gerade nicht als Lüge erweisen. Sie erklärt, »dass an dem Tage, da ihr davon [von den Früchten des verbotenen Baumes] esset, euch die Augen aufgehen werden und ihr sein werdet wie die Götter, die Gutes und Böses erkennen«. Nach

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der sogenannten »Ursünde« spricht Gott: »Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, so dass er Gutes und Böses erkennt.« Von Lüge kann also keine Rede sein, aber der religiöse Glaube will die Dinge anders sehen. Und der Kritiker Kant lässt sich vom Erfinder der »Ursünde« blenden. W Aus den rigorosen Formulierungen Kants zur Lüge wird erkenn­ bar, dass es für ihn keinerlei Ausnahme von der absoluten Pflicht zur Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit geben kann, selbst wenn mit ihr ein guter Zweck beabsichtigt sein könnte. R Kants Rigorosität steigert sich in der Auseinandersetzung mit Benjamin Constant zur moralischen Tyrannei. Im indirekten Verweis auf Kant – »ein deutscher Philosoph« – setzt sich Constant mit dessen Behauptung auseinander, »dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde«. Constant bestreitet in diesem Fall die Pflicht zur Wahrheit. »Kein Mensch ... hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.« Um das Leben des Menschen zu retten, darf nach Constant eine Ausnahme gemacht werden. W Davon lässt Kant sich nicht beeindrucken. Die absolute Pflicht zur Wahrhaftigkeit steht für ihn höher als das Leben eines Menschen, eines Freundes. Er erklärt: Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen.« Und: »Die Lüge also ... bedarf nicht des Zusatzes, dass sie einem anderen schaden müsse ... denn sie schadet jederzeit einem andern, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Mensch­ heit überhaupt ...«. R Kant bestreitet ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen. Menschenliebe darf kein Grund sein, eine Ausnahme von der absolu­ ten Pflicht zur Wahrheit zu machen. Aber wie verhält sich dazu die »Liebespflicht gegen andere Menschen«? W Er schreibt: »Die Menschenliebe ... muss, weil sie hier als praktisch mithin nicht als Liebe des Wohlgefallens an Menschen gedacht wird, im tätigen Wohlwollen gesetzt werden, und betrifft also die Maxime der Handlung.« Menschenliebe ist folglich als Maxime zu werten.

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R Ergänzend schreibt er: »Die Maxime des Wohlwollens (die prak­ tische Menschenliebe) ist aller Pflicht gegen einander.« Und abschlie­ ßend führt er aus: »Wohltätig, d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit ... nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht.« W In der später entstanden Auseinandersetzung mit Constant scheint Kant diese Pflicht zu ignorieren, wohl weil er sich sonst mit einer entsprechenden Pflichtenkollision befassen müsste. Das Dilemma bestünde in der Pflicht zur Wahrheit versus Pflicht zur Wohltätigkeit. Für Kant steht offensichtlich die erste Pflicht höher als die zweite. R Aber grundsätzlich ist für ihn eine Pflichtenkollision undenkbar. »Ein Widerstreit der Pflichten ... würde das Verhältnis derselben sein, durch welche eine derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe.« Er kommt zu dem Schluss, dass »eine Kollision von Pflichten und Ver­ bindlichkeiten gar nicht denkbar« ist: »obligationes non colliduntur«. W Er räumt jedoch ein, dass »zwei Gründe der Verbindlichkeit« einander widerstreiten können. Die praktische Philosophie gibt nicht »der stärkere(n) Verbindlichkeit die Oberhand«, sondern gibt dem stärkeren Verpflichtungsgrund den Vorzug. R Im Fall der Pflichtenkollision zwischen der Pflicht zur Wahrheit und der Pflicht zur Wohltätigkeit, bei der es um die Rettung eines Menschenlebens geht, sehen wir den stärkeren Verpflichtungsgrund in der Menschliebe. Kant würde aber wohl anders entscheiden. W Faktisch opfert Kant den konkreten Menschen um seiner Idee willen: der Idee der Menschheit überhaupt. An diesem Beispiel zeigt sich die fatale Konstruktion einer Trennung des Menschen in ein empirisches, tierisches und ein noumenales Wesen. Kant degradiert aufgrund der formalen Pflicht zur Wahrheit den Freund zum Tier. R Was hätte die Notlüge für Folgen für den Lügner, für den das Leben höher steht als eine formale Pflicht? Er verlöre seine Menschen­ würde, denn: »Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung

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seiner Menschenwürde«. Kant ist offensichtlich nicht bereit, um der Menschenliebe willen zu lügen, weil er seine Menschenwürde nicht verlieren möchten. W Die Menschenwürde steht für Kant höher als die Menschenliebe. Die Idee der Menschenwürde ist ein höherer Verpflichtungsgrund als die Rettung eines Menschen. Eine fatale Entscheidung ... R ... die nur mit der Hypertrophie der »reinen« Vernunft erklärbar ist. Da deren Reinheit den Verzicht auf jede empirische Verunrei­ nigung verlangt, ist die Würde des Menschen im konzeptionellen Ansatz Kants nicht die Würde des Einzelnen, sondern die der Mensch­ heit. Und der kategorische Imperativ, den Menschen stets als Zweck an sich zu behandeln, verbietet jede Relativierung dieser in ihrer Absolutheit menschen-unwürdigen Philosophie.

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11. Hegel: »Wirkliche« Vernunft

R Mit Blick auf die Wortherkunft von »fatum« sind »fatale Deutun­ gen« nicht steigerungsfähig. Von dieser Etymologie abgesehen, ließe sich rein grammatikalisch ein Superlativ der »fatalsten Fehldeutung« bilden, die unser Dialog behandelt. W »Ich weiß, dass ich nichts weiß« wäre unser Kandidat dafür – wes­ halb dieser ganz unsokratische Satz zum Titel unseres Buches wurde. R Den Charakter eines Superlativs haben auch die fatalen Fehldeu­ tungen, die ein prominenter Satz Hegels provoziert hat: »Was ver­ nünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist, das ist vernünftig.« W Er findet sich in der Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« aus dem Jahre 1821. R Das ist das gedruckte Erscheinungsjahr, tatsächlich erschienen ist das Buch aber im Herbst 1820. W Die Ursache für die Fehldeutung des zitierten Satzes ist immer die­ selbe: ein dichotomisches Verständnis von »wirklicher« Vernunft und »vernünftiger« Wirklichkeit, das der Dialektik beider Prädikate nicht gerecht wird. Um Hegels dialektisches Wechselspiel nachvollziehen zu können, muss man seine Lehre vom Begriff verstanden haben. R Und diese Lehre steht und fällt mit der Überwindung der Dichoto­ mie von Idee und Wirklichkeit, die den Gang der Geistesgeschichte von Platon über Descartes bis zu Kant bestimmt hat. Cartesianisch war es die Dichotomie von »res cogitans« und »res extensa«, kantia­ nisch von »mundus intelligibilis« und »mundus sensibilis«. Hegel beendet diese philosophische Zerrissenheit der Welt durch eine ori­ ginale – für Hegelianer geniale – Definition des Begriffs, die im Zentrum unseres Dialogs stehen wird.

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W Wer noch nichts von Hegel gelesen hat, wird die Originalität oder gar Genialität dieser Definition bei der ersten Begegnung nicht erkennen: Der Begriff ist die Wirklichkeit der Idee. R Philosophische Begriffe erfassen dann nicht abstrakte Ideen, son­ dern konkrete Phänomene der Wirklichkeit, vor allem Erscheinungs­ formen der Freiheit. W Das berühmte Wort von der Weltgeschichte als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« werden wir noch eingehend erläutern. R Zum vollen Verständnis der im Gang der Geschichte bewusst gewordenen und in den Institutionen eines freien Staates verwirk­ lichten Freiheit ist einige Anstrengung erforderlich, nämlich die von Hegel selbst so benannte »Anstrengung des Begriffs«. W Es hat ja schon einigermaßen anstrengend begonnen: Hegel hat nicht nur einen anderen Begriff von der Wirklichkeit als Kant, sondern auch einen anderen Begriff vom Begriff. R Er gebraucht zwar dieselben Termini wie Kant, sie haben aber in seinem Denken eine andere Bedeutung. Und sein Denken ist für mich ein Spiegel dessen, was er philosophisch zu fassen sucht: das Ganze der Wirklichkeit. Deshalb erschließt dieses Ganze sich erst im Durchgang durch das dialektische Denksystem Hegels. W Hegel selbst verwendet die Vorstellung von einem Kreislauf. Erst am Ende begreift man den Anfang. R Dazu möchte ich einen Vergleich anstellen, der Hegel zugleich als wahrhaft modernen Denker präsentiert. Er hat nach Nietzsches Urteil begriffen, was Evolution ist: ein Prozess der Selbstgenerierung. Am Anfang der kosmologischen Evolution war buchstäblich: Nichts. Alles, was ist, ging und geht aus einem Prozess der Ausdifferenzie­ rung und Komplexion hervor.

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W Vor Darwins Evolutionstheorie war die Vorstellung von der Kon­ stanz oder der Unveränderlichkeit der Arten prägend. Das statische Modell war im absoluten Sinne herrschend. Hegel betreibt eine zweite kopernikanische Wende, indem er an Stelle des statischen Modells ein Prozessmodell einführt. Alles, was ist, ist geworden ... R ... aber nicht als Entwicklung, sondern als Genese. W »Entwicklung« lässt sich am Beispiel von Same und Frucht erläu­ tern. Die Frucht ist im Samen enthalten, sie entwickelt sich aus seinem Potential. Bei »Genese« hingegen versagt das Samen-Modell. Der Same muss sich sozusagen selbst produzieren, damit er Anfang einer evolutionären Entwicklung werden kann. R Hegel selbst verwendet den Begriff der Evolution nicht. Zwar spricht er häufig von Entwicklung, aber im Sinne des Prozesses einer Selbstkreation des Bewusstseins. Erst durch Darwins Schrift »Über die Entstehung der Arten« wurde der Gedanke der Evolution allgemein anerkannt. W Darwins Theorie betrifft die biologische Evolution. Hegel dagegen entwickelt eine Philosophie der Evolution, zu der auch die Evolution des Geistes gehört. R Er begreift den Geist im dynamischen Modell seiner Dialektik als werdendes Wissen eines sich selbst verwirklichenden Freiheitsbe­ wusstseins. W Allerdings legt er den Prozess des werdenden Wissens in der Form der Selbsterkenntnis aus, als Genese kognitiver Selbstentfaltung. Deshalb führt er sein Verständnis dieser Evolutionsgeschichte als Geschichte des Geistes aus, der einer gegebenen Natur gegenüber­ steht. Er schreibt: »Natur und geistige Welt ... sind die beiden Wirk­ lichkeiten«. R Erkenntnis der Natur bedeutet Erfassen ihrer Gesetzlichkeit. Der Mensch ist jenes Wesen, das kraft seines Geistes eigene Gesetze hervorbringt. Weil sie eigen, d. h. selbst hervorgebracht sind, sind sie Gesetze der Freiheit.

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W So schreibt er: »Der Geist reißt sich von der Natur los und erzeugt sich seine Natur, seine Gesetze selbst. Also ist Natur nicht der Boden des Rechts.« Hegel bestreitet damit, Recht als Ausdruck des Geistes durch ein Naturrecht begründen zu können, quasi als Basis des Rechts. Er betont ausdrücklich: »Das Gesetz der Natur (Naturrecht) kann nicht Muster des Rechts sein ... Das einzige Gesetz, welches das geschichtliche Dasein des Menschen trägt, ist das Freiheitsgesetz ...«. R Um einen ersten Blick auf den Staat zu werfen, den wir als Ordnung der Freiheit noch näher betrachten werden, ist zunächst folgendes festzustellen: Obwohl Hegel den freiheitlichen Staat in Aristotelischer Tradition und Terminologie den »politischen Staat« nennt, sieht er dessen entelechialen Ursprung nicht wie Aristoteles in der Natur des Menschen als politisches Wesen. W Ausdrücklich lehnt er auch den ideengeschichtlich häufig bemüh­ ten »Trieb der Geselligkeit« als »etwas Unbestimmtes, Abstraktes« ab, das »höchst dürftig« erscheine und nicht dazu dienen könne, die philosophische Grundlage für die konkrete Wirklichkeit der Freiheit im Staat zu bilden. Dennoch kann man eine Parallele zur politischen Philosophie des Aristoteles ziehen: Was dieser als Entelechie denkt, begreift Hegel als Genese. R Der Prozess einer Verwirklichung der Vernunft wird erst am Ende als Entwicklung erkannt; anders als in der Aristotelischen Konzeption steht am Anfang – um diesen wichtigen Unterschied zu wiederholen – aber keine Natur, aus der das Vernünftige sich wie aus einem Samen entwickelt. W In der Formulierung »der Geist reißt sich von der Natur los« beschreibt Hegel das Phänomen, das man heute mit einem anderen Wort für Selbstgenerierung als »Emergenz« bezeichnet. Auch in der modernen biologischen Evolutionslehre ist es unbegreiflich, wie aus anorganischer Materie das Organische oder wie der Mensch aus Bakterien als den kleinsten Formen des Lebens entstehen konnte. R Das philosophische Begreifen der Wirklichkeit ist deshalb retro­ spektiv. Hegel gibt dieser Einsicht die schöne Pointe, die Eule der Minerva – seit alters Symbol für Weisheit und Wissenschaft – beginne ihren Flug erst in der einbrechenden Dämmerung. Die tag­

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helle Wirklichkeit geht dem begreifenden Denken voraus. Aber Hegel erhebt für dieses Denken, das wie gesagt dazu dient, die Wirklichkeit der Idee zu begreifen, einen enorm hohen Anspruch. Philosophie sei nämlich »ihre Zeit in Gedanken erfasst«. W Seine Kritik an Kant, »dass das Wahre selbst nicht erkannt werden könne«, gipfelt in der Wendung, die Philosophie verlange – so wörtlich –,»weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen«. R Hegels sehr spezifisches Verständnis von Wirklichkeit meint nicht die Summe alles irgendwie Existierenden – und sei es noch so belie­ big, banal oder brutal –, sondern das, was durch Vernunft generiert und gestaltet ist. W Wir erläutern Hegels Entsprechung von Wirklichkeit und Ver­ nunft am Beispiel seines Staatsbegriffes. Zur Wirklichkeit in seinem Sinne gehört das Dasein des Staates, der als Produkt des menschli­ chen Geistes logischerweise eine Gestalt der Vernunft ist. Daher unternimmt Hegel, wörtlich zitiert, den »Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen.« R In Hegels Evolutionsphilosophie sind konsequenterweise ver­ schiedene Entwicklungsstufen von Staatlichkeit zu unterscheiden. Erst am Ende der philosophisch zu begreifenden Entwicklung hat der Staat die Gestalt einer freiheitlichen politischen Ordnung oder kurz eines Freistaates, in dessen Institutionen die Freiheit konkrete Wirklichkeit geworden ist. W Ich zitiere Hegel im Auszug: »Als Gedanke ... erscheint (diese philosophische Idee) erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut.« Dieses intellektuelle Reich ist ein Staat, in dem die Freiheit lebendig ist.

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R Lebendig im Sinne Hegels heißt dabei: gelebt von Bürgern, die begriffen haben, dass ihr gemeinsamer Freiheitswille das Lebenseli­ xier eines freien Staates ist. Rousseau begründet diesen politischen Freiheitswillen als Herzensrepublikaner, Kant als Verstandesrepubli­ kaner und Hegel als Vernunftrepublikaner. W Aber schau dir doch die heutige Wirklichkeit an: In der Türkei ist ein virulenter Prozess der Freiheitszerstörung am Werk und in Polen und Ungarn gerät der Rechtsstaat immer mehr in Gefahr – von den Verbrechen gegen die Menschheit im brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ganz zu schweigen. R Du hast völlig recht. Aber sind diese Entwicklungen vernünftig? Nicht alles, was sich Staat nennt, entspricht dem Kriterium Hegels. Sein Begriff des Staates verlangt die Verwirklichung der Idee der Freiheit. Wo dies verhindert wird, haben wir es philosophisch – und das heißt eben: durch die Brille des Hegel’schen Begriffssystems betrachtet – nicht mit einem vernünftigen Staat zu tun. W Dass nicht alles, was wir als Wirklichkeit erleben, vernünftig ist, weiß Hegel natürlich auch. Dazu schreibt er: »Es gibt in der Weltgeschichte mehrere große Perioden, die vorübergegangen sind, ohne dass die Entwicklung [der Freiheit] sich fortgesetzt zu haben scheint, in welcher vielmehr der ganze ungeheure Gewinn der Bildung vernichtet worden und nach welchen unglücklicherweise wieder von vorne angefangen werden musste, um mit einiger Beihilfe ... wieder eine der längst gewonnenen Regionen jener Bildung zu erreichen.« R Hegel unterscheidet zwischen dem Bewusstsein der Freiheit, das sich geschichtlich entwickelt hat, und der konkreten Gestalt der wirk­ lich gewordenen Freiheit. Die Idee der Freiheit geht der Wirklichkeit voraus. Aber für Hegel ist Freiheit eben keine reine und in ihrer transzendentalen Reinheit abstrakte Idee im Sinne Kants, sondern sie konkretisiert sich im freien Willen. W Der freie Wille ist wiederum nicht formal oder allgemein – wie bei Kant –, sondern er strebt nach Konkretion. Freiheit und Wille werden bei Hegel als Einheit gedacht. Deshalb ist im Begriff »freier Wille« die

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Freiheit als willentliches Moment zu denken. Dazu heißt es bei Hegel wörtlich: »Freiheit kann nur einem Willen zugeschrieben werden, nur ein Wille kann frei sein. Freiheit ist nicht denkbar ohne einen Willen.« R An anderer Stelle formuliert er: »Die Freiheit ist nämlich ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die Schwere eine Grundbe­ stimmung der Körper ist ... Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich ist.« W Dieser »freie Wille« ist kein inhaltsleeres Vermögen, sondern ein Wille der Freiheit und zur Freiheit. Er ist eine sich selbst verwirkli­ chende Tätigkeit. Deshalb ist Freiheit ein geschichtlicher Prozess, in dem sie sich realisiert. Der freie Wille als Selbstbestimmung ist also ein aktives Selbstverhältnis und kein Zustand. R Zitat: »Der Wille als der innerlich bestimmte Begriff ist wesentlich Tätigkeit und Handlung.« Im Willen der Freiheit vollzieht sich das, was Hegel Dialektik nennt. Der Wille ereignet sich in drei Momenten: erstens im Bewusstsein des Willens an sich, der sich als solcher weiß. In diesem Stadium hat der Wille noch keinen Inhalt. Hegel sagt: »Ein Wille, der ... nur das abstrakt Allgemeine will, will nichts und ist deshalb kein Wille.« Der Wille muss sich bestimmen, »besondern«, um konkret zu werden. W Diese Selbstbestimmung des Willens begreift Hegel als zweites Moment der Dialektik. Ich zitiere: »Das Besondere, das der Wille will, ist eine Beschränkung, denn der Wille muss, um Wille zu sein, sich überhaupt beschränken.« Dass der Wille etwas will, ist die Schranke, die Negation im Hinblick auf den Willen als solchen. R Der Wille muss etwas wollen, um sich als Wille zu vollziehen. Mit diesem Etwas hat er sich festgelegt. Aber insofern der Wille sich in dieser Festlegung bestätigt, und sich nicht darin verliert oder fixiert, hebt er seine Beschränkung auf. In dieser Selbstbestätigung, etwas Bestimmtes gewollt zu haben, liegt das dritte Moment. W Jene drei Momente der Dialektik sind aber nicht einfach das, was man gemeinhin als These, Antithese und Synthese bezeichnet.

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R Leider hat sich hier ein Sprachspiel verselbständigt, das nicht von Hegel stammt. Er spricht von einer »Aufhebung« dreier Momente des Willens: des Willens »an sich«, »für sich« und »an und für sich«. Dabei handelt es sich nicht um isolierbare Einzelteile oder »Elemente«, sondern um integrale Eigenschaften oder »Momente« eines philosophisch begriffenen Ganzen. W Hegel kann die Sache auch ganz einfach benennen, indem er schreibt: »Die Freiheit liegt also weder in der Unbestimmtheit noch in der Bestimmtheit, sondern sie ist beides.« Als Beispiel führt er Freundschaft und Liebe an. R Er unterscheidet zwischen freiem Willen und Willkür: »Freiheit als Willkür bedeutet, den eigenen Neigungen und Trieben nicht unmit­ telbar ausgeliefert zu sein, sondern unter ihnen wählen zu können.« Bei der Willkür handelt es ich somit um das, »was man gewöhnlich Freiheit nennt«. Damit ist der vernünftige Wille der Freiheit noch nicht adäquat erfasst. W Wenn der freie Wille sich selbst bestimmt, dann vollzieht er seine Freiheit und handelt nach einer inneren Gesetzmäßigkeit, die Hegel notwendig nennt. Freiheit und Notwendigkeit schließen einander im freien Willen nicht aus. Er formuliert dies wie folgt: Der freie Wille sei dadurch wahrhaft frei, »dass das, was er will, sein Inhalt, identisch mit ihm sei, dass also die Freiheit die Freiheit wolle«. R Um auf diesen philosophischen Zug vorbereitet zu sein, sollte man schon öfter mit Hegel Philosophen-Schach gespielt haben. Oder frei nach Wittgenstein: Man muss gelernt haben, nach den Regeln des Hegel’schen Sprachspiels zu philosophieren. W Du sagst es. Dass der Wille der Freiheit nicht bloß ein Vermögen ist, macht Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philoso­ phie deutlich. Im Rückblick und in einer holistischen Zusammenschau dieser Geschichte erfasst er, wie die Idee der Freiheit sich in den großen Denkern zunehmend artikuliert. Er betont, dass die einzelnen Philosophen nicht eine Meinung über die Welt äußern, sondern dass sich in ihrem Denken eine Geistesstruktur abzeichnet, die als Momente eines dynamischen Ganzen zu verstehen sind.

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R So gewinnt Hegel das Konzept der Selbstexplikation eines Geistes, der sich quasi des einzelnen Denkers bedient, um sich zu realisieren. Diesen Prozess der Selbstbewegung des Geistes begreift Hegel eben als eine »Fortschreitung, die nicht das Denken eines Individuums durchläuft und sich in einem einzelnen Bewusstsein darstellt«, son­ dern als den »in dem Reichtume seiner Gestaltung in der Weltge­ schichte sich darstellenden allgemeinen Geist«. W Der Geist ist mehr als dasjenige, was sich im Denken großer Phi­ losophen abspielt. Insofern ist der allgemeine Geist überindividuell. Hegel nennt ihn auch den »Weltgeist«. In einer philosophiegeschicht­ lichen Zusammenschau zeichnet sich eine Evolution des Freiheitsbe­ wusstseins ab, die wir mit dem Wort von der Weltgeschichte als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« bereits zitiert haben. R Weil diese Geschichte in die konkreten Verhältnissen der Welt verstrickt ist und das Freiheitsbewusstsein sich erst allmählich gegen Widerstände durchsetzt, sind Jahrtausende nötig. Ich zitiere wörtlich: »Diese konkrete Idee (der Freiheit) ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre (Thales wurde 640 v.Chr. gebo­ ren) ... Diese Arbeit des Geistes, sich zu erkennen, sich zu finden, diese Tätigkeit ist der Geist, das Leben des Geistes selbst.« W Hegel begründet die »Langsamkeit« der Entwicklung sowie den »ungeheuren Aufwand« und die »Arbeit des Geistes, sich zu erfassen« ausdrücklich mit dem »Begriff seiner Freiheit«: »Die Griechen und die Römer ... wussten nichts von diesem Begriff, dass der Mensch als Mensch frei geboren, dass er frei ist ... Sie wussten wohl, dass ein Athener, ein römischer Bürger ein ingenuus, frei ist, dass es Freie und Unfreie gibt; ebendarum wussten sie nicht, dass der Mensch als Mensch frei ist.« R Von diesem späteren Wissen bis zur Etablierung des Freistaates ist dann nochmals ein langer Weg. Wenn man begreift, dass die »vernünftige« Betrachtung der Weltgeschichte etwas ganz anderes ist als die Annahme eines wirren Spiels von Zufällen und Machtin­ teressen, versteht man, dass Hegel die Freiheit und den Freistaat als »absolute[n] Endzweck der Geschichte« begreift. Aber nur im Rückblick auf die Freiheitsgeschichte ist ein solcher »Endzweck« überhaupt auszumachen. Deshalb darf die Rede vom Endzweck der

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Geschichte nicht teleologisch missverstanden werden, weil damit Hegels genetische Konzeption und mit ihr die Geschichtlichkeit der Freiheit verlorenginge. W Hegel begreift seine Zeit als die Moderne, weil erst in ihr das Wissen erzeugt wurde, dass Freiheit sich in Recht und Staat äußert, nicht als »ein positives, durch Gewalt, Not usf. abgedrungenes Privi­ legium«, sondern als »Substanz« der Freiheit oder, wie Hegel auch sagt, als ihr »Leben«. Der Staat in Gestalt des Freistaates ist das Leben der Freiheit. R »Freistaat« ist das deutsche Wort für »Republik«. W Das ist die lateinische Worttradition. Hegel nennt den Staat, der nicht nur die rechtsstaatlichen Freiheiten aller Einzelnen, sondern auch die republikanische Freiheit Aller gewährleistet, in griechischer Tradition den »politischen Staat«. Abschließend sollten wir wenig­ stens kurz die drei Momente benennen, aus denen sich das dialekti­ sche Ganze staatlicher Freiheitsgewährleistung zusammensetzt. R Es umgreift sowohl das äußere, »abstrakte« Recht als auch die innere, »subjektive« Moralität, hebt die beiden Freiheitsmomente aber im Prinzip der »objektiven«, in ihrer Allgemeinheit gewollten Freiheit auf, die dem von Hegel so genannten »sittlichen Staat« eigen ist. Recht, Moralität und Sittlichkeit machen das Ganze des »politi­ schen Staates« aus. Die darin wirkende Vernunft ist die »politische« Gesinnung« und damit – so wörtlich – »das zur Gewohnheit gewor­ dene Wollen«, die Freiheit als »Resultat der im Staate bestehenden Institutionen« zu verwirklichen ... W ...beispielsweise zur Wahl zu gehen, obwohl in einem Staat, der die Freiheit der Wahl garantiert, nichts dazu zwingt als die politische Vernunft. Diese Vernunft und ihre entsprechende Realisie­ rung verlangt jedoch auch die bleibende Anstrengung des Denkens, um die unvernünftigen, d. h. unfreiheitlichen Tendenzen in Staat und Gesellschaft aufzudecken. Der Freistaat konnte sich nach wie­ derholten Rückschlägen geschichtlich durchsetzen. Wir haben ihn als einen alteuropäischen Schatz geerbt, den wir sorgsam bewahren und offensiv verteidigen müssen. Darin besteht die heutige Aufgabe aller Freiheitsfreunde.

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R Hegel spricht vom »politischen Staat« als »Einheit der sich wollen­ den und wissenden Freiheit«. Eine »sich wollende Freiheit« stellt auch Rousseaus »volonté générale« dar; die »sich wissende Freiheit« ist dagegen eine philosophische Erfindung Hegels. W Ohne vertieftes Verständnis, wie jene Freiheit im Begriff des »wahrhaft freien Willens« Fortschritte im allgemeinen Freiheitsbe­ wusstsein verwirklicht – weltgeschichtlich wirksam werden lässt –, bleibt das Zitat aus der Vorrede der »Grundlinien« ein Satz, der fatale Fehldeutungen geradezu erzwingt. R Die Königsfigur in Hegels philosophischem Sprachspiel – der Begriff als Wirklichkeit der Idee – ist damit nicht mattzusetzen.

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12. Feuerbach: »Atheismus« des religiösen Gefühls

R Ludwig Feuerbach (1804–1872) wollte sich mit seiner Philosophie in keine Schublade stecken lassen: »Wenn man mich durchaus zu einem ›ianer‹ machen will, nun ja, ich bin einer, aber ein Bruckbergia­ ner.« W Dort, in Bruckberg bei Ansbach, hat er nach der Vermählung mit Bertha Löw (1837) ein Vierteljahrhundert in privater Zufriedenheit und philosophischer Produktivität gelebt. R Zu seiner Grundeinstellung hat er sich so geäußert: »Das beste Leben in dieser Zeit ist das zurückgezogene; denn alle unsere sozialen Verhältnisse sind bei allem äußerlichen Schein von Solidität durch und durch verdorben.« W Diese Einstellung erklärt sich unter anderem durch die negative Aufnahme seiner ersten Publikation. Das waren die 1830 anonym erschienenen »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit«. Dort heißt es in den Vorsprüchen: »Das Pfaffengeschmeiß rächt die kleinste Verletzung der Orthodoxie ... Friedrich der Einzige in einem Brief an Voltaire.« R So schön die Hommage an Friedrich den Großen ist, den Feuerbach literarisch elegant zum »Einzigen« erhöhte, und so sehr der anonyme Autor von der Autorität des Zitierten zu profitieren versuchte, so wenig hat es geholfen. Die Prophezeiung des Vaters, des berühmten Strafrechtsdogmatikers und Rechtsphilosophen Paul Johann Anselm Feuerbach, hat sich erfüllt: »Diese Schrift wird Dir nie verziehen, nie bekommst Du eine Anstellung.« W Drei Bewerbungen um einen philosophischen Lehrstuhl scheiter­ ten am mehr oder weniger offenen Widerstand der Rechtgläubigen. Für eine außerplanmäßige Professur im Erlangen – wo er promo­

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viert und habilitiert worden war und die Erlaubnis erhalten hatte, »Vorlesungen über Gegenstände der Philosophie« zu halten – hätte Feuerbach erklären müssen, an der anonymen Publikation nicht beteiligt gewesen zu sein. R Er verweigerte die Erklärung und erklärte damit konkludent den Verzicht auf die Professur. In der Begründung fand er deutliche Worte: In einer Zeit, in der »alle öffentlichen Verhältnisse so vergiftet und verpestet waren«, konnte man »seine geistige Freiheit und Gesund­ heit nur dadurch wahren«, dass man »auf jeden Staatsdienst, auf jede öffentliche Rolle, selbst die eines Privatdozenten verzichtet«. Denn der Preis für den Dienst wäre der des »politischen Servilismus und religiösen Obskurantismus« gewesen. W »Geistige Freiheit« war ihm mehr wert als eine akademische Karriere, in der er den Preis des »politischen Servilismus« mit knech­ tischer Unterwürfigkeit unter die Anordnungen der Obrigkeit und des »religiösen Obskurantismus« mit einer Verdunkelung seiner Kritik am Christentum hätte bezahlen müssen. R Der gesamte Eindruck dieser ebenso scharf wie schön formulierten Begründung bestätigt den Charakter eines leidenschaftlichen Den­ kers, der sich weder »servilistisch« auf Knechtschaft noch »obskuran­ tistisch« auf Verdunkelung einlässt und lieber auf den Titel, die Würde und das Amt eines Professors verzichtet. W Das Symbol für die Leidenschaft, mit der er seine Philosophie auch ohne Professorentitel verfolgt und verteidigt hat, findet sich im Wappen der Familie Feuerbach. Dort trägt ein durch das Wasser eines Baches watender Löwe in der einen Pranke ein Schwert und in der anderen – das Feuer symbolisierend – ein brennendes Herz. Es ist die leidenschaftliche Liebe zur Menschheit, die in diesem Herzen brennt. R Zwischen 1841 und 1849 sind drei Auflagen des Hauptwerkes »Das Wesen des Christentums« erschienen. Der Atheismus-Vorwurf, der staatliche Verbote und polizeiliche Beschlagnahmen des Buches provoziert hat, ist seither nie verstummt. Er ist allerdings unhaltbar.

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W In diesem Werk entwickelt Feuerbach eine fundamentale Religi­ onskritik. Es wäre jedoch eine banale Verkürzung bzw. eine böswillige Verzerrung, seine Religionskritik als Atheismus zu interpretieren. R Feuerbach sieht sich veranlasst, in der Vorrede zur zweiten Auflage seinen Ansatz zu verteidigen. »Der Vorwurf, dass nach meiner Schrift die Religion Unsinn, Nichts, pure Illusion sei, hätte nur dann Grund, wenn ihr zufolge auch das, worauf ich die Religion zurückführe, was ich als ihren wahren Gegenstand und Inhalt nachweise, der Mensch, die Anthropologie Unsinn, Nichts, pure Illusion wäre. Aber weit gefehlt.« W Religion einfachhin nur zu negieren, würde bedeuten, das Wesen des Menschen zu negieren. Religion als Anthropologie verstanden wahrt hingegen ein kostbares Vermögen, das bei einer primitiven Religionskritik verloren ginge: das Wissen um das göttliche Wesen des Menschen. R Der Sinn dessen, was Menschsein bedeutet und der Mensch sein kann, wird in der Religion bestimmt. Das Göttliche entziffert Feuerbach als menschliche Potenz oder höchste Seinsmöglichkeit des Menschen. Nirgendwo wird vom Menschen größer gedacht als in der Religion, dies allerdings unter dem Namen Gottes. W Nach diesen einleitenden Bemerkungen konfrontieren wir uns mit den zentralen Inhalten des Werkes. Feuerbach unterscheidet grundsätzlich zwischen dem endlichen menschlichen Individuum und dem unendlichen Gattungswesen des Menschen. R Ich schlage vor, das Gattungswesen als die Menschheit im Men­ schen zu erläutern, das Feuerbach als unendlichen Mehrwert des Individuums erfasst. Das endliche Individuum partizipiert an der Unendlichkeit der menschlichen Gattung. Der Einzelne steht im Spannungsfeld von Individuum und Gattung, von Mensch und Menschheit. Im Selbst-Bewusstsein wird sich der Mensch seiner gattungsmäßigen Unendlichkeit gewahr. W Und nun kommt die Religion ins Spiel. Sie ist »das Bewusstsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen«. Auf die rhetorische Frage: »Aber was

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ist denn das Wesen des Menschen, dessen er sich bewusst ist, oder was macht die Gattung, die eigentliche Menschheit im Menschen aus?« lautet die Antwort: »Die Vernunft, der Wille, das Herz.« R Weil die Gattung durch Unendlichkeit gekennzeichnet ist, müs­ sen nach Feuerbach auch die Bestimmungen der Gattung unendlich sein. »Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte, sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen, und der Zweck seines Daseins.« W Sie sind »keine Kräfte, welche der Mensch hat – denn er ist nichts ohne sie, er ist, was er ist, nur durch sie – sie sind, als die sein Wesen, welches er weder hat, noch macht, begründende Elemente, die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächte – göttliche, absolute Mächte, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann.« R Als Gattungseigenschaften sind diese Kräfte überindividuell; des­ halb erfährt der individuelle Mensch ihre Wirkungsmacht als ihn transzendierend und schließlich als transzendente, von ihm unabhän­ gige Mächte, die er religiös vergegenständlicht. W Weil das Individuum sich als endlich erfährt, begreift es seine überindividuelle Krafteinheit – Vernunft, Herz, Wille –, die ihm als Macht fühlbar ist, nicht als die eigene, sondern als Macht eines anderen. Feuerbach schreibt, dass sie im Menschen über ihm steht. Das »über«, erlebt als quasi objektive Erfahrung, wird als objektiv vergegenständlicht, das »über« als »außer« ihm gesetzt. R Aus dieser Betrachtung schließt Feuerbach: »Die Religion zieht die Kräfte, Eigenschaften, Wesensbestimmungen des Menschen vom Menschen ab und vergöttert sie als selbständige Wesen.« Denn: »... alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmun­ gen des menschlichen Wesens.« W Die Täuschung, mit der Religion beginnt, liegt in der Selbstbe­ schränkung des Menschen, indem er die individuellen Schranken zu Schranken der Gattung erklärt und zugleich den überindividuellen Reichtum, dessen er sich bewusst ist, von sich abtrennt und verge­ genständlicht. »Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein Wesen und macht dann wieder sich zum

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Gegenstand dieses Vergegenständlichten, in ein Subjekt, eine Person verwandelten Wesens; es denkt sich, ist sich Gegenstand, aber als Gegenstand eines Gegenstands, eines anderen Wesens.« R Von den drei »göttlichen« Kräften bekommt das Herz bzw. das Gefühl eine besondere Bedeutung für die Entstehung von Religion. Im Gefühl wirkt die überbordende, transindividuelle Macht am unmittel­ barsten. »Ist z. B. das Gefühl das wesentliche Organ der Religion, so drückt das Wesen Gottes nichts andres aus, als das Wesen des Gefühls. Der wahre, aber verborgene Sinn der Rede: ›das Gefühl ist das Organ des Göttlichen‹ lautet: das Gefühl ist das Nobelste, Trefflichste, d. h. Göttliche im Menschen.« W Das Gefühl bleibt als solches nicht in sich, sondern sucht ein Objekt es Fühlens. Als religiöses Gefühl meint es Gott zu fühlen. Dies ist nach Feuerbach die Selbsttäuschung, dass das Gefühl sich selbst objektiviert als Gott. Entsprechend seiner anthropologischen Wende muss es daher lauten: »Gott ist das reine, das unbeschränkte, das freie Gefühl.« R Oder im Sprachspiel der Doppelung von Individuum und Gattung: »Das Gefühl ist deine innigste und doch zugleich eine von dir unter­ schiedene, unabhängige Macht, es ist in dir über dir: es ist dein eigenstes Wesen, das dich aber als und wie ein anderes Wesen ergreift, kurz, dein Gott.« W Der Irrtum des religiösen Menschen besteht darin, dass er das Bewusstsein von seinem unendlichen Wesen wie gegenständliches Bewusstsein nimmt und daher sein Wesen religiös als Gott vergegen­ ständlicht. R Feuerbach resümiert: »Wenn aber die Religion, das Bewusstsein Gottes, als das Selbstbewusstsein des Menschen bezeichnet wird, so ist dies nicht so zu verstehen, als wäre der religiöse Mensch sich direkt bewusst, dass sein Bewusstsein von Gott das Selbstbewusstsein seines Wesens ist, denn der Mangel dieses Bewusstseins begründet eben das eigentümliche Wesen der Religion. Um diesen Missverstand zu beseitigen, ist es besser zu sagen: die Religion ist das erste und zwar indirekte Selbstbewusstsein des Menschen.«

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W Feuerbachs Religionskritik gipfelt in dem Satz: »Homo homini deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies ist der Wendepunkt der Weltgeschichte.« R Philosophisch äußert sich dieser Grundsatz in der »Erhebung der Anthropologie zur Theologie«. Im Schlussabschnitt des »Wesens« heißt es in diesem Sinne: »Denke daher bei jedem Bissen Brot, der dich von der Qual des Hungers erlöst, bei jedem Schlucke Wein, der dein Herz erfreut, an den Gott, der dir diese wohltätigen Gaben gespendet – an den Menschen.« W Ungeachtet der philosophischen Folgerichtigkeit solcher Vergötte­ rung des Menschen in einer zur Theologie erhöhten Anthropologie hat die gesamte zeitgenössische Theologie darin eine antireligiöse Vermenschlichung Gottes gesehen. R Ohne sich auf die Kritik Feuerbachs am »unmenschlichen Wesen der Religion« einzulassen, konnte daraus dann in der Tat nichts anderes werden als die Unterstellung eines ganz »gewöhnlichen Atheismus«, gegen den er sich ein Leben lang gewehrt hat: ohne Erfolg. Die Fehldeutung seiner Position als »atheistisch« war objektiv banal – um nicht zu sagen primitiv – und subjektiv ein fatales, schicksalhaftes Urteil, das Feuerbach mit zunehmendem Alter in Apathie und Lethargie verfallen, verzweifeln und verbittern ließ. W Die Ablehnung, die ihm auf seinem anthropologischen Weg zu einem »menschlichen Wesen der Religion« begegnete, beruhte auf der Weigerung der Orthodoxie, den Menschen als Maß des Christen­ tums, die Liebe als Wahrzeichen menschlicher Existenz und das Herz als Organ der Anthropologie anzuerkennen. R Umgekehrt weigerte Feuerbach sich, die »Lehre vom Sündenfall« anzuerkennen, »das wichtigste Dogma, ja die Basis der Orthodoxie«. Als Widerspruch zu den »Begriffen der Philosophie« nannte er sie »rein unbegreiflich«. Diese massive und gewiss nicht unbegründete Kritik wurde von theologischer Seite schlicht ignoriert. Interpretiert man die betreffende Ignoranz im Hinblick auf das brennende Herz im Wappen, wird man die Glut der Enttäuschung spüren, die dadurch geschürt wurde. Sagt man »nomen est omen«, gleicht sie der glühen­ den Lava eines »Feuer-Bachs«.

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W Kommen wir zu dem wohl bekanntesten Satz Feuerbachs: »Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.« Mitte des 19. Jahrhunderts war dies ein geflügeltes Wort, das zwar nicht von ihm selbst stammt, aber die Grundthese seines Hauptwerkes prägnant zum Ausdruck bringt. R Die authentische Fassung findet sich in den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« – die er Ende 1848 und Anfang 1849 im Heidelberger Rathaus gehalten hat, weil ihm die Tore der Universität verschlossen geblieben waren – am Ende der zwanzigsten Vorlesung: »Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf, wie ich im ›Wesen des Christentums‹ zeigte, Gott nach seinem Bilde.« W In philosophischer Terminologie spricht man von der »Projekti­ onsthese« Feuerbachs: Der »gefühlte« Gott erhält alle seine Eigen­ schaften durch eine Projektion menschlicher Prädikate. Anders ließen sich Glaubenssätze wie »Gott ist gerecht«, »Gott ist gütig« oder »Gott liebt die Menschen« nicht mit inhaltlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Güte und Liebe verbinden. R Weil dies die zentrale These Feuerbachs ist, versuche ich sie mit eigenen Worten so klar und verständlich wie möglich zu artikulieren: Was die drei beispielhaft genannten Eigenschaften bedeuten, wissen wir Menschen nicht aus der Begegnung mit Gott, sondern mit unse­ resgleichen. Und dieses menschliche Erfahrungswissen übertragen wir auf ein unbekanntes göttliches Wesen, das wir uns als gerecht, gütig und liebend vorstellen. W Der Gegensatz zwischen Gott und Mensch äußert sich nach religiösem Verständnis in einem Verhältnis von Allmacht und Ohn­ macht; der unendliche Gott ist alles, der endliche Mensch dagegen nichts. Der Übermächtigung Gottes entspricht eine Entmächtigung des Menschen. R Aus der anfänglichen Endlichkeit des Individuums entsteht im Zuge der Entgegensetzung von Gott und Mensch eine Verelendung des menschlichen Wesens. »Der Mensch bejaht in Gott, was er an sich selbst verneint.«

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W Mehr als dem Verstand und dem Gefühl kommt der Liebe eine besondere Stellung zu, weil sie für Feuerbach »das Vermittlungs­ prinzip zwischen dem Vollkommenen und Unvollkommenen, dem sündlosen und sündhaften Wesen, dem Allgemeinen und Individuel­ len ... dem Göttlichen und Menschlichen« ist. »Die Liebe macht den Menschen zu Gott und Gott zum Menschen.« Oder anders formuliert: Die Liebe ist das Göttliche im Menschen. R Wenn die christliche Religion verkündet: Gott ist Mensch gewor­ den, so verkündet Feuerbach: Mensch ist Gott geworden. In der Ver­ göttlichung des Menschen kommt das Gattungswesen adäquat zum Ausdruck. Solange der Mensch den Mangel seiner Endlichkeit durch Religion überwinden will, solange er allein »in Gott vollkommener Mensch« werden kann, solange ihm »Gott ein Bedürfnis« ist, erliegt er der Selbsttäuschung und erwartet alles von Gott, was er sich vorher selbst genommen hat. W Die Feuerbach’sche Kritik der Religion schafft ein neues Bewusst­ sein der unendlichen Möglichkeiten menschlichen Seins. Feuerbach vergöttlicht nicht das Individuum, wohl aber die Menschheit. An diesem vollen Begriff der Menschheit kann und soll sich der Einzelne orientieren. In der Menschheit findet er sein Maß. R Dieses Maß bestimmt er durch die Triade »Wollen, Lieben, Den­ ken«: »Wir denken, um zu denken, lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu sein.« Befreit von der Erbsünde ist der seiner Freiheit bewusste Mensch für Feuerbach die lebendige, sinnliche und ganze, nicht in Dualismen von Leib und Seele, Geist und Körper gespaltene Person. In ihrer personalen Identität wird die »göttliche Dreieinigkeit« des denkenden, liebenden und wollenden Gattungs­ wesens in leidenschaftliche individuelle Existenz überführt. W Der sozusagen anthropo-theologische Begriff der Menschheit hat für Feuerbach eine normative Funktion. Zur Menschheit soll sich der einzelne Mensch emporheben. In der Menschheit findet Feuerbach eine Utopie, die Religion ersetzen kann. R Insoweit sollte man ihm den Fortschrittsoptimismus seiner Zeit und die Tatsache zugutehalten, dass das 19. Jahrhundert Weltkriege, Konzentrationslager und Terrorismus noch nicht kannte.

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W In der Formel: der einzelne Mensch soll sich zur Menschheit emporheben, sehe ich eine Parallele zu Nietzsches Rede vom Über­ menschen, die leider entsprechend fatale Fehldeutungen erfahren hat. R Feuerbach hat für sich auch einen anderen Wendepunkt rekla­ miert: in der Philosophie. Denn er versteht sich als Begründer einer Philosophie der Sinnlichkeit. Die alte Philosophie hat ihren Ausgang von Verstand und Vernunft bzw. vom Geist genommen, die neue Philosophie nimmt ihn von der Sinnlichkeit. W In »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« schreibt er: »Die Aufgabe der Philosophie ... besteht nicht darin, von den sinnlichen, d. h. wirklichen Dingen weg, sondern zu ihnen hinzukommen.« Er betont, dass wir das Wirkliche nicht durch den Verstand erfahren, sondern mit den Sinnen. R Werfen wir noch einen Blick auf die Wirkungsgeschichte der Feuerbach’schen Philosophie. Zwei prominente Philosophen, die sich ausdrücklich auf ihn berufen haben, seien hier genannt: Karl Marx und Martin Buber, der erste als berühmt-berüchtigter Kritiker Feuerbachs, der zweite als renommierter »Nachfolger«. Karl Marx kritisiert in den »Thesen zu Feuerbach«, dass der Religionsphilosoph den Menschen nur als »Gattung« aufgefasst habe – eine Kritik, die wir gelten lassen, weil wir Feuerbachs Vergöttlichung des Menschen ganz in diesem Sinne interpretiert haben. W Marx fragt nicht nach dem Menschen als Gattungswesen, sondern nach der jeweiligen gesellschaftlichen Verfassung des Menschen. Nur der geknechtete, entfremdete Mensch hat das Bedürfnis nach Religion. Auch die Kritik, das religiöse Gefühl des Menschen sei als »gesellschaftliches Produkt« zu begreifen, hat einen philosophisch gültigen Kern. R Dagegen gilt die berühmteste der Thesen – die »elfte Feuerbach­ these« – nur für ein bestimmtes Verständnis von Philosophie: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt (aber) darauf an, sie zu verändern.« W Für uns ist die Weltveränderung eine Domäne der Politik, nicht der Philosophie.

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R Wirkungsgeschichtlich ist es der Begriff des Dialogs, mit dem Feuerbach die höchste Akzeptanz gefunden hat. Der betreffende Paragraph 62 in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« lautet: »Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.« W Feuerbach knüpft damit unverkennbar an die Sokratische Tradi­ tion des »dialegesthai« – des Modus dialogischer Streitkultur – an, die wir im 2. Kapitel behandelt haben. Paragraph 41 der »Grundsätze« sagt es in treffenden Worten so: »Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt.« R Laut Grimm’schem Wörterbuch war das inzwischen ausgestor­ bene Wort »selbander« noch Anfang des 20. Jahrhunderts »ungemein häufig«. Leider scheint auch das an seine Stelle getretene Reziprok­ pronomen »einander« langsam auszusterben, weil bevorzugt das Reflexivpronomen »sich« verwendet wird. Menschen, die »sich« umarmen, sind aber ebenso wie Kreise, die »sich« schneiden, gram­ matikalische Fehlkonstruktionen. »Sich gegenseitig« zu umarmen, versucht zu retten, was mit »einander« kürzer, besser und schöner gesagt werden könnte. W Feuerbach sagt es nicht nur mit dem alten Reziprokpronomen »selbander«, sondern auch mit der »Gemeinschaft« als »Einheit des Menschen mit dem Menschen«. R In Sokratischer Tradition führt diese Einheit nicht zu einer pseu­ doerotischen Verschmelzung, sondern wird als Einheit bestimmt, die sich »auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt«. W Martin Buber, der bedeutendste Dialogiker des 20. Jahrhunderts, hat nach eigenem Bekunden die »entscheidende Anregung« für seine Philosophie des Dialogs von Ludwig Feuerbach erhalten. Bezeichnen­ derweise trägt Bubers Hauptwerk aus dem Jahre 1923 den Titel »Ich und Du«. R Vom Verhältniswort »zwischen« zum Substantiv verstärkt, ist »das Zwischen« Hauptwort seiner Philosophie geworden. Es sei »keine Hilfskonstruktion«, sondern »wirklicher Ort und Träger zwi­ schenmenschlichen Geschehens«.

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W Als Beispiele nennt er »ein wirkliches Gespräch«, »eine wirkli­ che Lehrstunde« und »eine wirkliche, nicht gewohnheitliche Umar­ mung«. R Ein Gespräch sei nur dann ein »wirkliches«, wenn »jeder unmit­ telbar zu seinem Partner spricht und dessen unvorhersehbare Erwide­ rung hervorruft«. Und eine »wirkliche« Lehrstunde sei nur eine »sich in gegenseitigen Überraschungen entwickelnde«. W Für das Gelingen dieser dialogischen »Wirklichkeiten« verlangt Buber die Bereitschaft zu »dialogischer Verantwortung«, »dialogi­ scher Gegenwart« und »dialogischer Offenheit«. Die drei Begriffe unterscheiden sich durch das Adjektiv »dialogisch« von ihrem sonsti­ gen Gebrauch. R Das Adjektiv begründet die Wechselseitigkeit oder Reziprozität der jeweiligen Begriffsverwendung – und zwar genau in der Weise, wie Feuerbach das Wort »selbander« gebraucht hat: »Einander« sind Dialogpartner verpflichtet, Rede und Antwort zu stehen, füreinander nicht nur körperlich gegenwärtig, sondern als Person präsent und für eine andere Sicht der Dinge offen zu sein. W Eine solche Offenheit für Feuerbachs Sicht des Christentums fehlt in weiten Kreisen der christlichen Kirchen noch heute. In den inneren Zirkeln ist sein Ruf als Philosoph ruiniert. Die Polemik gegen seinen angeblichen Atheismus wirkt dort weiter; die von ihm als »unbe­ greiflich« kritisierten kirchlichen Lehren haben die philosophischen Begriffe des Kritikers überlebt. R Es ist eine Ironie des Schicksals, dass in der fatalen Deutung der christlichen Philosophie Feuerbachs als »atheistisch« das »fatum« des Götterspruchs der alten Römer einen leidenschaftlichen Kritiker der Kirchengötter besonders hart getroffen hat.

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13. Nietzsche: »Wille zur Macht« als politische Ideologie

W Im Jahr 1944 verfasste der Dichter Paul Celan die »Todesfuge«. Ich zitiere daraus vier Verse: »Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts / wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland / wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken / der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau«. R »Der Tod – ein Meister aus Deutschland« ist eine Anklage, die in abgeschwächter Weise auch der französische Philosoph und Essayist André Glucksmann in seinem Buch »Die Meisterdenker« erhebt. Zu diesen zählt er neben Hegel und Marx auch Nietzsche. W Zwar räumt er ein: »Die Meisterdenker sind keine Nazis«, ihnen kann »nicht der Vorwurf gemacht werden, die Konzentrationslager organisiert, vielmehr jedoch, nicht im voraus ihre Organisierung verhindert zu haben. Ihr Antisemitismus bereitet nicht dem Nazismus den Weg, sondern dem Nicht-Widerstand gegen ihn.« R Somit sind sie der geistigen Brandstiftung verdächtig. In die glei­ che Kerbe schlägt Jochen Schmidt in seinem 2016 erschienenen Buch »Der Mythos ›Der Wille zur Macht‹«: »Man kann Nietzsche nicht unmittelbar für alles, was auch in seinem Namen verübt wurde, ver­ antwortlich machen, aber die sozial und politisch verantwortungslose Radikalisierung und Enthemmung aller Vorstellungen einschließlich der Greuel, auf welche die Forderung nach ›schonungsloser Vernich­ tung alles Entarteten‹ hinauslief, und generell sein ›dionysischer‹ Vernichtungsrausch machten ihn zum Brandstifter.« W Vernichtende Kritik äußerte schon 1969 Ernst Sandvoss in dem Buch »Hitler und Nietzsche«: »Nietzsches menschenverachtende Ideologie hat ... sowohl Verbrechen gegen die Menschheit als auch

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gegen die Menschlichkeit in dem Ausmaß, mit der Grausamkeit und Kälte, wie sie von Hitler befohlen und unter ihm ausgeführt wurden, erst ermöglicht.« R Die Bandbreite der Nietzsche-Interpretationen ist enorm: sie reicht vom profaschistischen Verführer bis zu einem Vollender der abendländischen Metaphysik bei Heidegger. W Interessant ist auch Thomas Manns eigenartige »Bekehrung« vom Verehrer Nietzsches zum Kritiker einer »unzweifelhaften Entartung seines Denkens«. In den »Betrachtungen eines Unpolitischen« (1915– 1918) schreibt er: »Wenn aber eben diese Grundstimmung mich zum Verfallspsychologen machte, so war es Nietzsche, auf den ich dabei als Meister blickte; denn nicht so sehr der Prophet irgendei­ nes unanschaulichen ›Übermenschen‹ war er mir von Anfang an ... als vielmehr der unvergleichlich größte und erfahrenste Psychologe der Dekadenz.« R 1947 schreibt er dann in dem Essay »Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung« (nach den Greueln der Nazidiktatur), sein überwiegend aphoristisches Lebenswerk sei »allmählich in einen unheimlich mondänen und hektisch heiteren, zuletzt mit der Schel­ lenkappe des Weltenspaßmachers sich schmückenden Über-Feuille­ tonismus entartet«. Sein wahnsinniges Genie habe ihn in »ein wildes und trunkenes, jeder Pietät entsagendes, gegen die eigene Natur tobendes Prophetentum der barbarisch strotzenden Kraft, der Gewis­ sensverhärtung, des Bösen gezerrt«. Aus Erfahrung wird man klug? Oder weht der Wind aus einer anderen Richtung? R Wir wollen untersuchen, wie Nietzsche in den schlimmen Ver­ dacht der geistigen Brandstiftung kommen konnte bzw. woran es liegt, dass Nietzsches Denken derart extrem kontrovers interpretiert werden kann. W Einer der möglichen Gründe liegt in Nietzsches Denk-Stil und Sprache. Im Vergleich zu Kant oder Hegel beispielsweise liest sich Nietzsche scheinbar leicht. Dennoch bleibt besonders in dem Werk »Also sprach Zarathustra« vieles vieldeutig und rätselhaft bzw. ist als Rätsel bewusst verschlüsselt. So lautet der Untertitel z. B. »Ein Buch für Alle und Keinen«. Zudem dominiert der Gleichnis-Stil.

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R Im September 1884 schreibt Nietzsche an Peter Gast: »Zarathus­ tra hat einstweilen nur den ganz persönlichen Sinn, dass es mein ›Erbauungs- und Ermutigungsbuch‹ ist – im Übrigen dunkel und verborgen und lächerlich für Jedermann.« Damit macht es Nietzsche schwer, wenn es um die verborgene »Wahrheit« geht, andererseits auch leicht, oberflächliche »Sinneinheiten« abzuschöpfen. Alles geht, die Interpretation ist ein freies Spiel des deutenden Verstehens. W Ein anderer Grund liegt in der Art der Darstellung. Nietzsche formuliert selten diskursiv, sondern meist in Sentenzen und Aphoris­ men, die durchaus für sich stehen können, da sie keiner bestimmten Systematik folgen. Es ist eine Art Verkündigungs-Stil. Nietzsches Werk bleibt als Ganzes »work in progress«. Das Unabgeschlossene macht vielerlei Deutung möglich. R Nietzsches Aphorismen sind akute Blitzeinschläge. Er selbst spricht von Experimental-Philosophie: »Eine solche ExperimentalPhilosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Mög­ lichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne dass damit gesagt wäre, dass sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehenbliebe.« W Die scheinbar prekären Grundworte, um die Nietzsches Philoso­ phie kreist, sind: »Der Übermensch« und »Der Wille zur Macht«. Sie konnten durch die nationalsozialistische Propaganda usurpiert werden, obwohl sie als rein philosophische Konzepte Nietzsches nur im Zusammenhang seines philosophischen Denkweges zu verste­ hen sind. R Der Titel »Übermensch« findet sich in gedrängter Form in Nietz­ sches Werk »Also sprach Zarathustra«, eine Art philosophischer Dichtung, entstanden in den Jahren 1883 bis 1885. Die Rede vom »Willen zur Macht« kommt schon im »Zarathustra« vor, wird dann im Jahr 1886 als Titel eines vierbändigen Hauptwerkes konzipiert, das jedoch Fragment bleibt.

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W Der »Übermensch« ist zunächst Inhalt der Verkündigung Zara­ thustras, Protagonist und »poète-prophète« in der philosophischen Dichtung. Schon in der Vorrede heißt es: »Und Zarathustra sprach also zum Volke: ›Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.‹« R Zarathustra ist eine Wiedergeburt der Figur »Der tolle Mensch« aus dem Werk »Die Fröhliche Wissenschaft« (1882), den Nietzsche Ungeheures verkünden lässt: »Gott ist tot! Gott bleibt tot!« Die Erfahrung vom Tod Gottes hat ihn aus der Bahn geworfen und gewissermaßen »toll« werden lassen. W »Der Übermensch« ist eine zweite Verkündigung, ein Gegenent­ wurf zum Tod Gottes. Auch hier bedient sich Nietzsche einer Kunstfi­ gur, um seine Grunderfahrung bzw. die Bewältigung der mit dem Tod Gottes verbundenen Katastrophe auszudrücken. R Der »tolle Mensch« beschreibt die katastrophalen Folgen des metaphysischen Ereignisses »Gott ist tot«, für das er später den Namen »Nihilismus« gebraucht: »Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?« W Der Tod Gottes ist ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte. »Es gab nie eine größere Tat, — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« — Die »höhere Geschichte« ist dem »Übermenschen« vorbehalten, dem es gelingen kann, den Nihilismus zu überwinden. R Als erstes Anzeichen des Nihilismus versteht Nietzsche die schlei­ chende Dekadenz Europas. »Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der Tat das Problem der décadence – ich habe Gründe dazu gehabt. ›Gut und Böse‹ ist nur eine Spielart jenes Problems. Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral – man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint das Leben ...

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Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten – Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wag­ ner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne ›Menschlichkeit‹. – Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus unge­ heurer Ferne übersieht – unter sich sieht ... Einem solchen Ziele – welches Opfer wäre ihm nicht gemäß? welche ›Selbst-Überwindung‹! welche ›Selbst-Verleugnung‹!« W Übermensch und Überwindung stehen in einem direkten Ver­ weisungszusammenhang. Nietzsches Denken nach dem Tod Gottes konzentrierte sich auf die Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs, den er Zarathustra verkünden lässt. Wir sollten erläutern, was Nietz­ sche unter Nihilismus versteht, wenn er vom »europäischen Nihilis­ mus« spricht. R In dem Nachlass-Werk »Der Wille zur Macht« notiert Nietzsche: »Was bedeutet Nihilismus? – Dass die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum‹.« W Wir übernehmen an dieser Stelle eine Deutung Heideggers. »Was im Christentum, in der Moral seit der Spätantike, in der Philosophie seit Platon als die maßgebenden Wirklichkeiten und Gesetze ange­ setzt wurde, verliert seine verbindliche, und d. h. für Nietzsche immer: seine schöpferische Kraft.« R Nietzsche selbst antwortet auf die Frage nach den Ursachen des Nihilismus: »... weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werte und Ideale ist.« Der europäische Nihilismus ist keine Erfindung eines wahnsinnigen Irren, sondern eine philosophi­ sche Diagnose. W »Der Nihilismus als psychologischer Zustand« entsteht durch die einsichtige Erfahrung, »dass mit dem Werden nichts erzielt werden soll und dass unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt«.

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R Aber die »wahre Welt« stellt sich als Illusion heraus. Denn: »Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologi­ schen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist ... so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu ...«. W Der Tod Gottes, Nihilismus und Zusammenbruch der metaphy­ sischen Welt bilden eine Einheit. Dies ist Nietzsches Erkenntnis. Dem »Zarathustra« liegt diese Erkenntnis zugrunde. Demgemäß verkündet er: »Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Über­ mensch lebe.« R Während die Metaphysik eine wahre Welt jenseits der irdischen Welt illusionierte, ist mit dem Zusammenbruch metaphysischer »Wahrheiten« die vermeintlich »wahre Welt« und das Jenseits als Illusion entlarvt, sodass nur mehr diese irdische Welt übrig bleibt, eine Welt des Werdens und Vergehens. W Während das bisherige Menschentum auf die »wahre Welt« gerichtet war, ist der Übermensch auf die Erde bezogen. So kann Zarathustra verkünden: »Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!« Dies ist der Imperativ nach dem Tod Gottes. R Aber offensichtlich ist diesem Imperativ nicht unmittelbar zu fol­ gen, denn Zarathustra sagt: »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! ... Verächter des Lebens sind es, Absterbende ... deren die Erde müde ist.« W Im Hinblick auf die epochale Zeiten- und Sinn-Wende vom Ver­ lust der »wahren Welt« zum freudigen Bejahen der irdischen Welt, der Erde, wird Menschsein – auch im Hinblick auf die Entdeckung der Evolution – neu zu verstehen sein.

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R So spricht Zarathustra: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwi­ schen Thier und Übermensch, – ein Seil über dem Abgrunde ... Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.« W Mit dem Tod Gottes ist auch bisheriges Menschsein dem Unter­ gang geweiht, aus dem der Übermensch hervorgehen kann. Zarathus­ tra ist der Mensch des Übergangs mit dem Blick auf den Übermen­ schen. R Im Kapitel »Von der Erlösung« beschreibt er sich selbst: »Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und eine Brücke zur Zukunft – und ach, auch noch gleichsam ein Krüppel an dieser Brücke: das Alles ist Zarathustra.« Und gleich darauf: »Und ihr fragtet euch oft: ›wer ist uns Zarathustra?‹ ... Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein Bändiger? Ein Guter? Oder ein Böser?« W Er gibt die Antwort: »Ich wandle unter Menschen als den Bruch­ stücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue.« Der Übermensch als Menschsein der Zukunft ist Hoffnung und Utopie; ein Befreier vom »Geist der Rache«, die Nietzsche in den Zusammenhang von Leid als Strafe stellt. »... und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.« R Nietzsche spielt hier auf den biblischen Paradies-Mythos an, in dem das menschliche Dasein auf Grund der Sünde durch Leid und Tod bestimmt ist. Leiden ist Strafe, nicht ein natürliches Geschehen. Den »Geist der Rache« thematisiert Heidegger in seinem Aufsatz »Wer ist Nietzsches Zarathustra?« Wir können hier nicht weiter auf diesen Topos eingehen und verweisen auf seinen Aufsatz. W Mit dem Übermenschen verbindet Nietzsche den schaffenden Willen, aus dem dann der Wille zur Macht hervorgeht. Zarathustra lehrt: »der Wille ist ein Schaffender.« ... »Höheres als alle Versöhnung muss der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist –«.

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R In dem Satz »Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe« vereint Nietzsche den Todes Gottes als Grunderfahrung und die Bewältigung dieses Ereignisses mit dem Willen und dem Übermen­ schen. W Womit aber nicht gesagt ist, dass Nietzsche den Übermenschen vergöttlicht. Alle Vergöttlichung hat ein Ende, wenn der Mensch der Erde treu bleibt. R Womit aber auch nicht gesagt ist, dass der Übermensch das Ziel einer postmetaphysischen Geschichte ist. Wie der Mensch, so ist auch der Übermensch kein Zweck der Geschichte, aber vielleicht eine Steigerungsform des Menschlichen. W Wenn Nietzsche denkt, dass der bisherige Mensch sein Schicksal mit der »wahren Welt« vereinte, aber die »wahre Welt« sich als gran­ dioser Irrtum offenbart, dann muss er sein Schicksal neu bestimmen: im Übermenschen als Sinn der Erde. Das Werden und Vergehen des Irdischen ist nicht zu überwinden, sondern zu bejahen. R Daher gilt für Zarathustra: »Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden werden muss.« Der Grundgedanke der Überwindung ist nicht neu. In anderer Weise kennen wir ihn von Platon. Das Höhlen­ dasein des Menschen muss überwunden werden durch den Aufstieg aus der Höhle ins Licht. Dies setzt für Platon eine grundsätzliche Wandlung des Menschen und seiner Seele voraus. W Im Höhlengleichnis Platons gelingt die Befreiung aus der Höhle nicht von selbst, sondern der Höhlenmensch wird von den Fesseln gelöst. Nietzsche gibt Zarathustra die Rolle des Befreiers. Doch er weiß: »Wollen befreit: aber was heißt das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt?« R Der Befreier selbst ist nicht völlig frei, Zarathustra nennt sich Brückenbauer, aber nur als »Krüppel«. Zarathustra hat noch nicht alle Verwandlungen durchgemacht, von denen er spricht: »Drei Verwand­ lungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele ward, und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde.«

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W Am Ende der Verwandlungen als Phasen der Selbstübersteigun­ gen, die aus dem Willen der Selbstbemächtigung hervorgehen, steht der Übermensch. An anderer Stelle schreibt Nietzsche: »Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen (höheren) Typus ist, wie man weiß das Wort ›Übermensch‹«. Damit wird deutlich, dass der Übermensch keine historische Figur meint. Aber er soll in der Lage sein, den Nihilismus zu überwinden. Insofern Nietzsche das Konzept der Verwandlung und des Aufstiegs in der Tradition Platons adaptiert, kann er als Vollender der Metaphysik verstanden werden. R Nietzsche versteht den Willen als schöpferisch-schaffenden Wil­ len. Als erste abendländische Schöpfung kann Platons Ideenwelt, die »wahre Welt«, gesehen werden. Deren schöpferische Kraft währte bis zum »Tod Gottes« als Metapher für den Zusammenbruch des meta­ physischen Fundaments und die Erfahrung des Nihilismus, »dass die obersten Werte sich entwerten«. W Mit dem Übermenschen konzipiert Nietzsche eine neue Schöp­ fung – dimensional ähnlich der »wahren Welt«. Sie wertet das Werden nicht ab, sondern wertet es positiv. Insofern handelt es sich im Verhältnis zu Platon um eine Umwertung. R Der »Übermensch« ist Nietzsches erste Antwort im Sinne einer Überwindung des Nihilismus. Diesen Versuch ergänzt er dann durch die Konzeption des »Willens zur Macht«, in der der »Übermensch« in den Hintergrund rückt. Dafür erhält das Theorem der »ewigen Wiederkehr« eine gewichtige Position. W Das fragmentarische Nachlass-Werk Nietzsches »Der Wille zur Macht« hat als Untertitel »Versuch einer Umwertung aller Werte«. Nietzsche ist der Auffassung, dass der »Nihilismus als Konsequenz der bisherigen Wert-Interpretation des Daseins« – so eine Kapitel­ überschrift – zu verstehen ist. Die Überwindung des Nihilismus for­ dert daher nach Nietzsche eine Umwertung der europäischen Werte. R Im Lichte dieser Betrachtung sind daher die »bisherigen höchsten Werte« einer fundamentalen Kritik zu unterziehen. Nietzsches »Kri­ tik der Religion«, »Kritik der Moral« und »Kritik der Philosophie« –

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jeweils Kapitelüberschriften im »Willen zur Macht« – ergeben sich logisch aus seiner Grundposition. Erst das dritte Buch widmet sich dem »Prinzip einer neuen Wertsetzung«. W In diesem werden Erscheinungsweisen des »Willens zur Macht« dekliniert: »Der Wille zur Macht als Erkenntnis«, »Der Wille zur Macht in der Natur«, »Der Wille zur Macht als Gesellschaft und Individuum« und schließlich »Der Wille zur Macht als Kunst«. Diese Erscheinungsweisen machen deutlich, dass der »Wille zur Macht« kein politisches Manifest ist und nicht politisch usurpiert werden darf. R Zunächst ist festzuhalten, dass Nietzsche den »Willen zur Macht« nicht selbst publizierte. Er hat ein Fragment hinterlassen, bestehend aus Aphorismen, Notizen, Einfällen, Skizzen, Stichwörtern und Merkzetteln, die nicht für die Publikation vorgesehen waren. Das sogenannte Buch ist eine Kompilation aus dem Nachlass des Philoso­ phen, von Peter Gast unter Mitwirkung von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche »ausgewählt und geordnet«. W Aber sowohl der Titel als auch der Untertitel entstammen Nietz­ sches originären Plänen. Von diesen berichtet Nietzsche in einem Brief an seine Schwester im September 1886: »Für die nächsten 4 Jahre ist die Ausarbeitung eines vierbändigen Hauptwerks angekündigt; der Titel ist schon zum Fürchten-Machen: ›Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe‹. Aber schon im Januar 1889 endet er im Wahnsinn. Er stirbt am 25. August 1900. R Durch die »Kritische Gesamtausgabe« von Colli und Montinari 1967 wurde es möglich, Fälschungen durch Nietzsches Schwester kenntlich zu machen. Der Titel des 4. Buches »Zucht und Züchtung« geht auf ihr Konto. Nietzsche spricht in diesen Notizen von »Rangord­ nung«. W Die kritische Untersuchung der hinterlassenen handschriftlichen Notizbücher durch die beiden Herausgeber legt offen, was vorlag: ein »einziges Chaos, ein unablässig durchkreuzter Schreibstrom, ein konvulsivisches Zucken, ein Exzess an Ruhelosigkeit«. Nietzsches Werk konnte durch die kritische Ausgabe von der Verfälschung zu einer rassistischen, antisemitischen Prophetie des Nationalsozialis­ mus befreit werden.

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R Aus der Vielzahl der 1067 Notizen, die in der Kompilation »Der Wille zur Macht« gesammelt sind, wählen wir repräsentative Apho­ rismen aus, die den Willen zur Macht unmittelbar thematisieren. »Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen?« W Nietzsche identifiziert hier das »innerste Wesen des Seins« mit dem Willen zur Macht. Damit bekommt dieser Wille unmittelbar metaphysischen Rang. Er ist ein »Seinsprinzip«, auch wenn dieser Wille primär als Macht des Werdens interpretiert wird. In allem Werden und Vergehen waltet der Wille zur Macht im Sinne der sich steigernden Mächtigkeit. R Die Aphorismen modulieren seinen Grundgedanken in verschie­ denen Perspektiven: »Das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der Kraft –: alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das Leben, als Einzel­ fall ... strebt nach einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille.« W Neben dem »Willen zur Macht als Erkenntnis« ist auch der Wille zur Wahrheit für Nietzsche eine Erscheinungsweise des Willens zur Macht, sofern man Erkennen als Entwerfen und Machen versteht. »Der Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaftmachen, ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben in's Seiende. ›Wahrheit‹ ist somit nicht Etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern Etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozess abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, – nicht ein Bewusstwerden von Etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den ›Willen zur Macht‹.« R Aus diesen Worten könnte man schließen, dass der Wille zur Macht über schier unendliche Kraft verfügt. Doch würde dies dem alten Vernunftdenken entsprechen, das Nietzsche gerade überwinden

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will. Während Hegels Metaphysik einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit postuliert, einen dialektischen Prozess, der übersteigend auf das Ziel des absoluten Wissens zustrebt, muss der Überwinder Nietzsche dieses Zieldenken verneinen. W Der als Kraft wirkende Wille ist endlich. Endlichkeit bestimmt auch die Akkumulation von Kraft. »Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens ... Nicht bloß Konstanz der Energie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so dass das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist, – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen-, Herr-werden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen.« R Nietzsches radikal gedachte Endlichkeit verbietet eine unendlich sich steigernde Mächtigkeit des Willens. Das Werden ist nicht auf ein Ziel gerichtet. Es ist vielmehr ziellos. Man mag diesen Gedanken für paradox halten, doch Nietzsche schärft ein: »Wenn die Weltbe­ wegung einen Zielzustand hätte, so müsste er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, dass sie keinen Zielzustand hat ... Ich suche eine Weltkonzeption, welche dieser Tatsache gerecht wird. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muss gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick ... es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen willen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden.« W Während Hegel den Prozess des Seins als Werden zu einem absoluten Ziel versteht, negiert Nietzsche diese Möglichkeit. Die Ziellosigkeit hat aus der Perspektive Hegels gesehen eindeutig nihi­ listisches Gepräge. Aber die Ziellosigkeit gilt es anzuerkennen, ja unbedingt zu bejahen. R In drei grundsätzlichen Aussagen fasst Nietzsche dies zusammen: »1. Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein ›Sein‹. 2. Das Werden ist kein Scheinzustand, vielleicht ist die seiende Welt ein Schein. 3. Das Werden ist wertgleich in jedem Augenblick: ... anders ausgedrückt: es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre und in Bezug worauf das Wort ›Wert‹ Sinn hätte. Der Gesamtwert der Welt ist unabwertbar«.

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W Weil unsere »bisherige« Vernunft nach dem teleologischen Prinzip arbeitete, werden wir verleitet, mit dem Werden ein Ziel zu verbinden. Deshalb verbietet Nietzsche sich, dieser Versuchung zu verfallen. Man hat zu begreifen, »dass mit dem Werden Nichts erzielt, Nichts erreicht wird«. Das große kosmische Werden hat kein Ziel. Doch darf die Ziel- und Zwecklosigkeit dieses Werdens nicht pessimistisch interpretiert werden. R Wenn es sich verbietet, dem unendlichen Werden, das Nietzsche als »Wille zur Macht« interpretiert, ein Ziel und einen Zweck zu unterstellen, bietet nur der »Gedanke der ewigen Wiederkunft« einen Ausweg. W Nietzsche nennt ihn den »schwersten Gedanken«. »Dass Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: – Gipfel der Betrachtung.« R Aus dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen ergibt sich eine neue Weltauffassung, die Nietzsche wie folgt fasst: »Die neue Welt-Konzeption. – Die Welt besteht; sie ist Nichts, was wird. Nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehn, – sie erhält sich in Beidem.« W Es ist die entscheidende Einsicht Nietzsches, dass die Energie des Willens endlich ist. Sie steht quasi kontradiktorisch zum Gedanken eines unendlichen Werdens. »Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.« Die übersteigende Linie des Willens wird in den Kreis umgebogen. R Nietzsche versteht sein Denken als Experimental-Philosophie, die seine denkerische Existenz leibhaft ergreift. »Eine solche Experi­ mental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg; ohne dass damit gesagt wäre, dass sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehenbliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf: – ...«

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W Man könnte versuchsweise sagen, dass Nietzsche Hegels »apolli­ nischer« Metaphysik eine »dionysische« Metaphysik des Werdens als »Wille zur Macht« entgegenstellt. R Das Bejahen der Endlichkeit gerade auch im Willen zur Macht gehört zu den späteren Einsichten Nietzsches. »Das Maß der All-Kraft ist bestimmt, nichts ›Unendliches‹: hüten wir uns vor solchen Aus­ schweifungen des Begriffs.« W Und in ähnlicher Weise betont er: »Die Zahl der Lagen, Verände­ rungen, Kombinationen und Entwicklungen dieser Kraft [ist] zwar ungeheuer groß und praktisch ›unermesslich‹, aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich.« R Nietzsche lässt aber auch wissen: »Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlie­ ren.« W Rückblickend ergibt sich als eine Art Resümee, dass die soge­ nannten prekären Termini – Übermensch und Wille zur Macht – grundsätzlich einer »umgekehrten« Metaphysik eingeschrieben sind und daher nicht nationalsozialistisch buchstabiert werden können. R Allerdings enthält das letzte Buch des »Willens zur Macht«, das mit »Rangordnung« betitelt ist, irritierende Formulierungen. Wie im »Fluch auf das Christentum« treibt das Bewusstsein seiner eignen Schwächlichkeit und Dekadenz Nietzsche zu radikalen Redeweisen. Einige sollen genannt werden. W »Ich lehre: die Herde sucht einen Typus aufrechtzuerhalten und wehrt sich nach beiden Seiten, ebenso gegen die davon Entartenden (Verbrecher usw.) als gegen die darüber Emporragenden. Die Tendenz der Herde ist auf Stillstand und Erhaltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr.« R Als Gegentypus entwirft er den Übermenschen. Seine Lehre ist »stark genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden.«

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W Im Zuge der Dekadenz spricht Nietzsche von der »Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europas. – Die Vernichtung der sklavenhaften Wertschätzungen. – Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. – Die Vernichtung der Tar­ tüfferie, welche ›Moral‹ heißt (das Christentum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin: Augustin, Bunyan). – Die Vernichtung des suffrage universel: d. h. des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. – Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung ...«. R Die Mehrdeutigkeit, in der Nietzsche von Vernichtung spricht (Rassen – Tartüfferie), lässt erkennen, dass es sich nicht um aktive Ausrottung handelt. Aber diese Redeweise lässt missbräuchliche Interpretationen zu. W Zum Abschluss zitieren wir eine längere Passage, die das Bild über den »Willen zur Macht« abrundet: »Und wisst ihr auch, was mir ›die Welt‹ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unver­ änderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom ›Nichts‹ umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ›leer‹ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluchender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heim­ kehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als Das, was ewig wie­ derkommen muss, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Über­ druss, keine Müdigkeit kennt –: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese

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Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein ›Jenseits von Gut und Böse‹, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und Nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und Nichts außerdem.« R Zwei Philosophen, die auf Grund ihrer jüdischen Abstammung allen Grund hätten, Nietzsche als Wegbereiter des Nationalsozialis­ mus zu verstehen, haben nicht einmal ein ambivalentes Verhältnis zum Denker des »Willens zur Macht«. W Theodor W. Adorno bekennt: »Nietzsche [habe ich] am meisten von allen sogenannten großen Philosophen zu verdanken – in Wahr­ heit vielleicht mehr noch als Hegel.« R Und Hannah Arendt, die den Prozess gegen einen der Strategen des Holocaust, Adolf Eichmann, verfolgte, urteilt in ihrem Werk »Über das Böse«: Nietzsches »bleibende Größe liegt darin, dass er zu zeigen wagte, wie schäbig und bedeutungslos Moral geworden war.« Und: In Nietzsche erkennt sie den »letzten Philosophen, wie man zu denken geneigt ist, der moralische Fragen ernst nahm und deshalb alle moralischen Auffassungen vor seiner Zeit analysierte und durchdachte.« W Hannah Arendt hatte eine unbestechliche Sensibilität für die Spielarten des Bösen. Bei ihr wird Nietzsche nirgends als geistiger Brandstifter für die Verbrechen der Nationalsozialisten angeklagt. Sie ist gefeit gegen diese fatale Fehldeutung

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14. Wittgenstein: »Sprachspiele« als Untergang der Philosophie

R »Untergang der Philosophie« klingt an sich schon fatal. Die Über­ schrift unseres letzten Kapitels gibt die Kritik wieder, die namentlich Wilhelm Weischedel an den »Sprachspielen« Wittgensteins geübt hat, mit denen die Philosophie angeblich untergegangen sei. Damit schließen wir den Kreis unserer Überlegungen zur Bedeutung der Sprache im Sokratischen Dialog. Im zweiten Kapitel haben wir auf Wittgenstein vorverwiesen, jetzt verweisen wir auf Sokrates zurück. W Aus Gründen, die erst im Verlauf unseres Dialogs plausibel wer­ den, werfen wir zunächst einen Blick auf die Biographie. Ludwig Wittgenstein wird am 26. April 1889 in Wien geboren. Der Vater ist Ingenieur. Als erfolgreicher Unternehmer hat er es in der Stahlindus­ trie Österreichs zu hohem Ansehen und großem Reichtum gebracht. R Wohlhabend, kultiviert, künstlerisch veranlagt und hochmusika­ lisch macht die Mutter das Haus Wittgenstein zum Zentrum der Wie­ ner Musikszene. Clara Schumann, Gustav Mahler, Johannes Brahms und Richard Strauss sind gern gesehene Gäste der Familie – die mit der Fürstenfamilie dieses Namens entgegen einem anderslautenden Gerücht nicht verwandt ist. W Ludwig ist der Jüngste in der Familie. Er hat vier Brüder und drei Schwestern. Intellektuell und künstlerisch sind alle von hoher Begabung. Bei Ludwig zeigen sich geniale Züge. In einer biographi­ schen Betrachtung schreibt Georg Henrik von Wright: »Er fürchtete ständig«, die »Schwelle der Geisteskrankheit« einmal »überschreiten zu müssen.« Beim Vorpfeifen ganzer Sinfonien steht er mit seinem musikalischen Genie auf dieser Schwelle.

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R Der schmale Grat zwischen Genie und Geisteskrankheit bestimmt sein gesamtes Leben. Die Grundstimmung ist von Einsamkeit und ernsten Suizidgedanken geprägt. Drei seiner Geschwister haben sich das Leben genommen. W Erst mit vierzehn Jahren besucht er nach vorherigem Hausun­ terricht eine Schule in Linz. 1906 beginnt er ein Studium an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg, das er 1908 mit dem Diplom eines Maschinenbauingenieurs abschließt. Er konstru­ iert eine neue Antriebstechnik für Flugzeuge, die sogar nach ihm benannt wird: den »Wittgensteinschen Antrieb«. R Sein ursprüngliches Interesse gilt also nicht der Philosophie, sondern der ingenieurwissenschaftlichen Technik. Maschinen, Geräte und Apparate faszinieren ihn ein Leben lang. Und in vielen Geschich­ ten wird erzählt, wie gern und geschickt er technische Defekte repa­ riert – bis hin zur Reparatur einer Dampfmaschine. W Danach beginnt er sich für philosophische Probleme der Mathe­ matik zu interessieren. Es ist wohl anzunehmen, dass er »Die Grund­ lagen der Arithmetik« des Mathematikers und Logikers Gottlob Frege gelesen hat, denn er besucht ihn in Jena. Auf dessen Empfehlung schreibt er sich 1912 an der Universität Cambridge ein, um dort bei Bertrand Russell, dem Autor der »Principia Mathematica«, Philoso­ phie und insbesondere die logischen Grundlagen der Mathematik zu studieren. R Während eines Urlaubs in Norwegen beginnt er die »Logisch-phi­ losophische Abhandlung« zu schreiben, die später mit dem lateini­ schen Titel »Tractatus Logico-Philosophicus« erscheint. W Bei Ausbruch des Krieges tritt er 1914 freiwillig in die österrei­ chisch-ungarische Armee ein. Nach Kriegsgefangenschaft in einem Lager in Süditalien, in dem er den »Tractatus« vollendet, kehrt er erst im August 1919 nach Österreich zurück. Die Kriegserlebnisse und die Lektüre von Tolstois religiösen und ethischen Schriften dürften die Gründe sein, warum er sein großes Vermögen aus dem väterlichen Erbe verschenkt.

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R Er bedenkt aber nicht die Armen, sondern beschenkt die Reichen: Das Millionenerbe geht – nach großzügiger Unterstützung österrei­ chischer Schriftsteller und Künstler – an seine Geschwister. W Ab dem Zeitpunkt des verschenkten Vermögens ist Wittgensteins Lebensweise äußerst einfach, wenn nicht sogar enthaltsam. Seine Kleidung hat nichts von Bürgerlichkeit, sein ganzes Mobiliar besteht aus einem Bett, einem Tisch und ein paar Klappstühlen. R Als er im Dezember 1919 nach Den Haag reist, um dort mit Russell über den noch nicht veröffentlichten »Tractatus« zu sprechen, trifft der Engländer einen völlig veränderten Wittgenstein. In einem Brief äußert er sein Erstaunen, dass Wittgenstein »ganz zum Mystiker geworden ist. Er liest solche Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius und denkt ernsthaft darüber nach, Mönch zu werden.« W Im Zusammenhang mit dieser Wende zum einfachen Leben ist sein Entschluss zu sehen, eine Ausbildung zum Volksschullehrer in Wien zu absolvieren. Im September 1920 tritt er eine Stelle als Landschullehrer in Trattenbach an. Die Bauern sehen in ihm einen verrückten Sonderling, der den Kindern Rechnen mit Buchstaben bei­ bringen will. R Da er seine Schüler offensichtlich überfordert, kommt es zu Pro­ blemen mit den Eltern, weshalb Wittgenstein nach zwei Jahren in Puchberg am Schneeberg eine neue Lehrerstelle antritt. Nach weite­ ren zwei Jahren wechselt er nach Otterthal. Im Herbst 1925 schreibt er: »Ich habe beschlossen, so lange Lehrer zu bleiben, wie ich das Gefühl habe, dass mir die Schwierigkeiten, die ich auf diese Weise habe, vielleicht guttun.« W Im April kommt es zu der »berüchtigten Ohrfeige«, worauf der gezüchtigte Schüler in Ohnmacht fällt. Um einem disziplinarischen Verfahren zuvorzukommen, flüchtet der gescheiterte Pädagoge nach Wien, womit er seine Lehrerlaufbahn beendet. R Ein Produkt seines pädagogischen Schaffens ist ein »Wörterbuch für Volksschulen«. Nach dem Abbruch in Otterthal betätigt er sich als Architekt für das Haus seiner Schwester in Wien und kehrt danach zur Philosophie zurück.

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W Von 1929 bis zum Tode 1951 lebt er mit Unterbrechungen in England. Das Trinity College der berühmten Universität Cambridge ernennt ihn honoris causa zum Fellow. Im Jahre 1939 wird er auf den Lehrstuhl für Philosophie berufen. R Bekannt geworden ist Wittgenstein mit dem »Tractatus LogicoPhilosophicus«, der 1921 in der korrigierten, zweisprachigen Ausgabe deutsch/englisch erschien. In einem Vorwort erklärt er, »den groß­ artigen Werken Freges und den Arbeiten meines Freundes Herrn Bertrand Russell einen großen Teil der Anregung zu meinen Gedan­ ken« zu schulden. W Russells Philosophie wird allgemein der Richtung des »Logischen Atomismus« zugerechnet. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Wittgensteins erste Publikation zur Sprache in mathematisch-logi­ scher Konzeption erfolgt. Für den »normalen« Leser, der das betref­ fende »collegium logicum« versäumt hat, ist die Abhandlung unver­ ständlich. R Das wusste Wittgenstein selbst. Im Vorwort schreibt er: »Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch.« W Wir gehen deshalb hier nicht weiter darauf ein, sondern konzen­ trieren uns auf die »Philosophischen Untersuchungen«, in denen Wittgenstein sich von seinem Tractatus distanziert und eine ganz andere Sprachphilosophie konzipiert. Der meistzitierte Satz daraus lautet: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Spra­ che.« R Der Gebrauch geschieht in »Sprachspielen«. Zu diesem basalen Begriff seiner Spätphilosophie gibt Wittgenstein das schöne Beispiel der »Königsfigur im Schachspiel«: Der Name »König« erklärt noch nicht »den Gebrauch der Figur«. Dazu muss man die Regeln des Schachspiels kennen. Und je öfter, lieber oder sogar leidenschaftlicher man mitspielt, umso besser wird man das Spiel beherrschen. Das gilt auch für Sprachspiele.

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W In den »Philosophischen Untersuchungen«, die erst nach seinem Tode erscheinen, geht Wittgenstein davon aus, dass die »Verwirrun­ gen« im philosophischen Denken ihren Grund in der Vieldeutigkeit der Sprache haben. Völlig anders als im Tractatus orientiert er sich jetzt nicht mehr an logischen Sätzen, sondern an der Alltagssprache. R Dazu das folgende Zitat: »Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.« Dabei zeigt sich, dass die gebrauchten Wörter nicht eindeutig sind, sondern ihren Sinn in unterschiedlichen Zusammenhängen verän­ dern. »Gesprengt« werden kann ein Rasen, aber auch eine Brücke – nachdem vorher noch ein Reiter über sie gesprengt war. W Aufgabe der Philosophie ist es, die möglichen Bedeutungen eines Wortes wie »sprengen« zu klären: »Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Spra­ che.« R Das Wort »Pferd« kann im Kontext eines Kinderzimmers die Bedeutung eines Schaukelpferdes haben, aber auch eines Steckenpfer­ des, das im übertragenen Sinne vom Stecken gelöst und auf eine Vorliebe bezogen werden kann. W »Pferd« verweist nicht auf eine metaphysische »Pferdheit« als eine mit sich selbst identische, unveränderliche Wesenheit – wie wir es im Platonischen »eidos« kennengelernt haben –, sondern lediglich auf Familienähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Ver­ wendungsweisen des Wortes. Vom »Reiten eines Steckenpferdes« zu sprechen und damit verstanden zu werden, setzt die Kenntnis des Zusammenhangs voraus, in dem das Wort gebraucht wird. R Deshalb nennt man die Konzeption der »Philosophischen Unter­ suchungen« auch die »Gebrauchstheorie« der Sprache. Sie ist der Gegenentwurf zur »Abbildtheorie« des Tractatus, in dem es hieß: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit ...«.

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W Den Unterschied zwischen seinem Früh- und dem Spätwerk kön­ nen wir wie folgt bestimmten: Im Tractatus hieß es: »Alle Philosophie ist Sprachkritik.« Jetzt verwirft Wittgenstein diese Konzeption und spricht in selbstironischer Deutlichkeit von »Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat«. R Während im Tractatus die Satz-Logik vorherrscht, denkt er nun: »Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.« Die eine Sprache ist eine Wunschvorstellung, denn: »›Sprache‹, das sind doch Sprachen.« Dies ist Wittgensteins Hauptthese. W War der Tractatus vom Willen zur Konstruktion einer Logik der Sprache geprägt, so gibt sich Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen bescheiden: »Wenn ich über Sprache (Wort, Satz etc.) rede, muss ich die Sprache des Alltags reden.« R Vorher standen Sätze im Zentrum der Analyse, jetzt sind es vielfältige Satzarten im Sprachspiel. Verkürzt kann man sagen: An die Stelle der Logik tritt das Spiel. Zum Sprach-»Spiel« schreibt Wittgen­ stein, das Wort solle »hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«. Lebensformen sind, so Wilhelm Weischedel, »gleichsam die Umkreise, in denen je anders gesprochen wird«. W Die unterschiedlichen Sprachspiele bewegen sich immer in den »Umkreisen« von Lebenszusammenhängen und damit in Handlungs­ kontexten. Wohl im Bewusstsein des weiten Bedeutungsfeldes von »Lebensform« fügt Wittgenstein hinzu: »Führe dir die Mannigfaltig­ keit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen.« R Eine Auswahl: »Befehlen, und nach Befehlen handeln«; »Beschrei­ ben eines Gegenstands«; Berichten eines Hergangs«; »Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme«; »Eine Geschichte erfinden«; »Theater spielen«; »Aus einer Sprache in die andere übersetzen«; »Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten«. Es handelt sich um Sprachformen, die sich jeweils auf Handlungszusam­ menhänge beziehen.

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W Ein hilfreicher Hinweis zum Verständnis der beiden Phasen in Wittgensteins Sprachphilosophie findet sich im nächsten Satz: »Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philoso­ phischen Abhandlung).« R Die logische Analyse der Sprache wird der Mannigfaltigkeit der Gebrauchsmöglichkeiten von Sprache nicht gerecht. Der Bogen der Beispiele spannt sich vom »Befehlen« bis zum »Beten«. Er schließt höchst unterschiedliche Lebensformen ein, die sich konkret in Hand­ lungszusammenhängen artikulieren. An diesem Punkt wird deutlich, dass Wittgensteins Sprachspiel-Philosophie pragmatischen Charak­ ter hat. W Und dieser Pragmatismus ist vor allem biographisch begründet: Sprache war für den Ingenieur zunächst eine Art Maschine, die er auf Funktionsfähigkeit hin zusammenzubauen hatte; für den logischen Atomisten wurde sie zu einem more mathematico zu konstruierenden Regelwerk; und erst die Erfahrung des Volksschullehrers führte zu der Einsicht, dass Wörter weder Maschinenteile noch Recheneinheiten sind, sondern handlungsleitende Elemente von Sprachspielen. R Das erwähnte Wörterbuch für Volksschulen ist – buchstäblich – ein greifbarer Ausdruck dieser Einsicht: Es ist die Anleitung zum Erlernen der Grundregeln für das Spiel mit der Sprache, also zu jenem Gebrauch von Wörtern, der ihnen Bedeutung verleiht. W Das war der Grund unserer Beschäftigung mit der Biographie Wittgensteins. Sie sollte sowohl den leidenschaftlichen Ernst doku­ mentieren, mit dem er philosophierte, als auch die in der Philo­ sophenzunft verpönte Bereitschaft, eine früher vertretene Position aufzugeben. Und – nicht zuletzt – wollten wir die Erfahrung des Scheiterns in der Dorfschule als wahrscheinlichen Grund für die völlige Veränderung des sprachphilosophischen Ansatzes plausibel machen. Auf dieser Grundlage sollten die Beispiele für »Sprachspiele« noch etwas besser zu verstehen sein.

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R »Befehlen« steht im Zusammenhang mit Handlungen. Wenn der Fahrlehrer »befiehlt«: »rechts abbiegen«, wenn eine Frau dem Mann, der sie festhält, »befiehlt«: »Lass los!«, wenn das Kind seinem Freund im 2. Stockwerk »befiehlt«: »Komm runter«, dann kommt es jeweils auf den Handlungskontext an, der das Sprachspiel bestimmt. W Dies erläutert Wittgenstein so: Der »Umfang des Begriffs« ist »nicht durch eine Grenze abgeschlossen«. »Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen (aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ angewendet hast).« »Man kann sagen, der Begriff ›Spiel‹ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern.« R Welches Spiel gespielt wird, bestimmt sich aus dem Handlungszu­ sammenhang, der das konkrete Leben formt. »Sprachspiel« ist das Ensemble von Sprechen und Handeln. Die möglichen und unüberseh­ bar vielfältigen Handlungskontexte bestimmen die Bedeutung der jeweiligen Sprachspiele. Diese »ent-sprechen« jenen Kontexten. W Man kann sich nun fragen, was die Sprachspiele im Plural mit der Sprache in der Einzahl verbindet, da Wittgenstein ja die Pluralität der Sprachspiele betont. Sollte nicht das Spiel das Gemeinsame sein? Die Antwort findet sich in Punkt 66 der Philosophischen Untersuchun­ gen: »Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ›Spiele‹ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ›Es muss ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.« R Anschließend zieht er folgendes Fazit: »Wir sehen ein komplizier­ tes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.« Und es folgt eine weitere Prä­ zisierung: »Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeit‹.«

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W Die »Familienähnlichkeit« macht deutlich, dass es in Wittgen­ steins Sprachspielen kein Element mehr gibt, das ihnen allen gemein­ sam ist. Die Vorstellung einer solchen Identität muss aufgegeben werden. Ein mit sich selbst identisches »Wesen« der Dinge gehört der sprachphilosophisch überwundenen metaphysischen Vergangen­ heit an. R Das Gemeinsame der Sprachspiele wird nicht durch ein metaphy­ sisches Wesensmerkmal bestimmt, sondern nur durch Ähnlichkeit. Wittgenstein verdeutlicht dies am Beispiel ›Zahl‹: »Warum nennen wir etwas ›Zahl‹? Nun, etwa, weil es – direkte – Verwandtschaft mit manchem hat, was man bisher Zahl genannt hat; und dadurch, kann man sagen, erhält es eine indirekte Verwandtschaft zu anderem, was wie auch so nennen. Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern allein, dass viele Fasern einander übergreifen.« W Das Gemeinsame der Sprachspiele hat keinen roten Faden, son­ dern es ergibt sich aus Ähnlichkeiten. Nach diesen Ausführungen über Sprachspiel und Familienähnlichkeit blickt Wittgenstein zurück auf seine frühere Position. »Wenn wir glauben, jene Ordnung, das Ideal, in der wirklichen Sprache finden zu müssen, werden wir nun mit dem unzufrieden, was man im gewöhnlichen Leben ›Satz‹, ›Wort‹, ›Zeichen‹ nennt. Der Satz, das Wort, von dem die Logik handelt, soll etwas Reines und Scharfgeschnittenes sein.« R Aber je »genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unserer Forderung. (Die Kristallklarheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung) ... die Forderung droht nun, zu etwas Leerem zu werden«. W Gegen das Labyrinthische der Sprache mit mathematischer Logik ankämpfen zu wollen, erinnert an das Anrennen gegen Windmühlen­ flügel. Wittgenstein gesteht: »Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!« Das heißt, zurück zur Sprache des Alltags!

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R Wittgenstein bezeichnet das ursprüngliche Ideal nun als Vorurteil: »Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, dass wir unsere ganze Betrachtung drehen.« Dies bedeutet: »Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.« W Diese Beschränkung auf eine beschreibende Funktion der Sprache hat kein Geringerer als Wilhelm Weischedel zum Anlass einer radika­ len Kritik genommen. Am Ende seines Buches »Die philosophische Hintertreppe« hält er der »Sprachspiel«-Konzeption in dramatischer Diktion entgegen: »Damit hat die traditionelle Philosophie ausge­ spielt. Was bei Wittgenstein heraufzieht, ist ihr Untergang.« R Die elegante Leichtigkeit, »ausgespielt« zu haben, geht gleitend über in die schwerwiegende Prognose eines »Untergangs« der tradi­ tionellen Philosophie. Das haben wir in die Überschrift dieses Kapitels übernommen. Aber wie stehen wir dazu? W Zunächst einmal ist die Prognose durch die weitere Entwicklung der Sprachphilosophie widerlegt worden. Philosophen nach Wittgen­ stein haben die Bedeutung der Sprache für das Denken erkannt. Die Rede vom »linguistic turn« setzte sich durch. Im angloamerikanischen Bereich führte diese Wende zu John Austins »ordinary language philosophy«. Sie entwickelte die Philosophie der »Sprachspiele« zu einer Philosophie der »Sprechakte«. R Im deutschen Sprachraum ist Karl-Otto Apels zweibändige »Transformation der Philosophie« zu erwähnen. Sie transformierte die Bewusstseinsphilosophie in Sprachphilosophie und begründete ein »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« als ideale Bedingung realer Kommunikation. W Das kann die These stützen, dass die Sprache dem Denken vor­ ausgeht und dieses sogar bestimmt. Mit Sprache kann manipuliert werden. Der Roman »1984« von George Orwell ist dafür ein überzeu­ gendes Beispiel. R Mit Wittgensteins beschreibender Funktion der Sprache ist der Anspruch verbunden, das Metaphysische aus der Philosophie zu verbannen. »Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ›Wissen‹, ›Sein‹, ›Gegenstand‹, ›Ich‹, ›Satz‹, ›Name‹ – und das Wesen des Dings

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zu erfassen trachten, muss man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.« W Seit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen ist der Glaube an metaphysische Wesenheiten zunehmend abhandenge­ kommen. Diese Form des Unglaubens brachte auch das Denken in singulären Einheiten in Misskredit. Pluralität lautet nun die Forde­ rung. R Obwohl die Pluralität der Sprachspiele für Wittgensteins Spät­ philosophie konstitutiv ist, setzt Weischedels Untergangsprognose an der beschreibenden Funktion der Sprache als solcher an. »Die« Sprache im Singular ist aber Thema des Tractatus – und nicht der Philosophischen Untersuchungen. W Wäre die Pluralität der Sprachspiele berücksichtigt worden, hätte Weischedels Prognose nur auf die Sprachspiele der Metaphysik und deren Untergang bezogen werden dürfen. Dieser Untergangspro­ gnose hätten wir gern zugestimmt. R Noch offen ist unsere Stellungnahme zu dem bekannten Aphoris­ mus: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Im Rahmen des Tractatus hieß das für Wittgenstein: Die Welt existiert nicht an sich, sondern nur in sprachlich exakt erfassten Sachverhalten. Wo diese exakte Erfassbarkeit in elementaren Sätzen endet – wie bei allen metaphysischen Wesenheiten –, endet die Welt. W Die Philosophischen Untersuchungen pluralisieren nicht nur die Sprache, sondern auch die Welt: Sprachspiele erschließen nicht »die Welt« (»alles, was der Fall ist«), sondern die vielen Welten, in denen Wörter gebraucht werden, die für die Mitspielenden etwas bedeuten. R Der Sache nach sind wir damit an den Ursprung allen dialogischen Philosophierens zurückgekehrt: zur Quelle der frühplatonischen Dia­ loge. Im zweiten Kapitel haben wir darzulegen versucht, was das origi­ nale Nichtwissen des Sokrates für das Prinzip seines Philosophierens

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bedeutet: den Verzicht auf absolutes Wissen, abschließend definierte Klassifikationsbegriffe und monologische Deduktionen in Fragen eines guten, tugendhaft gelebten und dadurch gelingenden Lebens. W Der von uns als exemplarisch interpretierte Dialog »Laches« kann durch die Brille des späten Wittgenstein als Sprachspiel der Ethik gele­ sen werden. Sein Thema, die Tugend der Tapferkeit, hat keine andere Bedeutung als jene, die durch den Gebrauch des Wortes »tapfer« im Sprachspiel zwischen Laches, Nikias und Sokrates bestimmt wird. R Wer mehr Exaktheit verlangt, möge das prominente Scheitern des Versuchs einer Logifizierung der Sprache im Tractatus bedenken und den spielerischen Charakter des Sprechens in den Philosophischen Untersuchungen ernst nehmen.

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