Hölderlins Fluchtlinie Griechenland [1 ed.]
 9783666352102, 9783525352106

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Jürgen Link

Hölderlins

Fluchtlinie Griechenland

Jürgen Link

Hölderlins Fluchtlinie Griechenland

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rico Lins Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-35210-2

Gewidmet dem Andenken an David Link (1984–2019)

Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. »Was ist es, das / An die alten seeligen Küsten / Mich fesselt, daß ich mehr noch / Sie liebe, als mein Vaterland?« Hölderlins mehrpolige Fluchtlinie Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1. Von Der Main bis Griechenland: die mehrpolige Fluchtlinie nach Griechenland als Strukturprinzip einzelner Gedichte . . . 24 2.1.1. Der Main und Der Nekar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1.2. Gesang des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.3. Thränen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.4. Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.2. Noch einmal: Hölderlins griechische Fluchtlinie und die Schlüsselrolle der naturgeschichtlichen Isotopie    . . . . . . . 33 2.2.1. Der Fächer der Isotopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2.2. Die naturgeschichtliche Isotopie in der griechischen Fluchtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.3. Modellsymbolik und die exzentrische Bahn als Konzept der Fluchtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.2.4. Die griechische Natur ist keine Metapher . . . . . . . . . 44 2.2.5. »weil / Ohne Halt verstandlos Gott ist« (SA II1, 163): Äther und Gefäß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2.6. Naturgeschichte und Poetologie: »Organ« und »Reines« 51 2.2.7. Die griechische Fluchtlinie als Quintessenz aller polysemischen Verfahren zur Integration der Isotopien 52 2.2.8. Interne Widersprüche und die Zeitstruktur der griechischen Fluchtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.3. Das erste Gesamtkonzept der Fluchtlinie im Hyperion . . . . . 55 2.3.1. Hyperion der Neugrieche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.3.2. Neugriechenland als Hellas »in dürftiger Zeit« und problematisches Analogon Deutschlands . . . . . . . . . 75 2.3.3. Armes Volk, armer Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.3.4. Nächstens nichts mehr: Hyperions rätselhaftes Ende . . 79 2.4. Brod und Wein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

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2.5. Den Archipelagus lesen, oder: Wie konkret ist Hölderlins Utopie einer »griechischen« As-Sociation? . . . . . . . . . . . . 95 2.5.1. Zwei Typen von Einsamkeit: Das Konkurrenzsubjekt und das »heroische Eremitenleben« (II , 372) . . . . . . . 102 2.5.2. Exkurs: Volksabstimmung als dionysisches Delirium. Eine aktualistische Applikation . . . . . . . . . . . . . . 104 2.6. Die Wanderung. Hölderlins erstaunlicher Mythos einer deutsch-griechischen Urszene . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2.7. Eine Luftreise nach Griechenland: Patmos . . . . . . . . . . . . 117 3. Hölderlins Neugriechenland: Von den jonischen Inseln bis zur Küste Joniens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.1. ›Der Vatikan‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.2. Magna Graecia und Gallia Graeca . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Der griechische Christus: Entmythologisierung und neue dionysische Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.1. Entmythologisierung als »höhere Aufklärung« . . . . . . . . . 132 4.2. Beim zweiten Mal stirbt nicht Jesus, sondern Johannes. Eine abweichende Lektüre von Hölderlins Patmos und was aus ihr folgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5. Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1. Inventive Rückkehr zur Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.1.1. Phasen der frühgeschichtlichen Kulturation bei Rousseau und Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.2. Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin . . 171 5.2.1. Adamas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.2.2. Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.2.3. Der moderne Empedokles Rousseau gegen den modernen Strato Napoleon . . . . . . . . . . . . . . 185 5.2.4. Der Rhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.2.5. Frühgriechische und frühorientalische Naturmenschen und ›Natur‹-Kulturmenschen bei Rousseau und Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

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6. »Leben die Bücher bald?« Lebenslauf und Poesie – Fluchtlinie und Applikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.1. Pindarische Gnomai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 6.2. Diotima die neugriechische Athenerin . . . . . . . . . . . . . . 203 7. Hölderlins ›deutsch-griechischer‹ Körper . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.1. Äther, Nerven und Klima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.2. Stirn und Schläfe: Osmosen des Gehirns? . . . . . . . . . . . . . 212 7.3. Von Apollo geschlagen: »Schläfen Sausen« in griechischem Klima? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 8. Antik-moderne, griechisch-deutsche Bíoi parálleloi . . . . . . . . . . 218 8.1. Der moderne Chiron und der moderne Herakles . . . . . . . . 219 8.1.1. Chiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 8.1.2. Herakles: »Der Reiniger Herkules, / Der bleibet immer lauter, jezt noch, / Mit dem Herrscher«: Napoleon in Hölderlins »patriotischem Zweifel« . . . . . 225 8.2. Der moderne Achilleus und der moderne Aias . . . . . . . . . . 234 8.2.1. Achilleus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 8.2.2. Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 9. Die griechischen Götter, ›höher aufgeklärt‹ gelesen . . . . . . . . . . 239 9.1. Entmythologisierung I : mythische und naturgeschichtliche Isotopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 9.2. Entmythologisierung II : die frühhistorischen Epochen . . . . . 244 9.2.1. Pindar als Quelle Hölderlins für die frühen Phasen der Kultur nach Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 9.3. Die einzelnen griechischen Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 9.3.1. Zeus = elektrischer Äther (Blitz); befruchtender, lebensgenerierender Äther (goldener Regen, DanaeMythos, Sperma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 9.3.2. Hera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 9.3.3. Apollon und Artemis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 9.3.4. Eros und Aphrodite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 9.3.5. Athena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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9.4. Die Halbgötter Dionysos und Herakles . . . . . . . . . . . . . . 257 9.4.1. Dionysos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 9.4.2. Herakles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 10. Kulturgeschichte ohne Linie: Das griechische Paradigma und Europas inventive Rückkehren nach Griechenland . . . . . . . . . . . 260 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Häufig benutzte Publikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

1. Einleitung

Die folgende Studie versucht, ein seit geraumer Zeit entwickeltes, gegenüber einer Reihe von fest etablierten Topoi des alten und teils auch neuen Mainstreams der Forschung partiell dissidentes Hölderlinbild zu resümieren und gleichzeitig systematisch zu erweitern. Die Facetten dieses Bildes lassen sich am plausibelsten mittels einer erneuten Befragung von Hölderlins Griechenland-Konzepten kon­ stellieren. Dass Hölderlins Bezüge auf Griechenland (der Plural ist angemessen) innerhalb der Goethezeit und gerade auch gegenüber Winckelmann und Weimar unvergleichlich originell sind, konnte von Beginn an nicht übersehen werden. Sieht man auf der einen Seite ab vom banalen Klischee des ›Griechenlandschwärmers‹, das noch jüngst vom Spiegel aufgewärmt wurde, und auf der anderen von Heidegger, der in Hölderlins Griechenlandbegegnung eine dichterische Antizipation seiner Fundamentalontologie zu lesen glaubte, so bleibt auch hier eine Reihe relativ fest etablierter Topoi. Auf einer pragmatischen Ebene dominiert der Topos, dem zufolge Hölderlins Griechenland selbstverständlich Altgriechenland sei1. Dagegen wird im Folgenden die These begründet, dass es bei Hölderlin viel­ mehr um ein Dreieck Deutschland – Neugriechenland – Altgriechenland (oder bei Erweiterung um Frankreich um ein Viereck) gehe. (Schließlich ist Hyperion Neugrieche.) Damit ist nicht geleugnet, dass Neugriechenland ein Deckname für Hölderlins Deutschland zu sein scheint: Aber gerade auch ein Deckname – oder der Symbolisant einer symbolischen Struktur – ist sowohl konzeptuell wie ästhetisch von hoher Relevanz. Hinzu kommt, dass die neugriechische Welt Hyperions bis in die letzten Texte vor dem Zusammenbruch von 1806 wiederkehrt. Hölderlins Faszination Griechenland besitzt also auch eine neugriechische Komponente, wie es in der Hymne Die Wanderung (s. u. Kap. 2.6.) heißt:          doch Menschen Ist Gegenwärtiges lieb. Drum bin ich Gekommen, euch, ihr Inseln zu sehn, und euch, Ihr Mündungen der Ströme, Hallen der Thetis, Ihr Wälder, euch, und euch, ihr Wolken des Ida! (I , 3392)

1 Exemplarisch etwa Schmidt, »Griechenland als Ideal und Utopie«. (Die Belege werden in Form von Kurztiteln gegeben, die vollständigen Titel im Literaturverzeichnis. Titel, die dort nicht aufgeführt sind, sind in den Fußnoten vollständig wiedergegeben.) 2 Römische Ziffern plus Seitenangabe beziehen sich auf die Bände der Münchner Ausgabe Hölderlins von Michael Knaupp. Siehe dazu die Kopftitel des Literaturverzeichnisses am Schluss.

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Ein weiterer Topos betrifft Hölderlins großenteils (alt-)griechisch kodierte ›Religion‹, deren Quelle im als selbstverständlich vorausgesetzten »Pietismus« seiner Jugend gesucht wird3, so dass man von einer These des säkularisierten Pietismus sprechen kann. Diese These wird paradox, sobald (wie seit geraumer Zeit überwiegend) Hölderlins strikt monistisches Weltbild bis in die späte Zeit nicht infrage gestellt wird. Es ergeben sich dann die Probleme des (vor allem griechisch-christlichen) »Synkretismus«4, die es also ebenfalls zu diskutieren gilt: Es wird sich erweisen, dass Synkretismus nicht als Versöhnung von Ant­ agonismen missverstanden werden darf, sondern in seiner radikalen Selektivität solche Antagonismen gerade akzentuiert. Zu dieser Problematik zählt konkret auch der fundamentale Topos, dem zufolge Hölderlins ›Religion‹ mit ihrer altgriechisch-mythischen Kodierung als Offenbarung numinoser, mit einer szientifisch-aufgeklärten Weltsicht inkompatibler »Götter« gelesen werden müsse (bei Heidegger und seinen Nachfolgern als Offenbarung fundamentaler An-Sprüche des Seyns). Dagegen wird in den abschließenden Kapiteln der Studie dafür plädiert, Hölderlins Konzept einer »höheren Aufklärung« nicht anachronistisch mit Vorstellungen des 20. Jahrhunderts über ›das Numinose‹ im Sinne Walter Friedrich Ottos oder Rilkes zu füllen, sondern im Rahmen eines zwar ganz originellen, aber auf der aufgeklärten Episteme von 1800 basierenden, transzendentalistisch erweiterten Neospinozismus und Neorousseauismus zu lesen. Schließlich soll gefragt werden, inwiefern Hölderlin seinen hoch »reizbaren«, einer »zyklotonen« Nervosität ausgelieferten Körper und dessen Ereignisse, ja Katastrophen, mit griechischen Mythemen glaubte fassen zu können (»kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen«5). Bei der Entwicklung solcher Alternativen gilt es stets, nicht vorschnell über die Dunkelheiten mancher Texte hinwegzugleiten, sondern Rätsel zunächst als solche einzugestehen, auf beschwörende Paraphrasen zu verzichten und quasi-religiöse Applikationen nicht an der Stelle eines rational vermittelbaren Wissens über Hölderlins »griechische Götter«6 einzusetzen. Wesentliche Elemente des im Folgenden zu begründenden Hölderlinbildes wurden bereits in der Studie Hölderlin-Rousseau: Inventive Rückkehr sowie in

3 Im Resultat kritisch dazu Priscilla A. Hayden-Roy (»Zwischen Himmel und Erde«). Die positiven Belege sprechen insbesondere dagegen, dass Hölderlin jemals Oetinger studiert haben könnte, was jedoch ein großer Teil der Forschung als eine Art ›Axiom‹ voraussetzt. 4 Die wesentliche Kategorie Jochen Schmidts zur Kennzeichnung von Hölderlins »Religion« (DKV  I , 725; Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, 31, 47, 52, 222 ). Es kann allerdings nicht verschwiegen werden, dass Hölderlin Begriff und Konzept des »Synkretismus« in anderem Kontext strikt ablehnte (II , 793; an Schelling: »ohne Leichtsinn und Synkretismus«, Hervorhebung Hölderlin; ebenso an Ebel: HJb 31, 29). 5 II , 921. 6 Hölderlin benutzt wie seine Zeitgenossen häufig die lateinischen Formen der griechischen Götter (Jupiter statt Zeus, Juno statt Hera usw.). In diesem Buch werden durchgängig die griechischen Formen verwendet.

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verstreuten Aufsätzen publiziert7. Diese Dispersion hat dazu beigetragen, dass einige Grundthesen vielleicht nicht deutlich genug in ihrem Zusammenhang konstelliert erschienen. Dies soll durch die vorliegende Studie mit ihrer erweiternden und systematisierenden Profilierung kompensiert werden. Dabei geht es um die folgenden Thesen, die zum einen die Spezifik des vorliegenden Projekts kennzeichnen und zum anderen den Gang der Studie in seiner um Griechenland konstellierten narrativen Entwicklung und gleichzeitigen Systematik exponieren sollen: Erstens die fundamentale Arbeitshypothese, der zufolge bei der Lektüre der poetischen Sprache Hölderlins deren einzelne »Isotopien« im Sinne des Semio­ tikers Algirdas Greimas8, also die semantisch kohärenten Teilachsen eines Tex­ tes, bildlich gesprochen die einzelnen ›Fäden‹ im ›Gewebe‹ des Textes (textum), stets explizit und systematisch berücksichtigt und analysiert werden müssen. Diese Arbeitshypothese setzt voraus, dass jede poetische Sprache, insbesondere aber die Hölderlins, polyisotopisch (in musikalischer Analogie ›mehrstimmig‹) strukturiert ist. Das lässt sich am einfachsten an symbolischen Strukturen erläutern. So spielt die Ode Ganymed auf mindestens zwei deutlich verschiedenen Isotopien: einer naturgeschichtlichen, konkret geographisch-meteorologischen (Auftauen eines vereisten Flusses) und einer mythischen (Zeus entführt Ganymed). Insofern hat jede Hermeneutik immer Isotopien berücksichtigt, wenn auch nicht immer systematisch. Daraus ergibt sich meine anschließende und konkretisierende Arbeitshypothese, der zufolge der Fächer der in der Hölder­ linforschung topisch berücksichtigten Isotopien unbedingt durch eine »natur­ geschichtliche« Isotopie ergänzt werden muss.9 Der Fächer der topischen Isotopien umfasst die biographische (so könnte man die Formulierung »irr gieng er nun« in Ganymed auf eine unterstellte Angst Hölderlins vor drohendem Irrsinn beziehen wollen), die intertextuelle (wenn man etwa verschiedene Fassungen des Ganymed-Mythos zum Vergleich heranziehen würde), die poetologisch-­ autoreflexive (wenn man den Ausbruch des Flusses mit einem rhythmischen Prozess korrelieren möchte), die philosophische (in Ganymed ohne Evidenz), die theo-logische bzw. ›religiöse‹, wenn man wie Jochen Schmidt an den pietistischen »Durchbruch« denkt (DKV, 776 f.), einschließlich der griechisch-­mythologischen (sie ist im Text evident: Mythos von Zeus und Ganymed), sowie die kairolo-

7 Siehe die Kopftitel des Literaturverzeichnisses (die Monographie künftig abgekürzt als HR). 8 Algirdas J. Greimas, sémantique structurale. recherche de méthode, Paris 1966, 69–101; dt. Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen, Braunschweig 1971, 60–92. Das Modell kann hier nur stark vereinfachend, heuristisch-resultativ eingesetzt werden. 9 »Naturgeschichte« im Sinne des 18. Jahrhunderts, also deskriptiv-taxonomische, synchronische Wissenschaft nach Foucault, s. u. dazu ausf. Kapitel 2.2. – also nicht im diachronisch-historischen Sinne Benjamins und der Frankfurter Schule.

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gisch-politische (wenn man an einen aktualhistorisch konnotierten befreienden ›Durchbruch‹ denken möchte10). »Naturgeschichte« ist zunächst im Sinne einer taxonomischen, synchronisch vergleichend und ordnend deskriptiven Episteme11, also nicht schon entwicklungstheoretisch und »historizistisch« wie bei Hegel aufzufassen. Zu dieser Episteme gehört exemplarisch die Klimatheorie, die für die Differenz zwischen Deutschland und Griechenland seinerzeit topisch bemüht wurde und verschiedene Körper-Typen implizierte. Wie aber zu zeigen sein wird, hat Hölderlin ein Griechenlandbild entwickelt, das weder rein taxonomisch noch rein historizistisch einzuordnen ist. Vielmehr orientierte er sich vor allem an Rousseaus origineller Geschichtsphilosophie einer inventiven Rückkehr zur Natur (dazu ausf. Kap. 5). Wenn Hölderlins Schreibweise unter ästhetischem Aspekt also als polyiso­ topisch-musikalisch (›mehrstimmig‹) erscheint, so entspricht dem unter dem Aspekt des Wissens (epistemologisch) eine entschieden »interdiskursive« Struk­ tur, die verschiedene Wissensbereiche (Diskurse, einschließlich quasi-wissen­ schaftlicher Spezialdiskurse) kombiniert. Unter diesen Diskursen wurde – so die These – der naturgeschichtliche häufig übersehen, während ihm in vielen Texten sogar eine dominante Funktion zufällt. Das gilt gerade auch für den Chronotopos Griechenland. Zweitens die fundamentale Arbeitshypothese, der zufolge griechische Figuren, Motive und Themen in der Regel ›zweistimmig‹ angelegt sind und jeweils eine moderne Stimme besitzen: Konkret erweisen sich neu- wie altgriechische Figurationen als Rousseau-Konnotate (Adamas im Hyperion, Empedokles in der gleichnamigen Tragödie)  bzw. Konnotate im Rahmen von Rousseaus früh­ geschichtlichen Phasen (Chiron-Herakles analog Hölderlin-Napoleon12). Die Analogie zwischen Chiron-Herakles und Hölderlin-Napoleon verbindet innerhalb der Polyisotopie die mythologische als Teil der theo-logischen Isotopie mit der kairologisch-politischen. Diese lange Zeit ebenfalls sträflich vernachlässigte oder deutschnational verzerrte Isotopie ist inzwischen für den Hölderlin des 18. Jahrhunderts (Französische Revolution) transparent, noch nicht aber für den Hölderlin des beginnenden 19. Jahrhunderts (Napoleon). Dem entspricht die Arbeitshypothese der folgenden Studie, nach der auch die kairologisch-­ 10 Alfred Romain dachte sogar an die Siege Napoleons (»Ganymed«, 84). Obwohl ich Napoleon als Hölderlins ›zweifelhaften Halbgott‹ ausführlich behandeln werde, bezweifle ich allerdings diese Konnotation im Fall von Ganymed. 11 Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, 140–176; dt. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main1974, 168–210. 12 Der Begriff wird für Napoleon Bonaparte sowohl vor wie nach der Kaiserkrönung 1804 verwendet. Eigentlich müsste für die Zeit vorher »Bonaparte« hinzugefügt werden (der Unterschied war auch für Hölderlin wichtig, wie in mehreren Kapiteln ausgeführt wird).

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politische Isotopie durchgängig stärker zu berücksichtigen ist. Die entsprechende Isotopieanalyse kann manche typischerweise deutsch-französischen Kontroversen seit jener um die Friedensfeier (ist der »Fürst des Fests« der republikanische Konsul Napoleon Bonaparte?) und um den »Jakobinismus« Hölderlins wenn nicht entscheiden, so doch auf rationale Entscheidungsgründe eingrenzen. Die politische Isotopie Hölderlins ist wesentlich »kairologisch«-politisch: Es geht ihr in der Politik stets um Kairoí, also kulturrelevante Ereignisse. Konkret geht es ihr vor allem aktualhistorisch um den Kairos von 1800, in dem Hölderlin die Potentiale der Französischen Revolution und Napoleons für eine neue ›Natur‹-Kultur13 zu explorieren suchte. Diese Utopie, wie man meistens sagt, stand in einem widersprüchlichen, doch konstitutiven Verhältnis zur exemplarischen altgriechischen ›Natur‹-Kultur, deren Unwiederholbarkeit Hölderlin im Laufe seiner Explorationen stets deutlicher wurde. Drittens die fundamentale Arbeitshypothese, der zufolge die griechischen mythischen Figuren, Motive und Themen in der Regel ebenfalls ›zweistimmig‹ angelegt sind und jeweils eine »höher aufgeklärte«, entmythologisierte Bedeu­ tung besitzen. Hölderlins Gott, seine Götter und seine Halbgötter lassen sich auf diese Weise präzise und ohne Rückgriff auf irrationale Numina als Erscheinungsformen der spinozistischen Deus-Natura-Potentia lesen. Um die beiden wichtigsten Beispiele für Halbgötter zu nennen: Rousseau ist ausweislich der Rheinhymne (Der Rhein) der einzige zweifelsfreie moderne Halbgott, Napoleon Bonaparte vermutlich ein weiterer, aber ›zweifelhafter‹. Es gibt eine Art Schibboleth, das für das im Folgenden zu entfaltende Hölderlinbild und gegen seine topischen Alternativen spricht. Es handelt sich um die einzige zweifelsfrei von Hölderlin nach 1800 formulierte und überlieferte Definition »Gottes« in nicht mythischer, sondern »höher aufgeklärter« Sprache. Sie befindet sich im Brief aus Hauptwil an den Bruder vom März 1801: Wie wir sonst zusammen dachten, denke ich noch, nur angewandter! Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem Allem ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott! (II , 898) Es erscheint mir symptomatisch, dass dieses Axiom, wie man es nennen könnte, in den Tausenden von Seiten über Hölderlins »Religion« selten zitiert und noch seltener in seiner axiomatischen Bedeutung expliziert wird14. Es liefert jedoch 13 Rousseau, Hölderlin und das 18. Jahrhundert setzen einen ›natürlichen‹ Ursprung des Menschen, der Sprache und der Kultur voraus. Da es sich bei dem ›Naturzustand‹ allerdings nicht um eine positiv-empirische Gegebenheit, sondern um eine ideale Projektion handelt, dienen im Folgenden die Anführungszeichen dazu, diesen Umstand nicht zu vergessen. 14 Wenn ich nichts überlesen habe, wird es in dem Hölderlins Religion gewidmeten Schwerpunktband des HJb 39 (2014/15) nicht ein einziges Mal zitiert. Den Kontext von Fichte und Spinoza bestätigen jedoch Bennholdt-Thomsen/Guzzoni (Analecta [I], 77 f.), die ›Subjektlosigkeit‹ Beyer, der das Forschungsdefizit bestätigt (Mythologie und Vernunft, 104).

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evidenterweise den Schlüssel zu bekannten mythischen Formeln wie der Analogie zwischen den ›Göttern‹ (den »Himmlischen«) und einem schlafenden Säugling in Hyperions Schicksalslied (I , 745; eigentlich Schicksalslied der mit Rousseau konnotierten Figur des Adamas15) oder der rätselhaften Definition in der achten Strophe der Rheinhymne16: Es haben aber an eigner Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen Die Himmlischen eines Dings, So sinds Heroen und Menschen Und Sterbliche sonst. Denn weil Die Seeligsten nichts fühlen von selbst, Muß wohl, wenn solches zu sagen Erlaubt ist, in der Götter Nahmen Theilnehmend fühlen ein Andrer […]. (I , 345) Wie schon erwähnt, lässt sich beim Hölderlin der Hymnen nach 1800 ein »Synkretismus« zwischen griechischen und christlichen »Göttern« bzw. »Halb­ göttern« beobachten. Das zeigt sich etwa bei dem berühmten »Kleeblatt« der drei »Halbgötter« Dionysos, Herakles und Christus17  – auch dieser Synkretismus kann ohne die in dem Briefzitat von 1801 gegebene, Fichtes Theorie vom Ich und Nicht-Ich radikal revidierende Definition nicht sinnvoll diskutiert werden, wie in den Schlusskapiteln der vorliegenden Studie ausgeführt wird. Schließlich: Hölderlins innerhalb der Goethezeit unverwechselbare Faszi­ nation durch Alt- wie Neugriechenland wird in einer Reihe von Kontexten mit der Kategorie der »Fluchtlinie« (ligne de fuite) zu beschreiben versucht. Diese Kategorie haben Gilles Deleuze und Félix Guattari im Rahmen ihrer »Schizo-Analyse« (als Alternative zur Psychoanalyse Lacans) zunächst als Phantasie und Praxis des Entweichens aus einem despotisch-paranoiden geschlossenen System von Zeichen entwickelt18 und zuvor bereits am Beispiel Kafkas für litera­rische Texte exemplarisch konkretisiert19. Fluchtlinie meint dabei sowohl den Weg einer realen befreienden Flucht wie die (wenn man will: utopische) 15 »ein Schicksaalslied […], das ich einst in glüklicher unverständiger Jugend meinem Adamas nachgesprochen« (I , 744). 16 Der Begriff der Hymne wird in dieser Studie wie überwiegend üblich als Genreterminus verwendet (für die ›höhere‹, pindarische Ode), trotz des Einspruchs von Ulrich Gaier (»›Heilige Begeisterung‹«). 17 (Der Einzige:) »So sind jene sich gleich. Erfreulich. Herrlich grünet/ Ein Kleeblatt. […] Wie Fürsten ist Herkules. Gemeingeist Bacchus. Christus aber ist/ Das Ende« (I , 469). 18 Deleuze/Guattari, Mille Plateaux, 153 ff. Es gehört nicht zum Projekt der vorliegenden Untersuchung, die Dokumente über Hölderlins psychische Krankheit (hypothetisch eine Form von Schizophrenie) im Rahmen einer schizoanalytischen Annäherung neu zu untersuchen. Dies wäre ein eigenes Projekt. 19 Deleuze/Guattari, Kafka.

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perspektivische Aussicht auf einen unbekannten freien Raum. Hölderlins berühmter Vers »Komm! ins Offene, Freund!« (I , 308) gewinnt seine Energie aus diesem doppelten Aspekt der Fluchtlinie. Wie zu zeigen sein wird, kristallisiert sich der gleiche Gestus, nur noch mächtiger wenn möglich, in dem Vers aus Brod und Wein: »Drum an den Isthmos komm!« (I , 374) Hölderlin empfand von Jugend an sein Deutschland als Gefängnis, und zwar wie bei einer russischen Puppe ganz real in Gestalt mehrerer geschachtelter »Behälter«20: Familie21, Kloster, lakaienhafte Hofmeisterexistenz, Kleinstaat, »zerrissene« und nichtsouveräne Nation. Drei Bücher wiesen ihm Fluchtlinien nach Griechenland, und zwar zunächst nach Neugriechenland: Wilhelm Heinses Ardinghello sowie die beiden Griechenlandreisen von Chandler und Choiseul. Die griechischen Orte dieser drei Bücher »schwebten ihm vor« (im Wortsinne) mindestens bis in den Zusammenbruch von 1806. Es wird allerdings zu zeigen sein, dass die Fluchtlinie von Deutschland nach Griechenland keineswegs eindeutig wie ein offenes Gefängnisfenster vorgestellt werden darf, sondern sehr komplex und sehr widersprüchlich ist: sowohl am deutschen Ausgangs- wie am griechischen Zielraum, zwischen Deutschland, Neu- und Altgriechenland (sowie oft auch zusätzlich Frankreich), zwischen Natur mit ihren »Göttern« und Kultur mit ihrer Politik – schließlich über Griechenland hinaus in den Orient und weiter in die orientalische »Wüste« weisend wie im Paradigma des jüdischen Exodus bei Deleuze und Guattari22. Weil Ausgangs- und Zielraum der griechischen Fluchtlinie vierpolig ist (Deutschland – Frankreich – Neugriechenland – Altgriechenland), spreche ich von der »tetrapolaren« Fluchtlinie Hölderlins. Sie zielt auf »offene« Perspektiven, wozu jene Wunschbilder gehören, die man häufig mit dem Begriff der »Utopie« zu fassen sucht. Die analytisch-deskriptive Engführung von Isotopieanalyse und heuristischem Fluchtlinienkonzept zeitigt in ihrer Durchführung dann nicht bloß Resultate für Hölderlins Wissenswelten im Interdiskurs, sondern gerade auch für die ästhetischen Inventionen: So fügt sich die dem Wunschbild der Fluchtlinie folgende Kombination von Isotopien nicht dem Geschlossenheits- und Symmetrieprinzip des gräzisierenden Klassizismus, sondern generiert offene und asymmetrische, zäsurierte und fragmentierte Strukturen. Das lässt sich exem 20 Erster Böhlendorffbrief: »Denn das ist das tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn […]« (II , 913). Dabei ist als letzter und engster Gefängnis-»Behälter« der Sarg gemeint. Hölderlin hat mit dem Begriff die aktuelle »Container«-Kultur antizipiert. 21 »Denn kaum geboren, warum breitetet/ Ihr mir schon über die Augen eine Nacht, / Daß ich die Erde nicht sah und mühsam / Euch athmen mußt, ihr himmlischen Lüfte« (I , 356). 22 Deleuze/Guattari, Mille Plateaux, 153 ff. (Den Ödipus-Mythos, der ja ihrem gesamten Projekt den Schlüssel liefert, begreifen sie als paradigmatisch paranoid – in seinem Verlauf gegen Ende dann aber als Umschlag in eine Fluchtlinie: ebd., 156. Das ist Ödipus auf Kolonos und für Hölderlin hoch relevant.)

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plarisch an der Evolution der von Klopstock inspirierten griechischen Metren zwischen asklepiadeischer bzw. alkäischer Ode, hexametrischen Formen und freirhythmischer, neo-pindarischer Hymne verfolgen. Die griechischen M ­ etren sind ästhetische Wunschformen23, die der Sehnsucht entspringen, inventiv zur altgriechischen ›Natur‹-Kultur zurückkehren zu können  – inventiv, weil ja Klopstocks Gleichsetzung von griechischen Längen mit deutschen Akzenten bereits eine ganz andere Ästhetik implizierte. Wie die Verfolgung dieser griechischen Fluchtlinie Hölderlin schließlich sowohl ästhetisch wie konzeptiv in ferne terrae incognitae führte, das gehört nicht zuletzt zur Fluchtlinie der folgenden Studie. Dass Hölderlins mehrpolige griechische Fluchtlinie demnach nicht blockiert nach Altgriechenland, sondern in die Moderne zielte, ist inzwischen eine verbreitete Einsicht. Was aber ist mit »Moderne« gemeint? Eine strikt autoreflexive Poesie? Eine Textlandschaft für Grabungen nach unbewusst produziertem Nebensinn oder nach Spuren des Seyns? Die folgende Studie soll zeigen, dass jede Antwort auf diese Frage von der einzig sicheren Moderne ausgehen muss, der Moderne Hölderlins von 1800, wie eine Analyse der griechischen Fluchtlinie sie eröffnen kann. Das detaillierte Inhaltsverzeichnis soll auch eine neugierig-selektive, von der strikt chronologischen abweichende Lektüre ermöglichen. In einigen Kapiteln wurde der mündliche Gestus des Vortrags24 beibehalten: ein kleiner »Wechsel der Töne«.

23 Deleuze und Guattari würden sagen »Wunschmaschinen« (machines désirantes), wobei sie eine biologische und semiotische, gerade auch inventive Konstitution des Begriffs implizieren, die in seiner deutschen Version fehlt. 24 Einige Kapitel beruhen auf Vorträgen – die bereits publizierten darunter wurden überarbeitet, geändert und in die Gesamtargumentation integriert.

2. »Was ist es, das / An die alten seeligen Küsten /  Mich fesselt, daß ich mehr noch / Sie liebe, als mein Vaterland?« Hölderlins mehrpolige Fluchtlinie Griechenland Als der Spiegel im Juli 20151 seine Kulturredakteure2 aufbot, um seinen kultu­ rellen Beitrag zum seinerzeit ›angesagten‹ Veto der deutschen Entscheidungseliten gegen Verhandlungen über einen substantiellen Schuldenerlass für Griechenland zu leisten, musste Hölderlin als kultureller Repräsentant der deutschen Philhellenen herhalten, deren politisch-aktuelle Stimme im 21. Jahrhundert es damals zu verspotten oder totzuschweigen galt. Das bekannte Porträt des jungen Hölderlin, groß und in Farbe3, wurde folgendermaßen in Worte übersetzt: Das Beispiel Hölderlins allein genügte, die Wirkmächtigkeit der antiken Bezüge zu belegen, es genügen einige Zeilen aus den Tiefen unserer eigenen Kulturgeschichte, um mitten hineinzufinden in das komplizierte, einst so innige Verhältnis zwischen Griechen und Deutschen. Also schrieb Hölderlin, ein Schwabe, aus der Perspektive des Hyperion, eines glücklichen Griechen, in dessen Rolle er schlüpfte: Es wird dann der Beginn der sogenannten Deutschenschelte aus dem Hyperion zitiert. Und dagegen wird von Hölderlin, natürlich, feierlich, der Grieche gesetzt, der echte Mensch, frei, göttlich, begabt zu Kunst und Liebe und Größe. Griechenland: ist Wärme, ist Feinheit, ist hell. Deutschland: ist Kälte, ist Grobheit, ist finster. Selbstverständlich [sic, J. L.] war Hölderlin selbst nie in Griechenland, er ist eine Art Karl May der Antikenverehrung, er ließ sich inspirieren von den Werken der großen Alten, von den kulturellen Fragmenten und Darstellungen, sie boten schon genug Stoff für die romantische Imagination. Ergänzend dazu heißt es als Quintessenz in großer Untertitelschrift: Der Fall Griechenland bringt das romantische Europäertum an sein Ende. Gerade die Deutschen haben sich lange ein falsches, häufig verklärtes Bild von den Griechen gemacht. Das erklärt die Fallhöhe ihrer Enttäuschung. (17) 1 Schwerpunkt Unsere Griechen. Annäherung an ein seltsames Volk (11.7.2015). 2 Ullrich Fichtner, Nils Minkmar, Alexander Smoltczyk. 3 Auf Seite 19; Bildunterschrift: »Dichter Hölderlin: Finanzmanager haben keinen Sinn für Romantik«.

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»Selbstverständlich« musste aus dem Beginn der Deutschenschelte die Selbstidentifikation Hyperions mit Ödipus weggekürzt werden: Hyperion-Ödipus ein »glücklicher Grieche«? Es ist nur schwer zu begreifen, aber evident: Der KulturSpiegel hält Hyperion für das Klischee eines Altgriechen. Diese diskursive Version des Hölderlinporträts lässt sich demnach in drei Worten resümieren: ›romantischer Griechenlandschwärmer‹. Jedes dieser drei Worte tritt mit der Evidenz einer Binsenweisheit auf  – jedes ist jedoch zu problematisieren und gegen seinen unterstellten banalen Sinn zu wenden. Es gilt also, das verzweifelt ernste ›Geständnis‹ Hölderlins zu Beginn der Christushymne Der Einzige nicht bereits als implizite Antwort zu lesen, sondern als Frage (siehe das doppelte Frage­zeichen) ernst zu nehmen: Was ist es, das An die alten seeligen Küsten Mich fesselt, daß ich mehr noch Sie liebe, als mein Vaterland? Denn wie in himmlische Gefangenschaft verkaufft Dort bin ich, wo Apollo gieng In Königsgestalt, Und zu unschuldigen Jünglingen sich Herablies Zevs und Söhn’ in heiliger Art Und Töchter zeugte Der Hohe unter den Menschen? (I , 387, 467) Mit Vaterland ist an dieser Stelle aller Wahrscheinlichkeit nach Deutschland gemeint4. ›In Gefangenschaft verkauft‹ konnotiert die noch im 18. Jahrhundert virulente Sklavenjagd der Barbaresken-Korsaren, also der nordafrikanischen Piraten, die unter der osmanischen Herrschaft aus der Gefangennahme von Europäern, die sie dann als Sklaven verkauften, ein lukratives Geschäft gemacht hatten (Hyperions Freund Alabanda war übrigens in seiner Jugend Korsar). Wie immer diese Analogie zu präzisieren wäre  – dass sie mit Schwärmerei nichts 4 Während bei Hölderlin auch die alte Bedeutung von Vaterland als Kleinstaat (Württemberg) noch vorkommt, setzt sich bei ihm – wie auch in weiten Teilen der Intelligenz – unter dem Einfluss der Französischen Revolution mehr und mehr die nationale Bedeutung durch. Deutschland kann, was im Weiteren näher zu erörtern bleibt, im europäischen Kontext zwei recht verschiedene Positionen einnehmen: Es kann als repräsentativer Teil »Hesperiens«, also des modernen Nordwesteuropa, dienen und ist dann homolog mit insbesondere Frankreich, Italien und England. Oder es bildet innerhalb Nordwesteuropas einen Gegensatz vor allem gegen Frankreich und zeitweilig Italien als Länder auf dem Wege zu einer modernen Demokratie. In dieser zweiten Position, die insbesondere bis zu Napoleons Kaiserkrönung 1804 dominiert, rückt Deutschland an die Seite Neugriechenlands, während von der französischen Entwicklung lange Zeit auch kontrafaktisch eine Renaissance Altgriechenlands erhofft wird.

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zu tun hat, ist evident. Griechenland meint hier Altgriechenland (auch wenn Hölderlins ständige Schreibung »Zevs« auf der neugriechischen Aussprache beruhen könnte). Gehöret hab’ ich Von Elis und Olympia, bin Gestanden oben auf dem Parnaß, Und über Bergen des Isthmus, Und drüben auch Bei Smyrna und hinab Bei Ephesos bin ich gegangen; (I , 388) Nun wissen wir doch aus dem Spiegel, dass Hölderlin nie in Griechenland gewesen ist; es scheint sich also um eine Phantasiereise auf der Basis von Reisebeschreibungen zu handeln. Die ihnen zugrunde liegenden Reisen nach Griechenland, real Chandler und Choiseul, fanden in Hölderlins 18. Jahrhundert, also zeitgenössisch statt – das bedeutet aber: Die Autoren durchreisten Neugriechenland, wo sie den Ruinen Altgriechenlands begegneten. Wir haben es also mit vier geographisch-kulturellen Polen zu tun: Deutschland bzw. Nordwesteuropa (Hesperien), darin exemplarisch das revolutionierte Frankreich, dann Neugriechenland und schließlich Altgriechenland. Diese teils tetrapolare (vierpolige), teils ohne Frankreich bloß tripolare (dreipolige) Struktur, wie sie im Folgenden beschrieben werden soll, tritt nun in der Hymne Der Einzige noch deutlicher hervor, wenn im reisenden Ich der zweiten Strophe Hölderlins Alter Ego Hyperion mitgelesen wird. Denn Hyperion hat tatsächlich alle genannten Orte bereist (die Peloponnes mit Adamas und Kleinasien mit Alabanda, den Isthmos von Korinth schließlich während der Verfassung seiner Briefe an Bellarmin). Hyperion aber ist Neu-, nicht Altgrieche – so wie Diotima Neu-, nicht Altgriechin ist. Zur Kennzeichnung dieser tetrapolaren Struktur von Hölderlins Griechenlandfaszination kann das von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelte Konzept einer »Fluchtlinie« (ligne de fuite) verwendet werden. Dieses Konzept begreifen die Autoren als alternativ zum Konzept der Resistenz, des Widerstands. Ligne de fuite konnotiert sowohl Entweichen aus einem Gefängnis bzw. einer blockierten Situation als auch offene Perspektiven auf freie Horizonte für kreative Wünsche, darunter gerade auch erotische, sowohl individuelle wie kollektive. Bei Hölderlin erweist sich die Relevanz des Konzepts in mehrfacher Hinsicht. Zunächst lässt sich eine Art ›Fliehkraft‹ in Richtung Griechenland beobachten, die sich in einer Reihe von Gedichten als ein thematisches ›Ausgleiten‹ bzw. ›Ausweichen/Abweichen‹ (De-viation) zeigt (Der Main, Der Nekar, Gesang des Deutschen). Höhepunkte dieses Sich-ergreifen-Lassens von der Fliehkraft nach Griechenland sind die großen Gedichte Brod und Wein, Der Archipelagus, Die Wanderung und Patmos. Gerade auch die im weitesten Sinne ero­tische Komponente der Fluchtlinie fehlt nicht in Hölderlins ›Griechenlanddrift‹. Diese

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Perspektive spielt im dritten und in konzeptiver Hinsicht wichtigsten von ­Hölderlins Griechenland-Reisebüchern, Heinses Ardinghello, eine absolut dominante Rolle. Dieser Roman ist zwar Fiktion und spielt am Ende des 16. Jahrhunderts im Italien der Renaissance, beschreibt aber ebenfalls Fluchtlinien nach Neu- und Altgriechenland. Für seinen Protagonisten und dessen weiblichen und männlichen Freundeskreis bedeutet Renaissance vor allem Wiedergeburt altgriechischer erotischer Freiheit als notwendiger Bedingung großer Kunst. Diese spezifische Fluchtlinie ist mit dem Motiv des »Nackenden« und dem Traum einer neuen gymnastischen Kultur (wörtlich ja Nacktkultur) verknüpft. Am Ende des Romans flieht die Gruppe um Ardinghello im Wortsinne von Flucht nach Neugriechenland, wo sie eine utopische Kommune auf Paros und Naxos gründet. Heinses teils das Repetitiv-Klischeehafte streifende orgiastische Träume wurden von den Weimarer Klassikern in den Xenien verrissen, scheinen aber den jungen Hölderlin zum intensiven Mitträumen mitgerissen zu haben, wie das Mottozitat zum Hymnus an die Göttin der Harmonie nahelegt: »Urania, die glänzende Jungfrau, hält mit ihrem Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzüken zusammen. Ardinghello« (I , 111). Alexander Honold hat in seiner Studie Nach Olympia5 das interdiskursive Wissensfaszinosum aus Archäologie und Pädagogik rekonstruiert, das sich um die Wiederentdeckung und gleichzeitig aktualisierende Applikation des antiken Olympia auf der Peloponnes seit dem 18. Jahrhundert entwickelte. Dabei betont er zu Recht das Faszinosum der athletischen Nacktheit und der davon untrennbaren intensiven, homotropen »Freundschaft«, das zwar in den deutschen Gymnasien (lucus a non lucendo) durch grammatische und auf rein paramilitärische »Leibesübungen« konzentrierte Disziplinierung abgewehrt werden sollte, sich aber bis in die FKK-Bewegungen des Fin de Siècle um 1900 stets erneut bemerkbar machte. Er sieht ebenfalls in Alabandas und Hyperions Freundschaft überzeugend die athletisch-homotrop-»agonale«, ja kriegerische Komponente betont bis hin zum Wettlaufmodell und zum kameradschaftlichen Krieg6. Zum gymnastischen Motiv im griechischen Sinne gehört die Faszination sowohl Hyperions wie die seines Autors für das Baden und Schwimmen. Man kann also von einer ›gymnastischen Partiallinie‹ im Rahmen von Hölderlins griechischer Fluchtlinie sprechen. Dabei ist innerhalb der mehrpoligen Fluchtlinie unbedingt ein vierter gymnastischer Aspekt zu ergänzen, und zwar ein französischer: Seit dem Direktorium entstand eine neu-griechische Frauenmode, die zwar mit der altgriechischen Nacktheit spielte, dabei aber auch einen Chiasmus der Geschlechter erkennen lässt: In Altgriechenland waren die athletischen Männer nackt und die Frauen bekleidet. Es gehört zur Komplexität von Hölderlins tetrapolarer Fluchtlinie, dass die Attraktivität Neugriechenlands nicht zuletzt in der noch mit Altgriechenland

5 Honold, Nach Olympia. 6 Ebd., 123 ff.

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identischen Naturbasis besteht. Darunter ist zunächst die Identität von gemäßigt solarem Klima, Geographie und Geologie (Meer und Inseln), Vegetation (Oliven) und einer ambivalenten »Armut« der Bewohner zu verstehen, die neben ihrer »Dürftigkeit« doch auch potentielle Naturnähe konnotiert. Diese Physiognomie wird in den Evokationen einer berückend schönen Landschaft vergegenwärtigt, wobei Hölderlin insbesondere im Hyperion mit den Hinweisen seiner Reisequellen verblüffende »Real«-Effekte gelungen sind. Doch ist das, was hier als Basis erscheint, noch systematischer zu verstehen: Hölderlins griechische Landschaften sind von modellsymbolischen Elementen durchzogen. Das Motiv der »Tische«, das bereits in der Einleitung am Beispiel der Ode Ganymed erwähnt wurde, mag als Beispiel dienen: Denkst nicht der Gnade, du, wenn’s an den     Tischen die Himmlischen sonst gedürstet? (I , 444) In der mythischen Isotopie tafelten die Götter auf hohen Bergen (mögliche Konnotation Tafelberge)  – in der naturgeschichtlichen Isotopie entsprechen dem »himmlische« Kräfte als verschiedene Evolutionen des »Äthers«, darunter der thermische Äther, der die chemische Reaktion mit Wasser benötigt, um die Keime der Vegetation zum Leben zu erwecken. Liest man die neugriechische Landschaft als eine solche noch immer mit der altgriechischen identische Basis, so schlängelt sich die Fluchtlinie als Perspektivlinie in die Zukunft. Diese Identität der Naturbasis bildet im Komplex der Fluchtlinien einen ambivalenten Knoten. »Wer aber mir sagt, das Klima habe diß alles gebildet, der denke, daß auch wir darinn noch leben« (I , 681), sagt Hyperion in der Athenrede. Das ist mehrdeutig: Offensichtlich ist Neugriechenland das negative Gegenteil von Altgriechenland – trotz des identischen Klimas. Das Klima ist also keine zureichende Bedingung, andere müssen hinzukommen. Gleichzeitig liegt in der Identität der Naturbasis dennoch auch eine Hoffnung. Könnte die in ambivalenter Weise »arme« Bevölkerung nach Diotimas Programm im Sinne Rousseaus kulturrevolutionär »erzogen« werden, dann ließe sich aus diesem »Stoff« die positive Nähe zum Naturmenschen inventiv in einen neuen ›Natur‹-Kulturmenschen verwandeln: Ich bitte dich, geh nach Athen hinein, noch Einmal, und siehe die Menschen auch an, die dort herumgehn unter den Trümmern, die rohen Albaner und die anderen guten kindischen Griechen, die mit einem lustigen Tanze und einem heiligen Mährchen sich trösten über die schmähliche Gewalt, die über ihnen lastet – kannst du sagen, ich schäme mich dieses Stoffs? Ich meine, er wäre doch noch bildsam. Kannst du dein Herz abwenden von den Bedürftigen? (I , 692) Diese Adressaten Diotimas sind keineswegs identisch mit dem räuberischen »Bergvolk« der Peloponnes, das Hyperions Aufstand in die Katastrophe führt,

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sondern umgekehrt mit den massakrierten Bewohnern von Misistra. Damit bleibt Diotimas Projekt im Grunde intakt. Der thematischen Flucht mit ihren multiplen Facetten entspricht bei H ­ ölderlin also schließlich konzeptuell vor allem die Entwicklung von Bedingungen der Möglichkeit für große Kultur. Dabei bilden innerhalb der tetrapolaren Struktur der Fluchtlinie Deutschland (bzw. Nordwesteuropa) und Neugriechenland exemplarische Fälle für das Defizit an Möglichkeitsbedingungen und Altgriechenland sowie tendenziell Frankreich den glücklichen Fall der Emergenz solcher Bedingungen. Wesentliche Bedingungen sind politischen und »religiösen« Typs. Die Fluchtlinie nach Griechenland eröffnet demnach die Problematiken von Hölderlins Demokratie und Hölderlins »Göttern«. Eine erste systematische Entfaltung dieser Problematiken liegt im Hyperion vor, der in Neugriechenland mit neugriechischen Protagonisten (Hyperion, Alabanda, Diotima) spielt.

2.1. Von Der Main bis Griechenland: die mehrpolige Fluchtlinie nach Griechenland als Strukturprinzip einzelner Gedichte 2.1.1. Der Main und Der Nekar Die Oden Der Main und Der Nekar umfassen zehn bzw. neun Strophen, von denen fünf nahezu identisch sind. Deshalb hat Thomas Traupmann von einem auch entstehungsgeschichtlich eng verbundenen »Main-Nekar-Komplex« gesprochen7. Er orientiert sich bei seiner näheren Analyse an dem »Rhizom«-­ Konzept von Deleuze und Guattari und benutzt dabei ebenfalls deren Begriff einer »Fluchtlinie« (ligne de fuite). Ich möchte von meiner Spezifizierung dieses Begriffs für Hölderlin ausgehen. Dazu ist zunächst zu konstatieren, dass die beiden Oden schon rein quantitativ ihr ›Thema zu verfehlen‹ scheinen. Nur drei von zehn Strophen handeln im Main-Gedicht von ihrem Titelthema, nur dreieinhalb von neun in der Nekar-Ode. In beiden Gedichten geht es stattdessen größtenteils um Griechenland, in Der Main sogar von Beginn an, während das Titelthema erst am Schluss kurz berührt wird. Wenn man diesen Befund nicht einfach als bei dem ›Griechenlandschwärmer‹ Hölderlin keiner weiteren Erklärung bedürftig akzeptieren will, muss ernsthaft nach der poetischen Motivation einer solchen scheinbaren ›Themaverfehlung‹ gefragt werden. Denn beide Versionen einer Ode auf deutsche Flüsse wurden offensichtlich, genauso wie etwa gleichzeitige andere Oden, mit hoher Bewusstheit und dem Willen zu formaler Meisterschaft komponiert.



7 Traupmann, »Textspuren und Sinn-Schichtungen «.

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Wenn der Topos des ›Griechenlandschwärmers‹ bemüht wird, ist stets als selbstverständlich impliziert, es gehe dabei ausschließlich um Altgriechenland – und die Stichworte Sunion und Olympion scheinen das ja auch hier zu bestätigen. Tatsächlich aber streben die ›wandernden Wünsche‹ (Vs. 3) zunächst nach Neugriechenland, nach dem Griechenland der »lebenden Erde« (Vs. 1), das hic et nunc mit dem Sprecher gleichzeitig lebt, also nicht direkt nach der ›toten Erde‹ Altgriechenlands. Dieser Befund bestätigt sich insbesondere in den (für beide Versionen nahezu identischen) zentralen Strophen über die »Inseln Ioniens«, die jetzt (in der Zeit des Gedichts) bewohnt sind von einem »armen Volk«, das jedoch dionysische Feste mit »Gesang« und »labyrintischem Tanz« feiert (in Diotimas kleiner, Hyperions große ergänzender und korrigierender Athenrede war, wie bereits erwähnt, von »lustigem Tanze« die Rede). Dieses Motiv des labyrinthischen Volks-Tanzes (wobei man an eine Art Prä-Sirtaki denken kann) las Hölderlin bei Chandler, ebenso wie die Motive der begleitenden Musikinstrumente und der umgebenden neugriechischen Vegetation. Ganz offensichtlich spielt das Motiv des labyrinthischen Tanzes für Hölderlin eine wichtige konzeptive Rolle. Wenn das Thema beider Gedichte also einer Art ›Fluchtzwang‹ vom gegenwärtigen Deutschland zum gegenwärtigen Griechenland ist, stellt sich die Frage nach der Funktion von Main und Neckar in diesem Thema. Die Antwort lautet: Diese deutschen Flüsse sind »Wanderer«: »Und all der holden Hügel, die dich / Wanderer! Kennen, ist keiner fremd mir« (Nekar, Vs. 3 f.). Als Wanderer antizipieren sie die Realisierung der Wanderwünsche und damit der Fluchtlinien des implizierten Sprechers: Zu euch vielicht, ihr Inseln! geräth noch einst     Ein heimathloser Sänger; denn wandern muß        Von Fremden er zu Fremden und die          Erde, die freie, sie muß ja leider! Statt Vaterlands ihm dienen, so lang er lebt,     Und wenn er stirbt – (Main, Strophen 7 f.) Main und Neckar, die die großen Ströme Rhein und Donau antizipieren, implizieren bereits eine wesentliche Eigenschaft des »Wanderns«: Sie folgen den ›natürlichen‹ Gesetzen der geologischen Bedingungen und der Gravitation und respektieren keinerlei bloß kulturelle Grenzen von Staaten. Das Wandern des (in der Moderne typischerweise einsamen) Menschen teilt mit den Flüssen diese »deterritorialisierende« Tendenz. Man kann das Wandern also als praktizie­ rende Fluchtlinie betrachten. Main und Neckar wandern jedoch von Ost nach West (»Wallst du von deinem Morgen zum Abend fort«: Main, letzte Strophe), in den Rhein und in den Atlantik, während der direkteste Weg nach Griechenland südlich über Italien oder östlich längs der Donau (wie später in der Hymne Die Wanderung) führen

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würde. Das schließt allerdings einen Umweg nach Griechenland, etwa von London aus wie bei Chandler, nicht aus8. Wanderwünsche, Fluchtlinien nach Griechenland – aus der Zusammenführung dieser Motive ergibt sich das eigentlich strukturell dominante semantische Konzept der beiden Oden: die Wahlverwandtschaft Deutschlands mit Neugriechenland als die zweier ›vaterlandsloser‹ (»heimathloser«) Länder für Poeten und Künstler. Deutschland bildet in dieser Version seiner nationalen Physiognomie nicht nur einen Gegensatz gegen Altgriechenland, sondern gleichzeitig einen Gegensatz gegen die nordwesteuropäischen Länder auf dem Wege zu einer neuen Demokratie, insbesondere zu Frankreich. Frankreich ist potentiell nicht bloß eine demokratische Republik, im Modus der Hoffnung ein Land der Freiheit wie Altgriechenland, sondern eben deshalb auch ein Vaterland. Die tripolare (dreipolige)  Struktur der Fluchtlinie erweitert sich so zu einer tetrapolaren (vierpoligen): Altgriechenland und Frankreich als Vaterländer – Deutschland und Neugriechenland als vaterlandslose Länder. Der Fall Neugriechenlands bildet das absolute Extrem dieser Vaterlandslosigkeit: kulturell durch die positive Vergleichsfolie Altgriechenlands, politisch durch die Unterwerfung unter die osmanische Despotie. Das ist mit dem Begriff eines »armen Volks« gemeint – analog bezogen auf Deutschland und Neugriechenland. Damit formulieren die beiden Flussoden in nuce das gleiche Konzept der Wahlverwandtschaft zwischen Deutschland und Neugriechenland, das dem Hyperion im Großen zugrunde liegt.

2.1.2. Gesang des Deutschen Die mit Der Main und Der Nekar etwa gleichzeitig entstandene Ode Gesang des Deutschen beginnt mit sechs Strophen, die das kulturelle Potential Deutschlands evozieren und die ›Blödigkeit‹ (Schüchternheit) seiner Bewohner gegenüber (konnotativ) den westeuropäischen ›großen Nationen‹ beklagen. In Form einer brüsken Makrozäsur schneidet in den relativ ruhigen Gang der Strophen vier bis sechs mit ihrer idyllischen Motivik die scheinbar völlig unmotivierte Frage: »Kennst du Minervas Kinder?« (Minerva = Athene), »sie wählten sich / Den Oelbaum früh zum Lieblinge; kennst du sie?« Wer ist das »du«? Falls der implizite Leser, so wird er geradezu übermächtigt und muss sich fragen, welche Rolle dabei die Olive spielen soll? Aus dem Kontext ergibt sich, dass die Olive eine

8 Rätselhaft erscheint in diesem Kontext das Motiv der »lustgen Inseln« des Rheins (­Nekar, dritte Strophe). Sie präludieren zweifellos den Inseln der Ägäis: Aber sollen sie (Plural) wirklich im Rhein liegen (wo dann?) und nicht eher in den atlantischen Fluchtlinien des Rheins (Karibik, Pazifik)?

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Kontinuität zwischen Alt- und Neugriechenland signalisiert, denn der »dürftge Mann«, der die Heldenasche pflügt, ist der neugriechische arme Bauer. Noch lebt, noch waltet der Athener     Seele, die sinnende, still bei Menschen […]. Obwohl der arme Neugrieche aus dieser tröstlichen Behauptung nicht ausgeschlossen ist, erweisen sich die »Menschen« mit der überlebenden Athenerseele hauptsächlich als »unser[e] Jünglinge« (zehnte Strophe), und in den abschließenden fünf Strophen werden Bedingungen für eine neue griechische Kultur, für ein »Delos« und »Olympia« (Schlussstrophe) in Deutschland entdeckt9: bei Frauen, alten Dichtern (Klopstock und Heinse?) und Philosophen (Kant und Herder?). In dieser Ode öffnet sich die tri- bzw. tetrapolare Fluchtlinie also optimistisch auf eine künftige Synthese aller vier Pole. Denn die Sehnsucht nach einem deutschen »Delos« und einem deutschen »Olympia« konnotiert zweifellos auch den französischen Pol der tetrapolaren Fluchtlinie, schienen doch in der Kultur der Revolutionsfeste die griechischen Volksfeste wiedergeboren (Renaissance) zu sein.

2.1.3. Thränen Das zweite Gedicht der Nachtgesänge beginnt direkt mit der griechischen Fluchtlinie. Der erste Vers muss als Emphase in der biographischen Isotopie gelesen werden, als Klage um Diotima-Susette, die in der Zwischenzeit nicht nur vom sprechenden Ich getrennt, sondern gestorben ist: »Himmlische Liebe! zärtliche! wenn ich dein / Vergäße«. Diese Klage ist in Deutschland situiert; der Anakoluth lässt sich durchaus als syntaktisch »akzeptabel« im literarischen Deutsch lesen (»Wenn ich dich verlöre!«). Der darauf folgende zweite Anakoluth, ebenfalls mit »wenn ich« eingeleitet, weicht jedoch zusätzlich in eine absolute Apostrophe aus, die thematisch die Fluchtlinie nach Griechenland vollzieht: »Ihr lieben Inseln, Augen der Wunderwelt!« Also der Archipelagus. Die Bezeichnung von Inseln als Augen will nicht gleich einleuchten: Sie gehört zu Hölderlins Idiolekt10. Augen sind Organe mit zweierlei Funktionen: Sehen und Weinen (Titelthema). Die zweite Funktion stört die erste: Durch mit Tränen gefüllte Augen erscheint die Welt verschleiert, es droht Blindheit, wie es die Schlussstrophe formuliert: Ihr waichen Thränen, löschet das Augenlicht     Mir aber nicht ganz aus […]. 9 Dazu Honold, Nach Olympia, 128 ff. 10 Beißners Hypothesen (»das Wesen« oder im Sinne einer »Metapher ›Augäpfel‹«, SA   II , 58) sind hilflos.

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Die Inseln als Augen Altgriechenlands lassen sich nur schwer oder gar nicht anders als metaphorisch lesen. Anders als metaphorisch müssten sie in einer naturgeschichtlichen Isotopie lesbar sein; das wäre, wenn überhaupt, nur über die Tränenfunktion plausibel zu machen. Die Inseln sind verbrannt und Asche und »wüst« (verwildert) geworden, »entstellt fast«. Das sind Motive einer Landschaft, die allenfalls trauert, doch nicht eigentlich weint – es ist übrigens keineswegs die typische mediterrane Friedhofslandschaft mit Zypressen, Steineichen und Ruinen, wie sie bei Platen begegnet. Ruinen fehlen; sogar »Bäume« sind offenbar zusammen mit den »Städten« verschwunden. Ein solches Bild  – ein eingeäscherter, aschfarbener Archipelagus – lässt sich demnach am ehesten als die Wahrnehmung des weinenden Ich durch seine vertränten Augen hindurch plausibilisieren11. Die Schlussstrophe verbindet das Tränenthema also mit dem Negativ der Sehensfunktion, mit Blendung und Blindheit. Neu- wie Altgriechenland sind durch die Tränen fast schon unsichtbar – Altgriechenland war früher »sichtbar« (vierte Strophe), genauer »Sichtbar, gleich einem sinnigen Mann«. Wie bei den Augen und Tränen scheint wiederum eine Identifikation von Subjekt und Objekt vorzuliegen12: Die Augen eines »sinnigen«, also mit Sinnen ausgestatteten und »sinnenden« Mannes, produzieren eine sichtbare Welt, in der auch seine Gestalt für andere sichtbar ist. Die durch Tränen wahrgenommene Welt ist dagegen »trügerisch« (letzter Vers) und »diebisch«. Schließlich sind die weinenden Augen Organe der Liebe (viermalig wiederholtes Leitmotiv, mit der adjektivischen Form in »Ihr lieben Inseln« fünfmalig). Dabei ist die individuelle Liebe (Diotima)  mit der kollektiven (Altgriechenland) als »himmlische« in eins gefasst. Die »Himmlischen« der zweiten Strophe sind wie immer bei Hölderlin keine dualistischen Transzendenzen, sondern strikt immanente, naturgeschichtliche Kräfte.

2.1.4. Griechenland Der Hymnenentwurf mit dem Titel Griechenland, von dem drei Manuskripte überliefert sind, gehört zu den letzten Entwürfen vor dem Zusammenbruch von 1806, ist also vermutlich in die späteste Zeit des zweiten Homburger Aufenthalts zu datieren. Er teilt in der vorliegenden Gestalt mit den bis zu sieben Jahre früheren Oden Der Main und Der Nekar den Anschein eines ›verfehlten Themas‹. Allerdings haben wir es mit einem umgekehrten Verhältnis der Asymmetrie zu tun: Während in den Oden die deutschen Titel mit griechischer Thematik gefüllt waren, scheint hier trotz des Titels griechische – sowohl neu- wie altgriechische – 11 Das ist eine Hypothese, kein Beweis. Vielleicht lässt sich das Rätsel anders lösen. 12 So auch bereits in der frühen Hymne an den Genius Griechenlands (I , 117 f.), wo das »Auge der Welt« Knaupp zufolge die Sonne sei (III , 66).

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Thematik unterrepräsentiert zu sein oder sogar völlig zu fehlen. Das könnte jedoch täuschen, falls man ein wesentlich längeres Hymnenprojekt annähme, denn das Motiv der Fluchtlinie ist in Gestalt des Wanderungs-Motivs durchaus betont präsent. Zwei der Manuskripte beginnen sogar damit:                Wege des Wanderers! O ihr Stimmen des Geschiks, ihr Wege des Wanderers […]. Im Unterschied zur dritten führt die erste Version die Wanderungs-Isotopie auch weiter, und zwar ähnlich den frühen Oden: Das erste Motiv eines idyllischen Wegs zur Kirche wird man in Deutschland situieren, in der zweiten Strophe folgen dann die Ortsnamen »Avignon«, »Gotthardt«, Neapel (Grab Vergils), »Alpen«, »London«, »Canal« (d. h. Ärmelkanal). Da das Kirchwegmotiv am Schluss des dritten Manuskripts wieder auftaucht, lässt sich plausibel annehmen, dass daran wiederum die konkrete Wanderung nach Italien anschließen sollte, wobei Avignon, London und Ärmelkanal zunächst rätselhafte Orte auf der Fluchtlinie markieren. Wie ich in einer ausführlichen Analyse andernorts zeigen konnte13, beruht der größte Teil des vorliegenden Textes auf einer engen Ineinsbildung der theo-­logischen und der naturgeschichtlichen Isotopie. Die theo-logische kennt keine Götter im Plural, auch gar keine griechischen Mytheme, sondern nur »Gott« im Singular (3. Fassung; ähnlich 2. Fassung): Alltag aber wunderbar den Menschen Gott an hat ein Gewand. Und Erkenntnissen verberget sich sein Angesicht Und Luft und Zeit dekt Den Schröklichen, daß zu sehr nicht eins Ihn liebet mit Gebeten oder Die Seele. […]. Wenn aber ausgehn will die alte Tafel der Erde, bei Geschichten nemlich Gewordnen, muthig fechtenden, wie auf Höhen führet Die Erde Gott. (I ,  479 f.) »Alltag« ist zu lesen wie ›alle Tage‹. Die monotheistische Formulierung operiert mithin auf aktualhistorischen Kontexten von 1800, kompatibel mit dem Volkschristentum in Deutschland und Neugriechenland. Das intrinsische Konzept des Textes aber – da ist sich die Forschung inzwischen einig – ist auch in diesem Text weder transzendent noch dualistisch, sondern neospinozistisch monis 13 Link, »›Lauter Besinnung aber oben lebt der Äther‹«.

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tisch. Die theo-logische und die naturgeschichtliche Isotopie sind wechselseitig austausch­bar: Deus sive Natura sive Potentia (Gott gleich Natur gleich schöpferische Macht). Die im ersten Manuskript genannten Orte liegen, abgesehen von Avignon, teils in Italien, teils in England. Am ehesten deuten die italienischen Orte eine kohärente Fluchtlinie an. Diese Fluchtlinie stimmt mit derjenigen Heinses überein, wenn man Ardinghello und Heinses tatsächliche Italienreise in eins fasst. Heinses Reise wird als Anregung zur Gewissheit, wenn man erfährt, dass der Autor des Ardinghello einen Umweg über Genf und dann durch das Rhonetal über Lyon und Avignon machte14 (wobei er sich ausführlich an Rousseau erinnerte). Hölderlin folgte ihm 1801 ein Stück Weges bis Lyon. Heinse hielt sich 1782 längere Zeit in Neapel auf, was ihn zum Ardinghello inspirierte. Sein Protagonist ist wegen seiner erotischen Abenteuer mehrfach im Wortsinne auf der Flucht, und seine letzte große Flucht (gemeinsam mit der idealen Renaissancegeliebten Fiordimona) verläuft von Florenz über Neapel, wo die Liebenden das Grab Vergils besuchen, nach (Neu-)Griechenland in den Archipelagus  – und dort werden Smyrna, Lesbos, Tenedos, Skyros, Scio (Chios) erwähnt: »Paradies der Welt, Archipelagus, Morea, Karien und Jonien, o daß ich würdig werde, euer ganz zu genießen!«15 Hölderlin fand also die neugriechische Welt Chandlers und Choiseuls bereits bei Heinse in nuce skizziert, und Heinse könnte als erste Konnotation des »Wanderers« naheliegen. Nimmt man also plausiblerweise an, dass eine geplante Ausarbeitung von Griechenland die Skizze des ersten Entwurfs an den Schluss des dritten versetzt und womöglich bis Griechenland ›ausgesponnen‹ hätte, dann bleibt dennoch die Frage nach der vermutlich noch immer bestehenden Asymmetrie und vor allem nach der Funktion des langen dominant naturgeschichtlich-theo-logischen Eingangsteils für den Titel »Griechenland« ungelöst. Deutlich ist die naturgeschichtliche Isotopie in ihrer geschichtsphilosophischen Verzweigung akzentuiert: Zu Zeiten aber Wenn ausgehn will die alte Tafel der Erde, bei Geschichten nemlich Gewordnen, muthig fechtenden, wie auf Höhen führet Die Erde Gott. Ungemessene Schritte Begränzt er aber, aber wie Blüthen golden thun Der Seele Kräfte dann der Seele Verwandtschaften sich zusammen,

14 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke, hg. v. Carl Schüddekopf, Bd. 7 (Tagebücher von der italiänischen Reise 1780–1783) Leipzig 1909, 51–55. 15 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke, hg. v. Carl Schüddekopf, Bd. 4 (Ardinghello und die glückseligen Inseln), 3. Aufl. Leipzig 1911 nach der 1. Aufl. 1785 (Repr. München 1977), 386.

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Daß lieber auf Erden Die Schönheit wohnt und irgend ein Geist Gemeinschaftlicher sich zu Menschen gesellet. (480) Die »Tafel« spielt (wie die »Tische« in anderen Texten) auf der naturgeschichtlichen und konkret geologischen Isotopie (als naturaler ›Basis‹ einer Kultur). »Verwandtschaften« konnotieren dann die chemischen »Wahlverwandtschaften«, und die Kombination psychischer Elemente (»Kräfte«) zu einem Gemeinschaftsgeist wird (ebenso wie die Blütenbildung) in Analogie zu einer chemischen Reaktion vorgestellt. Es geht also bei den kairologischen Ereignissen »auf Höhen« offensichtlich um die »Bildung« (auch das um 1800 nicht zuletzt ein naturgeschichtlicher Begriff) einer neuen Kultur, wie sie im Kairos von 1800 auch 1805 (nach Austerlitz) noch immer nicht definitiv unmöglich schien, war doch denkbar, dass die »ungemessenen Schritte« der napoleonischen Kriegsepoche (»mutig fechtenden Geschichten«) von den Natur-Gesetzen »begränzt« werden und in eine Friedensepoche münden. Dazu bot Griechenland die Analogie der perikleischen Friedens- und »Schönheits«-Zeit nach den Perserkriegen, an die Hölderlin ausführlich in dem großen Gedicht Der Archipelagus erinnert hat (s. u. Kap. 2.5.). (Perikles schloss zwei, wie es schien, epochale Frieden: 449 mit Persien, 445 mit Sparta – die erhoffte Analogie zu Napoleon als Hoffnung auf einen neuen und dauernden Frieden von Amiens liegt nahe, wenn sie auch realiter wiederum bald enttäuscht wurde). »Viel sind Erinnerungen«, die in Gesängen konserviert werden müssen – in Schwanenliedern der letzten Dichter einer untergehenden Epoche, die gleichzeitig die ersten einer neuen werden können. Die Engführung der theo-logischen mit der naturgeschichtlichen Isotopie ist um mehrere polysemische Knoten organisiert, deren impliziten Bezug auf Griechenland und die griechische Fluchtlinie es zu analysieren gilt. Der wichtigste dieser Knoten ist neben »Geist des Himmels« der Terminus »Natur«:       Denn immer lebt Die Natur. (I , 478)     Denn lange schon steht offen Wie Blätter, zu lernen, oder Linien und Winkel Die Natur. (I ,  479 f.) Statt »Blätter« stand zunächst »Bücher«: Es geht also um die galileische Leitmetapher vom »Buch der Natur, das in geometrischer Sprache geschrieben ist«, was durch die Formel »Linien und Winkel« höchst plausibel wird16. Nun begegnet zwar nicht gerade der Terminus »Naturwissenschaft« in den Griechenland-

16 So ebenfalls Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta [I], 186.

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Entwürfen, wohl aber neben »Natur« auch »Wissenschaft«, worunter sicher vor allem Naturgeschichte zu verstehen ist. Noch präziser geht es um Meteorologie (»Der Wolken heitere Stimmung«, »Gewitter«, »Geist des Himmels« u. a.), die in einem äthertheoretischen Rahmen entfaltet wird: Lauter Besinnung aber oben lebt der Äther. Wie im folgenden Kapitel (2.2.) auszuführen ist, übernahm Hölderlin von Sömmerring ein Ätherkonzept, das verschiedene Fluida zwischen dem omnipräsenten kosmischen Äther und der Nerven- und Gehirnflüssigkeit umfasste, wobei zwischen diesen spezifischen Äthern die Kontinuität einer ›Evolution‹ vorausgesetzt wurde. »Be-sinnung« ist also zu lesen als die Fähigkeit, Lebewesen sowohl mit ›Sinnen‹ wie mit ›Sinn‹, d. h. Sprache und Diskurs, auszustatten. Die höchste Intensität von Sprache und Diskurs und damit auch des Nerven- und Gehirnäthers wiederum ist die Kunst-Sprache des »Gesangs«. Die naturgeschichtlich begründete Kontinuität zwischen ätherischen Prozessen in der Erdatmosphäre und dem Gesang verdichtet sich in dem polysemischen Konzept der »Gesan­ geswolken« (3. Entwurf, Vs. 15), das sowohl bestimmte atmosphärische Wolken als auch Gehirnaktivitäten impliziert. In den atmosphärischen Gesangeswolken wurde vermutlich insbesondere ein elektrischer Äther angenommen, der sich ›nach unten‹ in Gewitterwolken entlud und ›nach oben‹, vereint mit ›reiner Lebensluft‹ (Sauerstoff, Oxygen), eine Schicht höchster und »heiterer« Atmosphäre bildete, die Hölderlin mythologisch als den ›heiteren Zeus‹ begriff (zur Identität von »Aether« und »heiter« s. u. Kap. 2.4. über Brod und Wein). Die Formel »vom Daseyn Gottes, dem Gewitter« (3.  Msk., Vs.  6) wird transparent, wenn man »Gott« neospinozistisch als Deus-Natura-Potentia liest und diese wiederum mit dem omnipräsenten und potentiell sensiblen, im Gewitter wirkenden »Aether« identifiziert. Der Titel Griechenland von Hölderlins womöglich letztem, bereits relativ weit skizziertem Hymnenprojekt ist also sehr wohl begründet. Griechenland als Wunschziel der Fluchtlinien erweist sich als Quintessenz aller polysemi­ schen Knoten, mit denen die Isotopien integriert sind. Naturgeschichtlich ist das griechische Klima, das auch in Neugriechenland noch fortexistiert, eine optimale Basis für eine dominant durch Kunst organisierte As-Sociation17 und ihre Kultur. Historisch bildet Altgriechenland das bereits reale Paradigma einer solchen Kultur, einschließlich einer paradigmatischen Mythologie, wodurch Wissen, Kunst und As-Sociation vereint sind. Damit ist die Integration von naturgeschichtlicher, theo-logischer und poetologischer Isotopie gegeben. Die

17 Die Schreibung impliziert außer den empirischen Assoziationen die Bildung eines Socius (Sozialkörpers) und betont dabei die Dynamik: As-Sociationen gehen stets mit Dis-Sociationen einher; es gibt keine stabile Gesellschaft.

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Wanderungen Hölderlins längs der Fluchtlinie konnten allerdings keinen definitiven Fluchtpunkt im Sinne einer Teleologie erreichen: Sie fächerten die bereits tetrapolare Fluchtlinie weiter auf, indem die Wanderung auf neue, ›dionysische‹ Fluchtlinien jenseits von Griechenland stieß – auf orientalische und atlantische, schließlich hesperisch-»vaterländische«. Stets neue ›Offenheiten‹ taten sich in stets neuen Perspektiven auf. So wie die atlantische im ersten Manuskript:             Hoch Ziehet, aus London, Der Wagen des Königs. Schöne Gärten sparen die Jahrzeit. Am Canal. Tief aber liegt Das ebene Weltmeer, glühend. (I , 478) Diese scheinbar krasse ›Gedankenflucht‹ von Griechenland nach England beruht auf dem Bericht über die Hochzeit des württembergischen Erbprinzen und einer englischen Prinzessin 1797 (III , 294), also einer Episode von Hölderlins biographischer Isotopie, die er jedoch mit der atlantischen Fluchtlinie verbindet: Von England starteten viele Entdecker und Weltreisende, darunter Anson mit der fiktiven Figur des Saint-Preux bei Rousseau, Forster – und auch Chandler. So begreift die Perspektive auf »das ebene Weltmeer, glühend« durchaus auch Griechenland ein. Der Hymnenentwurf zeigt aber in seinem definitiven Fragmentstatus nicht bloß ein Scheitern der »Wanderungen«, sondern die Landung in einer neuen »Sangart« (I , 922): Sie ist gekennzeichnet nicht allein durch äußerst kühne Pindarismen, sondern durch vermutlich unauflösbare semantische Dissonanzen sowie schließlich auch dissonante Akkorde der Isotopien.

2.2. Noch einmal: Hölderlins griechische Fluchtlinie und die Schlüsselrolle der naturgeschichtlichen Isotopie    2.2.1. Der Fächer der Isotopien In der Einleitung wurde (mit dem Beispiel der Ode Ganymed) bereits der polyisotopische Fächer in Hölderlins Poesie exponiert18. Systematisch geht es dabei um die folgenden Isotopien (einschließlich ihrer je speziellen Komponenten):

18 Das in der Hölderlinforschung seit Beißners Apparat der Stuttgarter Ausgabe vielfältig bewährte Verfahren der »Parallelstellen«, mit dem durch Synopse mit gleichen oder ähnlichen Termen bzw. Wortfeldern die Bedeutung eines Signifikanten eingegrenzt wird, ist nichts anderes als ein zur Isotopieanalyse passendes Element. Vgl. dazu Böschenstein, Hölderlins Rheinhymne, 7–13 (»Einführung in die Methode«).

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die biographische Isotopie (z. B. Susette Gontard, Isaak von Sinclair)    darunter die psychoanalytische und dekonstruktive Lesart die intertextuelle Isotopie (z. B. Klopstock, Heinse, Rousseau, Schiller) die poetologisch-autoreflexive Isotopie    darunter die dekonstruktive Lesart die kairologisch-politische Isotopie (z. B. Französische Revolution, Napoleon) die philosophische Isotopie (z. B. Kant, Schiller, Fichte, Schelling, Hegel) die theo-logische Isotopie    darunter die mythologische (vor allem altgriechisch-mythologische) Isotopie    darunter die Lesart des säkularisierten Pietismus die naturgeschichtliche Isotopie    darunter: die astronomische Isotopie    die geologische Isotopie    die botanisch-zoologische Isotopie    die meteorologische und äthertheoretische Isotopie    die physiologisch-medizinische Isotopie Hölderlins konkrete Produktion poetischer Texte ist stets polyisotopisch, in mu­ sikalischer Analogie »mehrstimmig« – sie kombiniert stets mehrere Isotopien, wobei Dominanzen und Subdominanzen (»Haupt-« und »Nebenstimmen«, »Zwei-« und »Dreiklänge« usw.) entstehen. Die Verknüpfung mehrerer Isotopien erfolgt typischerweise um »mehrstimmige« Elemente (Polysemien). In Ganymed sind »die Himmlischen« ein solches Element, das die naturgeschichtliche mit der theo-logischen inklusive der mythologischen Isotopie koppelt. Das deutsche »Himmel« ist bekanntlich eine Polysemie von »heaven« und »sky«; es bezeichnet sowohl eine Immanenz wie eine Transzendenz. Hölderlins »Himmlische« sind als himmlische Potenzen naturgeschichtlich-immanent: Es handelt sich um »ätherische« Kräfte. Gleichzeitig bezeichnen sie modale Affekte der spinozistischen Deus-Natura-Potentia und ersetzen dadurch die Transzendenz durch den generativen Emergenzquell der Immanenz. Im Prozess des Schreibens proliferieren alle gekoppelten Isotopien, allerdings nicht systematisch parallel, sondern mit verschieden platzierten Lücken, insgesamt als »Katachresen-Mäander«19, also anisomorph und unvollständig. So begründet der Titel »Ganymed« eine konnotative altgriechisch-mythologische Isotopie innerhalb der theo-logischen: »Himmlische« = Götter; Tische, gedürstet = Göttergelage; Vater = Zeus; Ganymed = Götterschenke; Boten = Götterboten. Die eigentliche theo-logische Isotopie folgt den Termini »Wort«, »alten Geists«, »Fremdling«, »Stromgeist«, »Geist«, »Genien«, »himmlisch Gespräch«. Sie ist lückenhaft-verschoben gekoppelt mit der naturgeschichtlichen vom gefrorenen, auftauenden und energisch durchbrechenden Bergstrom. Dabei deckt die Isotopieanalyse das wesentliche Ereignis der 19 Dazu Link, »Der Katachresen-Mäander«.

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Ode auf, durch das Hölderlin den griechischen Mythos völlig umschreibt: Die mythische Entführung des Knaben Ganymed durch Zeus hat bereits vor dem Zustand des Einfrierens stattgefunden (»sonst« = früher), und der aufgetaute Zustand wiederholt nicht diese Entführung, sondern entrückt Ganymed in eine ›Ferne‹ und ein ›Irregehen‹ – das »himmlisch Gespräch« kann also nicht mit der früheren Schenke-Funktion am Göttertisch identisch sein. So ist die Leserin zurückgeworfen auf die naturgeschichtliche Isotopie, die sich damit als dominant erweist: Sie ist die kohärenteste und ›übersetzt‹ jeweils die mythischen Komplexe: Kennst drunten du vom Vater die Boten nicht,   Nicht in der Kluft der Lüfte geschärfter Spiel? So meint »drunten«: am Boden der gletscherartigen Eismasse im Bett des Flusses, in dem Ganymed »schläft«; »der Lüfte geschärfter Spiel« als naturgeschichtliche Immanenz der mythischen Götterboten betont offenbar das Oxygen (»Scharfmacher«, Sauerstoff) innerhalb des Gemenges verschiedener Äther in der Luft, wobei der thermische Äther (»Wärmestoff«) als Bedingung des Auftauens voraus­gesetzt ist. Wenn die Quelle des »Bergsohns« in den Alpen vorgestellt sein sollte (was die Parallelen mit der Rheinhymne nahelegen), dürfte allerdings die Südseite impliziert sein, so dass Zeus den Ganymed wieder nach Griechenland rufen kann. Die Pointe der Ode bestände dann darin, dass der neue Ganymed diesem Ruf nicht gehorcht, vielmehr die »Gnade« ausschlägt und ›irr geht‹. Die Fluchtlinie nach Griechenland weicht ins Ungewisse ab. Das Verhältnis von (subdominanter) mythisch-theo-logischer und (domi­ nanter) naturgeschichtlicher Isotopie in Ganymed kann durchaus als exemplarisch für die enge Kopplung beider Isotopien in Hölderlins Gesamtwerk dienen20. Naturgeschichte – um es zu wiederholen – ist zunächst synchronisch-taxonomisch im Sinne Foucaults zu verstehen, bevor es bei Hölderlin unter dem Einfluss Rousseaus auch eine diachronische Dimension gewinnt, die aber wiederum nicht zur »historizistischen« Episteme des 19. Jahrhunderts gezählt werden darf. Es ist ein mehr als kurioses diskursives Ereignis, dass Goethe, diesem paradigmatischen Fachmann in Naturgeschichte, die naturgeschichtliche Isotopie in 20 Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni haben in Analecta Hölderliniana IV die Kodominanz der naturgeschichtlichen Isotopie im Homburger Folioheft betont und insbesondere die Gnome »der Natur / Gang und Geist und Gestalt« am Schluss des Notats Narcyssen Ranunklen (I , 416) als eine Art Schlüsselformel für den Isotopienfächer gedeutet. In der poetologischen Isotopie beziehen sie die triadische Formel auf das Konzept der drei Töne heroisch – idealisch – naiv (ebd., 44). Am deutlichsten bezeichnet »Gang« die mit den Mitteln der Naturgeschichte wissenschaftlich beschreibbare, von Naturgesetzen determinierte physikalische Seite der Natur (»den ewig menschenfeindlichen Naturgang«; II , 374). Dazu haben Bennholdt-Thomsen und Guzzoni ingeniös den »Drachen« vor der Gnome als Franklins Blitzableiter-Experiment mit einem Flugdrachen identifiziert (ebd., 50). Zu »Geist« und »Gestalt« s. u. Kapitel 9.1.

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Hölderlins Gedichten An den Aether und Der Wanderer auffiel. Schiller hatte ihm den Autor verschwiegen, um ein objektives Urteil zu erhalten. Goethe antwortete u. a.: So sieht auch das andere [Gedicht, J. L.] mehr naturhistorisch [Hervorhebung J. L.] als poetisch aus, und erinnert einen an die Gemälde wo sich die Tiere alle um Adam im Paradiese versammeln (DKV  I , 597). Das »andere« ist An den Aether, aber der Begriff des »Naturhistorischen« bezieht sich auf beide Gedichte. Diese beiden Gedichte waren die ersten größeren und sehr ambitionierten Texte, in denen Hölderlin sein »Sömmerring-Erlebnis« (die These, dass sowohl Gefühl wie Bewusstsein von einem gehirnimmanenten Äther generiert werde) darzustellen suchte. Goethes Kritik schien berechtigt, insofern die naturgeschichtliche Isotopie nicht in eine narrative Fabel integriert, sondern die Taxonomie tatsächlich wie bei Linné synchronisch nebeneinander gesetzt war. Diese Taxonomie kehrt jedoch bis in die 1800er Jahre in der Formel »nach Arten« wieder21 – und auch in Ganymed: Der Frühling kömmt. Und jedes, in seiner Art,    Blüht. (I , 445) Auch in Blödigkeit ist die Poesie der Nachtgesänge als eine Poesie des Wissens definiert. Die Formel »viele Lebendigen« deutet an, dass das »Wahre« als Basis dieser mehrstimmigen, darunter mythischen Poesie, analog einem Generalbass, die naturgeschichtliche Isotopie ist: Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen?     Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? (I , 443)

2.2.2. Die naturgeschichtliche Isotopie in der griechischen Fluchtlinie Hölderlins Fluchtlinie nach Griechenland war als tetra- oder tripolar zu kennzeichnen, je nachdem ob das Dreieck Deutschland – Neugriechenland – A ltgriechenland um Frankreich erweitert ist oder nicht. Da das Subjekt der Fluchtlinie ein Deutscher von 1800 ist, ist ihr Ausgangspunkt immer das Deutschland von 1800. Ihr erstes Ziel ist das zeitgenössische Griechenland, also Neugriechenland. Die kairologisch-politische Isotopie zielt dabei auf die utopische Perspektive einer inventiven Rückkehr nach Altgriechenland, wodurch der Raum zur Zeit und die Fluchtlinie von der Geographie zu einer historischen und aktualhistorischen Fluchtlinie erweitert wird. Frankreich besitzt sein Neugriechenland in

21 »Der Gesang und der Fürsten / Chor, nach Arten« (Blödigkeit, I , 443).

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seinem Süden im eigenen Land – und dieses ›griechische‹ Südfrankreich wird das einzige Griechenland sein, das Hölderlin schließlich mit eigenen Augen sehen wird (s. u. dazu Kap. 3.2.). Frankreich changiert in der Fluchtlinie zwischen einem mächtigen Verstärker der utopischen Perspektiven, insofern es sich in den euphorischen Phasen der Revolution und des Konsulats bereits real auf dem Weg einer inventiven Rückkehr nach Altgriechenland zu befinden schien, und einem ebenso mächtigen Verstärker der hyperiontischen Depression in den regressiven Phasen. Der deutsche Ausgangspunkt der Fluchtlinie war für den jungen Hölderlin zunächst als gefängnisartiger »Behälter« aus Familie, Kloster, Hofmeisterexistenz und Kleinstaat zu beschreiben, aus dem Hölderlin einen befreienden Ausweg »ins Offene« ersehnte. Man kann durchaus von einem klaustrophoben Komplex sprechen, der zweifellos auch einen Bezug zur biographischen Iso­topie besitzt. Flüchtete Hölderlin 1795 aus Jena wirklich ›vor der Größe Schillers‹, wie ein Teil der Germanistik annimmt? Wie erklärt sich dann aber die folgende nachträgliche Wertung der Flucht in einem Brief an Neuffer von Anfang Dezember 1795 (II , 601): Wär’ ich doch geblieben, wo ich war. Es war mein dümmster Streich, daß ich ins Land zurückgieng. Jetzt find ich hundert Schwierigkeiten nach Jena zurükzugehn; man konnte mir keine Gewalt anthun, wenn ich blieb [Hervorhebung J. L.], jetzt müßt’ ich Wunderdinge hören, wenn ich wieder hin wollte. Diese Äußerung spricht eher für eine Verwicklung Hölderlins in die studentischen Unruhen, vermutlich veranlasst durch die heftige Zuneigung zu Sinclair. Ebenso wirken die späteren Abbrüche der Hofmeisterstellen zuweilen wie Fluchten. Jedenfalls fügt sich diese klaustrophobe biographische Komponente in eine weit darüber hinausgehende, komplex gefächerte Fluchtlinie, deren Klimax Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni als »Die Aufgabe des Vaterlands« beschrieben haben22: Daß aber uns das Vaterland nicht werde Zum kleinen Raum. Schwer ist der Zu liegen, mit Füßen den Händen auch. Nur Luft. (I , 424) Der »Behälter« Vaterland als Sarg. »Nur Luft« als letzter Wunsch vor dem Tod. In der Depression ist dann sogar der Himmel über dem Leidenden eine massive Decke, eine horizontale »Gefängniswand«, wie es in Menons Klagen um Diotima heißt:

22 Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta II , 83–106.

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Ach! und nichtig und leer, wie Gefängnißwände der Himmel     Eine beugende Last über dem Haupte mir hängt! (I , 293) Wie im folgenden Kapitel über Hyperion gezeigt wird, ist dieses Bild, das den Himmel als ›Deckel‹ bei Baudelaire vorwegnimmt23, mit Nihilismusangst (Angst, dass Gott tot [»nichtig«] ist) verbunden. Der Fluchtimpuls ins »Offene« ist in der naturgeschichtlichen Isotopie vor allem als ›Atemnot‹ konkretisiert und vielleicht am intensivsten in der Hyperion-Episode des »Bundes der Nemesis« ausformuliert: Das sind Betrüger! riefen alle Wände meinem empfindlichen Sinne zu. Mir war, wie einem, der im Rauch erstiken will, und Thüren und Fenster einstößt, um sich hinauszuhelfen, so dürstet’ ich nach Luft und Freiheit. (I , 639) Gerade diese Episode zeigt allerdings auch die starken Ambivalenzen der transfamilialistischen Partiallinie. Denn auf die Atemnot folgt die durchaus familialistische Begründung: »Mir war, wie einer Braut, wenn sie erfährt, daß ihr Geliebter insgeheim mit einer Dirne lebe« (ebd., 640). Hyperion imaginiert sich hier als Frau, und der treulose Mann ist Alabanda. Die homoerotische Komponente ist offen ausgesprochen, sie muss also gar nicht psychoanalytisch aufgedeckt werden. Diese Freundschaft ist aber auch politisch und zielt auf eine utopische, »brüderliche« As-Sociation – und der hierarchische Geheimbund ist eben die ›betrügerische‹ Spielart einer solchen As-Sociation, ein neues Gefängnis. Das Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer polyisotopischen Lektüre Hölderlins, die gerade auch Widersprüche zu analysieren erlaubt: Die familialistische Kodierung der Freundschaft steht in krassem Widerspruch zur kairologisch-politischen Isotopie. Das Bild des erstickenden »Rauches« ist funktional äquivalent mit dem des »Sumpfes«: Mir ist, als würd’ ich in den Sumpf geworfen, als schlüge man den Sargdekel über mir zu, wenn einer an das meinige [Vaterland] mich mahnt, und wenn mich einer einen Griechen nennt, so wird mir immer, als schnürt’ er mit dem Halsband eines Hundes mir die Kehle zu. (Eingangsbrief; I , 613) 23 Hölderlin und Baudelaire wäre ein eigenes Thema. Die Bilder der Depression ähneln sich frappierend: »Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle« (Spleen) – »Le Ciel! Couvercle noir de la grande marmite / Où bout l’imperceptible et vaste Humanité« (Le Couvercle) – »So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich« (II , 596; 4.9.1795 an Schiller). Bei beiden hat die Depression eine aktualhistorische Komponente. Ebenso das Bild des modernen Poeten als am Boden kriechender Vogel: Albatros, Le Cygne – bei Hölderlin: »weil ich, wie die Gänse mit platten Füßen im modernen Wasser stehe, und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle« (II , 729; 1.1.1799 an den Bruder). Bei beiden auch die griechische Fluchtlinie. (Dass es sich bloß um partielle Analogien handelt und die dominanten Töne ebenso wie die historischen Situationen je spezifisch sind, versteht sich.)

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Naturgeschichtlich ist dabei auf die ›Miasmen‹ angespielt, auf die erstickende »Sumpfluft« (I , 699, 710). Kein anderes Motiv vereint demnach alle Aspekte der Fluchtlinie so wie das aufs Engste mit dem Komplex des »Äthers« verknüpfte Motiv des Atems bzw. des »Othems«. Wie es ergreifend in einem Entwurf zur Friedensfeier formuliert ist: Dann kaum geboren, warum breitetet Ihr mir schon über die Augen eine Nacht, Daß ich die Erde nicht sah, und mühsam Euch athmen mußt, ihr himmlischen Lüfte. (I , 356) In diesen unmittelbar verständlichen Versen mit ihrer Anspielung auf eine dogmatisch christliche Erziehung mit pietistischem Einschlag ist gleichwohl naturgeschichtliches Wissen enthalten. Die »himmlischen Lüfte« sind ein Gemisch verschiedener »ätherischer Fluida«, darin lebensnotwendige »Äther«, die durch chemische Verbindungen in Blut, Nerven und Gehirn Lebendigkeit, Lebensfreude, Gesang und Kreativität (Inventivität) produzieren. Dabei ist der klimatische nur einer von mehreren, gerade auch kulturellen Anteilen wie den christlich-religiösen, aber dennoch für Hölderlin wichtig, da materiell begründet. Wenn alle »Äther« aus dem »Himmel«, also dem Kosmos, besonders viele und wichtige aber von der Sonne, ausgesendet werden, dann lässt sich in Grie­ chenland besser atmen als in Deutschland. Die ›hohe‹ Version »Othem« von Atem gehört zu den meteorologisch-an­ thropologischen Doppel- oder Gleitbegriffen, wie aus einer Vorstufe von Lebenslauf hervorgeht:     Weht ein lebender Othem        Nicht im untersten Orkus auch? (III , 180) Das bezieht sich auf die scheinbar toten Zonen des Kosmos (und implizit auf die scheinbar tote Materie insgesamt), später als »exzentrische Sphäre der Todten« bezeichnet, in der aber Bewegungen ätherischer Fluida als »lebend«, also potentiell (qua Potentia) ›be-lebend‹ vorgestellt sind. Man kann also »Othem« als den poetischen Namen für die Gesamtheit der naturgeschichtlich analysierbaren Äther begreifen: »Der Othem der Natur um uns« (I, 277 f.). Dieser »Othem« strömt aus dem Kosmos in die Erdatmosphäre, ›gärt‹ dort zu menschenkom­ patiblen Äthern und wird dann mit dem »Athem« in die körperimmanenten Äther der Nerven und des Gehirns in-haliert und integriert: »Sie aber würzen mit Nektar uns den Othem« (I, 353). Auch das Motiv der »Armut«, das noch mehrfach begegnen wird, ist in seinem Ursprung ›Othemarmut‹ (Rheinhymne): Der Menschen geschäfftiges Leben Das othemarme […]. (I , 347)

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Aus dem Kontext ergibt sich, dass die ›Geschäftigkeit‹ der »Notdurft« entspringt und dass also die damit identische (soziale) Armut eine Form von ›Othemarmut‹ darstellt. Mit dieser ›respiratorischen‹ Partiallinie hängt die gymnastische eng zusammen, und mit beiden die erotische, wie Heinses Ardinghello sie entfaltete. Wichtiger als all diese Partiallinien war für Hölderlin die poetische, die ebenfalls auf freirhythmischen Atem angewiesen war und daher die anderen ›griechischen‹ Partiallinien voraussetzte: Darum möcht’, ihr Himmlischen! euch ich danken und endlich     Tönet aus leichter Brust wieder des Sängers Gebet. Und, wie wenn ich mit ihr auf Bergeshöhen mit ihr stand,     Wehet belebend auch mich, göttlicher Othem mich an. (I , 290) In dieser früheren Fassung von Menons Klagen um Diotima ist die Osmose zwischen äußerem Äther und dem vom befreiten Atem geweckten inneren Äther des Gesangs deutlich formuliert – lautlich zusätzlich zum Rhythmus durch die Wiederholungen. Wenn der Ausbruch aus dem deutschen Gefängnis als Ausgangspunkt gelungen ist, beginnt die Bewegung ins Offene längs der fächerartigen Fluchtlinie mit ihren multiplen Partiallinien. Diese Bewegung ins Offene längs der Fluchtlinien ist das Wandern, wie im vorigen Kapitel ausgeführt wurde. Der Wanderer atmet frei im Luftmeer, er ist idealtypisch Nomade: […] da werd’ ich zum Adler, und ledig des Bodens Wechselt mein Leben im All der Natur wie Nomaden den Wohnsitz. (I , 170) Wesentlich dabei ist die Freiheit, politische und kulturelle, exemplarisch religiöse, Grenzen zu überschreiten, so wie es die Flüsse tun. Wenn die Gebirge auch natürliche Grenzen bilden, so können auch die überschritten werden. Deshalb sind die paradigmatischen Wanderer die Zugvögel, und deshalb kommen ihnen unter den Menschen die Seefahrer am nächsten. Hölderlins Schiffe sind exemplarisch Segelschiffe, wobei die Segel als »Flügel« bezeichnet werden. Hoch symptomatisch für den gesamten Wanderungskomplex ist die Imagination, dass sogar die Berge wandern können: Und wie Wagen, bespannt mit freiem Wilde, so ziehn die     Berge voran und so träget und eilet der Pfad. (I , 311) Diese Formulierung aus Stutgard legt nahe, dass die »sehnende« Fluchtlinie des Wanderers metonymisch in die Perspektiven der Berge hineingesehen wird. Die Berge Griechenlands sind dann konkret die der Profilkarten24 und ihre Bewegung ist die des wandernden Fingers. 24 Vgl. Lefebvre, »Les yeux de Hölderlin«, 426 ff.

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Wie Gebirg Das hochaufwoogend von Meer zu Meer Hinziehet über die Erde, (I , 336)       wenn von himmlischer Burg Die Berge fernhinziehen Bei Nacht, und hin Die Zeiten (I , 401) Das Wunschbild des »Offenen« ist also polyisotopisch konnotiert: Es umfasst Bewegungs- und Atemfreiheit wie erotische und politische Freiheit, kurz gesagt freien Verkehr mit dem Äther. Biographisch postuliert es vor allem die Freiheit zum poetischen Schreiben. Die imaginäre »Wanderung« längs der Fluchtli­ nie ist unlösbar verknüpft mit dem poetischen Schreiben – das Wandern auf der Fluchtlinie ist die »Motiv-ation« im Wortsinne, der »Beweg-grund« des Schreibens: O trinke Morgenlüfte, Biß daß du offen bist (I , 407; Germanien)25 Und dieses Schreiben bewegt sich polyisotopisch nach »Griechenland«: in von Klopstock übernommenen griechischen Rhythmen und in aus den drei Reisebüchern übernommene griechische Landschaften. Die versichernde ›Basis‹ der schreibenden Wanderung und des wandernden Schreibens ist die »griechische« Natur – das einzige Griechenland, das der Schreibende auch in Deutschland, und zwar im Frühling und Sommer, körperlich erfahren kann. Diese Versicherung ist also Sache der naturgeschichtlichen Isotopie. Der kleinste und engste »Behälter« deutscher Subjekte von 1800, noch enger als die Familie, war das in der bourgeoisen Konkurrenz atomisierte Individuum. Unter ihm litt Hölderlin sehr stark und suchte eine Fluchtlinie in eine »brüderliche« As-Sociation (dazu ausf. Kap. 6.2. über Diotima). Wenn von »Utopie« die Rede ist, ist insbesondere dieses Wunschbild der Befreiung von der Konkurrenz gemeint. Es ist exemplarisch vorgestellt in einer Aufhebung der strikten Trennung von Arbeit und Fest, in einer durch Poesie und Künste bewirkten festiven Alltagskultur, wie Hölderlin sie für Altgriechenland imaginierte und wie er sie in rousseauistischen Revolutions- und Friedensfesten in Frankreich ansatzweise realisiert glaubte (und wahrscheinlich, wie Jean-Pierre Lefebvre es annimmt, 1802 auch erlebte26). Die Fluchtlinie ins »Offene« impliziert also eine »Öffnung« der »Behälter«, wobei im konkreten Fall eine individuelle und eine kollektive, as-sociative Öff­ 25 Auch in dieser Hymne spielt die griechische Fluchtlinie eine wichtige Rolle: als ›verbotene‹. 26 Lefebvre, »Les yeux de Hölderlin«, 431 ff.

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nung oder beide gemeinsam betont sein können. Das dominante Modellsymbol dieser Öffnung ist die Anekdote von Kleopatra, die ihre kostbarsten, teuersten Perlen in Wein aufgelöst haben soll: So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth     Der Königin; und mochte sie doch! (I , 251)27 Dieses Modellsymbol ist direkt naturgeschichtlich lesbar: Der Wein enthält (alko­holische) Fluida, die feste Körper auflösen können: Perlen   geschlossene Individuen Wein   offene, egalitäre As-Sociation Kleopatra als eine Art Liebeskönigin verbindet den Gestus mit dem Gott Eros als ›Auflöser‹ von Macht (Königtum) und Reichtum. Der spezifische »Halbgott« dieser Transformation in eine offene, egalitäre As-Sociation ist Dionysos. Er ist der mythische Name für die Gesamtheit aller »öffnenden« Äther. In der zweiten Strophe von Stutgard wird ein Herbstfest imaginiert, in dem die deutsche Jugend ihre Borniertheit ablegt und sich, stimuliert von dionysischen Äthern, egalitär as-sociiert, formuliert im Symbol der Kleopatra: Darum kränzt der gemeinsame Gott umsäuselnd das Haar uns,     Und den eigenen Sinn schmelzet, wie Perlen, der Wein. (I , 311)

2.2.3. Modellsymbolik und die exzentrische Bahn als Konzept der Fluchtlinie Durch die polyisotopische Schreibweise entstehen Strukturen »bildlicher« (»sinn-bildlicher«) Art, die jedoch nicht von metaphorischem Typ sind. Der ›ganymedische‹ Strom ist keine Metapher für eine theo-logische Botschaft, genauso wenig wie der ›verbesserte‹, auf paradoxe Art entmythologisierte Mythos eine Metapher für Geologie ist. Ich habe für solche Strukturen bei Hölderlin, aber nicht nur bei ihm, den Begriff »Modellsymbol« vorgeschlagen. Ein Modellsymbol speist in den literarischen und sogar in den poetischen Diskurs spezialdiskursives (tendenziell wissenschaftliches) Wissen ein. Umgekehrt benutzen die wissenschaftlichen Diskurse Modellsymbole, um interdiskursive Verständlichkeit zu erzielen. Ein exemplarischer Fall ist etwa das Schach-Modell für die Sprachstruktur bei Ferdinand de Saussure. Ein klassisches Modellsymbol ist Galileis »Buch der Natur, das in geometrischer Sprache geschrieben ist« – es wird von Hölderlin in dem Griechenland-Entwurf zitiert:

27 Zur Anekdote (bei Plinius) s. DKV  I , 667.

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[…] Denn lange schon steht offen Wie Blätter, zu lernen, oder Linien und Winkel Die Natur […]. (I ,  479 f.) Ein weiteres, bei Hölderlin höchst wichtiges Modellsymbol ist die »exzentrische« Planeten- und Kometenbahn, die, wie in Kürze auszuführen ist, sowohl als Mo­ dell der Fluchtlinie wie als poetologischer Schlüssel dient. Hölderlins Polyisotopien kristallisieren sich häufig in Modellsymbolen, wobei wiederum die naturgeschichtliche Isotopie dominiert und mittels der Modellsymbole auch insgesamt dominant wird. Die Dominanz einer Isotopie innerhalb des polyisotopischen Fächers erweist sich durch ihre größere Autonomie: So gibt in einer zweistimmigen Parallelführung von naturgeschichtlicher und theo-logischer Isotopie die naturgeschichtliche in der Regel auch allein Sinn, während die theo-logische ohne die naturgeschichtliche leicht auf transzendente Abwege führen kann. Unter den naturgeschichtlichen Teildisziplinen ist die astronomische, da schlechthin nicht zu übersehen, seit langem in der Forschung am besten berücksichtigt, insbesondere seit Wolfgang Schadewaldt bereits 1952 das astronomische Modell der exzentrischen Bahn entschlüsselte28. Allerdings lässt sich jedes Symbol, und damit auch jedes Modellsymbol, vielfältig deuten. Das gilt gerade auch im Rahmen von Hypothesen des Synkretismus. So schlägt Jochen Schmidt vor, die exzentrische Bahn Hyperions mit dem Konzept einer bildungsromantypischen »Zentrierung« zu vereinbaren29. Dabei gilt Schillers Konzept der »ästhetischen Erziehung« auch als Hölderlins Modell, wobei dessen Kritik am Spiel-Konzept übergangen wird30. Von der gesamten symbolischen Anlage der exzentrischen Bahn her kann der Komet Hyperion, nachdem er den Planeten Diotima aus seiner Kreisbahn gerissen und dadurch getötet hat, schwerlich am Schluss teleologisch in eben diese Kreisbahn einmünden. Symptomatisch ist die aus einer solchen Annahme folgende These Jochen Schmidts, dass das Schiksaalslied durch den Schluss widerlegt und überwunden sei31. Die ›kurze‹, ›reißende Bahn‹ bleibt vielmehr eine ständige katastrophische Möglichkeit, und Hyperions Ende ist in mancher Hinsicht rätselhaft (dazu Kap. 2.3.4.). In seiner Studie Hölderlins Kalender32 hat schließlich Alexander Honold das astronomische Modellsymbol der exzentrischen Planeten- und Kometenbahn ergänzend systematisiert und um die vielfachen zyklischen »Denkfiguren« und

28 Schadewaldt, »Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin«. 29 BDK  II , 942–944, 954–956 30 Eine grundsätzlich alternative Sicht entwickelt ausführlich Hansjörg Bay, ›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins Hyperion, München 2003. 31 BDK  II ,  963 f. 32 Honold, Hölderlins Kalender.

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»Denkbilder«33 Hölderlins erweitert: um die Tages- und Jahreszeiten sowie die ökonomischen Rhythmen, vor allem aber um das historische Zeiten- und Epochen­konzept mittels des ebenfalls astronomischen Modells der »Revolution« bzw. »Umkehr«34. Das Modellsymbol der exzentrischen Bahn wird von Hölderlin zuerst im Kontext des Hyperion entwickelt, bevor es später in den Sophokles-Anmer­ kungen poetologisch systematisiert wird. Wie immer genau es im Einzelnen als Schlüssel für die Handlungsverläufe des Hyperion dienen mag, so erweist es sich plausibel als systematisches Konzept der Fluchtlinie. Und zwar sind Neugriechenland und Deutschland in der sonnenfernen Aphelposition, während Hyperion der altgriechischen sonnennahen Perihelposition zustrebt, an der Diotima sich zu Beginn bereits befindet. Während Diotima eine ruhige Planetenbahn mit geringer Exzentrizität beschreibt, wie ihr symbolisches Pendant, die Erde, erweist sich Hyperion als Komet mit sehr starker Exzentrizität, der mit hoher Geschwindigkeit auf die Sonne zustürzt, in Sonnennähe sich mit Diotima verbindet und mit ihr die Sonne umkreist, dann aber von seiner hohen »Rapidität« wieder in Richtung Sonnenferne getrieben wird und Diotima tödlich mitreißt. In Deutschland befindet er sich dann wieder im Aphel – seine Schlussposition auf Salamis kann auf keinen Fall als definitiv betrachtet werden.

2.2.4. Die griechische Natur ist keine Metapher Modellsymbole sind überwiegend nicht metaphorisch, sondern synekdochisch: Das Modell ist Pars pro toto, hologrammatische Teilstruktur einer größeren Struktur. Dass es sich im Fall Hölderlin nicht um eine forcierende theoretische Überstülpung handelt, zeigen ganz ›immanent‹ gewonnene philologische Befunde. In ihrer Dissertation aus den 1960er Jahren hat Anke Bennholdt-Thomsen im Zuge eines Close Reading der Motive »Stern« und »Blume« die Naturevokationen in Hölderlins poetischen Texten gedeutet. Da es zu ihrem methodischen Verfahren gehört, die Textimmanenz nicht zu überschreiten, fehlt auch der explizite Bezug auf die naturhistorische Isotopie bzw. die botanische und astronomische Isotopie als am meisten einschlägige Teilaspekte. Dennoch zeitigt auch dieses ganz »positive« philologische Verfahren ein mit dem gerade Gesagten kompatibles Resultat: Es handle sich bei Hölderlins Naturevokationen, insbesondere auch den griechischen im Hyperion, im Empedokles und in der Lyrik,

33 Sowohl Honolds Begriff des »Denkbilds« bzw. der »Denkfigur« (Hölderlins Kalender, 90–102 sowie passim) als auch der von Hölderlin übernommene einer »durchgehenden Metapher« (ebd., 89 f.) ist mit den Kategorien Modellsymbol und Isotopie kompatibel. 34 Honold, Hölderlins Kalender, 117–130.

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nicht um Metaphern (etwa für Poesie)35. Die präzise Analyse der Belege stößt vielmehr, auch ohne sie explizit zu thematisieren, auf die naturgeschichtliche Isotopie. Das ist evident beim Motiv des »Atems« (bzw. »Othems«): Die Blumen »atmen« ebenso wie die Menschen36, dieser »Atem« der Blumen ist ihr »Duft«. Naturgeschichtlich geht es dabei um das Modell von »Äthern«. Wie Alexander Honold erwähnt, hatte die Naturgeschichte der Pflanzen in den 1780er Jahren die »Gesetze der Pflanzenatmung« im Vorfeld des Modells der Photosynthese entdeckt37. Der zweite naturgeschichtliche Aspekt der Blumen ist ihr Knospen und Wachsen aus ihren Keimen als biologischer Prozess. Damit analog sind das Kristallisieren der Sterne aus der chaotischen Materie (nach Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels) und ihre Sichtbarkeit durch den Lichtäther. Dieser naturgeschichtliche Prozess wird mit dem Namen »Götter« belegt, wobei gilt: »Bei Hölderlin ist das Bestreben zu beobachten, mit dem Zusammenhang von Gott und Stern so Ernst zu machen, daß der Stern nicht mehr nur ein Symbol des Gottes ist, sondern identisch mit ihm«38. Deutlicher kann man die naturale Immanenz der »Götter« nicht formulieren. Wenn es also heißt, dass Duft und Licht zwei Formen des »Othems der Natur« seien39, so entspricht dem in der naturgeschichtlichen Isotopie ein äthertheoretisches Modell. Schließlich ist auch der menschliche, in der Sprache erscheinende »Geist« ein Produkt naturaler »Othem«-Äther, insbesondere als »Gesang«, als »Blume des Mundes«40. Für Hölderlins Griechenland sind nun innerhalb der naturgeschichtlichen Isotopie insbesondere die für das Klima relevanten Faktoren der Wärme einschließlich des »Feuer«-Komplexes relevant41. Die Naturgeschichte des späten 18. Jahrhunderts hatte längst die antiken vier Elemente analytisch vervielfältigt und entwickelte empirisch im Streit um das »Phlogiston« (Feuerstoff) eine Chemie der Verbrennung42, bei der die Elemente Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und ihre Interaktion entdeckt wurden43. Gleichzeitig führte das Rätsel des Lichts zu Spekulationen über »imponderable« (gewichtslose) »Mate 35 Bennholdt-Thomsen, Stern und Blume, 15, 49 (im Widerspruch dazu aber 29, 40). 36 Ebd., 19, 46, 49, 58. 37 Honold, Nach Olympia, 211. 38 Bennholdt-Thomsen, Stern und Blume, 51, 64, 196. 39 Ebd., 58. 40 Ebd., 163 ff. 41 Zur kulturhistorischen Klimatologie im 18. Jahrhundert (mit Rousseau und Herder als direkten Anregern Hölderlins) Honold, Hölderlins Kalender, 224 ff. 42 Schelling verteidigt das Phlogiston, obwohl er sich von der Annahme einer festen phlogistischen Materie distanziert; seine Argumentation ist alles andere als klar (Von der Weltseele, 473 ff.). 43 Der Begriff der »Elemente« gehört zu den naturgeschichtlichen Grundbegriffen Hölderlins. Er gleitet zwischen wissenschaftlicher Naturgeschichte (»Die Flammen und die allgemeinen /  Elemente«; I , 479) und mythischer Isotopie (»Daß liebender, im Bunde mit Sterblichen / Das Element dann lebet«; I , 277).

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rien«, die mit dem antiken Begriff des »Äthers« bezeichnet wurden. All diese Erkenntnisse und Spekulationen werden in einer Publikation von Hölderlins damals engem Freund Schelling ausführlich behandelt: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798), der bereits 1797 das entsprechende Programm Ideen zu einer Philosophie der Natur vorausging. Die Quellen aller zeitgenössischen empirischen Naturhistoriker werden dort zitiert44. Schelling integriert das empirische Wissen jedoch in eine »dynamische Philosophie«, die in der »transzendentalen Konstruktion« der Phänomene besteht. Diese Integration hört sich dann folgendermaßen an: Da die Lebensluft eine zusammengesetzte Materie ist, und da alle Flüssigkeiten angesehen werden müssen als zusammengesetzt aus einem ursprünglichelastischen Fluidum und einer ponderablen Materie, so können wir hier […] den sogenannten Sauerstoff als die negative Materie der Lebensluft ansehen, die sich beim Verbrennen mit dem Körper verbindet, während die positive unter der Gestalt des Lichts davongeht (457). Schelling »konstruiert« über das empirische Material einen durchgehenden »Dualismus«45 der Natur zwischen »positiven« und »negativen« Materien und »postuliert« am Ende einen omnipräsenten »Äther« mit der Fähigkeit, Materie zu »beseelen«. Obwohl Hölderlin sicher die großen Linien der spekulativ-empirischen Naturphilosophie Schellings kannte, gibt es bei ihm keinerlei Anleihen bei ihren »transzendentalen« Komponenten: keine »Prinzipien«, kein »Positives« und kein »Negatives«. Man gewinnt den Eindruck, dass Hölderlin sich auf die empirischen Komponenten, also die Naturgeschichte im engeren Sinne, zu beschränken suchte. Dabei ist jedoch sicher, dass er den »Äther« und seine »Evolutionen« als genauso sichere empirische Gegebenheiten wie die neu entdeckten 44 Seit eine Vorlesungsnachschrift von 1804 der »Naturlehre« des Physikprofessors am Stift Christoph Friedrich von Pfleiderer publiziert wurde, gibt es Hypothesen über Hölderlins Kenntnis einer Vorstufe dieser Vorlesung. Hegels und Schellings Kenntnis ist sicher, Hölderlins hochwahrscheinlich. Viel unsicherer sind Schlüsse auf die mehr als zehn Jahre frühere Fassung. 1804 stellt Pfleiderer im chemischen Abschnitt »Phlogistik« (Priestley) und »Antiphlogistik« (Lavoisier) einander gegenüber, mit Zweifeln an der zweiten. Also ist es höchstwahrscheinlich, dass er (falls überhaupt) Anfang der 1790er Jahre eine rein »phlogistische« Theorie vertrat. Für Hölderlin könnte u. U. (außer der exzentrischen Bahn der Planeten) der Abschnitt über »Gährung« und die »Luftarten« wichtig gewesen sein. Pfleiderer kennt 1804 »reine Lebensluft« (Sauerstoff), »entzündbare Luft« (Wasserstoff), »fixe Luft« (Kohlenstoff) und »Sumpfluft« (Kohlenwasserstoffverbindungen). Vgl. Christoph Friedrich von Pfleiderer, Naturlehre nach Klügel. Nachschrift einer Tübinger Vorlesung von 1804, hg. v. Paul Ziche, Stuttgart-Bad Canstatt 1994, 376–410. Den »Äther« indes behandelt Pfleiderer gar nicht. 45 Natürlich nicht zu verwechseln mit dem metaphysischen Substanzendualismus etwa des Descartes, den Schelling explizit bekämpft, es geht also um einen rein immanenten Dualismus.

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chemischen Elemente betrachtete46. Auffällig ist ferner, dass in Schellings Text zwar die Nerven eine Rolle spielen, nicht aber das Gehirn eigens abgehandelt wird, und dass Sömmerring nicht namentlich erwähnt wird (Reil dagegen oft zitiert wird). Hölderlin hat mehrfach einen ›Dissens‹ mit Schelling erwähnt, den u. a. Michael Franz zu rekonstruieren versucht hat47. Nun hat Schelling Sömmerrings seinerzeit u. a. durch eine Kritik Kants viel erörterte Schrift Über das Organ der Seele (1796) gekannt, aber anonym als naiv materialistisch (»dogmatisch«) verurteilt: Ob ich die Nerven von animalischen Geistern, elektrischen Materien oder Gasarten durchströmen oder davon erfüllt seyn, und durch sie Eindrücke zum Sensorium von außen fortpflanzen lasse, oder ob ich die Seele bis in die äußersten (noch dazu problematischen) Feuchtigkeiten des Hirns (ein Versuch, der wenigstens das Verdienst hat, das Äußerste gethan zu haben) verfolge, ist in Rücksicht auf die Sache völlig gleichgültig48. In der Einschätzung von Sömmerrings Schrift gab es also einen möglicherweise symptomatischen Dissens zwischen den Freunden, wie im Folgenden deutlich werden wird. Für Hölderlin war die Begegnung mit Thomas Sömmerring, dem seinerzeit weltberühmten Arzt und Anatomen, von fundamentaler Bedeutung für seine Version der »Naturgeschichte«. Diese Begegnung, auf die noch mehrfach einzugehen sein wird, war sowohl persönlich (Sömmerring war Susette Gontards Hausarzt) wie vor allem intellektuell. In zwei Epigrammen von 1796 hat Hölderlin das Fazit seiner Lektüre von Sömmerrings Schrift Über das Organ der Seele (1796) festgehalten (s. u. Kap. 7.1.). Wie ich in HR (77–81) ausführlich dargestellt habe, beruhte der entscheidende ›Aha-Effekt‹ der Lektüre für Hölderlin auf Sömmerrings These, dass das ätherische Nerven- und Gehirnfluidum Sinnlichkeit und Bewusstsein generiere: Nehme ich hingegen an: Die durch den Nerven nach dem Hirne zu erfolgende Bewegung bleibe bis zu seiner Hirnendigung die nämliche […], theile sich nun aber, wo der Nerve aufhört, der Hirnhöhlenfeuchtigkeit mit: so wird wenigstens begreiflich, daß nun etwas gar sehr Verschiedenes – eine Empfindung nämlich entstehen kann […]. (Königsberg 1796, 36) 46 Jochen Schmidt identifiziert Hölderlins Äthervorstellungen ausschließlich mit denen der Stoa. Tatsächlich beruht die Möglichkeit, antike Ätherbelege als mythologische Kodes zu nutzen, auf der Überzeugung moderner »Naturwissenschaft«, ein empirisch gegründetes, chemisches Wissen von Äthern zu besitzen. Für Hölderlin ist dieses moderne Wissen entscheidend. 47 Franz, »Schelling und Hölderlin«. 48 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur [als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft], 2. Aufl. 1803 (1. Aufl. 1797), in: Schellings Werke, hg. v. Manfred Schröder, 1. Hauptband, München 1958 (1927), 653–723, hier 703 f.

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Hölderlin verdankt diesen (spekulativen) Hypothesen (ausf. HR , 78 ff.49) die Möglichkeit, seinen Neospinozismus mit einer neomaterialistischen Natur­ geschichte zu integrieren. Das geschah über ein erweitertes Äther-Konzept: Sömmerrings ›inneren Äther‹ begriff Hölderlin als in ständiger Osmose mit dem äußeren, kosmischen Äther: O Schwester des Geistes, der feurigmächtig in uns waltet und lebt, heilige Luft! (I , 655) Beide – innerer und äußerer – Äther wurden wiederum plural vorgestellt. Entscheidend war das ständige Kontinuum zwischen allen Äthern50. »Schwester« ist hier also nicht bloß metaphorisch, sondern in erster Linie als naturales Kontinuum zu lesen. Dem kontinuierlichen naturalen Gleiten der Äther entspricht poetisch ein Gleiten zwischen Metapher und Metonymie. Wie die Texte deutlich nahelegen, applizierte Hölderlin dieses Äthermodell auf den eigenen Körper (s. u. Kap. 7.1.) und konkretisierte es umgekehrt zusätzlich mittels seiner körperlichen Erfahrungen. Von nun an besaß er ein naturgeschichtliches Konzept seines höchsten, spinozistischen Gottes Deus-Natura-Potentia, den er hinfort »Aether« (synonym damit das »Reine«) nannte. Man kann durchaus von einem prägen­ den ›Sömmerring-Erlebnis‹ Hölderlins in Frankfurt 1796 sprechen. Hölderlins Denkversuch, den spinozistischen Substanzenmonismus durch das Modell eines naturgeschichtlichen Kontinuums mit der Empirie zu kombinieren, nähert sich Modellen an, die bei Schelling aus Gründen der transzendentalen Epistemologie verworfen werden: Ich behaupte aber, daß wir ein Leben außer uns so wenig als ein Bewußtsein außer uns empirisch begreifen, daß weder das eine noch das andere aus physischen Gründen erklärbar, daß es in dieser Rücksicht völlig gleichgültig ist, ob der Körper als ein zufälliges Aggregat organisirter Körperteilchen, oder als eine hydraulische Maschine, oder als eine chemische Werkstätte betrachtet wird51. Tatsächlich begegnen bei Hölderlin jedoch hydraulische Organe (»Röhren«) und »Werkstätten« für ›Äther-Gärungen‹52. Ich habe ferner vorgeschlagen, 49 Vgl. auch Strack, »Sömmerrings Seelenorgan und die deutschen Dichter«; Oehler-Klein/ Wenzel, »Reizbarkeit – Bildungstrieb – Seelenorgan«. 50 Vor dem ›Sömmerring-Erlebnis‹ denkt Hyperion (offensichtlich als Sprachrohr Hölderlins) noch an eine rein ›projizierende‹ Beseelung der Materie durch menschliche Phantasie (in der metrischen Fassung: I , 513, 518, 525). An die Stelle dieser letztlich immer noch dualistischen Auffassung tritt dann die Möglichkeit, den spinozistischen Monismus in der naturgeschichtlichen Isotopie als naturales Kontinuum zu denken. 51 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 699. 52 So in der ersten Strophe von Heimkunft: »und die unermeßliche Werkstatt / Reget bei Tag und Nacht, Gaaben versendend, den Arm.«

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­ iesen Komplex bei Hölderlin im Rahmen eines »Fluida-Modells« zu lesen, das d man als eine Art durchschnittliche naturgeschichtliche Vorstellung des späten 18. Jahrhunderts rekonstruieren kann.53 Dazu gehörten mindestens die folgenden »Fluida«: der kosmische Äther als Medium des Lichts, unter Umständen das Licht selbst (beim Korpuskularmodell), der Wärmestoff als »calorique« Lavoisiers, oft einfach auch »Feuer« genannt, das Phlogiston nach verschiedenen Auffassungen, das elektrische Fluidum, das magnetische Fluidum, das galvanische Fluidum (etwa nach Alexander von Humboldt), der Sauerstoff, der Wasserstoff, der Stickstoff und die Luft als Mischung mehrerer dieser und eventuell noch weiterer Fluida. Um die Wahrnehmungs- und Vorstellungsweise vieler Zeitgenossen Hölderlins und nach meiner Vermutung auch Hölderlins selbst also möglichst konkret rekonstruieren zu können, ist es am besten, von der verbreiteten Vorstellung eines »Luftmeeres« auszugehen: Dieses »Meer« wurde nach Analogie des Wassermeeres als Fluidamasse vorgestellt, auf deren Grund die Landlebewesen sich bewegen. Dass Hölderlin solche Auffassungen nicht bloß teilte, sondern dass er sie geradezu »lebte«, beweist die fundamentale Rolle aller meteorologischen Prozesse (der »Witterung« im weiten Sinne) und besonders der regelmäßigen Windströmungen in seiner Lyrik nach 1802. Man kann diese Windlinien mit ihren großen Tendenzen wie mit ihren kontingenten Besonderheiten, deren Lauf sich z. B. die Zugvögel anpassen, durchaus in Analogie zur teils gesetzmäßigen, teils kontingenten Konstitution der Ströme sehen. Im Kontext der vorliegenden Studie lässt sich also eine enge Verwandtschaft zwischen solchen »Strömen« sowohl im Wasser wie in der Luft und den Fluchtlinien der Wünsche konstatieren. Für Griechenland, aber auch für den noch südlicheren bzw. südöstlicheren »Orient« mit seinen Wüsten spielen nun die thermischen Fluida bzw. Äther eine besonders wichtige Rolle. In den Texten nach 1800 häuft sich das Motiv der Verbrennung, das wohl als das wichtigste Problem der zeitgenössischen Chemie betrachtet werden kann. Es ist bei Hölderlin mit Angst besetzt, was auf eine Verknüpfung mit naturgeschichtlichen Modellvorstellungen seines eigenen Körpers verweist. In Kapitel 7 wird dieser Zusammenhang genauer dargestellt (bekannt ist die Formel des »Von-Apollo-geschlagen«-Seins, wobei Apollo als Sonnengott Quelle mächtiger thermischer Äther ist). Hölderlin scheint den eigentlichen Verbrennungsvorgang nicht bloß mit dem thermischen Fluidum und einem Phlogiston, sondern auch mit dem elektrischen Fluidum zu erklären. Nicht nur erwähnt er den Blitzableiter im hymnischen Entwurf Die Titanen, sondern stellt sich in der Feiertagshymne sogar die Dichter als menschliche Blitzableiter vor, die sich aber dem Risiko des Verbrennens aussetzen. Selbst der Halbgott 53 Symptomatisch für das Denken und Leben im Fluidamodell ist Hölderlins übliche Ausdrucksweise, Licht und andere Äther zu »trinken« (»nun trinkt, / Ihr meiner Bäche Weiden! Ein Augenlicht«; I , 440).

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Dionysos scheint in dieser Gefahr zu schweben, wie es die spätere Neufassung der Elegie Brod und Wein nahelegt: Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,     Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists! Wunderbar und genau ists als an Menschen erfüllet,     Glaube, wer es geprüft! nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath.     Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist. Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder     Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt. (I , 381, 383) Der »Geist« ist zwar eine allgemeine Formulierung, er setzt an dieser Stelle aber emphatisch das vorherige Narrativ des Weingotts Dionysos fort, der wiederum die mythische Formel für den gesamten Komplex der Praktiken »des Dionysischen« ist. Konkret ist dann die Kolonie des Dionysos, der aus der südlichen Hitze stammt (Indien), eben das schattige Hesperien, in das er auswandern wird, um dem Verdursten und Verbrennen zu entgehen. Mit dem Wein und den darin enthaltenen chemisch gebundenen elektrischen oder paraelektrischen Fluida (Alkohol, schon damals bekannt als Verbindung aus Kohlen-, Sauer- und Wasserstoff) wird Dionysos die kühlen Hesperier und besonders die Deutschen in dieser erhofften utopischen Zukunft »beseelen«. Hölderlin entwirft hier also eine inverse Fluchtlinie von Griechenland nach Deutschland, die wie eine längliche exzentrische Kometenbahn seine eigene Fluchtlinie am südlichen Perihel wendet und so seinen griechischen Wunsch ›zuhause‹ im sicheren Schatten erfüllen soll.

2.2.5. »weil / Ohne Halt verstandlos Gott ist« (SA II1, 163): Äther und Gefäß Zu Hölderlins ›Sömmerring-Erlebnis‹ bezüglich des ›inneren Äthers‹ gehörte die Einsicht in die Interaktion zwischen Nervenfluida und Nervengefäßen. Der physiologisch-medizinische Begriff des »Gefäßes« ließ sich als notwendiger organischer Kanal des sensiblen Äthers begreifen, den das Ge-fäß »fasst«. Aus der Interaktion der komplexen Gehirngefäße und der sömmerringschen »Feuchtigkeit« ließ sich die Emergenz von Sinn in mehrfacher Bedeutung spekulativ erklären. Die mythische Formel dafür bei Hölderlin ist das Modellsymbol von Nektar und Kelch: »und wo die Gefäße, / Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?« (I , 376, Brod und Wein). Liest man solche Verse in der wechselseitig gekoppelten theo-logischen und naturgeschichtlichen Isotopie, dann ist »Göttern zur Lust« keine rhetorisch-ornamentale Floskel, sondern bezieht sich auf die lustvolle ›Reizung‹ der ätherischen Fluida durch den Gesang als höchste Evolution des Othems.

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Bei der These von der Rolle der spezifischen, um Äthervorstellungen konstellierten, naturgeschichtlichen Isotopie Hölderlins geht es nicht darum, den hoch spekulativen Aspekt zu leugnen. Wesentlich ist vielmehr, dass Hölderlin von der positiv-wissenschaftlichen Fundierung und Modernität dieses Modells überzeugt war. Ausgehend von der Pluralisierung des »reinen« kosmischen Äthers durch Transformationen und »Evolutionen« konnte er sozusagen aus der Not eine Tugend machen, indem er das »Gleiten« und Kombinieren der spezifischen Äther betonte: Wesentlich dabei war die spinozistische monistische Kontinuität sämtlicher Äther und Gefäße. Als wissenschaftliche Basis dafür galt ihm (wie auch Hegel und Schelling) Blumenbachs Theorem vom »Bildungstrieb«.

2.2.6. Naturgeschichte und Poetologie: »Organ« und »Reines« Eine spezifische Konkretisierung des naturgeschichtlichen Modells von Äther und Gefäß ist die poetologische, die in dem äußerst schwierigen Text Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig (II , 77–100) versucht wird, wobei man sicher nicht von einer definitiven Lösung der vielschichtigen Probleme sprechen kann. Deutlich ist aber die auch sonst bekannte Auffassung vom poetischen Text als einem besonderen »Gefäß« für den ätherischen »Geist«, wobei Gefäß als »Organ« und Äther als »Reines« bezeichnet werden (II , 84 ff.). Dabei ist »Organ« der naturgeschichtlich eigentlich passende Terminus, so dass »Gefäß« bloß seine Synekdoche (seine Pars pro toto) ist: Das Organ ist je eine Gesamtheit von Gefäßen. »Reines« und kosmischer Äther sind auch sonst durchgehend äquivalent. Poetologisch erscheint der Text (Diskurs) mit seinen Buchstaben also als eine besondere Form von Ein-Fassung für die inneren Äther. Synonym damit ist der Begriff des »Vesten«: »bevestigter Gesang« (I , 423)54. Gegenüber Schelling hat Hölderlin dieses sömmerringsche Modell wie folgt formuliert: […] und daß die Seele im organischen Bau, die allen Gliedern gemein und jedem eigen ist, kein einziges allein seyn läßt, daß auch die Seele nicht ohne die Organe und die Organe nicht ohne die Seele bestehen können, und daß sie beede, wenn sie abgesondert und hiermit beede aorgisch vorhanden sind, sich zu organisiren streben müssen und den Bildungstrieb in sich voraussezen. Als Metapher durfte ich wohl diß sagen. (II , 793)55

54 Dies ist das Leitmotiv in Dietrich Uffhausens Konzept und Editionspraxis (Bevestigter Gesang). 55 Ähnlich an Neuffer: »Die Sprache ist Organ unseres Kopfs, unseres Herzens, Zeichen unserer Phantasien, unserer Ideen; uns muß sie gehorchen« (II , 538). Betont ist hier die Individualität und Originalität, vorausgesetzt dabei die naturgeschichtliche Kontinuität von Organ und Geist (Sprache).

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Hölderlins mehrpolige Fluchtlinie Griechenland 

Der »Bildungstrieb« Blumenbachs dient Hölderlin als naturgeschichtlich begründete Prozessdynamik, die das gesamte Kontinuum von den scheinbar toten, in Wirklichkeit als bereits be-lebend vorgestellten »Göttern« bis in die höchsten Evolutionen des inneren, geistig-sprachlichen Äthers im Gehirn durchzieht. In diesem Kontinuum ist der poetische Produktionsprozess (der »Gesang«) eine spezifische und – wie Hölderlin überzeugt ist – ›höchste‹ Emergenz. In diesem Modell ist also die Poesie naturgeschichtlich zu begreifen56.

2.2.7. Die griechische Fluchtlinie als Quintessenz aller polysemischen Verfahren zur Integration der Isotopien Wie bereits bei der Erörterung der Griechenland-Fragmente ausgeführt, spielt die griechische Fluchtlinie eine wesentliche Rolle für die Struktur der poly­ isotopischen Schreibart Hölderlins. Diese Schreibart lässt sich, wie ebenso bereits ausgeführt, mit einem mehrstimmigen musikalischen Satz vergleichen, in dem die einzelnen ›Stimmen‹ von den Isotopien gebildet werden: der biographischen, intertextuellen, poetologischen, philosophischen, theo-logischen und naturhistorischen. Dabei wird die Parallelität zwischen den Isotopien ständig durch Lücken unterbrochen. Die Gesamtstruktur beruht auf mehrdeutigen Elementen (Polysemien) wie exemplarisch »Himmel« (heaven, sky, Liebesglück). Diese ›polysemischen Knoten‹ konvergieren in der griechischen Fluchtlinie: im ›heiteren Klima‹ (Sehnsucht in der biographischen Isotopie, Freuden-Götter in der theo-logischen, enthusiastische Tonalität in der poetologischen, sonnig-ätherisches Wetter in der naturgeschichtlichen), im Freiheitsdurst der kairologisch-politischen Isotopie, in der Frankreich mit Altgriechenland kodiert wird. Dabei ist der polyisotopische Fächer des Wissens keineswegs durchgängig symmetrisch-harmonisch gefüllt (»harmonisch-entgegengesetzt«57), sondern teilweise aus heterogenen Elementen ›zusammengebastelt‹. Typisch dafür ist das wichtige Element Rousseau, das sich – im Gegensatz zu Heinse – nur indirekt über seine Phasentheorie der frühen Menschheitsgeschichte und kombiniert mit dem Element Pindar in den griechischen Isotopienfächer fügt. Wenn man die »harmonisch-entgegengesetzten« polysemischen Knoten musikanalog als ›Konsonanzen‹ auffassen kann, so die »direkt-entgegengesetzten« als ›Dissonanzen‹. Eine »exzentrische«, ›zentri 56 Ein Teil der neueren Hölderlinforschung verbindet diesen Komplex mit der »rhizomatischen« und »palimpsestförmigen« Textgestalt der Manuskripte, vor allem des Homburger Folioheftes. Helmut Mottel dient der »erdwissenschaftliche Diskurs« (»Apoll envers terre«, 75–114), also ein Teildiskurs des naturgeschichtlichen, als Basis für Hölderlins Intention einer »Phänomenalisierung des Begriffs« (45). Im Rahmen dieses Konzepts hat Mottel auch weitere mögliche naturgeschichtliche Quellen (im Kontext der Kartographie) erschlossen. 57 Dieser und die folgenden Begriffe nach dem Text Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig (II ,  85 ff.).

Noch einmal: Hölderlins griechische Fluchtlinie   

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fugale‹ Tendenz verstärkt sich also auch strukturell im historischen Verlauf des hölderlinschen Schreibens.

2.2.8. Interne Widersprüche und die Zeitstruktur der griechischen Fluchtlinie Wie bereits erwähnt, wirkt der transfamilialistischen Partiallinie, also der Fluchtlinie aus dem heimatlichen eng-deutschen und besonders mütterlichen »Behälter« hinaus in »offene«, »griechische« (dionysische) As-Sociationen, ein umgekehrter ›Heimattrieb‹ entgegen. Auch biographisch flieht Hölderlin in Abständen aus seinen Fluchten wieder zurück nachhause (um bald wieder zur nächsten Flucht auszuschwärmen). Es scheint sich um eine ausweglose Sackgasse, um eine Aporie im Wortsinne zu handeln: griechisch aporía bedeutet zunächst ›ohne Furt, ohne Durchgang‹ und dann eben Ausweglosigkeit und nicht zuletzt auch ›Dürftigkeit, Armut‹. Eine Analyse des aporetischen Komplexes der Fluchtlinie führt auf das Problem ihrer zeitlichen Struktur. Die Fluchtlinie impliziert verschiedene Spielarten, Modi von Zeit. Der Zeitmodus des befreienden Ausbruchs ist die »reißende Zeit« oder die revolutionäre, kairotische Zeit, entsprechend der »Zeitbeschleunigung« um 1800 nach Reinhart Koselleck58. Das extreme Gegenteil wäre die naturale, zyklische Zeit der Tages- und Jahresrhythmen und der Vegetation (die Zeit der ursprünglichen Diotima), die aber als »Schlaf« ebenfalls zum Gefängnis werden kann. Das ist dann die »dürftige Zeit« (I , 378). Aus dieser Aporie der Fluchtlinie sucht Hölderlin in einer paradoxen Sehnsucht nach »Ruhe« eine Lösung. Die »reißende Zeit« ist befreiend, bedroht aber schließlich die Freiheit des Atmens. ›Ruhepunkte‹ in der Fluchtlinie sind notwendig, um »Athem zu holen« (I , 471). Im schlimmsten Falle reißt die reißende Zeit in der Linie des »wunderbare[n] Sehnen[s] dem Abgrund zu« (I , 258) frühzeitig in den Tod. Ideal wäre eine freie Wanderung mit Momenten ›heimatlicher‹ Ruhe. Diese Vorstellung ist eng verknüpft mit dem, was man Hölderlins Rousseau-Mythos nennen kann. Der Rheinhymne zufolge vermied Rousseau die gefährliche ›kurze Bahn‹ und erlangte trotz reißender Zeit eine ›lange Bahn‹ mit Ruhepunkten unterwegs und mit Ruhe am Ende, wo er sein Leben und dessen gelungene Werke überblicken konnte. In musikalischer Analogie entspräche einer solchen idealen Fluchtlinie die Bewegung eines ›Rubato‹ »in Eile zö­ gernd« (I, 259)59, wie sie tatsächlich den hölderlinschen Rhythmus von Stauung und Entstauung im »heroischen« und »idealischen Ton« kennzeichnet. Zu den 58 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, 368 f. 59 Vgl. auch Hyperions Ausruf: »Daran […] erkenn’ ich sie, die Seele der Natur, an diesem stillen Feuer, an diesem Zögern in ihrer mächtigen Eile« (I , 697).

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konkretisierenden Formulierungen des hoch abstrakten Textes Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig gehört die folgende Aussage über den »Wechsel der Formen« des »poetischen Lebens«: […] nur im Wechsel der Formen ist es entgegengesezt, nur in der Art nicht im Grunde seines Fortstrebens, es ist nur schwebender oder verweilender oder schneller, nur gehaltener oder nachgelaßner oder gespannter, nur geschwungner oder zielender oder geworfner, nur zufällig mehr oder weniger unterbrochen; […]. (I ,  83 f.) Deutlich ist dabei ein Modell des Rhythmus, und deutlich ist auch Hölderlins musikanaloge Vorstellung dieses Rhythmus wie auch seiner poetischen Sprache insgesamt60. Das gleiche Ideal ist bei Hölderlin auf kollektiv-kultureller, as-sociativer Ebene mit Altgriechenland verbunden – sein Rhythmus zwischen reißender und ruhig fließender Zeit ist eines der Themen des Archipelagus (dazu Kap. 2.5.). Als Modellsymbol (mit naturgeschichtlicher Isotopie) dient der Strom, von dem die Bezeichnung »reißend« evidenterweise entlehnt ist. Der Strom als der paradigmatische naturale Wanderer wechselt wie der Rhein (in der Rheinhymne) zwischen reißenden und ruhig fließenden Abschnitten. Die reißende Fluchtlinie aus dem deutschen Gefängnis zunächst in das neugriechische und von dort in den als ideal vorgestellten altgriechischen Zeitmodus springt aus diesen beiden Ekstasen der Zeit unmittelbar in die dritte, die ›utopische‹ Zukunft. Die Zeit eines künftigen kollektiven Rubato wäre eine festive, musikalische Zeit sowohl aus zyklischen Festen wie aus kairotischen kulturrevolutionären Ereignissen und Bewegungen. Sie wäre nicht zuletzt eine Zeit der Applikation (dazu Kap. 6) hölderlinscher, rubato-rhythmischer Poesie. Solche Bewegungen würden die As-Sociation schrittweise in höhere Grade von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit transformieren, wobei es Antagonismen zu überwinden gälte, was nur in reißender Zeit denkbar ist. Wie jedoch die transfamilialistische Partiallinie bereits zeigte, führt die reale Applikation der griechischen Fluchtlinie schließlich auch in Aporien und unlösbare Antagonismen, die in den letzten Jahren vor 1806 Formulierungen erzwingen, in denen das Rubato in ein kleinteiliges Zerbrechen bis zum Zerspellen der rhythmischen Linie übergeht.

60 Insofern ist es konsequent, dass sich an den hoch abstrakten theoretischen Text, in dem Hölderlin bis an die Grenze seines Intellekts ging, um eine »intellektuale Anschauung« in endlose Sätze zu zwingen, damit die Synchronie fassbar würde – dass sich an diesen Text direkt die konkreten Modelle des »Wechsels der Töne« anschlossen (dazu ausf. HR , 104–120).

Das erste Gesamtkonzept der Fluchtlinie im Hyperion  

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2.3. Das erste Gesamtkonzept der Fluchtlinie im Hyperion In der Vorrede zur Buchfassung des Ersten Bandes von Hyperion heißt es: Der Schauplaz, wo sich das Folgende zutrug, ist nicht neu, und ich gestehe, daß ich einmal kindisch genug war, in dieser Rüksicht eine Veränderung mit dem Buche zu versuchen, aber ich überzeugte mich, daß er der einzige Angemessene für Hyperions elegischen Charakter wäre, und schämte mich, daß mich das wahrscheinliche Urtheil des Publikums so übertrieben geschmeidig gemacht. (I , 611) Eigenartigerweise schweigen sich die Kommentare, so beredt sie zum »elegischen Charakter« sind, über Hölderlins Hinweise zum »Schauplaz« aus. In welches Land wollte er die Geschichte verlegen?61 Sämtliche erhaltenen Vorstufen spielen in Griechenland. Griechenland ist also der »nicht neue« Schauplatz. Das gilt jedoch eigentlich nur für Altgriechenland, den topischen Schauplatz des Subgenres des »griechischen Romans« à la Agathon.62 Neugriechenland ist ein durchaus neuer Schauplatz. Ein Überblick über den »griechischen Roman« zeigt, dass dieser tatsächlich ›alte‹ Schauplatz im 18. Jahrhundert keineswegs auf eine wie auch immer aufzufassende elegische Stimmung festgelegt ist. Das beste Beispiel dafür ist Heinses früher Roman Laidion,63 den Hölderlin vermutlich auch gelesen hat, begegnen dort doch Motive wie »Sokrates und Alkibiades«, »heiliger Sokrates«, »Diotima« und viele ähnliche. Es handelt sich um eine Kombination aus Totengesprächen (die schöne Hetäre Lais erzählt aus dem Jenseits ihre Geschichte) und einer erotischen, gegen die Monogamie gerichteten Glück­seligkeitsphilosophie, in der alle Berühmtheiten Altgriechenlands zu Worte kommen.

61 Mit einem anderen Schauplatz kann schwerlich Deutschland im Rahmen der metrischen Fassung und von Hyperions Jugend gemeint sein, wie mit anderen Alexander Honold annimmt, der aber eine contradictio in adiecto wagen muss: »Die Umgestaltung tangierte dort zwar nicht den griechischen Schauplatz selbst [sic, J. L.], wohl aber dessen Relation, seine erzählerische Positionierung durch ein exzentrisches, deutsch-griechisches Briefverhältnis« (Honold, »Hyperions Raum«, 53). 62 Hölderlin spielt also mit einer Doppeldeutigkeit, wenn er sein Projekt als »griechischen Roman« bezeichnet (an Neuffer 21.–23.7.1793; I , 499). Dass Hyperion von Beginn an Neugrieche war, zeigt zur Genüge Stäudlins Empfehlung, »versteckte Stellen über den Geist der Zeit in dieses Werk einzuschalten!!!« (I , 507) – Zum »griechischen Roman« Link, »›Hyperion‹ als Nationalepos in Prosa«; Erhart, »›In guten Zeiten giebt es selten Schwärmer‹«. 63 Wilhelm Heinse, Sämmtliche Werke, hg. v. Carl Schüddekopf, Bd. 3,1, Leipzig 1906, 1–214 (Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse). Verglichen mit Wielands Agathon ist Laidion unanschaulich und unpsychologisch, ein bloßer Rahmen für die Darstellung sensualistischer Philosophie.

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Das »nicht neu« ist also ein ironisches Understatement für die höchst originelle Komplexität des »Schauplatzes« mit seinen drei oder (bei Einbeziehung Deutschlands) vier wechselnden Zeitebenen, von denen Diotima in ihrer Definition von Hyperions elegischem Charakter die drei griechischen benennt: Siehest du nun, wie arm, wie reich du bist? warum du so stolz seyn mußt und auch so niedergeschlagen? warum so schröklich Freude und Laid dir wechselt? / Darum, weil du alles hast und nichts, weil das Phantom der goldenen Tage, die da kommen sollen, dein gehört, und doch nicht da ist, weil du ein Bürger bist in den Regionen der Gerechtigkeit und Schönheit, ein Gott bist unter Göttern in den schönen Träumen, die am Tage dich beschleichen, und wenn du aufwachst, auf neugriechischem Boden stehst. [Hervorhebung J. L.] […] Zweimal, sagtest du? O du wirst in Einem Tage siebzigmal vom Himmel auf die Erde geworfen (I ,  671 f.). Nach dieser Definition wechselt der Schauplatz ständig zwischen den drei Ekstasen der griechischen Zeit: der (hier impliziten) Antike, der »dürftigen«, »armen« neugriechischen Gegenwart und der erhofften utopischen Zukunft. (Mit der dürftigen neugriechischen Gegenwart ist die ebenfalls dürftige deutsche gekoppelt, mit der erhofften neugriechischen Utopie die erhoffte deutsche.) Dieser tripolare Chronotopos Griechenland erweist sich sinnlich und narrativ als Ruinen- bzw. Friedhofslandschaft inmitten einer überwältigenden »ewigen« Naturschönheit, insbesondere der mediterranen Vegetation und der allgegenwärtigen Meeresnähe, kulminierend in den Inseln des Archipelagus. Während Antike und künftige Utopie lediglich in Hyperions ›Tagtraum‹ (»den schönen Träumen, die am Tage dich beschleichen«) existieren, wird die Gegenwart zwischen Ruinen und Naturschönheit von den nach Maßgabe der Reiseberichte realistisch gezeichneten Neugriechen bestimmt. Während Hyperion von künftigen »Bürgern« (citoyens) einer vereinten Nation träumt, sind die realen Neugriechen vielfach gespalten – »zerrissen«, wie es explizit auch von den Deutschen heißt, zwischen Griechen, Albanern und Türken sowie innerhalb der Griechen selbst zwischen einer gut situierten, tendenziell nordwesteuropäisch aufgeklärten Mittelklasse (Hyperion, Diotima und alle ihre Freunde), ›armen‹ Bauern und Seeleuten sowie einem ›wilden‹ »Bergvolk«. Der letzte Antagonismus wird die Katastrophe von 1770 und damit jene Hyperions auslösen. Alabanda schließlich entstammt als besitzloser Matrose der städtischen Armut und diente auf einem Korsarenschiff, wie sie unter den Osmanen vor allem von nordafrikanischen Häfen aus operierten. In der Athenepisode skizziert Hölderlin einen exemplarischen Ausschnitt der zerspaltenen neugriechischen Bevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt ist Hyperion noch wie Diotima davon überzeugt, dass eine politische Revolution eine längere aufklärende Erziehungsarbeit mit künstlerischen Mitteln, eine längere Kulturrevolution voraussetzen würde, durch die allererst so etwas wie eine neugriechische Nation entstehen könnte. An einer solchen Möglichkeit zweifelt

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auch Diotima nicht. Gemeinsam ist auch den armen Neugriechen die künstlerische Tendenz: So wie der proletarische junge Alabanda sich mit einem Volkslied etwas Geld zusammenbettelte (I , 739), so betont Diotima, wie bereits erwähnt, Volkslied, Volkstanz und Volksmärchen bzw. Legenden der armen Bevölkerung: Ich bitte dich, geh nach Athen hinein, noch Einmal, und siehe die Menschen auch an, die dort herumgehn unter den Trümmern, die rohen Albaner und die andern guten kindischen Griechen, die mit einem lustigen Tanze und einem heiligen Mährchen sich trösten über die schmähliche Gewalt, die über ihnen lastet – kannst du sagen, ich schäme mich dieses Stoffs? (I , 692) Bevor die konstitutive Rolle Neugriechenlands innerhalb der Struktur des Hyperion nun detaillierter entfaltet werden soll, ist noch einmal die grundlegende Frage zu erörtern, ob das Neugriechentum Hyperions überhaupt relevant ist. Denn selbstverständlich handelt es sich, wie bereits in der Einleitung exponiert, beim Helden des Romans und bei seinem Schicksal um eine poetische Konfession des deutschen Autors Hölderlin64. Selbstverständlich geht es um eine Poetisierung von Hölderlins eigenem »elegischen Charakter«. Der »exzentrischen Bahn«, wie sie das Vorwort des Thalia-Fragments nennt (I , 489), also der zyklotonen Bipolarität zwischen Enthusiasmus und Depression, liegt nicht die eines phantasierten Neugriechen, sondern die erlebte des Autors zugrunde. Vor allem aber ist die Sprache deutsch, nicht neugriechisch, wenn auch realistisch motiviert durch einen mehrjährigen Aufenthalt Hyperions einschließlich Studien in Deutschland65. Damit handelt es sich auch bei dem gesamten neugriechischen Chronotopos um ein analoges symbolisches Modell Deutschlands. Wenn man von einem »Nationalepos in Prosa«66 sprechen kann, so ist es ein deutsches und kein neugriechisches Nationalepos. Diese strukturelle Analogie kulminiert in der abschließenden Deutschenschelte, in der sie offengelegt wird. Und wiederum ist evident, dass durch den Mund eines Neugriechen Hölderlin spricht – was alle Leser begriffen und viele deutsche Leser dem Autor sehr übel genommen haben67. Folgt daraus jedoch, dass der neugriechische Symbolisant 64 Das wird zwar zu Recht konstatiert, darüber aber häufig die neugriechische Bildebene unterschätzt (vgl. Honold, Nach Olympia, 31 ff.). 65 Knaupps Kommentar geht dagegen von einem relativ kurzen Aufenthalt von nur wenigen Monaten zwischen Winter 1770/71 und Frühjahr 1771 aus (III , 319). Das würde bedeuten, dass die Hinweise auf »eure Schulen« und die dortige »Wissenschaft« (I , 615) sich auf aufgeklärte Schulen und Hochschulen in Smyrna beziehen müssten – äußerst unplausibel, zumal auch in dem Smyrna-Bericht gar nicht erwähnt. Plausibler ist also die Annahme, dass Hyperion in Deutschland die Anregung Diotimas nachträglich realisiert hat: »wieviel Jahre brauchst du? drei – vier – ich denke drei sind genug« (I , 693). 66 Link, »›Hyperion‹ als Nationalepos in Prosa«. 67 Dazu die Rezeptionszeugnisse in den großen Ausgaben; als Pars pro toto sei der berühmte germanistische Literaturhistoriker Karl August Koberstein angeführt, der dem jungen Nietzsche 1861 auf einen begeisterten Essay über Hölderlin folgendes Echo gab: »Ich muß

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irrelevant wäre, weil es allein um das deutsche Symbolisat gehe? Die Frage stellen, heißt sie negativ beantworten, weil jede poetische Struktur ganz wesentlich von ihren Signifikanten, also von ihrer Bildebene, lebt. Hölderlins Geständnis in der »Vorrede«, er habe einmal an einen anderen Schauplatz als Neugriechenland gedacht und diese Alternative bald verworfen, beweist diesen Zusammenhang. Hölderlins Griff zu Neugriechenland und sein Neugrieche-Werden als Figur Hyperion ist also keineswegs eine Kontingenz, die sich auch durch Figuren an­ derer Nationalität oder die eines Altgriechen hätte ersetzen lassen. Dieser Griff ist eins mit der sehnsüchtigen Fluchtlinie aus der zeitgenössischen deutschen Gegenwart hinaus in eine erträumte neue ›Natur‹-Kultur – in ihm liegt also das Potential vielfältiger inventiver Kreativität, das in dem viele Jahre dauernden Schreibprozess entwickelt wurde. Und diese neugriechische Bildebene hat Hölderlin in länger als ein halbes Jahrzehnt dauernder Arbeit mit einer beispiellosen poetischen Energie entwickelt. Das gilt zunächst für den Topos, also die Landschaft. Wenn man bedenkt, dass seine einzigen Quellen die Reiseberichte, die Karten und besonders Profilkarten, die Illustrationen in Büchern und möglicherweise Erzählungen der Stuttgarter Griechen waren, muss jeder heutige Griechenlandtourist von der suggestiven Gewalt der hölderlinschen deskriptiv-evokativen Sprache beeindruckt sein68.

2.3.1. Hyperion der Neugrieche Am 19. März 1799 schreibt Hölderlins Diotima, Susette Gontard, an ihren Geliebten: »bey’m durchlesen fällt mir ein daß Du Deinen lieben Hipperion auch einen Roman nennst, ich denke mir aber immer dabey ein schönes Gedicht« (II , 754). Leider wissen wir nicht, was der Adressat darauf geantwortet hat, weil der Bankier Gontard, Susettes Ehemann, offensichtlich dessen Liebesbriefe vernichten ließ. Hölderlin hätte antworten können, dass der Genrebegriff »Roman« durchaus ernst gemeint sei, dass aber auch die reale Diotima nicht ganz unrecht habe, wenn man nämlich den Terminus »Gedicht« nicht im Sinne lyrischer, sondern epischer Poesie benutzen würde  – Poesie wiederum in einem sehr weiten, nicht bloß als Gegensatz zur Prosa verstandenen Sinne. Wenn ich den Hyperion vor langer Zeit einmal als »Nationalepos in Prosa« zu kennzeichnen gesucht habe69, so nicht bloß aus thematischen Gründen oder wegen der stark dem Verfasser doch den freundlichen Rath ertheilen, sich an einen gesundern, klareren, deutscheren Dichter zu halten« (Ronald Hayman, Nietzsche. A Critical Life, London 1980, 42 f.). Das passt sowohl zu dem inzwischen etablierten Normalismus (Anspielung auf Hölderlins Krankheit, also Wahnsinn) als auch zum Nationalismus. 68 So auch Hans-Georg Pott, »Natur als Ideal«, 154 ff. 69 Link, »›Hyperion‹ als Nationalepos in Prosa«.

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rhythmisierten Prosa, sondern wegen der außergewöhnlich hohen Frequenz sogenannter homerischer Vergleiche, wie sie für alle Nationalepen seit der Aeneis genrekonstitutiv sind. Denn wir haben es zweifellos mit der radikalen Verfremdung eines seinerzeit bekannten Romangenres zu tun, des sogenannten griechischen Romans. Musterbeispiel mit internationaler Wirkung war die Voyage du jeune Anarchasis en Grèce des Abbé Barthélémy70. Wie schon der Name des Helden sagt, ging es dabei nicht zuletzt auch um die griechische Demokratie, die im deutschen Prototyp, Wielands Agathon, weniger betont ist. Ähnliches gilt für Heinses frühen Roman Laidion. Zu seinem späteren und seinerzeit berühmten Ardinghello, der für Hölderlin eine Art interdiskursives Modell war wie sonst vermutlich nur noch Rousseaus Hauptschriften, werde ich in Kürze zurückkommen. Obwohl dieser Roman in der späten Renaissance gegen Ende des 16. Jahrhunderts spielt, handelt es sich bei ihm ebenfalls in einer wichtigen Dimension um einen griechischen Roman. Ich habe soeben den Hyperion als radikale Verfremdung dieses Genres bezeichnet. Das gilt nicht nur für die vielfältige Poetisierung der Romanprosa, das gilt insbesondere für eine ebenso vielfältige Modernisierung des griechischen Romans wie vor allem die Briefform und deren zusätzliche Verfremdung als monoperspektivischer Briefroman nach dem Modell des Werther, wodurch eine Synthese mit der Autobiographie erreicht ist, deren moderner Prototyp Rousseaus Confessions waren. Es gilt nun aber vor allem auch für die aktualhistorische Situierung – der griechische Roman spielte in Altgriechenland, der Hyperion aber in Neugriechenland; Anarchasis und Agathon sind Altgriechen, Hyperion ist Neugrieche. In der eingangs zitierten Briefstelle, aber auch sonst schreibt Susette Gontard  – offensichtlich eher phonetisch als etymologisch  – »Hipperion« mit i. Das ist bekanntlich die neugriechische Aussprache des y. Wir können annehmen, dass sie Hölderlins Aussprache wiedergibt. Eine Anzahl von Indizien im Hyperion und im Briefwechsel sprechen dafür, dass Hölderlin sich auch für die neugriechische Aussprache und vermutlich überhaupt für das Neugriechische interessierte. Darauf gingen auch die Reiseberichte, etwa Chandler, ein. Wenn die Griechen im Hyperion dem Helden einen »schönen Tag« wünschen, so ist das das neugriechische »kalimera«, allerdings mit der altgriechischen Bedeutung. Vielleicht hat Hölderlin auch mit der griechischen Mutter seines Freundes Neuffer oder mit anderen Stuttgarter Griechen aus Neuffers Bekanntschaft über Alt- und Neugriechisch geredet. Da das Neugriechische im altgriechischen Alphabet geschrieben wird, konnte Hölderlin es also sofort lesen und die vielen Übereinstimmungen, besonders mit der Katharevousa, konstatieren.

70 Vgl. Link, »›Hyperion‹ als Nationalepos in Prosa«, 173 ff. Hölderlins Reisequelle Choiseul zitiert ausführlich (allerdings anonym) den Anarchasis (SA , 443).

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Hölderlins enge Freundschaft mit Christian Ludwig Neuffer, die engste nach der einmaligen mit Isaak von Sinclair, enger als die mit Hegel und Schelling, gibt der Forschung Rätsel auf. Weder ist die affektive Intensität ohne weiteres plausibel – man denke nur daran, dass es Neuffer ist, dem er die Entwicklung seiner Liebe zu Susette Gontard mitteilt, bis zu dem dramatischen Geständnis »Ich bin zerrissen von Liebe und Haß« (10.7.1997; II , 658) –, noch ist evident, warum diese Freundschaft um 1800 beiderseits abrupt beendet wurde. Weitgehend besteht Konsens darüber, dass Hölderlin Neuffers poetisches Talent weit überschätzt habe – er müsse auch andere besondere Vorzüge auf den Freund lediglich projiziert haben, der sich nach 1800 als ein exemplarisch behäbiger Biedermeier erwiesen habe. Eigenartigerweise ist die Forschung dem nächstliegenden Motiv solcher Projektionen nicht nachgegangen: dem Umstand nämlich, dass Neuffers Mutter Griechin, also Neugriechin, ihr Sohn mithin Halbgrieche, anders gesagt, Deutschgrieche, Deutsch-Neugrieche, war. Bisher ist fast nichts über die Herkunft und den griechischen Familienzweig der Mutter, Magdalena Pelargos, bekannt, außer daß sie Tochter einer Familie von »Flüchtlingen« gewesen sei71. Da Neuffer bereits 1769 geboren wurde (er war also ein Jahr älter als Hölderlin), kann die Flucht nicht mit dem missglückten Aufstand von 1770 zusammenhängen, der den tragischen Gegenstand des Hyperion bildet. Tatsächlich war die griechische Familie der Mutter bereits seit mehreren Generationen in »Böhmen« ansässig72, hatte aber offensichtlich ihre ›Identität‹, wie man heute sagen würde, bewahrt, wie es für die große neugriechische Diaspora mit ihren ausgedehnten Händlerfamilien typisch war. Ansonsten geht aus Neuffers autobiographischen Angaben lediglich hervor, dass seine Mutter, die zusammen mit dem deutschen Vater, einem Sekretär des Stuttgarter Konsistoriums, einen pietistischen Zirkel besuchte, ihn in fromme Empfindsamkeit eingeweiht habe, die damals häufig in poetische Empfindsamkeit überging. Wenn Neuffer von seinen Freunden im Stift »der edle Pelargide« genannt wurde, zeigt das die Intensität der Projektion bei den Griechisch studierenden jungen Schwaben, die wie ihre französischen Kommilitonen aus Montbéliard die altgriechische Demokratie in Frankreich wieder auferstanden glaubten. Für Hölderlin muss Magdalena Pelargos eine wichtige Person gewesen sein. Er schreibt nach ihrem Tod über sie an Neuffer: Vor allem bezeuge ich Dir meinen Antheil an dem Tode Deiner guten Mutter, den ich erst durch Dein Gedicht erfahren mußte. Du wußtest, wie sehr ich diese seltne Frau ehrte, und es war deßwegen fast nicht recht, daß Du mir nichts davon schriebst. (4.12.1799; I , 848) 71 Willy Bauer, Christian Ludwig Neuffer, Diss. Heidelberg 1931, 9. (Diese Dissertation entstand bei Friedrich Gundolf.) 72 Nach Neuffers kurzer Autobiographie.

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Das ist Hölderlins letzter erhaltener Brief an Neuffer, und die Bemerkung über den unerwähnten Tod der Mutter gehört zu den Anzeichen einer Verstimmung, die mit dem Ende der Freundschaft zusammenhängen dürfte. Man führt diese Verstimmung meistens darauf zurück, dass Neuffer offenbar Hölderlins Gedichte um 1800 als zu wenig populär kritisiert hatte und er Hölderlins Zeitschriftenprojekt zusammen mit dem Verleger Steinkopf unter dieser Prämisse, wenn auch vermutlich in bester Absicht, de facto zum Scheitern gebracht habe. Hölderlin scheint am Ende nicht zuletzt Konkurrenzgeist bei ihm befürchtet zu haben, den er mit Freundschaft für unvereinbar hielt: Drum ists so viel werth, wenn wir fest zusammenhalten, und einander sagen, was in uns ist; drum ist es unser eigner größter Schade, wenn wir uns aus ärmlicher Rivalität p. p. trennen und vereinzeln, weil des Freundes Zuruf unentbehrlich ist, um mit uns wieder eins zu werden, wenn unsre eigne Seele, unser bestes Leben uns entlaidet worden ist, durch die Albernheiten der gemeinen Menschen, und den eigensinnigen Stolz der andern, die schon etwas sind (August 1798; II , 696; Hervorhebung J. L.). Es scheint kein Porträt der Mutter und auch keines des jungen Neuffer bekannt zu sein, so dass wir nicht sagen können, ob er für Hölderlin einen »griechischen Typ« gezeigt haben kann (der ältere Neuffer sieht tatsächlich rundlich-behäbig und eher »deutsch« aus). Ganz sicher aber hat Hölderlin eine Art ›Wink der Götter‹ in dem Umstand gesehen, dass Pelargós sowohl im Alt- wie im Neugriechischen Storch bedeutet  – dass die ihm durch Neuffer so nah befreundete neugriechische Familie also den Namen von Zugvögeln trug, bekanntlich Hölder­lins Modellsymbol par excellence für kulturelle Migration (man denke an die Hymnen Die Wanderung und Das Nächste Beste) sowie für multikulturelle Begegnungen und Hybridisierungen73. Ganz offensichtlich stand Neuffer über die Verwandtschaft seiner Mutter mit der griechischen Diaspora in Verbindung, zu der er auch Hölderlin mindestens sporadisch Zugang verschaffte. So schreibt Hölderlin im Frühjahr 1792 an den Freund: Ich will Dich aber nicht weiter plagen mit meinen Grillen. Du hast ein so schönes Leben, daß es Sünde ist, es auch nur auf solche Art zu unterbrechen. Wergo weckte in mir das Andenken an meine kurzen Freuden neu auf. Ich hatte eine kindische Freude an dem lieben Griechen. (II , 483) Es handelt sich um Panajot(is) Wergo, der in den Kommentaren als »in Stuttgart ansässiger griechischer Kaufmann« mit den Lebensdaten 1767–1843, also bloß drei Jahre älter als Hölderlin, ausgewiesen ist (BDK , Bd. 3, 789). Uwe Jens 73 In dem Manuskript Hyperions Jugend ist Notara ein Freund, von dessen Mutter es heißt: »deren Liebling ich war« (I , 539).

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Wandel hat auf der Basis von Archivmaterial ein relativ genaues Porträt dieses offensichtlich umtriebigen und dann sehr erfolgreichen Großhändlers, der aus Konstantinopel stammte, zeichnen können74. Wichtiger ist dabei die Biographie eines weiteren zeitweilig an der Karlsschule in Stuttgart studierenden jungen Griechen, Demetrios Nikolides, von dem zwar (bisher) kein direkter Kontakt zu Hölderlin bekannt ist, wohl aber eine relativ enge Freundschaft mit Hegel und Schelling. Nikolides ging 1794 wegen der Schließung der Karlsschule nach Wien mit seiner relativ großen griechischen Kolonie und schloss sich dort dem engen Zirkel um den neugriechischen Revolutionär Rhigas Velistinlis, genannt Rhigas Pherräos, an, mit dem zusammen er 1798 an die Osmanen ausgeliefert und in Belgrad hingerichtet wurde (s. u.)75. Den Brief mit der Erwähnung Wergos schrieb Hölderlin, als der ein Jahr ältere Neuffer bereits nach dem Magisterexamen aus dem strengen Tübinger Stift in die relative Stuttgarter Freiheit übergegangen war. Während der gemeinsamen Zeit im Stift hatten die beiden zusammen mit Magenau einen Dichterbund gebildet; was aus der Verbindung anschließend in Stuttgart wurde, ist bedeutend wichtiger: Neuffer erhielt dort nämlich engen Zugang zum Kreis um Gotthold Friedrich Stäudlin und wurde Liebhaber und dann Verlobter von dessen Schwester Rosine. Stäudlin aber verstand die Literatur als Vehikel der Revolution, und Neuffer wurde wie Hölderlin von dieser kulturrevolutionären Mentalität erfasst. Unter Stäudlins Einfluss wollten beide Freunde die Theologie schnellstmöglich an den Nagel hängen und in die juristische Fakultät wechseln. (Die große Mehrheit der Revolutionäre in der Pariser Nationalversammlung waren Juristen.) Hölderlin scheiterte mit diesem Plan bekanntlich am Veto seiner Mutter. Über Neuffers und damit auch Hölderlins revolutionären Freundeskreis schreibt Willy Bauer in seiner Monographie über Neuffer im Jahr 1931: Neuffer verkehrte in Stuttgart viel mit einer revolutionär gesinnten Clique; zu ihr gehörten Schubart und Stäudlin. […] Bei einem politischen Skandal im Hause des ihm befreundeten Gesandten der batavischen Republik Strick van Lindschuten wurde Neuffer gesehen und am Hofe denunziert.76 Er war damit als Hofprediger erledigt und wurde stattdessen zunächst nur Waisenhausprediger. Strick van Lindschuten war ein niederländischer sogenannter Jakobiner, der seinen schwäbischen Freunden die Möglichkeit einer auf Frankreich gestützten schwäbischen Republik erläutert haben dürfte. (Es ist nicht 74 Wandel, »Drei Griechen in Stuttgart 1791«, 74–76. – Im gleichen Brief an Neuffer, in dem das Treffen mit Wergo erwähnt wird (II , 483), ist von einer »holden Gestalt« die Rede, die bisher nicht identifiziert werden konnte, die die Kommentare aber für eine Inspirationsquelle für Hyperions Geliebte halten (III , 464). Hätte diese Unbekannte in Beziehungen zur griechischen Diaspora gestanden, so ergäbe sich ein zusätzlicher Kontext für den Ur-Hyperion. 75 Wandel, »Drei Griechen in Stuttgart 1791«, 78–85. 76 Bauer, Neuffer, 15.

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auszuschließen, dass auch Nikolides und/oder andere Griechen mit van Lindschuten verkehrten. Nikolides jedenfalls besuchte später Frankreich im Auftrag von Rhigas.) Der »Skandal«, wie Bauer es 1931 nannte, verfolgte Neuffer jahrelang, unter anderem auch bei seinem Besuch Hölderlins in Frankfurt während dessen Hofmeisterzeit im Hause Gontard. Es scheint so, als habe Neuffer später aus Karrieregründen seine Loyalität zum Ancien Régime überbetonen müssen, was Hölderlin seinerseits stets ablehnte. Über den Aufstand von 1770 las Hölderlin in Choiseuls Reisebericht, wobei der deutsche Übersetzer, abweichend vom Original, das Scheitern der Erhebung absichtlich verfälschte, indem er das eher donquijotesk-groteske Unternehmen ganz auf weitgehend erfundene abschreckende Massaker unter den Griechen konzentrierte. Das Ereignis war zu seiner Zeit zunächst keineswegs so völlig unbekannt wie dann seit den großen Ereignissen der amerikanischen und französischen Revolution. Wie Christoph Albrecht rekonstruiert hat77, wurde das Thema eines griechischen Freiheitskampfs gegen die osmanische Despotie aber gerade auch durch die Dynamik der Französischen Revolution selbst wieder aktuell: Rhigas Pherräos, der bedeutende neugriechische Schriftsteller und Revolutionär78, versuchte von Bukarest und Wien aus, wo große griechische Gemeinden lebten, in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre, also während Hölderlin am Hyperion schrieb, Napoleons zeitweilige Eroberung der Jonischen Inseln für einen neuen Aufstand und die Gründung einer neugriechischen Republik zu nutzen. Als die französischen Truppen vorübergehend aus Italien vertrieben wurden, wurde Rhigas von den österreichischen Gegenrevolutionären in Triest (einem im Hyperion mehrfach im Kontext der Alabanda-Figur erwähnten Ort) verhaftet, an den Sultan ausgeliefert und zusammen mit sieben Mitstreitern, darunter Nikolides, am 24. Juni 1798 in Belgrad hingerichtet. Christoph Albrecht nimmt plausiblerweise an, dass diese Ereignisse den Stuttgarter Griechen und also auch Neuffer und Hölderlin bekannt waren79. Sie können das Projekt des Hyperion zwar nicht begründet haben, da dieses Projekt bis in die Zeit von etwa 1792 zurückreicht, dürften ihm aber durchaus eine neue Aktualität verliehen haben: Die »Republik der sieben (ionischen) Inseln« blieb, auch als sie russisch und britisch war, bevor sie vorübergehend noch einmal französisch wurde, stets so etwas wie der Fuß in der Tür zu einem unabhängigen Griechenland. Eine

77 Albrecht, Geopolitik und Geschichtsphilosophie. 78 Helmut Schareika, »Rigas Velestinlis, der griechische Aufstand 1821 ff. und die aktuelle Krise Griechenlands«, in: kultuRRrevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Heft 66/67 (Juni 2014), 64–80 (mit alten Landkarten von der Art, wie Hölderlin sie studierte). 79 Die Quellenlage für alle sogenannten ›Jakobiner‹ in den Ländern der antifranzösischen Koalition ist selbstverständlich sehr fragmentarisch, da jede ›engagierte‹ Korrespondenz viel zu gefährlich war, um aufbewahrt zu werden. Das gilt mit Sicherheit auch für Hölderlin betreffende Dokumente.

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der großen Sieben Inseln, Zante bzw. heute Zakinthos, gehört zu den wichtigen Orten des Hyperion-Projekts. Dass der von Hölderlin sehr früh geplante im doppelten Sinne revolutionäre Roman von Anfang an einen neugriechischen Helden haben sollte, ist wahrscheinlich. Jedenfalls liegt die neugriechische Konfiguration bereits den ältesten erhaltenen Texten zugrunde. Es erscheint mir plausibel, das älteste generative Konzept des Romans auf die Kombination von drei bzw., wie gleich zu erklären sein wird, genauer vier Anregungen zurückzuführen, die sich mit der Bewunde­ rung für die altgriechische Sprache, Poesie, Philosophie und Politik verbanden: erstens der Stimmung im Kontext der Französischen Revolution80, zweitens der Bekanntschaft mit Neuffer und seiner Mutter aus neugriechischer Familie mit Kontakten zu weiteren Stuttgarter Neugriechen und drittens seiner Lektüre der Reiseberichte von Choiseul und Chandler.81 Im Laufe der viele Jahre dauernden Ausarbeitung des Konzepts ergab sich eine Reihe tiefgreifender Modifikationen, von denen ich hier nur auf eine näher eingehen möchte: Zwischen der sogenannten metrischen Fassung und dem Briefroman ist das Ich, das zunächst gespalten war in ein zuhörendes deutsches Ich und ein erzählendes griechisches, verschmolzen worden zu einem einzigen, erzählenden Ich, und zwar das eines Griechen, der zuerst aus Griechenland nach Deutschland flüchten muss und am Ende freiwillig aus Deutschland zurückflieht nach Griechenland, obwohl er dort in Lebensgefahr schwebt und versteckt im Untergrund leben muss: »und mich erwartet vielleicht das Messer des Jägers, der uns Griechen, wie das Wild des Waldes, sich zur Lust hält«, wie es im zweiten Brief des Hyperion heißt (I , 614). Erste und zweite Flucht ereignen sich vor und nach dem berühmten vorletzten Brief, der sogenannten »Deutschenschelte«. Bevor ich diesen berühmten Text näher erläutern werde, muss aber noch eine vierte und in mancher Hinsicht die wichtigste Inspirationsquelle für einen neugriechischen Roman erwähnt werden. Es ist, wie bereits angedeutet, Heinses Ardinghello. Denn zu dessen zahlreichen Anregungen für Hölderlin – zwischen pantheistischer Äthertheorie, panerotischer Kunstreligion und rhythmischer Prosa – zählt eine ausführliche und zentrale neugriechische Komponente. Der Icherzähler des Rahmens, ein venezianischer Nobile, der in Griechenland auf 80 Durch die ›Provokation‹ Pierre Bertaux’ (Hölderlin und die Französische Revolution) wurde, in Deutschland meistens kritisch, eine breite Forschung angestoßen, die zu einer relativ guten Kenntnis der Situation geführt hat (soweit es die Quellen zulassen, die aber sicherlich stark selektiv beschränkt sind). 81 Hölderlin las die deutschen Übersetzungen: Richard Chandler, Reisen in Klein Asien, unternommen auf Kosten der Gesellschaft der Dilettanti und beschrieben von Richard Chandler, Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich, 1776; ders., Reisen in Griechenland, 1777 (auch als reprograph. Nachdruck, mit Vorwort von Ludwig Pigenot, Hildesheim u. New York 1776); Heinrich August Ottokar Reichard (Übers.): Reise des Grafen Choiseul-Gouffier durch Griechenland. Aus dem Französischen übersetzt. Mit Kupfern und Karten, Erster Band, erster [sic] Heft, Gotha, bey Karl Wilhelm, 1780; Erster Band, zweyter Heft, 1782.

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wuchs, Neugriechisch spricht und schreibt und den Helden, den Florentiner Ardinghello, in Neugriechisch unterrichtet, wird am Schluss zusammen mit seinem Freund und weiteren italienischen und neugriechischen Künstlern, Philosophen, Politikern und – anachronistisch gesagt – intellektuell und sexuell emanzipierten Frauen auf den Kykladen im Archipelagus eine utopische neugriechische Künstlerrepublik gründen, wobei Paros und Naxos das Zentrum bilden. Darauf bezieht sich der Untertitel: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Mastermind, um es aktualistisch zu sagen, einer dort eingeführten Natur- und Kunstreligion ist der neugriechische Philosoph Demetri (Dimitris), den der Held bereits in Rom kennengelernt hat. Dabei ist das Motiv des Neugriechischen so ausführlich und realistisch behandelt, dass wir uns Hölderlin und Neuffer als faszinierte Leser vorstellen können: Man kann wohl sagen, daß wir kein größer und vollkommner Ganzes vom menschlichen Leben haben als die griechische Sprache, wenn man sie vom Homer an zusammennimmt bis auf unsre Zeiten. Im Homer steht sie schon als ein starker, junger, saftiger, zweige- und laubvoller Baum da, in den tragischen und komischen Dichtern Athens, dessen Philosophen und Rednern, in höchster Schönheit und Fruchtbarkeit, so wie noch nie etwas Menschliches erschienen ist, und bei den Neugriechen zusammengeschrumpft, verwachsen und ästezerbrochen, bepfropft mit mancherlei Fremdartigem, und doch noch groß und reich, in einem Alter von dreitausend Jahren. Nach einem ausführlichen Vergleich der grammatischen Kategorien heißt es: Und doch hat die Sprache noch Wohllaut und mannigfaltigen Klang, schöne ursprüngliche Form, aber wenig Beweglichkeit. Die italienische ist aus der römischen weit mehr von Leben und Geist gebildet, das Neugriechische aus dem alten lange nicht so bearbeitet. Vieles darin sieht aus wie zerschmettert und versetztes Bruchstück, und manches ist noch völlig so wie bei dem alten. Ich brachte dem Ardinghello bald alles bei, was zum täglichen Leben gehört, obgleich die gemeinsten Dinge bei den Überfällen verschiedner Völkerschaften ihre Benennungen verändert haben. So heißt zum Beispiel jetzt Brot Psomi, Wasser Neron, Wein Krasi […]. Überhaupt lieben die Neugriechen das I , und man findet oft das alte Wort, wenn man es wegtut, als bei Mati, Auge, Auti, Ohr. […] (34 ff.) Man denkt an Hipperion. Die Charakterisierung des Neugriechischen als eine ›Ruinensprache‹, was durchaus nicht abwertend gemeint ist, passt zur Ruinenlandschaft, als die Griechenland im Hyperion erscheint. Die lange Arbeit Hölderlins an seinem Roman bedeutete dann allerdings schließlich eine radikale Abkehr von Heinses Konzept Neugriechenland, dessen hoch phantastische Gestalt als utopische Künstlerre-

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publik unter osmanischer Schirmherrschaft durch den Realismus des Scheiterns von 1770 ersetzt wurde. Damit aber konnte Hyperion, weil in höherem Maße realistischer Neugrieche, zum Alter Ego Hölderlins in Deutschland werden, kulminierend im zweitletzten Brief, der sogenannten »Deutschenschelte«. Eine Analyse exemplarischer Abschnitte dieses Textes soll auch rhythmische Aspekte einbeziehen. Der vorvorletzte Brief, derjenige vor der Deutschenschelte, endet mit einem Abschied des von Salamis aus an Bellarmin schreibenden Hyperion, einem pathetischen Abschied an die griechische Natur und an Diotima. Danach ist eine Pause, eine Makrozäsur anzunehmen. Mit einem brüsken Tonwechsel und einem wahrhaftigen ›Schicksalsmotiv‹ setzt die Deutschenschelte ein: Só kám ich únter die Déutschèn. – –  –

 – –

Dieses ›Schicksalsmotiv‹ ist rhythmisch mit der zweiten Hälfte eines Hexameters identisch, der zu Beginn stark spondeisch gestaut ist: »[So zerrann mein Leben, /] ách! Só ists ánders gewórden« (Elegie, I 290, Vs. 85) – »àuf mátten Pfáden der Érde« (289, Vs. 81). Der Rhythmus der Deutschenschelte lebt vom Wechsel kurzer spondeischer82 Kola wie im Eingangssatz mit ausladenden Phrasenbögen (im musikalischen Sinne): Ich foderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demüthig kam ich, wie der heimathlose blinde Oedipus zum Thore von Athen, wo ihn der Götterhain empfieng; und schöne Seelen ihm begegneten – Wie anders gieng es mir! – –  – Barbaren von alters her, – –  –  – durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit belaidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster. –  –  – Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs,  –  –  –  /   –  – – weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag’ es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich erstiken, wenn sie 82 Das heißt akzentakkumulierender, s. dazu Näheres u. in Kap. 2.4., Fußn. 128.

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nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur seyn, mit Ernst, mit Liebe muß er das seyn, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Thun, und ist er in ein Fach gedrükt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! […] Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nuzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! Es bleibt gesezt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strale berauscht, der Sclave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind – wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach’ und kümmert sich nicht viel ums Wetter! […] Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. […] Voll Lieb’ und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk’ heran; du siehst sie sieben Jahre später und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt, und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu thun hat. […] Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz ge­ trieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt! – Genug! Du kennst mich, wirst es gut aufnehmen, Bellarmin! Ich sprach in deinem Nahmen auch, ich sprach für alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten. (I ,  754 ff.) Ich habe in allen meinen universitären Lehrveranstaltungen vor naiven Anachronismen, also naiven, ihres Mechanismus nicht bewussten Applikationen literarischer Texte auf aktuelle Situationen der Leser und Leserinnen, also anachronistischen naiven Identifikationen und Gegenidentifikationen mit Helden eines Textes, gewarnt. Etwas anderes sind bewusste Applikationen, die sich ihrer historischen Distanz bewusst sind und die sich vergewissern, ob zwischen zwei historischen Situationen bei allen Unterschieden eine wenigstens teilweise strukturelle Analogie besteht. Solche reflektierten Applikationen sind die beste

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Versicherung gegen naiv unbewusste, denn ohne Applikationen kann niemand lesen. Unter diesen Prämissen formuliere ich als bewusste Applikation, dass die Hyperionfigur als griechischer »Asylant« und »Migrant« in Deutschland bezeichnet werden kann. Bekanntlich gibt es das Wort »Asylant« erst seit den 1970er Jahren (»Migrant« erst seit den 1990ern)83, war also zwei Jahrhunderte früher gar nicht existent. Anders steht es um die Endung »-ant« mit ihrer bei einer Reihe von Paradigmen pejorativen Konnotation. Wenn man diese Paradigmen seit geraumer Zeit, genauer seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Bezeichnungen für sogenannte »Anormale« auffassen kann, so konnotierte die Endung auch davor bereits so etwas wie Exklusion und Marginalität. Hölderlin schreibt in einem Brief (4.9.1795; BDK   III , 203 f.) an Schiller Folgendes: Es ist mir oft, wie einem Exulanten, wenn ich mich der Stunden erinnere, da Sie sich mir mitteilten, ohne über den trüben oder ungeschliffnen Spiegel zu zürnen, worin Sie Ihre Äußerung oft nimmer erkennen konnten.  / Ich glaube, daß dies das Eigentum der seltnen Menschen ist, daß sie geben können, ohne zu empfangen, daß sie sich auch »am Eise wärmen« können.  / Ich fühle nur zu oft, daß ich eben kein seltner Mensch bin. Ich friere und starre in dem Winter, der mich umgibt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich. Dieser Brief wurde keineswegs im Winter, sondern Anfang September 1795 geschrieben, als Hölderlin, 25 Jahre alt, unter einer ersten schweren Depression litt. Deren charakteristische Züge hat er im Hyperion festgehalten, in den vier letzten Briefen des ersten Buchs des ersten Bandes, wo er die Depression als »meine lange kranke Trauer« bezeichnet – eine der genauesten Schilderungen einer Depression in der Literatur. Die Formel vom eisernen Himmel in dem Brief an Schiller nimmt die vom Himmel als Deckel bei Baudelaire vorweg. Damit ist nicht gesagt, dass Depressionen eine unhistorisch-anthropologische Krankheit, etwa als Teil einer ahistorischen »bipolaren Störung«, sind. Zwar passt das offensichtlich genau wie die Bilder vom Eis und vom Stein unter Ausdruckszwang formulierte Bild vom getrübten Spiegel genauestens zur Theorie Lacans vom Spiegelstadium, aber es ist historisch markiert als Leiden an mimetischer Konkurrenz um Anerkennung als Genie. Das ist heutzutage in der Epoche der Spiegel-Medialität (Spektakelgesellschaft) mit ihrer ausgedehnten Verstarung samt den daraus massenhaft entstehenden spezifischen Konkurrenzdepressionen in hohem Grade applizierbar. In unserem Kontext aber geht es um den Begriff des »Exulanten« (seinerzeit noch korrekt nach lat. »exul« gebildet, statt des

83 S. ausf. Jürgen Link, »Zum Anteil der medialen Kollektivsymbolik an der Normalisierung der Einwanderung«, in: Bilder als Diskurse. Bilddiskurse, hg. v. Sabine Maasen u. a., Weilerswist 2006, 53–70 (mit weiteren Verweisen).

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heutigen »Exilanten«). Hyperion war also tatsächlich auch damals schon ein -ant, ein aus seinem Land Vertriebener (die typischen Exulanten waren zunächst aus religiösen Gründen Vertriebene, wie die Hugenotten oder die österreichischen Protestanten, ebenfalls -anten, dann in der Epoche der Revolution auch aus politischen Gründen Vertriebene, sowohl Revolutionäre, darunter Neugriechen, wie Gegenrevolutionäre, typischerweise »Emigranten« genannt). Unter Hölderlins Freunden war Stäudlin ein revolutionärer Exulant, der in Depression und Suizid endete. Wie bereits erwähnt, wäre Neuffer Stäudlins Schwager geworden, wenn nicht auch Rosine Stäudlin jung an Tuberkulose gestorben wäre. Kann die Hyperionfigur insgesamt also zweifellos grob als eine Präfiguration des »Asylanten« in Deutschland bezeichnet werden, so bleibt die Frage, ob auch Einzelheiten der Deutschenkritik des vorletzten Briefs sich noch zu einer kritisch-distanzierten Applikation eignen. Tatsächlich wird nirgends in dem Brief Deutschland als Land kritisiert, dessen Naturschönheit umgekehrt im letzten Brief hymnisch gefeiert wird – kritisiert werden nur die Deutschen als die typischen Bewohner um 180084. Ich habe das einschließlich des weiteren Kontexts andernorts ausführlicher kommentiert85 und schließe hier an die Frage nach der möglichen aktualhistorischen Relevanz wesentlicher Aspekte der Deutschenschelte wieder an. Die Kritik lässt sich im Grunde in einem einzigen Punkt zusammenfassen: Den »Deutschen« wird ihr Spezialistentum vorgeworfen. Das ist mit der »Zer­ rissenheit« gemeint. Der von Hyperion verwendete deutsche Begriff für die »Zerrissenheit« ist »Fach«: […] wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter! Und davor schon: Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich er­ sticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt […] und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Das lässt sich heute noch applizieren – sowohl auf den »Fachkräftemangel«, der besagt, dass nur »Fachkräfte« in Deutschland willkommen sind, wie auf die Überzeugung, dass Krisen jeder Art, gerade auch politische, nur von »Fachleu 84 Emphatisch dürften zwei Gruppen gemeint sein: die Frankfurter Kaufleute und Bankiers sowie die Intellektuellen (»Denker«), vermutlich insbesondere die beamteten Intellektuellen – dass sich unter den »gesezten Leuten« auch Hölderlins Mutter und ihr Milieu verbergen könnten, ist nicht auszuschließen. 85 Jürgen Link, Anteil der Kultur an der Versenkung Griechenlands. Von Hölderlins Deutschenschelte zu Schäubles Griechenschelte, Würzburg 2016. Vgl. die dortige grundsätzliche diskursanalytische Kritik an sogenannten »Nationalcharakteren«.

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ten« gelöst werden könnten, aber umgekehrt auch auf die Kritik Rudi Dutschkes an der »Fachidiotie«. Die berühmte Anklagerede »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen […]« richtet sich also gegen die soziale Teilung in ihren beiden Dimensionen  – gegen die »vertikale« Machtteilung und gegen die »horizontale« Wissensteilung, die als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden. Sie richtet sich, in luhmannschen Termini, sowohl gegen die Stratifikation wie gegen die funktionale Ausdifferenzierung. In foucault­schen Termini richtet sie sich gegen die Herrschaft der Spezialdiskurse und beklagt das Fehlen von Interdiskursen. Die fehlenden »Menschen« sind demnach in Luhmanns Terminologie »entdifferenzierte« bzw. im Anschluss an Foucault »interdiskursive« Subjektivitäten86. All das ist und war nicht spezifisch deutsch. Was Hyperion als deutsch atta­ ckiert, ist nichts anderes als die sogenannte moderne westliche Kultur insge­ samt. Die »Handwerker«-Rede ist die deutsche Variation einer ähnlichen Serie in Rousseaus Erstem Discours. Die Frage ist also, ob die allgemeine moderne nordeuropäische Spezialisierung und Ausdifferenzierung damals tatsächlich in Deutschland noch extremer als in anderen europäischen Ländern war. Politisch war das evident, bestand das Reich doch aus mehreren hundert souveränen, größtenteils zwerghaft winzigen Staaten. Dieser Aspekt ist seit Napoleon und Bismarck erledigt. Hölderlin scheint aber zu meinen, dass auch das Spezialistentum, besonders das der »Denker«, also der Intellektuellen, in Deutschland weit über den europäischen Durchschnitt hinausgetrieben worden sei. Seine eigentliche Anklage richtet sich gegen die Verfolgung und Vernichtung entdifferenziert und interdiskursiv denkender Menschen im damaligen Deutschland. Als konkrete Erscheinungsform solcher Verfolgung dürfte er das Totschweigen konnotiert haben, dessen Opfer er ja tatsächlich wurde. Er klagt die fehlende »Brüderschaft«, also das dritte Prinzip der Französischen Revolution, ein. Indirekt kritisiert er am Spezialistentum der deutschen Intellektuellen also emphatisch auch ihr Selbstverständnis als »Unpolitische«, wie Thomas Mann es später (wenn auch nur vorübergehend) trotzig reklamierte. Als höchste Möglichkeit moderner Entdifferenzierung und Interdiskursivität betrachtete Hölderlin natürlich die moderne Kunst; sein Protest richtete sich also insbesondere gegen die damalige, noch mehr durch die entstehende Massenkultur als durch Weimar repräsentierte 86 Was das »Fach« betrifft: Hölderlins Jugendfreund Hegel, der seinen jugendlichen Schwur, »Frieden mit der Satzung, die Meinung und Empfindung regelt, nie nie einzugehn«, später bewusst und spektakulär revidierte, kennzeichnet das Ideal des »Manns« in der Enzyklopädie wie folgt: »Je länger der Mann nun in seinem Geschäfte tätig ist, desto mehr hebt sich ihm dies Allgemeine aus seinen Besonderheiten heraus. Dadurch kommt er dahin, in seinem Fache völlig zu Hause zu sein, sich in seine Bestimmung vollkommen einzuleben«. Zum Realismus Hegels gehört es allerdings hinzuzufügen, dass dabei für den Fach-Mann mit der Zeit die »Lebendigkeit« »erlischt« und er, ehe er sichs versieht, »Greis« geworden ist (III , 85).

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Entwicklung einer funktional ausdifferenzierten, vor allem unpolitischen und unphilosophischen Kunst (während zumindest Schiller und Goethe durchaus eine lediglich teilweise verdeckte »bonapartistische« Politik betrieben). Wenn es also so etwas wie einen springenden Punkt der Deutschenkritik Hölderlins gibt, dann besteht er darin, dass Hyperion in dem Kombinat von Wissens- und Machtteilung nicht wie damals üblich die Machtteilung, also die Klassenherrschaft, als dominant setzt, sondern die Wissensteilung. Und das ist allerdings auch heute applizierbar: Es zeigt sich aktuell überall dort, wo versucht wird, mit einer die luhmannsche noch weit übertreffenden Arroganz jeden Versuch zur kulturrevolutionären Entdifferenzierung und Umdifferenzierung der etablierten Ausdifferenzierungen als Rückfall in vormodernes Denken zu verspotten. Wir kennen die nicht abschwellenden Bocksgesänge vom Scheitern der Avantgarden und die theoretischen Korsettstangen für eine klinisch von Politik, Wissenschaft und Denken bis auf eine auf Softporno reduzierte »Unterhaltung« gesäuberte Popkultur. Ironischerweise schlägt diese Tendenz in ihrem Extrem aber in eine andere Form von Entdifferenzierung um, nämlich in die alles erfassende sogenannte Kommerzialisierung, also die umstandslose Unterordnung aller Spezialitäten unter das monetäre Profitprinzip. Darin erweist sich, dass die luhmannsche Theorie, der zufolge die Moderne um 1800 von vertikaler Machtteilung auf horizontale Wissensteilung »umgestellt« habe, die erste doch wohl erheblich unterschätzt hat. Die Wissensmonopole verschmelzen mit den Machtmonopolen der großen Profitakkumulations-»Korporationen«, wie es so schön auf Englisch heißt, sprich der heute herrschenden Klasse. Diese Klasse enteignet nicht nur, sie entdifferenziert auch, und zwar so radikal wie keine Kulturrevolution es je könnte oder auch nur wollte. Hölderlin hat in seiner Hyperionfigur, in die seine eigene Subjektivität eingegangen ist, dem modernen Spezialistentum der europäischen »Nordliga«, um mit Sarrazin zu sprechen, eine Absage erteilt. Er hat sie einem Neugriechen, also einem Vertreter der »Südliga«, in den Mund gelegt. Der griechische »Exulant« beruft sich gegen das deutsche Spezialistentum, die deutsche Fachhuberei, auf Werte wie »Natur«, »Seele«, »Liebe« und »Schönheit«. Das hört sich nicht erst heute klischeehaft an – technisch gesagt emphatisch im Sinne der Trope émphasis, bei der in einem allgemein klingenden Ausdruck etwas Besonderes gemeint ist. Die Emphase ist also eine Trope der Verschlüsselung. In den emphatischen Begriffen »Natur«, »Seele«, »Liebe« und »Schönheit« hat Hölderlin seine neospinozistische Naturauffassung verschlüsselt – als Gegensatz zur utilitaristischen Tendenz einer Beherrschung der Natur in der Aufklärung. Indem der Autor Hölderlin seine Subjektivität als die eines Neugriechen erträumt, in diesem Neugrieche-Werden und Sich-Entdeutschen Hölderlins, haben wir es also mit einer radikalen »Dialektik der Aufklärung« zu tun. Der eigentliche Gegenbegriff gegen das »Fach« ist in dem vorletzten Brief Hyperions der Begriff des »Schwarms«: »[…] wenn selbst […] die Biene

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schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach […].« Der Begriff des »Schwärmers«87, der zunächst von orthodoxen Lutheranern gegen Pietisten und andere sogenannte Sektierer verwendet worden war, hatte im Laufe der Französischen Revolution eine eindeutig politische Farbe bekommen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Hölderlin die Verspottung als »Schwärmer« durch »Fach-Deutsche« am eigenen Leib erfahren hat, möglicherweise auch durch den Bankier Gontard. (Noch bis in die jüngste Zeit verwenden übrigens auch einige Germanisten den Begriff der »Revolutionsschwärmer« für Hölderlin und seine Freunde.) Nicht bloß Fachidioten avant la lettre kommen jedoch infrage, wenn es um Hölderlins Schwärmer-Komplex geht, wie man sagen könnte: Im Hyperion ist es der revolutionäre Intimfreund Alabanda, der in dem Streit um Etatismus und »neue Kirche«, also autonome demokratische Zivilgesellschaft, den jüngeren Freund als »Schwärmer« verspottet und ihn dadurch in die lange Depression stürzt (I , 637, 640). Wenn Hyperions tiefe Verletzung eine autobiographische Konnotation besitzen sollte, so wäre demnach auch an realpolitische Jakobiner und eventuell sogar an Sinclair zu denken. Umgekehrt ist es Diotima, die dem Komplex eine erlösende, positive Wendung gibt, indem sie Hyperion während der Athenrede begeistert und bewundernd »Schwärmer« nennt (I , 685). Das bezieht sich auf dessen These, nach der die »Schönheit«, emphatisch verstanden als Indifferenz aller verschiedenen menschlichen »Kräfte«, Ursprung von Philosophie, Religion und Politik sei. »Schwarm« meint im Gegensatz gegen »Fach« also Entdifferenzierung. Auch das lässt sich reflektiert aktuell applizieren. Die »Schwärme im Netz« sind allerdings äußerst ambivalent: Als Profitsteigerungsmaschinen stellen sie einen Höhepunkt des naturbeherrschenden Utilitarismus dar, als große Entdifferenzierer und Proliferierer spontaner Kreativität können sie hingegen kulturrevolutionäre Inventionen produzieren. In der Serie von Kontrastbegriffen der Handwerker-Rede begegnet nur ein Terminus, der im heutigen Standarddeutsch nicht ohne weiteres gebräuchlich ist: der Terminus »gesetzt«. »Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen«, heißt es. Eine Bedeutung scheint also, »erwachsen, mittelalt und älter« zu sein. Offenbar gehört aber mehr dazu: eine Art »Reife«, die in der resignierten Akzeptanz herrschender Ordnungen besteht. In einer der Vorstufen zur Endfassung des Hyperion heißt es im Kontext der großen Depression:

87 Dazu ausf. Erhart, »›In guten Zeiten giebt es selten Schwärmer‹«. Erhart weist noch auf einen weiteren Schwärmer-Topos im 18. Jahrhundert hin: die Ablehnung jedes Idealismus und Utopismus durch die Aufklärer, etwa Wieland. Er identifiziert insbesondere den ›griechischen Roman‹ mit einem Roman der Desillusionierung von ›Schwärmertum‹. Vermutlich erweist sich als eigentlicher Kern dieses von den Aufklärern bekämpften ›Schwärmertums‹ Rousseau und der Rousseauismus. Als französisches Äquivalent von »Schwärmer« galt »enthousiaste«, das typischerweise auf Rousseauisten bezogen war (s. Link-Heer, »Facetten des Rousseauismus«, 139 f.).

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Der Tod des Lebens, den ihr ›gesezt seyn‹ nennt, der war mein edles Ideal geworden; denn, sagt’ ich äußerst weise, ein Wesen, das sich leicht bewegt, kann leicht zur Unzeit, leicht über die gemeßne Gränze sich bewegen, und wo viele Kräfte sind, da giebts leicht Anarchie […] o Bellarmin! Dein Freund war tief gesunken! (I , 563) Der Hinweis auf »viele Kräfte« schließt die Gesetztheit also auch an die Spezialisierung, an die Fachhuberei an. Damit liegt »gesetzt« in großer semantischer Nähe zu »borniert«: Es verweist auf die engstirnige, blinde Tabuisierung von Grenzüberschreitungen, von Transgressionen jeder Art. Wie die Formel »sagt’ ich äußerst weise« andeutet, impliziert das Gesetztsein jedoch noch mehr: Es geht Hand in Hand mit einem pervers-pädagogischen Gestus des Besserwissens gegenüber ›Schwärmern‹, denen ihre scheinbare Infantilität vorgeworfen wird. Das sind jene »weisen Herren, die unter euch Deutschen so gerne spuken, die Elenden, denen ein leidend Gemüth so gerade recht ist, ihre Sprüche anzubringen«, von denen der erste Hyperion-Brief spricht – und es ist bekanntlich tatsächlich noch heute der Gestus des deutschen mediopolitischen Mainstreams gegenüber den Mittelmeervölkern in deren Wirtschaftskrise, für die die deutsche Politik in keiner Weise mitverantwortlich sein will. Die tiefste Berechtigung für die Wahl eines neugriechischen Protagonisten läge also dann vor, wenn sich Neugriechenland  – im Gegensatz zu Deutschland, aber in Übereinstimmung mit Hölderlin  – gegen »Gesetztheit« sperren würde. Mit einigen Überlegungen dazu möchte ich schließen. Und zwar gehe ich dabei von der These aus, dass die Gesetztheit zu den ›archäologischen‹ Voraus­ setzungen im Sinne Foucaults für die moderne Kategorie der Normalität gehört. Wenige Jahrzehnte später würde man sagen, dass sowohl Hyperion wie sein Autor sich weigerten, normal zu werden, sich normalisieren zu lassen, und dass sie an ihrer Anormalität gescheitert seien. Auch strukturell besteht eine wichtige Synergie zwischen Spezialismus und Normalismus: Der Normalismus braucht zur statistischen Verdatung quantitative Vergleichbarkeit in einer kohärenten »Dimension«; er kann nur Äpfel mit Äpfeln und Birnen mit Birnen, nicht aber Äpfel mit Birnen vergleichen. Solche kohärenten Dimensionen liefert ihm die Speziali­ sierung. Damit aber ist jeder »Querbezug« zwischen »aus­differenzierten« Spezialitäten, also »Fächern«, denormalisierend – wer sich wie Hyperion der »Fachidiotie« widersetzt, ist potentiell anormal. Das war einer der wichtigsten Faktoren der schließlich tragischen Kulmination von Hölderlins eigener Denormalisierung. Hölderlins Neugrieche-Werden im Hyperion ist also tatsächlich sehr gut motiviert: Neugriechenland sperrte sich seinerzeit noch mehr als heute gegen scharfe kulturelle Identitäten. Es war nach den Reiseberichten ein überall mit dem Meer symbiotischer, weit verstreuter Raum aus Inseln, Halbinseln und Bergmassiven, einschließlich der heutigen westtürkischen Küstenregion. In Einklang mit den Klimatheorien der Aufklärung betont auch Hölderlin eine größere Naturnähe,

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ein unerschöpfliches Wachstumspotential der klassischen mediterranen Vegetation, das mit den ubiquitären Ruinen Altgriechenlands den idealen Raum für eine kreative Volkspädagogik bilden könnte, wie Diotima und Hyperion sie – analog zu dem realen Rhigas Pherräos – erträumen und wie Hyperion sie tragisch versäumt. In dem bereits zitierten Brief Hyperions an Bellarmin versucht Diotima es auf den Begriff zu bringen: Siehest du nun, wie arm, wie reich du bist? […] / Darum, weil du alles hast und nichts, weil das Phantom der goldenen Tage, die da kommen sollen, dein gehört, und doch nicht da ist, weil du ein Bürger bist in den Regionen der Gerechtigkeit und Schönheit, ein Gott bist unter Göttern in den schönen Träumen, die am Tage dich beschleichen, und wenn du aufwachst, auf neugriechischem Boden stehst. (I , 671) In der Ambivalenz dieses »auf neugriechischem Boden« liegt die Analogie zu Hölderlin wie auch zur deutschen »Zerrissenheit« und Ambivalenz. Viele Kulturen, Religionen und Sprachen koexistierten »auf neugriechischem Boden« unter der osmanischen Herrschaft. Die griechische Orthodoxie konservierte die Sprache und Teile der altgriechischen Kultur, das neugriechische Handelsbürgertum in Zentren wie Smyrna, dem heutigen Izmir, wo Hyperion eine Art autodidaktische Studien betreibt, importierte die nordwesteuropäische Aufklärung und deren Idealisierung der altgriechischen Demokratie. All das spiegelt der Hyperion in durchaus realistischer Weise. Vor allem aber hat Hölderlin während der Arbeit an seinem Roman Vorahnungen seiner späteren Einsicht in die Hybridität auch der altgriechischen Kultur als west-östlicher Symbiose von Apollinischem und Dionysischem gewonnen, an die Nietzsche anknüpfen konnte. Im Motiv der »labyrinthischen« neugriechischen Tänze und der Volksmusik ist diese frühe Einsicht konzentriert. Anknüpfend an die Reiseberichte nennt Hölderlin die Tänze »zephyrlich«, was offenbar Hitze und leichte Bekleidung konnotiert (I , 539). Die Genrebezeichnung Ronneca (I , 539) ist ein Druckfehler in der deutschen Übersetzung von Choiseul, es muss Roméca heißen, griechisch romaíka (III , 307), d. h. (ost-)»römischer«, griechischer Tanz. Eine weitere Kennzeichnung ist »labyrinthisch«, womit die Schlangenfiguren gemeint sind, die alle heutigen Touristinnen von den Folkloreabenden kennen. In anderen Reiseberichten wurde der Romekatanz mit den türkischen Derwischtänzen in Zusammenhang gebracht, wobei die Analogie offensichtlich in der ekstatischen, also dionysisch rauschhaften Lust bestand. Wenn man also sagen kann, dass Neugriechenlands dionysisches, halb orientalisches Substrat von der modernen europäischen Normalität abweicht, was leider den roten Faden im Griechenbashing während der Wirtschaftskrise der 2010er Jahre bildet, dann ist Hölderlin der Vater eines höheren, transnormalistischen Philhellenismus, dem sein neugriechischer Held zum Schlüssel wurde für die Einsicht in die Borniertheit eines blinden Normalismus in Politik wie in Poesie.

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2.3.2. Neugriechenland als Hellas »in dürftiger Zeit« und problematisches Analogon Deutschlands Ein Leitmotiv in Hyperions Wahrnehmung seines Landes und seiner Zeit ist »Dürftigkeit« (»Notdurft«) und »Armut«. Häufig beziehen sich die Motive der Notdurft und Armut nicht bloß auf Hyperions Heimatland, sondern darüber hinaus auf das gesamte Europa seiner Epoche, insbesondere auch auf Deutschland. Diese elegische Klage kulminiert in den großen Apostrophen an die Zeitgenossen, insbesondere während der Depression nach dem Bruch mit Alabanda: O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht. / Ihr habt den Glauben an alles Große verloren; so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln (I , 646). O ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns waltet, so gründlich einseht, daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an’s Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mälig überzugehen in’s Nichts – was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihr’s ernstlich bedenkt? (I ,  649 f.). Dieser radikale Nihilismus88, parallel zu Jean Pauls Rede des toten Christus und Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura sowohl Büchners Märchen der Großmutter aus dem Woyzeck wie Nietzsches Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft antizipierend, ist wie bei Jean Paul nicht Hyperions letztes Wort – er ist als Konsequenz der Depression motiviert, muss jedoch nicht weniger dialektisch ernst genommen werden als Hegels Spekulativer Karfreitag. Gleich im Anschluss wird er nur scheinbar als epochengebunden relativiert, in Wirklichkeit noch gesteigert: O einst, ihr finstern Brüder! War es anders. Da war es über uns so schön, so schön und froh vor uns; auch diese Herzen wallten über von den fernen see­ligen Phantomen, und kühn frohlokkend drangen auch unsere Geister aufwärts und durchbrachen die Schranke, und wie sie sich umsahn, wehe, da war es eine unendliche Leere (I , 650). »diese Herzen« sind die der modernen Aufklärer, die aus den naturwissenschaftlichen und besonders astronomischen Erkenntnissen materialistische Konsequenzen ziehen. Möglicherweise spielen die »finstern Brüder« für eingeweihte Leser auf Sinclairs Geheimbund der »Schwarzen Brüder« an, der auch eine Konnotation unter mehreren des »Bunds der Nemesis« bilden könnte. 88 Dazu Bay, »Hyperion ambivalent«, 79.

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Wie die Apostrophe an die »finstern Brüder« zeigt, sind Dürftigkeit und Armut symbolisch mit der (›kleinen‹) Nacht89 verbunden: Noth und Angst und Nacht sind eure Herren. Die sondern euch, die treiben euch mit Schlägen an einander. Den Hunger nennt ihr Liebe, und wo ihr nichts mehr seht, da wohnen eure Götter. (I ,  650 f.) Der im Hyperion stark akzentuierte Komplex von »Dürftigkeit«, »Not« und »Armut« spielt im autobiographischen Diskurs (vor allem in den Briefen) eine ebenso nahezu dominante Rolle, exemplarisch etwa im wichtigen Brief an den Bruder vom 2. November 1797 aus Frankfurt, in dem Hölderlin die ihm nicht länger erträglichen Demütigungen durch den Bankier Gontard in potentiell rebellischem Ton andeutet: Aber wer erhält in schöner Stellung sich, wenn er sich durch ein Gedränge durcharbeitet, wo ihn alles hin und her stößt? Und wer vermag sein Herz in seiner schönen Gränze zu erhalten, wenn die Welt auf ihn mit Fäusten einschlägt? Je angefochtener wir sind vom Nichts, das, wie ein Abgrund, um uns her uns angähnt, oder auch vom tausendfachen Etwas der Gesellschaft und der Thätigkeit der Menschen, das gestaltlos, seel- und lieblos uns verfolgt, zerstreut, um so leidenschaftlicher und heftiger und gewaltsamer muß der Widerstand von unsrer Seite werden. Oder muß er es nicht? Das ists ja eben, was Du auch an Dir erfährst, mein Lieber! Die Noth und Dürftigkeit von außen macht den Überfluß des Herzens dir zur Dürftigkeit und Noth. Du weist nicht, wo Du hin mit Deiner Liebe sollst und mußt um Deines Reich­ thums willen betteln gehen. (II ,  668 f.) »Noth und Dürftigkeit von außen« bzw. »betteln« bedeuten hier sehr konkret die lakaienhafte soziale Stellung des Hofmeisters im Hause des reichen Bankiers, der unhöfliche Stolz, die geflissentliche tägliche Herabwürdigung aller Wissenschaft und aller Bildung, die Äußerungen, daß die Hofmeister auch Bedienten wären, daß sie nichts besonders für sich fordern könnten, weil man sie für das bezahlte, was sie thäten, u.s.w. (II , 706). Insbesondere wird hier die Ohnmacht des Trägers von Wissen und Kultur angeklagt. In Kapitel 5 über die Applikation wird der enge strukturelle Zusammenhang zwischen »Sitz im Leben« und literarischem Text zu entwickeln sein, den man sich als ein Ineinander von Mimesis (vom Leben zum Text) und Applikation als konverser Mimesis (vom Text zum Leben) vorstellen mag. So lässt sich die

89 In Kapitel 2.4. über Brod und Wein wird die Differenz zwischen der negativen Spielart der Nacht (= ›Kleine‹, historische Nacht) und der sehr positiven ›großen‹, kosmischen Nacht erläutert.

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Formulierung vom »Nichts, das, wie ein Abgrund, um uns her uns angähnt« als lebendige Realisierung (Applikation) der ›nihilistischen‹ Anklage Hyperions während seiner Depression nach der Trennung von Alabanda auffassen – ebenso wie die Klage über Not und Dürftigkeit als Reprojektion der Äußerungen Hyperions ins eigene Leben Hölderlins, aus dem sie entstanden. Der Hiat zwischen äußerer Not und innerem Reichtum ist nun bei der literarischen Figur Hyperion ins Extrem gesteigert, weil für ihn der Hiat zwischen zwei historischen Epochen seines Landes und Volkes den individuellen Hiat vervielfacht: Dem Reichtum der höchsten Kultur in Altgriechenland steht die umfassende, sowohl materielle wie vor allem kulturelle und politische Armut unter der osmanischen Despotie (vollständige Machtlosigkeit) gegenüber. Die entscheidende Analogie zwischen Deutschland und Neugriechenland besteht demnach in der Machtlosigkeit der potentiell kulturinventiven Intelligenz. Genau das war ja auch der springende Punkt der Deutschenschelte, der überzogen und unzutreffend erscheinen kann, wenn man etwa an die Weimarer Klassik denkt: Waren Goethe, Schiller, die Humboldts und Herder wirklich machtlos? Hölderlin muss das ›Politikverbot‹ in der Einladung zur Mitarbeit an den Horen90 wie auch Schillers defensives Konzept eines unpolitisch-privaten, auf den Spieltrieb gegründeten »ästhetischen Staats« so gedeutet haben.

2.3.3. Armes Volk, armer Dichter Die paradoxe ›Basis‹ einer heimlichen Solidarität zwischen dem Dichter Hölderlin und dem armen Volk Neugriechenlands besteht in der »Armut«. Wie Diotima es auf den Begriff bringt: Siehest du nun, wie arm, wie reich du bist? […] Darum, weil du alles hast und nichts, weil das Phantom der goldenen Tage, die da kommen sollen, dein gehört, und doch nicht da ist, weil du ein Bürger bist in den Regionen der Gerechtigkeit und Schönheit, ein Gott bist unter Göttern in den schönen Träumen, die am Tage dich beschleichen, und wenn du aufwachst, auf neugriechischem Boden stehst. (I , 671) Die hyperiontische Armut besteht in der monetären Prekarität von Poesie als einzigem »Eigentum«:

90 »Alles, was entweder bloß den gelehrten Leser interessieren oder was bloß den nichtgelehrten befriedigen kann, wird davon [von der Monatsschrift Die Horen, J. L.] ausgeschlossen sein; vorzüglich aber und unbedingt wird sie sich alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht.« Vgl. dazu Jürgen Link/Ursula Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum, München 1980, 318–325, 351 f.

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Denn, wie die Pflanze, wurzelt auf eignem Grund     Sie nicht, verglüht die Seele des Sterblichen       Der mit dem Tageslichte nur, ein          Armer auf heiliger Erde wandelt. (I , 238) Die Armut ist eine Form von Atemnot und deshalb ein Ursprung jener besonderen Fluchtlinie des Wanderers, die sich nach einem anderen, nicht konkurrenzinduzierten »Reichtum« in einer egalitären As-Sociation sehnt. Diese ›pauperistische‹ Fluchtlinie ist im Wortsinne besonders »aporetisch«: aporía ist griechisch sowohl Armut wie Aporie. Unter ihrem naturgeschichtlichen Aspekt wirkt sie wie ein ›Äthersturm‹: Zu mächtig, ach! ihr himmlischen Höhen zieht     Ihr mich empor; bei Stürmen, am heitern Tag       Fühl ich verzehrend euch im Busen          Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte. (I , 238) Die Hoffnung auf einen »eignen Grund« für den Gesang in der realen, konkurrenzgetriebenen Eigentums-Gesellschaft ist illusorisch, wie bereits die imaginäre Zuflucht zu einem »Asyl« (elfte Strophe) erweist – die »Himmelskräfte« der letzten Strophe werden diesen Wunsch nicht erfüllen können. Darin ist eine Analogie mit dem »armen Volk« ganz allgemein, doch paradigmatisch insbesondere mit dem Neugriechenlands impliziert. Dichter wie armes Volk scheinen auf die künftige dionysische As-Sociation verwiesen zu sein. Parallel zum einsamen Dichter besitzt das arme Volk die Potentia der dazu notwendigen Kulturrevolution. Denn im popularen Kollektiv lebt noch ein kollektiver ›Natur‹-Mensch weiter, insofern es (nach Rousseau) noch nicht durch Schulen und moderne Naturbeherrschung ›verdorben‹ ist. Im Empedokles hat Hölderlin versucht, die utopische Konvergenz von »armem« Dichter-Politiker und »armem« Volk dramatisch durchzuspielen. In der im Text nur als vorgängig erinnerten Intervention gelang es Empedokles wenigstens vorübergehend, den revolutionären Bürgerkrieg in eine dionysische Kulturrevolution zu verwandeln:       Denn gewaltsamer Wie Wasser, schlug die wilde Menschenwelle Mir an die Brust, und aus dem Irrsal kam Des armen Volkes Stimme mir zum Ohre. (I , 898) Um diese Verwandlung jedoch auf Dauer zu stellen, muss der Held zunächst selbst in die tiefste Armut des »Bettlers«, ja des ausgestoßenen Homo sacer91 gestürzt werden. Die Beziehung zwischen dem armen genialen Intellektuellen

91 Dazu Giorgio Agamben, Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1996.

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und seinem armen Volk92 ist also im Empedokles wie im Hyperion alles andere als harmonisch, sie ist tragisch und möglicherweise aporetisch.

2.3.4. Nächstens nichts mehr: Hyperions rätselhaftes Ende Viel ist über die lakonische Schlussklausel »Nächstens mehr« und die »Hysteron-proteron«-Struktur des Romans gerätselt und gemutmaßt worden. Dabei wurden die folgenden Fakten mehr oder weniger unbewusst ausgespart: (a) »Nächstens mehr« ist das letzte Wort des Erzählers und »Eremiten« Hyperion, der aus Deutschland nach Griechenland zurückgekehrt ist und dort in Lebensgefahr im Untergrund lebt: »[…] und mich erwartet vielleicht das Messer des Jägers, der uns Griechen, wie das Wild des Waldes, sich zur Lust hält« (I , 614). Selbst wenn ›drei oder vier Jahre‹ seit dem Aufstand vergangen sein (I , 693) und inzwischen das Jahr 1773, 1774 oder 1775 geschrieben werden sollte, würde Hyperion von den osmanischen Behörden als einer der Führer der Rebellion zweifellos wie später der reale Rhigas Pherräos nach kurzem Prozess exekutiert werden. Weil »Nächstens mehr« also tatsächlich das letzte Wort des ›illegalen‹ Hyperion ist, erwarteten manche der ersten Leser einen dritten Band. Diese Annahme wurde jedoch überzeugend widerlegt und scheidet aus. (b) Damit verstärkt sich die Frage, welche Hinweise die letzte Situation Hyperions auf der Insel Salamis für die Zukunft seines Lebens parat hält. Die überwältigende Mehrheit der Forschung erblickt den entscheidenden Hinweis in Diotimas Testamentsbrief: »und die dichterischen Tage keimen dir schon« (I , 750), womit Hyperions zuversichtliche Wendung an Bellarmin zusammengefasst wird: »und dann, du lezter meiner Lieben! komm mit mir heraus zur Stelle, wo ein neuer Tag uns anglänzt.« (I , 726). Hyperions Autobiographie wäre dann nicht bloß mit dem teleologischen Schema des Bildungsromans kompatibel, sondern würde auch mit einem »Happy Ending« abschließen. Diese Prognose Diotimas datiert allerdings vom dramatischen Jahr 1770 und stammt aus dem autobiographischen Bericht über die Ereignisse vor der Flucht nach Deutschland. So wichtig und möglicherweise entscheidend diese Prognose Diotimas, die sterbend über prophetische Gaben verfügen könnte, ist und daher zu beachten sein wird, so ist sie dennoch auch mit den tatsächlich letzten Äußerungen Hyperions zu konfrontieren. Man beruft sich daher, um die These von Happy Ending und der Kompatibilität mit dem Bildungsroman zu stützen, auf die Intervention des Briefeschreibers auf Salamis direkt im Anschluss an den Abschied von Diotima, in der es heißt: »Aber ich meine, du solltest sogar meinen Briefen es ansehn, wie meine Seele täglich stiller wird und stiller« (I , 706). Dabei wird die Tatsache übergangen, dass diese Intervention erstens überhaupt nichts über 92 Vgl. dazu Jacques Rancière, Le philosophe et ses pauvres, Paris 1983.

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die Zukunft nach Ende der Brieferzählung impliziert und sie zweitens zwar die letzte längere Intervention ist, die vorletzte, noch längere aber folgendermaßen lautet (12. Brief des 2. Buchs des 1. Bandes): Hörst du? Hörst du? Diotimas Grab! / Mein Herz war doch so stille geworden, und meine Liebe war begraben mit der Todten, die ich liebte. / Du weist, mein Bellarmin! Ich schrieb dir lange nicht von ihr, und da ich schrieb, so schrieb ich dir gelassen, wie ich meine. / Was ist’s denn nun? / Ich gehe ans Ufer hinaus und sehe nach Kalaurea, wo sie ruhet, hinüber, das ist’s. / O daß ja keiner den Kahn mir leihe, daß ja sich keiner erbarme und mir sein Ruder biete und mir hinüberhelfe zu ihr! / Daß ja das gute Meer nicht ruhig bleibe, damit ich nicht ein Holz mir zimmre und hinüberschwimme zu ihr. / Aber in die tobende See will ich mich werfen, und ihre Wooge bitten, daß sie an Diotimas Gestade mich wirft! – / Lieber Bruder! Ich tröste mein Herz mit allerlei Phantasien, ich reiche mir manchen Schlaftrank; und es wäre wohl größer, sich zu befreien auf immer, als sich zu behelfen mit Palliativen; aber wem geht’s nicht so? Ich bin denn doch damit zufrieden. / Zufrieden? ach das wäre gut! da wäre ja geholfen, wo kein Gott nicht helfen kann. / Nun! nun! Ich habe, was ich konnte, gethan! ich fodre von dem Schiksaal meine Seele. (664 f.) Zwischen diesen beiden letzten längeren Interventionen des ›illegalen‹ Briefeschreibers auf Salamis gibt es vier kürzere, in denen das Leitmotiv Ruhe stets mit Tod verbunden ist, darunter die schockierendste: Ich seh’, ich sehe, wie das enden muß. Das Steuer ist in die Wooge gefallen und das Schiff wird, wie an den Füßen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschleudert (680). Kaum zufällig erliegt Hyperion hier der zwanghaften Phantasievorstellung eines tödlichen Schiffbruchs – die also in der gleichen Isotopie wie jene einer möglichen Überfahrt nach Kalaurea formuliert ist. Dass diese mögliche Überfahrt ganz realistisch unter Bedingungen des Untergrunds erwogen wird, zeigt die Formulierung »daß ja keiner sich erbarme und mir sein Ruder biete und mir hinüberhelfe zu ihr!«  – Dass würde eben voraussetzen, dass Hyperion einen ›Schleuser‹ fände, wie es heute heißen würde, der ihn nicht denunzierte93. Es ist also ein schlichter Textbefund, dass Hyperions vorletztes längeres Wort vor dem »Nächstens mehr« mit der Formel endet: »ich fodre von dem Schiksaal meine Seele.« 93 Diese realistische Situation dürfte der Grund sein, warum Hölderlin das sogenannte »Salamisfragment« (I , 605 f.) verwerfen musste. Es beginnt mit dem Satz: »Ich scheide heute von Salamis. Ich will nach Kalaurea hinüber, will auch nach Tina. Es ist sonderbar, aber ich muß dahin.« In diesem Entwurf hatte Hölderlin die ›illegale‹ Situation Hyperions offensichtlich vergessen oder sie seinen Hyperion gegen alle Plausibilität vergessen lassen.

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(c) Ohne jeden Zweifel ist die letzte Situation Hyperions auf Salamis also die folgende: Obwohl in ›Illegalität‹ und Lebensgefahr, ist er nach Griechenland zurückgekehrt – ganz offensichtlich auf dem üblichen Weg von Italien über die Peloponnes und Korinth (Ausgangsbrief). Warum? Eindeutig, weil er von Salamis aus Kalaurea ganz in der Nähe sehen kann, wo er das Grab seiner geliebten Diotima weiß. Seine reverse Fluchtlinie von Deutschland aus (die mit Hölderlins direkter Fluchtlinie übereinstimmt) zielt ›sagittal‹ nach Kalaurea. Was also die These von den »dichterischen Tagen« impliziert, sind folgende möglichen Szenarien: Hyperion weigert sich in Sichtweite Kalaureas, den letzten kleinen Schritt seiner langen Reise zu tun, kehrt um nach Italien oder Frankreich (nach Deutschland ja wohl kaum) und wird dort neugriechischer Dichter im Exil. – Hyperion besucht das Grab problemlos, kehrt um usw.94 – Hyperion gerät bei der Überfahrt nach Kalaurea auf einem fragilen Boot in einen Sturm und geht unter (siehe die Phantasie vom geschleuderten Kind). – Schließlich: Hyperion besucht das Grab, wird entdeckt oder denunziert, verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Als letzten Wunsch würde er äußern, neben Diotima begraben zu werden, was ihm selbst ein osmanischer Richter zugestehen würde. (d) Ich hatte diese letzte Möglichkeit (allerdings ganz allgemein) vor Jahren mit dem Parallelismus der Testamentsreden der drei Protagonisten begründet, die zweifelsfrei die drei Prinzipien der Französischen Revolution unter drei wechselnden Dominanzen variieren und eben mindestens für Diotima und Alabanda Testamentsreden vor dem sicheren Tod sind95. Alabanda Liberté: Jeder hat seine Mysterien, lieber Hyperion! seine geheimern Gedanken; diß waren die meinen; seit ich denke. / Was lebt, ist unvertilgbar, bleibt in seiner tiefsten Knechtsform frei, bleibt Eins und wenn du es scheidest bis auf den Grund […]. (I , 743) Diotima Égalité: Ich werde seyn; ich frage nicht, was ich werde. Zu seyn, zu leben, das ist genug, das ist die Ehre der Götter; und darum ist sich alles gleich, was nur ein Leben ist, in der göttlichen Welt […]. (I , 749) Und eben Hyperion Fraternité: Ihr Quellen der Erd’! ihr Blumen! und ihr Wälder und ihr Adler und du brüderliches Licht! (I , 760) In allen drei Testamentsreden werden die drei Prinzipien der Revolution als Garanten des Lebens über den Tod beschworen. In mindestens zwei Fällen gehen sie 94 Das hätte dem verworfenen Salamisfragment entsprochen (das allerdings ja auch nur Projekt war). 95 Link, »›Hyperion‹ als Nationalepos in Prosa«, 182 f.

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dem Tod voraus – auch im dritten? Seither glaube ich diese Möglichkeit durch die Tatsache verstärkt, dass die übliche Fassung der revolutionären Parole mit der Bereitschaft »ou la mort« endete (entweder vier- oder fünfgliedrig: Libérté, égalité, fraternité, [indivisibilité de la République] ou la mort!). (e) Im Fall von Hyperions Tod läge ein weiterer Parallelismus mit Alabanda vor: Alabanda übergibt sich dem Bund der Nemesis – Hyperion würde implizit bereit sein, sich den Osmanen auszuliefern, sollte er entdeckt bzw. denunziert werden (beide übrigens in einem Gestus ähnlich dem Karl Moors). (f)  Was Diotimas Vision von Hyperions »dichterischen Tagen« betrifft, so könnte man sie auch durch den Lebensbericht an Bellarmin, also die ›Confessions‹ Hyperions (und Hölderlins, sowie dessen ›Nouvelle Héloise‹) realisiert sehen. (g) Sowohl bei Alabanda wie bei Hyperion scheidet allerdings ein eindeutiger Suizid aus. Die Möglichkeit des Suizids wird im Hyperion an mehreren Stellen, darunter in dem zitierten vorletzten längeren Wort des Briefeschreibers, explizit thematisiert, am prägnantesten in der Ätna-Episode mit der Vorgabe des Empedokles, dessen Suizid-Problematik Hölderlin dann in dem Dramenprojekt auszuführen versucht. Über den Aias-Mythos ist also die Insel Salamis mit der Fluchtlinie nach Altgriechenland verbunden (neben dem Motiv des Siegs über Xerxes): Aias, der aus Salamis stammte, beging nach einem in einem Wahnsinnsanfall begangenen lächerlichen Mord an Schafen und Rindern, die er für seine Feinde hielt, nach dem Erwachen aus der Täuschung aus Scham Selbstmord. Der Wahnsinnsanfall wiederum war die Folge einer Übervorteilung durch Odysseus, also einer narzisstischen Kränkung, auf die Aias mit Wut reagierte. In Kapitel 8.1. wird dieser Mythos in seiner Funktionalität behandelt. Auch die Salamisepisode bildet in der definitiven Fassung also einen Knotenpunkt der tripolaren Fluchtlinie von Deutschland nach Griechenland: Neugriechisch ist die Nähe zu Kalaurea und damit die Konstellation von Diotimas Tod und dem gescheiterten Aufstand – altgriechisch der Bezug auf die Seeschlacht und das Thema des Suizids durch den Aias-Mythos – überzeitlich die Natur der Insel und die Rückkehr zum ›Natur‹-Menschen der frühgeschichtlichen Phase der Inselfischer. (h) Hölderlins briefliches Beharren auf dem Tod der Figur gegenüber der realen Diotima (»Verzeih mirs, daß Diotima stirbt«; II , 833) zeigt jedenfalls, dass ein Happy Ending das letzte war, das seine Romanstruktur determinieren konnte. (i) Schließlich ist nicht sicher, ob es zwischen dem Brief, in dem Hyperion seine »Ruhe« betont, und dem letzten »Nächstens mehr« nicht noch eine weitere Äußerung gibt, die aus Salamis geschrieben ist. Das könnte der Schluss des drittletzten Briefes (des Briefes vor der Deutschenschelte) sein. Im Schlussteil dieses drittletzten Briefes zitiert Hyperion zunächst seinen Antwortbrief an Notara von 1770, mit dem er auf die Nachricht vom Tode Diotimas reagierte und seinen Entschluss mitteilte, aus Griechenland zu fliehen. In den beiden letzten

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Absätzen dieses drittletzten Briefes nimmt Hyperion – nach einem Gedankenstrich – pathetisch Abschied von seiner Jugend, von seinen »lieben Griechen«, von Diotima und der griechischen Landschaft. Dieser Abschied endet mit folgendem resignativem Wunsch: […] ihr Bäume, wo sie sich erheitert, ihr Frühlinge, wo sie gelebt, die Holde mit den Blumen, scheidet, scheidet nicht aus mir! doch, soll es seyn, ihr süßen Angedenken! so erlöscht auch ihr und laßt mich, denn es kann der Mensch nichts ändern und das Licht des Lebens kommt und scheidet, wie es will (754). Wenn das der Eremit auf Salamis spricht, klingt es nach einer aktuellen Einwilligung in den Tod, nach einer Äußerung uneingeschränkten ›amoris fati‹. 

2.4. Brod und Wein Die große, 160  Verse umfassende Elegie Brod und Wein ist wie keine andere Poesie Hölderlins auf der Basis der deutsch-griechischen Fluchtlinie komponiert. Bekanntlich wurde die erste Strophe zuerst als abgeschlossenes Gedicht publiziert und als romantisches Meisterwerk rezipiert96: die großartige, scheinbar impressionistische Idylle einer abendlichen deutschen Stadt, über die langsam die Nacht herabsinkt. Niemand vermutete damals weitere acht Strophen (142  Verse)  und vor allem nicht, dass sie von Griechenland handeln würden. Und tatsächlich ist der Tonwechsel von »Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken« (Vs. 11) zu »Drum an den Isthmos komm! Dorthin, wo das offene Meer rauscht« (Vs. 49) von seinerzeit – und bis heute – unerhörter Dynamik. Diese ganz und gar unmetaphorische Aufforderung ist die Klimax einer im Laufe der dritten Strophe ansteigenden lautlichen, rhythmischen und semantischen Eskalation, für die es vielleicht allenfalls bei Beethoven Analogien gibt. Auf der semantischen Ebene handelt es sich um »frohlokkenden Wahnsinn« – einen zwar uralten Topos des »furor poeticus«, der aber niemals zuvor derartig mitreißend formuliert wurde. Dieser Wahnsinn folgt als Parenthese auf das dadurch unterbrochene, erste »Drum!«: Drum! und spotten des Spotts mag gern frohlokkender Wahnsinn     Wenn er in heiliger Nacht plötzlich die Sänger ergreift. Drum an den Isthmos komm! Spott ist keineswegs Symptom defizitären Bewusstseins, und dass der Spott dieser Wahnsinnigen den Spott der Vernünftigen übertrifft, zeigt, dass dieser Wahnsinn nichts zu tun hat mit Intelligenzverlust und Irrationalismus.

96 Dazu SA II , 609.

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Das doppelte »Drum! […] Drum an den Isthmus komm!« ist ein Fall jener typisch hölderlinschen »exzentrischen Makro-Zäsur«, deren »Kalkul« der Dichter später auch theoretisch wie praktisch-generativ konzipiert hat. Die »Exzentrizität« meint dabei (in Analogie zur Gliederung einer exzentrischen Planetenbahn) die von der Mitte abweichende Position, etwa beim ersten oder beim letzten Drittel. In Brod und Wein liegt die Mitte in der fünften Strophe und exakt vor dem 81. Vers, der lautet: Möglichst dulden die Himmlischen diß; dann aber in Wahrheit     Kommen sie selbst […]. Die Zäsur liegt also wenige Verse vor dem exakten ersten Drittel, und sie intoniert den Sprung oder Flug vom nächtlich schlafenden Deutschland nach Griechenland, und zwar wie stets zunächst zum zeitgenössischen Griechenland um 1800. Dabei ist der Isthmos von Korinth schon im Hyperion der Ort, von dem aus ganz Griechenland erfassbar wird. Bereits im ersten Brief lautet schon der zweite Satz: »Ich bin jetzt alle Morgen auf den Höhn des Korinthischen Isthmus, und, wie die Biene unter Blumen, fliegt meine Seele oft hin und her zwischen den Meeren, die zur Rechten und zur Linken meinen glühenden Bergen die Füße kühlen« (I , 613)97. Hier erstreckt sich zwischen Olymp, Delphi und Theben die Landschaft des »kommenden Gotts« Dionysos mit Fichten und Wein98. Die Einladung an den Isthmos meint ein mit der deutschen Ausgangssituation gleichzeitiges Griechenland, also Neugriechenland, das zunächst mit bekannten geographischen Orten evoziert wird. Der panoramatische Blick von den korinthischen Bergen sieht im Unterschied zur Nacht der Eingangsstrophen ein taghelles Land, das jedoch eigenartig verfremdet beschrieben wird (Strophe 4): Seeliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle,     Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört? Festlicher Saal! Der Boden ist Meer! Und Tische die Berge     Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut! Es handelt sich um zwei metonymisch (nicht metaphorisch) verknüpfte Isotopien: Landschaft und Haus. Einzelne Elemente der einen werden mit analogen einzelnen Elementen der anderen Isotopie kombiniert: Haus Griechenland Festsaal (Teil von Griechenland) Boden Meer Tische Berge 97 Das Motiv kehrt wieder im Freiheitskrieg: »Auch der kluge Notara wurde bezaubert von den neuen Entwürfen, versprach mir eine starke Parthei, hoffte bald den Korinthischen Isthmus zu besezen und Griechenland hier, wie an der Handhabe, zu fassen« (I , 702). 98 Dazu ausf. Böschenstein, »Frucht des Gewitters«.

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Die Elemente der Landschaft wurden in frühen geologischen Zeiten von der Natur oder spezifischen Naturkräften, im Verlauf als »die Himmlischen« bezeichnet, mit funktionaler Bestimmung (»zu einzigem Brauche«) »gebaut«. Es geht also um die ›Naturbasis‹ (Boden und Tische) der altgriechischen Kultur. Wie sich zeigen wird, reflektiert die Elegie im weiteren Verlauf die Bedingungen der Möglichkeit der altgriechischen Kulturblüte. Als erste dieser Bedingungen wird hier bereits die Naturbasis evoziert, und zwar aus der Perspektive eines Besuchs in Neugriechenland – denn in der Gegenwart sind Saal, Boden und Tische leer: Aber die Thronen, wo? Die Tempel, und wo die Gefäße,     Wo, mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang? In der Gegenwart sieht man ganz wörtlich eine Basis ohne Über-Bau: ohne auf die Naturbasis gebaute Thronsäle, Tempel und Gefäße. Sicher bezieht sich »mit Nectar gefüllt« auf die Gefäße (Göttertisch auf dem Olymp), nach der Syntax aber gleichzeitig verfremdet auch auf den »Gesang«. Diese Syllepse (kühnes Zeugma) von »Gefäßen« und »Gesang« liefert womöglich einen Schlüssel zur Lektüre  – er fügt sich, wie gezeigt werden soll, in die in der Einleitung exponierte und in Kapitel 2.2. systematisierte Arbeitshypothese einer für Hölderlins Schreiben konstitutiven naturgeschichtlichen Isotopie. Konkret geht es in Brod und Wein vor allem um äthertheoretische Konzepte. Die Arbeitshypothese liest den Äther-Komplex daher als polyisotop bzw. »überdeterminiert« oder »mehrstimmig«. Diese Mehrstimmigkeit las Hölderlin in Sömmerrings seinerzeit vielfach – unter anderem auch von Kant – diskutierter moderner Äthertheorie in der Schrift Über das Organ der Seele. Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, beweisen die zwei Kurzgedichte von 179699 Hölderlins außergewöhnliche Hochschätzung dieser Schrift, die auch eine biographische Konstellation implizierte: Sömmerring war Hausarzt der Gontards, also auch Susettes, und enger Freund Heinses. Hölderlin selbst konsultierte ihn ebenfalls mindestens einmal in seiner Eigenschaft als Arzt, vermutlich auf Empfehlung Susettes. Die Polyisotopie Hölderlins ist bei Sömmerring bereits vorweggenommen: Nachdem er eine spekulative moderne Äthertheorie (ätherisches Nerven- und Gehirnfluidum) entwickelt hat, zitiert er antike, teils mythische Äthervorstellungen aus dem Ardinghello seines Freundes Heinse. Nun gehörte der Ardinghello bekanntlich zu den wenigen bibelanalogen Basistexten Hölderlins, und sein Autor blieb dauerhaft dessen »ehrlich Meister«, nachdem er das Liebespaar in die Idylle von Bad Driburg begleitet hatte und mit Hölderlin und Susette intensiv über Kunst und Poesie geredet haben dürfte. Brod und Wein wiederum ist eben diesem Heinse gewidmet, den das Gedicht mit »du« anredet. Schließlich ist Ardinghello, wie

99 Oder erst von 1797 (BDK , Bd. 1, 605). Hölderlin schenkte sie direkt oder über Susette dem Autor, der das eine in sein Exemplar einklebte (ebd.).

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bereits erwähnt, ein Roman mit neugriechischer Komponente und einem neugriechischen Helden, der auf den »glückseligen Inseln« (Untertitel), also dem Archipelagus, eine moderne Künstlerrepublik gründet. Liest man »Nektar« nun naturgeschichtlich, so ist er hypothetisch zunächst als antik-poetischer Sammelbegriff für – naturgeschichtlich-modern – mehrere spezifische ätherische Fluida mit verschiedenen, doch stets körperlichen Funktionen aufzufassen: erstens für einen speziell lebensgenerativen Äther im Atem, also in der Luft. Dabei wird die Kehle des Sängers zu jenem Gefäß, das mittels seiner Füllung durch das Atemfluidum Gesang ausströmt: Sei geseegnet, o sei, himmlische Pflanze, mir     Mit Gesange gepflegt, wenn des ätherischen       Nektars Kräfte dich nähren,          Und der schöpfrische Stral dich reift. (I , 324) Das ist von der Liebe gesagt, die mit dem Nektar im Gesang genährt wird; der »Strahl« ist mit dem elektrischen Fluidum gefüllt wie im Blitz. Es handelt sich dabei also um besondere Äther, vermutlich insbesondere um das elektrische und/ oder das »oxygene« (›schärfende‹) Fluidum, das beim Eintritt in die Atemgefäße und dann über das Blut in die Nerven und ins Gehirn Euphorie (»frohlokken«) auslöst und beim Ausatmen Gesang. Diese Lektüre bewährt sich auch angesichts der sonst semantisch kaum ›akzeptablen‹ späteren Fassung: Aber die Thronen, wo? Geseze der Erd, und die Schritte,     Wo mit Nectar gefüllt, schreitend in Winkeln Gesang?                    (I ,  377, Vs. 59 f.) Hier kann »mit Nectar gefüllt« nur der Gesang sein, der den Tanz (das Schreiten in Winkeln) begleitet. Die »Geseze der Erd« verweisen zudem deutlich auf die naturgeschichtliche Isotopie. Zweitens aber deckt der poetische Name »Nektar« offensichtlich ein anderes, euphorisierendes ätherisches Fluidum im titelgebenden »Wein« (mit dem »Weingott« Dionysos als mythischem Spender). Dabei handelt es sich also um nichts anderes als um das alkoholische Fluidum, das in der önologischen Literatur des 18. Jahrhunderts insbesondere auch unter dem Aspekt der Wirkungen auf Gehirn und Nerven diskutiert wurde. Als Nächstes ist nun zu fragen, wie der Ätherkomplex mit dem übergreifenden Thema von Nacht und Tag innerhalb der naturgeschichtlichen Isotopie artikuliert ist. Wie viele Buchseiten in den Bibliotheksregalen zu Hölderlin handeln nicht von »Götternacht und Göttertag«? Aber wie viele wenden bloß Paraphrasen des Textes hin und her? Stattdessen sollen als Schlüssel der Lektüre die typischen physiologischen Zustände der irdischen Lebewesen einschließlich des Menschen bei Nacht und bei Tag dienen, d. h. Schlaf und Wachsein. Unter diesem Lemma ist belegt, wie

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Hölderlins naturgeschichtliche Auffassung dieser fundamentalen Zustände gehirnbegabter Lebewesen äthertheoretisch begründet ist: »[…] daß auf die Befriedigung der Nothdurft eine Negative erfolgt, wie z. B. die Thiere gewöhnlich schlafen, wenn sie satt sind […]« (II , 53). Je ›dürftiger‹ die Menschen, umso näher kommt ihr Schlaf dem der Tiere: In der berühmten Feiertagshymne geht es um das kairologische Erwachen (»Jetzt aber tagts!«; I , 262) nach langem Schlaf sowohl der Natur wie der Völker (»Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern«), womit eine monistische Kontinuität zwischen naturaler, natural-affektiver und geistiger »Witterung« impliziert ist. Auch diese zunächst ganz hesperisch-deutsche Situation mündet in die griechische Fluchtlinie: in den Mythos von der Geburt des Dionysos und die Verbrennung seiner Mutter Semele durch den Blitz des Zeus100. In der späteren Hymne Am Quell der Donau heißt es von den Menschen der christlichen, ›nächtlichen‹ Epoche, das sie, die »Entschlafenen«, »schlummern wachenden Schlaf« (I , 352). In der siebten Strophe von Brod und Wein lauten die berühmten Verse:            Indessen dünket mir öfters     Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen,     Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? (Vs. 119–122) Auch dieser ›Schlaf‹ will nicht rein metaphorisch, sondern auch naturgeschichtlich pragmatisch gelesen werden: Der christliche Dualismus ›schließt‹ die Gefäße, so dass sie sich gegen die as-sociierenden Äther sperren, von denen wiederum alle dionysischen, freudeschaffenden Praktiken (Musik, Tanz, Poesie, Feste) abhängen. Der christliche Körper nähert sich insofern dem »dürftigen« des Tiers an. Dass in Nacht und Tag Emphaseis, also spezifische semantische Akzente, gelesen werden sollen, wird nicht zuletzt durch semantisch ›sperrige‹ Kombinationen nahegelegt wie an exponierter Stelle im Zentrum der Elegie:                dann aber in Wahrheit Kommen sie selbst und gewohnt werden die Menschen des Glüks, Und des Tags […] Glück gehört bei Hölderlin zum hedonistischen Wortfeld von Freude und Lust, zum alltagssprachlichen Komplex aller euphorischen Körperzustände von Nerven und Gehirn, wie sie nach der naturgeschichtlichen Hypothese durch je spezifische ätherische Fluida bewirkt werden. Dazu zählen, um es mit Deleuze

100 Eine Einbeziehung der Feiertagshymne hätte ein ganzes Kapitel erfordert. Vgl. exemplarisch Szondi, Der andere Pfeil; Jürg Friedrich, Dichtung als »Gesang«; Mottel, »Apoll envers terre«, 30–54.

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und Guattari zu sagen, sämtliche »Wunschmaschinen«, nicht zuletzt auch die sexuellen:

Und zuerst und allein alles Verlangen beglükt –

Diese euphorischen Zustände sind am direktesten mit Wachheit und Tag verbunden, weil die Sonne die Wärme- und Lichtäther ausstrahlt, während umgekehrt die Abwesenheit der Sonne in der Nacht bestenfalls Schlaf und tendenziell dysphorische, im Extremfall depressive Zustände bewirken kann:

die Noth und die Nacht (Vs. 116).

Den Zusammenhang zwischen Nacht und Depression werden später die Nachtgesänge zu einem poetischen Programm erheben101 – er ist aber bereits im Hyperion ausführlich erzählt. Im Depressionskomplex (im medizinischen Diskurs der Zeit meistens als »Melancholie«, aber auch als »Hypochondrie« bezeichnet) sind also naturgeschichtliche und biographische Isotopie aufs engste gekoppelt. Hölderlins eigener Begriff ist der der »Trauer«. Dass die Spezifik des altgriechischen Kairos nichts mit den astronomischen Zyklen von Tag und Nacht und der Jahreszeiten und auch nichts mit einer Klimaänderung zu tun haben kann, wäre auch dann evident, wenn Hölderlin es nicht eigens ausgesprochen hätte: Die zärtlichgroßen Seelen, die nimmer sind; Denn sie beweint, so lange das Trauerjahr Schon dauert, von den vor’gen Sternen Täglich gemahnet, das Herz noch immer (Diotima; I , 327, Vs. 13–16) Das »Trauerjahr« ist identisch mit der Götternacht aus Brod und Wein: Die »vor’gen Sterne« sind dieselben für Alt- und Neugriechen und die hesperische Aktualität des Sprechers. Nun lässt sich der Komplex der »Nacht« jedoch keineswegs auf die Antithese zu »Tag«, also die dysphorischen Zustände, beschränken. Es geht bei der »Nacht« vielmehr um zwei sehr verschiedene Bedeutungen – um eine ›kleine‹ (mit »Noth« verbundene) und eine ›große‹ (»schwärmerische«, Vs. 15; »hocherhabne«, Vs. 19) Nacht, wie sich sagen ließe. Die ›kleine‹ Nacht ist eine nur menschliche, und zwar historische, während die ›große‹ die der gesamten Natur, also die kosmische ist. Die kosmische Nacht übergreift den irdischen Gegensatz von Tag und Nacht und äußert sich in den Interferenzen der beiden zyklischen Zeitabschnitte, die die gegenwärtige Situation des Sprechers (oder der beiden Sprecher, falls ein Dialog mit Heinse imaginiert ist) kennzeichnen. Diese Interferenzen beginnen bereits in den akustischen, also auch im Dunkeln wahrnehmbaren Motiven der Ein 101 Dazu Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta II , 11–31.

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gangsstrophe – sozusagen verdeckt wie ein musikalisches Motiv in einer Nebenstimme: Saitenspiel, Brunnenrauschen, Glockengeläut, Wehn. Sie rücken dann in den folgenden Strophen in die Hauptstimme: Gesang, strömendes Wort – Schlummerlos und vollern Pokal und kühneres Leben, Heilig Gedächtniß auch, wachend zu bleiben bei Nacht. Diese Interferenzen gehen schließlich direkt über in die Eskalation zur Makrozäsur des »Drum an den Isthmus komm!«: Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, Aufzubrechen. So komm! Das »Feuer« der ›Triebe‹ ist in naturgeschichtlicher Sicht als ein oder mehrere Nervenäther zu konkretisieren, insbesondere als alkoholischer, vor allem aber als ein endogen-»schwärmerischer«, der u. a. zu Gesang und Tanz »treibet«. Im Hyperion wird der »Trieb« mythisch mit dem »Gott« und naturgeschichtlich mit dem Feuer identifiziert: Aber dennoch stirbt der Trieb in unserer Brust, und mit ihm unsere Götter und ihr Himmel. / Das Feuer geht empor in freudigen Gestalten, aus der dunkeln Wiege, wo es schlief, und seine Flamme steigt und fällt […] bis ihr Stoff verzehrt ist […]. (I , 646) Die Einbeziehung der naturgeschichtlichen Isotopie in die Lektüre zeitigt eine für Hölderlin absolut fundamentale Einsicht, die sowohl seine Naturphilosophie wie seinen poetischen Stil betrifft: Sie erlaubt bzw. ›empfiehlt‹ eine nicht-metaphorische Lektüre. Lässt sich auch der Mittelteil der Elegie, also die Rekonstruktion der Emergenz der altgriechischen Kultur und darin die Rekonstruktion der Bedingungen ihrer Möglichkeit, nicht-metaphorisch lesen? Zwar wird deutlich gesagt, dass sich »die Himmlischen«, in der hier vorgeschlagenen Lektüre also die Äther, Griechenland in einem bestimmten historischen Kairos genähert und später in einem anderen wieder von ihm entfernt haben – diese Bewegungen sind aber ebenso deutlich einer wachsenden und umgekehrt sinkenden Rezeptivität der irdischen, menschlichen »Gefäße« komplementär und womöglich davon abhängig: Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen (Vs. 113). Diese Variabilität der menschlichen Rezeptivität bewegt sich zwischen den Polen des Schlafs und des Wachseins, und es ist nun die Frage, ob diese Termini rein metaphorisch verwendet werden oder metonymisch bzw. modellsymbolisch. Stehen Schlaf und Wachsein metaphorisch für Unbewusstheit und Bewusstheit? Paradox erscheint nun bereits die Periodisierung dieses Prozesses der Bewusstwerdung. Er verläuft nicht vom Polytheismus zum Monotheismus, wie es der gängigen Auffassung entspricht, sondern – zumindest oberflächlich und

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zumindest scheinbar – umgekehrt: Zuerst ertönt der Ruf »Vater Äther«, später werden »die Himmlischen« »Eines und alles genannt« (Vs.  84), also Hen kai Pân, die sowohl vorsokratische wie spinozistische wie Hölderlins eigene Credo­ formel – und erst in einer dritten Phase folgt die plurale, also polytheistische Benennung. Diese dritte Phase fällt nun mit dem Tag, dem Sonnenlicht und der Sichtbarkeit zusammen: und gewohnt werden die Menschen des Glüks Und des Tags und zu schauen die Offenbaren, das Antlitz […]. Will man hier keine Anspielung auf reale wunderbare Epiphanien einzelner Götter (modern einzelner Numina in einem quasi-personalen ›Chock‹ à la Rilke)  sehen, so kann es sich nur um Götterbilder handeln. Die (mehreren) Antlitze sind aber die des (einen) Hen kai Pân, sichtbar können die unsichtbaren Götter (Äther) nur in irdischer »Einkehr«, nur in menschlichen Gefäßen, nur als Menschenbilder werden. Die Kunst als reale Bewusstmachung stellt dem lebendigen Menschen seine gotterfüllte, höchst intensive Gestalt als Applikationsvorgabe vor Augen – indem er sie appliziert, wird er »göttlich« und ist sich dessen zugleich bewusst. Der erste Schritt der Bewusstwerdung ist also der tausendfache Ruf »Vater Aether«, der von einer intensiven As-Sociation begleitet wird: Vater Aether! so riefs und flog von Zunge zu Zunge Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein; Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden, Wirds ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt Vater! heiter! […] (I , 376, Vs. 65–68) Hölderlins bekannte ›etymologische‹ Identifikation von Äther und heiter ist vor allem naturgeschichtlich begründet: Das (oder die) »Heitere« ist eine bestimmte atmosphärische Luft- und Lichtschicht. Am Beginn des antiken Bewusstwerdungsprozesses steht die intuitiv-spontane Anrufung einer Atmosphäre als lebensgenerierend. Dieses Wort verstärkt seine Wirkung im »Schlaf«, d. h. in fehlender Bewusstheit. Hölderlins wichtiger Begriff eines »Guts« scheint hier zunächst einfach das »Wort« »Vater Aether« zu meinen. Die Austeilung des Guts102 kann aber kaum auf die verbale Ebene beschränkt werden – es geht vermutlich gleichzeitig damit auch um den Austausch von realem »Äther«, sprich um eine Steigerung des Nerven- und Hirnflusses im individuellen und kollektiven Eros und in den Vorstellungsbildungen einer »singenden« Sprache. Durch die sich entwickelnde Sprache (»es wächst schlafend des Wortes Gewalt«) gewinnt der Austausch der Äther die zusätzliche Dimension der Bewusstheit. 102 Mit einer seiner modernen Konnotationen »Bona-parte«?

 Brod und Wein  

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Es geht also nicht (kontrafaktisch) um so etwas wie epochale ›qualitative‹ Klimaänderungen – vielmehr hängt die Rezeptivität für die göttlichen Äther vom Grad der Bewusstheit ab. Bedingung der Möglichkeit von großer Kultur ist zwar die Natur-Basis, aber eine nicht hinreichende Bedingung. Es ist die (fehlende oder wachsende) Bewusstheit, die das (objektive) Klima allererst subjektiv für die Menschen erschließt: Indem sich die antiken Griechen ihres Klimas bewusst wurden und dieses Klima kulturell überbauten, ebneten sie den Weg für die »Einkehr« der Götter. Insofern kam das griechische Klima erst durch die Bewusstwerdung und im Rahmen der Kultur »wirklich und wahrhaft« in Griechenland an und verschwand wiederum mit dem Ende dieser Kultur, mit der Liquidierung des dionysischen As-Sociationstyps und seiner Rituale (obwohl sich objektiv an der Sonneneinstrahlung nichts änderte). Analoges gilt für die hesperische Lage: Sie ist keinesfalls durch ein gegenüber dem griechischen defizitäres, sonnenärmeres und kälteres Klima wesentlich behindert: Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt, Siehe, wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists! (Vs. 149 f.) Wie in Griechenland hängt auch in Hesperien die erhoffte Kulturblüte hauptsächlich von anderen Bedingungen als der klimatischen ›Basis‹ ab: Biß daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen, Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind. (Vs. 117 f.) Das scheint kairologisch-politische Bedingungen zu evozieren, konkret die Kämpfe seit der Französischen Revolution. In welchem genaueren Sinne kann nun von der großen Nacht gesagt werden, sie bewege »die Welt und die hoffende Seele der Menschen«? Im Verlauf der Explikation des Nacht-Komplexes durch die Elegie erweist sich die große Nacht als Synonym des Hen kai Pân und damit der »Einen Substanz« des Spinoza als sowohl äußerer wie innerer Kosmos, dessen Einheit der sowohl äußere wie innere Äther konstituiert. Der äußere Kosmos als Nachthimmel stellt nicht metaphorisch, sondern modellsymbolisch-real die Einheit von Tag und Nacht dar: Die Myriaden Sterne sind nichts als Lichtäther ausstrahlende Sonnen, die am irdischen Tag durch das Licht der irdischen Sonne überstrahlt werden und bei Nacht bloß durch die riesigen Entfernungen in Dunkel gehüllt erscheinen. So ist auch »Schatten« doppeldeutig: Im Sinne der kosmischen Nacht steigen die Himmlischen (die Äther) aus Schatten herab auf die Erde: Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag. (Vs. 71 f.)

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Am Schluss dagegen klingt die Elegie mit den depressiven »Schatten« der kleinen Nacht aus: […] denn wir sind herzlos, Schatten, bis unser Vater Aether erkannt jeden und allen gehört. Mit allen Himmlischen kommt als Fakelschwinger des Höchsten Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab. Die mythische Kodierung dieses Zusammenhangs erfolgt dabei dominant mittels des titelgebenden »Weingotts« Dionysos; sein Name gilt für den gesamten »himmlischen Chor« (Vs. 132), so dass in der mythischen Isotopie auf die erste Entwicklung vom Monotheismus zum Polytheismus am Schluss eine umgekehrte Gegenentwicklung folgt: Ja! sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf (Vs. 143 f.). In diesem Schlussteil der Elegie werden Dionysos also Eigenschaften anderer Götter wie Christus103 und Zeus zugeschrieben: Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins (Vs. 138). Diese Götter-Katachrese wird in der naturgeschichtlichen Lektüre transparent: Offensichtlich ist (nach dem Wissen von 1800) das elektrische Fluidum einer der im Wein wirkenden »Äther«. In einem Entwurf wird der »ätherische Vater« über den »Donner« eindeutig als Zeus bezeichnet (III , 211). Wie Bernhard Böschenstein ausführlich dargestellt hat, ist der geheime ›griechische Halbgott‹ Christus eine Art Stellvertreter des Dionysos während der langen historischen (›kleinen‹) Nacht der christlichen Ära. Mittels der dionysischen Gaben Brot und Wein ermöglicht das christliche Abendmahl ein Minimum von Symposion, ein Minimum von ›brüderlicher‹ As-Sociation. So teilt Christus mit Dionysos die Eigenschaft, mittels der as-sociierenden Äther eine ›brüderliche‹, enthusiastische As-Sociation schaffen zu können. Diese ›Verbrüderung‹ ist also zusätzlich zur Naturbasis die zweite notwendige ›Basis‹ für eine große Kultur. Der as-sociative Zustand der »Fraternité«, in Einheit mit »Liberté« und Égalité«, heißt bei Hölderlin »Gemeingeist« und wird mythisch mit »Bacchus« (Dionysos) bezeichnet104. »Geist« gehört zu den entmythologisierenden Doppel- oder Gleitbegriffen bei Hölderlin, die sowohl einen kulturellen, sprachlich fundierten ›Über-Bau‹ wie einen naturalen kollektiven »Traum« oder »Rausch« bezeichnen. Der »Gesang« entspringt aus beiden, bewegt sich zwischen beiden und artikuliert ihre Einheit in ›rauschhafter‹ Sprache, wodurch er sie per Applikation real auf Dauer stellt. Der spezifische »Gemeingeist« ist der eines »Volks«, und seine 103 Der mythische Fackelschwinger ist eigentlich Dionysos (DKV  I ,  742 f.). 104 Böschenstein, »Frucht des Gewitters«, 16 f. passim.

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im Kairos von 1800 erwartete Wiederkehr soll die typisch moderne Isolation der Individuen in einer Konkurrenzgesellschaft überwinden (dazu ausf. das Diotima-Kap. 6.2.). Das in Konkurrenz als falscher Form von Freiheit isolierte moderne Individuum ist wesenhaft »arm«. Zugleich besteht eine wesenhafte Solidarität zwischen dem einsamen Dichter und dem modernen Volk: Beide leben in »Armut« und sind so insgeheim aufeinander verwiesen. Nicht zuletzt diesen Zusammenhang entdeckt die Flucht nach Griechenland als dem Land, in dem die moderne »Armut« den größtmöglichen Kontrast zum antiken kulturellen »Reichtum« bildet. In dieser Entdeckung liegt bereits die Potentia eines neuen »Gemeingeists« und eines neuen »Reichtums«, die in einer neuen, ›griechischen‹, dionysischen poetischen Sprache bereits real ist. In dieser revolutionär neuen poetischen Sprache Hölderlins, deren Effekt zu Beginn dieses Kapitels impressionistisch evoziert wurde, besteht die ästhetische Seite der griechischen Fluchtlinie. Äußerlich geht es um griechische Metren und Strophen zwischen Hexameter und Pentameter wie in Brod und Wein sowie in den Odenstrophen und schließlich den neopindarischen »freien Rhythmen«. Hölderlin übernahm sie von Klopstock in ihrer originell deutschen Form – auf der Basis des Axioms griechische Länge = deutscher Akzent. Gleichzeitig mit seinem ›Sömmerring-Erlebnis‹ von 1796 entwickelte Hölderlin auf dieser Grundlage und in Auseinandersetzung mit Schiller und Goethe seinen spezifischen dynamischen Rhythmus, eine Art sprachliches Analogon zu Beethovens musikalischer Dynamik. Weil der Raum zur Darstellung dieser sprachlichen Dynamik fehlt, sollen nur einige Grundstrukturen exemplarisch aufgewiesen werden, und zwar an der eingangs bereits erörterten dritten Strophe mit der Makrozäsur und der Klimax »Drum an den Isthmos komm!«. Das Prinzip des dynamisch sich steigernden Rhythmus ist das Spiel von freier Bewegung, Stauung, Riss in der Bewegung durch Zäsur und erneuter, dadurch gesteigerter freier Bewegung. Ganz wesentlich sind (völlig analog zur Musik) sehr lange Phrasenbögen. Die daktylischen Folgen des Hexameters ergeben in der deutschen akzentuierenden Sprache den Effekt freier Bewegung: Dórt ins Lánd des Olýmps, dòrt áuf die Höhen Cithärons Der Stauungseffekt wird auf verschiedene Weise erzielt. Zuerst durch das Enjambement, das am Ende des vorgängigen Verses ein Ritardando erzwingt: Aùch verbérgen umsónst das Hérz im Búsen, umsónst nùr [ – ] Hálten den Mút noch wír […]. Ich habe die beiden letzten Silben des Hexameters mit Akzent und Nebenakzent versehen. Es ist wesentlich für Hölderlins Prosodie, dass er durchaus auch wie Klopstock und Platen den »Spondeus« kennt, der griechisch aus zwei Längen ( – – ) besteht und häufig alternativ zum Trochäus ( – ) verwendet

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wird105. Wenn man sich an das Axiom griechische Länge = deutscher Akzent hält, bedeutet ein deutscher Spondeus also ganz einfach zwei Akzente (Hauptund Nebenakzent) im gleichen ›Versfuß‹ (genau wie im griechischen Modell). Das ist evident im Vers 47: Drúm! und spótten des Spótts mag gérn frohlókkender Wáhnsìnn Es wäre sicher verfehlt, »Wahnsinn« zu lesen wie »spotten«. Sowohl die Enjambements wie die Spondeen dienen der stauenden Akzentakkumulation, einer hervorragenden rhythmischen Möglichkeit der deutschen Sprache106. Dazu gehört dann ebenfalls der sogenannte »Hebungsprall« in der Mitte des Pentameters: Hálten den Mút noch wír, [ – ] Méister und Knáben, denn wér Schließlich wird das Dispositiv der Stauung gekrönt durch die starke Verszäsur (Mikrozäsur): Áufzubréchen. // Sò kómm! daß wír das Óffene scháuen Ohne die Zäsur würde das Leitmotiv »So komm!« nicht diesen enorm enthusiastischen Effekt einer offenen Fluchtlinie gewinnen. Stauung und Entstauung ergeben sich also durch Akzentakkumulation und ›Befreiung‹ des Rhythmus. Mittels lautlicher Verfahren wie Figura etymologica (Wiederholung von Silben), Alliteration und Assonanz wird diese wahrhafte rhythmische ›Fluchtlinie‹ dynamisch verstärkt: Drum! // und spótten des Spótts mag gern fròhlókkender Wáhnsìnn Dieses Prinzip wird dann durch die langen syntaktischen Bögen auf höherer Ebene wiederholt, wobei der Wechsel von Frageform, Anruf und Aussage rhythmische Eskalationen bis zur Klimax von Makrozäsuren bewirkt (wie sie eingangs skizziert wurden). Wesentlich dabei bleibt jedoch, dass diese rhythmischen Wunder in ›gräzisierter‹ deutscher Sprache kein L’art pour l’art sind und auch nicht autoreflexiv nur Poesie meinen. Ästhetische und as-sociative Fluchtlinie sind untrennbar: Rhythmus und Mehrstimmigkeit der Isotopien sind ineinander wahrhaft ›verdichtet‹.

105 Dazu ausf. Jürgen Link, Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik, München 1971, 206–211; sowie: August von Platen, Lyrik, hg. v. J. L., München 1982, 879 ff. Dort wird die fundamental falsche Deutung der deutschen Spondeen als »Tonbeugungen« bei An­ dreas Heusler korrigiert. Heusler beruft sich stark auf Hölderlin, der angeblich keine Spondeen verwende: Auch das ist zu korrigieren. 106 Exemplarisch für eine dichte Akzentakkumulation sind die folgenden Verse (I , 201): »Síngt, o sínget mir núr, únglükwéissàgend, ihr Fúrchtbàrn /  Schíksàalsgötter das Líed […]«. Semantisch entspricht diesen gehäuften Spondeen die Angst vor den übelwollenden Parzen.

Den Archipelagus lesen 

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2.5. Den Archipelagus lesen, oder: Wie konkret ist Hölderlins Utopie einer »griechischen« As-Sociation? Dass Hölderlins Griechenland-Faszination sich von der allgemein deutschen, klassizistischen und auch philhellenischen auf spezifische Weise unterscheidet, ist den meisten Leserinnen und Lesern von jeher intuitiv klar gewesen. Worin diese Spezifik genau besteht, ist aber schwierig zu konkretisieren. Eine erste Beobachtung – um das Konzept der Fluchtlinie exemplarisch am Text zu konkretisieren – bezieht sich auf vielfache Bewegungen, zuweilen komplex und spiralförmig, zwischen jeweils mehreren Polen von Reisen in Räumen und Zeiten. Der Autor selbst in seinen Rollen als Erzähler oder als Lyriker bewegt sich zunächst zwischen den Polen Gegenwart und Deutschland einerseits und Vergangenheit und Griechenland anderseits, so in allen Sehnsuchts- und Phantasiereisen. Schon diese Grundbewegung ist aber selbst in den einfachsten Fällen zu einem Dreieck erweitert: Die Phantasiereise geht zuerst von Gegenwart zu Gegenwart, also von Deutschland nach Neugriechenland, bevor die Raumreise in eine Zeitreise nach Altgriechenland übergeht. Im Hyperion spricht der implizite Autor als fiktive Figur eines Neugriechen, der nach Deutschland flieht, von den dortigen Verhältnissen abgestoßen wird und nach Griechenland  – das noch von den Osmanen besetzte Neugriechenland – zurückflieht (s. o. Kap. 2.3.1.). Zuvor wollte Hyperion seine Zeitreise nach Altgriechenland durch die Errichtung einer neugriechischen Republik zur inventiven Rückkehr in die Gegenwart vollenden. In der Wanderung bildet die mythische Reise von Urgermanen zum Schwarzen Meer, wo sie sich mit Ur-Orientalen in einer großen Hochzeit verbinden, aus der die Alten Griechen entspringen, den Ausgangspunkt eines weberschiffartigen Hin und Her von Reisen zwischen Deutschland und Griechenland: Wanderung der Zugvögel, Phantasiewanderung des sprechenden Dichters, Wanderung der Musen von Griechenland zurück nach Deutschland (s. u. Kap. 2.6.). Auch im Archipelagus, dem mit 296 Versen längsten Einzelgedicht mit langen epischen Abschnitten, herrscht ein komplexes Geflecht von Raum- und Zeitreisen, das sich insgesamt im Rahmen des Dreiecks modernes Deutschland – Neugriechenland – A ltgriechenland bewegt. Schon der Beginn entwirft diese Struktur einer gegenwärtigen und sogar künftigen, also nicht regressiven, sondern inventiven »Wiederkehr« mit dem Motiv der Zugvögel  – jener intelligenten Himmelstiere, in denen himmlische Naturkräfte, nach Spinoza also göttliche Kräfte, real manifest sind (I , 295, Vs. 1–8): Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu deinen Ufern wieder die Schiffe den Lauf, umathmen erwünschte Lüfte dir die beruhigte Fluth, und sonnet der Delphin Aus der Tiefe gelokt am neuen Lichte den Rüken?

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Blüht Ionien? Ists die Zeit? denn immer im Frühling, Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die erste Liebe den Menschen erwacht und goldner Zeiten Erinnrung, Komm ich zu dir und grüß’ in deiner Stille dich, Alter! Der Archipelagus, also die griechischen Inseln der Ägäis, zu denen hier auch die jonische Küste gezählt wird, die seit der Katastrophe von 1922 keine von Griechen bewohnte Küste mehr ist, wird vom lyrischen Ich wie ein lebendiger Gott angeredet. Dabei öffnet sich bereits der gesamte Zeitfächer von Vergangenheit (»goldner Zeiten Erinnrung«), Gegenwart (Frühling) und Zukunft, den das Gedicht entfalten wird: »Blüht Ionien? Ists die Zeit?« Hier ist »Zeit« die deutsche Fassung des griechischen Kairos, des utopischen Moments eines erhofften neuen Griechenlands zusammen mit einem neuen Deutschland. Hölderlin hat Spinozas Formel »Deus sive Natura sive Potentia« absolut ernst genommen. Die Gesamt-Natur, also der gesamte, von dem sublimen Lebensstoff »Äther« integrierte und belebte Kosmos ist der einzige reale Gott; in ihr und nur in ihr sind alle »himmlischen Kräfte«, alle Kreativ- und Produktivkräfte real und wirksam. Wie es in der berühmten, von der Fußnote geschützten Formel des Hyperion heißt: »Warum ist die Welt nicht dürftig genug, um außer ihr noch Einen zu suchen?« (I , 617) Oder mit dem Text der dritten Strophe des ­Archipelagus (Vs. 25–29): Auch die Himmlischen, sie, die Kräfte der Höhe, die stillen, Die den heiteren Tag und süßen Schlummer und Ahnung Fernher bringen über das Haupt der fühlenden Menschen Aus der Fülle der Macht, auch sie, die alten Gespielen Wohnen, wie einst, mit dir […]. »Macht« ist hier das deutsche Äquivalent von Spinozas Potentia, also kreative, produktive, generative, schaffende Macht – wenn du willst (sive): Gott. Für Hölderlins Poetik ist es also absolut fundamental, dass es sich nicht um Metaphern oder Allegorien handelt, wenn geologische und geographische Evokationen beseelt erscheinen: Die Beseelung der tierischen und menschlichen Natur kann für ihn nicht aus dem Nichts emergiert sein, sondern nur aus einer bereits Seele ermöglichenden Potentia des physikalischen Kosmos. Was bei Schiller also Metapher und Allegorie ist, ist bei Hölderlin stricto sensu »Naturgeschichte«, also Wissenschaft von 1800, wie Foucault sie rekonstruiert hat, so wie ja auch dessen französischer Begriff des »pouvoir« nicht nur Macht, sondern gleichzeitig auch generatives Können bedeutet. In diesem Sinne ist der Archipelagus demnach als »materielle Basis«, wie Marx gesagt hätte, der griechischen Kultur, allerdings spinozistisch gefasst, als besonderer Teil der irdischen Natur ein besonderer Gott, der nicht mit Altgriechenland untergegangen ist und der heute noch lebt wie damals: »Deiner Inseln

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ist noch, der blühenden, keine verloren.« Die vierte und fünfte Strophe über die Sonne und den Äther bestätigen diese naturgeschichtliche Begleitstimme der intensiven poetischen Evokationen in diesen von der deutschen Sprache selten erreichten musikalischen Wundern von Klang und Rhythmus. Zu den tonalen Intensitäten des, modern gesprochen, hölderlinschen Sounds gehört auch die Schwebemelodie der insistierenden, syntaktisch lang gedehnten Fragen: »Und umfängt der Äther dich nicht und kehren die Wolken, / Deine Boten, von ihm mit dem Göttergeschenke, dem Strale / Aus der Höhe dir nicht?« Man kann sich von solchen Sätzen, von den rhythmisch mit der deutschen akzentuierenden Sprache geradezu verschmolzenen Hexametern rein musikalisch berauschen lassen. Sie besitzen aber auch eine präzise naturgeschichtliche Begleitstimme: Der Äther generiert Gewitterwolken und Blitze, er ist also oder in ihm ist ein elektrisches Fluidum, wie man damals gerade entdeckt zu haben glaubte, und Generieren verstanden einige Physiologen dabei sehr konkret: Sie glaubten elektrischen Äther im Sperma. Die insistierenden Fragen an den Archipelagus gehen von der sechsten und siebten Strophe an über in die zeitliche Rückkehrbewegung von Neu- nach Altgriechenland (Vs. 62–64): Sage, wo ist Athen? Ist über den Urnen der Meister Deine Stadt, die geliebteste dir, an den heiligen Ufern, Trauernder Gott! dir ganz in Asche zusammengesunken […]? Damit beginnt der lange epische Abschnitt über Altgriechenland, konkret über die Perserkriege, die Zerstörung Athens durch Xerxes, den Sieg bei Salamis, den Wiederaufbau und die folgende Blütezeit der Kunst und der Demokratie. Man kann das sozusagen philhellenisch lesen, und zwar gleichzeitig kunstreligiös und politisch. Im Kontext der hier versuchten Lektüre ist aber etwas anderes entscheidend: Der epische Abschnitt schildert eine Rückkehr in der Rückkehr, eine inventive Rückkehr im Inneren der altgriechischen Epoche. Athen ist nicht erst durch die Despoten seit Philipp von Makedonien, durch das Christentum und die Osmanen untergegangen; es war schon einmal untergegangen, und es ist schon einmal wieder aufgegangen, so dass sich konnotativ die Hoffnung ergibt, dass es auch ein zweites Mal wieder aufgehen könnte – im Bündnis mit einem demokratischen Frankreich und, wer weiß, auch einem demokratischen Deutschland. Die heimliche Klimax des Poems besteht in der Utopie einer demokratischen und egalitären Neugründung der As-Sociation auf der Tabula rasa der Ruinen Athens in Gestalt einer Zeltstadt (Strophe 14 und 15, Vs. 161–178): Aber Gezelte bauet das Volk, es schließen die alten Nachbarn wieder sich an, und nach des Herzens Gewohnheit Ordnen die luftigen Wohnungen sich umher an den Hügeln.

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So indessen wohnen sie nun, wie die Freien, die Alten, Die, der Stärke gewiß und dem kommenden Tage vertrauend, Wandernden Vögeln gleich, mit Gesange von Berge zu Berg’ einst Zogen, die Fürsten des Forsts und des weitumirrenden Stromes. Doch umfängt noch, wie sonst, die Muttererde, die treue, Wieder ihr edel Volk und unter heiligem Himmel Ruhen sie sanft, wenn milde, wie sonst, die Lüfte der Jugend Um die Schlafenden wehn und aus Platanen Ilissus Ihnen herüberrauscht und neue Tage verkündend, Lokend zu neuen Thaten bei Nacht die Wooge des Meergotts Fernher tönt und fröhliche Träume den Lieblingen sendet. Als ich vor geraumer Zeit in der Zeitschrift kultuRRevolution das Modell des gemeinsamen Nachtlagers als Kernmodell einer jeden As-Sociation skizzierte, waren diese Hölderlinverse, zusammen mit dem Nachtlager nach dem Erdbeben von Chili bei Kleist, meine paradigmatischen literarischen Belege107. Beide sind rousseauistisch inspiriert, bei beiden handelt es sich um eine mehrdimensionale »Rückkehr zur Natur«. Eine solche Rückkehr muss inventiv sein wie bei Hölderlin, sie kann nicht in Regression verharren wie bei Kleist, wo sie sehr bald wieder ›chockartig‹ in alten Terror mündet. Die utopische Rückkehr der Athener im Inneren ihrer Rückkehr aus dem Perserkrieg geht zurück bis zur zweiten, glücklichsten Phase des Naturmenschen bei Rousseau, d. h. zur Phase der nomadisierenden Hirten, die die Zeltstadt als Nachtlager erfunden haben. Bei Rousseau herrschten in dieser Phase die späteren drei Prinzipien der Französischen Revolution, er konnte sich dabei keine Sklaven vorstellen. Hölderlin wusste natürlich, dass die Kulturblüte Athens, die in der auf die Utopie folgenden Strophe 16 besungen wird, auf Sklavenarbeit beruhte. Er hat diese Tatsache, die in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss im Anschluss an Walter Benjamin reflektiert wird, im psychoanalytischen Sinne verdrängt, oder besser gesagt, mit seiner rousseauistischen Utopie zu übertönen gesucht. Sein Empedokles gibt seine Sklaven frei, und Agis (der Held eines entweder verlorenen oder in den Empedokles integrierten Dramas) war der griechische Gracchus, der egalitäre Umverteiler, ja der griechische Gracchus Babeuf, nach dessen Mitstreiter Buonarotti sich Hölderlin im Turm zuweilen nannte. Immerhin konnte sich Hölderlin, wie auch jeder Philhellene nach ihm, auf die Sklaven und Frauen zwar ausschließende, dafür aber direkte Plenardemokratie, also Volldemokratie, der athenischen Polis als Basis der großen Kunst und Kultur berufen. Diese Volldemokratie ist der »neue Bund« der Athener in den Ruinen, als sie die Zeltstadt aufbauen (Vs. 153–155): 107 Jürgen Link, »Massendynamik und As-Sociation«, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Heft 36 (Dynamik der Massen – Dynamik der Diskurse), 3 ff.

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Wo des Portikus Säulen gestürzt und die göttlichen Bilder Liegen, da reicht in der Seele bewegt und der Treue sich freuend Jezt das liebende Volk zum Bunde die Hände sich wieder! Zum Verständnis der komplexen Raum- und Zeitreisenstruktur des Archipelagus ist dieser Präzedenzfall für die neugriechischen, gegenwärtigen Ruinen absolut fundamental: Die Neugründung der Polis aus der egalitärdemokratischen Utopie der Zeltstadt ist der gegenwärtigen und zukünftigen Situation analog. Das generative Prinzip der künstlerischen Genialität, die dieser Kunst zugrunde liegende »Seele des Volks«, bestand für Hölderlin in der direkten Plenardemo­ kratie, im »Rauschen« und im »Rausch« der »Stimme des Volks« (Vs. 69), das auf Rauschen und Rausch der Natur im elektrisch-ätherischen Gewitter (Vs. 46 f.) antwortet: Hölderlin sah in der direkten Demokratie ebenso wie in der Tragödie eine »dionysische« Institution (Nietzsche kürzte die Demokratie heraus). In den letzten vier Strophen kehrt die Bewegung also konsequenterweise wieder zur Gegenwart mit ihren gegenwärtigen Ruinen zurück – zunächst im Ton der Trauer über den Verlust Altgriechenlands, der dann aber übergeht in eine Phantasiereise des Sprechers vom gegenwärtigen Deutschland in das gegenwärtige Griechenland (Vs. 208–210): Aber näher zu euch, wo eure Haine noch wachsen, Wo sein einsames Haupt in Wolken der heilige Berg hüllt, Zum Parnassos will ich […]. Diese Reisephantasie geht über in die Phantasie eines eremitenähnlichen Lebens in den Ruinen Neugriechenlands, ganz wie Hyperions Leben am Schluss des Romans. Auch dieses Leben in Ruinen ist keine regressive Rückkehr, weil in ihm, fundiert von der ewigen, mit Gott identischen Natur – deutlich entmythologisierend als »die begeisternden Kräfte« bezeichnet, an anderen Stellen des Gedichts auch als »der Genius« und »der Schaffende« –, alle drei Ekstasen der Zeit wirksam sind, vor allem die Zukunft der Utopie (Vs. 235–240): Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen, Immer, wie sonst, geleiten sie noch, die begeisternden Kräfte Gerne den strebenden Mann und über Bergen der Heimath Ruht und waltet und lebt allgegenwärtig der Aether, Daß ein liebendes Volk in des Vaters Armen gesammelt, Menschlichfreudig, wie sonst, und Ein Geist allen gemein sei. Wie bereits gesagt, ist eine Lektüre, die sich dem klanglichen und rhythmischen Rausch der Verse spontan hingibt, durchaus legitim, weil in diesem Rausch die »begeisternden Kräfte«, also die realen »Götter«, real auf die rezipierende Psyche wirken und sie verwandeln. Doch hört eine sozusagen auf die semantische Polyphonie achtende Lektüre auch die naturgeschichtliche Auffassung

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einer egalitärdemokratischen As-Sociation, wie sie in der Zeltstadt präfiguriert war, mit: »Daß […] Ein Geist allen gemein sei«, dass das Volk auch künftig einen neuen Bund schließen könnte, garantieren die stets lebendigen »be-geisternden Kräfte«. An dieser Stelle zerschneidet, mitten in der Strophe, eine der stärksten Zäsuren des Gedichts den musikalischen Fluss (Vs. 241–246) – es ist vermutlich die Makrozäsur, sofern es in diesem Langgedicht nur eine geben sollte: Aber weh! Es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen. Man hat sagen können, Hölderlins Poesie fehle bei aller formalen Modernität die Erfahrung der substantiellen Modernität des entstehenden kapitalistischen Industrialismus. Man begründete das mit dem halb mittelalterlichen, kleinbürgerlich-handwerklichen Traditionalismus seiner schwäbischen Herkunft. Man vergaß dabei, dass die Stiftler Zeitungen lesen konnten und mental immer auch in Paris und London lebten. In den eben gelesenen sechs Versen hat Hölderlin die Grundstruktur des modernen kapitalistischen Industrialismus mit einer evokativen Macht formuliert, die bis heute nichts von ihrer Prägnanz verloren hat: Individualismus bzw. Egoismus, wie Rousseau und andere frühe Kapitalismuskritiker sagten, aus Konkurrenzzwang (heute müsste es heißen: »Wettbewerbsfähigkeit«)  – dadurch zwar gewiss Mobilisierung gigantischer industrieller Produktivkräfte, jedoch mit dem Resultat substantieller Armut statt substantiellen Reichtums (s. dazu ausf. Kap. 6.2. über Diotima). Warum sind diese Verse, platziert genau an der »exzentrischen«, für eine Makrozäsur konstitutiven Position von vier Fünfteln des gesamten Poems, in gewisser Hinsicht die rhythmische und semantische Klimax des Gedichts? Weil sie radikal den inventiven, aktuell-kulturrevolutionären Charakter der Rückkehr nach Altgriechenland ins Licht setzen: Die Rückkehr kann niemals Altgriechenland neu kopieren, jeder Klassizismus ist von Beginn an innerlich tot – jede lebendige neugriechische As-Sociation und Kultur muss auf den aktuellen, kapitalistischen Industrialismus antworten. Wenig später wird Hölderlin es im ersten der erhaltenen Böhlendorffbriefe wie ein Gesetz formulieren: Ich habe lange daran laborirt und weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. (II ,  912 f.) Das bezieht sich eben gerade nicht auf bloße poetische Form, die ja im Gegenteil großenteils unter »lebendiges Verhältniß und Geschik« fällt (wobei »Geschik« natürlich künstlerische Geschicklichkeit meint und nicht »destin«, wie es einige

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heideggerbesoffene französische Übersetzer wollen)  – es meint »substantiell« auch die »moderne Lage« und damit eine Existenz in »reißender Zeit«, wie der viertletzte Vers des Archipelagus sagt. Die erwünschte neue egalitärdemokratische As-Sociation kann nur aus dieser modernen Lage, in dieser »reißenden Zeit« entstehen und muss ihr entsprechen. Dies ist auch der Grund, weshalb Hölderlin während der ersten sechs Jahre des neuen Jahrhunderts, bis zu seinem Zusammenbruch, die aktualhistorischen Entwicklungen einschließlich des Phänomens Napoleon, die er bis zuletzt als Evolutionen des revolutionären Schubs von 1789 zu analysieren versuchte, bis fast in jede Einzelheit hinein fieberhaft verfolgte und poetisch auf Symptome einer neuen As-Sociation hin befragte. Damit ist Hölderlins Geschichtsauffassung aber außerhalb des mächtigen Modells von der einen großen Linie des Fortschritts zu situieren, wie sie unter vielen anderen von Condorcet, den Mills, Hegel, Comte und auch in einigen plakativen Formulierungen bei Marx vertreten wurde. Altgriechenland liegt für Hölderlin nicht auf einer einzigen großen Linie mit Mittelalter und westlicher Moderne, es wird ihm zunehmend fremd und ist schließlich, gerade auch in dem Maße, wie er die starken »orientalischen« Züge Altgriechenlands betont, so etwas wie eine faszinierende Emergenz kultureller Alterität. Wie in der im übernächsten Kapitel folgenden Lektüre der Wanderung ausgeführt, erweist sich Hölderlins Altgriechenland in der inventiven Rückkehr zu ihm als hybrid (im Sinne von genetisch plural), als Frucht krass verschiedener, sowohl »okzidentalischer« wie »orientalischer« Elemente – also gerade nicht als einheitlicher Ur-Sprung einer lupenrein »westlichen« Monokultur, wie es mit anderen der frühere Papst Ratzinger wollte und wie es Derrida zufolge auch Heidegger auf seine unchristliche Art vertreten habe. Hölderlin nimmt die Ruinen als Abbrüche und Zäsuren ernst: Er denkt zunehmend konsequent kulturpluralistisch. Für ihn beginnt mit der rousseauistischen Tendenz der Französischen Revolution, die er lange Zeit auch kontrafaktisch in Napoleon Bonaparte noch wirksam sah, eine gänzlich neue »Linie«, charakterisiert durch eine spezifisch moderne inventive Rückkehr zur Natur, symptomatisch durch Hölderlins modernen »Halbgott« Rousseau in Denken und Leben verkörpert. So ist es auch mehr als eine forciert anachronistische Analogie, wenn man diese Rückkehr mit der viel später zu einer großen historisch-kulturellen Tendenz entfalteten ökologischen Mentalität identifiziert. So wie Rousseau und mehr noch Hölderlin dem Beginn der großindustriellen, dampfgetriebenen britischen Textilindustrie gegenüberstanden, so heute die zaghafte ökologische Bewegung Neugriechenlands einem auf Erdgasressourcen reduzierten Archipelagus, der demnächst von Hunderten von Bohrtürmen skandiert sein wird108.

108 Im 3. Spardiktat, zu dem Tsipras sich im Juli 2015 erpressen ließ, wird sogar der Verkauf ganzer Inseln des Archipelagus an private »Investoren« gefordert.

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Insofern kann auch die Utopie einer künftigen Kultur von künstlerisch skandierten Festen, wie sie in der vorletzten Strophe entworfen ist, konkreter gelesen werden denn als bloße Emphase. Der kapitalistische Industrialismus ist wegen der kontinuierlich »reißenden Zeit« seines profitverpflichteten Maschinentakts den diesen Endlostakt unterbrechenden Festen und ihren von Musik und Tanz eurhythmisch skandierten Zeitnischen strukturell antagonistisch. Insofern impliziert die Utopie einer modernen Kunstdemokratie, soll sie konkret werden, eine rousseauistisch-ökologische Tendenz, die als künftige inventive Rückkehr zur Natur formuliert wird (Vs. 257–269): Aber länger nicht mehr! Schon hör’ ich ferne des Festtags Chorgesang auf grünem Gebirg’ […] Denn, wo fröhlich der Strom in wachsender Jugend hinauseilt, Unter Blumen des Lands und wo auf sonnigen Ebnen Edles Korn und der Obstwald reift, da kränzen am Feste Gerne die Frommen sich auch und auf dem Hügel der Stadt glänzt, Menschlicher Wohnung gleich, die himmlische Halle der Freude. Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden, Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern Überall, o Natur! […] Man wird sagen, das sei eine letztlich zu nah bei Altgriechenland situierte Agrar­utopie. Hölderlins Anschauungsmaterial waren die ausgiebigen Feste der Französischen Republik und ihrer Filialen. Auch bei der »himmlischen Halle der Freude« handelt es sich um einen neuen, offenen Tempel, eine Art moderne Zeltstadt mit Festzelten. Inventive Rückkehr zu den ausgiebigen Festzeiten Altgriechenlands, an denen übrigens sogar die Sklaven ein wenig teilnehmen durften. Neue dionysische, also »orientalische« Musik, neuer dionysischer Tanz – aber auch wie in Altgriechenland Theater und pindarische Lyrik. Hölderlin hat bis in die Zeit seines Zusammenbruchs davon geträumt, ganz konkret Poeme wie den Archipelagus auf republikanischen Festen vortragen oder mindestens als eine Art Flugblätter unters Volk bringen zu können.

2.5.1. Zwei Typen von Einsamkeit: Das Konkurrenzsubjekt und das »heroische Eremitenleben« (II , 372) Der Archipelagus stellt die verschiedenen Typen von As-Sociation und individueller Isolation dar. Das dionysisch feiernde und gleichzeitig sich volldemokratisch belebende »Volk« Athens nach Salamis ist sein eigener Gott; Demokratie ist der ›Gott in ihm‹. Daß ein liebendes Volk in des Vaters Armen gesammelt, Menschlichfreudig, wie sonst, und Ein Geist allen gemein sei. (Vs. 239 f.)

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Utopie, sicherlich. Als konkrete würde sie Klassenlosigkeit voraussetzen, die auch im alten Athen nicht im Geringsten gegeben war – außer, wie Hölderlin zu meinen scheint, in den dionysischen Festen und in einer Kunst für alle. Umso realer ist der Gegensatz, also der modern-hesperische, auf Erwerbskonkurrenz von Privateigentümern beruhende Typ von As-Sociation – noch einmal: Aber weh! Es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben Sind sie geschmiedet allein und sich in der tosenden Werkstatt Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen. (Vs. 241–246) Eine solche As-Sociation von Konkurrenten ist zwar individualistisch, beruht aber auf einem »egoistischen« Typ von Individualismus: »Egoismus im Schaafpelz, Egoismus in der Wolfshaut« (II , 643, an Ebel 10.1.1797 aus Frankfurt) – konnotiert ist ein Gesellschaftstyp des ›homo homini lupus‹ und der soziopolitische Egoismusbegriff Rousseaus109. Es ist ein permanenter »kleiner Krieg«, wie in Kapitel 6.2. über die Diotimafigur noch ausgeführt wird, so dass die Individuen ihrer eigentumsgestützten Freiheit nicht froh werden können. Sie können ihre Freiheit nicht genießen, weil dieser Typ von Freiheit sie in ihren geschäftlichen ›Vertraulichkeiten‹ und ›Schweigepflichten‹ vereinsamen lässt. Hölderlin lebte im Hause Gontard unter Bankiers und Großhändlern mitten in dem seinerzeit ›fortschrittlichsten‹ Typ von Gesellschaft in Deutschland. Aus einer solchen Gesellschaft entsteht daher als notwendige Fluchtlinie die utopische Perspektive einer inventiven Rückkehr zur idealisierten altgriechischen, ›popularen‹ As-Sociation, in der egalitär-dionysische Feste und egalitär-dionysische Kunst zusammen mit politischer Egalität in soziale Egalität übergehen sollen. Eine unkonkrete Utopie, um es zu wiederholen. Umso realer wiederum ihr Gegenteil: Die wenigen Einzelnen, die unter der Konkurrenzgesellschaft so stark leiden, dass sie eine solche As-Sociation irreversibel als Gefängnis empfinden, aus dem sie auf Fluchtlinien auszubrechen wünschen, werden eben zu Findern und Erfindern utopischer Bilder, also zu Künstlern, paradigmatisch zu Dichtern. Auch sie sind einsam, allerdings in paradoxer Weise einsam gegen die herrschende Einsamkeit. Hölderlins Begriff für diesen Typ paradoxer Einsamkeit, den er von Rousseau übernommen hat und für den Rousseau selbst den Musterfall darstellt, ist »Eremit«. Erst in diesem Kontext gewinnt der Untertitel des Hyperion seine ganze Prägnanz: »der Eremit in 109 Rousseau unterscheidet zwischen dem legitimen »amour de soi« und dem egoistischen »amour-propre« (im Zweiten Discours und ausführlich im 4. Buch des Émile). Der »amour-propre« beruht auf dem Konkurrenzprinzip und zeigt sich im »Vergleichen« mit anderen, vor dem Émile bewahrt werden soll. Dieses konkurrierende, ›egoistische‹ Vergleichen gehört zur ›Archäologie‹ des modernen Ranking.

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Griechenland«. Hyperion »sprach für alle, die in diesem Lande sind und leiden, wie ich dort gelitten« (I , 757), also für jene jungen Deutschen, die wie Hölderlin in ihre »Behälter« gesperrt leiden – und damit auch für Hölderlin selbst. Zum Parnassos will ich und wenn im Dunkel der Eiche Schimmernd, mir110 Irrenden dort Kastalias Quelle begegnet, Will ich, mit Thränen gemischt, aus blüthenumdufteter Schale Dort, auf keimendes Grün, das Wasser gießen, damit doch O ihr Schlafenden all! ein Todtenopfer euch werde. (Vs. 210–214) Während die realen Eremiten die griechische Fluchtlinie nur in der Phantasie verfolgen können, wird der fiktive Neugrieche Hyperion von der Fiktion auf eine griechische Insel versetzt, wo er (wenigstens zeitweilig) in wirklich freier Einsamkeit in allen drei Ekstasen der Zeit existiert: in den Ruinen Altgriechenland erinnernd, in der Gegenwart den Tod durch die Osmanen fürchtend, aber gleichzeitig als frühgeschichtlicher Fischer wieder Naturmensch werdend und so die utopische Zukunft »offen« haltend. Die Insel ist Salamis – sie konnotiert in der Erinnerung an den Sieg über Xerxes die antike Utopie (ausgeführt im ­Archipelagus), in der Erinnerung an den mythischen, mit Wahnsinn, Depression und Suizid geschlagenen Helden Aias aber das niemals Trost findende Leiden des »heroischen Eremiten«.

2.5.2. Exkurs: Volksabstimmung als dionysisches Delirium. Eine aktualistische Applikation Makrozäsur Am 5. Juli 2015 lehnten die Griechen in einem Referendum ein drittes Spardiktat der Gläubigerinstanzen IWF, EZB und EU -Kommission mit annähernder Zweidrittelmehrheit ab. Dieses Ereignis wurde in Deutschland wie eine Art »wildes« Festival kommentiert, als politisches Ereignis indes nicht ernst genommen. So wählte die FAZ unter dem Titel »SEID IHR NOCH ZU RETTEN?« als Bild auf der Frontpage den Musentanz des Baldassare Peruzzi, den der Begleittext mit dem Sirtaki des Alexis Sorbas und beide mit Nietzsches Konzept des Dionysischen kurzschloss. Gleichzeitig widmete der Spiegel vom 11. Juli 2015, wie bereits oben in Kapitel 2 dokumentiert, seinen Schwerpunkt dem Thema Unsere Griechen. Annäherung an ein seltsames Volk. Statt das System der Staatsschulden, zu dem durchaus routinemäßig auch Schuldenerlasse gehören, zu problematisieren, ereignete sich ein massiver Rückgriff auf Nationalstereotypen, die zwar vorgeblich kritisiert, aber gleichzeitig

110 So plausibel Beißner und Schmidt; Knaupp liest »mit«.

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reproduziert wurden. Man hätte sich fragen können, wie Instanzen, die rituell die schrecklichen Zeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beklagen, im 21. noch bzw. schon wieder von »den Griechen« und »den Deutschen« reden können? Dabei handelt es sich um schwere diskursive Waffen, die man sich ein bisschen näher anschauen sollte. Wie im Spiegel das Beispiel des angelsächsischen »Realismus« (ein Stereotyp seit mindestens dem 18. Jahrhundert) zeigt, haben wir es bei den Nationalcharakteren mit einem wechselseitig zusammenhängenden, synchronen System zu tun: Es gibt nur deshalb den angelsächsischen Realismus, weil er den imaginären Kontrast bildet zur kontinentaleuropäischen (vor allem französischen) Romantik. Den emphatischen Kern dieser Romantik (oder auch dieses Idealismus, Utopismus, Irrationalismus usw.) bilden die Exzesse der Französischen Revolution (gegenüber dem vernünftig gebremsten britischen Parlamentarismus). In der vorgeblichen Romantik steckt also immer als heimlicher Kern die Angst davor, dass die repräsentativ und parlamentarisch gedämpfte Demokratie zu einer Art »Volldemokratie« ausarten könnte. Und deshalb ist es kein Zufall, dass das verstörende diskursive Ereignis der griechischen Volksabstimmung vom 5. Juli 2015 als dionysisches Delirium und allenfalls als »Urlaub von der Rationalität« bzw. per Pfeifen im Walde als »putzig« (FAZ) abgewehrt werden musste. Bei den Nationalstereotypen handelt es sich also um ein synchrones System: ohne realistische Briten und US -Amerikaner keine romantischen Franzosen und Deutsche und umgekehrt111. Tiefenstrukturell geht es um zwei semantische Achsen: Um eine Achse der Vitalität und eine Achse der Selbst- und Fremdkontrolle. Auf der ersten Achse geht es um »aufsteigende« und »absteigende«, um »starke«112, »gesunde«, »normale« gegenüber »schwachen«, »dekadenten«, »anormalen« Nationen. Auf der zweiten Achse geht es um »rational« vs. »irrational«, »realistisch« vs. »romantisch«, »männlich-aktiv« vs. »weiblich-passiv« usw. Deutschland erfuhr im 19. Jahrhundert durch Bismarck und seinen ersten Aufstieg zur Weltmacht eine Umwertung, die naive deutsche Medienleute und Politiker noch heute schlecht verdauen: Bekanntlich war Deutschland auf der Matrix der Stereotypen vor Bismarck das »Volk der Dichter und Denker«, also sehr romantisch, idealistisch und utopistisch, weit mehr als sogar Frankreich. Das änderte sich durch Bismarcks »Blut und Eisen« und seine »Realpolitik«, und

111 Ausf. und systematisch zum synchronen System der Nationalcharaktere s. Ute Gerhard/Jürgen Link, »Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen«, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, 16–52; Jürgen Link, »Nationale Konfigurationen, nationale ›Charakterdramen‹«, in: ebd., 53–71. 112 Seit Donald Trump vor allem wieder »großartige« (»great«) Nationen bzw. »Winner-Nationen« vs. »Loser-Nationen«.

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später noch mehr durch Wilhelms II . Weltpolitik113. Deutschland rückte also in der Matrix zum einen weg von Frankreich und hin zu England – konnte aber zugleich seine »Romantik« nicht loswerden und landete so in dem bekannten Sonderweg eines »romantischen Realismus«, der dann die subjektive Willfährigkeit zur Vollstreckung zweier Weltkriege lieferte. Es kam also eine innere Spannung in seinen »Nationalcharakter«, die leider ›internalisiert‹ wurde in Millionen empirischer Individualcharaktere und sich in zwei Weltkriegen ausagierte. In dem Entsetzen über das Diktat vom 13. Juni 2015 gegen Griechenland gärt die Angst vor einer Auferstehung dieses »deutschen Nationalcharakters« – anders gesagt: War das Diktat wirklich ›astrein realistisch‹ (Schäubles Mimik) oder nicht doch heimlich ›romantisch-realistisch‹? Und musste die »Romantik« deshalb derartig überzogen auf Griechenland abgeladen werden? Welche Position hatte bzw. hat nun Griechenland in dieser Matrix der Nationalcharaktere? Wenn das nachbismarcksche Deutschland (in seiner eigenen Sicht) den am meisten positiven Platz einnahm (maximal vital und maximal männlich-kontrollierend und kontrolliert, kurz und gut maximal normal), so lautete logischerweise die extreme Gegenposition: maximal dekadent und maximal weiblich-passiv, kurz maximal anormal. Und diese extreme Gegenposition nahmen die »Orientalen« (Türken, Ostjuden, im Antisemitismus dann alle Juden) ein – und die Neugriechen, soweit sie (wegen der langen Osmanenherrschaft) als »halb orientalisch« klischiert wurden. Ähnlich aber wie der »deutsche« Nationalcharakter nach Bismarck war auch der »griechische« intern gespalten: und zwar zwischen dem altgriechischen und dem neugriechischen. Der altgriechische galt als maximal normal (also als eine Art Vorläufer des deutschen) – der neugriechische als »seltsam« (Spiegel), also anormal. Ist es eher komisch oder eher tragisch, dass die deutsche mediopolitische Klasse durch die griechische Schuldenkrise in diese Matrix der Stereotypen zurückgefallen ist? Und ist es besorgniserregender, dass sie den »griechischen« oder eher dass sie den »deutschen« (nachbismarckschen) »Charakter« wieder ausgegraben hat: maximal anormal vs. maximal normal? Die symbolische Matrix der Nationalstereotypen besaß in der Epoche des europäischen Nationalismus natürlich einen enormen Einfluss auch auf die empirische Subjektivität (die »Psychologie«) der europäischen Völker. Die aus heutiger Sicht groteske hochabstrakte Matrix wurde von Millionen Individuen sozusagen mit ihrem ›Herzblut‹ gefüllt und dadurch vielfach konkretisiert. Auf wie viel hundert Seiten hat sich nicht Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen mit der Matrix herumgequält! Und selbst »freie Geister« wie Hölderlin und Nietzsche strampelten sich sozusagen, um es krass auszu 113 Ausf. zum Bismarck-Mythos als paradoxer Synthese aus »Realismus« und »Idealismus« s. Rolf Parr, »Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust.« Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860–1918), München 1992.

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drücken, teilweise im Netz der Matrix ab, während sie sich andernteils daraus zu befreien suchten und auch tatsächlich in gewissem Grad befreiten. Das wichtigste Symptom dieser Befreiungsversuche musste sich symptomatischerweise an den internen Widersprüchen sowohl des »griechischen« wie des »deutschen« Charakters entwickeln. Beim »griechischen« Charakter konzentrierte sich der Widerspruch in seiner ›unter‹ der »apollinischen« entdeckten »dionysischen« Komponente. Diese dionysische und nach dem Mythos »orientalische« Komponente der altgriechischen Kultur (Dionysos kam von Indien) hat Hölderlin entdeckt – Nietzsche lernte sie, bevor er sie dann in großem Stil ausformulierte, bei Hölderlin kennen: Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts Triumph, als allerobernd vom Indus her Der junge Bacchus kam, mit heilgem Weine vom Schlafe die Völker wekend. (I , 269) Die politische Komponente des Dionysischen ist die unbegrenzte, direkte, von der »Basis« ausgeübte Volldemokratie, die dem ›normalen‹ Charakter ebenso große, vielleicht noch größere Angst macht als die phantasierte sexuelle Orgie. Mit verschiedenen verklemmten Argumenten versucht die deutsche mediopolitische Klasse den Griechen ihren Trumpf wegzunehmen, sie hätten die Demokratie erfunden. Ohne Zweifel steckt dahinter die Absicht, dem eigentlichen »Thema« – 61,2 Prozent der Griechinnen und Griechen, darunter circa 80 Prozent der griechischen Jugend, lehnen ein Berliner Diktat ab  – auszuweichen. Während ihre Kanzlerin dieses Ereignis als »Vertrauensbruch« ausflaggte, blieb die »Kultur« des Spiegels schlicht sprachlos – sie ging auf das »Thema« einfach gar nicht ein. Solche Sprachlosigkeit beherrschte nahezu flächendeckend die neudeutschen Erwähnungen der altgriechischen Demokratie. Man hätte ja mit der Darstellung der direkten Demokratie von Tausenden Plebejern, die bis hin zu Krieg und Frieden in gigantischen Vollversammlungen alle Fragen direkt demokratisch entschieden, die dabei für viele Funktionen sogar das Losverfahren verwendeten, an eines der großen Tabus der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie gerührt: an ihren Mangel an Basiskontrolle und die satirisch vom Volksmund kommentierte Freiheit der Repräsentanten gegenüber den Repräsentierten: »Es gilt das gebrochene Wort«. Zur Zeit Hölderlins waren es Rousseau und der Rousseauismus, die die altgriechische Art der Demokratie gegen die englische Form vertraten, und Hölderlin war auch in diesem Punkt ein entschiedener ­Rousseauist. Bereits der frühen Hymne an die Menschheit setzte er als Motto ein Zitat aus dem Contrat Social voran, dessen direkter Kontext von der direkten Demokratie handelt: Demokratische Gesetze müssten »authentische Akte der volonté générale« sein, und das sei nur möglich, wenn das Volk versammelt sei. »Das Volk versammelt, wird man sagen: Welche Chimäre!« Was heute Chimäre

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sei, sei es nicht vor 2000 Jahren gewesen: »Haben die Menschen eine andere Natur angenommen?« Wie wenig diese Problematik »Geschichte ist« (im Sinne der Floskel, also im Sinne von ›erledigt‹), zeigt die zentrale Parole der spanischen Indignados und der griechischen Aganaktisméni von 2011: »No nos representan«. Hier liegt eine wichtige Differenz zwischen Hölderlins und Nietzsches Auffassung des Dionysischen: Bei Hölderlin ist die volldemokratische Komponente der Masse der »Schwärmer« nicht verleugnet, bei Nietzsche wird sie ambivalent ins »titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen« verschoben – bis hin zum babylonischen (orientalischen) »Hexentrank« mit sadomasochistischen Konnotationen. Symptomatischerweise ähneln Nietzsches Evokationen der »dunklen« Seite des Dionysischen seinen Schreckbildern der Pariser Commune, die für ihn den größten politischen ›Chock‹ seines Lebens darstellte – auch sie ein Experiment in Volldemokratie. Sollte man also jede Kontinuität zwischen Alt- und Neugriechenland als unbegründet zurückweisen? In der Tat sind Kontinuitätspostulate obsolet, insofern sie bloß aus der symbolischen Matrix der Nationalcharaktere generiert werden. In diesem imaginären Schema ist Kontinuität zirkelschlüssig sowohl Ursache wie Folge eines »Charakters«. So wie der individuelle Charakter sich angeblich in seiner Kontinuität beweist, indem bereits im Kind die spätere Person ›angelegt‹ sein soll, so auch die Nationalcharaktere: Das Waldige des deutschen Charakters steht in der Kontinuität der germanischen Wälder, die Frivolität des französischen war schon bei den alten Galliern vorgeprägt. Nach diesem Verfahren lässt sich dann das Referendum vom 5. Juli 2015 mit dem altgriechischen Dionysischen verbinden (FAZ). Die Hypothese einer Kontinuität kann demnach nur durch eine empirisch gestützte kontinuierliche Reproduktion ökonomischer, politischer oder kultureller Strukturen begründet werden. Weder in Griechenland noch sonstwo existierte eine solche ununterbrochene Reproduktionszyklik ökonomischer oder politischer Strukturen seit der Antike, weshalb von einer starken, stabilen Kontinuität und Identität nirgendwo, und also auch nicht in Griechenland, die Rede sein kann. Bereits epochale Zäsuren wie das Christentum oder die Emergenz der kapitalistischen Industriegesellschaft machen Nationen vor und nach diesen Zäsuren weitgehend inkompatibel. (»Nationen« im präzisen Sinne gab es im Übrigen vor der Moderne gar nicht.) Kontinuierliche Reproduktion kann es also, wenn überhaupt, nur in kulturellen Dimensionen geben. Das gilt in erster Linie für die Sprache – und obwohl sich Alt- und Neugriechen nicht auf Anhieb verstehen könnten, könnten sie sich mit einigem Knobeln noch weitgehend gegenseitig lesen. Es dürfte sehr wenige Sprachen geben, die über fast drei Jahrtausende einen solchen Grad an Kontinuität gewahrt haben. Das ist das Verdienst der orthodoxen Kirche und der byzantinischen Jahrhunderte, der stabilen Brücke zwischen Alt- und Neugriechenland. Während aber die bildende Kunst der Orthodoxie, der Kuppelbau und die Ikonenmalerei, mit der altgriechischen Kunst auf radikalste Weise gebrochen hat, gibt es neben der Sprache eine weitere,

Den Archipelagus lesen 

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wenn auch eher lockere Kontinuitätslinie: die populäre Musik und den populären Tanz. Insofern steht der Sirtaki des Alexis Sorbas tatsächlich in einer labilen Kontinuität mit dem Dionysischen. Es beweist Hölderlins Einsicht in diese Verhältnisse von großer Diskontinuität und dennoch beschränkter Kontinuität, dass Hyperion am Versuch, die altgriechische direkte Demokratie wiederzuerwecken, tragisch scheitert, während die sprachlichen und musikalisch-tänzerischen Kontinuitäten gerade von Diotima betont werden (dazu Kap. 6.2.). Unabhängig von der fehlenden Kontinuität nationaler Strukturen und Institutionen können allerdings leider doch auch die rein imaginären stereotypischen Nationalcharaktere Realität gewinnen, und zwar durch ihre Applikation, also die Identifikation bzw. Gegenidentifikation mit ihnen durch empirische Subjekte. Genau das war ja die Tragigroteske der Epoche des europäischen Nationalismus. Auch wenn die Synthese zwischen »Romantik« und »Realismus« des nachbismarckschen »deutschen Charakters« ein verqueres semantisches Phantasma war, hat sie durch Identifikation und ›Introjektion‹ empirische Subjekte produziert, die es als ›deutsche‹ Pflicht betrachteten, ›sich für Ideale die Hände schmutzig zu machen‹ – bis hin zu den »willigen Vollstreckern« des Dritten Reichs. Das klingt in manchen Versionen des »Hausaufgabenmachens«, dieses Non-plusultra-Ideals der deutschen Politik, noch nach oder neuerdings wieder an. Fast noch verhängnisvoller waren und sind die Gegenidentifikationen: Nicht so sein wie der »frivole Franzose«, der »platte Engländer«, der »tückische Italiener« und der »passive Orientale« – bzw. der »dunkel-dionysische Grieche«. Daraus konnte sich dann Nationalhass entwickeln, ohne den die Nationalkriege nicht hätten geführt werden können. Umso erschreckender ist die Neuinszenierung solcher »Nationalcharaktere« in der deutsch-griechischen Eskalation von 2015: Sie sind immer parat zur neuerlicher Identifikation und Gegenidentifikation. Den Kulminationspunkt dieser »deutschen« Auffassung von Demokratie bildete dann die Reaktion auf Ankündigung und Ergebnis der Volksabstimmung vom 5. Juli 2015. Wie zu zeigen war, wurde dieses Megaereignis in der deutschen Leitkultur nicht als eindrucksvolle demokratische Willensäußerung eines Zehnmillionenvolks und besonders seiner Jugend akzeptiert, die über die eigenen deutschen Vorstellungen von ›Erfüllbarkeit‹ wenigstens hätte nachdenklich machen können, sondern als »Vertrauensbruch« und »Erpressung«, also als das genaue Gegenteil von Demokratie kodiert. Als noch größere Provokation wirkte dann der Siegesjubel in Griechenland am Wahlabend. Während BILD ironisch schrieb, die Griechen würden über ihren Untergang jubeln wie einst über ihre Fußballeuropameisterschaft, brachte die FAZ diese Art Delirium auf den kulturellen Begriff des Dionysischen. Wie zu zeigen war, steckt in dieser Kodierung als »dionysisch« (und Fußballmassen sind ja eine aktuelle Spielart davon) das verschwiegene Tabu eines volldemokratischen ›Ausuferns‹ der »Stabildemokratie«, d. h. der Normaldemokratie, die sich ihre Vorstellungen von ›Erfüllbarkeit‹ statt von den Wählern und Wählerinnen von den »Märkten« vorschreiben lässt.

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Die Formel des ›dionysischen Deliriums‹ diente der Pädagogisierung ›anormaler‹ Griechen durch normale Deutsche – und wie schön passt es dazu, dass Hölderlin und Nietzsche, deren Einsicht in die »orientalische« Dimension Europas den Normalismus der imaginären Matrix von Nationalcharakteren grundsätzlich zu dekonstruieren ermöglicht, »wahnsinnige Genies«, also große Anormale waren!  

2.6. Die Wanderung. Hölderlins erstaunlicher Mythos einer deutsch-griechischen Urszene Hölderlins Hymnen, Hymnenentwürfe und Hymnenfragmente aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gehören zu den inzwischen weltweit als Höhepunkte der Lyrik betrachteten Werken der Literatur. Entsprechend viel Sekundärliteratur ist über sie aufgehäuft worden. Dabei spielt natürlich immer noch – explizit oder implizit – eine Rolle, dass diese Texte sozusagen im Vorfeld des Zusammenbruchs von 1806 geschrieben wurden, als Hölderlin als »wahnsinnig geworden« auf Initiative seiner Familie zuerst in die Klinik von Autenrieth und danach für den Rest seines Lebens in den Tübinger Turm umgesiedelt wurde114. Die alten Stereotype vom poetischen Wahnsinn (furor poeticus) und vom Dichter als »Seher« (poeta vates) unterstellten ja, dass die höchste poetische Genialität irgendwie in der Nähe des Wahnsinns liege. Die spezielle Hölderlinbewunderung in Frankreich hat sich bis heute nicht völlig vom surrealistischen Mythos des »poète fou« gelöst. Inzwischen sind jene Stilzüge der Hymnen, die man lange Zeit für Symptome des »heraufziehenden Wahnsinns« hielt, sämtlich literarhistorisch erklärbar und erklärt. Die wichtigste Erklärung ist seit Norbert von Hellingrath, also nun schon über hundert Jahre lang, bekannt: Es ist das Modell der griechischen Hymne 114 Nachdem zuerst Pierre Bertaux das in der Forschung akzeptierte Axiom vom »wahnsinnigen« Hölderlin  – im Sinne einer »endogenen (genetisch ererbten) Schizophrenie«  – grundsätzlich infrage gestellt hatte (Friedrich Hölderlin), hat Dietrich Uffhausen auf der Basis erschütternden empirischen Materials und mit möglichst objektiver Wertung die überfallartige und dann in monatelange Folter übergehende Zwangsinternierung in Autenrieths Klinik plausibel als die entscheidende Lebenszäsur dargestellt, die den Dichter ›zerbrochen‹ und in eine anhaltende Depression gestürzt habe (Uffhausen, »›Weh! Närrisch machen sie mich‹«). Unter dem Aspekt von Fluchtlinie und klaustrophobem »Behälter«-Komplex ist es vor allem entsetzlich sich vorzustellen, dass Hölderlin aller Wahrscheinlichkeit nach in das »Palisadenzimmer« gesperrt wurde, um ›therapeutisch‹ seinen ›Eigenwillen zu brechen‹ (ebd., 336 ff.). Er muss sich lebendig in einem geschlossenen Sarg ohne Atemäther gefühlt haben. Im Gegensatz dazu war der Turm am Wasser so etwas wie ein letzter Ruhepunkt zum Atemholen auf der Fluchtlinie. – Was das Axiom der endogenen Schizophrenie betrifft: Hölderlin hätte dann auch ohne das Diotimadrama, ohne die Verwicklung in den Hochverratsprozess gegen Sinclair und vor allem ohne die Zwangsinternierung und Folter im gleichen Alter ›genauso wahnsinnig‹ werden müssen.

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Pindars. Hölderlin »zackerte«, wie es hieß, während seines zweiten Homburger Aufenthalts, also vor dem Zusammenbruch, intensiv »am Pindar«115 – er hatte im Grunde seit seiner Schul- und Jugendzeit Pindar als Modell höchster lyrischer Intensität betrachtet und sich besonders seit etwa der Jahrhundertwende gezielt mit ihm beschäftigt: in Übersetzungen, die also intensive Lektüren des griechischen Originals voraussetzten, Beispielanalysen und sogenannten Kommentaren. Von den vielen Aspekten des pindarischen Stils werde ich mich im Folgenden auf nur zwei oder drei beziehen: auf die Sprunghaftigkeit der Komposition, die der berühmte Psychiater Lange-Eichbaum bei Hölderlin für schizophrene »Gedankenflucht« hielt, auf die Erfindung neuer Mythen und auf die aktual­ historischen Bezüge. Was die »Gedankenflucht« angeht, so trifft sie durchaus einen Stilzug der hölderlinschen Fluchtlinie, der sich im ›unendlichen‹ Weiterschreiben äußert, und zwar auch der bereits einmal abgeschlossenen Texte. Auch die aktualhistorischen Bezüge sind wichtig, weil die germanistische und philosophische Interpretation seiner Hymnen bis heute überwiegend in der Rekonstruktion antiker Mythen und ihrer mehr oder weniger fundamentalanthropologischen, darunter auch der sogenannten »religiösen«, letztens dann insbesondere fundamentalpoetologischen, jedenfalls transhistorischen und ahistorischen Deutung feststeckt. Pindars Mythen waren dagegen stets »kairologisch«, wie ich sage, funktionalisiert – sie dienten dem Kairos, dem besonderen historischen Moment des sportlichen Sieges eines Mitglieds berühmter Familien und deren Polis bzw. durchaus häufig auch der Deutung einer aktuellen politischen Situation. Mein konkretes Beispiel, dem ich mich nun zuwende, ist Hölderlins Hymne Die Wanderung. Sie gehört zu den abgeschlossenen und stilistisch vollendeten, vom Autor vor dem Zusammenbruch publizierten. Ich beziehe mich bei allen drei Aspekten  – dem ästhetischen, dem mythologischen und dem kairologischen – jeweils exemplarisch auf einen für das Ganze symptomatischen Komplex. Für die ästhetische, also rhythmische, paramusikalische und ­semantisch-​ rhythmische Struktur ist das die »Makro-Zäsur«, also die »große Zäsur«. Den Begriff einer auf die Gesamtkomposition – also nicht bloß auf den einzelnen Vers – bezogenen »Cäsur« hat Hölderlin am Beispiel der Verstragödie des Sophokles entwickelt, und es lässt sich zeigen, dass eine solche Makrozäsur auch in seinen eigenen Hymnen die Rolle eines Angelpunkts der Struktur bildet. Hölderlin begriff die Poesie und besonders die Lyrik stets in Analogie zur Musik – er vergaß nie, dass Pindars Hymnen musikalisch begleitet und rhapsodisch oder quasi-rezitativartig, teils auch als Chor, gesungen wurden. Er hat eine ganze Theorie des poetischen »Wechsels der Töne«, d. h. der poetischen Modulation, entwickelt. Sucht man musikalische Analogien für die Makrozäsur, so kann man an plötzliche starke Rhythmuswechsel plus plötzliche starke Tonartwech 115 SA VII2, 287.

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sel, sogenannte »Rückungen«, denken. Bei Pindar dürfte Hölderlin die abrupten Einschnitte mit Wechsel des Rhythmus plus Wechsel des semantischen Rhythmus, also Themenwechsel, dazu gezählt haben. Die Wanderung bietet ein in mehrfachem Sinne enorm »starkes« Beispiel – es ist die Makrozäsur zwischen der zweiten und dritten Strophe. Die ersten beiden Strophen sind der Heimat gewidmet: Schwaben, konnotativ Deutschland, als ein idyllisch von den Alpen geschützter Raum, wo es sich gut leben lässt und kein Grund zu einer Wanderung besteht, wie es in der zweiten Strophe heißt: Schwer verläßt, Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort. Und deine Kinder, die Städte, Am weithindämmernden See, An Nekars Weiden, am Rheine Sie alle meinen, es wäre Sonst nirgend besser zu wohnen. (I , 337) Und nun diese Makrozäsur: Ich aber will dem Kaukasos zu! Man begreift, dass protonormalistische Psychiater das für Wahnsinn halten konnten. Warum ausgerechnet zum Kaukasus? (Es gab 1942 deutsche Soldaten mit Hölderlin im Tornister, darunter Ernst Jünger als Beobachter, die es im Zuge der Operation Barbarossa tatsächlich zum Kaukasus drängte, unter anderen nachzulesen bei Jonathan Littell.) Bei Hölderlin handelt es sich um eine Art kulturgeologische Auffassung: Er betrachtete die großen Gebirgskomplexe, die die umliegenden Gebiete mit Wasser und mit Luftströmungen versorgen, im weitesten Sinne also das »Wetter« (neugriechisch kairós) einer großen Region bestimmen, als die Kerne großkultureller Räume. Dementsprechend ist der Okzident die Alpenkultur und der Orient die Kaukasuskultur. Das hymnische Ich will also die größtdenkbare kulturelle Schranke überschreiten, es will dem Orient zu: Denn sagen hört’ ich Noch heut in den Lüften Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter. Sicher meint Hölderlin hier Zugvögelarten von Schwalben; die Zugvögel sind in mehreren Hymnen ein beherrschendes Motiv, in der Wanderung erscheinen neben den Schwalben auch noch die Kraniche: Es sind Tiere, die »Erkenntnis« haben, wie es in Das Nächste Beste heißt. Ebenso wichtig ist das Motiv der »Lüfte«, weil darin der »Äther« steckt, der Hölderlins höchster Gott ist und den er als etymologisch mit »Atem« verwandt auffasste. Dichter sind also frei wie Lüfte und Zugvögel, sie folgen einer befreienden Fluchtlinie und überschreiten dabei kleine und sogar große kulturelle Grenzen. Sie sind Nomaden, mit dem aktuellen

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Term »Migranten«. Das »noch heut« ist doppeldeutig, ein poetischer Akkord: eben noch am heutigen Tage, aber auch: heute immer noch wie früher schon. Das »heute« ist dadurch stark betont, womit das Motiv des Kairos angeschlagen ist. Direkt anschließend an diese erste kurze Auskomposition der Makrozäsur, wie man sagen könnte, beginnt der erfundene Mythos (mein zweiter Punkt; Strophen 3–5). Eine eigenartige Geschichte: Ur-»Deutsche«, also Urgermanen, also Ur-Okzidentalen, sollen »einst« die Donau abwärts gewandert und irgendwo am Schwarzen Meer auf »Kinder der Sonne«, also Ur-Orientalen, gestoßen sein. In diesem kritischen Moment soll sich »einst«, in Ur-Zeiten, spontan und avant la lettre, die Parole »Make love not war« durchgesetzt haben – und als Pointe dieser Geschichte sollen aus einer massenweisen Kopulation, im Nazijargon einer massenweisen »Rassenschande«, die alten Griechen hervorgegangen sein. Wiederum ein Hölderlin, der mindestens bizarr klingt  – wiederum vielleicht gar wahnsinnig? Jedenfalls scheinen große Hölderlingermanisten wie Friedrich Beißner diese Geschichte nicht haben lesen können – sonst hätten sie nicht behauptet, hier sei von Donauschwaben des 18. Jahrhunderts die Rede, die Hölderlin »mit dichterischer Freiheit« zurückdatiert habe: relativ moderne Donauschwaben als Urväter der alten Griechen? Woher hatte Hölderlin diese Geschichte? »Auch hat mir ohnediß / In jüngeren Tagen Eines vertraut«, sagt das hymnische Ich. Wer oder was ist »Eines«, also die Quelle? Hölderlin verwendet in den Hymnen häufig die unbestimmte Form »Einer«, hier sogar im Neutrum. Es handelt sich um einen Pindarismus: Auch Pindar gebraucht statt einer genauen, namentlichen Angabe häufig die unbestimmte Form »tís«, also »Einer«. Eine gute Interpretation dieses Stilzugs ist die Annahme, dass Pindar sozusagen ein Kollektiv, wenn auch unbestimmt, personalisiert und dabei gleichzeitig mögliche empirische Personen entpersönlicht. Um dem Rätsel von Hölderlins »Einem« näherzukommen, muss ein zweites Verfahren Pindars, und diesmal ein ganz wesentliches, hinzugefügt werden: Pindar dichtet bekannte Mythen um und erfindet dabei zuweilen regelrecht neue. Anders lässt sich nicht erklären, dass es für viele originelle Mythenepisoden nur eine einzige Quelle gibt, und zwar eben Pindar. Der Poet Pindar war also als Poet gleichzeitig der Erfinder neuer Mythen. Makrozäsur, Zitat: Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist  – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. / Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie

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muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blik, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das lezte, gröste Werk der Menschheit seyn. (SA IV1, 298 f.) Das ist ein Text aus Hölderlins »jüngeren Tagen« – und bekanntlich weiß man nicht, ob er nun von Hegel, in dessen Handschrift er überliefert ist, von Schelling, für den der rhetorische Schwung sprechen könnte, oder von Hölderlin – oder von allen dreien als Teamwork stammt. Wir können also am ehesten sagen, dass »Eines« uns diesen Text »vertraut« hat, den man eher als Manifest der Kulturrevolution denn als Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus bezeichnen sollte. Damit will ich nicht behaupten, dass jenes »Eine« aus der Wanderung mit dem »Einen« des Manifests identisch wäre – aber sie hängen zusammen. Immerhin ist der Philosoph in dem Mythos recht sinnlich geworden. Das Vernunft- und Ideen-Pathos hat der Hymnendichter allerdings längst überwunden  – nicht aber die »Idee«, neue Mythen mit kairologischer und as-sociativer Funktion zu erfinden. Das entbindet uns auch nicht von der Aufgabe, weiter nach möglichen Quellen für den Mythos der Wanderung in der antiken Literatur zu suchen116. Selbst wenn es vage Bezüge geben sollte, muss der Mythos in dieser Gestalt mit hoher Wahrscheinlichkeit als Hölderlins Erfindung gelten. Die Grundzüge des Konzepts für den Mythos der Wanderung sind evident: Es geht um die sinnliche, ja körperliche Vereinigung von Okzident und Orient – und es geht darum zu begreifen, dass die große griechische Kultur eine okzidental-orientalische Vereinigungskultur gewesen sei. Damit widerspricht Hölderlin der üblichen Auffassung von der altgriechischen Kultur als reiner, fundamental okzidentaler Kultur. Dabei wird als Wichtigstes die Rolle der Sprachen betont: Die Verschiedenheit der Sprachen (und konnotativ Kulturen) führt beinahe zum Krieg – die Vereinigung beruht nicht nur auf dem Tausch der Waffen, sondern ganz wesentlich auf dem Tausch des Wortes. Es ist nicht verfehlt anachronistisch zu sagen, wir hätten es mit einem Mythos der Multilingualität und der Multikulturalität zu tun. Mehr noch: Nur aus einer ähnlichen kulturrevolutionären Vereinigung – so der kairologische Aspekt – könne um 1800 eine neue, eine moderne große Kultur hervorgehen (fünfte Strophe):

116 Mottel, »Apoll envers terre«, 142 ff., hat die Hypothesen und möglichen Quellen zusammengestellt, die sämtlich im Spekulativen verbleiben.

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Wo, Wo aber wohnt ihr, liebe Verwandten, Daß wir das Bündniß wiederbegehn, Und der theuern Ahnen gedenken. Dass es der Hymne nicht um sterile Rekonstruktion, sondern um kairologische, aktualhistorische Applikation geht, beweisen die gegenwarts- und zukunft­ bezogenen Zeitbegriffe: »noch heut«, »doch Menschen / Ist Gegenwärtiges lieb«, »Dann werden wir sagen«. Der erwartete Kairos wird im Schlussteil der Hymne mit dem Schwalbenmotiv zunächst scheinbar bloß idyllisch konkretisiert. Das hymnische Ich ist wie die Zugvögel in einer Phantasiereise (ebenfalls ein pindarisches Verfahren – bekanntlich können die Götter durch die Luft reisen) nach Griechenland geflogen, um die »Verwandten« zu besuchen. Diese Reise ging nach Altgriechenland, war also gleichzeitig eine Zeitreise. Danach kehrt das Ich nach Deutschland zurück. Es handelt sich also um eine doppelte Rückkehr: Rückkehr nach Griechenland und Rückkehr nach Deutschland von der ersten Rückkehr. Ich habe diese Rückkehrmotive, die Hölderlin mit Rousseau verbinden, als »inventive Rückkehr« bezeichnet (HR): nicht Rückkehr in den Urwald und zu den Wilden, wie es die antirousseauistische Polemik unterstellte und bis heute unterstellt, sondern Korrektur der ambivalenten Fortschrittslinie des »Projekts der Moderne«, wie Adorno und Horkheimer sie als Dialektik der Aufklärung kritisch rekonstruiert haben, durch partielle Regressionen mit dem Ziel nachhaltigerer Weichenstellungen (um es in aktueller Terminologie zu sagen). Der Zweck der Reise, also der inventiven Rückkehr nach Griechenland, also der neuerlichen »Wanderung«, ist die »Einladung« der »Gratien Griechenlands« nach Deutschland mit dem Ziel einer neuerlichen, aktuellen Vereinigung zwischen Okzident und Orient. (Griechenland lag damals nach allgemeiner Auffassung im Orient, wenn auch an dessen Westgrenze zum Okzident, und nach Hölderlins Mythos handelte es sich ja bei den alten Griechen um eine halb orientalische Kultur, eine ost-westliche Mischkultur.) Multiple Fluchtlinie als Wanderung der Urgermanen, Wanderung der Schwalben, Wanderung des Poeten, Wanderung der Musen. In der letzten Strophe wird diese neue Vereinigung konkret nur mit den Musen, also der Kunst und Schönheit, verbunden und ansonsten als ein unbestimmtes »Es« formuliert: Zum Traume wirds ihm will es Einer Beschleichen und straft den, der Ihm gleichen will mit Gewalt; Oft überraschet es einen, Der eben kaum es gedacht hat. Wiederum ist es der unbestimmte »Einer«, der das »Es« herbeiwünscht. Das Es lässt sich weder »beschleichen« noch mit Gewalt nehmen, »es« überrascht »einen«

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spontan. Vielleicht muss man hier zunächst vor einem naheliegenden pseudo-psychoanalytischen Kurzschluss warnen: Dieses Es hat nichts mit Freud zu tun. Es kann gedacht werden, wenn auch »kaum«. Es ist eine erwünschte Ankunft, eine Begegnung und also ein historisches Ereignis. Dieses noch künftige Ereignis ist im Donauraum zu situieren, denn Die Wanderung gehört zu den Donauhymnen, die bei Hölderlin, ausgelöst durch seine Reise mit Sinclair nach Regensburg Ende 1802, auf die Rheinhymne und die Rheingedichte folgen (Strophe 8): Unfreundlich ist und schwer zu gewinnen, die Mutter. Von ihren Söhnen einer, der Rhein, Mit Gewalt wollt’ er ans Herz ihr stürzen und schwand Der Zurückgestoßene, niemand weiß, wohin, in die Ferne. Auf der kulturgeographischen bzw. kulturgeologischen Ebene ist hier von den Rheinknien beim Eintritt in den Bodensee und bei Basel die Rede, die den Rhein von Schwaben und Deutschland weg in die atlantische Fluchtlinie lenken und ihn zur kulturellen Schiene der okzidentalen Welteroberung machen. Gleichzeitig hat Hölderlin in einer Nebenstimme hier sein Leiden an der zurückstoßenden Kälte seiner Mutter und ihres puritanischen Christentums hineinkomponiert. Wenn der Rhein ein nur okzidentaler Fluss ist, dann die Donau im Gegensatz dazu der wichtigste Weg zum Orient (»dem Kaukasus zu«). Hölderlins weiteste Reise ging bis Bordeaux (s. u. Kap. 3.2.), also in den Okzident, obwohl er auch dort nach antiken Überbleibseln spähte – nach Griechenland selbst konnte er nur in der Phantasie reisen, geleitet durch Reiseberichte und Profilkarten, von denen er fasziniert war. Mit dem Finger auf der Karte wird er wie seine mythischen Urgermanen bis zur Donaumündung und zum Schwarzen Meer gereist sein, oder durch die Täler der Donau und Morava nach Griechenland, oder mit einem phantasierten Ballon wie ein griechischer Gott über Jonien, die heutige Westtürkei, und die ägäischen Inseln nach Patmos wie in der gleichnamigen Hymne (dazu das folgende Kap. 2.7. sowie ausführlich 4.2.). Hölderlin spähte also in Richtung der Donau, nach Südosten, dem Ereignis des »Es«, einer neuerlichen Begegnung von Okzident und Orient, entgegen. Das war auch unter aktualhistorischen Bedingungen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts keine bloße Träumerei. Schon Regensburg mit dem vorweggenommenen Ende des Ersten Deutschen Reiches (Reichsdeputationshauptschluss 1803), das Hölderlin persönlich beobachtet hatte, zeigte den Schatten Napoleons über der Donau. Es folgten Austerlitz und Wien 1805. Wie immer ambivalent Hölderlin Napoleon, den er lange Zeit als eine Art »Halbgott«, als Exporteur revolutionärer Prinzipien nach Osten verehrt hatte, nach der Kaiserkrönung 1804 eingeschätzt haben mag – ein Aufsprengen der epochalen Grenze zum Orient, vielleicht sogar eine Befreiung Griechenlands, wie von Hyperion erträumt, schien im aktualhistorischen Horizont zu liegen. Aber Hölderlins »Es« ist ja gerade nicht gewaltsam, es baut auf die »Charitinnen«, die »Gratien Griechenlands«, also auf Kunst und

Eine Luftreise nach Griechenland: Patmos  

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Kultur. Dabei kann sich Hölderlin keine Illusionen über die seinerzeit von dort zu erwartenden kulturellen Impulse gemacht haben. Was also erwartete er von Südosten? Meine Vermutung ist: kulturelle Impulse des »dionysischen« Typs, also der orientalischen Komponente der griechischen Kultur. Paradoxerweise suchte Hölderlin solche Impulse in einer radikalen, wahrhaft kulturrevolutionären Neudeutung ausgewählter christlicher Mythen und ihrer »synkretistischen« Kombination mit griechischen im Rahmen einer »höher aufgeklärten« Entmythologisierung in Weiterentwicklung des Systemprogramms (dazu ausf. Kap. 4 und 9).

2.7. Eine Luftreise nach Griechenland: Patmos Nirgends ist Hölderlins Fluchtlinie von Deutschland nach Griechenland faszinierender in wenigen Strophen Bild geworden als am Beginn der Hymne Patmos. Dieser enorm viele Problematiken kondensierende Text kann hier nur unter selektiven Aspekten befragt werden: hauptsächlich in Kapitel  4.2. nach dem theo-logischen Konzept eines griechischen Christus (s. u.). Hier soll die imaginierte Reise, die deutlich in der Gegenwart des Sprechers stattfindet und also nach Neugriechenland führt, im Rahmen der bisher entwickelten Konzepte gedeutet werden. Nach der berühmten und viel applizierten Eingangsstrophe beginnt die zweite mit einem Erlebnisbericht, wie man sagen könnte: So sprach ich, da entführte Mich schneller, denn ich vermuthet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich Vom eigenen Hauß’. Es dämmerten Im Zwielicht, da ich gieng Der schattige Wald Und die sehnsüchtigen Bäche Der Heimath; nimmer kannt’ ich die Länder; Doch bald, in frischem Glanze, Geheimnißvoll In goldenem Rauche, blühte Schnellaufgewachsen, Mit Schritten der Sonne, Mit tausend Gipfeln duftend,

Mir Asia auf […]. (I ,  447 f.)

Der Ausgangspunkt ist mit »eigenen Hauß’« und »Heimath« deutlich genug als Deutschland bestimmt; aber die Reise ist von Beginn an in einer nahezu

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prä-surrealistischen Weise verfremdet. Die Dämmerung ist nicht als Abend oder Morgen präzisiert; das Leitmotiv »schnell« spricht aber für die Morgendämmerung, weil Asien (das damals noch griechische kleinasiatische Jonien, die Landschaft um Smyrna aus dem Hyperion) nahezu direkt nach der Abreise bereits erreicht wird. Da die Reise nach Osten geht, kommt sie der Sonne entgegen, die am Ziel »in frischem Glanze« bereits höher steht, so dass der Reisende »geblendet« (Strophe  3) in die griechische Landschaft taucht. Die Geschwindigkeit widerspricht der Möglichkeit einer phantasierten Ballonreise, sie kann erst heute im Flugzeug realistisch appliziert werden. So kann der »Genius« am ehesten als gehirnimmanente Kreativkraft von Träumen bestimmt werden  – konkret von halbbewussten Tagträumen und Halluzinationen. »Geheimnißvoll« hat dieser Genius den Wunsch der griechischen Fluchtlinie als Luftreise realisiert, wobei die Stimmung der Dämmerung mit ihrem »Zwielicht« genau dieser Halbwachheit entspricht. Der Genius erfüllte die Bitte des Sprechers »O Fittige gieb uns« vom Ende der ersten Strophe (zu dieser ersten Strophe s. u. ausführlich das Schlusskapitel 10). »Fittige« scheinen auf Vögel zu deuten, da­ runter auf Hölderlins Lieblingsmotiv der Zugvögel, die jedoch von dem Tempo weit überfordert wären. Also muss die Leserin sich eine Art Götterflug vorstellen, genauer eine Entrückung wie das heutige ›Beamen‹ aus der Science-Fiction. Die Situation des »verpflanzten« Sprechers ist paradox: Man muss sich ihn nach der schnellen Reise momentan stationär in der Luft schwebend vorstellen, an einem Punkt, von dem aus er einen panoramatischen Blick nicht nur auf die Gebirge des Festlands, sondern auch über die vorgelagerten Inseln des östlichen Archipelagus werfen kann. Es handelt sich zwar um Landschaften Hyperions (Tmolus, Paktol, Taurus, Messogis), dem Sprecher aber ist alles unbekannt: »nimmer kannt’ ich die Länder«, heißt es schon von den während der Entrückung überflogenen Gegenden. Der panoramatische Blick von oben ist also wie die halluzinatorische Realisierung eines Blicks auf die Landkarte vorzustellen. In einer neuen Entrückung befindet der Sprecher sich in der vierten Strophe nun offenbar bereits auf einem Schiff, dessen »Schiffer« ihn nach Patmos führt. Ausgegangen vom »eigenen Hauß’« in der »Heimath«, gelangt er durch die Luftreise zu einem »ärmeren Hauße«, das »um die Heimath (klagende)« Fremde »gastfreundlich« aufnimmt. Diese Korrespondenz ist nicht anders zu verstehen, als dass der »Genius« die Fluchtlinie des unbewussten Wunsches folgender­ maßen deutete: Die Fluchtlinie nach Griechenland zielte auf ein Stück Deutschland bzw. Hesperien in Griechenland – einen solchen Interferenzpunkt wollte sie »treffen« (wie bei einem Fechtkampf und wie bei einer Begegnung). An diesem Interferenzpunkt erfolgt die nächste Entrückung, nun eine Entrückung auf der Zeitachse in die Antike und zum Evangelisten Johannes, der dort »in der dunklen Grotte« versteckt vor den Christenverfolgern gelebt haben soll (als »Eremit in Griechenland« wie ein Hyperion avant la lettre; dazu s. u. ausf. Kap. 4.2.).

Eine Luftreise nach Griechenland: Patmos  

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Die zweite und dritte Strophe entwerfen die Vision der jonischen Gebirgslandschaft »in frischem Glanze« der Sonne in der naturgeschichtlichen Isotopie als architektonische Basis der altgriechischen Schönheitskultur: als »Palläste« mit »lebenden Säulen, Cedern und Lorbeern«, als »Gassen« mit »Wänden« und als »Garten«. In der Patmoshymne erscheint diese immerwährende Schönheit der griechischen Landschaft jedoch als für den Deutschen zu überwältigend, er muss, jedenfalls zunächst, als ›Armer an Schönheit‹ bei der verwandten neugriechischen »Armut« einkehren. In der von der naturgeschichtlichen Isotopie konnotierten theo-logischen ist damit der Gegensatz zwischen zwei Mythologien thematisiert: zwischen der ›schönheitsreichen‹ altgriechischen und der ›schönheitsarmen‹ christlichen. Patmos als orthodoxer Wallfahrtsort mit dem über der Grotte errichteten Kloster ist ein paradigmatischer christlicher Ort. Da der »Genius« aber den eigentlichen, wenngleich in der Fluchtlinie nach Griechenland noch unbewussten Wunsch zu lesen vermag, führt er den Sprecher genau an den Ort, an dem er »unter« der Kirche in Gestalt des schönen Jüngers Johannes (»An dem am meisten / Die Schönheit hieng«; zehnte Strophe, dazu Kap. 4.2.) der von den Amtskirchen getilgten griechisch-schönen Botschaft eines griechischen Christus begegnen kann. Patmos mit dem Johannes-Mythos ist also ein Ort der Interferenz: räumlich zwischen »Asien«, Griechenland und Deutschland, zeitlich zwischen dem Ende der griechischen Antike, dem damals begonnenen Mittelalter und dem Ende der vom Kirchenchristentum geprägten Epoche, das von Aufklärung und Revolution herbeigeführt worden ist. Diese Struktur der Interferenz ist bei Johannes in dessen »Eremiten«-Status konzentriert: In der kirchenchristlichen Ära sind es nur einzelne ›Häretiker‹ (dazu ausführlich Kap. 4.2.), die ein schwaches Echo des griechischen, dionysischen Christus erahnen, dessen Botschaft mit dem Tod des Johannes erloschen war. So war Johannes ein Brücken-Apostel: Noch authentischer Lieblingsjünger Jesu – und schon mittelalterlicher Eremit. Während Hölderlin den Johannes- und Christusteil der Hymne später vielfältig neu bearbeitete und erweiterte, ohne jedoch zu so etwas wie einer neuen Gesamtversion zu gelangen, tastete er die Luftreise der Eingangsstrophen nicht an, die er also auch selbst als die gültigste, weil schönste Version seiner griechischen Fluchtlinie betrachtet haben muss.

3. Hölderlins Neugriechenland: Von den jonischen Inseln bis zur Küste Joniens

Die Vorrede zur ›Vorletzten Fassung‹ des Hyperion, in der sowohl das wichtige Konzept einer »exzentrischen Bahn« exponiert wie auch das spinozistische Konzept des Hen kai Pân in seiner poetischen Struktur skizziert wird, beginnt mit einer Formulierung der Fluchtlinie nach Griechenland: Von früher Jugend an lebt’ ich lieber, als sonstwo, auf den Küsten von Jonien und Attika und den schönen Inseln des Archipelagus, und es gehört unter meine liebsten Träume, einmal wirklich dahin zu wandern, zum heiligen Grabe der jugendlichen Menschheit. / Griechenland war meine erste Liebe und ich weiß nicht, ob ich sagen soll, es werde meine lezte seyn (I , 557). Man kann das, wie vermutlich häufig geschehen, als Geständnis eines »Griechenlandschwärmers« und eines »Karl May der Antikenverehrung« (so der Spiegel) lesen – also eines Schwärmers für Altgriechenland. Doch auch hier ist das Ziel der Flucht bipolar: Diese Flucht wird als Pilgerreise nach Neugriechenland vorgestellt, und zwar implizit blasphemisch als Alternative zur christlichen Pilgerreise zum Heiligen Grab Christi in Jerusalem. Zum Projekt des Hyperion gehörte zweifellos die Absicht, einen möglichst ›realistischen‹ Effekt der Schilderung Neugriechenlands zu erzielen. Hölderlin stützte sich dabei auf Chandler und Choiseul. Das von ihnen beschriebene Griechenland stimmt mit dem zentralen Teil des heutigen griechischen Staatsgebiets überein: jonische Adriainseln, besonders Zante (Zakynthos), Peloponnes (Morea), Attika und Thessalien bis zum Olymp sowie ägäischer Archipelagus mit seinen bekannten Inseln, außerdem die heutige türkische Westküste zwischen Smyrna (Izmir) und Konstantinopel (Istanbul) sowie deren Hinterland1. Chandlers Bericht ist tagebuchartig, da seine Reise im Auftrag einer Londoner Liebhabergesellschaft antike Stätten besuchen und nach Möglichkeit Grabungen durchführen sollte. Außer den dazu einschlägigen Abschnitten konnte Hölderlin ausführliche Impressionen von Klima und Wetter, Küsten- und Gebirgslandschaften, Flora und Fauna sowie dem Charakter vor allem der Seeleute, aber auch 1 Alexander Honold skizziert ebenfalls die Geographie des Hyperion, die er mit der Kosmographie verbindet: »Die urbildliche Landkarte des gestirnten Himmels findet ihr Spiegelbild in den Schiffsrouten und Reisezeiten. In der Konfiguration der Kykladen scheint gar das Planetensystem sein Widerspiel gefunden zu haben, mit der Apollsinsel Delos als göttlichem Zentrum« (Honold, Hölderlins Kalender, 195 ff., hier 197). Vgl. auch Volke, »›O Lacedämons heiliger Schutt!‹[…]«. In diesem Überblick geht es fast nur um Altgriechenland.

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der übrigen Bewohner lesen. Chandler beschrieb recht genau die naturgeschichtliche Basis; er maß die Temperatur mit seinem Thermometer in Fahrenheit2 und beschrieb Flusstäler, Winde und Gewitter. Für Hölderlins Griechenland­ projekt blieb neben der meteorologischen Isotopie das scharfe Profil der Elemente dauernd relevant, insbesondere der Kontrast von Sonne und Schatten, Sonne und kühlenden Brunnen – zwischen Mittagshitze, Suche nach Schatten und Siesta. Hölderlin übernahm besonders auch die Austrocknung des Bodens von der Sonnenhitze und sein Aufbrechen: Die Stimmen des heißen Hains, Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche […]. (I , 449; Patmos) Auch Hölderlins Faszination durch die Kraniche stammte aus Chandlers Bericht, der sie sowohl aus der Nähe beobachtete wie ihre Flüge im Schwarm verfolgte. Bestimmte Ereignisse wie die Pest in Jonien, durch die Chandlers Reise zeitweilig Züge von ängstlicher Flucht annahm, erinnerte der jugendliche Leser bis in die Zeit des Zusammenbruchs: Der Kranich hält die Gestalt aufrecht Die Majestätische, keusche, drüben In Patmos, in Morea, in der Pestluft. Türkisch […]. (I , 433) Mehr noch als Chandler versucht Choiseul, Realismuseffekte zu evozieren: »Der Leser soll mit mir reisen: er soll sehen, was ich sah, und an eben dem Ort stehen, wo ich stand […]« (2). Obwohl auch Choiseul antike Funde suchte, handelt es sich bei ihm ganz überwiegend um einen Reisebericht über Neugriechenland, seine Strukturen und seine Bevölkerung. Seine Sicht der Neugriechen ist scharf antithetisch, sie ist geteilt zwischen Verachtung und Bewunderung. Dabei spielt sein ausgesprochenes Interesse für die Frauen, ihre fehlende oder attraktive Schönheit und für die damit analog geschilderte Kleidung eine oft dominante Rolle. So signalisieren Schönheit und hübsche Kleidung der Frauen auf der Kykladeninsel Ios (bzw. bei Choiseul auch Nio) eine ideale As-Sociation: Die bei den Einwohnern dieser Insel sich heilig erhaltenen Gebräuche, ihre Art miteinander zu leben, ihr Eingenommenseyn für Fremde, alles erinnerte mich an die Einfalt des ersten Alters (I1, 43 f.) – lauteres Wohlwollen, Menschenliebe, ohne den geringsten Zusatz von Eigennutz, kurz, ein neues und rührendes Bild der alten Gastfreyheit. (II1, 47)

2 In Kleinasien maß er im Dezember Temperaturen zwischen 49° F (10° C) und 80° F (27° C), im Juli bis 95° F (35° C).

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Es bedürfte nicht der explizit positiven Erwähnung Rousseaus (I2, 9), um hier die idealisierte Vorstellung einer ›Rückkehr zur Natur‹ zu erkennen. Für Hölderlin war zweifellos die sehr positive Schilderung der Ägäisinsel Tine (I1, 95 ff.; bei Hölderlin Tina, heute Tinos) die Basis für seine Darstellung des Milieus von Hyperion und Diotima (s. u. Kap. 6.2. über die neugriechische Diotima). Man kann die Quintessenz des Neugriechenlands sowohl der Quellen wie des Hyperion vor allem mit den Inseln des Archipelagus identifizieren. Bei Choiseul ist das Festland Raum des Verfalls und des Unheils, und nur auf wenigen Inseln zeigen sich Lichtblicke. Dadurch gewinnen diese Inseln Züge sowohl der verlorenen altgriechischen ›Natur‹-Kultur wie einer künftigen Hoffnung. Hölderlin hat diese Sicht Neugriechenlands bewusst symbolisch akzentuiert: Neugriechenland ist das Land von ›Inseln‹ als heimlichen Refugien für »Ere­ miten in Griechenland«. Dabei ist die wichtige Rolle der Inseln in Rousseaus Phasentheorie der frühen Menschheit symbolisch präsent. Der Eremit Hyperion auf der Insel Salamis kehrt zurück zur Phase der mit den Hirten synchronen Fischer und frühen Seefahrer am Übergang von der ersten zur zweiten Epoche des Naturmenschen. Inseln waren in diesem Übergang so etwas wie Laboratorien der Kulturation: Sie zwangen zu verstärkter As-Sociation, entwickelten die Sprachen und die Künste (Musik und Poesie), die Feste und die Liebe. So ist auch der neugriechische Archipelagus ein Raum für ›Inseln‹, auf die heimliche utopische Fluchtlinien verweisen. Wie oft bemerkt worden ist, fügen sich im Hyperion die möglichst konkreten Landschaftsevokationen in den Rahmen einer Vorliebe für panoramatische Fernsichten aus erhöhter Perspektive. Mit einem solchen Über-Blick setzt der Roman gleich ein: Ich bin jezt alle Morgen auf den Höhn des Korinthischen Isthmus, und, wie die Biene unter Blumen, fliegt meine Seele oft hin und her zwischen den Meeren, die zur Rechten und zur Linken meinen glühenden Bergen die Füße kühlen. (I , 613) Diese Art Panoramablick ist auch der reale des Kartenlesers. Es ist ein im mehrfachen Sinne ›strategischer‹ Blick – sowohl, wie Christoph Albrecht gezeigt hat, im Wortsinne (die Freiheitskrieger von 1770 wollten im Hyperion »den Korinthischen Isthmus […] besezen und Griechenland hier, wie an der Handhabe, […] fassen« [I , 702]), als auch im Sinne eines ›göttlichen‹, also utopischen Vorgenusses der künftigen Kultur. 

 Der ›Vatikan‹  

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3.1. Der ›Vatikan‹ Die späten, meist provisorisch skizzierten und fragmentarischen hymnischen Entwürfe im Homburger Folioheft präsentieren bereits eine problematische Textgestalt. Ein typisches Problem ist das hochwahrscheinliche Ineinander von Textskizze und Konzeptnotat. So hielt Beissner den Eintrag »der Vatikan« oben auf Seite 89 des Foliohefts für den Titel des darunter stehenden Textentwurfs, während die neueren Herausgeber eher ein Konzeptnotat annehmen. Im Kontext der vorliegenden Studie ist vor allem die häufig erhebliche Opakheit der jeweiligen textuellen Isotopien relevant. Das gilt in hohem Maße auch für das Textkorpus auf den Seiten 88 und 89 (I , 432 f.), das durch die Wiederholung von »derlei Pallästen« offensichtlich zusammengehört und wegen der Worte »ebenfalls aus Roma« plausibel in der Reihenfolge 89, 88 zu lesen ist. Dann lässt es sich nach dem Anfang als Korpus Hier sind wir bezeichnen. In diesem Textentwurf bildet nun die Fluchtlinie von Deutschland nach Griechenland eine evidente Isotopie: Westphalen – Gotthard – Tyrol – Lombarda – Loretto – Rom – Morea – Patmos – Türkisch. Wie es bereits die Beziehung auf Heinse (»Mein ehrlich Meister«) plausibel macht, läuft die Fluchtlinie zunächst über Italien (so wie in Heinses realer Reise und im Ardinghello). Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni haben zeigen können, dass Heinses Weg durch Italien sowie der Weg seines Helden Ardinghello von dort nach Griechenland als Hauptlinie des Fragments Hier sind wir fungiert, die in mehrere Nebenlinien (Tasso, Vanini, Chandler) aufgefächert wird3. Dabei verflechten sich zusätzlich die biographische (Heinse) und die intertextuelle (Tasso, Goethe, Vanini) Isotopie. Die naturgeschichtliche gemeinsam mit der theo-logischen Isotopie ist auch in dieser rasch notierten Skizze deutlich präsent und womöglich kodominant, allerdings sehr opak. Ein direkter Hinweis ist die »Natur- / Göttin«: Wenn aber der Tag Schiksaale macht, denn aus Zorn der NaturGöttin, wie ein Ritter gesagt von Rom […]. (I , 432) Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni haben den »Ritter« sehr plausibel als den wegen Atheismus verbrannten Pantheisten Lucilio Vanini aus der Zeit Ardinghellos (Ende 16./Anfang 17. Jahrhundert) identifiziert, dessen inkriminiertes Werk im Titel die Formel naturae reginae deaeque trug, der während Hölderlins Jenaer Zeit mit Fichte verglichen wurde und auf den Hölderlin eine Ode dichtete (I ,  196 f.)4. Ebenso wie Tasso (und fiktional wie Ardinghello) musste er häufig vor seinen Verfolgern fliehen. Die Fluchtlinie ist also in dem Entwurf

3 Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta [I], 137–159. 4 Ebd., 142 f.

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Hölderlins Neugriechenland

ein dominantes Motiv – nur Ardinghello gelingt die Flucht nach Griechenland. Dann lässt sich lesen: Dass der Kirchenstaat mit seinen Palästen jetzt (»der Tag« als Kairos) durch die Revolution und Napoleon gestraft wird, entspricht dem gerechten ›Zorn der beleidigten Natur-Göttin‹: Ach! kennet ihr den nicht mehr Den Meister des Forsts, und den Jüngling in der Wüste, der von Honig traun Und Heuschrecken sich nährt. Will sagen: Die Papstkirche hat ihren Ursprung (die Frugalität Johannes des Täufers, aber auch Christi und der frühen Christen) verraten. Nichts erinnerte in Rom mehr daran, dass Christi Botschaft (s. u. Kap. 4) ursprünglich eine rousseauistische ›Rückkehr zur Natur‹ der frühen Menschheit, zur Epoche des »Forsts« gewesen war. Den kairologischen Kontext von »derlei Pallästen« in Rom hat Alexander Honold am Leitfaden des Stichworts »Calender« überzeugend erschlossen: Der julianische Kalender diente der christlichen Epoche (»post Christum natum«) als Jahresschema und wurde dann von Papst Gregor XIII . 1582 im Vatikan adjustiert. Im Kairos von 1800, dem Ende der dogmatisch-christlichen Epoche, führten zunächst die radikalen Revolutionäre den Dekadenkalender ein, bevor Napoleon im Rahmen des historischen Kompromisses den gregorianischen restaurierte5, aber gleichzeitig die politische Entmachtung der Päpste beibehielt und den Vatikan unter seine Herrschaft brachte. Auffällig ist das Überwiegen, wenn nicht sogar die Ausschließlichkeit modern-kairologischer, besonders neugriechischer Komplexe in dem Entwurf. Auch das Motiv »Säulenordnung« (I , 88, Vs. 46 ff.) ist nicht altgriechisch konnotiert, da es um einen naturalen Tempel geht: Und die Rippe6 tönet Des sandigen Erdballs in Gottes Werk Ausdrüklicher Bauart, grüner Nacht Und Geist, der Säulenordnung, wirklich Ganzem Verhältniß, samt der Mitt […]. Dabei geht es offenbar um eine Konfiguration von Wüste (»sandig«) und Vegetation (»grüner Nacht«). Als Fluchtpunkt der Reise nach und durch Neugriechenland erscheint eine utopische Formel: Dann kommt das Brautlied des Himmels. Vollendruhe. Goldroth. (Vs. 43 f.) 5 Honold, Hölderlins Kalender, 468 ff. sowie 117–130. 6 Seit Beißner wegen der französischen Homonymie ›côte‹ als Küste gelesen, mir dennoch fraglich.

Magna Graecia und Gallia Graeca  

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Als Hyperion nach seiner schweren Verletzung in der Seeschlacht von Tschesme erstmals wieder die herbstliche Landschaft der Insel Paros im Archipelagos (I , 737), wo Alabanda ihn pflegte, genießen kann, schreibt er an Bellarmin: Es war ein großer, stiller zärtlicher Geist in dieser Jahrszeit, und die Vollendungsruhe, die Wonne der Zeitigung in den säuselnden Zweigen umfieng mich, wie die erneuerte Jugend, so die Alten in ihrem Elysium hofften (I , 728)7. Trotz erheblicher weiter bestehender Opakheiten lässt sich insgesamt das Konzept des Entwurfs also als nochmalige hymnische Version der griechischen Fluchtlinie lesen: Wenn die neue Friedensordnung mit der As-Sociation einer neuen Kirche »dann kommt«, wird die Fluchtlinie nach all den gescheiterten Fluchtversuchen so wie die Flucht Ardinghellos schließlich gelingen. 

3.2. Magna Graecia und Gallia Graeca Reisepraktisch konkretisiert sich die Fluchtlinie von Deutschland nach Neugriechenland in mehreren möglichen Routen, wobei diejenige über Italien am nächsten liegt. Südlich von Rom beginnt dabei bereits altgriechisches Gelände: Magna Graecia zwischen Neapel (Parthenope) und Agrigent an der Südküste Siziliens, der Heimat des Empedokles. In dem Hymnenentwurf Griechenland (s. o. Kap. 2.1.4.) irritierte zunächst der Ort »Avignon« auf der skizzierten möglichen Reiseroute über den Gotthard an die Adriaküste, eine der üblichen Ausgangszonen für Schiffsreisen nach Griechenland. Ein mögliches Motiv für Avignon war die einen Umweg beschreibende Reiseroute Wilhelm Heinses, ein anderes die Konnotation der Papstenklave im Kontext der Revolutionskrise. Ein drittes aber ist das ähnlich wie in Magna Graecia zu erinnernde griechische Erbe Südfrankreichs. In der dritten Strophe der Rheinhymne (s. u. Kap. 5.2.3.) heißt es, dass der große hesperische Strom sich bereits in den Alpen von den nach Süden ›wandernden‹ »Brüdern« trennt: Und anderes hoffte der, als droben von den Brüdern, Dem Tessin und dem Rhodanus Er schied und wandern wollt’ […]. (I , 343) Der Tessin mündet in den Po und der wiederum in die Adria, die man als Seeweg nach Griechenland betrachten kann. Die Rhone fließt direkt auf ihre Mündung bei Marseille zu – der griechischen Kolonie Marsilia, die längst vor Cäsars Eroberung die umgebende Mittelmeerküste und das gallische Rhonetal mit griechischer Kultur geprägt hatte. Auch Hölderlin ist im Winter 1801 auf 1802 im



7 Eine Selbstapplikation (vgl. den Brief an den Bruder vom 20.9.1797 in II , 665).

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Hölderlins Neugriechenland

Rhonetal bis Lyon gereist, vielleicht auch teilweise gewandert. Es ist bis heute ein Rätsel, warum er diesen Umweg nach Bordeaux nahm; angeblich zwangen ihn die französischen Behörden in Straßburg dazu. Jean-Pierre Lefebvre hat diese Begründung m. E. schlüssig als von Hölderlin zwecks Ablenkung erfundene Legende aufgedeckt, die vor allem seiner Familie verbergen sollte, dass er absichtlich nach Lyon gereist sei, um dort seinen zu diesem Zeitpunkt noch unbezweifelten »Halbgott« Napoleon Bonaparte zu sehen, der als Erster Konsul der Republik einer verfassungsgebenden »Consulta« der italienischen Republikaner (böse gesagt, seiner italienischen Satelliten) präsidierte. Wenn das der Grund für den Umweg längs der Rhone war, gab es noch ein zusätzliches, zweites Motiv: Hölderlin wäre dann auf den Spuren seines anderen »Halbgotts« Rousseau gereist, der während seiner Wanderzeit 1730 und 1731 zweimal zeitweilig in Lyon lebte, was er in den Confessions schildert. Dass Hölderlin seinen anschließenden Aufenthalt in Bordeaux, das zwar nie griechisch war, dennoch als auf quasi griechischem Boden »in den Ruinen des antiquen Geistes« erlebte, ist völlig evident und communis opinio. Er muss Reise und Aufenthalt als endlich erreichte Realisierung seiner seit der Jugend ausgesponnenen Fluchtlinie nach Griechenland empfunden haben. Dazu passt die Schleife über Lyon, und dazu passt auch die als lebensgefährlich geschilderte Kutschenfahrt durch das Massif Central, die geradezu an abenteuerliche Reisen in Neugriechenland erinnert. Jochen Bertheau vertritt wie andere die These eines Banditenüberfalls, allerdings für die Rückreise8. Und dann hatte er im Vorfrühling und Frühling sein »Olivenland« endlich erreicht. Diese Landschaft muss ihn, auch ganz unabhängig von einem häufig gemutmaßten sei es bereits präpsychotischen, sei es schwer reaktiv-neurotischen Zustand, überwältigt und erschüttert haben. Er hatte ja stets betont, dass die altgriechische Kultur zwar bis auf Ruinen untergegangen sei, dass aber ihre Naturbasis ewig jung in jedem Frühling wieder auferstehe. Er muss nun die immergrüne Vegetation und die südliche, weniger in die Häuser zurückgezogene Alltagskultur erlebt haben. Jean-Pierre Lefebvre hat diesen Kontext überzeugend erschlossen9. Bis zu Schmerzen aber der Nase steigt Citronengeruch auf und von dem Öl aus der Provence und wo Dankbarkeit Und Natürlichkeit mir die Gasgognischen Lande Gegeben. (I , 423)

8 Bertheau, Hölderlins französische Bildung, 98 f. Mit recht plausiblen Argumenten schließt er aus den Reisezeiten, dass Hölderlin auf dem Hinweg durch die von Banditen bedrohte Strecke mit der Postkutsche fuhr und nur das letzte Stück wanderte, dass er aber auf dem Rückweg tatsächlich überfallen worden sei. 9 Lefebvre, »Auch die Stege sind Holzwege«.

Magna Graecia und Gallia Graeca  

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Zu dieser Realisierung der griechischen Fluchtlinie kam in der großen Hafenstadt Bordeaux die gleichzeitige Realisierung der atlantischen Fluchtlinie10. Das Andenken an die »braunen Frauen« (I , 473) bestätigt die Präsenz erotischer, ›dionysischer‹ Attraktionspunkte in jeder Fluchtlinie Hölderlins. Jean-Pierre Lefebvre hat den Kontext der Friedensfeste11 des Frühlings 1802 und die Landschaft des rechten (Lormont), nicht des linken Garonneufers überzeugend aufgewiesen. Aus den fragmentarischen Notizen ergibt sich ferner mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, dass Hölderlin mindestens bis zum Bec d’Ambès, eventuell sogar bis zur Pointe de Grave gewandert bzw. gefahren ist12 und sich unter das ›arme Volk‹ gemischt hat, wo er sogar »südfranzösische Flüche« gelernt haben muss13. Dort oder noch weiter bis zum Atlantik folgte er in der Phantasie wie der »Halbgott« Kolumbus der atlantischen Fluchtlinie, konkret »Bellarmin / Mit dem Gefährten«, nach Lefebvre Alexander von Humboldt und Bonpland14, zu (amerikanischen) »Indiern« (I , 474). Er wird als der ›arme Fremde‹ aufgrund seines sicher ungewöhnlichen Verhaltens angestaunt worden sein und wird die hyperiontische Situation eines »Eremiten in Griechenland« intensiv appliziert haben – so intensiv, dass er sie im »Olivenland« antizipierend für sein einsames Leben im Turm ›gelernt‹ haben muss15.

10 Jochen Bertheau hat Hölderlins Wohnung überzeugend in der Rue Saint-Rémy  2 (heute  4) lokalisieren können. Damit blickte Hölderlin direkt auf die Garonne und den Binnenhafen. 11 Lefebvre, »Les yeux de Hölderlin«, 431 ff. 12 Bertheau, Hölderlins französische Bildung, 150 f. 13 Bertheau schlägt als Hypothese vor, Hölderlin habe quer durch die unwirtlichen, teils ›wüstenartigen‹ Landes (sandige Heidegegend)  bis zum Atlantik wandern wollen und sei unterwegs von gefährlichen Insekten gestochen und vergiftet worden (Bertheau, Hölderlins französische Bildung, 123 f.). Er stützt diese Ansicht auf eine gegenwarts- und frankreichbezogene Lektüre nicht nur von Andenken, sondern auch aller Skizzen der Seiten 73 bis 75 des Homburger Foliohefts (I , 420–423), also auch des Textes Vom Abgrund nemlich. Alternativ wäre dagegen an frühmenschliche Entwicklungen (»Abgrund«, »Wüste«) zu denken. Was den Kontakt mit einfachen, »armen« Seeleuten und anderen betrifft, so bestätigt auch Bertheau diese Annahme. Insgesamt ein Beispiel für die Alternative, entweder die biographische Isotopie als absolute Dominante vorauszusetzen oder die naturgeschichtliche Isotopie zumindest als Subdominante zu berücksichtigen. 14 Lefebvre, »Die Werft am Neckar«, 20; nach Bertheau, Hölderlins französische Bildung, 139, Hölderlin selbst (»belle âme«) – wer ist dann der Gefährte und wer sind die »Indier«? 15 Hölderlins Leben im Turm liegt außerhalb dieses meines Buchprojekts, wenn auch natürlich nicht außerhalb seines Themas. Zur partiellen ›Rückkehr zur Natur‹ und zum naiven Ton vgl. HR , 249–256. Dass auch die griechische Fluchtlinie nicht erloschen war, beweist In lieblicher Bläue.

4. Der griechische Christus: Entmythologisierung und neue dionysische Utopie

Zu den vielberedeten und sich dennoch einer Lösung beharrlich verweigernden Rätseln gehört die höchst bedeutsame Figur eines »Halbgotts« Christus als drittes und letztes Element eines »Kleeblatts« griechischer »Halbgötter« (Dionysos – Herakles – Christus) in Hölderlins hymnischer Dichtung nach 1800. Dass diese Figuration nichts zu tun hat mit der gegen die Aufklärung gerichteten romantischen Tendenz zu einer ›katholisierenden‹ Restauration eines traditionell kirchlichen Christentums, gilt dem Mainstream der Hölderlinforschung als gesichert. Stattdessen besteht weitgehender Konsens über die exemplarisch von Jochen Schmidt vertretene These vom »Synkretismus«, also von einer für Hölderlin spezifischen Ineinsbildung griechisch-›heidnischer‹ und christlicher »religiöser« Komponenten. Als formale Kategorie trifft Synkretismus zweifellos das zu beschreibende Phänomen, sie lässt aber die Frage offen, um was für eine Art von »Religion« es sich konkret handelt – wenn nicht um eine traditionale (natürlich erst recht nicht eine Restauration der traditional ›heidnisch‹-griechischen), dann etwa um eine Antizipation einer Numina-Mystik oder einer sonstigen »Spiritualität« des 20. Jahrhunderts zwischen Rilke, Hesse und Steiner? Während ein Teil der Hölderlinforschung solche Hypothesen entweder konnotativ beschwört oder wenigstens offenlässt, möchte die vorliegende Studie entschieden gegen solche Anachronismen plädieren1. Hölderlins Christus ist ein griechischer Christus. Was bedeutet das? Einen ersten Schlüssel kann die Elegie Brod und Wein liefern, in der die Christus-Figur als »Syrier« erstmals auftaucht (später dann wiederum so in der Friedensfeier). »Syrien« ist in der Antike eines der drei hellenistischen Diadochenreiche mit Griechisch als Lingua franca, die dann auch vom östlichen Teil des Römischen Reiches und danach vom Byzantinischen Reich beibehalten wurde. Nicht zuletzt ist das Neue Testament in griechischem Original verfasst (wenn es auch keine Hinweise gibt, dass Jesus Griechisch verstanden haben könnte). Wie im Abschnitt über Brod und Wein bereits dargestellt, ist die Figur des »Syriers« Christus dort Element einer dichten (exemplarisch »synkretistischen«) Ineinsbildung mit den anderen Figurationen des »Weingotts«, vor allem mit 1 Allerdings gilt ihr auch die Hypothese radikaler poetischer Autoreflexion – alles »Religiöse« sei ein strikt poetologischer und ästhetischer Kode – nicht als plausible Alternative: Hölderlin erstrebte zweifellos eine über das ästhetische Erlebnis hinausgehende lebensprägende und nicht zuletzt politische Wirkung.

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Dionysos, aber auch mit Zeus. Die Gesamtheit dieser Figurationen wird als »der himmlische Chor« (Vs. 132) bezeichnet. Hauptthema der Elegie ist die Entstehung der griechischen ›Äther-Religion‹, also einer dominant dionysischen Religion, als Bedingung der Möglichkeit der altgriechischen Kultur. Der zeitlichen Entwicklung dieser Kultur entsprechen verschiedene Figurationen der »Himmlischen« (synonym der »Götter«): Äther – Dionysos – Zeus. Dabei werden Anfang und Ende (in der Formel vom »Göttertag« Morgen und Abend) betont. Christus ist das Ende, also das Ende der griechischen Kultur, und zwar als Teil dieser griechischen Kultur: Als erschienen zu lezt ein stiller Genius, himmlisch Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet’ und schwand, […]. (Vs. 129 f.) Wie in Kapitel  9 über die Entmythologisierung der altgriechischen Religion noch auszuführen sein wird, ist »Genius« bei Hölderlin ein Terminus für eine halbbewusste »Potentia« (»Kraft«) der Deus-Natura des Spinoza2 und insofern zunächst nicht personalisiert. Ein »stiller Genius« meint also ein im Vergleich mit Dionysos und Herakles »stilles« Charisma, vermutlich dominant einen pazifischen, friedensstiftenden »Geist«. Der darauf folgenden christlichen Kultur, einer »Äther«-vergessenen, hat der griechische Christus zwar mit Brot und Wein zwei dionysische Gaben vererbt, aber epochal dominierte der Dualismus, der das diesseitige Leben zugunsten des jenseitigen abwertete, so dass im irdischen ›Jammertal‹ Tod und Trauer herrschten. Die christliche Kultur ist daher symbolisch »finster«, »nächtlich«, »schattenhaft« (die »kleine«, historische Nacht). Das nochmalige Auftreten der Christus-Figur am Schluss der Elegie bezieht sich auf das Ende der christlichen Epoche: […] denn wir sind herzlos, Schatten, bis unser Vater Aether erkannt jeden und allen gehört. Mit allen Himmlischen kommt als Fakelträger des Höchsten Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab. (Vs. 153 ff.) Der Mythos vom Abstieg des toten Christus ins Fegefeuer wird hier mit dem Mythos seiner Wiederkunft am Jüngsten Tag sowie »synkretistisch« mit dem »Fakelträger« Dionysos kombiniert. Dabei sind die entmythologisierenden Hinweise deutlich: »Mit allen Himmlischen« ist synonym mit allen »Himmelskräften« 2 Zu Hölderlins prinzipiellem Konsens mit Spinozas Substanzenmonismus und naturalem Gottesbegriff (Deus-Natura-Potentia)  vgl. Wegenast, Hölderlins Spinoza-Rezeption; s. auch Jamme, »Ein ungelehrtes Buch«, 102 ff. Allerdings versuchte Hölderlin, diesen Spinozismus mit dem postkantischen Transzendentalismus zu vereinen, wobei der naturgeschichtliche Diskurs ein naturales Kontinuum auch der Aprioris und der Subjektivität als Gehirnprodukte zu denken ermöglichte (›Sömmerring-Erlebnis‹: s. o. Kap. 2.2. und öfter).

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(I , 270) und allen »Himmelsmächten« (I , 283), wodurch Spinozas Deus-Potentia mit der naturgeschichtlichen Isotopie integriert wird. In dieser Isotopie ist er als alle Äther zu konkretisieren, was in Brod und Wein explizit entwickelt wird (s. o. Kap. 2.4.). Das wird in der späteren Überarbeitung noch verdeutlicht. Statt der Verse über die Herabkunft des »Syriers« Christus heißt es nun: Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt. Die frühen griechischen Halbgötter Dionysos und Herakles sind mythische Namen für eine ›hitzige‹ Mentalität südlicher Völker, die auf die Akkumulation hoch »elastischen« (schnell beweglichen) Nerven-Äthers zurückgeführt wird, welche wiederum der klimabedingte starke äußere thermische Äther stimuliert. Wie in der folgenden partiellen Neudeutung der Patmos-Hymne ausgeführt wird, nimmt die in Nietzsches Sinne radikal »umwertende« Gräzisierung des »Halbgotts« Christus nichts von der entschieden negativen Sicht aller Spielarten eines kirchlichen Christentums bei Hölderlin zurück. Insofern ist Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni zuzustimmen, die sogar so weit gehen, den »Feind« der Schlussstrophe von Friedensfeier mit dem institutionalisierten Christentum zu identifizieren3: Wie die Löwin, hast du geklagt, O Mutter, da du sie, Natur, die Kinder verloren. Denn es stahl sie, Allzuliebende, dir Dein Feind, da du ihn fast Wie die eigenen Söhne genommen, Und Satyren die Götter gesellt hast. (I ,  365 f.) Man wird die Christusfigur in der Friedensfeier als die neben Patmos bündigste Darstellung des letzten antiken »Halbgotts« werten können. Es soll an dieser Stelle lediglich um einen sehr beschränkten Aspekt dieses äußerst vielschichtigen Textes gehen, und zwar um den »religiösen« Status des hölderlinschen Christus. Da in der Friedensfeier sämtliche »göttlichen« Erscheinungsformen eine Rolle spielen, lässt sich der Ort Christi exemplarisch bestimmen – gerade auch durch die negative Probe.

3 Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta [I], 106–119. In dieser Deutung müssen die Kirchen als »Satyren« im Sinne einer ›Karikatur‹ auf Religion gelesen werden, was allenfalls möglich ist. Als Alternative erwähnen die Autoren »die Aufklärung« (115), für die in der Tat das Motiv der »Satyren« direkter sprechen könnte, wenn man etwa an Voltaire und die gesamte ›niedere‹, ›platt aufgeklärte‹ und zynische Entmythologisierung denkt, die Rousseau so entschieden bekämpfte.

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Deus-Natura-Potentia: Der Alllebendige (Vs. 71); Allkräftige Mutter Natur (143, 144) Spezifische naturale Potentiae: Alles Himmlische (Vs. 51) = das Göttliche (Vs. 64) = die fremden Kräfte (Vs. 68); Andere Mächte (Vs. 96); heiligen Mächte (100); Himmlische (103, 141) Historische, natural-geistige Potentiae: Vater Sohn Geist (der Welt) (73–78) = Herr der Zeit (79); der stille Gott der Zeit (Vs. 89); der große Geist (Vs. 94); ein Gott (Vs. 52); ein Gott Tagewerk (Vs. 81) Halbgott: Christus Empirisch-historische Instanz: Fürst des Fests

Da der Fürst des Fests kein Gott, sondern der nach langen Kriegen das Friedensfest ermöglichende Staatsapparat4 (»Fürst« nach Machiavelli und Rousseau) ist, kann Christus nicht Fürst des Fests sein5. Da Christus aber fest als »Halbgott« definiert ist, kann er auch nicht mit Deus-Natura-Potentia (»Gott« im Singular) identisch sein. In der entmythologisierten Version der Trinität wird der »Geist« am deutlichsten definiert: Es ist der Weltgeist (»Geist / Der Welt«; Vs. 77 f.) und »Herr der Zeit«, als »Meister« (Vs. 87) letztens auch der Gott der hesperischen (abendländischen) Sphäre, der dieses Werk von tausend Jahren vollendet hat. Es ist folglich auch höchst unwahrscheinlich, dass die entmythologisierte zweite Person der Trinität (»ein Sohn, ein Ruhigmächtiger«; Vs.  73) Christus sein könnte. Die Christusstrophe (die vierte) betont dagegen die menschliche Hälfte des »Halbgotts« mit der Konnotation der Toleranz gegenüber der Samariterin (»am Brunnen gerne war«) und die Notwendigkeit, seine göttliche Hälfte zu mäßigen: sowohl den heißen äußeren Äther Syriens (des hellenistischen, ins Orientalische erweiterten Griechenlands) durch kühlenden Schatten wie auch den inneren elektrischen Äther seiner ›Blitz‹-mächtigen Botschaft (»der heiligkühne […] Stral«) durch das »Gewölk« und die »Wildniß« der nur begrenzt aufnahmefähigen Jünger oder gar der kirchentreuen Christen. Im Kairos des napoleonischen Konkordats von 1802 (Hölderlin erlebte das Fest in Bordeaux), als die Kirchen dauerhaft wieder geöffnet wurden, richtete sich Hölderlins Position sowohl gegen die Idéologues, die Napoleon Verrat an der Aufklärung vorwarfen, wie auch gegen die politischen Romantiker, die die völlige Restauration der Papstkirche erstrebten. Er rief Christus herbei zum Friedensfest zwischen Aufklärung und Religion  – aber eben einen ganz an 4 Ich verwende an dieser Stelle absichtlich verfremdend diesen funktionalistischen Begriff, um die Lektüre des »Fürsten« von einem implizit patriarchalisch-persönlichen Vorverständnis zu lösen. 5 Man müsste dann die Formulierung »denn darum rief ich […] dich zum Fürsten des Festes« (Vs. 109–112) lesen wie ›ich ernenne dich zum Fürsten‹, was äußerst unplausibel ist.

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deren, gegenüber dem Dogma neuen Christus: einen griechischen Christus. Dieser griechische Christus der Toleranz und des Friedens ist kompatibel mit den alten griechischen Halbgöttern Dionysos und Herakles, allerdings nur im Rahmen einer »höher aufgeklärten« Entmythologisierung: Kompatibel ist ein entmythologisierter Christus vor allem mit einem entmythologisierten Dionysos im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen »neuen Kirche«. Kompatibel ist der griechische Christus ebenso mit einem entmythologisierten Herakles, der womöglich im Halbgott Napoleon als Fürst des Fests seinen spätzeitlichen Nachfolger gefunden haben könnte.

4.1. Entmythologisierung als »höhere Aufklärung« Der Begriff der »Entmythologisierung« wurde durch Rudolf Bultmann programmatisch, weil er bei ihm mit Inkarnation und Auferstehung auch den Kern der christlichen Botschaft, das Mysterium der Trinität, implizierte, und das innerhalb der Theologie6. Dem war allerdings die jahrhundertealte aufgeklärte Entmythologisierung vorausgegangen, in deren Kontext Hölderlins paradoxes Konzept einer ›immanent entmythologisierenden mythischen Isotopie‹ zu sehen ist, das es hier darzustellen gilt. Das Konzept einer »höheren Aufklärung die uns größtentheils abgeht« findet sich in einem fragmentarischen Text von entweder bereits 1796 oder erst 17997, der eventuell für das gescheiterte Unternehmen einer Zeitschrift gedacht war. Dieser Text wird in den neueren Ausgaben mit ›Fragment philosophischer Briefe‹ übertitelt (II , 51 ff.), weil er dialogisch von einem Ich an ein Du gerichtet ist und Hölderlin Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen plante (III , 388). Weil der Text von »Göttern« und »Religion« handelt, hatte Beißner ihm den Titel Über Religion gegeben, der durchaus

6 Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, Nachdruck der Fassung von 1941 (Beiträge zur ev. Theologie 96), 1985; ders., Das Evangelium des Johannes, 10. Aufl., Göttingen 1964, 115, 194, 451 ff. (»Eigentlichkeit der Existenz«) passim. Wenn die gnostischen u. a. Mythen entmythologisiert sind, bleiben Existenziale wie »Eigentlichkeit« und »Entscheidung« (Heidegger wird zitiert, Kierkegaard ständig). Für den Kontext Hölderlin-Johannes besonders interessant die Deutung des Weinwunders als Übernahme eines griechischen Dionysos-Mythems (ebd., 83; auch 406 ff., »Der wahre Weinstock«). Der Lieblingsjünger wird bei Bultmann als eine Personalisierung des griechischen Heidenchristentums entmythologisiert (369 f.), was Hölderlin in gewisser Weise also vorweggenommen hat; s. auch die Fußn. zu Hölderlins Empedokles (449). Zu Bultmann (teils kritisch) Eberhard Jüngel, »Die Wahrheit des Mythos und die Notwendigkeit der Entmythologisierung«, in: HJb 27 (1990/91), 32–50, hier 44 ff. 7 Zu diesem großen Widerspruch in der Datierung s. Louth, »›jene zarten Verhältnisse‹«, 124 ff.

Entmythologisierung als »höhere Aufklärung«  

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der dominanten Thematik entspricht. Kennte man den Autor nicht, so könnte man bei einer oberflächlichen Lektüre mutmaßen, dass dem Fragment ein dualistischer Denkrahmen zugrunde läge. Es unterscheidet zwei hauptsächliche Ebenen: zum einen eine Ebene der »Nothdurft« und des »Mechanischen«, zum anderen eine Ebene des »Geistes« und »Gottes«: Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt […]. (II , 51) Auf beiden Ebenen findet der Mensch »Befriedigung«, die er auf der Ebene der Notdurft mit dem Tier teilt: »[…] daß auf die Befriedigung der Nothdurft eine Negative erfolgt, wie z. B. die Thiere gewöhnlich schlafen, wenn sie satt sind […]« (II , 53). Nach einem Konzept für »eine mehr als nothdürftige, eine unendlichere Befriedigung« (ebd.) fragt der Text. Dazu führt er weitere Begriffe ein, die den scheinbar dualistischen Rahmen fragmentieren und sprengen. Der wichtigste dieser Begriffe ist der der »Sphäre«8. Astronomisch ist eine Sphäre das Gravitationsfeld eines in dieser Sphäre zentralen Himmelskörpers, wobei mehrere Gravitationsfelder interferieren können. Das scheint das Modellsymbol der folgenden These zu sein: Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die er erfährt, und nur in so ferne mehrere Menschen eine gemeinschaftliche Sphäre haben, in der sie menschlich, d. h. über die Nothdurft erhaben wirken und leiden, nur in so ferne haben sie eine gemeinschaftliche Gottheit; und wenn es eine Sphäre giebt, in der zugleich alle Menschen leben, und in der sie mit mehr als nothdürftiger Beziehung sich fühlen, dann, aber auch nur in so ferne, haben sie alle eine gemeinschaftliche Gottheit (51 f.). Die »göttlichen« Sphären scheinen demnach eine Funktion der menschlichen Interaktionen zu sein, so etwas wie das »Gespräch« der Friedensfeier, und der mit »Gottheit« identische, sprachbasierte (diskursive) »Geist« so etwas wie die je historische Kultur. Es muß aber hiebei nicht vergessen werden, daß der Mensch sich wohl auch in die Lage des andern versezen, daß er die Sphäre des andern zu seiner eigenen Sphäre machen kann, daß es also dem einen, natürlicher weise, nicht so schwer fallen kann, die Empfindungsweise und Vorstellung zu billigen von Göttlichem, die sich aus den besonderen Beziehungen bildet, in denen er mit der Welt steht – wenn anders jene Vorstellung nicht aus einem leidenschaft 8 Vgl. dazu Frank, »Hölderlin über den Mythos«, 25 ff.; Gaier, »Hölderlins vaterländische Sangart«, 30 ff.

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lichen übermüthigen oder knechtischen Leben hervorgegangen ist, woraus dann immer auch eine gleich nothdürftige, leidenschaftliche Vorstellung von dem Geiste, der in diesem Leben herrsche, sich bildet, so daß dieser Geist immer die Gestalt des Tyrannen oder des Knechts trägt (II , 52). Dieser Abschnitt erhöht in entscheidendem Maße die Transparenz des Textes. Denn die Sphären, von denen darin die Rede ist, sind soziale Sphären und schließlich antagonistische Klassensphären (Tyrannen und Knechte). In einem Brief an seine Schwester vom April 1798 hat Hölderlin diese soziale Bedeutung des Sphärenbegriffs geradezu ›klassenkämpferisch‹ auf seine Situation unter den Frankfurter Bankiers bezogen: Dein Glük ist ächt; Du lebst in einer Sphäre, wo nicht viele Reichen, und nicht viele Edelleute überhaupt nicht viel Aristokraten sind; und nur in der Gesellschaft, wo die goldne Mittelmäßigkeit zu Haus ist, ist noch Glük und Friede und Herz und reiner Sinn zu finden, wie mir dünkt. Hier z. B. siehst Du, wenig ächte Menschen ausgenommen, lauter ungeheure Karikaturen. Bei den meisten wirkt ihr Reichtum, wie bei Bauern neuer Wein; denn grad so läppisch, schwindlich, grob und übermüthig sind sie. (II , 687) Auch diese Klassensphären produzieren ihre jeweilige Gottesvorstellung – als repressives oder unterwürfig-masochistisches »Göttliches«. Feuerbach, Marx und Nietzsche liegen in der Fluchtlinie dieses Textes. Die Götter des Hermokrates sind Beispiele von Tyrannengöttern, die Gottheit des Empedokles umfasst dagegen »eine Sphäre, in der zugleich alle Menschen leben«. Die ›unterste‹ Stufe religiöser Vorstellungen ist also in der Notdurft verwurzelt und bloß durch »Leidenschaft« über die pure Notdurft erhaben, womit der scheinbar dualistische Rahmen endgültig gesprengt ist. Zwei zusätzliche Bemerkungen schließen sich hier an: Zum einen folgt noch die axiomatische Definition von Gott und Göttern im Brief aus Hauptwil von 1801 an den Bruder dem hier skizzierten Sphärenmodell. Zum anderen erklärt sich auch die den Abschnitt abschließende versöhnliche Wendung: Aber auch in einem beschränkten Leben kann der Mensch unendlich leben, und auch die beschränkte Vorstellung einer Gottheit, die aus seinem Leben für ihn hervorgeht, kann eine unendliche seyn. Ausführung. (II , 52) Was im Text nicht ausgeführt ist, lässt sich unschwer exemplarisch auf Hölderlin im Verhältnis zu seiner Mutter und ihrem bornierten orthodox-lutherischen Umfeld beziehen. Dann wäre die geliebte Großmutter ein Beispiel dafür, dass »auch die beschränkte Vorstellung einer Gottheit […] eine unendliche seyn« kann. Die weitere Argumentation konkretisiert das entworfene Modell vor allem mit Fragen der Ethik oder Deontik:

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So kann man von den Pflichten der Liebe und Freundschaft und Verwandtschaft, von den Pflichten der Hospitalität, von der Pflicht, großmüthig gegen Feinde zu seyn, man kann von dem sprechen, was sich, für die oder jene Lebensweise, für den oder jenen Stand, für diß oder jenes Alter oder Geschlecht schike, und nicht schike, und wir haben wirklich aus den feinern unendlichern Beziehungen des Lebens zum Theil eine arrogante Moral zum Theil eine eitle Etiquette oder auch eine schaale Geschmaksregel gemacht, und glauben uns mit unsern eisernen Begriffen aufgeklärter, als die Alten, die jene zarten Verhältnisse als religiose das heißt, als solche Verhältnisse betrachteten, die man nicht so wohl an und für sich, als aus dem Geiste betrachten müsse, der in der Sphäre herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden. (II , 55) Das ist zunächst ein Plädoyer für eine kulturrelative Ethik, gerichtet nicht bloß gegen aufgeklärte Benimmregeln à la Knigge, sondern auch gegen den kantischen aufgeklärten Universalismus (»arrogante Moral«, »eiserne Begriffe«) und bezogen auf die jeweilige »Lebensweise«. Darauf folgt dann resümierend die Formel von der »höheren Aufklärung«. Soweit sie kulturrelativ zu verstehen ist, nimmt sie die Religionssoziologie vorweg – der springende Punkt ist jedoch das bloß vage konturierte Konzept eines »griechischen«, »zarten« Universalismus als Alternative zu dem rationalistischen der ›niederen Aufklärung‹. Dieser »griechische« Universalismus ist im Unterschied zum kantisch-aufgeklärten zwar auch eine »geistige Wiederholung« des Lebens, also ein Diskurs, aber keine solche Wiederholung »blos in Gedanken« (II , 54), also kein »intellectueller« (II , 56), theoretischer Diskurs wie der kantische, sondern ein »intellectuell historisch[er], d. h. Mythisch[er]« (ebd.). Die Alternative zu einer bloß ›niedrig‹-aufgeklärten, theoretisch-rationalistischen Moral ist also eine ›höher aufgeklärte‹ Kunst mit Applikationsmacht: »So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch« (II , 57). Hölderlins Mythosbegriff und damit seine Vorstellung von »Göttern« ist also im Rahmen seines »Sphären«-Modells zu lesen und damit strikt monistisch. Im Rückbezug jedes einzelnen »Gottes«, von dem jeder einzel­ nen Person bis zu dem allen gemeinsamen, besteht die »höhere Aufklärung«. Ganz wie bei Feuerbach ist nicht der Mensch Geschöpf eines dualistisch substantiierten Gottes, sondern sind umgekehrt die Götter Geschöpfe der Menschen, und zwar künstlerische, mythische: […] warum sie sich den Zusammenhang zwischen sich und ihrer Welt gerade vorstellen, warum sie sich eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschik, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege? (53) Das später formulierte Programm, die »Mythe nemlich überall beweisbarer dar[zu]stellen« (II , 372), ist folglich strikt identisch mit dem Programm einer

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»höheren Aufklärung«9. Wenn Hölderlin daher in seinem poetischen Diskurs griechische Götter als handelnde Akteure kennt, spielt er auf einer mythischen als Teil einer theo-logischen Isotopie. Insofern sich diese Isotopie jedoch als »höher aufgeklärt« versteht, ist sie zum einen implizit antithetisch gegen eine ›niedrige Aufklärung‹ gerichtet. Es ist nicht schwer, darin die vor allem französische, ›mechanisch-materialistische‹ Aufklärung der Enzyklopädisten um Holbach und Helvétius sowie die der Idéologues zur Zeit von Hölderlins Frankreichaufenthalt zu erkennen. Zum anderen aber bleibt Hölderlins Isotopie »aufgeklärt«, also entmythologisierend. Impliziert ist damit eine paradoxe mythische Isoto­ pie, die gleichzeitig entmythologisierend ist.

Die scheinheiligen Dichter.

Ihr kalten Heuchler, sprecht von den Göttern nicht! Ihr habt Verstand! ihr glaubt nicht an Helios, Noch an den Donnerer und Meergott; Todt ist die Erde, wer mag ihr danken? – Getrost, ihr Götter! zieret ihr doch das Lied, Wenn schon aus euren Nahmen die Seele schwand, Und ist ein großes Wort vonnöthen, Mutter Natur! so gedenkt man deiner. (I , 193) In welchem Sinne »glaubt« dagegen Hölderlin an Helios (Apollon), Zeus und Poseidon? Insofern die Natur, einschließlich Sonne und Erde, Atmosphäre und Meer, nicht »tot« sei. Die Eigenschaft des Lebens wird also über Fauna und Flora hinaus ausgedehnt10. Das kann, schließt man eine Rückkehr zum altgriechisch-»heidnischen« Volksglauben aus, nur entweder »numinos« bzw. »seynsfromm« (Heidegger) oder äthertheoretisch verstanden werden. Die oben in Kapitel 2.2. dargestellte, auf dem naturgeschichtlichen Wissen von 1800 beruhende Überzeugung von verschiedenen »Evolutionen« des kosmischen Äthers mit sich steigernden Graden von Lebendigkeit bis hin zum bereits »sinnenden« und dann sprachliches Bewusstsein generierenden inneren Äther der Nerven und Gehirnhöhlen nach Sömmerring liegt diesem neomythischen Diskurs zugrunde. Der paradoxe, die Entmythologisierung integrierende mythische Dis­ kurs beruht demnach auf der durchgängig wechselseitigen Übersetzbarkeit von theo-logischer und naturgeschichtlicher Isotopie. 9 Da die vom Mythos geschaffene Sphäre immer gleichzeitig auch naturgeschichtlich ist und da die Natur real existiert, kann Hölderlin über das monistische natürlich-geistige Produkt in einer Randbemerkung des Manuskripts der Feiertagshymne sagen: »Die Sphäre die höher ist, als die des Menschen diese ist der Gott« (III , 141). 10 Dazu Pott, »Natur als Ideal«, 153: Hölderlin ersetzte »Der Götter Lob« in der Ode Ermunterung durch »Des Lebens Lob«.

Beim zweiten Mal stirbt nicht Jesus, sondern Johannes  

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4.2. Beim zweiten Mal stirbt nicht Jesus, sondern Johannes. Eine abweichende Lektüre von Hölderlins Patmos und was aus ihr folgt Hölderlins späte Hymnen gelten geradezu als Extremfall von Dunkelheit, und obwohl wir von Patmos immerhin eine vollständig ausgearbeitete Fassung besitzen – wenngleich sie später, vermutlich mit dem Ziel partieller Revision, mehrfach erneut bearbeitet wurde –, gehen auch bei dieser Hymne die Meinungen in vielen Punkten stark auseinander und bleiben andere Punkte bis heute völlig rätselhaft. Angesichts dieser Situation mag es auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, wenn auch noch die Lesart einer Stelle infrage gestellt wird, über die m. W. bisher völliger Konsens herrschte – und doch will ich genau das jetzt tun. Natürlich würde ich es nicht tun, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, eine plausible und notwendige Revision vorzuschlagen, aus der sich dann m. E. eine Art ›Domino-Effekt‹ für die Lösung anderer Rätsel und sogar für die Rekonstruktion tragender Aspekte des Gesamtkonzepts der Hymne ergeben kann. Bisher herrscht meines Wissens ein ungetrübter Konsens in der Forschung über die Annahme, dass Jesus in der Patmos-Hymne zweimal stirbt11, und zwar zuerst in der sechsten Strophe: Da, beim Geheimnisse des Weinstoks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals, Und in der großen Seele, ruhigahnend den Tod Aussprach der Herr und die lezte Liebe, denn nie genug Hatt’ er von Güte zu sagen 11 Vgl. vor allem Beißners Kommentar in GSA Bd. 2, Teil 2, 792, wo die Jesus-These mit Psalm 45,3 begründet wird, der auf Jesus gedeutet worden sei; ebenso Knaupp in III , 278. Ein schwaches Argument, weil auf einer kirchlichen Deutung beruhend und ohne Bezug zum narrativen Prozess der Hymne. Vgl. Arthur Häny, »Hölderlin; Patmos«, in: Schweizer Monatshefte 24 (1944/45), 701–724, hier 716; Eduard Lachmann, Hölderlins Christus-Hymnen. Text und Auslegung, Wien 1951, 101 f.; Robert Thomas Stoll, Hölderlins Christushymnen. Grundlagen und Deutung, Basel 1952, 208; Romano Guardini, Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit, München 1955, 547; Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, 241. Als Einziger geht Schmidt auf das Problem des doppelten Todes ein, um allerdings mittels folgenden Arguments die Jesus-These umso mehr zu verteidigen: »Schon früher war von Christi Tod […], von der Aussendung des Geistes und anderen Ereignissen nach Christi Tod die Rede. Demnach meint der neue Einsatz ›Wenn aber stirbt alsdenn…‹ nicht mehr das faktische Sterben Christi, sondern sein geschichtlich immer noch weitergehendes Sterben, zunächst im Schwinden der unmittelbaren Erinnerung an seine historisch-konkrete Existenz«. Ebenso stellt auch Wolfgang Binder, »Hölderlins Patmos-Hymne«, den doppelten Tod nicht infrage, obwohl er zu Recht auf das Fehlen des Kreuzes verweist, dennoch aber die künftige »Parusie« nicht mehr pantheistisch, sondern säkularisiert-eschatologisch begreift. Auch eine entschieden um Innovation bemühte Lektüre wie die von Karlheinz Stierle (»Dichtung und Auftrag. Hölderlins Patmos-Hymne«) schließt sich der Jesus-These bei Strophe 10 an, vgl. 55 f.

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Der Worte, damals, und zu erheitern, da Ers sahe, das Zürnen der Welt. Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. (I , 449) Auf diesen ersten Tod folgen in den Strophen 7 bis 9, ganz nach der biblischen Chronologie, wenn auch sicher nicht nach der Semantik des biblischen Mythos und noch weniger nach dem kirchlichen Dogma, zuerst ein Wiedererscheinen Jesu als »Schatte«, dann das Pfingstereignis, dann ein definitives »Scheiden« Christi und schließlich die einsame Wanderung der Jünger in die Welt hinaus. Danach, so die bisherige Forschungsmeinung, sterbe Jesus in der zehnten Strophe zum zweiten Mal: Wenn aber stirbt alsdenn An dem am meisten Die Schönheit hieng, daß an der Gestalt Ein Wunder war und die Himmlischen gedeutet Auf ihn, und wenn, ein Räthsel ewig füreinander, Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtniß, und nicht den Sand nur oder Die Weiden es hinwegnimmt und die Tempel Ergreifft, wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht Der Höchste wendet Darob, daß nirgend ein Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß? Wie plausibel ist jedoch diese bisherige Lesart, hier sterbe Jesus ein zweites Mal? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Chronologie der lyrischen Narration: Das lyrische Ich ›landet‹ bei seiner Imaginationsreise nach »Asien«, d. h. Kleinasien, der zu Hölderlins Zeiten noch von Griechen bewohnten heutigen westlichen Türkei, bei einer Reise also, die durchaus als Flug-Reise dargestellt ist, damals als Ballonreise und/oder Adlerflug vorzustellen, heute von uns als Flugzeugreise durchführbar, auf der kleinen Insel Patmos. Dort assoziiert es den Evangelisten Johannes, der nach der Legende zeitweilig auf Patmos verbannt wurde, bevor er später als Letzter der Jünger etwa hundertjährig in Ephesus gestorben sei12. 12 Zur Entmythologisierung der Johannesfigur Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 553 ff. und zuvor passim. Jesus verspricht dem Lieblingsjünger, dass er »bleiben« werde, statt das Martyrium zu erleiden. Damit ist Johannes ein »Menon«.

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Über Johannes wiederum wird Jesus assoziiert, und es beginnt die chronolo­ gische Narration vom Abendmahl über den Tod bis zur Wanderung der Jünger, die ich bereits skizziert habe. Und nun heißt es weiter: »Wenn aber stirbt alsdenn« – und ich betone das »alsdenn«, das auch in der Goethezeit eindeutig, um es formal-semantisch zu formulieren, einen chronologischen Zeitpunkt ti+1 innerhalb eines narrativen Kontinuums bezeichnete, der auf einen vorhergehenden Zeitpunkt ti folgt – »Wenn aber stirbt alsdenn«: Kann das wirklich ein zweites Mal Jesus meinen, der in dieser Narration längst gestorben ist und sich nach mythisch-biblischer Auffassung längst wieder im Himmel befindet? Wenn aber nicht Jesus – gibt es dann überhaupt sozusagen einen alternativen ›Kandidaten‹ für diesen zweiten Tod? Ich meine: unbedingt, und zwar Johannes. Um meine These zu begründen, muss ich mich auf bekannte Elemente legendärer Überlieferungen über Johannes den Evangelisten beziehen, die Hölderlin ganz sicher gekannt hat. Ich habe schon erwähnt, dass Johannes nach solchen Überlieferungen der letzte Jünger Jesu war, der starb. Er war also der letzte Augenzeuge des ›historischen Jesus‹, wie es eine spätere Theologie formulieren würde. Mit ihm brach die direkte mündliche Tradition ersten Grades ab. Von nun an konnte sich die Tradition sozusagen frei, d. h. aber womöglich auch ohne Korrektiv und ›wild‹, ja verfälschend weiterentwickeln. Nun heißt es bei Hölderlin über den in Strophe 10 Gestorbenen explizit: An dem am meisten Die Schönheit hieng, daß an der Gestalt Ein Wunder war und die Himmlischen gedeutet Auf ihn […]. Man hat das automatisch auf Jesus bezogen, und auch hier möchte ich widersprechen. In Strophe 9, also direkt vor dieser Aussage, ist von der Zerstreuung der Jünger in die Oikumene die Rede. Die Gesamtheit der Jünger kann also sehr wohl eine Vergleichsmenge bilden, aus der der Superlativ denjenigen auswählt, »An dem am meisten / Die Schönheit hieng«. Ist das plausibel? Ich meine wiederum: zweifellos, und zwar bezogen auf Johannes.13 Johannes war der Lieblingsjünger, der beim Abendmahl, mit Hölderlin gesprochen: »beim Geheimnisse des Weinstoks«, »zu tische sass an der brust Jhesu / welchen Jhesus lieb hatte« (Joh. 13, 23 in Luthers Übersetzung). Durch diese Liebe Jesu hatte hier also tatsächlich bereits eine besondere Auswahl stattgefunden – ich werde darauf zurückkommen. Nicht erst neueste kritische Theologen, die aus solchen Hinweisen 13 Meine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass Walter Benjamin die zehnte Strophe als Motto seinem Sonettenzyklus auf Friedrich Heinle voransetzte, dessen stark Stefan George verpflichtete Töne eine Mythisierung, ja eine Apotheose des Toten mit homoerotischen Zügen verbinden (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VII .1, Frankfurt/Main 1991, 27). Beides lässt sich mit der damals herrschenden Jesus-Version ohne weiteres vereinbaren, die ich daher auch bei Benjamin für die wahrscheinliche halte.

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der Bibel auf eine homoerotische Beziehung zwischen Jesus und Johannes schließen, hielten Johannes für einen besonders schönen ›Jüngling‹ – das tat bereits die große und lange Tradition der christlichen Ikonographie, wobei insbesondere diejenige des Abendmahls und diejenige der Kreuzigung eine Rolle spielen, bei der Johannes mit Maria unter dem Kreuz steht. Das tat ferner insbesondere Klopstock im Messias, der poetischen Para-Bibel gebildeter Protestanten und des jungen Hölderlin14. Johannes ist dort der »schönste« und »zärtlichste« Jünger mit stark androgynen Zügen, der nicht bloß von Jesus, sondern von allen Engeln, insbesondere dem einen seiner zwei Schutzengel, Salem, schwärmerisch geliebt und von ihm schon vor seiner Schöpfung mit der folgenden Arie angesungen wird: Du bist schön und zärtlich, wie Salem, wie Raphael, himmlisch Und erhaben. […] Und dein menschliches Herz, dein Herz voll Innigkeit fließet Über von süßem Gefühl […]. Tochter des göttlichen Hauchs, vertraulichste Schwester der Seele, Die einst Adam in ihrer unschuldigen Jugend beseelte, Komm; wir führen dich jetzt zu deinem Genossen, dem Leibe, Den die Natur schön bildet, damit sein Lächeln, o Seele, Schatten deiner Himmelsgestalt im Antlitze zeige. Ja, er wird schön, und deinem Leibe, du Göttliche, gleich seyn, Den nun bald der ewige Gott zu dem schönsten der Menschen Bilden wird. (III ,  496 ff.15) Abbadona, der Teufel mit Herz, verwechselt den schlafenden Johannes sogar wegen seiner Schönheit mit Jesus: Und es lag der schöne Johannes in lächelndem Schlummer Nahe vor ihm, er sah ihn, und trat mit zitterndem Fuße Fürchtend zurück. Kaum wagt’ er zuletzt still also zu sagen: […] Ja, du bist es! Dich hab’ ich gesucht! (IV, 509 ff.) Wenn die Schönheit des Johannes also auch bei Klopstock gebührend gefeiert wird, so ist bereits hier zu vermerken, dass Hölderlin alle übrigen Auffassungen und Tonlagen Klopstocks im Messias offensichtlich höchst bewusst ›verworfen‹ hat. Nichts vom üppigen Ausphantasieren des transzendenten Bereichs mit seinen Engeln und Teufeln, nichts von Sünde und Schuld, Gnade und Wunder, 14 Meine Frau empfahl mir, im Messias nachzuschauen, den ich vor circa 30 Jahren zuletzt in der Hand hatte! 15 Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe, Hist.-krit. Ausgabe, Abt. A, Bd. IV, 1 (Der Messias), Berlin u. New York 1974, 58.

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vor allem aber nichts von jener Opfermystik, für die das Bluten des Messias am Kreuz qualitativ und quantitativ zum Höhepunkt eines Epos werden kann. Diese deutliche Distanzierung Hölderlins von Klopstock ist umso symptomatischer, wenn man daran denkt, dass Patmos für den Landgrafen von Homburg als ›Ersatz‹ für jenes erbetene Gedicht Klopstocks entstand, das dieser sich zu schreiben außerstande gesehen hatte16. Wir wissen, wie sehr der Hölderlin nach 1800 um eine Kompatibilisierung des Christentums mit der hellenischen Schönheitsreligion »gerungen« hat, um einen Germanistenausdruck zu verwenden. Wir werden auch darauf zurückkommen. Dabei bestand ganz sicher eines der größten Probleme für Hölderlin in der kaum bestreitbaren Tatsache, dass jedenfalls die kirchlichen Versionen des Christentums nicht bloß keine Schönheitsreligionen, sondern eher das Gegenteil zu sein schienen. Sollte Hölderlin nun im Christentum nach Anknüpfungspunkten für das Konzept der ›Schönheit‹ gesucht haben, so könnte er am ehesten bei dem schönen Lieblingsjünger fündig geworden sein. An wem »hieng« im Christentum »am meisten die Schönheit«? Mit welcher Figur des christlichen Mythos lassen sich am ehesten schönheitsreligiöse Konnotate verbinden? Für Hölderlin offenbar (abgesehen von der Jungfrau-Mutter Maria17) mit dem schönen Johannes. Und das nicht nur wegen der Tradition, sondern – für Hölderlin sicherlich besonders wichtig – wegen der »schönen« griechischen Sprache des Johannesevangeliums. Hölderlin war außer ins Deutsche in einige weitere Sprachen wegen ihrer Schönheit geradezu erotisch verliebt, und zwar an erster Stelle ins Altgriechische, an zweiter in das Französische Jean-Jacques Rousseaus, und vermutlich außerdem noch ins Italienische. Wer wie Hölderlin und seine Tübinger Freunde so sehr das Griechische Platons, Plutarchs, des Sophokles und des Pindar liebte, der musste vom Griechischen des Neuen Testaments, das sich zum klassischen Griechisch etwa wie das in der Zweiten, Dritten und nichtanglophonen Ersten Welt gesprochene Basic-Umgangsenglisch zum Englischen Shakespeares verhält, eher enttäuscht sein. Mit einer Ausnahme: Im Johannesevangelium herrscht ein anderes Griechisch, das über seine Verwandtschaft mit gnostischen Diskursen als indirekt, wenn auch sicher nur schwach mit dem Griechischen der klassischen Philosophie verwandt gelten kann. Jedenfalls wollten die innerlich völlig heterodoxen jungen Theologen des Tübinger Stifts der 1790er Jahre das gerne so sehen – und sicher wiederum allen voran Hölderlin.

16 S. dazu Werner Kirchner, »Hölderlins Patmos-Hymne. Dem Landgrafen von Homburg überreichte Handschrift«, in: ders., Hölderlin. Aufsätze zu seiner Homburger Zeit, Göttingen 1967, 57–68. 17 Vgl. dazu Link, »Hölderlins Hymnen-Konzept«. Neben Johannes war für Hölderlin auch die Madonna eine christliche Figur, an der »die Schönheit hieng« (ebenfalls gestützt durch die Ikonographie). An Susette Gontard bewunderte er den »Madonnenkopf«, und auch in den frühen Entwürfen zum Hyperion ist der Held fasziniert vom Ikonenbild der »Panagia«.

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Ich muss nun allerdings auch noch nachweisen, dass mein Lektürevorschlag mit dem weiteren Text der Strophe kompatibel ist. Der »Halbgott« in Zeile 11 ist eindeutig Jesus. Das ergibt sich nicht nur aus Parallelstellen, sondern auch aus der Logik der hölderlinschen entmythologisierten Götterbegriffe. Hölderlins »Götter«, als »die Himmlischen« in Zeile 4 unserer Strophe präsent, sind die unbewussten, gleichzeitig elementaren wie generativen Kräfte der Natur. Sie entsprechen dem »Nicht-Ich« Fichtes, weil sie nicht ›Ich‹ sagen. Deshalb vergleicht Hölderlin sie mit dem »schlafenden Säugling«, dem der »Geist«, »Keusch bewahrt / In bescheidener Knospe/[,] Blühet ewig«, d. h. niemals zum Ich-Sagen aufgeht. Deshalb heißt es von ihnen in der Rheinhymne: Denn weil Die Seeligsten nichts fühlen von selbst, Muß wohl, wenn solches zu sagen Erlaubt ist, in der Götter Nahmen Theilnehmend fühlen ein Andrer, Den brauchen sie; […]. (I , 345) Oder, wie es in dem bereits zitierten, theoretisch prinzipiellen Brief von 1801 aus Hauptwil an den Bruder heißt: »Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem Allen ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott!« (II , 898) Hölderlins »Gott« und »Götter« entsprechen also eindeutig dem fichteschen Nicht-Ich, allerdings mit einer entscheidenden Umwertung: Sie sind nicht vom Ich transzendental »gesetzt«, sondern das Ich ist umgekehrt ontologisch wie ontisch lediglich eine ihrer Evolutionen. Diese Modifikation lässt sich auch ›neo-spinozistisch‹ formulieren: Entsprechend der Formel ›Deus sive Natura‹ fallen »Gott« und »Götter« dann mit der »Natur« in eins. Wenn die Himmlischen also auf »ihn«, d. h. nach meiner Lesart auf Johannes, »gedeutet« haben – wir werden auf dieses für die Hymne zentrale Stichwort des »Deutens« noch zurückkommen –, so ist damit seine natürliche Schönheit als Produkt unbewusster, spontaner generativer Potenzen der Natur gemeint. Die »Götter« haben im Vergleich aller Jünger dadurch besonders auf Johannes »gedeutet«, dass er von allen die schönste natürlich-sinnliche Körpergestalt besaß. Ein »Halbgott« ist dann, in rationaler Analogie zum griechischen Mythos, das Kind aus der Verbindung zwischen einem »Gott« und einem Menschen. So stammte Dionysos vom Gott Zeus und dem Menschen Semele, Herakles vom gleichen Gott Zeus und dem Menschen Alkmene. Die Analogie des christlichen Mythos von der gottmenschlichen Abstammung Jesu vom Vatergott und dem Menschen Maria mit diesem Schema ist komplett. Wenn die »Götter« bei Hölderlin für nicht Ich-sagende, unbewusste, natürliche generative Kräfte stehen, so sind diese Kräfte für die »göttlichen« Elternteile der »Halbgötter« zusätzlich zu präzisieren. »Vater Zeus« bzw. auch der »Vater« Jesu, d. h. »der« Gott Hölderlins (im Singular), steht für den Gott der »Zeit« bzw. der Geschichte. Es geht dabei

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also um jene unbewussten Faktoren im Prozess der menschlichen Kultur und Geschichte, die einer »natürlichen«, für Hölderlin also »göttlichen« Spontaneität zu folgen scheinen: Das sind die spontanen as-sociierenden Bewegungen der großen Kollektive, in Hölderlins Sprache der »Völker«. Kein Kollektiv kann spontan Ich sagen. Im Gedicht Stimme des Volks werden diese unbewussten as-sociierenden Bewegungen der Kollektive als »Gottes Stimme« bezeichnet und mit den Bewegungen der Ströme, also typisch »göttlicher« Phänomene, analog gesetzt. »Halbgötter« wären dann Personen, die in ihrer einen Hälfte bewusstes, Ich-sagendes menschliches Individuum, in ihrer anderen Hälfte extrem und radikal offen zu den unbewussten, spontanen as-sociativen Dynamiken der historischen Kollektive wären. Das trifft auf Hölderlins historische »Halbgötter«, von denen es übrigens nur sehr wenige gibt, in der Moderne vielleicht nur einen, nämlich Rousseau, sämtlich zu (dazu ausf. HR , 121–153). Die mythischen »Halbgötter« Dionysos und Herakles stehen für den von Rousseau spekulativ rekonstruierten, historisch nicht exakt greifbaren Übergang vom »Natur-« zum Kulturmenschen, sind also ebenfalls halb »Natur«, d. h. »göttlich«-unbewusst-kollektiv, halb Kultur, d. h. menschlich-individuell-Ich-sagend-bewusst (dazu HR , 81–98). Der »göttliche« Vater Jesu ist, wie an vielen Stellen explizit gesagt, der »Gott der Zeit« und der Geschichte, konkret im Kairos der endenden Antike. Jesu »göttli­ che« Hälfte entspricht den kollektiven as-sociierenden Tendenzen zur Aufhebung der antiken Klassenspaltung, zur Emanzipation der Sklaven und Armen sowie zur Negation der antiken Bürgerkriege und Eroberungskriege in einem neuen Friedenszustand – seine »menschliche« Hälfte entspricht seiner empirischen, Ich-sagenden Individualität als religiöser Reformer und Prediger auf dem Berge. Die Konstellation der Bergpredigt mit dem Gegenüber und Beieinander von riesigen unbewussten Massen einerseits und Jesus als Ich-sagendem Sprecher eines unerhörten Diskurses anderseits figuriert die typische Situation des »Halbgotts«, die sich bei allen »Halbgöttern« Hölderlins ganz analog wiederfindet: Der Diskurs des besonderen, zum Socius ›offenen‹ Sprecher-Individuums durchströmt (rhythmós, wörtlich »Strom«) gleichzeitig Sprecher und Socius und produziert dabei die Einheit des Enthusiasmus zwischen beiden. Alle »Halbgötter« Hölderlins treten ferner an Umschlagspunkten zwischen Epochen auf: Dionysos und Herakles am Umschlagspunkt vom »Natur-« zum Kulturmenschen, Jesus, Agis und die Gracchen am Umschlagspunkt von der Antike zum nachantiken Europa, Rousseau (und womöglich Napoleon) am Umschlagspunkt vom aufgeklärten Europa zur erhofften kulturrevolutionären Friedensordnung des 19. Jahrhunderts. Auf den Umschlagspunkt am Ende der Antike, zur Zeit Jesu, bezieht sich die zweite Hälfte der zehnten Strophe: Wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht

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Der Höchste wendet Darob, daß nirgend ein Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß? Eigenartigerweise wird hier behauptet, dass die »Ehre« Jesu »und der Seinen« mit dem Tod des Johannes untergegangen sei, während wir doch üblicherweise umgekehrt davon ausgehen, dass zwar die Antike damals untergegangen, das Christentum aber erst aufgegangen sei. Hölderlin rechnet Jesus und Johannes aber offensichtlich zur untergehenden Antike, wie es der rätselhafte Mittelteil der Strophe nahelegt: Und wenn, ein Räthsel ewig füreinander, Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtniß, und nicht den Sand nur oder Die Weiden es hinwegnimmt und die Tempel Ergreift, […]. Bei Hölderlin verschwinden Jesus und Johannes zusammen mit den »Tempeln«, d. h. mit der hellenischen Schönheitsreligion. Die »Ehre« Jesu steht für Hölderlin nicht im Gegensatz zur griechischen Religion, sondern ist mit ihr solidarisch. Aus dieser Lektüre ergibt sich folgende Hypothese für die Konkretisierung derer, die »zusammenlebten / Im Gedächtniß«: Es wären auf der einen Seite die griechischen Schönheitsgötter und vor allem Schönheitshalbgötter, insbesondere Dionysos und Herakles, und auf der anderen Seite der christliche Halbgott Jesus und (möglicherweise als dessen »Ehre«) sein schöner Liebling Johannes. Beide Teile, der griechische wie der »syrische«, wie Hölderlin Jesus einordnet, waren seit dem Tod des Johannes verstorben und lebten nur mehr im Gedächtnis, in der Mnemosyne, dem einzigen realen Ort des Fortlebens, den Hölderlin kennt. In diesem kulturellen Gedächtnis, konkret-historisch dem europäischen oder, wie Hölderlin gern sagt, dem »hesperischen«, existierten beide Teile aber als inkompatibel und antagonistisch: Den kirchlichen Christen galten die griechischen Schönheitsgötter als Teufel, wie es noch bei Eichendorff und auch in der dogmatisch-christlichen Hölderlinforschung, etwa bei Eduard Lachmann, als ausgemacht gilt, und umgekehrt galt den Anhängern einer radikalen Renaissance oder Neorenaissance, wie etwa Goethe, das Christentum als Kult der Folter oder schlicht der Hässlichkeit. Gegen diese Inkompatibilität schreiben Hölderlins Hymnen an – sie möchten einen Diskurs schaffen, der die wechselseitige ›Fassbarkeit‹ der griechischen und der »syrischen« Schönheiten (Schönheiten im mehrfachen Sinne) ermöglichen soll. Gleichzeitig müssen sie konstatieren, dass mit dem Tod des Johannes die Chance eines »griechischen«, eines »schönen« Christentums erlosch, dass die kirchliche Tradition die »Ehre« des

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»Halbgotts« Jesus austilgte, indem sie die dualistische Leibfeindlichkeit als seine Botschaft verkündete, so dass schließlich »nirgend ein / Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist oder / Auf grüner Erde […]«, d. h. Sterne und Erde zunächst vom Christentum für bloß materiell und ungöttlich erklärt wurden, bevor der Mainstream der modernen Aufklärung diese Entgötterung der sinnlichen Welt noch weiter radikalisierte. Diese Lektüre der zehnten Strophe beseitigt m. E. nun nicht nur die Ungereimtheit eines nochmaligen Todes des schon toten Jesus, sondern erlaubt auch, den Titel »Patmos« und die um diesen Titel konstellierte Gesamtkonzeption der Hymne als transparent und plausibel zu begreifen: Der Dichter wird von seinem »Genius« eben nicht nach Jerusalem und nicht nach Palästina, sondern ins griechische Patmos entführt. Verglichen mit der »herrlich« ›wohnenden‹ Insel Zypern, der Insel der Aphrodite, erscheint Patmos zwar als »ärmeres Haus«, gehört aber dennoch zum schönen griechischen Archipelagus. Insofern repräsentiert bereits dieser Ort einen Verknüpfungspunkt zwischen griechischer Schönheit und jesuanisch-johanneischer »Armut«, die in Hölderlins Sicht aber gerade nicht als »hässlich« aufgefasst werden darf. Vielmehr sind Jesus und Johannes in dieser Sicht am Ende des antiken »Tages«, d. h. Kulturzyklus, zur ursprünglich »orientalischen«, d. h. aber »dionysischen« Natur Griechenlands zurückgekehrt, wozu sie als gräzisierte »Syrer« besondere Dispositionen besaßen: denn Es liebte der Gewittertragende die Einfalt Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau, Da, beim Geheimnisse des Weinstoks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals […]18. Hier wird die Liebe zwischen Jesus und Johannes sowie zwischen Jesus und allen Jüngern ganz als dionysische, dem »Geheimnisse des Weinstoks« verwandte Liebe dargestellt. Schon Wolfgang Binder hat die radikale Selektivität und Umfunktionierung gebührend betont, mit der Hölderlin die Kerngeschichte des christlichen Mythos zwischen Abendmahl und Himmelfahrt evoziert. So fehlen vor allem gänzlich die beiden wichtigsten Mytheme, Kreuzigung und Auferstehung, in der abbreviierten Narration19. (Lediglich das Motiv der Auferweckung der Toten wird in Strophe 13 in völlig ›verschobener‹ Umdeutung als Potenz des »Gesangs«, also

18 Vgl. dazu übrigens die folgende Formulierung aus Klopstocks Messias: »Er [Johannes, J. L.] wandte sich um und erblickte / In des Messias ruhigen Augen die Spuren der Gottheit!« (IV, 1177 f., a. a. O., 96). 19 Binder, »Hölderlins Patmos-Hymne«, bes. 93.

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der Hymne selbst, realisiert.) Darüber hinaus lässt sich Hölderlins Evokation in präzisem Sinne als entmythologisierend avant la lettre charakterisieren: So wird statt der Auferstehung eine Vision der Jünger formuliert, deren Zeitpunkt (»noch zulezt«) absichtlich uneindeutig gehalten ist: Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blikte, Den Freudigsten die Freunde noch zulezt […]. Dieses »zulezt« kann sich auch auf einen Zeitpunkt vor dem Tod, also beim Abendmahl, beziehen. Hier stellt kein »alsdenn« eine eindeutige Reihenfolge fest. Noch deutlicher wird der Mythos von der Auferstehung in den dann folgenden Versen psychologisch als wunscherfüllende Halluzination der Jünger erklärt, der allerdings ganz real das im »Gedächtnis« tatsächlich mit größter Intensität fortlebende »Bild« Jesu zugrunde liegt: […] aber sie liebten unter der Sonne Das Leben und lassen wollten sie nicht Vom Angesichte des Herrn Und der Heimath. Eingetrieben war Wie Feuer im Eisen, das, und ihnen gieng Zur Seite der Schatte des Lieben. Das ist keine Entmythologisierung à la Reimarus, die den Jüngern einen Machtkalkül und eine bewusste Täuschung unterstellt. Entscheidend ist, wie häufig bei Hölderlin, die naturwissenschaftliche Symbolik des ins Eisen »eingetriebenen« Feuers. Bekanntlich stritt die damalige Chemie noch über die Verbrennungsvorgänge, und Lavoisiers richtige Lösung hatte sich noch nicht allgemein durchgesetzt. Offenbar geht Hölderlin von einem etwa von Priestley vertretenen Modell aus, dem zufolge bei der Eisenschmelze Feuerstoff (Phlogiston) eine stabile Verbindung mit dem Metall eingeht. Genauso stabil sei das »Angesicht des Herrn« in das Bewusstsein und das Unbewusste der Jünger eingelötet gewesen: »und ihnen gieng / Zur Seite der Schatte des Lieben« – das soll vermutlich gelesen werden: ›und so war es kein Wunder, dass ihnen gieng zur Seite der Schatte des Lieben‹. »Schatten« ist sowohl die homerische Vorstellung eines prekären Weiterlebens der Toten wie eine Konnotation des Schattenrisses, der Silhouette, die um 1800 den wichtigsten Vorläufer unserer Fotos der toten Lieben bildete. Hölderlins Diskurs ist also auf ganz unpolemische, man ist geradezu versucht zu sagen: auf taktvoll-zarte Weise entmythologisierend. Auf die gleiche Weise werden auch die Mytheme des Pfingstereignisses und der Himmelfahrt möglichst unprovokativ entmythologisiert. Das konnte der fromme Landgraf von Homburg, dem Hölderlin die ausgearbeitete Fassung der Hymne widmete, auf seine Weise und das können noch heutige fromme Germanisten auf ihre Weise lesen. Oder, wie Hyperion in der Athenrede formuliert:

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Religion ist Liebe der Schönheit. Der Weise liebt sie selbst, die Unendliche, die Allumfassende; das Volk liebt ihre Kinder, die Götter, die in mannigfaltigen Gestalten ihm erscheinen. (I , 683) Hier ist der doppelt, sowohl direkt wie indirekt-mythologisch lesbare Kode der Hymnen bereits mit aller wünschenswerten Klarheit auf den Begriff gebracht. Vor allem aber liest Hölderlin nun aber auch Johannes selbst, und zwar sowohl die traditionell mit diesem Namen verbundenen Texte wie die Legenden, in zum bisher Gesagten analoger Weise sowohl radikal selektiv wie umfunktionierend wie entmythologisierend. Der Mainstream der deutschen germanistischen Hölderlinforschung, der seine Perspektive vor allem aus der Hypothese eines säkularisierten Pietismus gewinnt, stützt seine Deutung der späten Hymnen als Visionen eines angeblich von Bengel und Oetinger inspirierten säkularisierten »Chiliasmus« vor allem auf Patmos20. Nach der Legende war Patmos nämlich nicht bloß mit der Verbannung des Johannes verbunden, sondern vor allem mit der Entstehung der ebenfalls ihm zugeschriebenen Apokalypse, der bekannten furchterregenden, grausamen und blutigen Vision des Weltuntergangs. Es ist erstaunlich zu sehen, wie viele Germanisten in Hölderlins Patmos ganz selbstverständlich eine Evokation der Apokalypse erblicken. Demgegenüber gehe ich davon aus, dass der springende Punkt genau umgekehrt darin liegt, dass die Apokalypse, genau wie der Kreuzestod und die Auferstehung, in der Hymne offenbar bewusst ausgespart und umgangen wird. Der Komplex der Apokalypse ist bei Hölderlin auf das Motiv des »Sehers«21 Johannes reduziert (Strophe 5), aber nirgends werden die blutigen und rachsüchtigen, im Sinne Nietzsches typisch »ressentiment«-geladenen Visionen evoziert oder auch bloß konnotiert. Der »Seher« Johannes ist vielmehr ausschließlich der, der »beim Geheimnisse des Weinstoks […] sahe« (mit der akzentuierenden alten Form) »Das Angesicht des Gottes genau«. Üblicherweise wird diese Form als lediglich evozierend-narrativ gelesen, m. E. ist sie allerdings emphatisch und doppeldeutig gesagt: Die anderen

20 Exemplarisch Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, 193 ff. sowie DKV   I , 973. Schmidts Interpretationen der sogenannten Christus-Hymnen sind darüber hinaus exemplarisch für sein auf die »Synkretismus«-These gestütztes Verfahren. Während er die monistische Immanenz in aller wünschenswerten Deutlichkeit betont (DKV   I , 938), stützt er sich gleichzeitig weiter auf die Pietismusthese, neben die er eine neue Idealismusthese setzt. In der Hymne Der Einzige nähmen die drei Halbgötter Dionysos, Herakles und Christus eine »Zwischenstellung und zugleich Spannung zwischen ›Weltlichem‹ und ›Geistigem‹, zwischen Realem und Idealem« ein (DKV  I , 936). Die beiden Begriffspaare sind jedoch keineswegs identisch. Auf das zweite baut Schmidt dann seine These einer zu Hegel parallelen »Bewußtseinsphilosophie« in Hölderlins Hymnen. 21 Dazu Lefebvre, »Les yeux de Hölderlin«. Lefebvre entwickelt mit erstaunlicher Beobachtungsgabe das paradoxe Konzept eines »rationalen Prophetismus« bei Hölderlin, das sich auf eine Kombination von ›äußerem‹ und ›innerem‹ Sehen gründet.

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Jünger und Evangelisten und mehr noch die späteren Kirchenväter, Päpste und Pietisten haben eben das wahre »Angesicht des Gottes« im Angesicht des Halbgotts Jesus nicht »genau« gesehen und waren deshalb keine »Seher«. Wohl aber wagt es der Sprecher der Hymne selbst, sich in diesem Punkt mit dem »Seher« Johannes zu vergleichen: Zwar Eisen träget der Schacht, Und glühende Harze der Ätna, So hätt’ ich Reichtum, Ein Bild zu bilden, und ähnlich Zu schaun, wie er gewesen, den Christ (Strophe 11) […]. Im Zorne sichtbar sah’ ich einmal Des Himmels Herrn, nicht, daß ich seyn sollt etwas, sondern Zu lernen. (Strophe 12) Hier hat man wegen des Terminus »Zorn« zu Recht einen Anklang an das Motiv der Apokalypse erblickt, aber eine genauere Lektüre belegt umso mehr meine These der Umfunktionierung. Es geht nicht um endzeitliche Massaker und Strafgerichte über »Hurerei« und andere Sünden der Menschen, sondern höchstwahrscheinlich um die Vision eines Gewitters, eine gewaltige und gewaltsame, aber umso schönere Entladung akkumulierten »Äthers« und akkumulierter Elektrizität, »Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern«, d. h. auch in Form des die Kollektive durchströmenden akkumulierten Nerven-Äthers des revolutionären Enthusiasmus – es geht um »Schönheit apocalyptica«, wie eine rätselhafte Formel im hymnischen Entwurf Kolomb des Homburger Foliohefts lautet: »Das bist du ganz in deiner Schönheit apocalyptica«. Im Kontext geht es um die Entdeckung »Der schönen Inseln« (I , 429). Möglicherweise ist damit die nackte (ent-hüllte, »gymnastische«) Schönheit des »indischen« Naturmenschen gemeint, zu der der »Inder« Dionysos dieser Interpretation zufolge zurückgekehrt wäre, bevor die griechische Synthese die schöne Nacktheit des olympischen Sports schuf – mit der Musik der dionysischen pindarischen Hymnen, die Hölderlin wiedererwecken wollte. Die johanneisch konnotierte »Schönheit apocalyptica« wäre dann die Vision der »orientalischen«, dionysischen Basiskomponente der griechischen Kultur, wäre ihre kollektiv-enthusiastische, ja orgiastische Schönheit, die den »Zorn« nicht wie die von Nietzsche später als »apollinisch« bezeichnete Komponente weitestgehend verdrängt. Die Vision eines »johanneischgriechischen« Christentums durch Hölderlin in der Patmos-Hymne würde so eine ›Rückkehr der griechischen Kultur und Schönheitsreligion zu ihrer orientalisch-dionysischen Natur‹ meinen. Diese Vision Hölderlins, die im Widerspruch zu Nietzsche die Tendenz zu einem griechisch-dionysischen Christentum als Schönheitsreligion aufspüren zu können meint, kann sich lediglich auf prekäre Motive des ersten Jahrhunderts und auf die schöne Sprache des vierten Evan-

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geliums stützen. Hölderlin leugnet nicht, dass diese Tendenz mit dem Tod des Johannes abbrach. Wenn er es unternimmt, sie hymnisch zu reformulieren, so zweifellos mit dem Ziel, diese keimhafte Tendenz in den kulturrevolutionären Prozess der Herausbildung einer »neuen Religion« einzubringen  – verfremdend gesagt eines neuen as-sociationskräftigen kulturellen Interdiskurses um 1800 aus spinozistischen, transzendentalistischen, rousseauistischen und aufgeklärt-naturwissenschaftlichen Prämissen. Die entscheidende elfte Strophe, die sich direkt an die typischerweise »exzentrisch« platzierte Makrozäsur nach zwei Dritteln der Hymne anschließt, entwirft ein nicht-teleologisches natur- und kulturhistorisches Evolutionsmodell, wie es ansonsten erst nach Darwin, etwa bei Nietzsche, denkmöglich werden sollte: Wenn aber stirbt alsdenn An dem am meisten Die Schönheit hieng, […] […] was ist diß? Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Waizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne, Ihm fällt die Schaale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht ein Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern, Nicht alles will der Höchste zumal. Die »exzentrische« Makrozäsur der Hymne liegt zwischen der Katechismusfrage »was ist diß?« und der Antwort, nach der Deus sive Natura nicht bloß die organischen Keime, sondern auch die Buchstaben als Keime des Sinns, d. h. des subjektbildenden Diskurses, nach einem Verfahren von Variation und Selektion aussät. So wie nach Buffon die organischen »Keime« sich reproduzieren, während die »lebendigen Moleküle« der Organismen sich nach dem Tod in die übrige Materie zerstreuen, um später von neuen »Keimen« erneut eingesaugt und assimiliert zu werden, so stellt sich Hölderlin die Buchstaben »heiliger Schriften« vor. Sie können ganz verloren gehen oder mit anderen Buchstaben so heillos vermischt werden, dass ihr Sinn praktisch nicht mehr lesbar ist. Aber sie können auch Glück haben und wiederentdeckt werden – so wie in der Hymne Patmos die wenigen den dionysischen Jesus signalisierenden Buchstaben des Johannes. »Denn noch lebt Christus« (Strophe 14) würde also bedeuten: in den Buchstaben des Johannes – und unter der Bedingung, dass der Hymnensänger Hölderlin ihn in »deutschem Gesang« (bitte hören Sie das Wortspiel von »deutsch« und

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»deuten« mit) »gut deutet/deutschet«, d. h., wie ich hoffentlich zeigen konnte, in Unterstützung des unbewusst selegierenden Deus sive Natura bewusst selegiert und kulturrevolutionär umfunktioniert, ›um-deutet‹ und ›ver-deutscht‹: der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang. Vielleicht das wichtigste Leitmotiv der Hymne ist also die glückliche Selektion, die richtige Auswahl aus einer Vielzahl von Möglichkeiten. Hier am Schluss erscheint diese gute Auswahl als gute Deutung, d. h. als Auswahl aus einer Vielzahl möglicher Bedeutungen. Wiederum erklingt dabei wie in Strophe 10 das Leitmotiv der Selektion »am meisten«. Damit wird die Leistung der Hymne selbst auf den Begriff gebracht: Auch diese Leistung besteht in einer Selektion. Unter allen Jüngern wird Johannes ausgewählt, weil an ihm »am meisten / Die Schönheit hieng […] / […] und die Himmlischen gedeutet / Auf ihn […]«. Schon die natürliche Selektion, die bei Hölderlin eben mit der »göttlichen« identisch ist, wird mit dem Terminus »deuten« bezeichnet – schon die Götter »deuten«, und zwar einfach durch die Produktion großer Schönheit. Diese Selektion hängt nun m. E. mit einer weiteren zusammen, die sich gegen ein Christentum als Religion der Folter richtet. Nach der Legende (z. B. nach Irenäus und Hieronymus) starb Johannes als einziger Jünger etwa hundertjährig eines natürlichen Todes. Sind also alle anderen Jünger Jesus ins Martyrium gefolgt, soll dieser seinem schönen Liebling die Folter erspart haben (es gibt sogar Legenden von einer leiblichen Aufnahme in den Himmel wie bei Maria). Schon Jesus hatte also Johannes auserwählt, selegiert. Mittels einer umfunktionierenden Auswahl des Johannes aus den übrigen Jüngern und der »griechischen« Episoden und Diskurselemente des Johannes aus den übrigen Elementen schaut Hölderlins ›Seherblick‹ den ver­ lorenen Keim eines Christentums ohne Kreuz (bzw. mit radikal umgedeutetem Kreuz22), den es um 1800 auszuwählen und in eine neue, neospinozistische und neorousseauistische »Volksreligion« des Friedens einzubringen gelte, deren gesellschaftliche und staatliche Basis vom historischen Kompromiss zwischen dem revolutionären, »bona-parteschen« (»Buona-Parte« = »guter Teil«; dazu

22 In den späteren Umarbeitungen, auf die ich hier nicht eingehen kann, versuchte Hölderlin offensichtlich (mit weniger Rücksicht auf einen frommen Landgrafen) in noch gewagterer Weise noch ›schwierigere‹ Mytheme zu entmythologisieren – darunter sogar die Kreuzespassion: »Johannes. Christus. Diesen, ein / Lastträger möchte ich singen, gleich dem Herkules […]« (I , 465) – das heißt wohl: ›Ich möchte das Kreuztragen als ein Mythem von der Art der herakleischen Arbeiten betrachten.‹

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HR , 135–154) Frankreich und einem reformierten Italien und Deutschland erhofft wird23. Wenn ich von Auswahl und seinem lateinischen Begriff Selektion gesprochen habe, so kann ich nicht als dritten im Bunde den griechischen Begriff der »haíresis« übergehen. Auch haíresis, Häresie, heißt wörtlich »Auswahl« und »Selektion«, und die kirchlichen Ketzerverfolger hatten ihre Gegner der »Auswahl« aus den heiligen Schriften und Dogmen beschuldigt. Dagegen scheint Hölderlin zu sagen: Schönheit entsteht immer und einzig und allein durch »haíresis«, durch »Häresie«. Deus sive Natura ist in seiner spinozistischen an­ drogynen Doppeldefinition selbst Häretiker, insofern er oder sie durch Auswahl aus dem Hen kai Pân schöne Gestalten hervorbringt. Das Vehikel dieser unerhörten Umdeutung und Umwertung ist der unerhörte Klang- und Bildrhythmus der neopindarischen Hymne Hölderlins. Unerhört, d. h. niemals zuvor gehört, setzt er mit der rätselhaften Eingangsstrophe ein, auf die aufgrund unserer Überlegungen nun ebenfalls womöglich ein klärendes Licht fällt:

Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brüken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, O Fittige gieb uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. So sprach ich […].

23 HR , ebd.  – Jean-Pierre Lefebvre hat auf den für Hölderlins Bemühungen um einen ›Kompromiss‹ zwischen dem Christentum und anderen Auffassungen von »Gott« und »Göttern« entscheidenden historischen Kontext des Konkordats zwischen dem Ersten Konsul der Republik und dem Papst hingewiesen, das während Hölderlins Aufenthalt in Frankreich überall als Volksfest gefeiert wurde (»Les yeux de Hölderlin«, 431 ff.). Hölderlin dürfte dieses Ereignis als eine Art Auftrag aufgefasst haben, eine tragfähigere Synthese zwischen Christentum, Griechentum und modernen, aufgeklärten ›Religionen‹ (Spinozismus, Rousseauismus) herzustellen, als es der bloße Machtkompromiss und die bloße Restauration zu sein schien.

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Der Gott Hölderlins (im Singular) ist das Medium des Hen kai Pân, materiell »Äther« und als Bewusstseinseffekt Weltgeist. Der Äther als das subtilste, so gut wie gewichtlose Fluidum und insofern auch als Ingrediens der Fluida der Nerven und des Gehirns ist an jedem Punkt der Welt nah, aber schwer zu fassen, im Sinne von einzufassen, festzuhalten in organischen Bildungen, Nervenröhren und Gehirnwindungen sowie deren Produkten: Sprachgestalten, Buchstaben, also Schriften und Diskursen. Alle »Ge-fäße« im Sinne von Organismen24 und Diskursen sind labil, so dass Äther und Sinn in jedem Augenblick zur Wiederzerstreuung tendieren: Doch furchtbar ist, wie da und dort Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott. (Strophe 9) Das bezieht sich auf die Jünger und auf das Scheitern eines johanneisch-»griechi­ schen« Christentums. Hölderlins Hymne möchte »Ge-fäß« sein, das den zerstreuten Sinn erneut sammelt und so den Gott buchstäblich »fasst«, zusammenfasst. Sicher haben Sie das Motiv aus unserer Strophe 10, nach meiner Deutung der Johannes-Strophe, wiedererkannt: und wenn, ein Räthsel ewig füreinander, Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtniß […]. Ich hatte das »sie« konkret als griechische Schönheitsreligion und Christentum gedeutet, denen das gleiche göttliche Medium (Deus sive Natura) gemeinsam sei, doch ohne gemeinsame »Fassung«, also Diskursgestalt. Wir sehen nun, dass das gleiche Motiv bereits in der Eingangsstrophe exponiert ist im Bild der »Liebsten«, die »Nah wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen«. Man stelle sich spitze Alpengipfel vor, nah in der Luftlinie und dennoch schroff getrennt durch die Täler zwischen ihnen. Die »Liebsten« sind auch hier die scheinbar antagonistischen Elemente der kulturrevolutionären »Volksreligion« Hölderlins: Griechentum, »orientalisch«-dionysisches Christentum, Spinozismus und Rousseauismus, politisch Frankreich, Italien und Deutschland. Die Bitte um »Fittige«, um, getragen auf dem »göttlichen« Medium »Äther«, »hinüberzugehn und wiederzukehren«, ist also konkret der Wunsch nach einem hymnischen Rhythmus, der ›leichte‹, aber tragfähige ›Brücken‹ zwischen den scheinbar antagonistischen Diskursen zu errichten vermöchte, ist Wunsch nach einem »Inter-Diskurs« sensu stricto. Diese Bitte wird vom »Genius« erfüllt, und der große Flug der Hymne kann beginnen. Die Schönheit des Rhythmus der hölderlinschen Hymne ist das extreme Gegenteil einer einfach liedhaften Schönheit, eines »naiven Tons«, wie Hölder 24 Schon damals spricht der physiologische Diskurs von körperlichen »Gefäßen«.

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lin das nennt. Es ist die aufs höchste gespannte, nicht fiktionale, wenn Sie mir das Wortspiel erlauben, sondern friktionale Schönheit des »idealischen Tons«, einer Art vielfach synkopierten Rezitativs, eines Rubato, das dennoch in eine einzige, die ersten zehn Strophen bis zur Makrozäsur umfassende, sich steigernde und eskalierende Bewegung integriert ist. Gegen diesen enthusiastischen ›drive‹ sind die letzten fünf Strophen mit ihrem zögernden Tempo und ihren bis zum Grübeln gehenden Reflexionen (die ich an dieser Stelle nicht detailliert kommentieren kann, zumal mir dabei bis auf weiteres vieles dunkel bleibt) »geschützt«, wie es Hölderlins Theorie der Makrozäsur entspricht (ausf. dazu HR , 104–115). Die semantische Seite dieser rhythmischen Struktur ist der Prozess der Selektion in Variation, ist der »Dienst«, den die Hymne Deo sive Naturae leistet, zunächst in »exzentrischer Rapidität« wie ein Adler auf die Selektion des Johannes hinzielend, dann (in den letzten fünf Strophen) auf dieses »göttliche« Gesetz der Selektion explizit reflektierend und beim Namen nennend, was der hymnische Prozess als geistiger, bewusster und Ich-sagender »Dienst« an der unbewussten, »göttlichen« Natur bewirkt hat: poetisches »Deuten« als dankbares Echo auf göttliches »Deuten«  – Umdeutung und Umwertung in radikalstem, unerhörtestem Grade. Zweimal fällt in der Hymne das Stichwort »Ehre des Halbgotts« (Jesus; Strophe 10), »Ehre der Himmlischen« (Schlussstrophe 15): Zu lang, zu lang schon ist Die Ehre der Himmlischen unsichtbar. Was ist diese »Ehre der Götter«? Ihr griechisches Äquivalent heißt »Diotima« (wörtlich »Ehre des Zeus«). Ihr johanneisches Äquivalent heißt »dóxa toû theoû« (wörtlich: »Ehre des Gottes«). Indem Hölderlin beides identifiziert, definiert er – wiederum radikal umfunktionierend – die »Herrlichkeit Gottes« des Johannes als Schönheit der sinnlichen Gestalt. In einer ersten Lektüre wäre also Johannes als schöner Mensch und Autor eines schönen Diskurses (des Vierten Evangeliums) gleich der »Ehre« des »Halbgotts« Jesus. Die Hymne hat diese »Ehre«, die durch das leib- und schönheitsfeindliche, dualistische Christentum verhüllt war, als Möglichkeit eines dionysisch-griechisch-johanneischen Christus (zweite Lektüre) wieder sichtbar gemacht. Dieser »Deutung«, mit der ich Hölderlins Geschäft fortzusetzen wage, entspricht nun, wie ich meine, auch noch eine bisher ausgesparte, äußerst wichtige Formulierung der zehnten Strophe, die sich nach meiner Ansicht ja auf Johannes bezieht: Wenn aber stirbt alsdenn An dem am meisten Die Schönheit hieng, daß an der Gestalt Ein Wunder war […]. (Hervorhebung von mir, J. L.)

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Der griechische Christus

Wenn Goethe am Christentum den Kult der Folter und, wie er meinte, der Hässlichkeit ablehnte, so hatte die Aufklärung allgemein vor allem die Wundergeschichten der Bibel als »Aberglauben« kritisiert. Wie wir sahen, entmythologisiert Hölderlin diese Wundergeschichten eher en passant ohne allzu viel Lärm. Hier in der zehnten Strophe spricht er nun aber selbst von einem »Wunder«, einem Wunder allerdings, das »an der Gestalt war«: Behauptete das dogmatische Christentum, die Wahrheit einer Religion werde durch Wunder beglaubigt, so heißt Hölderlins entmythologisierte Umdeutung dieser Formel: Es ist die Schönheit der Gestalt, insbesondere der körperlichen Gestalt, die die Religion beglaubigt. Durch die Schönheit des Johannes (im mehrfachen Sinne) ist ein Teil des Christentums als authentisch beglaubigt. So wird der schöne Jünger, den Jesus sterbend als Sohn seiner Mutter Maria, also als seinen überlebenden Vertreter einsetzte25, den seine Liebe also noch im Tode wiederum – und Hölderlin liest: wegen seiner Schönheit  – auswählte, selegierte, bei Hölderlin gleichzeitig zu einem Bruder der Diotima. Noch einmal: »Und es neigen die Weisen / Oft am Ende zu Schönem sich« – welche Umfunktionierung der Kreuzigungsszene!

25 Möglicherweise durchaus in Konkurrenz zu und als Alternative zur Einsetzung des Petrus, der die Amtskirche symbolisiert, zu lesen.

5. Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie

Rousseau gehört zu den äußerst seltenen Persönlichkeiten, die nicht nur zu Lebzeiten im Zentrum schärfster Kontroversen standen, sondern die noch nach einem Vierteljahrtausend höchst ernsthafte Polemiken auszulösen vermögen. Obwohl man ihm zugutehalten könnte, dass er als Erster mit großem öffentlichen Echo die Notwendigkeit einer »ökologischen Wende« gesehen und propagiert habe, scheint ihn das eher zusätzlich zu belasten, weil auch diese Tendenz untrennbar zu sein scheint von dem Vorwurf, Mastermind des modernen »Totalitarismus« zu sein. Man hängt ihm dieses Etikett an, weil er zwar durchaus als einer der Vordenker der modernen Demokratie gilt, allerdings in einer strikt direkten und plenardemokratischen Spielart als Alternative zum repräsentativen Parlamentarismus. Das Modell zu diesem Konzept stammte aus dem antiken Griechenland: Es war die direkte Plenardemokratie der Polisgesellschaften. Dieses rousseauistische Modell führt heute zu so bizarren Erscheinungen wie dem Umstand, dass die italienische Bewegung Cinque Stelle ihre Diskussionsplattform im Internet »Rousseau« nennen zu müssen glaubte. Vor allem aber beriefen sich die radikalen Jakobiner der Ersten französischen Republik auf Rousseau und versuchten teilweise, sogar die terreur mit seiner Theorie der volonté générale zu legitimieren. Das Modell einer ›Volldemokratie‹  – also einer Demokratie, die auf Vollversammlungen basiert und nicht parlamentarisch gebremst ist – geht auf den Contrat social zurück, während die erste große Kontroverse von seinen zuvor erschienenen zwei Discours provoziert wurde, deren Quintessenz man auf die Formel »Zurück zur Natur« bzw. »Rückkehr zur Natur« (retour à la nature) brachte. Diese Formel begegnet zwar nicht wörtlich in den Discours, sie schien aber der Tendenz nach die negative Antwort auf die Frage des Ersten Discours zu resümieren, ob nämlich »die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Reinigung der Sitten beigetragen hat«1. Rousseaus negative Antwort exakt in der Mitte des Jahrhunderts der Aufklärung (1750) wirkte nicht nur sensationell und »paradox«, wie es hieß, sondern spaltete ihr Publikum antagonistisch. Während Voltaire, Palissot und die Enzyklopädisten mit den Waffen der Ironie den Fortschritt durch aufgeklärte Wissenschaften und Technik verteidigten, wurde die Formel auf der Gegenseite zum Schlagwort insbesondere jugendlicher



1 Preisfrage der Académie de Dijon des Jahres 1749.

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie

Generationen wie des Sturm und Drang und der 1789er-Generation der um 1770 Geborenen, zu der Hölderlin gehörte. Die Gegner ironisierten die Formel als »Zurück in den Urwald«. So schrieb Voltaire in seinem Brief an Rousseau vom 30. August 1755: »[O]n n’a jamais tant employé d’esprit à vouloir nous rendre Bêtes [Tiere und dumm, J. L.]. Il prend envie de marcher a quatre pattes quand on lit votre ouvrage« (P  III , 1379). Das inspirierte Palissot zu seinem Skandalerfolgsstück Les Philosophes (1760), in dem bei einer Figur auf Rousseau angespielt wird, und vor allem zu der viel belachten Szene, in der der Diener Crispin sich als Philosoph verkleidet und auf allen vieren mit einem Kopfsalat im Maul in den Salon eintrottet. Auf der Seite der »Rousseauisten« lassen sich zwei verschiedene Strömungen unterscheiden: Die einen waren vor allem vom Émile, dem Liebesroman Julie ou a Nouvelle Héloise und von den Confessions fasziniert, der ersten Autobiographie mit dem Anspruch radikaler Authentizität, die anderen, insbesondere die Generation von 1789, identifizierten sich vor allem mit dem politischen und sozialrevolutionären Programm des Contrat social und ebenfalls mit dem Émile. Zur ersten Strömung zählten nicht wenige Frauen der Aristokratie und der reichen Bourgeoisie, die am Leitfaden des Émile die Rückkehr zur Natur des Stillens und einer ›entschulten‹ Erziehung suchten. Selbstverständlich gab es zwischen den beiden rousseauistischen Strömungen viele Interferenzen und Synthesen, gerade auch unter Schriftstellern. Hölderlin las die Hauptschriften Rousseaus im französischen Original und konnte sie teilweise aus dem Kopf zitieren. Sein Bruder war von einer tiefgehenden, die Wurzeln der Subjektivität erfassenden Identifikation überzeugt: Ich habe schon manchmal Deinen Charakter mit dem Rousseau’s verglichen, und ich glaube, Du wirst in dem Wesentlichen selbst die Ähnlichkeit zugestehn müssen, die der Deinige mit dem unseres Lieblings hat. Gerade auch die Liebe zur stillen großen Natur, zur lautersten Wahrheit und zur wahren Freiheit, die jenen großen Mann beseelte, ist auch das Eigenthümliche Deines Charakters, aber auch jene Reizbarkeit, die natürliche Folge eines für Empfindung geschaffenen Herzens, die jenem guten Mann so manche Stunde seines Lebens vergellte, ist Dein, und leider auch Dir wird sie noch manchen trüben Augenblik bereiten, und nur der Umgang mit guten biedern Menschen und der Genuß der Freuden der Natur und Kunst kann die Summe derselben verkleinern. (II , 676) Es handelt sich um einen (stets feierlich betonten) Neujahrsbrief (1.  Januar 1798), und der Bruder mag die Situation Hölderlins im Hause Gontard erraten haben, obwohl dieser sie insbesondere seiner Mutter verschweigen wollte. Der abschließende Rat, sich an »biedere« Menschen (also die »gesetzten« Menschen der Deutschenschelte) zu halten, ist nicht frei von ambivalenter Kritik. Dabei sind vor allem Eigenschaften erwähnt, die in der ersten Strömung betont wurden: Ein

Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie

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Genie mit äußerst »reizbaren« Nerven, das unter den Institutionen und Disziplinen der aufgeklärten Gesellschaft litt und zykloton zwischen hoch kreativen und depressiven Phasen schwankte. Die Formeln »Natur«, »Wahrheit« (Authentizität) und »Freiheit« durften auf der positiven Seite nicht fehlen. Hölderlins Sicht Rousseaus ist jedenfalls exemplarisch für eine synthetische Auffassung, die insbesondere auch die politische Komponente als integralen Bestandteil eines alle wichtigen individuellen und kollektiven Subjektivitäten erfassenden Gesamtkonzepts betrachtete. Dazu gehörte gerade auch das höchst »paradoxe« »griechische« Konzept einer direkten Volldemokratie, wie es bereits das ­Rousseau-Motto der frühen Hymne an die Menschheit (I , 120 ff.) belegt, das aus eben diesem Kontext entnommen ist. Im Contrat folgt Hölderlins Motto direkt auf den akzentuierten Kapitelbeginn über die Volldemokratie: Le Souverain n’ayant d’autre force que la puissance législative n’agit que par des loix, et les loix n’étant que des actes authentiques de la volonté générale, le Souverain ne sauroit agir que quand le peuple est assemblé. Le peuple ­assemblé, dira-t-on! Quelle chimere! C’est une chimere aujourd’hui, mais ce n’en étoit pas une il y a deux mille ans: Les hommes ont-ils changé de nature? (P III , 425) Jürgen Scharfschwerdt meinte, dass Rousseau die Frage nach der geänderten Natur des Menschen, die er für eine rhetorische Frage hielt, bejaht habe2. Tatsächlich muss Rousseaus Frage ernst genommen und mit Nein beantwortet werden: Was sich geändert hat, kann nicht die menschliche »Natur« sein, weil sonst die Kinder keine Naturmenschen wären, sondern bereits korrumpiert aus dem Mutterschoß kämen; was sich geändert hat, das sind die gesellschaftlichen Verhältnisse (die sich, so die implizite Konsequenz, in Zukunft nochmals ändern könnten). Wenn in Deutschland auch die ironisch-voltairianische Polemik gegen die ›Rückkehr zur Natur‹ nicht im Vordergrund stand, so wurde die Formel umso ernsthafter zurückgewiesen. Exemplarisch dafür war Fichtes originell argumentierende Polemik in der fünften Jenaer Vorlesung Über die Bestimmung des Gelehrten im Sommersemester 1794, die ganz Rousseau gewidmet war und den Titel trug: Prüfung der Rousseauischen Behauptungen über den Einfluß der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit. Obwohl Hölderlin erst zum Wintersemester 1794/95 nach Jena kam, hat er die sofort nach ihrem Abschluss gedruckte Vorlesung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelesen. Sie musste ihn zunächst in eine höchst konflikthafte Situation bringen, konnte er dort doch folgende Abkanzelung seines Lieblingsautors durch den bei



2 Scharfschwerdt, »Hölderlins ›Interpretation‹«, 413.

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der studentischen Jugend populären jungen, des »Jakobinismus« verdächtigten Philosophen lesen3: Wir könnten ihm die Frage vorlegen: was war es doch eigentlich, was Rousseau in diesem Naturstande suchte? – Er fühlte sich selbst durch mannichfaltige Bedürfnisse eingeschränkt, niedergedrückt, und  – was den gewöhnlichen Menschen freilich das kleinste Übel ist, aber einen Mann, wie er war, am bittersten drückte – er war durch diese Bedürfnisse selbst so oft von der Bahn der Rechtschaffenheit und Tugend abgeleitet worden. Lebte er im Naturstande, dachte er, so hätte er alle diese Bedürfnisse nicht und so mancher Schmerz über Nichtbefriedigung, und so mancher noch bittrer Schmerz über Befriedigung derselben durch Unehre, wäre ihm erspart worden. Er wäre vor sich selbst in Ruhe geblieben. – Er fand durch andere in allen Stellen sich gedrückt, weil er der Befriedigung ihrer Bedürfnisse im Wege stand. Die Menschheit ist nicht umsonst und vergebens böse, glaubte Rousseau und wir mit ihm: keiner von allen, die ihn beleidigten, würde ihn beleidigt haben, wenn er nicht jene Bedürfnisse gefühlt hätte. Hätte alles um ihn herum im Naturstande gelebt, so würde er vor andern in Ruhe geblieben seyn. (64) Direkt hieran anschließend weist Fichte nun Rousseau einen Selbstwiderspruch nach: Die Sehnsucht nach Ruhe ziele ja in Wirklichkeit auf Ruhe »zum Nachdenken«, also auf Kultur. Für Fichte ist die Sache damit klar: »[…] und so sind wir denn unvermerkt bei Rousseaus Fehlschlusse angekommen und können jetzt sein Paradoxon völlig und mit leichter Mühe lösen« (65). Diese Lösung des »Paradoxons« ist nun typisch für die ›deutsche‹ kritische Antwort auf Rousseau – sie ist vom »dialektischen« Typ. Sie liest die »Rückkehr zur Natur« zwar zunächst wie Voltaire als absurde ›Rückkehr vor jede Kultur‹, beschränkt sich aber nicht auf eine Affirmation der aufgeklärten Kultur, sondern ergänzt These (»Natur«) und Antithese (Kultur) durch die Synthese einer künftigen Versöhnung von beiden: Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem Namen des Naturstandes, und jene Dichter unter der Benennung des goldenen Zeitalters, hinter uns setzen. […] Rousseau vergißt, daß die Menschheit diesem Zustande nur durch Sorge, Mühe und Arbeit sich nähern kann und nähern soll. […] Nicht das Bedürfniß ist die Quelle des Lasters; es ist Antrieb zur Thätigkeit und zur Tugend; die Faulheit ist die Quelle aller Laster. (65 f.) Es folgt dann eine Verurteilung auch der »negativen Erziehung« im Émile, die in den Geruch der »Faulheit« gerät. Entscheidend bei dieser ›dialektischen‹ 3 Seitenangaben nach Johann Gottlieb Fichte, »Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten«, Gesamtausgabe, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob, Bd. I3, Stuttgart-Bad Cannstadt 1966, 1–74.

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Kritik an Rousseau ist die Ablehnung jeder Rückkehr, auch jeder partiellen Rückkehr, und das Plädoyer für ein beschleunigtes ›Weiter‹ auf der modernen Fortschrittslinie, um möglichst bald die dritte Phase, die der ›Aufhebung‹ auf höherer Stufe, zu erreichen. Hölderlin muss durch diese Polemik Fichtes gegen Rousseau in höchstem Maße verunsichert worden sein. Er hat diesen inneren Konflikt in der sogenannten metrischen Fassung des Hyperion durchgespielt, in der der junge Icherzähler des Rahmens (mit Konnotationen des Autors) zunächst exakt die fichteschen Thesen vertritt, bevor er von dem Neugriechen Hyperion (mit Konnotationen eines Rousseauisten oder sogar Rousseaus) von Fichte zu Rousseau zurückbekehrt wird. Ein Seitenaspekt dieser Kollision ist Hölderlins bekanntermaßen ambivalentes Verhältnis zu Schiller, der (wie schon vorher Kant) ebenfalls die dialektische »Korrektur« Rousseaus vertritt (in der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung). So konnte Rousseau, nachdem Hölderlin von Fichte und Schiller zu ihm ›zurückgekehrt‹ war, so etwas wie einen gemeinsamen Liebeskode für Hölderlin und Susette Gontard bilden. Die adlige Julie in Rousseaus gleichnamigem Roman liebt ihren Hofmeister, der sie verlassen muss, weil sie zwangsverheiratet wird. Sie erzieht dann ihre Kinder nach den Konzepten ihres Geliebten und holt ihn schließlich zurück in ein als platonisch konzipiertes Verhältnis, kann ihre Liebe aber nicht völlig sublimieren und stirbt einen Opfertod für ihre Kinder. Rousseaus Roman bildete also ein Reservoir vielfältiger Applikationsvorgaben für die Frankfurter Liebenden (dazu das folgende Kap. 6), ebenso wie der Émile als gemeinsames pädagogisches Brevier diente. Ein Teil der Verteidiger Rousseaus gegen die polemische Deutung des »retour à la nature« als Rückkehr in den Urwald leugnet nicht nur ein exaktes Zitat der Formel bei Rousseau, sondern darüber hinaus auch das Konzept insgesamt. Auch diese Position lässt sich allerdings nicht halten. Insbesondere im Kontext seiner Lebensreform begegnen nicht nur ganz ähnliche Formeln wie die eines »retour«, sondern erweisen sich alle Komponenten der »Reform« als Versuche, ein extrem kulturelles Leben gegen ein der »Natur« näheres einzutauschen. Paris mit seinen Salons wird verlassen und eine »Eremitage« im Wald bezogen. Im folgenden Kapitel 5.1. über die »inventive Rückkehr« werden die verschiedenen Aspekte dieses auf großen Widerspruch und viel geistreichen Spott der Enzyklopädisten stoßenden Gestus erörtert. Für Hölderlin waren besonders zwei Aspekte relevant, mit denen Rousseau sich in der griechischen Fluchtlinie zu situieren schien: Das eine war seine Selbstdefinition als »citoyen«, die dann in der Revolution millionenfach proliferieren sollte. Sie bezog sich unmittelbar auf seine Genfer Herkunft, war aber mit der Erinnerung an die altgriechische direkte Polisdemokratie historisch ›aufgeladen‹. Das andere war eben der Komplex der Eremitage im Wald, mit der ›Naturnähe‹ und ›Einfachheit‹, bei Hölderlin auch eine positiv gesehene ›Einfalt‹ verbunden

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waren. Es leuchtet nicht unbedingt ein, wieso auch dieser Komplex mit Griechenland in Zusammenhang gesehen wurde. War nicht insbesondere das alte Athen eine hochentwickelte, urbane Zivilisation? Dennoch galt selbst Athen (Rousseau bevorzugte übrigens das urtümlichere Sparta) insofern als ›naturnah‹, als man ihm eine integrale, nicht spezialistische Kultur unterstellte, typischerweise in Schillers Begriff des »Naiven«. Wichtiger noch für Hölderlin war schließlich der mit dem Rückzug in die ­Eremitage verbundene ›Eremitenstatus‹. Als ›einsamer Eremit‹ schien Rous­ seau auf radikale Weise die Grundvoraussetzung für eine Rückkehr zur Natur exploriert zu haben, nämlich den Exodus aus der modernen spezialistischen Gesellschaft. Um eine neue, der altgriechischen vergleichbare ›Natur‹-Kultur finden und erfinden zu können, schien es notwendig zu sein, noch hinter die entwickelte altgriechische Kultur zurückzugehen. Hyperion war dann, wie sich zeigte, in diesem rousseauistischen Sinne der paradigmatische »Eremit in Griechenland«.

5.1. Inventive Rückkehr zur Natur Ich habe nun, um die Lektüre Rousseaus aus der paralysierenden Alternative entweder einer kontrafaktischen Leugnung jeden Bezugs zur Problematik der »Rückkehr zur Natur« oder einer unhistorischen ›Verbesserung‹ per idealistischer Progressdialektik zu befreien, für eine dritte Möglichkeit plädiert, und zwar die einer »inventiven Rückkehr zur Natur« (»retour inventif«; dazu ausf. HR). Liest man Rousseaus einschlägige Äußerungen im Zusammenhang, so ergibt sich das gedankenexperimentelle Modell einer »Naturgeschichte der menschlichen Gattung«4  – wobei Naturgeschichte im Sinne der damaligen »Evolutions«-Lehre, etwa Buffons, zu lesen ist. Danach sind die »Keime« für alle denkbaren »Evolutionen« (»Ausfaltungen«) ubiquitär vorhanden, können sich aber jeweils nur unter bestimmten Bedingungen des »Klimas«, der »Nahrung« usw. tatsächlich ent-falten. Durch eine Fülle von Kontingenzen (Eruptionen und Erdbeben, Einbruch und Überflutung ganzer Kontinente) werden immer wieder Evolutions-Linien abgeschnitten und andere allererst ermöglicht. Dieses Modell gehört ganz deutlich zur »taxonomischen Episteme« im Sinne Foucaults – das »historizistische« Denken der dreistufigen, linear-teleologischen Progressdialektik wird ihm also nicht gerecht. Ich konnte nun zeigen, wie Rousseau von diesem Ansatz aus eine höchst originelle Geschichtsphilosophie entwickelte, die die taxonomische (und damit ahistorische) Episteme Buffons historisiert, indem sie Irreversibilitäten einführt, ohne doch »historizistisch« (linear-­teleologisch bzw.



4 Rousseau, P IV, 831.

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dialektisch) zu sein. Rousseaus mit irreversiblen Kontingenzen (den berühmten »hasards« des Zweiten Discours) denkendes Geschichtsmodell ist prinzipiell multilinear und multikulturell – und insofern heute ganz aktuell. Aber auch der Hölderlin des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts würde an dieses Modell anknüpfen und damit eine andere Richtung einschlagen als Hegel. Von diesem Ansatz aus erschließt sich der »retour« als »retour inventif«, d. h. als Gedankenexperiment eines partiellen ›Zurückgehens‹ auf einem konkreten ›Entwicklungsbaum‹ bis zu einer fatalen ›Weichenstellung‹ – allerdings nicht, um bei dieser »Regression« stehen zu bleiben, sondern um die entsprechende konkrete »Entwicklung« bei dem notwendigen erneuten ›Vorangehen‹ in eine mit ihrer »Natur«-Basis eher kompatible ›Richtung‹ umlenken zu können, die frühere fatale ›Weiche‹ also anders zu stellen. So müssen Rousseaus symbolische Experimente mit der Lebens-»Reform« verstanden werden: Wenn er sich in eine »Waldhütte« (die »Eremitage«) zurückzieht, so natürlich keineswegs, um wieder »Naturmensch« zu werden, sondern um durch das ›Zurückgehen‹ hinter modernste Entwicklungen von der Art der aufgeklärten Literaturproduktion ein anderes, mit der »Natur«-Basis kompatibleres Schreiben zu entdecken bzw. zu erfinden (inventer). Das Gleiche gilt für »Reformen« wie sein Verzicht auf Ärzte, sein Ablegen der Uhr, sein Klöppeln usw. Vor allem aber ist sein epochales pädagogisches Gedankenexperiment (der Émile, aus dem der Begriff des Inventiven entlehnt ist5) ein nicht minder komplexes Geflecht aus vielen Bahnen inventiver Rückkehr. Die Zeitgenossen bezeichneten Rousseaus Theorie vom weder definitiv-regressiv noch aber auch dialektisch-teleologisch-progressiv, sondern eben als inventiv zu verstehenden »retour« als »paradox«. Dieses Etikett war sogar eines der am häufigsten verwendeten Charakteristika Rousseaus – und insofern ist Diotimas Charakterisierung Hyperions während der Athenrede ein sehr deutlicher Hinweis: »Das ist ein paradoxer Mensch, rief Diotima, jedoch ich ahn’ ihn.« (I, 685) Obwohl Rousseau diese oder ähnliche Formeln vom »retour« nicht erfunden hatte, waren sie von da an mit seinem Namen verbunden, und die ›Rousseauisten‹ verbreiteten sie zusammen mit den dazugehörigen modischen ›Reformen‹ (wie Stillen, Verzicht auf das Wickeln, negative Erziehung, Fußwandern, ›eremitisches‹ Philosophieren, politische Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eines »citoyen« usw.). Hölderlin verwendet die Formel von der Rückkehr zur Natur teilweise fast wörtlich, teilweise paraphrastisch als strukturkonstitutives Leitmotiv sowohl im Hyperion wie im Empedokles  – er verbindet sie dadurch symbiotisch mit der einer pantheistisch gefärbten griechischen Fluchtlinie:



5 P IV, 399.

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Im Hyperion heißt es: Ja, vergiß nur, daß es Menschen giebt, darbendes, angefochtenes, tausendfach geärgertes Herz! und kehre wieder dahin, wo du ausgiengst, in die Arme der Natur, der wandellosen, stillen und schönen. (I , 614, betont im Eingangsbrief) – Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren in’s All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe […]. (Ebd., 2. Brief) Sodann die in Diotimas Abschiedsbriefen emphatisch betonte Formel: Doch wie du auch ein Ende nimmst, du kehrest zu den Göttern, kehrst ins heilge, freie, jugendliche Leben der Natur, wovon du ausgiengst, und das ist ja dein Verlangen nur und auch das meine (I , 733) o nimmt die allesversuchenden Menschen, nimmt die Flüchtlinge wieder in die Götterfamilie, nimmt in die Heimath der Natur sie auf, aus der sie entwichen! (I , 749) Im Empedokles liest man: Ich trink es euch! / Ihr alten Freundlichen! Ihr meine Götter! / Und meiner Wiederkehr, Natur! (I , 810) – [Der Mann, Empedokles,] Den Licht und Erde liebten, und der Geist / In dem sie sind, zu dem ich sterbend kehre. (I , 828) – Allduldende Natur! Du hast mich auch / Du hast mich, und es dämmert zwischen dir / Und mir die alte Liebe wieder auf. (I , 886) Da der Sturz in den Ätna im Empedokles das die gesamte Tragödie beherrschende Symbol einer mehrstimmigen Rückkehr zur Natur ist, müssen auch alle Formeln vom »Untergang«, die sich darauf beziehen, zu den entsprechenden Leitmotiven gezählt werden.

5.1.1. Phasen der frühgeschichtlichen Kulturation bei Rousseau und Hölderlin Auch eine Lektüre, die Hölderlins Griechenland ausschließlich als Altgriechenland kennt und also Neugriechenland vernachlässigt, gelangt sehr bald zur Einsicht, dass sein Altgriechenland ebenfalls fundamental abweicht vom klassizistischen Griechenlandbild. Offensichtlich ist hier die Entgrenzung des klassizistischen Bildes sowohl im kulturgeographischen wie im zeitlichen Sinne. Nietzsches Entdeckung des »orientalischen« Elements in der dionysischen Komponente der klassischen griechischen Kultur hatte einen frühen, wichtigen Anstoß in seiner Hölderlinlektüre gefunden. Diese kulturgeographische Entgrenzung war unübersehbar und zeigte sich in den Komplexen Asien, Patriarchen

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und orientalische ›Ur-Eremiten‹, wie sie exemplarisch in der Hymne Am Quell der Donau entfaltet sind: Auch eurer denken wir, ihr Thale des Kaukasos, So alt ihr seid, ihr Paradiese dort Und deiner Patriarchen und deiner Propheten, O Asia, deiner Starken, o Mutter! Die furchtlos vor den Zeichen der Welt, Und den Himmel auf Schultern und alles Schiksaal, Taglang auf Bergen gewurzelt, Zuerst es verstanden, Allein zu reden Zu Gott. Die ruhn nun. Aber wenn ihr Und diß ist zu sagen, Ihr Alten all, nicht sagtet, woher? Wir nennen dich, heiliggenöthiget, nennen, Natur! dich wir […]. (I ,  352 f.) Die Fluchtlinie nach Griechenland, die auf Rückkehr zur Natur zielt, schießt sozusagen östlich über – sowohl zum Kaukasus (wie in der Hymne Die Wanderung, s. oben Kap. 2.6.) als auch nach »Syrien«, wozu der Sinai mit Moses und den Propheten der Thora gezählt wird und wo die griechische Fluchtlinie der großen Fluchtlinie des Exodus begegnet. Doch sagten die ältesten Eremiten nicht, woher sie ihren Gott genommen hatten, sie »nannten« ihn nicht (betont zweimal) wie die griechischen Weisen: »Hen kai Pân« (Alleines) oder wie »wir« jetzt nach Spinoza und Rousseau: »Natur«. Komplexe wie »Patriarchen und Propheten« implizieren nun über die geographische Entgrenzung hinaus auch eine zeitliche: Sie greifen vor Pindar und selbst vor Homer zurück in Zeiten, die in der klassischen Kultur nur mythischopak präsent sind – in Zeiten der »Paradiese dort«, also in Phasen des ›Naturmenschen‹. Hölderlins Ausführungen über solche frühgriechischen und/oder vorgriechischen Umstände und Ereignisse wirken jedoch, etwa in den Pindar-­ Aphorismen, höchst rational und keineswegs numinabeschwörerisch mythoreligiös. Im Gegenteil ist dort von »Wissenschaft« die Rede, so dass der Autor offenbar seinem Programm aus den Sophokles-Anmerkungen folgt: »Wir müssen die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen« (II , 372) – anders gesagt: Wir müssen den Mythos entmythologisieren, wenn auch nicht in platt-aufgeklärter, sondern in »höher aufgeklärter« Weise. Zu dieser »beweisbareren« Lektüreweise der Mythen gehört die Möglichkeit einer prä- und frühgeschichtlichen Phasierung, bei der sich Hölderlin, wie ich in Hölderlin-Rousseau zeigen konnte, an Rousseau orientieren konnte. Wenn Schiller in seinem Essay Über naive und sentimentalische Dichtung sogar die klassische griechische Kultur als exemplarisch »naiv« beschrieb und dieses

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»naiv« als »Natur« definierte6, obwohl die Griechen vor, während und nach der Perikleszeit unendlich weit entfernt von ›Naturmenschen‹ waren, wie sie sich das 18. Jahrhundert etwa nach dem Modell der Bewohner von Pazifikinseln vorstellte, inwiefern konnten die klassischen Altgriechen dennoch – verglichen mit den Neugriechen und den modernen Europäern – als ›naturnah‹ betrachtet werden? Dieses Paradox erlaubte es, Rousseaus Phasierung von Frühgeschichte und Antike mittels der Figur einer inventiven Rückkehr zur Natur zu denken. Die Lektüreoption der inventiven Rückkehr ermöglicht es, in Rousseaus scheinbar so heterogenem und widersprüchlichem Œuvre, von dem sein Verfasser gleichwohl behauptete, dass »sich all seine Ideen ineinanderfügten«7, die Tiefenstruktur eines Netzes von gleichermaßen systematischen wie historischen Analogien und Querverweisen aufzudecken, das in Schema R skizziert ist. Dabei zeigt die vertikale Achse die verschiedenen relevanten Praktiken und Diskurse (Gesellschaft, Politik, Erziehung usw.), während die horizontale Achse nach Phasen der Kulturation gegliedert ist. Die vertikale Achse sei im Folgenden auch als »interdiskursiver Fächer« bezeichnet. Das Zusammenspiel beider Ach­ sen illustriert, wie die Denkfigur der inventiven Rückkehr zur Natur es ermög­ licht, trotz des irreversiblen Verlusts einer vorgängigen »Natur«-Phase an ihrer Stelle eine Kulturphase mit teilweiser Kompensation der verlorenen Natur zu erfinden. Dafür ist die Phase der altgriechischen Klassik exemplarisch, die im Schema als Kreuzung von horizontaler »Natur« und vertikaler »Politik« eingetragen ist. Mittel dieser teilweisen Kompensation verlorener »Natur« (politisch in Gestalt »natürlicher« Gleichheit) ist der egalitäre Gesellschaftsvertrag, der eine gänzlich neue, »natürlich«-kulturelle Form von Gleichheit schafft. Das geschieht durch die »législations« der mehr oder weniger demokratischen altgriechischen Polisverfassungen mit den beiden Hauptmodellen Sparta und Athen. Dabei sind die politischen Volksversammlungen eng gekoppelt mit den dionysischen Volksfesten wie auch mit den gymnastischen Festspielen. In Heinses Ardinghello ist dieser Dreiklang von Demokratie, Kunst und Nacktheit provokativ ausformuliert als eine radikal utopische Rückkehr zur Natur, die Hölderlin zweifellos fasziniert hat.

6 »Der Dichter, sagte ich, ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.« Das Paradigma des naiven Dichters ist Homer, und das Paradigma einer naiven, also »natürlichen« Kultur die altgriechische: »Sehr viel anders war es mit den alten Griechen. Bei diesen artete die Kultur nicht so weit aus, daß die Natur darüber verlassen wurde. […] ihre Götterlehre selbst war die Eingebung eines naiven Gefühls, die Geburt einer fröhlichen Einbildungskraft, nicht der grübelnden Vernunft, wie der Kirchenglaube der neuern Nationen […]« (DKV, Bd. 8, Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Dieter Janz, Frankfurt/Main 1992, Über naive und sentimentalische Dichtung, 706–810, hier 728, 726). 7 Rousseau, P III , 377.

Aspekt Erziehung, Subjektbildung (Emile)

Aspekt Politik (Contrat social)

Aspekt Gesellschaft (Discours I und II : Sprachabhandlung)

Schema R

‚Natur‘-Kultur 2

Spontaneität der Enthusiasmus der Kindheit Jugend Stillen Wälder Freie Kleidung Praxis Frugalität Handwerk wenige Bücher ‚negative‘ Erziehung Land

egalitärer Sozialvertrag Polisdemokratie volonté générale großer Gesetzgeber Modell Sparta, Modell Athen, frühes Rom spätes Rom (Frugalität) (Luxus, Parteienkämpfe, Bürgerkrieg)

‚Natur‘-Kultur 1

‚Wilde‘ ‚Barbaren‘ Jäger Hirten Singles Familien Vagabundieren Hütten Ortswechsel Müßiggang Müßiggang Promiskuität Wälder Brunnen Ströme Feste keine Arbeitsteilung kein Privateigentum

Kultur 2

‚Kultur-Kultur‘ 2

anti-kindliche Kultur Rationalimus Schulen positive Religionen Stadt/Großstadt

Großstadt (Paris, London); Industrie

feudaler Despotismus aufgeklärter Despotismus klerikaler Despotismus (Neuzeit) (Mittelalter) Herrschaft Weniger

‚Kultur-Kultur‘ 1

Arbeitsteilung Privateigentum

‚Zivilisierte‘ Nationen Bauern Staat Kampf um Besitz Städte Arbeit Handwerk Handel

Kultur 1

‚Natur‘ 1

‚Natur‘ 2

(historische) Kultur

(prä-historische) ‚Natur‘

Rückkehr aus Land Entschulung

Unterwerfung der Kultur unter Bedingungen der Verträglichkeit mit kindlicher Spontaneität usw.

(neue ‚Natur‘-Kultur? Neue ‚Revolutionen‘? ‚Rückkehr‘ der volonté générale und einer Zivilregierung?)

(Rückkehr aufs Land vs. Großstädte/ Großstaaten)

(post-historische) ‚Natur-Kultur‘? (als Resultat experimenteller, inven­ tiver ‚Rückkehr zur Natur‘

Aspekt Subjektivität (Rêveries)

Aspekt Biographie (Confessions)

spontane Liebe über Klassenschranken urtümliche Landschaft (Alpen, Seen) spontane Gefühlsexpression

Aspekt Liebe, Literatur (Julie)

Vagantenleben der Jugend

vor- und unbewußtes Gefühl

Kindheit auf dem Land

Intensität des Gefühls

Volksfeste (dionysische Tanzfeste der ‚Barbaren‘ am Brunnen)

Singende Sprache ‚Natur‘-Kultur 2 Melodie

Naturschrei ‚Natur‘-Kultur 1 griechische Musik

bewußte Ratio Schriftlichkeit Cogito

Paris Pariser Intelligenz

Ehenormen Klassenehen Großstadt galante Promiskuität Jargon-Sprache

Theater Interaktionen der Liebe und Konkurrenz Trennung Spiel/Publikum

Kirchenmusik Rameaus Harmonie Kalkül Polyphonie

‚Kultur-Kultur‘ 2

‚Kultur-Kultur‘ 1

‚Natur‘ 2

‚Natur‘ 1

Kultur Süden Norden komplex-flektierende Sprachen melodiös-rhythmisch monoton-‚geometrisch‘ (z. B. Griechisch)

‚Natur‘ 2

(historische) Kultur

gestische Sprache singende, tropische, poetische Sprache

‚Natur‘ 1

Aspekt Festlichkeiten (Lettre à d‘Alembert)

Aspekt Musik (musikalische Schriften)

Aspekt Sprache (Essai sur l’origine des langues)

(prä-historische) ‚Natur‘

im Kahn

Rückkehr zu Pflanzen

Rückkehr aufs Land Lebens-‚Reform‘

neue Sprache der Gefühlsintensität

‚Freundschaft‘ als besitzlose, konkurrenzlose Liebe über Klassen- und Eheschranken

Genfer republikanische, egalitäre Volksfeste alle spielen mit

Rezitativ

expressive Melodie

Rousseaus ‚retour‘

(expressive Vokalmusik)

(post-historische) ‚Natur-Kultur‘? (als Resultat experimenteller, inven­ tiver ‚Rückkehr zur Natur‘

Inventive Rückkehr zur Natur  

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Diese gemeinsame Tiefenstruktur der rousseauschen Anthropologie, Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie muss zu den fundamentalen generativen Instanzen auch des hölderlinschen Schreibens gezählt werden. Dass die zahleichen Parallelen auf direkter Kenntnis und bewusster Übernahme beruhen müssen, legt insbesondere eine frappierende Übereinstimmung nahe, die deshalb exemplarisch angeführt werden soll. In einem von Hölderlin übersetzten und kommentierten Fragment von Pindar wird berichtet, wie die »Centauren« den Wein kennenlernten, die Milch beiseiteschoben und sich berauschten. Hölderlin deutet dieses Mythem »beweisbarer« (II , 372), indem er auf Rousseaus Phasentheorie zurückgreift: Der Begriff von den Centauren ist wohl der vom Geiste eines Stromes, so fern der Bahn und Gränze macht, mit Gewalt, auf der ursprünglich pfadlosen aufwärtswachsenden Erde. / Sein Bild ist deswegen an Stellen der Natur, wo das Gestade reich an Felsen und Grotten ist, besonders an Orten, wo ursprünglich der Strom die Kette der Gebirge verlassen und ihre Richtung quer durchreißen mußte. / Centauren sind deshalb auch ursprünglich Lehrer der Naturwissenschaft, weil sich aus jenem Gesichtspuncte die Natur am besten einsehen läßt. / In solchen Gegenden mußt’ ursprünglich der Strom umirren, eh’ er sich eine Bahn riß. Dadurch bildeten sich, wie an Teichen, feuchte Wiesen und Höhlen für säugende Tiere, und der Centauer war indessen wilder Hirte, dem Odyssäischen Cyplops gleich; die Gewässer suchten sehnend ihre Richtung. Jemehr sich aber von seinen beiden Ufern das trocknere fester bildete und Richtung gewann durch festwurzelnde Bäume, und Gesträuche und den Weinstok, desto mehr mußt’ auch der Strom, der seine Bewegung von der Gestalt des Ufers annahm, Richtung gewinnen, bis er, von seinem Ursprung an gedrängt, an einer Stelle durchbrach, wo die Berge, die ihn einschlossen, am leichtesten zusammenhiengen. […] (II , 384) Der Terminus »Begriff« unterstreicht die sozusagen wissenschaftliche Intention des Textes. Es sollen sogar die Kentauren sein, die die »Naturwissenschaft« erfunden hätten. Die entsprechende Wissenschaft kann nur die Naturgeschichte und ihre Anwendung auf die Anthropologie und Frühgeschichte der Menschheit bei Rousseau sein. Wenn der »Centaur« als »wilder Hirte« demnach Rousseaus Phase ›Natur‹ 2 entspricht, so passt das auch zu dem »Begriff« des »Geists eines Stromes«: Einer der typischen Übergänge vom »Wald« zur As-Sociation findet ja bei Rousseau an den Flüssen statt. Noch genauer schildert auch Rousseau die Evolution der Flüsse als schrittweises »Suchen« nach einer »Richtung« im Schatten der »Gebirge«: Les eaux auroient perdu peu à peu la circulation qui vivifie la terre. Les montagnes se dégradent et s’abaissent, les fleuves charrient, la mer se comble et s’étend, tout tend insensiblement au niveau; […]. Avant le travail humain les

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie 

sources mal distribuées se répandoient plus inégalement, fertilisoient moins la terre, en abrivoient plus difficilement les habitans. Les riviéres étoient souvent inaccessibles, leurs bords marécageux: l’art humain ne les retenant point dans leurs lits elles en sortoient fréquemment, s’extravasoient à droite ou à gauche, changeoient leurs directions et leurs cours, se partageoient en diverses branches […]. (P V, 404 f.) Hölderlins Faszination für die Kentauren (s. u. dazu ausf. Kapitel  8.1. über ­ hiron) erklärt sich u. a. durch die so evidente Übersetzbarkeit des Mythos in C die prä- und frühhistorischen Phasen nach Rousseau. Der ›Naturmensch‹ ist im Übergang vom Tier zum Menschen, ist halb Tier, halb Mensch, was für Hölderlins monistische Philosophie keinen Skandal darstellt: Vielmehr ist »Thiergeist« (I , 422) auch Teil des menschlichen Lebens, etwa als Müdigkeit und Schlaf, ja sogar als »Erkentniß« wie bei den Zugvögeln (I , 421). Allerdings decken die Kentauren auf diese Weise mehrere Phasen gleichzeitig: Dominant sind sie »Barbaren« der Phase ›Natur‹ 2, also Hirten. Als »wilder Hirte« interferiert Hölderlins Kentaur aber gleichzeitig auch noch mit der Phase ›Natur‹ 1. Als Kontrahent des Herakles muss sich Chiron umgekehrt bereits mit den nächsten Phasen Kultur 1 und Kultur 2 auseinandersetzen. Kongruent mit Rousseaus These von der Entstehung von Liebe, Familie, Fest, Gesang und Tanz in der Hirtenphase ist auch Chiron Sänger und väterlicher Pädagoge. Sowohl bei Rousseau wie bei Hölderlin ist diese Emergenz der kollektiven Kultur vor-staatlich, rein zivilgesellschaftlich, wofür bei Hölderlin der mythische Name des Halbgotts Dionysos steht. (In dem Schema in Kap. 9.4. ist die Parallelität der vor- und frühgeschichtlichen Phasen bei Rousseau und Hölderlin zusammengefasst: s. dort.) Rousseaus Theorie der vor- und frühgeschichtlichen wie auch der antiken Epochen erlaubt es nun auch, die Katastrophe des Hyperion differenziert als einen durch falsche Weichenstellung gescheiterten Versuch inventiver Rückkehr zu lesen. Dabei dient der griechische Aufstand von 1770 als ein exemplarisches Ereignis, das zahlreiche Analogien mit modernen Revolutionen erlaubt. Offensichtlich sind Analogien mit der Französischen Revolution: Der Bürgerkrieg zwischen dem wilden »Bergvolk« der Peloponnes8 mit seiner Konnotation »Montagne« und den Stadtbürgern von Misistra verhält sich wie der innerrevolutionäre Antagonismus zwischen den Sansculotten und den reichen Bürgern der Gironde. Man mag insbesondere vielleicht an die Septembermorde denken. Eine vielleicht noch relevantere Analogie besteht zwischen dem plündernden »Bergvolk« Hyperions und Alabandas und den plündernden Sansculotten der Revolutionsarmeen, die von den reichen Rüstungsfabrikanten nicht bezahlt 8 Auch abgesehen von den verfälschenden Gräuelmärchen des deutschen Übersetzers von Choiseul gehörten griechische »Klephtes«, Räuberbanden, tatsächlich zu den sporadischen Rebellen gegen die osmanische Herrschaft.

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wurden. Sehr vage bleiben allerdings Analogien mit dem Bund der Nemesis: Dass Geheimbünde wie die Illuminaten die Französische Revolution ausgeheckt haben sollten, war ein völlig unfundiertes gegenrevolutionäres Phantasma. Die Jakobiner waren kein Geheimbund. Hinzu kommt die Ironie der Darstellung Hölderlins, deren Pointe darin besteht, dass der Bund der Nemesis, als die Revolution ausbricht, im doppelten Sinne »unsichtbar« ist: Er ist nicht nur geheim, sondern schlicht gar nicht beteiligt. Relevanter aber als solche Hypothesen über konkrete Konnotationen ist die Rekonstruktion der revolutionären Katastrophe Hyperions, wie ihr Verlauf sich als Fehlgriff im Projekt einer inventiven Rückkehr zur Natur in politicis erweist. Dieses Projekt Hyperions und Alabandas zielt auf eine inventive Rückkehr zur griechischen Polisdemokratie (»Freistaat«: I , 700), im Schema als »Natur«-­Kultur bezeichnet. Allerdings hat die Exposition dieses Experiments in den Gesprächen mit Alabanda während der ersten Phase der Freundschaft wie auch in der Athenrede bereits gezeigt, dass die Protagonisten sich nicht einig sind über den genaueren Typ der erstrebten Republik (Modell ›Sparta-Rom‹ oder Modell ›Athen‹). Zudem sind sie durch den konkreten Verlauf der Kämpfe auf das »Bergvolk« verwiesen, d. h. auf eine noch tiefer reichende Rückkehr vor den »contrat social«. Genau darin unterliegen sie einer tragischen Illusion: Weil ihr Wunsch Vater ihrer Träume ist, phantasieren sie sich ein Bergvolk, das vom Typ ›Natur‹ 2 wäre, also vom Typ der bei Rousseau äußerst positiv gesehenen »Barbaren«, also Hirten. Dazu wollen allerdings Kennzeichnungen wie »rächerische Kräfte« (I , 708) und Kollektivsymbole wie »Wetterwolke« (ebd.) und »Vulkan« (I , 715) von Beginn an nicht so recht passen. Dadurch wird Hyperion veranlasst, die Rückkehr womöglich um eine weitere Stufe zurückzudatieren: hin zu den ›wilden‹ Naturmenschen der Phase ›Natur‹ 1. Da geh’ ich hinaus, wo im Schatten des Walds mein Kriegsvolk liegt und grüße die tausend hellen Augen, die jetzt vor mir mit wilder Freundlichkeit sich aufthun. Ein erwachendes Heer! Ich kenne nichts gleiches und alles Leben in Städten und Dörfern ist, wie ein Bienenschwarm, dagegen. / Der Mensch kanns nicht verläugnen, daß er einst glüklich war, wie die Hirsche des Forsts, und nach unzähligen Jahren klimmt noch in uns ein Sehnen nach den Tagen der Urwelt, wo jeder die Erde durchstreifte, wie ein Gott, eh, ich weiß nicht was? den Menschen zahm gemacht, und noch, statt Mauern und todtem Holz, die Seele der Welt, die heilige Luft allgegenwärtig ihn umfieng. (I , 715) Das ist ganz und gar rousseauistischer Diskurs, wobei die Formulierung »eh, ich weiß nicht was? den Menschen zahm gemacht« wahrscheinlich direkt auf die Kontingenzen (»hasards«) des Zweiten Discours anspielt. Dieser Abschnitt fordert evidenterweise  – gerade auch, um die tragische Ironie nicht zu über­ hören – eine Lektüre gegen die Folie der Lehre Rousseaus von den Epochen des Übergangs vom »Natur«- zum Kulturmenschen. Hyperion ›projiziert‹, wie man

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heute sagen würde, auf das ›Bergvolk im Schatten des Walds‹ eine Menschheit, die noch keine »Städte und Dörfer«, noch keine »Mauern und todtes Holz« kannte. Ganz nach Rousseau wird der einsam wie ein »Hirsch« den Urwald durchschweifende ›Wilde‹ evoziert. Dabei hätten doch eigentlich die »tausend […] Augen«, also die insektenhafte Massierung, als krasser Widerspruch zu Rousseaus einzelnen Nomaden ›ins Auge fallen‹ sollen. Hyperion verkennt den tatsächlichen Ort, an den ihn die Spirale seines »retour« geführt hat: Es handelt sich in Wahrheit nicht um die erste Phase des ›Naturmenschen‹, sondern um die unglückliche erste Phase des Kulturmenschen, die Phase nach der Institution des Privateigentums am Boden, aber vor dem »contrat social« – anders gesagt um jene unglücklichste Phase der Menschheit, in der nach Hobbes homo homini lupus war (im Schema: Kultur 1). Als Höhepunkt tragischer Ironie wird diese Illusion an keinem anderen Orte grausam zerstört werden als an dem des antiken Sparta. Denn nicht nur Alabanda, auch Hyperion wollte zunächst nach Sparta zurück, wohin ihn zuerst Adamas-Rousseau geführt hatte – er schwankt zwischen Sparta und Athen, während Diotima als Einzige zunächst niemals für Sparta schwärmt, bevor sie am Ende von Hyperion dennoch zur Identifikation mit den »hohen Spartanischen Frauen« mitgerissen wird (I , 718). Das Experiment sollte also mittels des als ›Natur‹ 1 phantasierten Bergvolks zur egalitären ›Natur‹-Kultur  1 zurückführen  – in Wirklichkeit bestätigte es durch den Ausbruch der destruktiven Kräfte der Phase Kultur 1 lediglich den extremen »orientalischen« Despotismus des osmanischen Sultans, der etwa auf halbem Wege zwischen den Phasen Kultur-Kultur 1 (Mittelalter) und Kultur-Kultur 2 (Absolutismus) zu situieren wäre. Im Motiv des »Bergvolks« ist ein weiterer fundamentaler Aspekt des Phasenmodells Rousseaus impliziert: Stets wurde das einfache, analphabetische »Volk« der »niedern und zahlreichern Klassen« (Schiller) im 18. Jahrhundert mit den ›Kindern‹ (teils auch ›Frauen‹) und ›Wilden‹, also mit den ›Naturmenschen‹ identifiziert. Der synchronische Klassenantagonismus wurde also diachronisch in die Frühgeschichte projiziert und umgekehrt. Diese Analogie gilt gerade auch bei Rousseau. Eben dabei hat Rousseau allerdings immer wieder betont, dass es keine einfache Rückkehr geben kann: Der ›naive‹ Mensch unter despotischer Herrschaft ist genauso wenig ein ›Naturmensch‹ wie das Kind in der modernen Schule – er ›verdirbt‹ zusammen mit seinem Herrn und entwickelt vor allem die Verschlagenheit, habituelle Verlogenheit und heimliche Brutalität des Lakaien, die Rousseau umso mehr hasste, als er selbst durch sie hindurchgegangen war. ›Tragische Ironie‹ ist also nicht als Floskel zu verstehen: Es handelt sich bei Hölderlins Hyperion keineswegs um ein Lehrstück in evolutionärem Reformismus. Der Aufstand gegen den Despotismus als solcher ist und bleibt ganz und gar legitim, er wird als solcher an keiner Stelle vom Text »verleumdet« (im Sinne Nietzsches). Die grenzenlose Trauer gilt allein dem Unglück des Scheiterns, das sich wiederum letztlich aus der »reißenden Zeit«, d. h. dem Mangel an Zeit er-

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klärt: Es fehlte die Zeit zu einer kulturrevolutionären ›Erziehung‹ des Bergvolks, zu einer rechtzeitigen inventiven Rückkehr nicht bloß nach Sparta, sondern auch nach »Athen«.

5.2. Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin 5.2.1. Adamas Die andernorts ausführlich begründete Hypothese, nach der es sich bei der Erzieherfigur Adamas im Hyperion dominant um ein Rousseau-Konnotat handle (HR , 179–182), soll hier nur kurz mit den wesentlichen Argumenten resümiert werden. »Adamas« war zunächst der Name des rebellischen Freundes, der später in Alabanda umgetauft wurde, also der Name eines Neugriechen trotz seiner vermutlich nur altgriechischen Quelle9. Nun ist der Adamas der Endfassung jedoch kein Neugrieche, sondern ein Nordwesteuropäer ohne genaue nationale Bestimmung – er könnte sehr wohl Franzose oder auch Genfer sein. Eine Umbenennung während der langjährigen Arbeit am Hyperion wäre nicht die einzige, wie vor allem die Ersetzung von Melite durch Diotima erweist. Aber auch eine bloße Um-Symbolisierung unter dem äußerlich unveränderten Namen wäre nicht die einzige: Bellarmin war zunächst Italiener, bevor er Deutscher wurde und die symbolische Konnotation »schöner Deutscher« (Bello Arminio) annahm10. Analog sehe ich in Adamas eine neue Konnotation: ein Wanderer, der auf seiner Fluchtlinie den Naturmenschen, den Adam, in seinem Paradies im tiefsten Orient oder sogar »jenseits von Eden« sucht: »In der Tiefe von Asien soll ein Volk von seltner Trefflichkeit verborgen seyn; dahin trieb ihn seine Hoffnung weiter« (I , 622). Adamas ist also auf der Suche nach dem Naturmenschen wie Rousseau – er ist auch der paradigmatische Erzieher wie der Autor des Émile –, und er ist der Philosoph, der »seine Kunst zu arm« gefunden hatte, wie es mit betonter Dopplung heißt (I , 619) – wie der Autor des Discours sur les sciences et les arts. Vor allem aber ist er ein moderner »Halbgott«: »O daß nur du mir ewig gegenwärtig wärest, mit allem, was dir verwandt ist, traurender Halbgott, den ich meine!« (I , 618) Es gibt nach Ausweis der Rheinhymne bei Hölderlin nur 9 Homer (vgl. SA , 436). 10 Im in Schillers Thalia publizierten Fragment von Hyperion schreibt der Protagonist an Bellarmin: »Frühlinge kamen und gingen; manch herrlich Bild der Natur, manche Reliquie deines Italiens, aus himmlischer Phantasie hervorgegangen, erfreute mein Auge […]« (I , 493). Da auch der Name selbst ein ursprünglich italienischer ist, sind die Gegenargumente gegen die italienische Nationalität des ursprünglichen Bellarmin äußerst schwach (vgl. SA , 493). Alles spricht für eine spätere Um-Symbolisierung. Eine wenig plausible Symbolisierung schlägt indes Jochen Bertheau (Hölderlins französische Bildung, 39) mit »belle âme« vor, was doch in der Regel auf Frauen bezogen ist und sprachlich ›knirscht‹.

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einen ›zweifelsfreien‹ modernen »Halbgott«: Rousseau. Die Trauer bezieht sich auf die verlorene ›Natur‹ des Menschen, aber ebenso auf Rousseaus Einsamkeit und paranoide Verstörung in seinen letzten Jahren. Auch eine Art Gegenprobe spricht nicht gegen die Hypothese. Gäbe es in Hölderlins Biographie eine Erziehergestalt, die so analog zu Adamas sein könnte wie Sinclair zu Alabanda und Susette Gontard zu Diotima? Das ist wohl kaum der Fall, und es gibt auch keine entsprechenden Hypothesen in der Hölderlinforschung, was eigentlich erstaunlich ist. Umgekehrt muss Hölderlin schon relativ früh Rousseaus Bewunderer geworden sein, wie es die Ode An die Ruhe von 1789 ausweist (I ,  76 f.). Hyperion als neugriechisches Kind ist »aufgewachsen, wie eine Rebe ohne Stab, und die wilden Ranken breiteten richtungslos über dem Boden sich aus« (I , 619). Die vom Stab orientierte Pflanze ist ein topisches Emblem der Pädagogik. Das neugriechische Kind ist zwar ›verwildert‹, aber umgekehrt wenigstens nicht durch eine falsche Pädagogik, wie Rousseau sie bekämpfte, bereits verdorben. Es ist noch Kind, und damit noch Naturmensch in der Moderne – alles nach dem Émile und alles, wie es auf kollektiver Ebene in Hyperions Athenrede gut rousseauistisch ausgeführt wird: Also noch einmal! daß die Athener so frei von gewaltsamem Einfluß aller Art, so recht bei mittelmäßiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortreflich gemacht, und diß nur konnt’ es! Rousseaus Prinzip »frugaler« Ernährung erweist sich hier als zusätzliche Bedingung der Möglichkeit altgriechischer Kultur  – zusätzlich zur ›negativen Erziehung‹: Laßt von der Wiege an den Menschen ungestört! Treibt aus der engvereinten Knospe seines Wesens, treibt aus dem Hüttchen seiner Kindheit ihn nicht heraus! thut nicht zu wenig, daß er euch nicht entbehre und so von ihm euch unterscheide, thut nicht zu viel, daß er eure oder seine Gewalt nicht fühle, und so von ihm euch unterscheide, kurz, laßt den Menschen spät erst wissen, daß es Menschen, daß es irgend etwas außer ihm giebt, denn so nur wird er Mensch (I , 683). Nun ist der Hyperion kein »Compendium« (I , 611), das im Erziehungsprogramm des Adamas pedantisch nach dem Émile vorginge. Wesentlich ist das Fehlen einer frühen kulturellen, insbesondere positiv religiösen (christlichen) Prägung des Kindes, und ebenso wesentlich ist die Dominanz von Naturerlebnissen (wie das Erlebnis eines Sonnenaufgangs). Wie bei Rousseau ist der Erzieher allein mit dem Zögling – es gibt weder familiale noch institutionelle Einmischungen. Dazu kommt schließlich die Einführung in die altgriechische Kultur, die bei Rousseau nicht derartig dominant ist, obwohl etwa Plutarch auch bei ihm eine sehr wichtige Rolle spielt. So wie Hölderlin später sogar Sophokles und Pindar

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›korrigierte‹, so hat er Rousseau konnotativ zu einem konsequenten Philhellenen umgeschrieben. Wie existentiell das Modell Rousseau für den Hofmeister Hölderlin war, ist im Allgemeinen anerkannt, wenn es auch häufig relativiert wird – zu Unrecht, wie ich andernorts ausgeführt habe (HR , 24 f.). Jedenfalls erscheint die folgende pathetische Apostrophe mit einer doppelten Stimme Hyperions und Hölderlins gesprochen zu sein und entweder einem Phantom oder dem »Liebling« JeanJacques zu gelten: Wie oft warst du mir nahe, da du längst mir ferne warst, verklärtest mich mit deinem Lichte, und wärmtest mich, daß mein erstarrtes Herz sich wieder bewegte, wie der verhärtete Quell, wenn der Stral des Himmels ihn berührt! Zu den Sternen hätt’ ich dann fliehn mögen mit meiner Seeligkeit, damit sie mir nicht entwürdigt würde von dem, was mich umgab. (618 f.) Seufzer eines Hofmeister-Lakaien in naturwidrigen Milieus.

5.2.2. Empedokles Während Hyperion, der Held von Hölderlins einzigem Epos, Neugrieche ist, ist der Held seines einzigen Dramas Altgrieche, allerdings als Agrigentiner Grieche einer Kolonie in Sizilien und damit in Magna Graecia, dem in der Antike graecophonen Südteil Italiens, der während der Arbeit Hölderlins an seiner Tragödie, aktualistisch gesagt, ständig in den Schlagzeilen war. Seit 1796 eroberten die Armeen der Französischen Republik unter dem jungen strategischen Genie Napoleon Bonaparte den größten Teil Italiens, wo sie kurzlebige Republiken gründeten, darunter in der ersten Jahreshälfte von 1799, einer Zeit intensiver Arbeit Hölderlins am Empedokles, die »Parthenopäische Republik«. Parthenope war der griechische Name von Neapel. Die dort herrschenden spanischen Bourbonen flüchteten nach Sizilien. Es fehlte also auch dem Empedoklesmotiv nicht an aktuellen, im weiten Sinne neugriechischen Bezügen: Gleichzeitig mit Italien eroberten die Franzosen für kurze Zeit auch die jonischen Inseln der Adria, was den realen griechischen Freiheitskämpfer Rhigas Pherräos in seinen Interventionen bestärkte. Die Besonderheit von Hölderlins Drama, die es von fast allen Dramen der Goethezeit unterscheidet11, ist seine nicht bloß je punktuelle, sondern syste­ matisch die gesamte dramatische Entwicklung beherrschende polyisotope, »mehrstimmige« Struktur. Diese Mehrstimmigkeit betrifft alle Figuren und besonders die des Protagonisten und seiner Antagonisten, sie betrifft den gesamten tragischen Prozess und besonders auch die Schlusswendung des suizi 11 Abgesehen vom Faust II , der jedoch erheblich später liegt.

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dalen Sprungs in den Vulkan. Wie in einem teils homophonen, teils polyphonen Satz ist die altgriechische »Melodiestimme« Empedokles mit konnotierten analogen »Begleitstimmen« unterlegt, deren wichtigste eine Agis-, eine Lykurg-, eine Christus- und vor allem eine moderne Rousseaustimme mit französischen Konnotationen sind. Diese quasi-musikalische Mehrstimmigkeit konnte als ein strukturelles und funktionales Äquivalent der altgriechischen realiter musikalischen Komponente der Tragödie dienen, das jedoch das moderne Drama mit seinen sozial und psychologisch ›realistischen‹ Charakteren nicht völlig zugunsten wagnerscher Opernfiguren aufgab. Hölderlins Projekt beharrte auf Figuren, die im Rahmen einer Konfiguration plausibel historischer Akteure mit anderen ebenso plausibel historischen Akteuren interagieren konnten. Gleichzeitig sollten durch die mehrstimmige Struktur jedoch auch die transpersonalen historischen Tendenzen in ihrer Handlungsmacht berücksichtigt werden, vor allem als Massendynamik. An dieser möglicherweise aporetischen strukturellen Dichotomie galt es sich abzuarbeiten – und in der Kategorie des »Halbgotts« (halb menschlich-historisch plausibel, halb »göttlicher« Agent transpersonaler historischer Tendenzen) sollte die Lösung der Aporie bestehen. Bis in die dramatische Konfiguration (das System der Figuren) hinein wirkte also der spinozistische Imperativ, einen Dualismus zu vermeiden. Der jeweilige Protagonist all dieser Stimmen – Empedokles, Rousseau, Agis, Lykurg, Christus – ist also ein »Halbgott« in der präzisen Bedeutung Hölderlins: Kind einer menschlichen Mutter und eines »göttlichen« Vaters im Sinne einer epochalen kulturkonstitutiven Tendenz. Deshalb tauchen Halbgötter jeweils in einer fundamentalen Kulturkrise auf: am Ende einer Epoche, die bereits den Beginn einer neuen Epoche einleitet. Lykurg und Agis stehen am Anfang und Ende Spartas, Christus am Ende der altgriechischen und dem Beginn der christlichen Kultur, Rousseau am Ende dieser christlichen Kultur und am Beginn der von Hölderlin erwarteten neuen Kultur. Der historische Empedokles nahm nicht eine solch deutliche Position einer Epochenzäsur ein, obwohl sein Fall sich bei Hölderlin als die exemplarische Tragödie eines Halbgotts abspielt – jedoch mittels der »Nebenstimmen« als das in die Antike versetzte Experiment einer modernen inventiven Rückkehr zur Natur in Politik und ›Religion‹. Es geht Hölderlin demnach in der Tragödie von Empedokles mittels der Rousseaustimme vor allem um den Kairos von 1800 als erwarteten Beginn einer neuen postchristlichen und naturfundierten Kultur, weshalb besonders auf die aktualhistorischen, kairologischen »Stimmen« zu achten ist. Nun hat Ulrich Gaier, gestützt auf den Umstand, dass die Ode Empedokles auf der Rückseite eines Blattes niedergeschrieben wurde, auf dessen Vorderseite der Entwurf einer Bonaparte-Ode steht, eine Napoleonkonnotation für die Empedoklesfigur entwickelt, nachdem er zuvor an Robespierre gedacht hatte12. 12 Gaier, Hölderlin, 297, 308 f.

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Plausibel ist dabei die Hypothese eines modernen bíos parállelos zu Empedokles. Unplausibel wäre in der Tat die Annahme, es sei Hölderlin nur um ein antiquarisches Interesse an dem historischen Empedokles des fünften vorchristlichen Jahrhunderts gegangen, von dem relativ wenige Texte erhalten sind und dessen Profil bei Diogenes Laertius in anekdotischer und großenteils mythischer ­Vagheit verbleibt. Allerdings war das entscheidende Motiv für Hölderlins Wahl ganz sicher das suizidale mythische Motiv vom Sprung des Philosophen und Politikers in den Krater des Ätna. Dieses Motiv fasziniert bereits den gescheiterten Hyperion auf seiner Flucht nach Deutschland, die über Sizilien und Italien führt, und dieses Motiv bildet auch das Thema der Empedokles-Ode. Es wird also darauf ausführlich zurückzukommen sein. (Wie verschieden aber das bizarre Motiv verwendet werden konnte, zeigt Brechts ironische Para-Hymne mit ihrer materialistischen Deutung13.) Zunächst möchte ich die gaiersche Robespierre- und Napoleonthese nochmals mit meiner bereits 1983 publizierten und ausführlich begründeten Rousseau­ these konfrontieren14. Gaiers These beruht auf einer gänzlich negativen Sicht der Empedoklesfigur als eines demagogischen Machtmenschen, der sich im Zuge einer revolutionären Welle zum »Diktator« aufschwingt, dann aber scheitert und den Ätnasturz als Ausweg sucht. Für die Napoleonthese führt Gaier den bekannten Brief Hölderlins an seine Mutter an, in dem es heißt: »Eben erfahre ich, daß das französische Directorium abgesezt, der Rath der Alten nach St. Cloux geschikt, und Buonaparte eine Art von Dictator geworden ist« (16.11.1799; II , 843). Den Begriff »Diktator« negativ zu lesen und mit »Despot« und »Tyrann« gleichzusetzen, ist allerdings anachronistisch. »Diktator« ist für die Zeitgenossen der Revolution eine positive republikanische Notstandsfunktion nach römischem Vorbild (u. a. nach Rousseaus Contrat social). Es genügt, die gleichzeitige den Brumaire und seinen ›schöngereiften, ächten Heroen‹ feiernde Geburtstagsode Der Prinzessin Auguste von Homburg. Den 28ten Nov. 1799 (I ,  248 f.)15 zur Kenntnis zu nehmen, um jedenfalls diese Begründung als unzureichend zu erkennen. Hinzu kommt die durchgängig höchst positive Sicht des Empedokles in den Augen seiner Freundinnen und Freunde, die auf bloße Täuschung durch demagogisches Charisma zurückzuführen denn doch ein wenig zu steil wirkt. Statt das aber im Einzelnen auszuführen, hier nochmals die Begründung der alternativen Rousseauthese: Wenn gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einem Melancholiker X die Rede war, der sich mit seiner Frau streitet und seine Kinder im Stich lässt, der aus der 13 Dazu Jürgen Link, »Schuh und Wolke. Zur materialistischen Symbolik in Brechts Der Schuh des Empedokles«, in: Tobias Lachmann (Hg.), Ästhetik und Politik der Zerstreuung, Paderborn 2019. 14 Link, »Schillers Don Carlos und Hölderlins Empedokles«; sowie HR , 192–222. 15 Vgl. ausf. dazu HR , 140 ff.

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Stadt in die Natur, und zwar ins Gebirge flieht, weil er sich verfolgt glaubt, und der gleich anfangs folgendermaßen definiert wird: X, durch sein Gemüth und seine Philosophie schon längst zu Kulturhaß gestimmt, zu Verachtung alles sehr bestimmten Geschäffts, alles nach verschiedenen Gegenständen gerichteten Interesses, ein Todtfeind aller einseitigen Existenz […] (I , 76316) – an wen wird zumindest ein erheblicher Teil des Publikums dabei wohl haben denken müssen? Empedokles

Rousseau

»Kulturhaß«

1. und 2. Discours

»Todfeind aller einseitigen Existenz«

Polemik gegen Arbeitsteilung (besonders 2. Discours)

Lehrer des Volks

Aufklärer

›Naturphilosoph‹

»philosophe« mit Naturdominante

Pflanzenfreund und Naturtherapeut

Pflanzenfreund und Botaniker

Pädagoge

Émile

politisch-religiöser Reformer

Contrat social, Verfassungsprojekt für Korsika

Wegschicken der Familie

Mythos vom Weggeben der Kinder

Melancholie in Einsamkeit

Mythos vom ›Misanthrop‹

einsames Wohnen im Garten

Eremitage, Petit château, Petersinsel, Pappelinsel

Rückzug aus der Stadt in die Natur

Rückzug aus Paris in die Eremitage

Freunde wollen ihn zur Rückkehr bereden

Enzyklopädisten wollen ihn zur Rückkehr bereden

vom Priester verfolgt

Émile und Contrat von den Theologen der Sorbonne und der Genfer Geistlichkeit indiziert und verbrannt

vom Volk auf Anstiftung des Priesters verbannt

Rousseau muss vor Staat und Kirche aus Paris flüchten

Bauern am Ätna vertreiben ihn

Môtiers-Episode

16 So im sogenannten »Frankfurter Plan«, dessen familialistische Komponente von Hölderlin bald aufgegeben wurde, was aber für die Rousseau-Konnotation des gesamten Konzepts gültig bleibt.

Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin  

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Empedokles

Rousseau

einsames harmonisches Wohnen am Ätna

Petersinsel (Fünfte Promenade)

Reue des Volks, Versöhnung mit dem Volk

Popularität nach dem Tod, Überführung ins Pantheon

Testament

Contrat social

Freitod, Sturz in den Ätna

Nouvelle Héloise, Briefe I , 26 und III , 21 über den Freitod; Gerücht vom Suizid Rousseaus

Sturz in den Ätna

Mythos vom »retour à la nature«

Volksrevolution gegen Hermokrates

Französische Revolution unter dem Einfluss Rousseaus

Es wäre einfach, als dritte Kolonne des Schemas die partielle Parallelität mit der Adamasfigur aus dem Hyperion als weiteren bíos parállelos anzufügen: »Kulturhaß«, »Naturphilosoph«, »Pädagoge«, Verschwinden in den Tiefen des Orients auf der Suche nach dem Naturmenschen. Ich habe in dem Analogienschema die wichtigsten Handlungsepisoden des tragischen Empedokles-Mythos, wie Hölderlin ihn insbesondere seit dem ersten uns überlieferten ausgearbeiteten Kritias-Fragment in größter Freiheit gegenüber den antiken Quellen entwickelt hat, in durchgängiger Parallelität dem modernen Rousseau-Mythos, wie er weit über die Gebildeten hinaus »allbekannt« war, gegenübergestellt. Dieses enge Netz von Analogien kann kein Zufall sein. In seiner theoretischen Studie Grund zum Empedokles hat Hölderlin zudem explizit ein solches Analogieverfahren postuliert17. Ferner ist an das Modell der Bíoi parálleloi des Plutarch zu denken, des Lieblingsbuchs nicht nur Rousseaus und Hölderlins, sondern auch Schillers und einer ganzen Generation. Erst wenn man die Rousseau-Stimme des Empedokles mitliest (bzw. in musikalischer Sprache, die mehr als Metapher ist: mithört), kann man sich dem eigentlichen Konzept der Tragödie annähern. Wie im Analogienschema notiert, gehörte auch die Suizid-Problematik zum modernen Rousseau-Mythos. In drei Briefen der Nouvelle Héloise, diesem geheimen Liebesbrevier für Hofmeister und verheiratete Salondamen, geht es um den Selbstmord. Zweimal droht Saint-Preux mit diesem verzweifelten Ausweg aus der Liebesmelancholie, beim zweiten Mal todernst gegenüber dem ebenfalls melancholischen englischen Freund Édouard. Im dritten der Selbstmordbriefe lehnt Édouard aufs schärfste jeden Selbstmord aus Liebeskummer ab und verurteilt insbesondere Saint-Preux’ Berufung auf Cato und andere römische republikanische Helden. Statt Selbstmord empfiehlt Édouard eine Entdeckungsreise um die Welt, die er dann auch praktisch in die Wege leitet, indem er für Saint 17 S. dazu ausf. Link, »›Traurender Halbgott, den ich meine!‹«, 106 ff. sowie HR , 195 ff.

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Preux einen Platz in Ansons Expedition besorgt. Auch dieses Motiv war für Hölderlin und Susette Gontard offenbar eine Art Geheimkode, wie noch der späte Hymnenentwurf Tinian zeigt, der auf einen weiteren Brief der Nouvelle Héloise zurückgeht, in dem Saint-Preux von der Landung auf der Insel Tinian berichtet18. (Übrigens startete fast genau 200 Jahre nach Anson der Bomber mit der Atombombe auf Hiroshima von der Basis Tinian.) Wichtig ist dabei, dass Édouard nur den Selbstmord aus privaten Gründen wie Liebeskummer verwirft19, während er Catos politisch motivierten Suizid anerkennt. Sämtliche bei Rousseau diskutierten Spielarten des Suizids sind jedoch als individuelle, personale und »freie« Akte zu begreifen – eine mögliche Symbolik des Suizids spielt dabei keine Rolle. Hölderlins Übergang zu einer neuen, quasi ›mehrstimmig-­ symbolischen‹ Struktur impliziert daher unter diesem Aspekt ein ›Ausweichen‹ vor privaten Motiven, und zwar auch vor privaten Motiven der Depression des Empedokles. Dem entspricht seit der Neukonzeption nach Aufgabe des ursprünglichen ›Frankfurter Plans‹ die Betonung der politischen Dimension sowohl bei Rousseau wie bei Empedokles, was zur völligen Tilgung der familialistischen Komponente führt. Diese Neuorientierung musste konsequenterweise auch für das Schlussmotiv des Suizids Folgen haben. Wir können diese Folgen insbesondere aus der Entwicklung der zusätzlichen konnotativen bzw. symbolischen ›Stimmen‹ zur Empedokles-Handlung erschließen, die jeweils zusätzliche symbolische Sinnzuschreibungen für den Suizid implizieren. Dabei geht es zunächst um die Agis- und die Lykurg-Stimme. Bei beiden handelt es sich um spartanische Führer, und zwar um einen der letzten und um den ersten berühmten. Ich beginne mit Agis, der im 3. Jahrhundert vor Christus seinen schon abhängig gewordenen Staat durch eine Neuaufteilung des Landbesitzes reformieren wollte, in diesem Unternehmen jedoch scheiterte und hingerichtet wurde. Dabei ist für Hölderlin ein politischer Kontext von Bedeutung, von dessen wichtigen Elementen Pierre Bertaux eines entdeckt hat20. Seine These möchte ich ergänzen: In den Bíoi parálleloi des Plutarch bildet Agis (zusammen mit seinem Fortsetzer Kleomenes) die griechische Parallele zu den Gracchen, und diese wiederum dienten dem frühsozialistischen Flügel der Jakobiner als Modell, bis hin zu ihrem Führer Babeuf, der sich Gracchus nannte. Bertaux hat nun in Hölderlins spätem Signaturnamen Buonarotti eine Anspielung auf den engsten Mitstreiter Babeufs (statt auf Michelangelo) plausibel gemacht. Bis heute ist eine Äußerung von Hölderlins revolutionärem Freund Sinclair rätselhaft, der brieflich am 8. Februar 1799, also während der Dichter am Empedokles arbeitet, diesem 18 S. dazu ausf. HR , 168–175. 19 In Hölderlins Empedokles-Ode ist es sogar die unglückliche Liebe, die den Sprecher explizit vom Suizid abhält. 20 Bertaux, Hölderlin und die Französische Revolution, 109; ders., Friedrich Hölderlin, 568.

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gegenüber mutmaßt, er schreibe sicherlich intensiv an seiner Tragödie Agis (II , 740). 1821 erwähnte auch Conz gegenüber Kerner ein Agis-Fragment, das er 1809 an die Zeitung für die elegante Welt geschickt habe und das dort verloren gegangen sei (III , 329). Das Rätsel würde sich lösen, wenn man, wie es mir plausibel erscheint, annimmt, dass Hölderlin ursprünglich gegenüber Sinclair und/oder anderen revolutionären Freunden ein eigenes Agis-Konzept (mit einer Gracchen- und einer Babeuf-Stimme) erwogen hatte, bevor er daraus eine zusätzliche Stimme des Empedokles-Projekts gewann, Agis also in Empedokles integrierte. So hätte etwa das Testament des Empedokles mit seiner Proklamation eines egalitären ›New Deal‹ nahezu unverändert auch das des Agis gewesen sein können. Was das Motiv des Selbstmords betrifft, so fehlte es bei Agis, war aber umso wichtiger in der zusätzlichen Stimme des Lykurg. Im 12. der Briefe über Don Carlos hat Schiller, der später auch, ebenfalls nach Plutarch, Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon systematisch verglich, den Mythos einer besonderen Form des politischen Suizids berichtet. Und zwar interpretiert er den Quasi-Suizid seines Marquis Posa in diesem Sinne: […] er stirbt, um für sein – in des Prinzen Seele niedergelegtes – Ideal alles zu tun und zu geben, was ein Mensch für etwas tun und geben kann, das ihm das Teuerste ist; um ihm auf die nachdrücklichste Art, die er in seiner Gewalt hat, zu zeigen, wie sehr er an die Wahrheit und Schönheit dieses Entwurfes glaube, und wie wichtig ihm die Erfüllung desselben sei; er stirbt dafür, warum mehrere große Menschen für Wahrheiten starben, die sie von Vielen befolgt und beherzigt haben wollten: um durch sein Beispiel darzutun, wie sehr sie es wert sei daß man alles für sie leide. Als der Gesetzgeber von Sparta sein Werk vollendet sah und das Orakel zu Delphi den Ausspruch getan hatte, die Republik würde blühen und dauren, so lange sie Lykurgus Gesetze ehrte, rief er das Volk von Sparta zusammen und foderte einen Eid von ihm, die neue Verfassung so lange wenigstens unangefochten zu lassen, bis er von einer Reise, die er eben vorhabe, würde zurückgekehrt sein. Als ihm dieses durch einen feierlichen Eidschwur angelobt worden, verließ Lykurgus das Gebiet von Sparta, hörte von diesem Augenblick an auf Speise zu nehmen, und die Republik harrte seiner Rückkehr vergebens. Vor seinem Tode verordnete er noch ausdrücklich, seine Asche selbst in das Meer zu streuen, damit auch kein Atome seines Wesens nach Sparta zurückkehren, und seine Mitbürger auch nur mit einem Schein von Recht ihres Eides entbinden möchte. Konnte Lykurgus im Ernste geglaubt haben, das Lacedämonische Volk durch diese Spitzfindigkeit zu binden, und seine Staatsverfassung durch ein solches Spielwerk zu sichern? Ist es auch nur denkbar, daß ein so weiser Mann für einen so romanhaften Einfall ein Leben sollte hingegeben haben, das seinem Vaterlande so wichtig war? Aber sehr denkbar und seiner würdig scheint es mir, daß er es hingab, um durch das Große und Außerordentliche dieses Todes einen unauslösch­

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lichen Eindruck Seiner selbst in das Herz seiner Spartaner zu graben, und eine höhere Ehrwürdigkeit über das Werk auszugießen, indem er den Schöpfer desselben zu einem Gegenstand der Rührung und Bewunderung machte21. Was Schiller hier wirkungsästhetisch umschreibt, heißt struktural-semantisch: Lykurg hat seinen Suizid als Symbol inszeniert, hat ihm damit eine symbolische ›Stimme‹ hinzugefügt. Bei diesem Schluss des Lykurg-Mythos haben wir es also in mehrfachem Sinne mit einem politischen Frei-Tod, mit einer radikalen Fluchtlinie zu tun: Befreiungs-Tod sowohl des Individuums (von Familialismus, privatem Liebeskummer und von Ehrgeizkränkung22) wie des Kollektivs – konkret handelt es sich um einen politischen Freitod als testamentarischen Akt einer Konstitution, mit Rousseaus Begriff einer »législation«. Hölderlin, der den Don Carlos in dem bereits erwähnten Brief an Schiller vom September 1799, in dem er von seinem Empedokles-Projekt berichtet, als »Zauberwolke […], in die der gute Gott meiner Jugend mich hüllte« (II , 820), bezeichnete und der auch die Briefe über Don Carlos sicher kannte, wird in diesem testamentarischen Suizid die Lösung seines Motivationsproblems erblickt haben. Das legt die Tatsache nahe, dass seit der Neufassung des Projekts in Homburg der Sturz seines Helden in den Vulkan aufs engste mit dessen sogenanntem ›Testament‹, d. h. einer paradoxen »législation«, verbunden bleiben wird. Insbesondere ist die gänzliche Auflösung des Körpers im Ozean (Element Wasser) mit der im Vulkan (Element Feuer) völlig analog. Bevor ich der Frage weiter nachgehe, warum Hölderlin trotz der Erfindung dieser auf den ersten Blick recht überzeugenden Motivation den Empedokles dennoch nicht hat vollenden können, sind einige Überlegungen zum politisch paradoxen Charakter der empedokleischen »législation« einzuschalten. Ich kann dazu auf eine frühere, weniger als Empire bekannte Studie von Antonio Negri zurückgreifen, die auch für das Verständnis Giorgio Agambens von Bedeutung ist: Es handelt sich um die Untersuchung Le pouvoir constituant, in der systematisch und historisch der Frage nachgegangen wird, ob und warum der »pouvoir constituant« eines revolutionären »Volkes« umschlagen muss in die »Souveränität« (im schmittschen Sinne) des »pouvoir constitué«23. Negris Erkenntnisinteresse liegt dabei in der Suche nach Spuren einer möglichen Alternative, die diesen scheinbar im doppelten Sinne fatalen Umschlag zu vermeiden vermöchte. Negri ist dabei nicht auf Hölderlin und den Empedokles gestoßen, wohl aber natürlich 21 Friedrich Schiller, Werke und Briefe in 12 Bänden, hg. v. Klaus Harro Hilzinger u. a.; Bd. 3, hg. v. Gerhard Kluge, Frankfurt/Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1989, 467 f. 22 Ganz analog zu Peter Szondis Deutung des Motivs vom »anderen Pfeil« in der Feiertagshymne: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/Main 1975, 217–323. 23 Antonio Negri, Le pouvoir constituant. Essai sur les alternatives de la modernité, Paris 1997.

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auf Rousseau, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Darin sieht Negri auch in Rousseau einen Theoretiker der Legitimierung des Umschlags. Das würde ich, gerade auch von Hölderlins Rousseau-Weiterführung her, bestreiten. Man muss Rousseau m. E. unbedingt im Kontext seiner zeitgenössischen Rezeption lesen – und da wirkte er mit seinem Plädoyer für die direkte Plenardemokratie und mit seiner Kritik der parlamentarischen Repräsentation sowie verglichen mit der Kontrastfolie der anderen Begründer der konstituierten Souveränität gerade als Legitimierer eines bleibenden »pouvoir constituant«. Wenn die Realpolitik Rousseau seine »Paradoxe« vorwarf, so galt gerade sein Plädoyer für ein »pouvoir constituant« in Permanenz als sein politisches »Paradox« par excellence – und gilt es, bei Lichte besehen, noch bis heute. Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass mit diesem Plädoyer für Volldemokratie, wie sich sagen ließe, eine möglicherweise unlösbare Problematik aufgeworfen ist. Das Testament des Empedokles, so meine These, ist als Versuch einer Antwort auf die Problematik dieses rousseauistischen »Paradoxons« zu lesen. In seiner politischen Dimension propagiert Hölderlins Projekt jedenfalls präzise einen andauernden, nicht durch eine Souveränität kassierten »pouvoir constituant« und reflektiert dessen Bedingungen der Möglichkeit. Das ist der Kern des Testaments, in dem Empedokles das Volk als »pouvoir constituant« nicht an eine schriftliche Verfassung mit Wahlverfahren (eine »législation« im herkömmlichen Sinne), sondern an die »Natur« verweist. Statt schriftlicher Verfassung ein einer Verfassung funktionsanaloger Mythos als ›andere‹ Art von »législation«. Anders gesagt soll eine »neue Religion« der Natur, eine »Zivilreligion« im Sinne Rousseaus, die permanente Demokratie stabilisieren. Inhaltlich geht damit allerdings eine Agrarreform mit egalitärer Neuaufteilung wie bei Lykurg, Agis, den Gracchen und Babeuf einher. (Es braucht kein Wort darüber verloren zu werden, dass realiter eine derart radikale Sozialrevolution, und zudem im Kontext des kapitalistischen Take-off, durch keinerlei Mythos und durch keinerlei neue Religion hätte stabilisiert werden können.) Was nun das Motiv des Suizids betrifft, so erscheint es im Kontext der Problematik eines permanenten »pouvoir constituant« ganz transparent: Wie Lykurg verschwindet Empedokles als potentieller »pouvoir constitué«, als potentieller Souverän, in der »Natur«, vollzieht einen mehrstimmigen »retour à la nature«, wird wieder »Natur«: Suizid als Verunmöglichung des fatalen Umschlags in die Souveränität und als Permanenzermöglichung eines volldemokratischen »pouvoir constituant«. Wenn der Lykurg-Mythos zunächst auch dominant säkular erscheint, so war daneben mehrfach bereits eine quasi ›religiöse‹ Dimension zu konstatieren. In dieser Dimension erscheint der Suizid als »Opfer« und ist innerhalb des mehrstimmigen Satzes der konnotierten Mythen als »Christus-Stimme« präsent. Damit wird der Sturz in den Ätna aber von Hölderlin als Alternative gegen das Kreuz im wörtlichen Sinne ›in Szene gesetzt‹. In Form zweier weiterer Über-

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sichtsschemata seien einige für unser Thema relevante Komponenten der Struktur in kondensierter Weise dargestellt: Liste der verschiedenen Motivationen des empedokleischen Suizids (teils im Vorgriff auf anschließend Auszuführendes): (1) Kränkung der persönlichen Ehre und Liebesschmerz, individuell begründete Depression (autobiographische Konnotation?)24 (2) Freitod als testamentarischer Akt einer Konstitution (»législation«); Ly­kurgStimme (3) Symbol (»Zeichen«) des (naturgeschichtlichen) »retour à la nature«; Rousseau-Stimme (4) Symbol des politischen »retour à la nature« (der Revolution als Rückkehr ins »Volk« als währendem »pouvoir constituant«); Rousseau-Stimme (5) testamentarischer Vollzug und/oder Symbol eines zum Kreuz alternativen »Opfers« (Christus-Stimme) (6) testamentarischer Vollzug und/oder Symbol einer Epochenwende (geschichts­ philosophische Stimme) Diese ›mehrstimmige‹ Anlage, bei der wie bei einem homophonen musikalischen Satz ›unter‹ der Hauptstimme der Bühnenhandlung mehrere konnotierte analoge Handlungen, und darunter insbesondere eine konnotierte Rousseau-Handlung, mitgeführt wurden, musste die Sprache vielfältig symbolisch aufladen bzw. musste, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, ihre syntagmatische Dimension vielfältig paradigmatisch expandieren. Das lässt sich am einfachsten an dem dominanten Symbol des Vulkans erweisen25: P: Vulkan

S1: elementare Natur, Hen kai Pân, Ur-Äther S2: Zustand natürlicher An-archie S3: Revolution S4: Volk als »pouvoir constituant« S5: Französische Revolution, »Montagne«

Aus dieser mehrstimmigen musikanalogen Anlage ergab sich insbesondere, wie bereits erwähnt wurde, eine gravierende Folgelast für die dramatische Kate­gorie 24 Diese im »Frankfurter Plan« noch familialistisch konkretisierte Motivation wurde bald weitgehend aufgegeben und stark generalisiert. 25 P steht in der folgenden Übersicht für Pictura im Sinne eines potentiell ikonischen Symbolisanten generell, S für Subscriptio im Sinne von Symbolisat (symbolischem Sinn) generell. S. zum generellen strukturalen Symbolmodell Jürgen Link, »Zum Anteil der Diskursanalyse an der Öffnung der Werke: Das Beispiel der Kollektivsymbolik«, in: Ulrike Haß/ Christoph König (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, Göttingen 2003, 189–198.

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der Figur: Sie drohte ihr bühnenbezogenes Profil einzubüßen. Anders gesagt: Aufgrund der bereits prä-musikalischen Struktur drohten die Figuren »opern­ haft« zu werden, d. h. »charakter«-los und rein symbolisch wie extrem bei Wagner. Tatsächlich aber ist es Hölderlin in den beiden ersten erhaltenen Fragmenten in überzeugender Weise gelungen, diese Gefahr zu meistern. Es gelang ihm dadurch, dass er – inspiriert durch seine Rousseau-Analogie – den vertikalen Widerspruch zwischen der individuellen Person auf der Bühne und ihren kollektiv-mythischen, symbolischen Resonanzen selbst zum Motiv der dramatischen Kollision, zur hamartía des Empedokles machte. Dessen »Wortschuld« (»Um eines Wortes willen?«) liegt nicht etwa im Ausplaudern religiöser Geheimnisse ans Volk, wie es der fanatische Priester Hermokrates und mit ihm manche Germanisten26 unterstellen, sondern darin, dass er sich als Volkserzieher nicht völlig vom Herrschafts-Kode (Herrschaft über die Natur: »und mein ist das Feld« mit der Resonanz einer berühmten Rousseau-Stelle27), also nicht von seinem aufklärerischen Erbe lösen kann. Das Volk hat diesen Herrschafts-Kode seiner Lehre ›gelernt‹, also internalisiert, und will ihn daher folgerichtig zu seinem Herrn, zum König, zum Souverän machen (und damit seinen »pouvoir constituant« verspielen). Empedokles erkennt seine harmartía, verfällt in Melancholie und zieht sich aus der Stadt in seinen Garten zurück. Diese Krise des Protagonisten wird vom Priester dazu benutzt, um Volk und Staat gegen ihn aufzuhetzen. Er wird verbannt und dorthin gejagt, wohin er längst tendierte: zurück in die wilde Natur. Eine solche Lektüre der »Wortschuld« erlaubt es mithin, den gesamten Be­ ginn der Tragödie in der Kritias- und Mekades-Fassung als höchst durchdachte expositorische Komposition in »tragischer Ironie« zu begreifen: Empedokles wird dadurch gestraft und muss dadurch leiden, dass er ständig den von ihm fälschlicherweise (im musikalischen Sinne) ›angeschlagenen‹ Diskurs-Ton aus fremden Mündern, und sogar aus dem Mund seines Lieblings Pausanias, konno­ tativ seines ›schönen Jüngers Johannes‹ in der Christus-Stimme, wiederholt hört. Aus dieser Lektüre der Exposition ergibt sich auch der weitere Verlauf der Tragödie in großen Zügen mit hinreichender Plausibilität: Wenn die hamartía 26 So schon von Wiese, »Hölderlins mythische Tragödie«, 367: »Wohl gelangt der Priester in der zweiten Fassung der Dichtung zu einer tieferen Auffassung und sieht die Schuld des Empedokles in der Auslieferung und Mitteilung des Verborgenen an die unmündige Masse«. Ein Beispiel für viele ferner Ulrich Hötzer, Die Gestalt des Herakles, 81: »[…] Grund der Verschuldung des Empedokles, der eben darin besteht, daß dieser in seiner erhöhten Stellung sich nicht zu bescheiden weiß und aus schrankenloser Liebe zum Volk seine letzten Geheimnisse preisgibt« – Hermokrates sei also Sprecher des impliziten Autors (Hölderlins). 27 Fast wörtliche Anspielung auf den wirklich »epochal« berühmten Eingang zum Zweiten Teil des Zweiten Discours über die Entstehung des Privateigentums durch die erste Einzäunung. Vgl. zu dieser Anspielung ausf. Link, »Schillers Don Carlos und Hölderlins Empedokles«, 110 f., sowie HR , 201 ff.

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des Empedokles darin besteht, dass er seine Naturerkenntnis und Volkserziehung in einem Diskurs von Widernatur (Herrschaft über die Natur, Privateigentum) formulierte; wenn er daraufhin zu seinem Entsetzen feststellen musste, dass die Volksmassen mehr die symbolische Form (die Symbolisanten) dieses Diskurses, also Herrschaft und Privateigentum, als seinen ›Inhalt‹, seine Symbolisate, internalisiert hatten – dann wird er den kurzen Rest seines Lebens zur Korrektur dieses Fehlers verwenden und dieses tragische Leben selbst in einen Symbolisanten von Herrschaftsfreiheit gegenüber Natur und Volk verwandeln. Und diese Korrektur kann dann im Suizid kulminieren: in einem Suizid als Symbol-Werden, »Zeichen«-Werden in Hölderlins Sprache, Diskurs-Werden bzw. Gesang-Werden mit der berühmten Formulierung aus der Friedensfeier28 – perfekte »Sühnung« der hamartía, indem Empedokles durch seinen Suizid den verhängnisvollen aufklärerischen Diskurs einer Herrschaft über die Natur aufs wirkmächtigste ersetzt durch einen mythisch gelebten Diskurs der Rückkehr zur Natur und der An-arché, der Herrschaftslosigkeit gegenüber Natur und Volk, der letztmöglichen Fluchtlinie. Damit streicht die Figur aber gleichzeitig am Schluss ihr individuell und personal begrenztes Profil, ihr Figur-Sein, sozusagen durch und verschwindet im Diskurs, so wie Foucault es sich 170 Jahre später am Beginn seiner Antrittsvorlesung am Collège de France wünschen würde. Dieses Selbst-Durchstreichen bleibt aber der letzte freie Akt des Selbst und damit eine gültige dramatische Handlung. Damit ist auch der Widerspruch zwischen Suizid als personalem Akt und Suizid als Symbol integriert: Der Akt besteht eben darin, Symbol zu werden. Gleichzeitig impliziert der Akt die Befreiung vom Privaten. Was hat Hölderlin gehindert, dieses schlüssige Konzept tatsächlich zum Schluss zu führen? Eine sehr pragmatische Erklärung, mit allerdings nur partieller Reichweite, hat Pierre Bertaux vorgeschlagen: Hölderlin habe den Empedokles zunächst sozusagen als Eröffnungs-Festspiel für die kurzzeitig im Jahr 1799 erwartete Proklamation einer Suevischen Republik unter französischem Patronat (nach dem Vorbild der Batavischen, der Helvetischen und der italienischen Republiken, darunter der Parthenopäischen mit ihrer Aussicht auf Sizilien und Griechenland) geplant gehabt. Präzise am 17. März 1799, glaubt Bertaux zu wissen, habe Hölderlin diesen Plan aufgegeben, weil das Direktorium am Tag zuvor seinen General Jourdan instruiert habe, das Projekt einer Suevischen Republik fallen zu lassen29. Von da an habe Hölderlin das Konzept des Empedokles auf Verschlüsselung der politischen Botschaft umgestellt. Dabei ist die Annahme, dass die Homburger Freunde zeitweilig auf eine Suevische Republik gehofft hätten, durchaus plausibel. Was aber den Empedokles betrifft, so war diese Hoffnung

28 »Bald sind wir aber Gesang«. 29 Bertaux, Hölderlin und die Französische Revolution, 110 f.

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sicherlich nicht Hölderlins einzige »Option«, wie man heute sagen würde. Bertaux irrt sich in der Annahme, zwischen der Kritias- und der Mekades-Fassung liege ein tiefer Einschnitt und der Hermokrates der Mekades-Fassung sei im Unterschied zur Kritias-Fassung eine positive Figur, die mit ihrer Verdammung der »Wortschuld« im Sinne von Profanierung religiöser Geheimnisse recht habe, weil sie für »Verschlüsselung« plädiere. Was dem früheren Geheimdienstmann Bertaux als »Verschlüsselung« erschien, ist vielmehr nichts anderes als die ›mehrstimmige‹ Resonanz-Struktur, die seit der Aufgabe des »Frankfurter Plans« die kontinuierliche Basis von Hölderlins Schreiben bildete. Mindestens so wichtig, ja wichtiger in politischer Hinsicht als der 16. März war der 9. November 1799 für Hölderlin, der 18. Brumaire nach dem Revolutionskalender, als Napoleon Bonaparte »eine Art von Dictator« der Republik wurde.

5.2.3. Der moderne Empedokles Rousseau gegen den modernen Strato Napoleon Die drei fragmentarischen Ansätze von Hölderlins Tragödie lassen sich durch den Wechsel im Namen des staatlichen Antagonisten des Empedokles unterscheiden: Kritias-Fassung

Mekades-Fassung

Strato-Fassung

Empedokles

Empedokles

Empedokles

Pausanias

Pausanias

Pausanias

Hermokrates

Hermokrates

Manes

Kritias

Mekades

Strato

Panthea

Panthea

Panthea

Delia

Delia

Ein radikal neues Konzept des Empedoklesprojekts liegt entgegen Bertaux’ These nicht in der Mekadesfassung vor, wohl aber in der Strato-Fassung – und nicht Empedokles besitzt eine Napoleon-Konnotation, wohl aber die neue Figur eines ebenbürtigen »Gegners« namens Strato, die in altgriechischem Tragödienstil als Bruder des Empedokles und als König auftritt30: Sein Gegner, groß in natürlichen Anlagen, wie Empedokles, sucht die Probleme der Zeit auf andere, auf negativere Art zu lösen. Zum Helden geboren, 30 Vgl. ausf. HR , 217 ff. Bereits Alfred Romain vertrat (kurz und pauschal) diese These (»Ganymed«, 83).

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ist er nicht sowohl geneigt, die Extreme zu vereinigen, als sie zu bändigen, und ihre Wechselwirkung an ein Bleibendes und Vestes zu knüpfen, das zwischen sie gestellt ist, und jedes in seiner Gränze hält, indem es jedes sich zu eigen macht. Seine Tugend ist der Verstand, seine Göttin die Nothwendigkeit. Er ist das Schiksaal selber, nur mit dem Unterschiede, daß die streitenden Kräfte in ihm an ein Bewußtsein, an einen Scheidepunct vestgeknüpft sind, der sie klar und sicher gegenüberhält, der sie an einer (negativen) Idealität bevestiget und ihnen eine Richtung giebt (I , 877). Die beiden Brüder, nach meiner Vermutung mit den Konnotaten von Hölderlins einzigen beiden modernen »Halbgöttern«, Rousseau und Napoleon Bonaparte, stehen sich nun sozusagen auf Augenhöhe, jeder mit historischer Legitimität – als volldemokratischer »pouvoir constituant« in Permanenz gegen den »pouvoir constitué« des Souveräns –, wahrhaft tragisch entgegen. Der Name Strato konnotiert stratós, also Armee, und Stratege, was zu Napoleon passt31. Gleichzeitig wird Panthea zur Schwester der beiden Brüder und Hermokrates zum ägyptischen Weisen Manes, der den ›Obskurantismus‹ (Hermetik) seines Vorgängers abgelegt hat und nun wie Teiresias bei Sophokles ebenfalls auf der gleichen Höhe wie Empedokles steht. Für die Datierung würde daraus folgen, dass diese Neukonzeption und mindestens der Schlussteil, womöglich aber auch der gesamte Text des Grunds zum Empedokles erst nach dem Brumaire entstanden, also in den Winter 1799/1800 zu situieren wären32. Man müsste sich dann einen einsamen Hölderlin in Hom­ burg vorstellen, der zum mit sehnlichsten kairologischen Hoffnungen erwar­ teten Jahrhundertwechsel überzeugt gewesen wäre, alle Voraussetzungen für die Vollendung der bündigen Tragödie dieses Kairos nun zu besitzen und sie in dem ersten, noch in Homburg verbrachten Halbjahr des Jahres 1800 abschließen zu können. Es gibt nun starke Indizien, ja annähernde Beweise dafür, dass die Strato-Fassung zumindest in Skizzenform sehr viel weiter vorangeschritten war, als es das überlieferte Fragment des Ersten Akts nahelegt. Diese Indizien finden sich in dem Szenarium am Ende des Grundes. Dort werden aus allen Akten Vers­ anfänge von Dialogpartien konkreter Figuren zitiert, meistens mit dem Zusatz »p. p.«. Zur Illustration zwei Beispiele:

31 Während die Namenssymbolik des Hyperion viel diskutiert wurde, fehlt eine solche Diskussion beim Empedokles nahezu ganz. Nur die Namen des Helden sowie des Pausanias und der Panthea finden sich in der Quelle Diogenes. Auch im meistens besten Kommentar von Jochen Schmidt und Katharina Grätz fehlen Hinweise zu Strato (DKV  II , 1177). 32 Auch Knaupp nimmt an, dass die neuerliche Arbeit am Empedokles »frühestens im Oktober« (1799) wieder habe einsetzen können (III , 349) und die Ausführung der Strato-Fassung »etwa im Dezember 1799« begonnen habe (III , 352).

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Greis. Der König bittet seinen Bruder p. p.   König überwältiget bejaht es. Aber er will auch nicht mehr berathen seyn, will keinen Mittler zwischen sich und seinem Bruder haben, und der Alte soll hinweg. Nun geh, ich brauche keinen Mittler. (I , 879)   –

Empedokles.

Wer mag die Jahre zählen – aber Übergang von subjectiven zum objectiven.   Da der König abgehn will, begegnet ihm ein Bote, der das herannahende Volk verkündiget. In seiner Erschütterung spricht er den Glückseeligkeits­ gesang, geht dann in Entrüstung über und befiehlt, daß die Bewaffneten sich verbergen sollen, um aufs erste Zeichen, das er geben werde, p. p. (I , 880) Das spricht doch stark dafür, dass Hölderlin etwa den »Glückseeligkeitsgesang« des Strato bereits sehr genau konzipiert, wenn nicht schon skizziert hatte. Was nun das Schlussmotiv des suizidalen Ätnasturzes betrifft, so bildet er weiter das Telos des Handlungsgewebes und wird sozusagen immer enger eingekreist, indem der Beginn der Handlung ihm näher rückt – im ausgeführten Stratofragment bis auf klassisch-griechische zwölf Stunden, weil diese Fassung bereits am Mittag des letzten Tages auf dem Ätna einsetzt und der Tod für die kommende Mitternacht angekündigt wird. Umgekehrt erscheint dieser Schluss aber mehr und mehr als vom Text gemiedene Leerstelle, wenn das letzte erhaltene Szenarium den Suizid offenbar zwischen den vierten und fünften Akt situiert. Der Monolog des Empedokles in Szene  IV,  4 soll offenbar mit dem Gang in den Tod enden, während die Massenszenen des fünften Aktes danach zu denken sind. Dort soll Manes das Testament des Protagonisten verkünden – vorausgesetzt, dass es weiterhin eine herrschaftsfreie, permanent demokratische und sozialutopische As-Sociation auf neorousseauistischer Basis proklamiert hätte: Wie hätte Strato darauf reagieren sollen? Der reale Bonaparte opferte den Rousseauismus seiner Jugend der Realpolitik. Auf jeden Fall wäre in der Strato-Fassung die Ablehnung der Königswürde durch Empedokles weggefallen – stattdessen hätte das Testament offensichtlich die Abschaffung der Monarchie gefordert, und Strato hätte sich gefügt und abgedankt. Denn das Testament des Empedokles wäre von Manes »am Saturnusfeste« verkündigt worden (I , 903) – dem Fest der herrschaftsfreien Zivilgesellschaft nach der Ode Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter.

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie 

Durch die zeitliche Raffung und die ›Hebung« aller Figuren auf die altgriechische tragische Höhe fiel nicht nur das Motiv der abgelehnten Königswürde weg, sondern auch dramatische Prozesse wie die Auseinandersetzung mit dem »Pfaffen« Hermokrates33, dessen Nachfolger Manes kein »Pfaffe« mehr ist. Insbesondere bleibt es rätselhaft, warum Hölderlin die geniale hamartía der »Wortschuld« im Sinne eines quasi-musikalischen Diskurs-Missgriffs opferte und im Grund an ihrer Stelle eine höchst unkonkrete und wenig plausible »Probe« postulierte, die dann in den Strato-Fragmenten überhaupt nicht vorkommt. Stattdessen erwecken sowohl die Szenarien wie der ausgeführte erste Akt den Eindruck, als ob ein Gutteil der dramatischen Dynamik nun in der Auseinandersetzung um die Legitimität der Berufung zum »Halbgott« konzentriert worden wäre, weil nur diese Berufung auch den Suizid als symbolische Festigung einer »natur«-gegründeten Verfassungsgebung zu legitimieren scheint. Statt der »Wortschuld« also der Kampf um die Legitimität eines Symbolwerdens durch Suizid. Dieser Kampf findet in dem vollendeten ersten Akt zwischen Empe­dokles und Manes statt. Es gab mithin mindestens drei erhebliche strukturelle Probleme des Empedokles-Konzepts, die durch die Neukonzeption des Grundes und der StratoFassung vermutlich bis zur Aporie zugespitzt wurden: Das erste Problem bestand entsprechend dem quasi-musikalischen Modell einer Mehrzahl enggeführter ›Stimmen‹ darin, den Schlussakkord des Ätnasturzes zu komponieren. Hölderlin versuchte in der Strato-Fassung, dieses Problem durch die Hinzufügung einer weiteren, gleichzeitig geschichtsphilosophischen wie symboltheoretischen Stimme zu lösen. Dabei verwendet er den Begriff des »Zeichens« exakt im Sinne von Symbol:

Dann folgen wir, zum Zeichen, daß wir ihm Verwandte sind, hinab in heil’ge Flammen. (I , 900)

Hierbei bezieht »ihm« sich auf den »Herrn der Zeit«, eine Art Gott, d. h. Geist oder Diskurs, der historisch-kairologischen Epoche. Das zweite Problem war in gewisser Weise ein Teilproblem des ersten, aber von besonderer Wichtigkeit: Dabei ging es um den richtigen Akkord zwischen der Bühnenfigur Empedokles als individueller Person und ihrer Tiefendimension als kollektiver historischer Tendenz, als neuem Diskurs. Dieses zweite Problem wird in der Kollision zwischen Manes und dem Protagonisten am Beginn der Strato-Fassung explizit dramatisiert: Doch sollst du mir Nicht unbesonnen, wie du bist, hinab – Ich hab ein Wort, und diß bedenke, Trunkner! 33 »Tief im Herzen haß ich den Troß der Despoten und Pfaffen / Aber noch mehr das Genie, macht es gemein sich damit.« (I , 184)

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Nur Einem ist es Recht, in dieser Zeit, Nur Einen adelt deine schwarze Sünde. (I ,  896 f.)

Mit der schwarzen Sünde ist der Selbstmord gemeint, der nur für eine einzige Ausnahmeperson exkulpierbar sei:

Der Eine doch, der neue Retter faßt Des Himmels Stralen ruhig auf, und liebend Nimmt er, was sterblich ist, an seinen Busen, Und milde wird in ihm der Streit der Welt. Die Menschen und die Götter söhnt er aus. Und nahe wieder leben sie, wie vormals, Und daß, wenn er erschienen ist, der Sohn Nicht größer, denn die Eltern sei, und nicht Der heilge Lebensgeist gefesselt bleibe Vergessen über ihm, dem Einzigen, So lenkt er aus, der Abgott seiner Zeit, Zerbricht, er selbst, damit durch reine Hand Dem Reinen das Nothwendige geschehe, Sein eigen Glük, das ihm zu glüklich ist, Und giebt, was er besaß, dem Element, Das ihn verherrlichte, geläutert wieder. Bist du der Mann? derselbe? bist du diß? (I , 897)

Hölderlins Sprache ist emphatisch im Sinne der Trope émphasis, die innerhalb allgemein klingender Worte implizite Teilbedeutungen akzentuiert. Um in aller Kürze die Lektüre in die implizierte semantische Richtung zu orientieren, sei angeregt, »Götter« als ›Naturenergien‹ zu lesen, »Eltern« (des »Halbgotts«) als einerseits Menschen und anderseits Götter, »Lebensgeist« und das »Reine« als das ubiquitäre Urelement des »Aethers«34, als die in-different materiell-geistige, monistische Substanz des Spinoza35. Das ›Fassen der Himmelsstrahlen‹ bezieht sich wie in der Feiertagshymne auf die Fähigkeit, die Elektrizität des Blitzes wie ein Blitzableiter unbeschadet aufzunehmen. Das ist eine symbolische Formulierung für die Fähigkeit des »Halbgotts«, sich unzerstört und produktiv den elementaren Energien der Natur, einschließlich der – exemplarisch revolutionären  – Energien im »Volk«, auszusetzen. Manes fragt also den Empedokles: Bist du ein Halbgott, bist du der Halbgott dieses Kairos? Dabei klingt in der Christus-Stimme die Frage des Täufers (Mt. 11,3; Lk. 7,19) wie auch die Situation 34 S. ausf. Link, »Aether und Erde«. 35 Vgl. dazu die ausführliche Begründung mittels einer naturgeschichtlichen Rekonstruktion der hölderlinschen »Religion« und insbesondere ihrer Kategorien »Gott«, »Götter« und »Halbgötter« in HR , 121–154.

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie 

der Versuchung mit. Empedokles hätte das Recht, mit ja zu antworten, weicht der Antwort aber aus. Indem Manes die Legitimität eines politisch-testamentarischen Suizids nach dem Modell Lykurgs auf eine einzige Person pro Epoche einschränkt, wird die Frage der individuellen Moral und der persönlichen Freiheit trotz der Polyphonie der Figur so ernst wie möglich genommen. Empedokles selbst kann sich aber auch einen legitimen Doppelsuizid vorstellen, den er dem Pausanias wegen dessen Jugend verweigert, dem uralten Manes aber anbietet. Eine dritte Möglichkeit, Suizid als freien Akt der Person und als symbo­ lischen Akt eines polyphonen »retour inventif« zu integrieren, hätte im symbolischen ›Entgegenkommen‹ des Vulkans gelegen, d. h. in seinem mitternächt­ lichen Ausbruch. Für eine solche Schlusswendung sprechen die folgenden Verse der Strato-Fassung:

Und heute noch begegn’ ich ihm, denn heute Bereitet er, der Herr der Zeit, zur Feier Zum Zeichen ein Gewitter mir und sich. Kennst du die Stille rings? kennst du das Schweigen Des schlummerlosen Gotts? erwart’ ihn hier! Um Mitternacht wird er es uns vollenden. (I , 899)

Was wagnersche Bühnenphantasie vorwegzunehmen scheint, die Konvergenz eines oberen Gewitters mit dem »unterirrdischen Gewitter« des ausbrechenden Vulkans, wäre die originelle Poetisierung eines Schlussmotivs der französischen Revolutionsdramatik gewesen, wo – etwa in Pierre-Sylvain Maréchals Le dernier jugement des rois – der ausbrechende Vulkan als Symbol der Montagne die letzten Könige verschlingt. Zur Poetisierung dieses Motivs bei Hölderlin gehört zusätzlich eine geschichtsphilosophische Komponente, signalisiert durch eine Historisierung des mythischen Zeus als »Herr der Zeit« und »Herr der Erde«. In dieser Perspektive resümiert Empedokles im Ätnasturz symbolisch den Schluss einer Epoche und eröffnet dadurch eine neue: inventive Rückkehr als Epochenwende. Je dichter aber die symbolischen Stimmen des Ätnasturzes komponiert werden, umso prekärer erscheint trotz allem der Akkord zwischen diesen Symbolstimmen und dem Suizid als freiem, personalem Akt:

Zu enden hier, befreit von andrer Pflicht In freiem Tod, nach göttlichem Geseze! (I , 900)

Wenn sich Determination (»göttliches Gesetz«) auch in einem allgemeinen Sinne mit Kontingenz zusammendenken lässt, so bleibt die In-differenz von Determination und jener besonderen Spielart der Kontingenz, die auch Empedokles Freiheit nennt, dennoch problematisch. Diese In-differenz von Symbol und Akt lag für Hölderlin in dem freien Akt, aus einem lebenden Menschen durch den Tod ein kollektives Symbol zu werden – ein kollektives und damit ein im »Volk«

Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin  

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weiterlebendes: nicht als Symbol, wohl aber als Akt unaufhebbar problematisch. Also nur dem »Halbgott« erlaubt – der aber vermutlich bereits ein Symbol ist, so dass in diesem endlosen Zirkel eine unauflösbare Dissonanz bleibt, die auch den schreibenden Autor selbst erfasst und durchaus als eines der Ereignisse begriffen werden kann, die die Hymnendichtung begründeten und sich in ihr – je länger, umso stärker – reproduzierten. So hätte der Vulkanausbruch die Freiheit der Handlung unsichtbar zu machen gedroht, die nur durch luzide Voraussicht als plausibel zu behaupten war, womit die Aporie sich lediglich auf einer zusätzlichen Strukturebene reproduzierte. Sollte Hölderlin beim Neukonzept der Strato-Fassung gehofft haben, dass die strengere altgriechische Form die Problematik einer Lösung durch Symbol-Werden eher ›tragen‹ könnte, so wurde er während der Arbeit offensichtlich eines anderen belehrt: Die modernen Antagonismen zwischen historischem Akteur und naturdeterminierter Funktionsrolle, zwischen autonomem Subjekt und Symbol blieben bestehen. Die strenge Form der altgriechischen Tragödie tendierte, als Hölderlin sie mit der mehrstimmigen Struktur kombinierte, zusätzlich zum wagnerschen Typ der Oper mit ihren ganz symbolischen Figuren. Das aber widersprach sowohl dem griechischen Modell als auch Hölderlins Projekt. Obwohl die Gründe für das Abbrechen des Empedokles um die Mitte des kairologisch so prominenten Jahrs 1800, endgültig dann mit der Rückkehr aus Homburg nach Nürtingen und Stuttgart, opak bleiben, könnte ein Teil des »Laborierens« aus dem ersten Böhlendorffbrief auf das Konto der Arbeit an der Strato-Fassung des Empedokles gehen: Ich habe lange daran laborirt und weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik36, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. (912 f.) Zu dieser Vermutung würde jedenfalls die daran anschließende Formulierung passen: »Das hat Dein guter Genius Dir eingegeben, wie mir dünkt, daß Du das Drama epischer behandelt hast« – also eine Schreibweise am Gegenpol der Strato-Fassung. (In einer zu dieser Rousseau-Napoleon-Analogie parallelen Hypothese hat Alexander Honold vorgeschlagen, die Ode Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter [I , 285] ebenfalls mit der gleichen Analogie und also Jupiter mit einer Napoleon- und Saturn mit einer Rousseau-Stimme zu lesen37. Sowohl die Zeit der Entstehung wie die Parallelität des Konzepts sprechen für die Richtigkeit dieser Annahme.)

36 Gemeint ist künstlerische Geschicklichkeit. 37 Honold, Hölderlins Kalender, 102–116.

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie 

5.2.4. Der Rhein Die zehnte Strophe der Rheinhymne enthält den einzigen erhaltenen Beleg für die Bezeichnung einer modernen, historischen und mit Hölderlin epochal zeitgenössischen Person als »Halbgott«. Dieser »Halbgott« ist Rousseau: Halbgötter denk’ ich jezt Und kennen muß ich die Theuern, Weil oft ihr Leben so Die sehnende Brust mir beweget. Wem aber, wie, Rousseau, dir, Unüberwindlich die Seele Die starkausdauernde ward Und sicherer Sinn Und süße Gaabe zu hören, Zu reden so, daß er aus heiliger Fülle Wie der Weingott, thörig göttlich Und gesezlos sie die Sprache der Reinesten giebt Verständlich den Guten, aber mit Recht Die Achtungslosen mit Blindheit schlägt Die entweihenden Knechte, wie nenn ich den Fremden? (I , 346) Rousseau wird hier als eine Art Reinkarnation des frühgriechischen »Halbgotts« Dionysos gesehen, was mit seiner Musikalität (»süße Gaabe zu hören«) und seiner »thörig-göttlichen«, »gesezlos[en]« Sprache begründet wird. Das bezieht sich auf jenen Rousseau, insbesondere den der Rêveries du promeneur solitaire, den man in Frankreich den »präromantischen« nennt. Die »Fremden« sind bei Hölderlin emphatisch Götterboten. Symptome eines solch göttlichen Fremdenstatus sind Einsamkeit und Trauer. In Strophe 11 erscheint Rousseau in dieser typischen Situation, gleichzeitig einer Situation der Rückkehr zur Natur: Dann scheint ihm oft das Beste Fast ganz vergessen da, Wo der Stral nicht brennt, Im Schatten des Walds Am Bielersee in frischer Grüne zu seyn […]. (Vs. 159–163) Eben diesen Rousseau hat der Sprecher der Hymne in der Eingangsstrophe appliziert: Im dunkeln Epheu saß ich, an der Pforte Des Waldes, eben, da der goldene Mittag Den Quell besuchend, herunterkam Von Treppen des Alpengebirgs […]. (342)

Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin  

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Auch die Rheinhymne, die ein »Schicksal« darstellen wird, das von Griechenland wegführt (»Vernahm ich ohne Vermuthen / Ein Schiksaal«, Vs. 10 f.), beginnt mit der griechischen Fluchtlinie: denn noch kaum War mir im warmen Schatten Sich manches beredend, die Seele Italia zu geschweift Und fernhin an die Küsten Moreas. (Vs. 11–15) In der dritten Strophe erweist sich das Schicksal des Rheins als ganz analoge Vereitelung einer Fluchtlinie zum Mittelmeer und nach Griechenland (Kleinasien): Und anderes hoffte der, als droben von den Brüdern, Dem Tessin und dem Rhodanus Er schied und wandern wollt’, und ungeduldig ihn Nach Asia trieb die königliche Seele. Das heißt, dass der Rhein ursprünglich eine Donau hätte werden wollen und damit ein Raum für Ereignisse wie Die Wanderung. Deus-Natura in Gestalt der kontingenten Gebirgsfaltungen lässt ihn nicht und zwingt ihn nach Nordwesten, wo er die Kultur Hesperiens gründet, und weiter zum Atlantik, jenseits dessen diese Kultur die ganze Erde entdecken und beherrschen wird. Die Aufklärung ist das, wie sie meint, höchste und stolzeste Resultat dieser atlantischen Fluchtlinie. Sie ist aber auch nicht zu trennen von der Idee und der ambivalenten Praxis einer destruktiven Beherrschung der Natur, wie sie nach Rousseau und Hölderlin Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung anklagten. Rousseaus spekulative Rekonstruktion des Naturmenschen implizierte eine Wertung, die einen unübersehbaren Antagonismus zur Aufklärung aufriss: Zum Stolz der Aufklärung gehörte die Überzeugung, dass die Destruktion des Naturmenschen nicht nur legitim, sondern notwendig sei für den Fortschritt der Menschheit. Das war die ernsthaft historische Ursache für den Antagonismus Voltaires und der Enzyklopädisten gegen Rousseau. In Hölderlins Sicht konnte Rousseau umgekehrt der moderne Halbgott Hesperiens werden, weil seine »Rückkehr zur Natur« eine Rückkehr zu Deus-Natura war, so dass dieser vagabundierende Philosoph, dessen menschliche Mutter wie Semele an seiner Geburt gestorben war, als eigentlichen, »göttlichen« Vater Dionysos hatte: den Traum von einer dionysischen As-Sociation, einer durch egalitäre und die Gesamtheit der Nation einbeziehende Volksfeste reproduzierbaren permanenten Demokratie. Im folgenden Schema sind die Rousseau-Konnotationen38, die die gesamte Rheinhymne bestimmen, erfasst39: 38 Ausf. dazu HR , 159–167. 39 Hölderlin gliederte in einem Kompositionsschema die 15  Strophen (hier arabische Zahlen) in fünf je dreistrophige »Partien« (hier römische Zahlen), wobei er I und II sowie III

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie 

I

II

III

IV

V

1 Naturland Schweiz

4

7 Liebesbande verdorben (Privat­ eigentum) 2. Discours

10 Rousseau Weingott Fremder

13 Liebende Julie und St-Preux

2

5 Jauchzen Wikelbanden (Émile)

8 Rebell Schwärmer

11 Rousseau Bielersee

14 kurze und lange Bahn Gedächtnis

3 freigeboren (Beginn ­Contrat) Wanderer Rhone

6

9 Wanderungen Gestade (Schiff) End-Ruhe

12 Gang gegen Abend

15

Entspricht also der »Halbgott«-Charakter Rousseaus exakt seinem ›Begriff‹ (›Kreuzung‹ von »Gott« und Mensch), so kann es auf den ersten Blick unklar erscheinen, wieso auch der Rhein, also ein Fluss, »Halbgott« genannt wird (in Strophe 2, Vs. 31). Worin bestände seine ›menschliche Hälfte‹? Müsste er als elementar-naturales Phänomen bei Hölderlin nicht als ›rein göttlich‹ kodiert werden? Nun war zwar bereits die natural-kulturelle Doppelkodierung des Rheins zu betonen – die kategoriale Frage bleibt dennoch bestehen, da Hölderlin nach einer der Arbeitshypothesen der vorliegenden Studie nicht vage metaphorische ›Rhetorik‹ betreibt, sondern strikte »Begriffe« verwendet. Dieses Problem löst sich allerdings völlig zufriedenstellend, wenn der von Rousseau inspirierte »Begriff des Centauren« (s. o. Kap. 5.1.1.) berücksichtigt wird. Dieser Begriff wird in dem Pindar-Aphorismus Das Belebende als der »vom Geiste eines Stroms« definiert. Damit ist mit relativer Sicherheit die zweite Phase des Naturzustands bei Rousseau (die frühen »Barbaren«, d. h. die sich an den Flüssen as-sociierenden Hirten) konnotiert. In den Hirten an den Flüssen öffnete sich sozusagen die in der ersten, »wilden« Phase des Naturmenschen noch kaum geöffnete Knospe des »Geistes« (der artikulierten Sprache und des Ichbewusstseins) erstmals zu voller Größe. Die Hirtenkollektive (im mythologischen Kode »Kentauren«, also halb Menschen, halb natürliche ›Tier‹-Körper) können deshalb völlig einleuchtend als »Geist eines Stromes« definiert werden: In ihnen gewinnt die Natur-Basis des Stromtals ein (kollektives) menschliches Bewusstsein. In diesem Sinne und IV kombinierte und V als »durchgängige Metapher« (metaphora continuata, also Isotopien-Parallelführung) dagegensetzte, so dass die Makrozäsur zwischen den Strophen 12 und 13 liegt (III , 191). Partie I /II handelt vom Halbgott Rhein, III /IV vom Halbgott Rousseau, V von der künftigen dionysischen Kultur auf der Basis der rousseauistischen inventiven Rückkehr zur Natur. Im Schema zeigen die den gesamten Text bestimmenden Rousseaubezüge diese Strukturachse.

Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin  

195

kann dann auch ein Strom wie der Rhein als »Halbgott« bezeichnet werden: als ›Kreuzung‹ dieser naturalen (»göttlichen«) Basis mit dem »geistigen« (menschlichen) Kollektiv ihrer Bewohner. Der mythische »Halbgott« der Hirtenphase ist Dionysos, weil die Hirten an den Flüssen Liebe, Musik, Poesie und Feste, dazu auch den Wein, kurz die Kultur erfanden. Dionysos ist also als mythischer Halbgott in allen Stromkulturen präsent als einer der Fluchtpunkte der griechischen Fluchtlinie. Hölderlins Stromhymnen (wie die Rheinhymne) »singen« die jeweilige Spezifik der Kultur, die in ihren Halbgöttern des Beginns (Dionysos des Rheins) und des Endes (Rousseau) transparent wird. War nun die ursprüngliche griechische Fluchtlinie auch des Rheins in die Gegenrichtung der atlantischen Fluchtlinie abgelenkt worden, so sollte sie – und das war ein Hauptthema bei Rousseau wie bei Hölderlin – in der Perspektive ihrer Entdeckungs- und Herrschaftsbegierde dennoch gerade wieder auf den Naturmenschen stoßen: auf den »indischen« Amerikas und der Pazifikinseln. In Rousseaus Julie-Roman, dem vermutlichen Liebesbrevier Hölderlins und Susettes, begibt sich Saint-Preux auf die Weltumseglungsreise Ansons, um die gesellschaftlich erzwungene Trennung von seiner »natürlichen« Liebe Julie zu bewältigen. Diese Flucht im Wortsinne führt Saint-Preux auf die Pazifikinsel Tinian, die von Julie in der schweizerischen Heimat als frei wachsender Naturgarten und nostalgisches Paradies ihrer Liebe nachgebaut wird. Hölderlin hat diesen Kontext in den Hymnenentwürfen Tinian und Kolomb appliziert. Auch die hesperische, atlantische Fluchtlinie des Rheins ›kehrt‹ also ›zurück‹ zur Naturbasis der frühen Menschheit, deren typische Entwicklungsphasen Rousseau beschrieben hatte und die insbesondere seit der »dionysischen« Phase paradigmatisch in Griechenland zu beobachten waren (wobei Hölderlin die griechische Entwicklung noch konsequenter privilegiert als Rousseau selbst). In jedem Kulturationsprozess kehrt der griechische wieder. Das zeigt sich in der Rheinhymne als Netz von griechischen Konnotaten, die mäandrisch zu denen Rousseaus parallel laufen: I

II

III

IV

V

1 Italien, Morea Dionysos (Epheu)

4 Pindar (Gnomai)

7

10 Dionysos

13

2 Donnerer

5 Herakles

8

11 Herakles

14 Sokrates

3 Tessin/Rhone

6

9

12

15

In der Mittelstrophe der abschließenden Partie (der 14.) ist es Sokrates, der die notwendige Luzidität einer Synthese am Ende einer kulturellen Epoche beweist, indem er während des gesamten nächtlichen »Gastmahls« mitten im allgemeinen dionysischen Rausch »helle zu bleiben« vermochte. Rousseau wurde

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Hölderlins moderner »Halbgott« Rousseau in der griechischen Fluchtlinie 

in »allbekannter« Manier mit Sokrates verglichen, und Hölderlins konnotierte Rousseau-Tragödie, die über Agis zu Empedokles verlief, hatte mit dem Projekt eines Tod des Sokrates begonnen. Im dionysischen Rausch »helle zu bleiben« könnte eine schöne Definition der »höheren Aufklärung« sein.

5.2.5. Frühgriechische und frühorientalische Naturmenschen und ›Natur‹-Kulturmenschen bei Rousseau und Hölderlin Mochte Heidegger auch unterstellen, Hölderlin habe in den letzten fünf Jahren vor seinem Zusammenbruch das lateinisch-ontische Wort »Natur« tilgen und ersetzen wollen, so scheiterte er umso gründlicher an den philologischen Fakten. Nicht nur musste er den Vers aus Am Quell der Donau (»heiliggenöthiget, nennen, / Natur! dich wir«; I , 353) mit einem philologisch unfundierten Argument wegeskamotieren (dazu HR , 259), vielmehr wurde er dann auch noch definitiv durch die Entdeckung der Friedensfeier widerlegt, die in der Anrufung »O Mutter […] Natur« kulminiert (I , 365). Diese Fakten wiegen umso schwerer, als Heidegger zutreffend bemerkt hatte, wie Hölderlin in diesen letzten Jahren vor 1806 lateinisches Wortmaterial in seiner Poesie durch deutsches zu ersetzen suchte40. Umso deutlicher zeigt sich, dass das Zeichen »Natur« die Orientierungsrichtung einer fundamentalen Perspektivlinie markiert, die Hölderlin von Spinoza und Rousseau übernahm und niemals revidierte. Mit Rousseau teilte er vor allem die Fluchtlinie einer »Rückkehr zur Natur«, deren konkrete Differenzierung er im Anschluss an Rousseaus frühgeschichtliche Phasen entwickelte. Gegen ein solches Unternehmen schien dabei jedoch nicht bloß die Verbreitung der banalen Version der Rückkehr-­ Formel zu sprechen, sondern insbesondere Hölderlins Favorisierung des klassischen Griechenlands und Athens. Musste nicht das klassische Athen als unvereinbar mit Rousseaus Konzept des Naturmenschen erscheinen? Wie jedoch zu zeigen war, hatte Rousseau die Vorstellung eines linearen und kontinuierlichen Entfremdungsprozesses in der Kultur, wie sie die »paradoxen« (heute würde man sagen: provokativen) Thesen des Ersten Discours ausgelöst hatten, im Zweiten Discours längst konkretisiert und dabei korrigiert. Wenn auch die glückliche Phase der Hirtenzeit (nicht die ursprüngliche Naturphase!) irreversibel verloren war, so gab es inventive Rückkehren, die (in der Terminologie der modernen Soziologie) jedenfalls partiell »funktionale Äquivalente« für das Verlorene erfanden. Und dazu gehörte vor allem die altgriechische Polisdemokratie, die auf vollständig neuer Basis eine egalitäre volonté générale und damit eine originelle ›Natur‹-Kultur erfand. In Rousseaus Augen war eine solche egalitäre volonté générale jedoch unvereinbar mit protokapitalistischem »Egoismus«, wes 40 Nur in seiner Poesie!

Figurationen Rousseaus und Rousseau zufolge bei Hölderlin  

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halb er Sparta gegenüber Athen favorisierte. Hölderlins Favorisierung Athens »korrigiert« also in diesem Punkt Rousseau, insofern er den Handelskapitalismus als kreative und eben hochgradig inventive Formation betrachtet, die dem Ideal einer »Begegnung von allem mit allem«, eines totalen Austausches, dienlich scheint41. Insbesondere ist der »geflügelte Krieg« entdeckerisch und mit Hölderlins bewunderten Entdeckungsreisen verknüpft, die wiederum auch den Naturmenschen der frühen Phasen wiederentdecken und aus dieser Begegnung ein enormes Potential inventiver Rückkehren schöpfen konnten und schließlich Rousseau selbst und seine Geschichtsphilosophie hervorbrachten. Was bei seinem Vorbild Rousseau implizit aporetisch war – die kontrafaktische Fixierung der Republiken egalitärer kleiner Bauern und Handwerker unter Bedingungen von Privateigentum und Marktfreiheit –, erweist sich bei Hölderlin nun offen als Antagonismus zwischen einer Favorisierung des Handelskapitalismus und einer Polemik gegen eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft.

41 Auf diese Problematik wirft auch eine Formulierung des erst 1999 wiedergefundenen Briefs an Ebel vom 6.7.1999 ein Licht, wo es heißt: »[…] ein Geschäfft zu begünstigen [Hölderlins Zeitschriftprojekt, J. L.], das dienen soll, die Menschen, ohne Leichtsinn und Synkretismus, einander zu nähern, und, indem es die verschiedenen Formen ihres Treibens und Lebens in Einem Geiste vereinigt, und in harmonischen Wechsel sezt, im Stillen sie zu beleben, sie der Beschränktheit ein wenig zu entrüken, den furchtsamen Egoismus, der immer auf Einem Puncte stokt, zu mildern, und die Seele der Gesellschaft in schnellern Umlauf zu bringen« (HJb 31 (1998/99), 29. Dieses entschieden interdiskursive Konzept konnotiert wahrscheinlich eine positive Sicht des Handels, besteht aber gleichzeitig auf der rousseauistischen Absage an »Egoismus«.

6. »Leben die Bücher bald?« Lebenslauf und Poesie – Fluchtlinie und Applikation

Im Empedokles-Abschnitt wurde bereits das für die Intention von Hölderlins Schreiben fundamental wichtige Prinzip einer notwendigen Verankerung im Leben des Autors erwähnt (man könnte dabei auch von einem »Sitz im Leben« sprechen1): Die Empfindung drükt sich nicht mehr unmittelbar aus, es ist nicht mehr der Dichter und seine eigene Erfahrung, was erscheint, wenn schon jedes Gedicht, so auch das tragische aus poetischem Leben und Wirklichkeit, aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muß, weil sonst überall die rechte Wahrheit fehlt, und überhaupt nichts verstanden und belebt werden kann, wenn wir nicht das eigene Gemüth und die eigene Erfahrung in einen fremden analogischen Stoff übertragen können. (I , 866) Der poetische Text, also das, »was erscheint«, ist kein Produkt naturalistischer Mimesis, wohl aber durchaus ein »Bild des Lebendigen«. Diese Kategorie des »Bildes« (konkretisiert je spezifisch auch als »Symbol« bzw. »Gleichniß«: alles ebd.) benennt also den Phänotyp des Gedichts, seine Erscheinungsweise, die unlöslich in ihrem Genotyp, der »eigenen Erfahrung«, wurzelt. Insofern kann man Hölderlins Literaturkonzept durchaus als ›realistisch‹ in einem sehr weiten Sinne kennzeichnen. Nun ist der Realismusbegriff durch inflationären Gebrauch und letztens vollends durch seinen Missbrauch im sogenannten »sozialistischen Realismus« zu Recht in Verruf geraten. Ob er sinnvoll neu begründet werden kann, bleibt abzuwarten. Ein naiver Abbildungsrealismus, wie ihn die etwas naive Delia im Empedokles äußert, ist sicher auch nicht Hölderlins Meinung: Sophokles! Jede wünscht sich, ein Gedanke Des Herrlichen zu seyn, und möchte gern Die immerschöne Jugend, eh sie welkt Hinüber in des Dichters Seele retten Und frägt und sinnet, wer sie sei, die hohe Die zärtlichernste fromme Heroide, Die er Antigonä genannt […]. (I , 772) 1 Dieser Begriff der religionswissenschaftlichen »Formgeschichte« nach Hermann Gunkel wird inzwischen auch über Bibeltexte hinaus sozialhistorisch verallgemeinert.

Lebenslauf und Poesie – Fluchtlinie und Applikation

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Nach all den Realismusdebatten wäre zu einer hypothetischen grundsätzlichen Neubegründung des Begriffs jedenfalls die Einbeziehung der Applikation in die Grundstruktur »realistischer« Texte unabdingbar. Hölderlin kann, wie gezeigt werden soll, als exemplarischer Fall für die konstitutive Rolle der Applikation betrachtet werden. Er hat sie in der Ode An die Deutschen als Programm formuliert: Oder kömt, wie der Stral aus dem Gewölke kömt, Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald? (I , 193) Applikation wird hier im spezifischen Sinne einer »pragmatischen Subjekt-­ Applikation« verstanden: »pragmatisch« als praktischer Gebrauch von Literatur im Leben, »Subjekt« mit Verweis auf Stärkung, Schwächung oder Neukonstitution der Subjektivität durch diesen praktischen Gebrauch2. Eine hölderlinsche ›Urszene‹ diene der Illustration. Magenau hat folgende Episode von einer Feier der Freunde im Stift festgehalten, bei der gemeinsam Schillers Lied an die Freude gesungen wurde: […] bei der Strofe ›dieses Glas dem guten Geist‹ traten helle klare Thränen in H. Auge, voll Glut hob er den Becher zum Fenster hinaus gen Himmel, und brüllte ›dieses Glas dem gut. G.‹ ins Freie, daß das ganze Nekkar Thal widerscholl. (SA VII /1, 396 f.) Die Applikation der Schillerverse bewirkt dabei zum einen die Stärkung oder Gründung eines kollektiven Subjekts der Freunde, eines Wir, zum anderen geradezu eine Explosion des individuellen Subjekts Hölderlins, das seine gesamte Psychophysis »tiefschüttert«, wie er sich später ausdrückt3. Durch die Einbeziehung des Neckartals, also der Natur, wird der »gute Geist« des Textes geradezu objektiviert – im Echo ertönt Schillers Vers aus einer durch diesen Vers veränderten Natur. Wesentlich für die Struktur der Applikation im Rahmen einer Problematik des Realismus ist also ihre dem Vektor der Mimesis entgegengesetzte Richtung (konverse Mimesis4): Während der Vektor der Mimesis von einer vorgängigen Realität aus in Richtung Text tendiert, von einem realen Vor-Bild zu einem literarischen Nach-Bild, tendiert der Vektor der Applikation umge­ kehrt von einem literarischen Vor-Bild zu einem realen Nach-Bild. So kann eine ›starke‹ Applikation sogar eine neue Realität allererst schaffen. Dass Hölderlin sehr bewusst und gezielt auf Applikation hin schreibt, zeigen seine Selbstzitate in den Briefen. So schreibt er nach der Trennung von Susette Gontard im Sommer 1798 an seinen Bruder:

2 Link/Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum, 165–175. 3 Brod und Wein (I , 376). 4 Dazu ausf. Jürgen Link, »›Wiederkehr des Realismus‹  – aber welches?«, in: kultuR­ Revolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 54 (2008), 6–21.

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Lebenslauf und Poesie – Fluchtlinie und Applikation

Schwimm hindurch, braver Schwimmer, und halte den Kopf nur immer oben! Bruderherz! Ich hab’ auch viel, sehr viel gelitten und mehr, als ich vor Dir, vor irgend einem Menschen jemals aussprach, weil nicht alles auszusprechen ist, und noch, noch leid’ ich viel und tief, und dennoch mein’ ich, das Beste, was an mir ist, sei noch nicht untergegangen. Mein Alabanda sagt im zweiten Bande: »Was lebt, ist unvertilgbar, bleibt in seiner tiefsten Knechtsform frei, bleibt Eins, und wenn du es zerreißest bis auf den Grund, und wenn du bis ins Mark es zerschlägst, doch bleibt es eigentlich unverwundet, und sein Wesen entfliegt dir siegend unter den Händen u.s.w.« Diß läßt sich mehr oder weniger auf jeden Menschen anwenden [Hervorhebung J. L.], und auf die Ächten am meisten. Und mein Hyperion sagt: »Es bleibt uns überall noch eine Freude. Der ächte Schmerz begeistert. Wer auf sein Elend tritt, steht höher. Und das ist herrlich, daß wir erst im Leiden recht der Seele Freiheit fühlen.« (II ,  694 f.5) »Diß läßt sich mehr oder weniger auf jeden Menschen anwenden«: »anwenden« ist eben die deutsche Fassung für applizieren und stammt aus der theologischen Applikationslehre und -praxis. In diesem Fall soll der Bruder seine ›knechtische‹ Situation als vom Studium ausgeschlossener Schreiber in einen trotzigen Selbstbehauptungskampf verwandeln, indem er ein ›Alabanda‹- und ›Hyperion‹-Subjekt entwickelt, sich also mit rebellischen Neugriechen unter osmanischer Despotie »identifiziert«, sogar mit dem Subjekt eines proletarischen Korsaren. Solche Selbst-Applikationen in Briefen weist Hölderlin nicht immer explizit als Zitate aus. So beendet er einen Brief an Schiller, in dem er dem überlegenen Genie gegenüber auf ambivalente Weise seine Nichtigkeit beklagt, mit einer Pointe aus dem Hyperion: »Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesezt hat. Man muß sie zudeken um Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit.« (II , 665) In Hyperions Jugend hatte er formuliert: »ich war, wie eine kranke Pflanze, die die Sonne nicht ertragen kann« (I , 531)6. Einen besonders wichtigen Fall von Applikation stellen die Klopstockverse gegen eine bloß ›spielende‹ Poesie dar (Brief an den Bruder vom 2.11.1797; II , 670), die der Autor des Hyperion auch als Widmung in das Exemplar von Franz Wilhelm Jung eintrug (III , 500). In dieser Applikation verdichtete Hölderlin nicht bloß seine entschiedene Ablehnung jeder bloßen Unterhaltungskunst, insbesondere der seinerzeit in der Anakreontik modischen ›scherzhaften Muse‹, sondern vermutlich auch seine Kritik an Schillers Theorie vom »Spieltrieb« als Fundament jeder Ästhetik. 5 Dass die Zitate nicht wörtlich mit der Druckfassung identisch sind (dazu III , 505), muss nicht auf eine verlorene Vorfassung verweisen, sondern kann auch auf einem Zitat aus dem Kopf beruhen, wie Hölderlin es auch in anderen Fällen (etwa bei Rousseauzitaten) praktizierte. 6 Vgl. auch das annähernde Selbstzitat aus dem letzten Band des Hyperion (I , 728) im Brief an den Bruder vom 20.9.1797: »Es ist ein stiller, zärtlicher Geist in dieser Jahreszeit« (I , 665; s. auch SA , 313).

Pindarische Gnomai  

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Widmungen in Buchgeschenken gehören wie Stammbucheinträge und Mottos zu kulturellen Institutionen der Applikation. Betrachtet man demnach die Applikationen einer Kultur in ihrer statistischen Massenhaftigkeit, so erweist sich ihr enormes Wirkungspotential und die Macht des ›konvers-mimetischen‹ Vektors, eine Realität nach Vorgabe von Literatur (im weitesten Sinne) allererst zu schaffen. In vielen traditionalen Kulturen sind es »heilige Schriften« (wie Bibel oder Koran), die Applikationsvorgaben für sämtliche Standardsituationen der Kultur enthalten. Weniger stabil sind andere Formen von Kanonisierung wie diejenigen neuzeitlicher »Klassiker«. Pierre Bertaux hat die Frage gestellt, ob Hölderlin eine neue Religion habe stiften wollen7. Sicherlich hat er sich nicht für einen »Propheten« gehalten, megalomane Anwandlungen waren ihm zeit seines Lebens fremd, gerade auch in der Phase chronischer psychischer Krankheit (sehr im Unterschied zu Schizophrenien vom Typ Nietzsches). Was Bertaux im Auge hatte, ist daher vielmehr Hölderlins Projekt, mit seiner Poesie ein Reservoir von Applikationsvorgaben ›gegen den Strich‹ sämtlicher kulturellen Hegemonien seiner Umwelt zu schaffen. Es war ihm klar, dass er dabei unbedingt auf eine institutionelle ›Basis‹ für Applikationen angewiesen war, die zusammen mit einem as-sociativen Kairos eine Verbreitung hätte in Gang bringen können. Reinschrift und Vorrede der Friedensfeier bilden den letzten bekannten Versuch in dieser Richtung. Danach schrieb er, weil und was er ›nicht anders konnte‹ (Vorrede zur Friedensfeier), auf griechischer Fluchtlinie in eine unbekannte offene Zukunft hinein.

6.1. Pindarische Gnomai Pindars Ruf, ein philosophischer Dichter zu sein8, beruht stark auf seinen »Gnomai« (Plural von Gnome), was der lateinischen »Sentenz« entspricht. Eine Gnome ist eine Applikationsvorgabe für Standardsituationen des Lebens. Die »heiligen Schriften« (in Hölderlins Ausgangsmilieu die Bibel) sind voller Gnomai – man könnte Pietismus geradezu als die Überzeugung definieren, dass die Bibel für jede Lebenssituation eine Gnome bereithält und dass jeder Bibelvers als Gnome applizierbar ist (wie es in der Institution des ›Däumelns‹, ›Stechens‹ und Losens praktiziert wurde). Pindar war für Hölderlin eine ungemein wichtige Perspektive der griechischen Fluchtlinie, weil er eine ›religiös unorthodoxe und alternative‹, rein poetische Spielart institutioneller Applikationsvorgaben bedeutete. Seine Hymnen waren in zwar ›vor Urzeiten‹ religiös begründete, aber dominant sportliche und festive Institutionen integriert. Hölderlin reproduziert in der Rheinhymne eine berühmte pindarische Gnome:

7 Bertaux, Hölderlin und die Französische Revolution, 72 ff. 8 Dazu ausführlich und grundlegend Theunissen, Pindar.

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Das meiste nemlich Vermag die Geburt […]. (I , 343)9 Die Gnomai erfüllen bei Pindar eine doppelte, wissensvermittelnde (philoso­ phische) und poetische Funktion: Sie unterbrechen zäsurähnlich den rhythmischen Fluss, und auch das reproduziert Hölderlin. Mit der Literatur der Aufklärung und ihrer (für die Zeit relativ) massenhaften Verbreitung entstand die Möglichkeit einer nicht religiös institutionalisierten Poesie. Die beiden Modelle des jungen Hölderlin, Klopstock und Schiller, repräsentierten zum einen den Versuch einer ›freien‹ Anbindung an die traditionale Religion, zum anderen eine gänzliche Unabhängigkeit davon. Schillers in Deutschland wie keine anderen ›durchschlagenden‹ »geflügelten Worte« mit dem Maximum der Glocke sind nichts anderes als moderne Gnomai10. Hölderlin muss die gereimten Liedformen (den »naiven Ton«) für sein neopindarisches Projekt verworfen haben. Obwohl er deshalb verglichen mit Schiller als schwierig und häufig als dunkel gilt, gehören auch einige seiner Formulierungen zu den häufig applizierten Vorlagen, am häufigsten vermutlich die Gnome aus der Eingangsstrophe von Patmos: »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«. Ein höchst paradoxes Beispiel von Applikation dieser Gnome lieferte der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble, der in einem autobiographischen Fernsehinterview nach abgeschlossener ›Versenkung Griechenlands‹ seinen »schwäbischen Landsmann Hölderlin« mit eben der berühmten Patmos-Gnome zitierte, um umgehend hinzuzufügen: »Aber deshalb muss man ja nicht gleich verrückt werden« (30.11.2015). Zu den häufig applizierten Gnomai Hölderlins zählen sicher die folgenden: »Und es neigen die Weisen / Oft am Ende zu Schönem sich« – »Kolonien liebt / Und tapfer Vergessen der Geist« – »Dem folgt deutscher Gesang« – »Was bleibet aber, stiften die Dichter« – »Bald sind wir aber Gesang« – »Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren«. Ganze Buchtitel beruhen auf einer Hölderlin-Applikation: Komm ins Offene, Freund nannte der oppositionelle Betriebsrat bei Daimler, Willi Hoss, seine Autobiographie11. Es fällt auf, dass sich unter diesen häufig applizierten Gnomai wenige der griechischen Fluchtlinie befinden – dieser Befund würde sogar eine deutlich deutschnationalistische Färbung annehmen, wenn man vor die 68er-Zeit zurückginge. Denn damals dürfte die meistapplizierte Gnome gelautet haben: »Und zähle nicht die Toten! Dir ist, / Liebes! Nicht Einer 9 Vers 100 der 9. Olympischen Hymne (III , 194). 10 Vermutlich hat Hölderlin in einer Bearbeitung der Mekades-Fassung des Empedokles gegen Schillers Glocke polemisiert (dazu HR , 212–216). 11 Willi Hoss, Komm ins Offene, Freund. Autobiographie, hg. v. Peter Kammerer, Münster 2004.

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zu viel gefallen.« Das erste Hölderlin-Jahrbuch von 1943 mit seinen schrecklichen SS -Applikationen aus Stalingrad zeigt die Macht von Applikationsinstitutionen. Es bleibt das säkulare Verdienst Pierre Bertaux’, dass er mit der Klarstellung, Der Tod fürs Vaterland (I , 225 f.) sei als demokratisches und republikanisch-frankophiles Gedicht entstanden, Hölderlin wenigstens von dieser extrem verfälschenden Applikationsmaschine befreit hat. Ohne die kulturrevolutionäre Stimmung der 1960er Jahre wäre jedoch auch das nicht breit wahrgenommen worden. Schließlich ist der Name »Diotima« zur Applikationsvorgabe für jede Vorstellung eines leidenschaftlich liebenden weiblichen Subjekts geworden, so sehr, dass der Name in anachronistisch freier Verfügbarkeit appliziert werden kann. Ich habe in früheren Vorlesungen das Beispiel einer Heiratsannonce (eine typische Institution für Applikationen) aus den 1970er Jahren zitiert: »STEPPENWOLF SUCHT DIOTIMA«12. Auch Robert Musil hat bekanntlich seinen Helden Ulrich eine der weiblichen Hauptfiguren des Manns ohne Eigenschaften »Diotima« nennen lassen, ihre im 20. Jahrhundert dysfunktional gewordene ›schöne Seele‹ ironisierend. Im folgenden Abschnitt ist zu zeigen, dass solche Applikationen nicht nur wenig, sondern eigentlich gar nichts von Hölderlins Figur transportieren.

6.2. Diotima die neugriechische Athenerin In seiner der systematischen Expansion der astronomischen Modellsymbolik folgenden Lektüre des Hyperion hat Alexander Honold der Diotimafigur mittels scharfsinniger Deutung beeindruckender Beobachtungen eine Art »Ekliptik«-Funktion zugewiesen13. Dabei ist die Relevanz astronomischer Symbolik für die »Kon-stellation« der Hauptfiguren des Romans von vornherein evident. Schwieriger ist die Zuordnung der Figuren zu bestimmten Sternen. Man ordnet Hyperion meistens die Sonne zu, weil hyperiénai ›darüber hingehen‹ heißt und weil Diotima sagt: »dein Nahmensbruder, der herrliche Hyperion des Himmels ist in dir« (I , 677). Dabei kann sich Diotima aber auch fatal täuschen (so wie alle Figuren mehrfach), denn das hyperiénai kann sich sehr wohl und besser auf einen Kometen beziehen. Dass Diotima dagegen der Erde zugeordnet ist, erscheint evident. Honolds astronomische These kann jedenfalls gerade aufgrund ihrer Radikalität auch dazu dienen, an einem exemplarischen Fall die polyisotopische Struktur des Hyperion systematisch analytisch zu berücksichtigen und daraus Schlüsse zu ziehen. Wie verhält sich die naturgeschichtliche (insbesondere astronomische, aber auch klimatologische und meteorologische) Isotopie zu möglichen anderen? Auch Honold berücksichtigt solche anderen Isotopien, darunter die biographische, die poetologisch-autoreflexive und vor allem die 12 S. Link/Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum, 168. 13 Honold, Hölderlins Kalender, 188.

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kairologisch-politische. Indem er die Kalenderrevolution der Ersten Französischen Republik als Kontext erschließt, scheint er der astronomischen Isotopie eine Dominanz über die politische zuzuerkennen. So liest er in den parallel mit dem Hyperion entstandenen Diotima-Oden die Schlussformel »Doch eilt die Zeit. Die Himmlischen sind jezt schnell« (I , 256, ähnlich 189) dominant astronomisch. Die daran anschließenden Verse lauten: Schon nimmt ihr altes, ungeschriebnes Recht, die Natur, die vergeßne, wieder. Und eh noch unser Hügel, du Theure, sinkt, Geschiehts; und ja! noch siehet mein sterblich Lied Den Tag, der, Diotima! nächst den Göttern mit Helden dich nennt und dir gleicht. Eine auf »natürliche« Menschenrechte gegründete neue Ordnung der Freiheit und Gleichheit hatte die Französische Revolution proklamiert, wobei Hölderlin mit großer Wahrscheinlichkeit emphatisch an die Freiheit der Liebeswahl über Klassenschranken hinweg gedacht haben dürfte (biographische Isotopie), die aber nur im Rahmen einer generellen Proklamation »natürlicher« Rechte Aussicht auf Konsolidierung gewinnen könnte. Deshalb spricht alles dafür, dass das emphatische »Geschiehts« ein von der astronomischen Zyklik des Tages und des Jahres unabhängiges Ereignis nennt und folglich der emphatische »Tag« des vorletzten Verses ein historischer ist. Wenn aber dementsprechend in den beiden letzten Strophen die kairologisch-politische Isotopie dominiert, ergibt sich die Frage nach der ›Zweistimmigkeit‹ von naturgeschichtlicher und kairologisch-politischer Isotopie und ihrer Modulation (»Tonwechsel«). Wenn man die Aussage »Die Himmlischen sind jetzt schnell« astronomisch liest, lässt sie sich auf die Rückkehr der Dioskuren im Herbstäquinoktium beziehen14. Wenn man sie politisch liest, liegt die Konnotation der »schnellen« Bewegungen der französischen Revolutionsarmeen und insbesondere die seit 1796 legendäre »Schnelligkeit« des jungen Napoleon Bonaparte in Italien nahe. Dann würde von revolutionären Umbrüchen auch in Deutschland ein Kairos für Hölderlins Poesie und damit auch für seinen modernen Diotima-Mythos erhofft. Eine solche Modulation von der astronomischen Zyklik einer »ruhigen« Natur zur »schnellen«, »reißenden Zeit« des revolutionären Kairos hat nun auch die Schlussfassung des Hyperion mit der Diotimafigur vorgenommen. Man kann geradezu sagen, dass die ›letzte‹ Diotima von einer in die Moderne verpflanzten ewig-schönen Altgriechin in eine kulturrevolutionäre Neugriechin verwandelt wird. Der Sinn (die Subscriptio) des astronomischen Bildes (der Pictura) von der aus ihrer »ruhigen« Planetenbahn mit geringer Exzentrizität durch die Liebe zum 14 Honold, Hölderlins Kalender, 187.

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Kometen Hyperion mit seiner starken Exzentrizität herausgerissenen schönen »Athenerin« spielt auf der kairologisch-politischen Isotopie. Diese »tödtendfactische« Revolution ihres Charakters, die sich im Laufe der Modifikationen des Romans ergab, wird in der Endfassung zum strukturbildenden Narrativ innerhalb des Textes. Vor der Athenreise erinnert Diotima noch an die Melite des Thaliafragments: Sie spricht relativ wenig, am deutlichsten durch Gesang: »Nur, wenn sie sang, erkannte man die liebende Schweigende, die so ungern sich zur Sprache verstand« (I , 660). Sie wirkt durch die Anmut schöner Gesten, die allerdings deutlich bürgerlich-familialistisch gefärbt sind, wie ihr Wirken in der Küche zeigt (I , 661). Wie Anke Bennholdt-Thomsen beobachtet hat, ist sie »Stern und Blume«, symbolisch aber doppelt Blume, weil die Sterne die Blumen des Himmels genannt werden15. Das mit ihr symbolisch verknüpfte ›ruhige‹ vegetative »Wachstum« der »Natur« ist das Gegenteil der »schnellen« historischen und vor allem der »reißenden« revolutionären Zeit. In ihrem Abschiedsbrief an Hyperion, geschrieben in Erwartung des Todes, kehrt sie zu ihrem in palingenetischer Phantasie formulierten Pflanzenwesen zurück: »wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß?« (I , 749) Was sie, stimuliert durch Hyperion, spricht, lässt sich demnach plausibel in der astronomischen und biologischen (insgesamt naturgeschichtlichen) Isotopie lesen. In Athen geht dann eine radikale Verwandlung mit dieser vegetativen Diotima vor, eine wahre »vaterländische Umkehr«: Nun, im Schutt des heiteren Athens, nun gieng mirs selbst zu nah, wie sich das Blatt gewandt, daß jetzt die Todten oben über der Erde gehen und die Lebendigen, die Göttermenschen drunten sind, nun sah’ ichs auch zu wörtlich und zu wirklich dir aufs Angesicht geschrieben, nun gab ich dir auf ewig Recht. (I ,  731 f.) Aus dieser Charakter-Revolution Diotimas entspringt das Projekt einer Kulturrevolution Neugriechenlands nach dem Modell des altgriechischen Athen. Dieses Projekt ist Diotimas Projekt, es wird Hyperion sozusagen von ihr diktiert16. Sie schildert ihre Utopie in ihrem Abschiedsbrief im Präteritum der visionären Realisierung. »Seherin« der Utopie, neue Pythia ist Diotima, nicht Hyperion: »Dem hätt’, ein Roß zu lenken, genügt; nun ist er ein Feldherr. Allzugnügsam hätte der ein eitel Liedchen gesungen; nun ist er ein Künstler.« (I , 732) Das bezieht sich genauestens auf den Athenbesuch: Ich bitte dich, geh nach Athen hinein, noch Einmal, und siehe die Menschen auch an, die dort herumgehn unter den Trümmern, die rohen Albaner und 15 Bennholdt-Thomsen, Stern und Blume: Diotima verkörpere das »Unter-den-BlumenSein« (83) und gleichzeitig die Harmonie von Blume und Stern (107 ff.), die nach Trennung und Tod in einen Gegensatz umschlage (Motiv der fehlenden Blumen in Hälfte des Lebens). 16 Genau umgekehrt sieht es Marlies Janz, »Hölderlins Flamme«.

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die andern guten kindischen Griechen, die mit einem lustigen Tanze und einem heiligen Mährchen sich trösten über die schmähliche Gewalt, die über ihnen lastet […]. (I , 692) Es bezieht sich für den Leser auch auf das Volksliedsingen des jungen, bettelnden Alabanda (I , 739): Ach! nun verließen so leicht sich nicht die geselligen Menschen; wie der Sand im Sturme der Wildniß irrten sie untereinander nicht mehr, noch höhnte sich Jugend und Alter, noch fehlt’ ein Gastfreund dem Fremden und die Vaterlandsgenossen sonderten nimmer sich ab und die Liebenden entlaideten alle sich nimmer. […] Ach! nun nahmen die Menschen die schöne Welt nicht mehr, wie Laien des Künstlers Gedicht, wenn sie die Worte loben und den Nuzen drin ersehn. Ein zauberisch Beispiel wurdest du, lebendige Natur! den Griechen, und entzündet von der ewigjungen Götter Glük war alles Menschenthun, wie einst, ein Fest; und zu Thaten geleitete, schöner als Kriegsmusik, die jungen Helden Helios Licht. (I ,  732 f.) Diese neugriechische Utopie Diotimas ist deutlich als post-modern entworfen, als Fluchtlinie einer inventiven, nicht regressiven Rückkehr nach Athen. Deutlich wird der moderne Status quo als eine atomisierte Gesellschaft mit dem Kollektivsymbol des Sandhaufens im Sturm gekennzeichnet – kongruent mit einer Serie äquivalenter Kollektivsymbole im Hyperion: »Ameisenhaufe« (I , 691) und »Bienenschwarm« (I , 715). Die Serie dieser massendynamischen Kollektivsymbolik liegt außerhalb der astronomischen Isotopie. Diese atomisierte Gesellschaft ist die frühkapitalistische Konkurrenzgesellschaft, die sowohl bei Rousseau wie bei Hölderlin der entscheidende Grund ihrer Ablehnung war. Beide empfanden ihre Negativität am eigenen Leibe vor allem als unerträglichen Konkurrenzdruck. Hölderlin hat das nur gegenüber Susette Gontard in seiner ganzen Brutalität geäußert, als das Projekt einer eigenen Zeitschrift an mangelnder Kooperationsbereitschaft der erbetenen Koautoren scheiterte  – zunächst im Versuch eines quasi naturgeschichtlich-theoretischen Verständnisses: Weist Du, woran es liegt, die Menschen fürchten sich voreinander, daß der Genius des einen den andern verzehre, und darum gönnen sie sich wohl Speise und Trank, aber nichts, was die Seele nährt, und können es nicht leiden, wenn etwas, was die Menschen einander sagen können, im andern einmal geistig aufgefaßt, in Flamme verwandelt wird. Die Thörigen! Wie wenn irgend etwas, was die Menschen einander sagen könnten, mehr wäre, als Brennholz, das erst, wenn es vom geistigen Feuer ergriffen wird, wieder zu Feuer wird, so wie es aus Leben und Feuer hervorgieng. Und gönnen sie die Nahrung nur gegenseitig einander, so leben ja beide, und keiner verzehrt den andern. (Ende Juni 1799; II ,779)

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Und dann konkret pragmatisch: Die Berühmten nur, deren Theilnahme mir armen Unberühmten zum Schilde dienen sollte, diese ließen mich stehn, und warum sollten sie nicht? Jeder, der in der Welt sich einen Nahmen macht, scheint ja dem ihrigen einen Abbruch zu thun; sie sind dann schon nicht mehr so einzig und allein die Gözen; kurz, es scheint mir bei ihnen, die ich mir ungefähr als meines gleichen denken darf, ein wenig Handwerksneid mitunter zu walten. (September 1799; II , 824) Dass solche Einsicht jedoch nicht erst von 1799 datiert, zeigt ein Abschnitt in Hyperions Jugend, der frappierend mit den Briefen an die reale Diotima übereinstimmt. Und dort ist es eben die Diotimafigur, bereits als kongeniale Gesprächspartnerin Hyperions konzipiert, die ihrem Geliebten die empörte Klage über die Konkurrenz entlockt und die die rousseauistische Kritik der Konkurrenzgesellschaft initiiert: Diotima gieng allein umher unter den Blumen. Der Schmerz auf ihren Lippen gieng mir durch die Seele, so mild er schien. Wir giengen eine Weile schweigend auf und nieder. / Mich verfolgt ein bittrer Gedanke, rief sie endlich, ich wag’ es kaum, ihn zu sagen, und kann doch von ihm nicht ablassen. Schon manchmal hat er sich mir aufgedrungen, auch heute wieder. Ist es denn wahr – je mehr Menschen, je weniger Freunde? – O wie oft ich das fühlen mußte! Rief ich, wie oft – es ist unbegreiflich, wie man des Zusammenlaufens nicht müde wird! – Als wüßtest du nicht, erwiederte Diotima, daß der bunteste Wechsel diesen Menschen das Beste dünkt, und diesen finden sie doch untereinander – ihr bunter uneiniger Wechsel, fuhr ich fort, der ist gerade die wahre Gestalt des Übels; ich mag es nicht nachempfinden, wie er mich oft verwirrte, und verzerrte, wie in dem Kriege, den man unter der Larve des Friedens führt, wo man immer das, woran das eigne Herz hängt, vor fremden Pfeilen sichern, wo man so ängstlich jede unschuldige Blöße verhüllen muß, wo der andre bei aller Ruh’ und Freundlichkeit, die er zeigt, doch mißtrauisch jede Bewegung belauert, ob sie nicht für Feindesanfall gelte, wie in diesem kleinen schlechten Kriege die Kräfte so heillos zu Grunde gehen; nein! es ist eine unerhörte Ungereimtheit! Sie bieten alles auf, um zusammenzuseyn, und dann, wann sie zusammen sind, strengen sie mit aller Mühe sich an, um einsam zu seyn im eigentlichen Sinne, sie öffnen die Thüre und verschließen ihr Herz – dem Himmel sei Dank, daß ich los bin!17 / Das betrübt mich eben, daß es räthlicher scheint, für sich zu leben, fuhr Diotoma fort; ich trage ein Bild der Geselligkeit in der Seele; guter Gott! Wie viel schöner ists nach diesem Bilde, zusammen zu seyn, als einsam! (I , 545) 17 Hyperion hatte sich von seinem Freund Gorgonda Notara (aus dem später Alabanda wird) wegen dessen Spotts über seine ›Schwärmerei‹ zurückgezogen.

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Im Anschluss daran entwickelt Diotima eine frühe Version der neuen Naturreligion – nicht Hyperion, sondern sie – in ihre neue Gemeinschaft sollen auch »die Armen« (I , 547) einbezogen sein. Die pazifistische Komponente der Utopie Diotimas in der Druckfassung (»schöner als Kriegsmusik«) ist also gerade auch innergesellschaftlich zu lesen: als Aufhebung des permanenten Konkurrenzkampfs durch eine Ausdehnung der spontanen »Brüderschaft«18 (Fraternité) eines dionysischen Fests auf das Alltagsleben mit den Mitteln neuer physistischer Künste. Als die in den räuberischen Bürgerkrieg entgleiste Revolution gescheitert ist, geht Diotimas zornige »Entrüstung« (I , 733) sogar fast so weit wie die Alabandas: Ich will auch keine Kinder; denn ich gönne sie der Sclavenwelt nicht, und die armen Pflanzen welkten mir ja doch in dieser Dürre vor den Augen weg. (I , 733) Wenn ich ein Kind ansehe, rief dieser Mensch, und denke, wie schmählich und verderbend das Joch ist, das es tragen wird, und daß es darben wird, wie wir, daß es Menschen suchen wird, wie wir, fragen wird, wie wir, nach Schönem und Wahrem, daß es unfruchtbar vergehen wird, weil es allein seyn wird, wie wir, daß es – o nehmt doch eure Söhne aus der Wiege, und werft sie in den Strom, um wenigstens vor eurer Schande sie zu retten! (I , 633) Passend dazu bezieht sich die vermutlich bereits todkranke Diotima erstmals positiv auf Sparta: »und die hohen Spartanischen Frauen haben mein Herz gewonnen« (I , 718). Wiederum ist zu sagen, dass Diotimas Utopie selbstverständlich auch auf Nordwesteuropa und vor allem auf Deutschland zielt – aber ebenso auch wiederum, dass Neugriechenland dabei ein eigenes Profil besitzt, zu dem Hölderlin sich von Choiseuls Schilderung der Insel Tine (Tina, heute Tinos) inspirieren ließ: Die Frauenzimmer von der Insel Tine haben alle das schönste Ebenmaas in den Formen, Regelmäßigkeit in den Zügen, und eine von jenen pikanten Phisionomien, die Schönheit so oft ersetzen und immer vermehren. Ein Anzug, so wollüstig19 wie möglich, bedeckt ihre Reize, aber verbirgt sie nicht. Handel und Arbeitsamkeit verbreiten in dieser Insel ein allgemeines Wohlleben und eine Art Gleichheit, die, ohne die Stände zu vermischen, den einen Theil vom Verderbnis und den andern von Erniedrigung abhält. Damen, die ihre Geburt und Reichthümer in anderen Ländern zur Unthätigkeit zu berechtigen 18 I , 757 (Deutschenschelte). Sollte hier kontrafaktisch ein Vergessen der Schwestern eingeklagt werden, so denke man daran, dass Diotima eine Frau ist. 19 Im Sinn von genussfreudig, subjektiv und objektiv.

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scheinen würden, beschäftigen sich mit ihrer Haushaltung, oder arbeiten mit Vergnügen an den Kleidern für ihre Kinder. (I1, 95) Die entsprechenden Gesten Diotimas sind also nicht bloß Idealisierungen Susette Gontards, sondern wiederum Inspirationen aus Choiseul, wobei das rousseauistische Ideal Julies transparent ist. Hölderlin fand also den krassen Gegensatz zwischen dem räuberischen »Bergvolk« der Peloponnes und dem nahezu idealen Bürgertum von Tina in der gleichen Quelle Choiseul und konnte sein Bild von Neugriechenland als einem ins Extreme gesteigerten Deutschland als realistisch betrachten. Dieses Land, das bei ihm zum einen als Kombinat aller »natur«entfremdeten Gesellschaftstypen von der hobbesianischen Gesellschaft Kultur 1 des Bergvolks der Klephtes über den orientalischen Despotismus bis zum bereits modern aufgeklärten handelskapitalistischen Bürgertum der Hafenstädte, zum anderen aber als Land ›natürlicher Inseln‹ im doppelten Sinne erscheint, ist demnach unbedingt ernst zu nehmen. Wenn die rousseauistische Kritik der Konkurrenz aber gerade die neueste, bereits bürgerlich-kapitalistische Schicht in Neugriechenland trifft, dann zeigt sich die Athen-Utopie allerdings auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Denn diese Utopie beruht, wie Alexander Honold ausführt, auf einer sehr positiv gesehenen Konkurrenz, deren Modell der gymnastische Wettlauf ist und dessen Ambivalenz zwischen Dioskuren-Fraternité und narzisstischer Rage auch die Freundschaft zwischen Hyperion und Alabanda bestimmt.

7. Hölderlins ›deutsch-griechischer‹ Körper

Die Arbeitshypothese von der Ko-Dominanz der naturgeschichtlichen Iso­topie bei Hölderlin beruht sowohl auf ihrer immanenten Prägnanz wie auf ihrer engen Verknüpfung mit den anderen dominierenden Isotopien. Dazu gehört selbst­verständlich die biographische Isotopie, mit der die naturgeschichtliche als physiologisch-medizinische Isotopie gekoppelt ist. Die Frage, ob es sich bei Hölderlins »Wahnsinn« um eine endogene, ererbte Schizophrenie oder um eine schwere reaktive chronische Depression gehandelt hat, wird sich niemals durch postume Differentialdiagnostik beantworten lassen. Sicher ist aber, dass Hölderlin seit der Jugend von seinen extrem ›reizbaren Nerven‹ und einer ›zyklotonen‹ Veranlagung mit Schwanken zwischen euphorischen und depressiven Phasen überzeugt war (HR , 70–74). Sicher ist auch, dass er diese psycho-physischen Prozesse an sich beobachtete und mit den Deutungsmustern der Äthertheorie Sömmerrings und anderer zeitgenössischer Ärzte und Naturforscher zu begreifen suchte. Deutlich zeichnet sich dabei eine Art Osmose-Modell der Interaktion zwischen äußeren, kosmischen und atmosphärischen einerseits und körperinneren, nerven- und gehirnimmanenten Fluida (»Äthern«) anderseits ab. Diese osmotischen Prozesse beruhen auf der Vorstellung vom menschlichen Körper als großem »Ge-fäß«, das aus zahllosen kleinen »Gefäßen« besteht. Die Gesamtheit der osmotischen Prozesse bilden den »Othem« als Einheit von »Äther« und »Atem«, weshalb die Körperöffnungen Mund, Augen und Ohren die wichtigsten Kanäle der Osmose sind. Für die externen Fluida spielen Licht und Wärme (Ein-­Fluss der Sonne) und daher auch das Klima eine dominante Rolle – und konkret also der naturgeschichtliche Aspekt der griechischen Fluchtlinie.

7.1. Äther, Nerven und Klima Der zweite der Böhlendorffbriefe, geschrieben im November 1802 nach der Rückkehr aus Frankreich und dem Tod Susette Gontards, führt die Überlegungen zum Gegensatz zwischen der altgriechischen und der modernen Ästhetik fort, die später in den Sophokles-Anmerkungen und Pindar-Aphorismen kulminieren werden. Hölderlin berichtet, dass seine Eindrücke in Südfrankreich ihm zusätzliche Aufschlüsse über diesen Gegensatz vermittelt hätten. Dabei spielt die Kategorie des »Athletischen« eine Schlüsselrolle: Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiquen Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte

Äther, Nerven und Klima  

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ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermüthigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten. (II , 921) Die Kombination dieser in vivo gemachten Beobachtungen mit den aus der Betrachtung antiker Skulpturen in Paris gewonnenen spricht dafür, dass die Kategorie des »athletischen Körpers« an die des nackten »gymnastischen« Körpers anschließt. Der enge Zusammenhang mit dem »Klima« verweist auf das Leben in warmer Luft, also in einem Luftmeer, das vom thermischen Äther (»Feuer«) dominiert ist, der direkt auf die unbekleidete oder nur leicht bekleidete Haut wirkt, aber auch die beiden wichtigsten Kopplungswege zwischen äußerer Natur (den »Himmlischen« bzw. den »Göttern«) und körperinnerem Nervensystem und Gehirn, also den Atem und die Nahrung, bestimmt. Hölderlin sieht den griechischen (oder allgemeiner mediterranen, südlichen) Körper vom warmen Äther sowohl stimuliert wie gefährdet: Er droht vom thermischen Äther (»des Elements Gewalt«) geradezu überschwemmt zu werden. Gerade in den Gedichtentwürfen, in denen es um das Südfrankreich-Erlebnis geht, spielen oft auch gefährliche Äther eine Rolle: Denn sinnlicher sind Menschen In dem Brand Der Wüste Lichttrunken und der Thiergeist ruhet Mit ihnen. Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn In der Hizze meine Stimme auf den Gassen der Gärten In denen Menschen wohnen In Frankreich […]. (I , 422)1 Mit »lichttrunken« ist nicht bloß die blendende Helle gemeint, sondern eine berauschende Wirkung des Lichtäthers und des damit verbundenen thermischen Äthers auf Nerven und Gehirn2.

1 Annette Hornbacher, »Wie ein Hund«, skizziert recht plausibel einen Kontext von heißem Klima und dem rätselhaften Komplex »Hund«, und zwar über die Mythologie des »Hundssterns« und des Kerberos. 2 An der Formulierung »wie ein Hund […] meine Stimme« bleibt mir trotz Annette ­Hornbacher vieles rätselhaft; sie muss vermutlich in der biographischen Isotopie gelesen werden.

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Hölderlins ›deutsch-griechischer‹ Körper

7.2. Stirn und Schläfe: Osmosen des Gehirns? Die beiden Epigramme von 1796 über Sömmerings Seelenorgan (I , 188) sind von Hölderlin sicherlich, gerade weil sie so kurz sind, aufs dichteste kalkuliert. Er folgte mit dieser Kurzform ja auf ironische Weise dem Rat seiner »klugen Ratgeber« aus Weimar, als Debütant zunächst einmal mit kurzen Gedichten zu trainieren. Das Resultat bestand neben anderen in diesen zwei knappen Symbolstrukturen: Körpergebäude

Tempel

ganzer Körper

Treppen

Vorhof

Nerven und Gehirn

Zinne

Heiligtum

?

Wenn das deutsche Publikum sich also gern über die Verteilung der Nerven im Körper und ihre Zentralisierung im Gehirn instruieren lässt – was sind dann die unbegriffenen »Zinne« und »Heiligtum«? Es kann sich nicht um Sömmerrings These von der Gehirnflüssigeit als solche handeln, die ja breit genug in der Schrift ausgeführt ist. Wenn »Zinne« und »Heiligtum« sich also sicher auf das Gehirn als höchstes Stockwerk des Körpers beziehen, so ist darin offenbar eine Emphase zu lesen – eine besondere, leicht zu übersehende Konsequenz der sömmerringschen These. Diese in der Tat eher implizite als explizite Konsequenz hatte Kant in seiner Kritik offengelegt: Es war die materialistische, jedenfalls substanzmonistische Lektüremöglichkeit. Genau diese Alternative zwischen Kants und Fichtes Dualismus auf der einen und Spinozas Monismus auf der anderen Seite hatte es Hölderlin schließlich erlaubt, das spinozistische philosophische Modell mit dem naturgeschichtlichen Diskurs und damit auch mit Rousseau zu integrieren. Die Integration auf nicht bloß philosophisch-»abstrakter« Ebene wie letztlich trotz Einbeziehung breiten empirischen Materials bei Schelling, sondern auf der wechselseitig ineinander übersetzbaren naturgeschichtlichen und mythischen Isotopie gelang dank Sömmerring. Äußerer und körperinnerer »Äther« ließen sich als osmotisches Kontinuum begreifen: der äußere als generative Potentia von Leben, der innere als seine ursprüngliche und kontinuierlich reproduzierte ›Evolution‹. Konkrete Einzelheiten dieser Osmose des Äthers werden poetisch mittels eines Komplexes von Teilen des menschlichen Kopfes dargestellt. Mehrfach begegnet die Trias Äther-Genius-Stirne, so in einem Entwurf zur Rheinhymne, deren Apostrophe noch an Heinse (vor Sinclair) gerichtet war: Du aber, kundig der See, Wie vestes Landes, du schauest die Erde Und schauest Licht an, ungleich scheinet das Paar,

Stirn und Schläfe: Osmosen des Gehirns?  

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Denkst du, doch göttlich beide, so Ist dir, vom Aether Gesandt, vom ruhigen Aether Ein Genius um die Stirne. (III ,  191 f.) »Genius«, Synonym einer Sprache und Bewusstsein generierenden ›Himmelskraft‹, ist offensichtlich eine quasi-sinnlich wahrnehmbare Aura, ein Symptom der Interaktion zwischen äußerem und intrazephalem Äther, zwischen beiden Seiten der Stirnwand. Der Himmel ruht auf freier Stirne dir, Und freudig aller Menschen überglänzt, Du Herrlicher, dein Genius die Erd’ […]. (I , 832) Umgekehrt erscheint auch der Traum als eine Art Aura ›auf‹ der Stirn – speziell der »traurige Traum«, also die Depression: und niemand Kann von der Stirne mir nehmen den traurigen Traum? (I , 291) Eine spezifische Osmose betrifft nach Jochen Schmidts Hypothese die prophetische »Seher«-Fähigkeit (DKV  I , 736): Warum zeichnet, wie sonst, die Stirne des Mannes ein Gott nicht, Drükt den Stempel, wie sonst, nicht dem Getroffenen auf?    (I , 378, 379) Wie der folgende Abschnitt aus dem schwierig zu lesenden Hymnenentwurf Wenn aber die Himmlischen zeigt, kann die Osmose zwischen kosmisch-atmosphärischem Äther und Gehirn (»Stirn«) auch große Entfernungen überbrücken: Noch aber hat andre Bei sich der Vater. Denn über den Alpen Weil an den Adler Sich halten müssen, damit sie nicht Mit eigenem Sinne zornig deuten Die Dichter, wohnen über dem Fluge Des Vogels, um den Thron Des Gottes der Freude Und deken den Abgrund Ihm zu, die gelbem Feuer gleich, in reißender Zeit Sind über den Stirnen der Männer, Die Prophetischen, denen möchten Es neiden, weil die Furcht Sie lieben, Schatten der Hölle. (I , 401)

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Hölderlins ›deutsch-griechischer‹ Körper

Hier werden verschiedene Strata im Bereich des Zeus, also der irdischen Atmosphäre, unterschieden. Die »Männer« sind höchstwahrscheinlich identisch mit den »Dichtern«. Sehr hoch über ihren »Stirnen« (höher als die Alpen, höher als die Adler, gleich hoch mit dem Thron des Freudengotts) »wohnen« die »Prophetischen«, »gelbem Feuer gleich«. Offensichtlich wird eine ätherische Osmose zwischen diesem atmosphärischen Stratum und dem Gehirn der Dichter angenommen, wodurch sie prognostische ›Deutungskraft‹ aktualhistorischer Prozesse erhalten. Soweit der junge Hölderlin seine Krankheiten in den erhaltenen Briefen erwähnt, sind es in erster Linie solche des Kopfes, daneben der »Eingeweide« (II , 734). An Neuffer schreibt er (19.1.1795 aus Jena; II , 564) über seine Kündigung bei den von Kalbs: »ich fieng auch an, auf eine gefährliche Art an meinem Kopfe zu leiden, durch das öftere Wachen, wohl auch durch den Verdruß«. Das bezieht sich pragmatisch auf seinen erfolglosen Kampf gegen die Masturbationsgewohnheit seines Zöglings, aber sicher auch auf die Störung beim Schreiben. Gegenüber der Mutter konkretisiert er sein Kopfleiden als »Nervenkopfweh« (10.3.1798; II , 683) und führt es auf zu »reizbare« Nerven zurück: Ich bin zwar gesund und jetzt gesunder als sonst, und leide am Kopf und in den Eingeweiden nimmer, wie gewöhnlich, aber ich finde doch, daß meine Nerven zu reizbar sind. (Januar 1799; II , 734) Das schreibt er aus dem ersten Homburger Aufenthalt, nach der Trennung von Susette Gontard. Tatsächlich dürfte er seit der schweren Depression im zweiten Halbjahr 1795 nach der Flucht aus Jena, die er Schiller gegenüber vage als »Mala­ die« bezeichnet (4.9.1795; II , 595), mehr oder weniger chronisch an seinem »Nervenkopfweh« gelitten haben. Aus finanziellen Gründen konnte er bloß im äußersten Fall einen Arzt konsultieren. In Frankfurt vermittelte ihn offensichtlich Susette an den berühmten Sömmerring, der so wichtig für sein Ätherkonzept war: Hölderlin konsultierte ihn am 2. Mai 1796 (DKV  I , 605). Leider ist nur das Faktum ohne Näheres bekannt. Der Schwester gegenüber zog er im Juli 1799 (aus Homburg) eine Art Bilanz: Ich genieße jetzt einer fortdauernden Gesundheit und kann deßwegen heiter und thätiger und ruhiger seyn, und Du wirst es mir nicht misdeuten, Beste, wenn ich Dir eben dadurch gestehe, wie sehr mein Gemüth und meine Geisteskräfte von meinem Körper abhiengen. Aber eben das machte die Maladie in dem Grade mir unangenehm, daß sie natürlicherweise so sehr mit dem Gemüthe zusammenhieng, daß der kleinste unangenehme Gedanke, sie mir oft plötzlich erneuerte, und sie hinwiederum den Kopf mir schwächte und unfähig machte. (II , 799)

Von Apollo geschlagen: »Schläfen Sausen« in griechischem Klima?  

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Auch in Homburg war der Leidensdruck so stark geworden, dass Hölderlin im März 1799 einen Arzt, Dr. Friedrich Müller, konsultieren musste, der eine starke »Hypochondrie« diagnostizierte (SA VII2, 337). Wie wird Hölderlins eigene Diagnose ausgesehen haben? Es ist anzunehmen, dass er seine Sömmerringlektüre intensiv auf seine ›Kopf-Schmerzen‹ appliziert haben wird. Als deutlichstes Symptom der offenbar in Stirn und Schläfe konzen­ trierten Schmerzen bemerkte er den Verlust von ›Heiterkeit‹, den er sehr wahrscheinlich auf ein ›Ungleichgewicht‹ der Gehirnäther zurückgeführt haben dürfte. Seit der Krankheit beim ersten Homburger Aufenthalt mit ihren depressiven Zügen und dann verstärkt seit der zweiten starken Depression nach der Rückkehr aus Frankreich und dem Tod Susette Gontards verband sich die Sorge um sein Gehirn mit einer Form von Wahnsinn, die als »Schläfen Sausen« bezeichnet wird und insbesondere auf den Aiasmythos verweist: An Schläfen Sausen einst, nach Der unbewegten Salamis steter Gewohnheit, in der Fremd’, ist groß Ajax gestorben. (I , 438) Den Tod des Aias als »groß« zu bezeichnen, ist eine starke Umdeutung des Mythos: Danach geriet der Held des trojanischen Krieges über die Waffen des Achilleus, die Odysseus sich durch eine Intrige von Agamemnon erschlichen hatte, in einen Zornanfall, den Athena in Wahnsinn steigerte. Er metzelte dann eine Rinder- und Schafherde nieder, die er für seine Feinde hielt, und beging, als er die Wahrheit erkannte, aus Scham Selbstmord. »Gewohnheit« bezieht sich auf »in der Fremd’«: Aias ist Sohn des Königs von Salamis, einer Seefahrerinsel. Athena, aus dem Gehirn des Zeus geboren, ist die Göttin des Wissens und der Vernunft, mithin die Göttin der für vernünftiges Denken notwendigen Ätherprozesse im Gehirn, die sie dem Aias verwirrt.

7.3. Von Apollo geschlagen: »Schläfen Sausen« in griechischem Klima? Im Homburger Folioheft befinden sich unter dem Schluss des von Beißner und Jochen Schmidt als ›An die Madonna‹ bezeichneten Hymnenentwurfs folgende Verse3: Schlechthin, oft aber Geschiehet etwas um die Schläfe, nichts ist Es, wenn aber eines Weges andermal

3 Zu denen die Kommentare keinen Schlüssel gefunden haben.

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Hölderlins ›deutsch-griechischer‹ Körper

Ein Freier herausgeht, findet Daselbst es bereitet (I , 413) Vorfassung: Diesesmal, oft aber Geschiehet um die Schläfe, nicht ist Es zu verstehen, wenn aber einer andermal Selbst (III , 235) Das Homonym »Freier« kann Brautwerber oder Nicht-Knecht meinen; »eines Weges […] herausgeht« gehört am deutlichsten zum Komplex der Wanderung (der Fluchtlinie)  und damit wie »Schläfe« zur naturgeschichtlichen Isotopie. Eine Kopplung mit der biographischen Isotopie ist hoch wahrscheinlich. Dann geht es um das naturale zerebrale Ereignis eines »Es«, das nicht nur unverständlich, sondern »nichts« ist. Die Beziehung »Diesesmal« – »andermal« deutet auf Wiederholbarkeit des zerebralen Ereignisses, das pindarisch-anonyme »einer« (»tis«) – »Selbst« auf autobiographische Konnotation. In diesem Kontext ist also die berühmte Formel im zweiten Böhlendorffbrief zu situieren: Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen. (II , 921) Griechisches Klima und griechische »natürliche« Lebensweise der Bewohner: Damit können nicht die Leute in Bordeaux und die dortigen Seeleute gemeint sein, die sicher alles andere als still waren. Es muss sich um arme Bauern und Hirten handeln, die Hölderlin bei seinen Wanderungen ›ins Offene‹ Südfrankreichs beobachtete. Es dürfte sich auch sicher nicht um schizophrene »Desorientiertheit« gehandelt haben: Hölderlin wurde nirgends »desorientiert« aufgegriffen und Ärzten übergeben. Während das Apollo-Mythem üblicher- (und plausibler-)weise als eine zu starke Sonneneinwirkung (›Sonnenstich‹?) gelesen wird, nennt Hölderlin jedoch zwei Ursachen: das heiße Klima mit der gefährlichen Sonne und das ›griechische Natur-Leben‹, das ihn sehr stark (zu stark?) »ergriffen« habe. Die überstarke Ergriffenheit ist ein bei Hölderlin wiederkehrender Komplex, dargestellt im körperlichen Gestus des »tiefschütternd(en)« (I , 376, Vs. 71) und des »Knie-brechen(s)« (I , 650)4. Er dürfte demnach von der 4 Vgl. auch die Verse der sechsten Strophe von Stutgard: »Genien des Landes! O ihr, vor denen das Auge, / Seis auch stark und das Knie bricht dem vereinzelten Mann, / Daß er halten sich muß an die Freund’ und bitten die Theuern, / Daß sie tragen mit ihm all die beglükende Last« (I , 313). Es handelt sich um einen Zusammenbruch aus übergroßer Freude.

Von Apollo geschlagen: »Schläfen Sausen« in griechischem Klima?   

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Evidenz überwältigt worden sein, an einem ›Ziel‹ seiner griechischen Fluchtlinie angelangt zu sein – nicht in Altgriechenland, sondern in einem »armen« Griechenland, in einem Äquivalent von Neugriechenland, doch ohne idyllische Eremitage, vielmehr ›allein unter dem Himmel‹ (ähnlich den Propheten der Thora; I , 353). Auf diese Situation einer sowohl äußeren wie inneren Überwältigung applizierte er dann den ›Apollo-Schlag‹ (plegé wie bei Aias durch A­t hena) – eine bewusste mythische Applikation (»wie man Helden nachspricht«). Darüber, wie die naturgeschichtliche ›Übersetzung‹ dieser mythischen Formulierung allenfalls lauten könnte, lässt sich nur spekulieren: Die Griechen, deren Nervenäther aufgrund ihres »Aufwachsens« im warmen Klima eine höhere Elastizität und Reizbarkeit besitzt, müssen sich vor zusätzlichen Akzelerationen ihres Nervenäthers schützen. Wenn Hölderlin eine ›griechische‹ Nervenkonstitution besessen haben sollte, hätte er sich ebenso vorsehen müssen – hätte sich aber der Faszination, an einem ›Ziel‹ angelangt zu sein, nicht entziehen können. In der doppelten, physischen und psychischen Überwältigung wäre sein Gehirnäther in »Gährung« geraten und hätte »Schläfen Sausen« ausgelöst.

8. Antik-moderne, griechisch-deutsche Bíoi parálleloi

Zu den Arbeitshypothesen der vorliegenden Studie gehört – in der Konsequenz der tripolaren Fluchtlinie Deutschland-Neugriechenland-Altgriechenland – die Annahme, dass den antiken und speziell antik-mythischen, altgriechischen Figuren und Situationen bei Hölderlin moderne, insbesondere nordwesteuropäische und vor allem deutsche Analoga entsprechen. Aus den bereits mehrfach zitierten, geradezu axiomatisch formulierten Ausführungen über das Verhältnis von eigener Lebenserfahrung und poetischem Bild ergibt sich ohne jeden Zweifel, dass das mythische, typischerweise altgriechische oder frühgriechische Bild nicht aus antiquarisch-humanistischem Interesse gewählt wird, sondern ausschließlich aufgrund einer ›Analogie‹ mit der modernen Lebenserfahrung: […] auch das tragischdramatische Gedicht ist ihm [dem Dichter] ein Bild des Lebendigen, das ihm in seinem Leben gegenwärtig ist und war; aber wie dieses Bild der Innigkeit überall seinen lezten Grund in eben dem Grade mehr verläugnet und verläugnen muß, wie es überall mehr dem Symbol sich nähern muß […], um so weniger kann das Bild die Empfindung unmittelbar aussprechen, es muß sie sowohl der Form als dem Stoffe nach verläugnen, der Stoff muß ein kühneres fremderes Gleichniß und Beispiel von ihr seyn, die Form muß mehr den Karakter der Entgegensezung und Trennung tragen. Eine andre Welt, fremde Begebenheiten, fremde Karaktere, doch wie jedes kühneres Gleichniß, dem Grundstoff um so inniger anpassendes, blos in der äußeren Gestalt heterogenes, denn wäre diese innige Verwandtschaft des Gleichnisses mit dem Stoffe, die karakteristische Innigkeit, die dem Bilde zum Grunde liegt, nicht sichtbar, so wäre seine Entlegenheit, seine fremde Gestalt nicht erklärlich. […] es [das Trauerspiel] enthält einen dritten von des Dichters eigenem Gemüth und eigener Welt verschiedenen fremderen Stoff den er wählte, weil er ihn analog genug fand, um seine Totalempfindung in ihn hineinzutragen, und in ihm, wie in einem Gefäße, zu bewahren […]. Eben darum verläugnet der tragische Dichter, weil er die tiefste Innigkeit ausdrükt, seine Person, seine Subjectivität ganz, so auch das ihm gegenwärtige Object [Hervorhebung J. L.], er trägt sie in fremde Personalität, in fremde Objectivität über […]. (I ,  866 f.) Was hier über die Tragödie gesagt wird, gilt ganz ähnlich auch für die ›griechische‹ Lyrik. Entscheidend ist nicht bloß die Analogie zwischen eigener Erfahrung und »fremdem« Stoff, sondern das Verfahren, nicht bloß die unmittelbare eigene Subjektivität, sondern auch »das ihm gegenwärtige Object« zu verfremden. Im Falle des Empedokles war das Subjekt natürlich Hölderlin, das gegenwärtige Ob-

Der moderne Chiron und der moderne Herakles  

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jekt hauptsächlich Rousseau – beide wurden durch den antiken Empedokles verfremdet. Dem entsprechen, wie hier auszuführen ist, auch die antik-modernen Analogien in der Lyrik. Als Beispiel sei antizipiert: Herakles analog Napoleon und analog Hölderlins Erfahrung Napoleons. Exemplarisch ist die Trauer des lyrischen Ich um tragisch verstorbene Helden, wie in Mnemosyne um Achilleus und Aias. Was heißt »mein« Achilles? Sollte die Intensität dieses »mein« in der Identifikation mit der mythischen Figur aufgehen? Im hymnischen Entwurf Die Titanen wird explizit ein antik-moderner Parallelismus formuliert: […] Viele sind gestorben Feldherrn in alter Zeit Und schöne Frauen und Dichter Und in neuer Der Männer viel Ich aber bin allein. (I , 390) Nicht bloß das im Grund zum Empedokles formulierte Axiom der doppelten Analogie, sondern häufig auch Texthinweise wie hier zwischen »alter« und »neuer« Zeit begründen also die Arbeitshypothese dieses Kapitels.

8.1. Der moderne Chiron und der moderne Herakles 8.1.1. Chiron Auch außerhalb seiner Titelfunktion in dem Nachtgesang gleichen Namens von 1804 spielt der Kentaur Chiron bei Hölderlin eine derart prominente Rolle, dass ohne eine plausible Erklärung seiner Funktion ein wesentliches Kettenglied der mythischen Isotopie fehlen würde. Diese mythische Isotopie bezüglich Chirons ist von hoher Transparenz: Es reicht dazu aus, Hölderlins Selektion von Mythemen aus dem Chironkomplex, exemplarisch bei Hederich gesammelt, zu rekonstruieren. Zunächst ist ein Teil des mythischen Verwandtschafts- und Kontaktnetzes von Chiron bei Hölderlin von großer Relevanz: Sein Vater Kronos (Saturn) ist ebenfalls Titelfigur eines wichtigen Gedichts; seine Tochter Thetis verheiratet er mit Peleus, deren Sohn Achilleus war. Unter seinen Schülern werden Herakles, Dionysos, Jason, Achilleus, Peleus, Theseus sowie Kastor und Pollux bei Hölderlin häufig erwähnt. Diese mythischen Kontaktnetze gewinnen ihre Funktion für Hölderlin aus der Sage, Chiron sei ein »Weiser« gewesen, der u. a. besonders astronomisches, geographisches, medizinisches und musikalisches Wissen erworben und an seine Schüler weitergegeben habe. Da er Jason, den Führer der Argonauten, unterrichtet haben soll, nennt Hölderlin ihn in dem Kolomb-Entwurf als Lehrer des mythischen ersten Entdeckungsfahrers:

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Wenn du sie aber nennest Anson und Gama und Flibustier, und Äneas Und Doria, Jason, Chirons Schüler, in Megaras Felsenhöhlen und Im zitternden Reegen der Grotte bildete sich Als auf dem wohlgestimmten Saitenspiel ein Menschenbild Aus Eindrücken des Walds […]. (I , 426) Schließlich ist Chiron Kentaur, also halb Pferd und halb Mensch. Diese chimärische Konstitution erscheint in »höher aufgeklärter« Lektüre und in »beweisbarer dargestellter« Mythe sehr transparent als früher Naturmensch in der frühmenschlichen Entwicklung nach Rousseau (als ›Natur‹ 1): Haus meiner Väter, die unstädtisch Sind, in den Wolken des Wilds, gegangen. (I ,  440, Vs. 47 f.) Das Haus der halbwilden Naturmenschen ist die Höhle, und Chiron wohnte nach dem Mythos in einer Höhle am thessalischen Berg Pelion. Diese Agglutination zwischen mythischer und naturgeschichtlicher Isotopie hat Hölderlin in dem oben bereits analysierten Aphorismus zu seiner Pindar­ übertragung von »Das Belebende« explizit statuiert, in dem der »Begriff [! J. L.] von den Centauren« als »Geist eines Stroms« (zu lesen als ›Protokultur eines Stromtals‹) definiert wurde: Dort heißt es ferner: »Centauren sind deswegen auch ursprünglich Lehrer der Naturwissenschaft, weil sich aus jenem Gesichtspuncte die Natur am besten einsehn läßt« (II , 384). Diese mit der frühesten Kultur emergierende »Naturwissenschaft« ist spontane Naturgeschichte als Astronomie und Medizin (nach Hederich soll der Name Chiron von »cheir« abgeleitet und daher mit Chirurg verwandt sein)1. Insbesondere aber schreibt der Mythos dem Chiron Kenntnisse von Heilpflanzen und damit von Botanik zu: Sonst nemlich folgt’ ich Kräutern des Walds […] Auch dabei erweist sich die tierische Hälfte des Naturmenschen mit der instinktiven »Witterung« für Nahrung, Heilsamkeit und Gift als hilfreich (während in der Kultur solch instinktives Wissen überwiegend verloren ging). Das astronomische Wissen Chirons hat bereits Jochen Schmidt überzeugend rekonstruiert2: Und bei der Sterne Kühle lernt’ ich, Aber das Nennbare nur. […] (I ,  439, Vs. 15 f.) 1 Die ›wissenschaftliche‹ Thematik des Gedichts ist nicht übersehbar. Jochen Schmidt berücksichtigt sie aber lediglich als eine Phase in einem dann quasi allegorischen Entwicklungsschema, das er analog zu Hegels Phänomenologie des Geistes sieht (DKV  I ,  797 f.). 2 DKV  I ,  812 ff.

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Die frühe Phase seines Studiums der Naturgeschichte (konkret der Astronomie) beschränkte sich auf die bloße Benennung der Phänomene – eine Anspielung auf eine statisch klassifizierende Episteme. Später, nach der Phase der Blindheit und der Wiedergewinnung der Sehfähigkeit erkennt Chiron hinter den scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper die wirkliche, naturgesetzliche Dynamik: Er ersetzt das geozentrische durch das heliozentrische System: […] und bei dir selber Örtlich, Irrstern des Tages, erscheinest du (I ,  440, Vs. 44 f.) Wie Jochen Schmidt konstatiert, handelt es sich um die Sonne, die zuvor wegen ihrer scheinbaren Bewegung fälschlich als ein Planet (»Irrstern«) aufgefasst worden war. Damit wird allerdings »Chiron«, d. h. dem Übergang vom Naturzum Kulturmenschen und insbesondere vom Hirten- zum Stadtmenschen, eine Einsicht zugeschrieben, die nachweislich erst um 300 v. Chr. dem hoch zivilisierten Aristarch von Samos und definitiv dann erst Kopernikus gelang. Deutlich ist also eine Analogie mit der modernen Naturwissenschaft. Tag! Tag! Nun wieder athmet ihr recht; nun trinkt Ihr meiner Bäche Weiden! ein Augenlicht (I ,  440; Vs. 41 f.) Hölderlin schreibt das Homonym differenzierend mit a für Wiese und mit e für den Baum3 – da ihm an der Publikation der Nachtgesänge sehr viel lag und er Druckfehler nach Möglichkeit zu verhindern suchte, haben wir es also fast sicher mit Weidenbäumen zu tun. Dann wird dem Leser ein surreales Bild zugemutet: Der blinde Chiron identifiziert die Wiedergewinnung seines »Augen­lichts« (»Tag! Tag!«) mit einer Korrektur des Atem- und Trinkprozesses der ›Weidenbäume an seinen Bächen‹. Für eine (nur) äußere Landschaft ergibt das schwerlich einen Sinn – anders für eine innere Landschaft: Körperinnere Bäche und Bäume gehörten zur topischen Modellsymbolik der naturgeschichtlichen Physiologie. Von Blut- und Nerven-»Kanälen« war die Rede, durch die das Blut und der Äther fließen konnten, und sowohl das Adern- wie das Nervensystem wurden als verzweigte Bäume abgebildet. Die »Weiden« trinken »Licht«, genauer »Augenlicht« – der Lichtäther tritt also wieder physiologisch »recht« in den Kanal des Sehnervs und wird (nach Sömmerring) wieder unblockiert in die »Feuchtigkeit der Hirnhöhlen« geleitet, wo mittels der verzweigten Gehirnstrukturen das optische Bild generiert wird. Mittels einer naturgeschichtlichen Emphasis könnten die »Bäche« also insbesondere die sömmerringschen Gehirnfluida und die »Weiden« die (tatsächlich trauerweidenähnlich gebogenen) Ventrikel konnotieren.

3 Vgl. die direkte Opposition I , 396, Vs. 18–20: »Die Pappelweide blühet / Und der Seidenbaum / Auf heiliger Waide«. (Vgl. dazu auch Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta IV, 31 f.)

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Dem widerspricht nicht die Gegenprobe der Blindheitsdarstellung in den ersten drei Strophen: Weil das Licht am Morgen nicht mehr ankommt (also blockiert ist), hört die Nacht rund um die Uhr nicht mehr auf. Die stärkste semantische Verfremdung wird hier durch den Eingangsvers der dritten Strophe provoziert: So Füllen oder Garten dir labend ward […] Das Licht kommt, weil es sich ›Labung‹ durch ein junges Tier (u. a. den jungen Chiron) und durch Pflanzen (im Garten) verspricht  – damit scheint das er­ wartbare Verhältnis auf den Kopf gestellt: Pflanzen und Tiere »trinken« Licht und werden dadurch ›gelabt‹. Für Hölderlin gilt beides, herrscht strikte Reziprozität: Der Lichtäther braucht die Rezeption in lebenden »Gefäßen«, um sich »be-sinnen« zu können. Wenn Hölderlin für seine Sophokles-Übertragungen die Legitimität und Notwendigkeit reklamiert, den Mythos zu ›korrigieren‹, dann gilt das ebenso für seine eigenen Gedichte. Auch dafür hatte Pindar ihm vermutlich schon Beispiele geliefert. Der Chiron-Mythos ist dafür exemplarisch. In den antiken Versionen ist Chiron Musiker, er unterrichtet den jungen Achill im Leierspiel. Damit ist im griechischen Kontext Gesang und Poesie impliziert, wenn Chiron auch nicht explizit als Dichter (»Sänger«) behandelt wird. Bei Hölderlin wird er nun sogar dominant »Sänger« (wie in der früheren Fassung »Der blinde Sänger«). Chiron der »Naturwissenschaftler« wird also zum Prototyp des Poeta doctus, der die verschiedenen spezifischen Bereiche eines Wissens von der Natur interdiskursiv vereint und als mythische Poesie dem Volk »singt« – also zum Prototyp pindarisch-hymnischer Poesie. Von eminent wichtiger Bedeutung für Hölderlins ›Korrektur‹ des Chiron-Mythos ist schließlich das Mythem von der unbeabsichtigten Verletzung Chirons durch einen vom Gift der lernäischen Schlange tödlichen Pfeil des Herakles. In den bei Hederich referierten verschiedenen Versionen führt diese Verletzung entweder zum Tod des Chiron (und zu seiner Versetzung unter die Götter als Sternbild) oder zur Heilung durch das Kraut Centaurea bzw. Chironion. Hölderlin wählt den positiven Ausweg einer Versöhnung mit Herakles. Die prekäre und dissonante Beziehung zwischen Chiron und Herakles ist das dominante Motiv in Hölderlins Gedicht. Zunächst begegnet der »Halbgott« Herakles dem Chiron als Repräsentant der Ackerkultur gegenüber dem »wilden« Naturmenschen bzw. dem protokulturellen Hirtendasein: Und bei mir Das wilde Feld entzaubernd, das traur’ge, zog Der Halbgott, Zevs Knecht ein, der gerade Mann; Nun siz’ ich still allein, von einer Stunde zur anderen, und Gestalten

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Aus frischer Erd’ und Wolken der Liebe schafft, Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun […] (Vs. 16–22) Hölderlins ›Korrektur‹ des griechischen Mythos besteht also zusätzlich darin, dass er als Wirkung der Vergiftung ausschließlich die Blindheit (von der bei ­Hederich keine Rede ist) hervorhebt. Damit aber ergibt sich eine weitere Integration: die mit dem blinden Sänger Homer. Auch das Motiv der Formung von Gestalten aus Lehm (also das Prometheus-Motiv) ist gegenüber der Fassung von 1800 neu; dadurch wird eine weitere mythische Integration hergestellt. Bildet die ambivalente Beziehung Chiron-Herakles die Hauptachse der Ode, stellt sich im Rahmen der Arbeitshypothese von der modernen »Stimme« die Frage nach möglichen modernen Konnotaten der beiden mythischen Figuren. Die Nachtgesänge spielen vielfach auf eine depressive Situation ihres Autors an – ob man sie nun in der biographischen Isotopie als Prodrom des Zusammenbruchs von 1806 oder in der kairologischen als politische Verzweiflung lesen will, wobei das eine das andere ja keineswegs ausschließt. Aber auch der ›korrigierte‹ Chiron-Mythos ist in Richtung mehrfacher Analogien zu seinem Autor umakzentuiert: als naturgeschichtlicher Poeta doctus, als »pädagogischer« Dichter und als proto-pindarischer »Sänger«. Symptomatisch ist dabei zusätzlich die Tilgung des Mythems des »Schützen« Chiron (woraus das Sternbild abgeleitet ist): Um den »Sänger« Chiron klar gegen den Krieger und Pfeilschützen Herakles zu profilieren, mussten die Pfeile ausschließlich die des Herakles sein. Wenn aber Chiron als sein modernes Analogon Hölderlin selbst konnotiert – wen konnotiert dann Herakles? Die hoch plausible Antwort auf diese Frage lautet Napoleon, was im folgenden Abschnitt ausführlicher begründet werden soll. Zunächst ist die Ode Chiron unter dieser Hypothese zu lesen, die konkret lautet, dass in den Chiron-Gedichten den Orientzügen des Donnerers Zeus eine Napoleonstimme unterlegt sein könnte. Dieses Motiv ist bereits in der früheren Fassung von 1800 ausgeführt: Dann hör ich oft die Stimme des Donnerers Am Mittag, wenn der eherne nahe kommt, […] Den Retter hör’ ich dann in der Nacht, ich hör’ Ihn tödtend, den Befreier, belebend ihn, Den Donnerer vom Untergang zum Orient eilen und ihm nach tönt ihr Ihm nach, ihr meine Saiten! es lebt mit ihm Mein Lied und wie die Quelle dem Strome folgt, Wohin er denkt, so muß ich fort und Folge dem Sicheren auf der Irrbahn. Dass der »Donner« (mythisch das Gewitter des Zeus mit Donner und Blitz) topisch kriegerische Ereignisse symbolisiert, ist evident und in der Hölderlinfor-

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schung communis opinio. Ohne Zweifel war es aber der junge Bonaparte, der auf seinem spektakulären, »allbekannten« Feldzug nach Ägypten und Syrien (den beiden früheren orientalischen hellenistischen Reichen) vom Okzident zum Orient »eilte«. Wie im nächsten Abschnitt ausgeführt wird, gehörte das »Eilen«, die Schnelligkeit der Eilmärsche, zu Napoleons »bekanntesten« Topoi. Nahezu ein Beweis für diese Lektüre ist die Ersetzung des »ehernen« durch den »bekanntesten« in der Fassung Chiron – zeitgleich mit der Vorbereitung des Imperiums, worauf zurückzukommen sein wird. In der früheren Fassung von 1800 ist der »blinde Sänger« des Titels kein Kentaur, so wenig wie der »Donnerer« mit Herakles verbunden ist. Die depressive Situation gleicht vielmehr bis in die Wortwahl dem Depressionsmonolog des Empedokles. Chiron ist daher in jeder Hinsicht, nicht zuletzt auch im »nüchternen« gegenüber dem enthusiastischen Ton, ein vollständig neues Gedicht, in dem es um das ›vergiftete‹ Verhältnis zwischen Chiron und Herakles geht. Herakles ist »Halbgott«, was keineswegs synonym mit »Heroe« oder Held ist, sondern die ›Kreuzung‹ einer menschlichen Mutter mit einem »göttlichen« Vater voraussetzt (dazu ausführlich Kap. 9) – wobei der göttliche Vater in höher aufgeklärter Deutung ein epochaler Zeitgeist, also ein kollektiv-kultureller Typ von As-Sociation, ein neues Wir bedeutet. Herakles ist mythisch Kind von Zeus und Alkmene und Held der Taten, »aufgeklärt« dagegen Begründer der ersten Kulturphase (Gründer von Städten und Staaten). Ob Hölderlin Napoleon jemals als »Halbgott«, also als persönlichen Schöpfer einer nachrevolutionären Friedensordnung und Ermöglicher einer neuen Kultur betrachtet hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Vieles spricht allerdings dafür, dass das bis etwa 1803 der Fall war. Es passt zu allen bekannten Daten und insbesondere zum Komplex der Friedensfeier, dass deren Autor sich als den zu Napoleon passenden neuen Pindar aufgefasst haben könnte. Spätestens mit der Kaiserkrönung Ende 1804 kollidierte eine solche Einschätzung allerdings mit Hölderlins fundamental anti-monarchischer Überzeugung: Nun war »Gift zwischen uns«. Doch lauscht der vom Gift des Herakles erblindete (in Depression gestürzte) Dichter noch immer dem Donner der Kriege und hofft noch immer auf den »Reiniger« der Augiasställe der Anciens Régimes (»und der Boden / Reiniget sich«), ja auf eine definitive, utopische »Rückkehr« (Schlussvers) des Herakles, veranlasst durch einen jungen »Achilleus« – der ja von Chiron erzogen wurde. Wie stets ist die naturgeschichtliche Isotopie auch in Chiron im Wortsinne ›textuell‹ verflochten mit anderen konstitutiven Isotopien wie der biographischen (Einsamkeit, Depression als ›Blindheit‹), der poetologischen (Nachtgesang in idealischem Ton), der aktualgeschichtlich-kairologischen (»patriotischer Zweifel« an Napoleon), der mythologischen (Vergiftung durch Herakles) und der theo-logischen (wunderbare Heilung durch ›göttliche‹ Äther). Wir haben es mit einer analogen Struktur wie bei einem mehrstimmigen musikalischen Satz

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zu tun. Rhythmisch fällt der Unterschied zum früheren Blinden Sänger auf: Der heroische Ton mit den langen enjambierenden Phrasenbögen und der Steigerung ist regelrecht getilgt zugunsten kurzer, lakonischer und wie zerhackter Sätze. In der Mitte der zehnten Strophe entspricht der semantischen »Rettung« keine Makrozäsur und keine Pause: Das aber ist der Stachel des Gottes; nie Kann einer lieben göttliches Unrecht sonst. Eìnhéimisch aber ist der Gott dann Angesichts da, und die Erd’ ist anders. (I , 440) Eine alkäische Ode lento! Nur wenn man die Verse zögernd liest, ist der brüske semantische Wechsel sagbar. Chiron folgt »Gesichten« (Vs. 31) vor den blinden Augen – auch die »Rettung« bleibt in einer zweifelhaften Tonlage.

8.1.2. Herakles: »Der Reiniger Herkules, /  Der bleibet immer lauter, jezt noch, / Mit dem Herrscher«: Napoleon in Hölderlins »patriotischem Zweifel« Der folgende Versuch möchte nach dem Napoleon-Motiv und der Sicht Napoleons in Hölderlins lyrischen Fragmenten der Zeit 1803 bis 1806, vor allem im Homburger Folioheft, fragen. Er betritt damit Neuland, wobei es in den Texten ausschließlich um chiffrenartige, vor allem mythologische Formulierungen geht, deren aktualhistorische Lektüre naturgemäß keine hundertprozentige Evidenz erzielen kann. Hinzu kommt der fragmentarische, skizzenhafte und vielfältig überschriebene Textzustand der meisten Belege, der ja bekanntlich lange Zeit als Symptom krankhaft-psychotischen Schreibens galt. Ich sehe für diese Annahme keine überzeugenden Hinweise und betrachte die entsprechenden Lücken, »Würfe und Sprünge«, bis hin zu grammatischen Rätseln, als Resultate raschen, vorläufigen, skizzenhaften Notierens im neopindarischen Hymnenstil Hölderlins, von dem wir ja ebenfalls genügend meisterhaft ausgearbeitete Texte wie etwa Patmos, Germanien und Friedensfeier, ebenso wie die vermutlich späteren Andenken und Mnemosyne, besitzen. Die weitergehende Frage, inwiefern es denn überhaupt relevant ist, nach Hölderlins Sicht auf Napoleon in den letzten Jahren vor seinem Transfer in Autenrieths Klinik zu fragen, hoffe ich durch meine Überlegungen klären zu können. Für das Objekt Napoleon waren die Jahre 1803 bis 1806 allerdings unbestritten von höchster Relevanz: Sie umfassten die Jahre der Proklamation des Imperiums, des Beginns neuer Kriege nach dem Frieden von Amiens und dem Konkordat, bis hin zur Errichtung einer kontinentaleuropäischen Hegemonie mit dem Rheinbund durch die Siege über Österreich und Preußen. Sinclair begründete Hölderlins Transfer von Homburg in seine Heimat zu seiner Familie (neben der Krankheit, die er lange

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Zeit bestritten hatte) recht sachlich mit der Mediatisierung im Zuge der Rheinbundgründung 18064. Kein Zweifel kann heute mehr daran bestehen, dass Napoleon Bonaparte für Hölderlin bis etwa 1803, und insbesondere noch zur Zeit der Reinschrift der Friedensfeier, der große »Heroe […], Der schöngereifte, ächte«, des aktualhistorischen Kairos von 1800 war, wie es im Brumairegedicht Der Prinzessin Auguste von Homburg. Den 28. Nov. 1799 (I , 248 f.) heißt. Die Bezeichnung des Brumaire als »Diktatur« in Hölderlins Brief an die Mutter vom 16. November 1799 kann absolut kein Gegenargument sein5, da der Begriff in der Terminologie der römischen Republik, so auch im Kapitel »De la dictature« in Rousseaus für Hölderlin maßgebendem Contrat social, als republikanisches Notstandsregime positiv akzentuiert war (im Unterschied zu »Tyrannei« und »Despotismus«). Ich habe in meinen Publikationen dazu die Thesen Jean-Pierre Lefebvres bestätigt und weiterentwickelt, denen zufolge die Friedensfeier sich auf den Frieden von Amiens und das Konkordat bezieht, also auf den äußeren und den inneren Frieden, ja mehr noch: auf den Frieden der Aufklärung mit dem Christentum, und dass dieses in Hölderlins Sicht epochale Ereignis – ein Millennium nach Karl dem Großen  – das Verdienst des Ersten Konsuls der Republik sei (HR , 135–154). Wir besitzen demnach genügend Texte Hölderlins, in denen eine in höchstem Maße positive Sicht Napoleon Bonapartes und seiner Taten hymnisch ausformuliert ist. Diesen Texten lassen sich einige typische ›Napoleonformeln‹ Hölderlins entnehmen: Dazu gehören die Epitheta »allbekannt«, »Fremdling«, »schnell«, »ernst«, »lauter«, »Reiniger«, »Befreier« und »Retter«. Eine naturmythologische, neospinozistische Dimension liegt den Identifikationen Napoleons mit Phänomenen wie der Sintflut und vor allem dem Gewitter mit Donner und Blitz zugrunde. Je früher die Texte, umso »aufgeklärter« ist die Identifikation von militärisch-politischem Genie und Naturkraft formuliert: Ha! umsonst nicht hatt er geweissagt Da er über den Alpen stand Hinschauend nach Italien und Griechenland Mit dem Heer um ihn, Wie die Gewitterwolke Wenn sie fernhin Dem Orient entgegenzieht […]. 4 Dietrich Uffhausen hat plausibel die These entwickelt, dass die enge Freundschaft zwischen Hölderlin und Sinclair im Kontext der panischen Situation infolge des Hochverratsprozesses, doch vermutlich aufgrund akkumulierter Dissense, etwa auch über Napoleon, völlig zerbrochen sei. Sinclair habe die Mediatisierung als Vorwand benutzt, um Hölderlin ›loszuwerden‹, und dazu mit der Mutter die Zwangseinweisung bei Autenrieth und die Entmündigung organisiert (Uffhausen, »›Weh! Närrisch machen sie mich‹«). 5 Beissner SA , 317.

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Mit den Alpenüberschreitungen öffnete Napoleon in Hölderlins Sicht tendenziell den orientalischen Kulturraum, zu dem er Griechenland mindestens partiell zählte, bevor mit dem ägyptisch-syrischen Feldzug der Raum eines griechischen, dionysischen Christus selbst betreten wurde, der dann in der Friedensfeier und den anderen Christushymnen im Kairos des Konkordats erschlossen wird. Dieser orientalische Vektor Napoleons war für Hölderlin von allerhöchster Relevanz  – er hing direkt mit seiner Entdeckung der orientalischen, d. h. dionysischen Komponente der griechischen Kultur zusammen, die Nietzsche von ihm übernehmen sollte. Im Kontext der vorliegenden Studie kann also insbesondere Napoleons Orientfeldzug als historische Realisierung der hölderlinschen Fluchtlinie nach Griechenland betrachtet werden, zumal Ägypten und Syrien (neben Makedonien) zwei der drei hellenistischen Diadochenreiche mit griechisch-orientalischer Mischkultur und griechischer Lingua franca waren. Wie bereits im vorigen Abschnitt ausgeführt, dürfte kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sowohl im Chiron wie schon in Der blinde Sänger den Orientzügen des Donnerers Zeus eine Napoleonstimme unterlegt ist. Die fundamental neue Fassung von 1804 führte in dieser Sicht für die Zeit nach etwa 1803 symbolisch zu einer ›Vergiftung‹ des Verhältnisses zwischen dem modernen Chiron und dem modernen Herakles, deren Spuren in den Texten vor und nach der Ode Chiron nachgegangen werden soll. Am Schluss der großen Elegie Heimkunft, die unter dem frischen Eindruck des Friedens von Lunéville 1801 geschrieben wurde, stellt der Sprecher sich die zweifelnde Frage, ob der Name des Ersten Konsuls im Rahmen eines modernen Dankgebetes für den Frieden, also eines entsprechenden Gedichts, explizit genannt werden dürfe: Wenn wir seegnen das Mahl, wen darf ich nennen und wenn wir Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring ich den Dank? Nenn ich den Hohen dabei? Unschikliches liebet ein Gott nicht, Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein. Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen, Herzen schlagen, und doch bleibet die Rede zurük? Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne, Und erfreuet vieleicht Himmlische, welche sich nahn. Das bereitet und so ist auch beinahe die Sorge Schon befriediget, die unter das Freudige kam. Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht. Der Begriff des »Hohen« wird in einer späteren Bearbeitung durch »den Lautern«, eines der Napoleonepitheta, ersetzt: Nenn’ ich den Lautern dabei? Unfürstliches liebet ein Gott nicht […].

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»Fürst« ist wie »Diktator« ein republikanisch-positiver Begriff aus dem Contrat social, er kann sowohl einen Einzelnen wie ein Kollektiv, etwa ein Direktorium oder das konsularische Triumvirat, bezeichnen. Die Sorgen, die mit dem »patriotischen Zweifel«6 (II , 920) einhergehen, beziehen sich sehr konkret auf das enorme Wagnis, einen modernen, zeitgenössischen und aktualgeschichtlichen Namen in das neopindarische Poem einzusetzen so wie einen historisch konsakrierten, mythischen, griechischen oder christlichen Namen. Legitim wäre ein solches Wagnis am ehesten, wenn es sich bei dem Namen um den eines (modernen) »Halbgotts« handeln würde – so wie der Name Rousseau in der Rheinhymne als einziger moderner Name zweifelsfrei als der eines »Halbgotts« apostrophiert wird. Wie ich in den Kapiteln 5.2.4. und 9.4. begründe, darf der Begriff eines »Halbgotts« bei Hölderlin keineswegs als rhetorische Floskel und auch nicht als bloßes Äquivalent von »Held« aufgefasst werden. Es handelt sich vielmehr um einen »Begriff«. Halbgott meint präzise, wie es exemplarisch im Christus-Mythos formuliert ist, die personale Frucht einer ›Kreuzung‹ von Gott und Mensch, so wie Christus das Kind der Befruchtung einer menschlichen Mutter durch den Heiligen Geist Gottes ist. In entmythologisierter Sprache ist der Heilige Geist wiederum ein epochaler »Zeitgeist«, eine epochal-kulturhistorische Kraft, die sich in ihrer kollektiven, die Massen ergreifenden, neuen Kulturalität erweist. Die sorgende und zweifelnde Frage, ob Napoleon ein Halbgott sei, gehört zu Hölderlins elementaren poetischen ›Motiven‹ im mehrfachen Sinne dieses Wor­ tes. Sie ist ein zentraler ›Einsatz‹ (französisch »enjeu«) seiner spezifischen Spiel­ art von politischer Poesie, der es genauso radikal um kollektive Subjektivität geht wie um individuelle, genauso radikal um die Bildung eines Wir wie um die eines Ich, in der die Suche nach dem »Schicksal« des Ich, also seiner Historizi­ tät, untrennbar ist von der nach dem Schicksal des Wir, nach der Historizität der As-Sociation. Die »göttliche«, mit dem kollektiven Zeitgeist, der volonté générale, verbundene Dimension wird in den letzten Jahren des Konsulats und den ersten Jahren des Empire auch zunehmend griechisch-mythologisch, also mit dem Zeus-Komplex und den Mythen der Halbgötter Dionysos und Herakles, kodiert. Dabei impliziert Hölderlins moderne Mythologie, um es zu wiederholen, stets eine dominant »höher aufgeklärte« Lektüreweise, wie sie in der früheren ­Buonaparte-Ode noch explizit nahegelegt war: Heilige Gefäße sind die Dichter, Worinn des Lebens Wein, der Geist Der Helden sich aufbewahrt, 6 Es handelt sich um Zweifel im Wortsinne (über den Verlauf der Revolution und z. B. über Napoleon), nicht um eine Metapher für Bürgerkrieg.

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Aber der Geist dieses Jünglings Der schnelle müßt’ er es nicht zersprengen Wo es ihn fassen wollte, das Gefäß Der Dichter laß ihn unberührt Wie den Geist der Natur, […]. Allerdings ist in Hölderlins transzendental-neospinozistischer Weltsicht die historische Dimension innerhalb der Einheit von Natur und Geist eine spezifische Dimension, die er stellenweise explizit als »Zeitgeist« oder »Weltgeist« benennt. Napoleon als Organ und zeitweiliger Repräsentant des Weltgeists – das scheint bekannt und klingt nach Hegel. Während aber für Hegel der Griff zur Kaiserkrone einem Repräsentanten des Weltgeists problemlos zusteht, war Hölderlin davon überzeugt, dass »keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden« (an Sinclair 24.12.1798; II , 723). Auch nach dem Contrat social war ein Imperium das Gegenteil einer republikanischen Diktatur, war also Despotismus und Tyrannei, negative Herrschaft, nicht länger legitimiert durch die volonté générale. Die Sorge und der Zweifel, ob das neopindarische Projekt Hölderlins in Napoleon den legitimen Helden des Kairos, ja vielleicht sogar den Halbgott dieses Kairos, den richtigen »Namen« für die erhoffte moderne dionysische Kultur »gefunden« (inventum) und »getroffen« hätte, muss also mit der Kaiserkrönung einer äußersten Zerreißprobe ausgesetzt worden sein. Die Hoffnung auf ein neues Wir, an die sich das Ich Hölderlins seit dem Tod Susette Gontards umso mehr geklammert hatte, war unter Umständen sogar vom Kollaps bedroht. Mir scheint eine Lektüre der Fragmente aus der Zeit 1803 bis 1806, vor allem aus der zweiten Homburger Zeit 1804 bis 1806, die Hypothese zu bestärken, dass Hölderlin seinen »patriotischen Zweifel« durch eine Art »Schizo-Analyse« zu bewältigen suchte, indem er in Napoleon den Kaiser vom Sieger über die restaurativen Mächte des Ancien Régime trennte. Dabei erwies sich der Hera­ kles-Mythos als Chiffre eines komplexen Spiels von Analogien. Herakles war ein mythischer Halbgott (Zeus als Zeitengott sein Vater, Alkmene seine menschliche Mutter), der im Unterschied zu historischen Personen wie Christus der Name einer ganzen Epoche war, der Epoche der Kulturgründung des vorgängigen Naturmenschen, als dessen mythische Chiffre wiederum sein Lehrer Chiron (halb Tier, halb Mensch) dienen konnte. Die Taten des Herakles lassen sich sämtlich als Kulturalisierung von wilder Natur lesen. Hölderlin betont besonders den »Reiniger Herkules«, also den Säuberer des Augiasstalls7.

7 Ulrich Hötzer, Die Gestalt des Herakles, 132, sieht Hölderlins Herakles-Mythos nach 1800 in engstem Zusammenhang mit der »Epiphanie« Christi und parallel mit der »Johanneischen Offenbarung«, wodurch Herakles bei ihm in die Nähe des apokalyptischen »Engels« rückt.

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Für die Napoleon-Analogie waren insbesondere die zahlreichen ambivalenten Züge des Herakles brauchbar. Ich erwähnte schon seine, wenn auch unbeabsichtigte, Verletzung und Blendung des Chiron. Das meines Erachtens stärkste Argument für Napoleon-Analogien in den Fragmenten ist jedoch zunächst der Motivkomplex eines positiv gesehenen Feldherrn, eines genialen Strategen, wie in folgenden Versskizzen: Und Feuer und Rauchdampf blüht Auf dürrem Rasen Doch ungemischet darunter Aus guter Brust, das Labsaal Der Schlacht, die Stimme quillet des Fürsten. Das kann sich wegen der Einheit von »Feldherr« und »Fürst« kaum auf einen anderen Feldherrn als Napoleon und demnach am ehesten auf die Schlacht bei Austerlitz (2.12.1805) beziehen. Die Vorstellung der Kanonaden als Dampf­ blüten entspricht den zeitgenössischen bildlichen Darstellungen – »ungemischet« passt zum Napoleon-Epitheton des »Lautern«, und die Bezeichnung als »Fürst« euphemisiert den despotischen Kaiser zum republikanischen Diktator. Das gilt allerdings, so meine Lektüre, nur, insofern bei Austerlitz Mächte des Obskurantismus geschlagen werden. In dem gleichen, sehr lückenhaften lyrischen Notat – berühmt wegen der Formel »Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist / Am meisten das Vaterland« – ist zuvor von Herakles die Rede: Viel täuschet Anfang Und Ende. Das letzte aber ist Das Himmelszeichen, das reißt und     Menschen Hinweg. Wohl hat Herkules das Gefürchtet. Mein stärkster Beleg für die Hypothese der ›Schizo-Analyse‹ Napoleons bei Hölderlin ist die Formulierung im Titel dieses Kapitels. Sie gehört zu dem folgenden Abschnitt eines längeren und über weite Strecken vorläufig ausformulierten Hymnenentwurfs, der mit dem Vers »Wenn aber die Himmlischen haben / Gebaut« beginnt: Die Prophetischen, denen möchten Es neiden, weil die Furcht Sie lieben, Schatten der Hölle. Sie aber trieb, Ein rein Schiksaal Eröffnend     von

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Der Erde heiligen Tischen Der Reiniger Herkules, Der bleibet immer lauter, jezt noch, Mit dem Herrscher, und othembringend steigen Die Dioskuren ab und auf, An unzugänglichen Treppen, wenn von himmlischer Burg Die Berge fernhinziehen Bei Nacht, und hin Die Zeiten Gegen eine rein humanistisch-antiquarische Reproduktion des antiken ­Mythos spricht bereits entschieden das »jetzt noch«, das sich nur auf die Ego-hic-nuncOrigo des lyrischen Sprechers beziehen kann. Ich spreche von einem kairo­ logischen »jetzt«, das eine aktualhistorische Situation signalisiert. Auf der Ebene des Mythos geht es um den Sieg des Herakles über die bei einem Gastmahl betrunken randalierenden Kentauren. »Der Erde heilige Tische« meint wie in Brod und Wein zunächst die geographische Basis und dann ihren Ertrag, die Nahrungsmittel, die Gaben des Halbgotts Dionysos, vor allem Brot und Wein, die von den Kentauren missbraucht werden. Bei Hölderlin sind es allerdings »Schatten der Hölle«, also dunkle Mächte der Unterwelt und des Todes, die wie die Kentauren von Herakles vertrieben werden. Sie dürften in meiner Lesart analog stehen zu den Mächten des »Obskurantismus«, den »Dunkelmännern«, also dem verbreiteten Kollektivsymbol der Aufklärer und Republikaner für die Mächte der späteren Heiligen Allianz. Dann würde Hölderlin Napoleon mittels einer Spaltung (schíze) in zwei Personen aufteilen: in den »Reiniger« und den »Herrscher«. Ich kann das lange Hymnenfragment hier nicht ganz analysieren8 und muss mich auf die Rahmenprämissen des polyisotopischen Fächers und ausgewählte Abschnitte beschränken. Dabei lässt sich zunächst feststellen, dass die naturgeschichtliche Isotopie im hier zu lesenden Text quantitativ wie qualitativ dominant zu sein scheint. Es geht im ersten Teil um geologische Prozesse, die mit der mythologischen Isotopie verschränkt werden. Zeus als Generator von Blitzen, nach Hölderlins von Sömmerring übernommener Auffassung also von verschiedenen Metamorphosen des »Äthers«, darunter der Elektrizität, spielt bei der »Bildung« der Gebirge und Landschaften eine wesentliche Rolle. Konkret kann Hölderlin von Naturgeschichtlern wie seinem Freund Ebel, dem Autor der Schrift Über den Bau der Erde in dem Alpen-Gebirge, die allerdings erst 1808 erschien und also von Hölderlin nicht mehr wahrgenommen wurde, mit entsprechenden Theorien bekanntgemacht worden sein, ganz abgesehen davon, dass der Streit zwischen Vulkanismus und Neptunismus in der intellektuellen

8 Vgl. dazu Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta [I], 161–169.

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Luft lag. Dass das kairologische Jetzt auch in dieser naturgeschichtlichen Isotopie auftaucht (»Jetzt aber blüht es / Am armen Ort«), könnte auf eine Verschränkung der naturgeschichtlichen mit der politischen Isotopie hindeuten: Dann gäbe es eine Analogie zwischen der »Bildung« von Landschaften und der »Bildung« von politischen Einheiten und Kulturen. Diese tatsächlich für Hölderlin durch viele Texte belegte Analogie jedoch ist – eine wichtige Spezifik innerhalb der Goethezeit, die Hölderlin aber mit Goethe selbst teilt – keine bloße Metapher, sondern selbst naturgeschichtlich (»ernst«) begründet. Denn sowohl die geologischen wie die politischen »Bildungen« entstehen durch generative Prozesse a Deo sive Natura sive Potentia. Diese generativen Kräfte heißen deshalb »die Himm­ lischen«, und es gibt ihrer verschiedene. Die Strophe vor der Heraklesstrophe (s. o. bereits Kap. 7.2. zum Terminus »Schläfen«), die zunächst noch dominant naturgeschichtlich zu sprechen scheint, lautet wie folgt: Noch aber hat andre Bei sich der Vater, Denn über den Alpen Weil an den Adler Sich halten müssen, damit sie nicht Mit eigenem Sinne zornig deuten Die Dichter, wohnen über dem Fluge Des Vogels, um den Thron Des Gottes der Freude Und deken den Abgrund Ihm zu, die gelbem Feuer gleich, in reißender Zeit Sind über den Stirnen der Männer, Die Prophetischen, denen möchten Es neiden, weil die Furcht Sie lieben, Schatten der Hölle. Wer sind die »andren« generativen Himmelskräfte des Zeus? Es sind nach dem Wortlaut der Strophe »die Prophetischen«, die »über den Stirnen der Männer sind« und den Anschein »gelben Feuers« haben. Die »reißende Zeit« spielt ebenfalls bereits auf der politischen Isotopie. Die Dichter brauchen diese »Prophetischen«, weil sie sich »an den Adler […] halten« müssen, der »über den Alpen«, der zentralen Gebirgsformation Europas, also des Okzidents, schwebt. Der Adler wiederum ist ein Kollektivsymbol, das ebenfalls die naturgeschichtliche mit der politischen Isotopie koppelt: Er gehört zu den Vögeln, die in Hölderlins Naturgeschichte die exemplarischen Tiere mit Intelligenz (mit »Erkenntnis«, wie es in Das Nächste Beste heißt), aber ohne Ich sind. Speziell der Adler besitzt strategische Intelligenz, die sich aus seinem panoramatischen und gleichzeitig scharfen Blick und der Schnelligkeit seiner tödlichen Reaktion ergibt. Das ist naturgeschichtlich, also nicht bloß metaphorisch, analog zur strategischen Intel-

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ligenz des Feldherrn, speziell Napoleons, dessen Adler-Insignien seinerzeit »allbekannt« waren. Die Dichter müssen also mit Hilfe der »Prophetischen«, einer speziellen Evolution des Äthers im Gehirn (konnotiert sind die pfingstlichen Feuerzungen der Bibel), den Gang des Weltgeists deuten, und zwar entscheidend aus den militärischen Prozessen, die für Hölderlin stets auch kulturelle Prozesse sind – konkret den Kriegen Napoleons. Dabei ist die antizipatorische, »prophetische« Dimension evidenterweise notwendiger Teil der Deutung. Wiederum scheint eine Nähe zu Hegel gegeben – bloß konfuser formuliert, wie man kritisch einwenden könnte. Genau da liegt aber der Unterschied. Hölderlin lernte aus seinem »patriotischen Zweifel« seit der Spaltung des republikanischen Genies in den »Reiniger« und den imperialen »Herrscher«, dass der Weltgeist nicht auf klarer teleologischer Linie von Ost nach West voranschreitet, sondern dass er selbst den Kontingenzen materieller Prozesse und materieller »Bildungen« unterworfen ist – einschließlich Katastrophen wie bei den Gebirgsbildungen, was also durchaus Ereignisse des Scheiterns implizieren kann. Man hat diesen Zweifel, der konkret jenseits eines napoleonischen Imperialismus wie eines deutschnationalistischen Napoleonhasses situiert war, als psychotisches Symptom verstanden. Es ist eher ein entscheidungsneurotisches Symptom, das sich aus dem großenteils kontingenten Hin und Her der historischen Prozesse gut erklären lässt. Hölderlin, der sich nach dem Tod Susette Gontards gänzlich als Dichter der kollektiven Subjektivität eines utopischen Wir verstand, des Wir eines Prinzips Hoffnung auf eine emergente republikanische Kultur, deren as-sociative Basis eine neue, moderne Naturreligion als Synthese aus Spinozismus, moderner Naturgeschichte, Rousseauismus und Transzendentalismus sein sollte, für die Volksmassen dargestellt in moderner, poetischer Mythologie  – Hölderlin fieberte bis 1806 geradezu mit den historischen Prozessen der napoleonischen Expansion und spähte sozusagen nach den kleinsten Breschen für sein Projekt in den Ereignissen. Er hat die publikations- und rezeptionsstrategische Dimension dieses Projekts in der erschütternd luziden Vorbemerkung zur Reinschrift der Friedensfeier formuliert. Wir wissen nicht genau, woran die offenbar schon konkret vorbereitete Publikation der Hymne auf den Frieden von Amiens und das Konkordat in Form einer Art ›Flugblatt‹ schließlich scheiterte. In den folgenden Jahren 1803 bis 1806 dürfte die Verzweiflung über die Möglichkeit überwogen haben, dass der historische Prozess seinem Projekt noch jemals eine Bresche eröffnen könnte; jedenfalls besaß die wachsende Depression auch solche aktualhistorischen Gründe – und doch kann die Hoffnung nicht gänzlich aufgegeben worden sein, wie das fieberhafte Weiterschreiben beweist.

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8.2. Der moderne Achilleus und der moderne Aias Da die höchst seltenen epochalen Kulturkrisen analoge Verlaufsmuster zeigen und die »Halbgötter« in solchen Krisen erscheinen, als deren personale Vollstrecker sie fungieren, lassen sich folgerichtig auch Analogien zwischen »Halbgöttern« verschiedener Epochenkrisen beobachten. Dabei dominieren, wie die bisherigen Beispiele gezeigt haben, Analogien zwischen griechischen und hesperischen, kurz modernen Halbgöttern: zwischen Empedokles und Rousseau, Strato und Napoleon, Chiron und Hölderlin, Herakles und Napoleon. Da die prozessualen Analogien zwischen griechischen und modernen Epochenkrisen, insbesondere dem Kairos von 1800, zu den wichtigsten Tiefenstrukturen des hölderlinschen Schreibens gezählt werden müssen, liegt die Frage nach solchen Korrespondenzen in all jenen Fällen heuristisch nahe, in denen die Texte entsprechende Symptome zu zeigen scheinen. Ein solcher Fall ist die Schlussstrophe von Mnemosyne: Am Feigenbaum ist mein Achilles mir gestorben, Und Ajax liegt An den Grotten der See, An Bächen benachbart dem Skamandros. An Schläfen Sausen einst, nach Der unbewegten Salamis steter Gewohnheit, in der Fremd’, ist groß Ajax gestorben. Patroklos aber in des Königes Harnisch. Und es starben Noch andere viel. (I , 438)

8.2.1. Achilleus Nur Achilleus ist ein Halbgott, Aias bloß Königsohn. Die göttliche Mutter des Achilleus war die Nymphe Thetis, der menschliche Vater Peleus, der wiederum Enkel sowohl des Zeus wie Chirons war und bei Hölderlin ebenfalls eine relativ wichtige Rolle spielt: Er war einer der Argonauten und also der frühen Entdeckungsreisenden. Als Helden des trojanischen Krieges sind sie auch Seefahrer. Die Ortsangaben entstammen der Ilias, wo Achilleus aber nicht an einem Feigenbaum stirbt9. Liest man, wie üblich und wie durchaus möglich, das em 9 Bei Hölderlin gibt es nur eine einzige weitere Okkurrenz von »Feigenbaum«: in Andenken (»Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum«; I , 473). Darauf baut Meinhard Knigge

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phatische Possessivum »mein Achilles« einfach im Sinne einer Lieblingsfigur des Sprechers in Homers Epos, dann erübrigen sich weitere Fragen. Dass jedoch auch diese Hypothese nicht ohne moderne Zweitstimme aufgefasst werden kann, zeigt die Selbstapplikation Hölderlins mit der Analogie Briseis – Diotima und Achilleus – Hölderlin. Dabei betont der Sprecher allerdings die fehlende Analogie im Status eines Halbgotts, reklamiert aber den Status eines Natursohns auch für sich: Göttersohn! o wär ich, wie du, so könnt’ ich vertraulich Einem der Himmlischen klagen mein heimliches Laid. Sehen soll ich es nicht, soll tragen die Schmach, als gehört ich Nimmer zu ihr, die doch meiner mit Thränen gedenkt Gute Götter! doch hört ihr jegliches Flehen des Menschen, Ach! und innig und fromm liebt’ ich dich heiliges Licht, Seit ich lebe, dich Erd’ und deine Quellen und Wälder, Vater Aether und dich fühlte zu sehnend und rein Dieses Herz […]. (I , 200) Ein mögliches Symptom für moderne Analogien könnte jedoch die parallele Formulierung in der Sinclair-Ode An Eduard sein: Wenn ich so singend fiele, dann rächtest du Mich, mein Achill! und sprächest, er lebte doch Treu bis zulezt! (I , 286) Die Analogien sind hier Achilleus – Patroklos wie Sinclair – Hölderlin, erweitert um die konnotierte Stimme der Dioskuren Kastor und Pollux. Auch Sinclair ist allerdings kein Halbgott, er könnte jedoch Anteil am Halbgott Napoleon haben, zu dem er zunächst in ein möglichst enges Verhältnis gelangen wollte. »Gestorben« wäre dann metaphorisch zu lesen und bezöge sich auf den mutmaßlichen Bruch der Freundschaft um 180510.

8.2.2. Aias Zusammen mit dem Ödipus und der Antigone, die er vollständig zur Publikation übersetzte und kommentierte, war auch der Aias als eine dritte Tragödie des Sophokles für Hölderlin ein offensichtlich faszinierender Text, von dem er (»Hölderlin und Aias«, 278 f.) seine Hypothese, mit Achilles sei die »Heldin« Diotima gemeint, deren Tod Hölderlin in Bordeaux erfahren habe. Abgesehen von der Unmöglichkeit der letzten Behauptung dürfte ein solcher Geschlechtswechsel unwahrscheinlich sein. Symptomatisch ist aber der Umstand, dass auch Knigge, der sich ansonsten überwiegend auf Paraphrasen beschränkt, spontan nach aktuellen Konnotaten sucht. 10 Dazu Uffhausen, »›Weh! Närrisch machen sie mich‹«.

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ebenfalls einen Dialog und einige Chorlieder übersetzte (II , 386–389) und der ihm höchstwahrscheinlich als Reservoir intimer Applikationen diente. Bereits im Thalia-Fragment des Hyperion liest der Held in einer Situation pathologischen Liebeskummers im Aias. Er sieht aber bloß Melites »Bild« in dem Text, begreift nichts und redet laut »abgerissene Reden vor mich hin, die ich aus ihrem Munde gehört hatte« (I , 498). Der Textbezug kann also nur der Wahnsinn sein. Als weitere transparente Vektoren der Applikation des Aias erweisen sich gekränkter Ehrgeiz, Opfer von Ungerechtigkeit, ein Zornausbruch, ein vernichtender göttlicher »Schlag«11 (hier durch Athene), eben der Wahnsinnsschub, sowie eine darauf folgende tödliche, zum Suizid aus Scham führende Depression. Nach 1796 wird Hölderlin den Mythos gemäß der Hypothese der vorliegenden Studie naturgeschichtlich rekodiert haben, wobei es in erster Linie um zere­ brale Prozesse (Zurücksetzung, Zorn, Wahnsinn, Depression, Suizid als »Gährungen« von Gehirnfluida) gegangen sein muss (wie bereits oben in Kap. 7.2. ausgeführt). Bei Sophokles geht es darum, wer nach dem Tod des Achilleus der legitime Erbe seiner Priorität unter den achäischen Helden sein wird. Aias reklamiert diese Priorität zu Recht für sich, doch entscheidet sich die Vernunftgöttin Athene für ihren vernünftigen Liebling Odysseus. Aias erscheint bei Sophokles als prometheischer Selbstheld, der Athene beleidigt habe, wie es der Seher Kalchas (analog Teiresias im Oedipus und in der Antigone) enthüllte, der aber bloß zitiert wird: Denn unverständig überhebliche Sinnesart Versinkt durch Götterwillen tief im Mißgeschick, so sprach der Seher, wenn ein Mensch, nach Menschenart geschaffen, über Menschenmaß hinaus sich dünkt. Er aber ward, als er von Hause fortzog, schon Töricht befunden bei des Vaters weisem Wort. Der nämlich warnt ihn noch und spricht: Mein Kind, im Kampf Trachte zu siegen, doch zu siegen nur mit Gott! Und er versetzte prahlerisch im Unverstand: Vater, mit Göttern trägt wohl auch der Nichtigste Den Sieg im Kampf davon. Ich aber bin gewiß: Ich reiße diesen Ruhm an mich auch ohne sie. So prahlten seine Worte. Dann, ein andermal, als ihn die göttliche Athene rief und ihn ermunterte zu blutigem Angriff auf den Feind, entgegnet er mit dem unglaublich dreisten Wort: Herrin, den übrigen Argeiern stehe bei!

11 theoû plegé, Vs. 278 f.

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Bei mir und bei den Meinen bricht der Feind nicht durch. – Durch solche Reden zog er sich den grimmen Zorn Der Göttin zu, weil er nicht dachte wie ein Mensch.12 Kalchas enthüllt bei Aias also eine prometheische Form der Hybris, die konkret Athene, also die Vernunft, beleidigte. Tatsächlich besitzt Aias bei Sophokles nicht mehr wie die anderen Helden einen schützenden Gott, er steht tatsächlich als Mensch allein und ist daher am Ende den Todesgöttern ausgeliefert. In Hölderlins Anmerkungen zu Sophokles ist der Aias leider nur sehr kurz als Vergleichsfolie erwähnt, teils auf die dramatische Struktur des Antagonismus bezogen (»da man das Ringen […] im Ajax mit einem Fechterspiele vergleichen kann« [II , 376]), teils auf dessen Motive: »auch nicht, wie eines, das sich des Lebens oder Eigentums oder der Ehre wehret, wie die Personen im Ajax« (ebd., 375). Dominant sieht Hölderlin einen im weiteren Sinne politischen Antagonismus: Antigone und Kreon seien Gegner »nicht wie Nationelles und Antinationelles, hiemit Gebildetes, wie Ajax und Ulyss« (II , 373). »Nationelles« meint offenbar den engen Herkunftsraum, die Insel Salamis, im Gegensatz zu den gesamt-griechischen Interessen, die das realpolitisch-diplomatische Genie Odysseus (ebenfalls möglicherweise mit Napoleon konnotiert) vertritt. Während das Thema des Wahnsinns in diesen kurzen vergleichenden Hinweisen also nicht explizit erwähnt ist, lässt sich der Zusammenhang aber sehr wohl den übersetzten Abschnitten entnehmen. Der Chor besteht aus den Mitkämpfern des Aias, die ihm aus Salamis gefolgt sind. Sie werden als heimatverbunden geschildert und würden am liebsten in die Heimat zurückkehren, fürchten nun aber das entsetzliche Elend der alten Eltern des Aias, wenn sie von der Wahnsinnstat ihres Sohnes erfahren. Sollte also die Schlussstrophe von Mnemosyne eine moderne Analogie implizieren, so ist nach ›meinem‹ Aias zu fragen. Der dominante Vektor der Analogie kann nur der Komplex aus Wahnsinn, Depression und Suizid sein. Einen Hinweis in dieser Richtung könnte ein Abschnitt der Deutschenschelte des Hyperion geben: Voll Lieb’ und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk’ heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu thun hat. (I ,  756 f.) 12 Sophokles, Dramen, übers. v. Wilhelm Willige, Wiss. Buchgesellschaft, 2. Aufl., Darmstadt 1985, 57 ff. (Vs.  758–777). Hier liegt die Rede des Sehers übrigens nicht exzentrisch, sondern annähernd in der Mitte (von insgesamt 1420 Versen).

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Das bezieht sich zwar auf junge Dichter, doch verweist der Begriff »Titanenkraft« auf die enge politisch-poetische Symbiose der 1789er-Generation Hölderlins. Ein exemplarischer Vertreter dieser Generation war Hölderlins Freund Gotthold Friedrich Stäudlin, der sich 1796 (sieben Jahre nach dem Sturm auf die Bastille) im Rhein ertränkte. »Und es starben / Noch andere viel«: Friedrich Emerich (1802 »seelisch zerrüttet«), Ernst Ludwig Posselt (1804 Suizid), Georg Forster (1794 einsamer Tod in Paris13). (Man denkt auch – wenig plausibel – an einen metaphorischen Tod von Hölderlin selbst14.) Diese Häufung von mehr oder weniger ›pathologischen‹ Wahnsinnsschüben, Suiziden und Toden im Jugendalter auf lauter endogene Schizophrenien zurückführen zu wollen, scheidet aus. Soweit dabei Angstneurosen eine Rolle spielen, sind sie in der Realität begründet. Hölderlin kann dieser trostlos zugrunde gegangenen Minderheit der Generation ein Denkmal gesetzt und seine Solidarität mit ihr bekundet haben wollen.

13 Forster war in die Reichsacht erklärt; er starb verarmt an Lungenentzündung; man sagte ihm Verzweiflung nach, zerrieben zwischen weißem und rotem Terror. 14 So etwa Meinhard Knigge (»Hölderlin und Aias«), was zwar auf den Komplex Depression und Wahnsinn passt, nicht aber zum Selbstmord und Totsein.

9. Die griechischen Götter, ›höher aufgeklärt‹ gelesen

9.1. Entmythologisierung I : mythische und naturgeschichtliche Isotopie Hölderlins Naturphilosophie nach 1796 lässt sich als eine originelle interdiskursive Ineinsbildung mehrerer Komponenten begreifen: Neospinozismus, Neorousseauismus, naturgeschichtlicher Neomaterialismus1 und Neotranszenden­ talismus. Dementsprechend will gerade auch das fundamentale und so viel beredete Problem seiner »Religion« mit ihrem Gott sowie ihren (griechischen) Göttern und Halbgöttern in diesem Rahmen gelesen werden. Dabei liefert der Neospinozismus den primären Schlüssel. Gott im Singular und ohne Artikel ist als Hen kai Pân identisch mit der Natur und der schaffenden Macht (Potentia). Die von der mythologischen Isotopie aufgeworfene Frage lautet dann, wie einzelne »Götter« (bzw. »Halbgötter«) spinozistisch zu lesen sind. Hölderlins häufige Formel »Freude und Leid« (ergänzt durch »alles Verlangen«; I ,  376 f.) entspricht direkt Spinozas drei fundamentalen »Primäraffekten« (»affectus primarii«) Freude (Laetitia), Trauer (Tristitia) und Begierde/Verlangen (Cupiditas). In dem bereits mehrfach erwähnten Entwurf Wenn aber die Himmlischen im Homburger Folioheft kennt Hölderlin einen »Gott der Freude«: […] wohnen über dem Fluge Des Vogels, um den Thron Des Gottes der Freude […] (I , 401) Der Kontext spielt deutlich auf der naturgeschichtlichen Isotopie, konkret geht es um erdnahe meteorologische Strata zwischen Erdoberfläche (Gebirge, konkret Alpen) und kosmischer Umwelt (Himmel). Diese Strata entsprechen verschiedenen Äthern und ihren verschiedenen Verbindungen bzw. Mischungen. Die Verse sind exemplarisch für Götter ohne griechischen Namen, die als »die Himmlischen« eine Zwischenposition zwischen Deus-Natura und olympischen Göttern einnehmen. In der Elegie Heimkunft werden die atmosphärischen Strata

1 Diesen Begriff hat zuerst Gisbert Lepper explizit in die Debatte gebracht (Friedrich Hölderlin, 110, 140, 193 ff.). Er deckt wesentliche Aspekte der durchgängigen Naturalität des Kosmos und der menschlichen Geschichte, aber stets im Gesamtrahmen einer spinozistischen Unterstellung der potentiellen Belebtheit dieser durchgängigen Naturalität.

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Die griechischen Götter, ›höher aufgeklärt‹ gelesen 

noch deutlicher naturgeschichtlich als verschiedene Evolutionen des Äthers unterschieden: Und noch höher hinauf wohnt über dem Lichte der reine Seelige Gott vom Spiel heiliger Stralen erfreut. Stille wohnt er allein und hell erscheinet sein Antliz, Der ätherische scheint Leben zu geben geneigt, Freude zu schaffen, mit uns, wie oft, wenn, kundig des Maases Kundig der Athmenden auch zögernd und schonend der Gott Wohlgediegenes Glük den Städten und Häußern […] […] sendet […]. (I , 368) Das Spiel der Lichtstrahlen auf dem Äther entspricht sehr präzise der Wellentheorie des Lichts. Wer sind ›wir‹ (»Freude zu schaffen, mit uns«)? Es sind die »Athmenden« (alle Lebewesen mit Lungen), die den Äther in Leben, »Seele« (Hölderlin liest »Seele« in »seelig«) und Freude (Laetitia) verwandeln können. Diese Transformation setzt aber ein bestimmtes »Maß« voraus (wie bei einer chemischen Verbindung) – zu viel ungebundener Äther würde Feuer zünden. Wie es in einer späteren Bearbeitung von Brod und Wein heißt: […] Fast wär der Beseeler verbrandt. Die Differenz zwischen Spinozismus und dem Materialismus des 18. Jahrhunderts liegt im Problem der Emergenz des Lebens (der Ur-Zeugung) aus der ›toten‹ Natur sowie dann der Emergenz des Geistes aus dem Leben. Wie sollte man die Natura-Potentia verstehen: als tatsächlich schon lebendige und geistige oder als potentiell lebendige und geistige, was immer das heißen mochte. Erst durch Darwin wurde dieses Rätsel plausibel lösbar. In Kojèves Deutung müsste man etwa Hegel bereits einen prädarwinschen ›Atheismus‹ unterstellen. Wesentlich bei jedem Spinozismus ist jedenfalls der Monismus (keine zwei Substanzen) und die Kontinuität des Kosmos oder des Hen kai Pân. Hölderlin gehört zu denjenigen Spinozisten, die eine ›starke‹ Prä-Lebendigkeit und Prä-Geistigkeit in dem gesamten kosmischen Kontinuum voraussetzen, wobei nicht immer entscheidbar ist, wie die potentielle Lebendigkeit bzw. Geistigkeit präzise zu verstehen ist. Zweifellos muss der kosmische Äther »gereizt« werden zur Be-lebung und Be-seelung, wie es neben anderen Belegen ein Notat aus dem Homberger Folioheft formuliert: Gott in Anmuth aber nicht Nachdenklich oder gereizt, empfindlich, gemacht, in einer Geschichte Oder zweifelhaft. (I , 418) »Anmuth« bezieht sich auf bloße Kontingenzen der »großen Zeit« des beginnenden 19. Jahrhunderts (»Bündnisse, durch / Kleinigkeiten bewerkstelliget«) – im Gegensatz zu »Geschichten« mit bedeutenden historischen Tendenzen.

Entmythologisierung I: mythische und naturgeschichtliche Isotopie   

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Nur bei solchen Tendenzen wird Deus-Natura-Potentia durch »Reizung« zur Be-seelung der Kollektive mit Enthusiasmus veranlasst, also zu affektiv unterstützten Wir-Bildungen in As-Sociationen um volontés générales. Auf jeden Fall ist Hölderlin von der naturgeschichtlich-wissenschaftlichen Begründung aller Prozesse von Belebung, Beseelung, Besinnung und Begeist(er)ung überzeugt  – so dass es verfehlt ist, ihm numinös-irrationale Götterkonzepte zu unterstellen. Das gilt auch für die Zeugungsprozesse, die er von den buffonschen ›lebendigen Molekülen‹ bis zum menschlichen Sexus neo-materialistisch begreift. Die drei göttlichen Ebenen (Deus-Natura, Primäraffekte, olympische Götter und Halbgötter) werden in der Elegie Brod und Wein exemplarisch in ihrem Zusammenhang entfaltet. Die Zwischenebene der »Himmlischen« begreift die »modalen« Primäraffekte Spinozas naturgeschichtlich als Produkte ätherischer Prozesse in Nerven und Gehirn, die in der theo-logischen, konkret mythischen Isotopie auch als (griechische) »Götter« bezeichnet werden können. Die mythische Isotopie ist die angemessen poetische, die jedoch in Hölderlins Poesie mit der naturgeschichtlichen eng gekoppelt ist und daher im Text mit ihr wechselt: »Äther – Himmlische – Götter«. Die neospinozistische Isotopie ist daher vor allem zum Verständnis von Hölderlins höchstem Gott (im Singular) relevant: Dieser höchste Gott Deus-Natura-Potentia wird in Brod und Wein und vielfach mit der Formel Hen kai Pân: »Eines und Alles« (I , 376) benannt. Die spinozistische Identität von Gott und Natur formuliert Hölderlin meistens in einer Semantik, die die theo-logische Isotopie vermeidet, also nicht die »Gott-Götter«-Signifikanten benutzt, sondern statt dessen direkt an die naturgeschichtliche Isotopie anschließbar ist. Der übergeordnete Begriff in dieser »höher aufgeklärten«, doppelt bzw. gleitend lesbaren Teilisotopie ist der Terminus »die Himmlischen« oder »die Himmelskräfte«, deren naturgeschichtliche Bedeutung exemplarisch in zwei Strophen (8 und 13) der Ode Mein Eigentum formuliert ist: Zu mächtig ach! Ihr himmlischen Höhen zieht Ihr mich empor; bei Stürmen, am heitern Tag Fühl ich verzehrend euch im Busen Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte. Ihr seegnet gütig über den Sterblichen Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum, O seegnet meines auch und daß zu Frühe die Parze den Traum nicht ende. (I , 238) »Götterkräfte« und »Himmelskräfte« sind identisch: Deus sive Natura – und bei den zyklotonen »Erschütterungen und Rührungen der Seele« (II , 921) soll man durchaus sowohl an die äußeren wie inneren Äther denken.

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Ebenfalls zur Zwischenebene sind die Begriffe »Genius«, »Geist« und »Engel« zu zählen2. Der »Genius«-Begriff, der natürlich auch den Originalgeniebegriff des 18. Jahrhunderts konnotiert, aber genereller und naturgeschichtlicher gefasst ist, wird durch die Anfangs- und Schlussstrophe der Ode Vulkan aus den Nachtgesängen konturiert: Jetzt komm und hülle, freundlicher Feuergeist, Den zarten Sinn der Frauen in Wolken ein, In goldne Träum’ und schüze sie, die Blühende Ruhe der Immerguten. (I , 442) Und immer wohnt der freundlichen Genien Noch Einer gerne seegnend mit ihm, und wenn Sie zürnten all’, die ungelehrgen Geniuskräfte, doch liebt die Liebe. (I ,443) Es handelt sich um ein Wintergedicht, das das menschliche Haus mit seinem Ofen als Zufluchtsort gegen den kalten und ›zornigen‹ Nordsturm preist. Offensichtlich sind »Genien« mit »Geniuskräften« und die wiederum mit »Geist« in »Feuergeist« synonym. Diese »Geniuskräfte« sind ›göttlich‹, aber spezifisch auf den Menschen bezogen, wobei sie auf den »Sinn« der Menschen wirken. Dieser wichtige Begriff (dazu gehört auch das Verb »sinnen« der zweiten ­Strophe) impliziert nicht bereits Sprache und sprachliches Bewusstsein, wohl aber ein vorsprachliches ›Halbbewusstsein‹, wozu das besonders den Frauen zugeschriebene »Träumen« gehört. Es wäre völlig anachronistisch, nach Äquivalenzen mit psychoanalytischen Topiken zu suchen. Den engen Anschluss an die natur­ geschichtliche Äthertheorie stellt der Terminus »Wolken« her, der Ofenrauch und Wasserdunst evoziert. Während also der gesamte Text der Ode nur in der naturgeschichtlichen Isotopie und der Semantik der ›Himmelskräfte‹ spricht und die theo-logische Isotopie vermeidet, liefert der Titel »Vulkan« den ›Überset­ zungsschlüssel‹: Man kann die »Himmelskraft« des thermischen Äthers auch mythologisch mit dem Gottesnamen des Hephaistos benennen: Natura sive Deus. Problematisch erscheint die Bezeichnung »Geist« für die naturale »Himmelskraft«3. Dieser Begriff meint überwiegend, wie sich zeigte, die ›Sphäre‹ der 2 »Engel« ist nach den meisten Kommentaren synonym mit »Genius« (vgl. DKV, 722, 751, 752 ff.). Offensichtlich verwendete Hölderlin den christlichen Begriff (der aber auch eine griechische Analogie besitzt) während einer kurzen Zeit um 1800, um den traditionalen hesperischen Mythos zu erproben. 3 Vgl. dazu Bennholdt-Thomsen/Guzzoni (Analecta  IV ) zur Gnome »der Natur / Gang und Geist und Gestalt«. Während der »Gang« deutlich den naturgesetzlichen Determinismus meint (s. o. Kap. 2.2., Fußn. 44), dürfte »Geist« eben den Gleitbegriff zwischen den äußeren und den inneren Äthern, also zwischen den naturalen animalischen Affekten (auch im Menschen, besonders in den Kollektiven) und den sprachlich-historischen Produkten bezeichnen,

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menschlichen Sprache und des bewussten Diskurses, so wie in der Ode Ermunterung die drei Termini ›(ein) Gott‹, »Geist« und ›Wort‹ gleichgesetzt werden: Der Gott, der Geist Im Menschenwort […]. (I , 279) Wir haben es bei »Geist« also mit einem Doppel- oder Gleitbegriff zu tun, wie auch eine Version des Hymnenentwurfs ›Der Ister‹ (griechisch für Donau) zeigt, wo es von Herakles heißt: Da der, sich Schatten zu suchen, Vom heißen Lande kam, Denn voll des Geistes waren sie Daselbst, es bedarf aber Der Kühlung auch, Damit zu Todten Nicht übergehe der brennende Busen, darum Kam jener  lieber An die Wasserquellen, zum Ister (III , 291). »Geist« meint hier offensichtlich einen ›heißen inneren Nerven-Äther‹, der je­ doch vom äußeren Äther des heißen griechischen Klimas akkumuliert und ›gereizt‹ wird. Demgegenüber wäre es doch recht gezwungen, zwischen Spinozas einzelnen konkreten Affekten und den olympischen Göttern Analogien zu suchen. Wenn man noch dem Amor den Eros, der Libido die Aphrodite und der Ira den Ares zuordnen könnte, so besteht schon zwischen Ebrietas und Dionysos keinerlei sinnvoller Bezug mehr – ganz zu schweigen von der gesamten Liste der Affekte Spinozas einer- und dem Olymp anderseits. Hölderlins Entmythologisierung der mittleren und der dritten, differenziertesten »göttlichen« Ebene lässt sich daher vor allem am Leitfaden der naturgeschichtlichen Isotopie verfolgen. Als Resümee ergibt sich demnach4: »Gott« (im Singular, ohne Artikel) = Deus-Natura-Potentia »Himmlische« (»Himmelskräfte«) = Potentiae = einzelne Evolutionen des Äthers Einzelne Götter (im Singular mit unbestimmtem Pronomen) oder olympische Götter = mythische Namen für einzelne »Himmlische« »Gestalt« schließlich die ästhetischen Produkte der Natur (dazu ausf. Bennholdt-Thomsen/ Guzzoni, Analecta IV, Abschnitt IV). 4 Im Prinzip des nie infrage gestellten Monismus (Spinozismus) Hölderlins stimmen die vorliegenden Thesen mit jenen von Bennholdt-Thomsen und Guzzoni überein; im Einzelnen kommen sie zu anderen Vorschlägen (vgl. Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Analecta [I], 120–133). Die Ursache der konkreten Differenzen, sowohl bei Zeus wie bei anderen, liegt in der hier durchgängig als fundierend betrachteten naturgeschichtlichen Isotopie.

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Die griechischen Götter, ›höher aufgeklärt‹ gelesen 

»Halbgötter« = Gott-Menschen als Söhne einer menschlichen Mutter und eines »göttlichen« Vaters, konkret als inventive »Inkarnationen« einer ganzen epochalen Kultur an ihrem Beginn (wobei sie gleichzeitig das Resümee einer vorgängigen untergehenden Kultur inkarnieren können wie Christus und Rousseau)5 Insgesamt lässt sich feststellen, dass die griechischen Götternamen bei Hölderlin relativ selten (seltener, als das Vorurteil will) benutzt werden, dies dann aber im­ mer in Kombination mit der naturgeschichtlichen Isotopie, die meistens allein zusammen mit Termini der Zwischenebene (»die Himmlischen« usw.) erscheint. Wo Götternamen auftauchen, werden sie sozusagen naturgeschichtlich gerahmt und übersetzt wie in folgender Formulierung des Hyperion: […] das ist die Klippe für die Lieblinge des Himmels, daß ihre Liebe mächtig ist und zart, wie ihr Geist, daß ihres Herzens Woogen stärker oft und schneller sich regen, wie der Trident, womit der Meergott sie beherrscht […]. (I , 644) Auch hier wird der Name Poseidon nicht genannt, obwohl er für die gebildeten Leser aufgrund des Dreizacks konnotiert ist. Entscheidend aber ist die Analogie zwischen Poseidon und Meereswogen auf der einen und bewusstem »Geist« und Blutkreislauf auf der anderen Seite: Die unbewussten, vegetativ-nervlichen Äther der »Liebe« bewegen sich rascher als (komparatives »wie«) die Äther, aus denen das sprachlich-geistige Bewusstsein emergiert. Das dürfte eine ›griechische‹ Konstitution sein.

9.2. Entmythologisierung II : die frühhistorischen Epochen Entscheidend für das Verständnis der hölderlinschen neogriechischen »Göt­ ter«-Konzeption ist also die wechselseitige Übersetzbarkeit von theo-logischer und naturgeschichtlicher Isotopie. Das gilt für alle »göttlichen« Ebenen zwischen Deus-Natura-Potentia und den einzelnen olympischen Göttern. Auch für diese olympischen Namen zwischen Zeus und den olympischen »Halbgöttern« Dionysos und Herakles ist also primär nach ihrem naturgeschichtlichen Äquivalent zu fragen (dazu unten Kap. 9.2.2.). Eine ›Brücke‹ zwischen der »höher aufgeklärten« Lesart und der ›naiven‹ altgriechischen Mythologie stellt der ›philosophische Dichter‹ Pindar dar, mit dem sich Hölderlin (neben Sophokles) nach 1800 intensiv beschäftigte.



5 Dazu ausf. HR , 121–134.

Entmythologisierung II: die frühhistorischen Epochen  

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9.2.1. Pindar als Quelle Hölderlins für die frühen Phasen der Kultur nach Rousseau Das Folgende bezieht sich auf einen spezifischen Aspekt des Verhältnisses Hölderlin-Pindar unter zahlreichen anderen. Die Spezifik dieses Aspekts kann ich am besten andeuten, indem ich sage: Ich behandle die binäre Achse Hölderlin-Pindar als Schenkel eines Dreiecks Hölderlin-Rousseau-Pindar. Dabei stütze ich mich auf Hölderlins sogenannte Pindar-Kommentare, die ich lieber als Pindar-Aphorismen bezeichne. Meine These lautet in Kürze: Diese Texte wollen im Rahmen einer Theorie gelesen werden, die Rousseau als »Naturgeschichte der menschlichen Gattung« (»histoire naturelle du genre humain«) bezeichnet hat. Konkret geht es um frühgeschichtliche Phasen – anders gesagt: um die Phasen der Emergenz des kulturellen Menschen aus dem »Naturmenschen« (s. o. das Überblicksschema auf S. Y). Wie in Kap. 5.1.1. bereits dargestellt, geht es vor allem um den Übergang von der Phase ›Natur‹ 1 (der Wald-Phase des wilden Jägers) zur Phase ›Natur‹ 2 (der Fluss-Phase des Hirten an den Brunnen mit Poesie, Musik und Tanz) sowie dann auch um den Übergang von dieser Phase zu den Phasen Kultur 1 und Kultur 2. Hölderlins mythische Chiffre für die zweite Phase des Naturmenschen, die noch vor der mit Herakles bezeichneten städtischen Phase zu situieren ist, lautet Dionysos und ebenso »Musenzeit« (»Witterung der Musen« im Aphorismus Vom Delphin). Rousseau bezeichnete sie als die glücklichste Phase der Menschheit. Ich beginne mit meinem stärksten Argument, dem Aphorismus zu Das Belebende (II , 384 f.), wo der Kentaur als »wilder Hirte« (vs. Jäger) bezeichnet und mit dem Kyklopen zusammengefasst wird. Das entspricht Rousseaus Phasen ›Natur‹ 1 und hauptsächlich ›Natur‹ 2. Wie bereits im Abschnitt über Chiron (Kap. 8.1.1.) ausgeführt, ist Hölderlins erläuternder Aphorismus zu dem Pindarfragment eindeutig Teil eines gegenüber Pindar anachronistischen, für Hölderlin jedoch zeitgenössischen modernen Diskurses. Das signalisieren Termini wie »Begriff«, »Naturwissenschaft«, »die Natur einsehen«, »Stromgeist« usw. Dieser Diskurs ist der im weiten Sinne naturgeschichtliche, im engeren Sinne anthropologisch-naturgeschichtliche. Für das entsprechende Wissen kann es viele Quellen geben, aber ein Rousseautext, der seinerseits auf vielen zeitgenössischen Quellen fußt, bietet zum einen frappierende Parallelen und kann zum anderen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von Hölderlin gelesen und erinnert worden sein. Es handelt sich um den als Appendix zu den Confessions postum publizierten Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale6.

6 Dt. in: Sozialphilosophische und politische Schriften, Erstübertrag. v. Eckhart Koch u. a., München 1981 (danach die Seitenangaben).

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(107) Auf die zuvor getroffene Einteilung beziehen sich die drei Zustände des Menschen bezüglich seines Verhältnisses zur Gesellschaft: Der Wilde ist Jäger, der Barbar ist Hirte, der gesellschaftliche Mensch (homme civil) ist Bauer. (121) Vor der Bearbeitung durch den Menschen breiteten sich die schlecht verteilten Quellen unregelmäßiger aus, machten die Erde weniger fruchtbar und tränkten schwieriger ihre Bewohner. Die Flüsse waren oft unzugänglich, ihre Ufer steil oder sumpfig: Da die menschliche Geschicklichkeit sie nicht in ihren Betten festhielt, brachen sie oft daraus aus, ergossen sich nach links und nach rechts, änderten ihre Richtung und ihren Lauf, spalteten sich in mehrere Arme auf. Manchmal trockneten sie aus, manchmal versperrten Sandlawinen den Zugang. Dann war es, als ob es sie gar nicht gäbe, und man verdurstete inmitten von Wassern. (123) Aber in den trockenen Gegenden, wo man Wasser nur aus Brunnen gewinnen konnte, musste man sich wohl oder übel zusammentun, um sie zu bohren oder wenigstens, um den Zugang zu ihnen zu regeln. Das also dürfte der Ursprung der Gesellschaften und der Sprachen in den warmen Ländern gewesen sein. / Dort [an den Brunnen] bildeten sich die ersten Familienbeziehungen; dort trafen zuerst die beiden Geschlechter zusammen. Die Mädchen holten Wasser für die Küche, die jungen Männer tränkten ihre Herden. Dort erblickten die Augen, gewohnt wie sie waren seit der Kindheit die gleichen Objekte zu sehen, nun erstmals auch süßer-sanftere [Aphrodite und Eros]. Beim Anblick solch neuer Objekte erwärmte sich das Herz, eine unbekannte Anziehung dämpfte seine Wildheit, es fühlte die Lust, nicht allein zu sein. So wurde das Wasser unmerklich immer notwendiger, das Vieh hatte öfter Durst, man hastete hin und schied mit Bedauern. In diesem glücklichen Zeitalter, wo nichts die Stunden markierte, gab es auch keinen Zwang, sie zu zählen; die Zeit hatte als einziges Maß Vergnügen und Langeweile. Unter uralten Eichen, die Sieger waren über die Jahre, vergaß eine glühende Jugend schrittweise ihre Härte; langsam und wechselseitig wurde man zahmer. Dabei versuchte man, sich verständlich zu machen[,] und lernte, sich zu erklären. Dort fanden die erste Feste statt, die Füße hüpften vor Freude, die rasche Geste genügte nicht mehr, die Stimme begleitete sie mit Akzenten voller Leidenschaft, ein Gemisch aus Lust und Begierde fand seinen Ausdruck. Dort also war die wahre Wiege der Völker, und aus dem reinen Kristall der Brunnen flossen die ersten Brände der Liebe7. Chiron als der exemplarische Kentaur, als, wie man sagen könnte, Genie der zweiten Naturphase, als mythische Personifizierung des »Stromgeists«, als enzyklopädisches Bewusstsein der Hirtenkultur, spielt in Pindars Poesie eine 7 Die rätselhafte Quelle »Eines« für den Begegnungsmythos der Wanderung könnte eventuell auch dieser Text Rousseaus sein (?); s. o. Kap. 2.6.

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führende Rolle, die Hölderlin nach meiner Hypothese in diesem Sinne deutet. Chiron als »Naturwissenschaftler« z. B. konnte sich bei Pindar auf das ­Mythem berufen, dass er den Asklepios die Medizin gelehrt habe (ausführlich Pyth. III; II , 212 ff.; von Hölderlin komplett – und zwar offenbar mit besonderem Interesse – übersetzt). Die am Beispiel von Das Belebende entwickelte These dient mir nun auch als Schlüssel zu den anderen Pindar-Aphorismen. Bei Untreue der Weisheit (II , 379) ist die Beziehung evident: Jason ist »Zögling des Centauren« (Chirons). Er ist von Chiron genauso erzogen worden wie Émile von Rousseau. Während aber Rousseau die Situation einer »Grotte« künstlich-experimentell konstruieren musste, erscheint Jason hier als der mythische Mensch des Übergangs von der Phase ›Natur‹ 2 zur städtischen Phase. Die Parallele zu Émiles Übergang in die Stadtkultur ist wirklich frappierend (bis zum Alter) – einschließlich der Begriffe »einsame Schule«, »Unschuld«, »reines Wissen« vs. »Klugheit«, »Zerstreuung«. (Dazu passt die Erwähnung Chirons als Erzieher des Achill im 2. Buch des Émile, die in frühen Ausgaben mit einem eigenen Stich des Kentauren und seines Schülers illustriert war.) Auch den Mythos von Chiron und Jason fand Hölderlin bei Pindar, in Pyth.  IV, die er ebenfalls größtenteils übersetzte, einschließlich des Zitats in Untreue der Weisheit8. Von der Ruhe (II , 380) handelt nun von den Phasen Kultur 1 (der Phase des Kampfes der Bauern um Landbesitz, des homo homini lupus, mythisch der herakleischen Monster) und Kultur 2 (der Gründung der Polis mit ihren gerechten Gesetzen durch Herakles). Die Begriffe des »Gesetzgebers« (législateur) und des »Fürsten« (Prince) sind absolut zentrale Begriffe im Contrat social. In ihrer rousseauistischen Fassung heben sie die frühere Staatstheorie seit Machiavelli in sich auf. Insbesondere kann man nicht genug betonen, dass »Fürst« eine Institution meint, die aus einem, aber auch aus vielen Personen bestehen kann, dass sie also am ehesten »Staat« meint. Der mythische Gesetzgeber und Staatsgründer schlechthin ist Herakles, über den Hölderlin (wie auch über Dionysos) bei Pindar viele von ihm symbolisch gedeutete Episoden lesen konnte Vom Delphin (II , 381) geht weit zurück in die Phase ›Natur‹ 2, die mythisch ja auch die Phase der Musen ist (nach Rousseau Erfindung von Poesie, Musik und Tanz bei den Festen der Hirten an den Brunnen). Der Aphorismus ist von transparenter Schönheit und braucht eigentlich keine Interpretation: Er handelt evidenterweise vom Ursprung der Kunst aus dem Gesang der Natur. Wichtig ist dabei das Element Wasser (›Natur‹  2) statt des »Waldgeschreis« (›Natur‹ 1, Der Ister) – der »Witterung der Musen« entspricht die Phase der Hirten in ›Natur‹ 2.

8 Das Beispiel zeigt übrigens, dass die längeren Übersetzungen bloße Fingerübungen sind, um sich in Pindars Stil einzuhören.

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Die Asyle (II , 383). Im Kontext meiner bisherigen ›dreischenkligen‹ Lektüre wird es plausibel erscheinen, wenn ich in den »Asylen« Natur-Residuen in der Welt der Kultur erblicke, rousseauistisch sowohl »asiles« genannt wie auch »Eremitagen«. »Gott« will mit Spinoza als »Natur« gelesen werden, und »bis sich im Schiksaal begegnend, an den Spuren der alten Zucht, der Gott und der Mensch sich wiedererkennt« ist zu lesen als ein besonderes Ereignis des »retour inventif à la nature«. Was »an den Spuren der alten Zucht« betrifft, so ist die Begegnung von Mensch und »dem« Gott, neospinozistisch gelesen, eine Begegnung von Mensch und Natur. Eine solche Begegnung ist immer Wiederbegegnung, weil der Mensch ja aus der Natur emergiert ist. Auf Pindar bezogen, ließen sich die auf Götter zurückführenden Genealogien also als Rückkehren zur Natur lesen. Was ergibt sich nun aus dieser Rekonstruktion des Dreiecks für die zweipolige Achse Hölderlin-Pindar – welches Bild von Pindar hat Hölderlin im Laufe seiner intensiven Pindarlektüre entwickelt? Dafür scheint mir der entscheidende Schlüssel die Forderung Hölderlins zu sein, wir müssten »die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen«. Eine Hypothese wäre, dass Hölderlin bereits das heute als Gewissheit Geltende antizipiert hat: dass nämlich Pindar die traditionalen Mythen modifiziert und sogar neue erfunden habe (etwa die Gründung der Olympischen Spiele durch Herakles) und dass diese Annahme wiederum einen »philosophischen« Pindar voraussetze (Theunissen). Noch genauer lautet die Frage, ob Hölderlin bereits Pindar die Absicht unterstellt, die Mythe beweisbarer darzustellen, sie also bewusst symbolisch zu lesen. In den Aphorismen benutzt er Pindar jedenfalls eindeutig als Quelle einer Weisheit über die frühen Phasen der Kultur in mythischer Form – die Frage ist, wieweit die Aphorismen sich als rekonstruktiv verstehen und wieweit als ihrerseits inventiv. Ich habe dieses Verhältnis in der Figur einer ›Spirale der inventiven Rückkehr zur Natur‹ zu fassen gesucht: Der moderne philosophische Poet verfügt sowohl systematisch wie historisch über ein weiterentwickeltes Wissen, aber er stößt in Pindar auf einen Geistesverwandten, der ›näher‹ am Ursprung der Kultur und insbesondere der Poesie und der Philosophie lebte. Sicher ist sich Hölderlin bewusst, Pindar in vielen Punkten »besser zu verstehen, als er sich selbst verstand«, und er geht ja in den Sophokles-Anmerkungen und in seiner Übersetzungspraxis so weit, die griechischen Texte zu modernisieren. Das gilt auch für seine Pindarlektüre. Aber wie bei einem Teleskop ist Pindar für ihn eine entscheidend wichtige, näher am Ursprung platzierte optische Linse. Konkret lässt sich auch Hölderlins neospi­ nozistische Theo-logie als Instrument seiner Pindarlektüre hinzufügen: Ein ganz wesentliches Element bei Pindar sind die genealogischen, brückenbildenden Regresse von der Zeit des Dichters zu den Urzeiten, mythisch als Abstammung aktueller Sieger von Göttern erzählt. Wenn man Götter neospinozistisch als besondere Naturkräfte (Evolutionen des Äthers) liest, ginge es also um Rückkehren zur Natur, die jedoch niemals als rein regressiv wie in der antirousseauistischen

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Polemik, sondern immer gleichzeitig re- und progressiv – eben inventiv – aufzufassen wären9. Ein wichtiges Teilsegment von Hölderlins Hymnen und Hymnenentwürfen kann man demnach von ihrer inneren Form her als ›Spiralen einer inventiven Rückkehr zur Natur‹ kennzeichnen. Das sind die Stromhymnen und die geologischen Hymnen im weitesten Sinne (Entstehung und Konfigurationen der Gebirge und Meere). Die Naturszenarien sind dabei stets im schellingschen Sinne ›in-different‹ mit der Kulturgenese verbunden. Leitmotive sind die Konzepte des »Wilden«, des Jägers, des Hirten bzw., mythisch gefasst, des Kentauren als Symbol für den Natur-Menschen in seiner naturell-kulturellen Zwiegestalt. All diese Leitmotive fand Hölderlin in Pindars Mythen und las sie im Sinne der inventiven Rückkehr. Insofern liegt es nahe, hypothetisch anzunehmen, dass er diesen Hymnen ebenfalls die innere Form einer Spiralbewegung der inventiven Rückkehr unterlegt haben könnte.

9.3. Die einzelnen griechischen Götter 9.3.1. Zeus = elektrischer Äther (Blitz); befruchtender, lebensgenerierender Äther (goldener Regen, Danae-Mythos, Sperma) Wie die folgenden Belege zeigen werden, ist Zeus (»Zevs«) bei Hölderlin ein vieldeutiger Gott mit verschiedenen Facetten. Zweierlei Eigenschaften sind allerdings von axiomatischer Klarheit: Erstens ist Zeus niemals identisch mit dem Gott des Spinoza, also dem Hen kai Pân der Allnatur – und zweitens ist die Spezifik des Zeus innerhalb der gesamten kosmischen Natur durch seine Bindung an die Erde bestimmt. Geht man von Hölderlins Kategorie der »Sphäre« in ›Über Religion‹ aus, dann liegt es nahe, Zeus mit der Erd-Atmosphäre, also dem Be­ griff einer »Meteorologie« im Sinne des 18. Jahrhunderts, zu identifizieren. Genauer noch ist die irdische Sphäre des Zeus vermutlich durch den Bereich der dominanten Gravitation der Erde begrenzt: Für uns, die wir unter dem eigentlicheren Zeus stehen, der nicht nur zwischen dieser Erde und der wilden Welt der Todten innehält, sondern den ewig menschenfeindlichen Naturgang, auf seinem Wege in die andre Welt, entschiedener zur Erde zwinget […]. (II ,  373 f.) Der ewig menschenfeindliche Naturgang impliziert die kosmische Unverträglichkeit des irdischen Lebens, wie sie die Naturgeschichte zunehmend durch-

9 Eine wesentliche Funktion der Götter in den Mythen Pindars ist die Erfindung von Kulturtechniken = sophísmata (O XIII).

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schaut. Von der Zone an, wo ihre Gravitation dominant wird, stürzt jeder irdische Körper in die Sonne, wo er verbrennt. In der Strato-Fassung des Empedokles vereinigen sich die innerirdischen (vulkanischen) Äther wieder mit den atmosphärischen, also mit Zeus: Und wenn das unterirrdische Gewitter Izt festlich auferwacht zum Wolkensiz Des nahverwandten Donnerers hinauf Zur Freude fliegt, da wächst das Herz mir auch; (I , 885) Thöricht Wesen! Schläft und hält Der heilge Lebensgeist denn irgendwo Daß du ihn binden möchtest, du den Reinen? Es ängstiget der Immerfreudige Dir niemals in Gefängnissen sich ab, Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle. O Jupiter Befreier!* *stärkerer Ausruf (I , 832) Äthertheoretisch ist Zeus als höchster Gott der Erde ein Doppel- oder Gleit­ begriff: Als »reiner« Gott wie in Vers 1756 der Strato-Fassung des Empedokles ist er reiner kosmischer Äther – als Kombinat aller irdischen Götter Quintessenz aller ätherischen Prozesse in der irdischen Atmosphäre: Er kann bei Hölderlin die Eigenschaften aller olympischen Götter annehmen10. Im Rahmen des spinozistischen Monismus ist es nur konsequent, dass Zeus nicht bloß das natürliche, sondern gleichzeitig auch das menschliche, historische Wetter macht (konkret die affektiven, enthusiastischen Begleitungen der historischen As-Sociationen mit ihren volontés générales): Also gieng es, als Der Erde Vater bereitet ständiges In Stürmen der Zeit. Ist aber geendet. (I , 460) Seit der Strato-Fassung des Empedokles scheint Hölderlin demnach einen ganz neuen Zeus zu kennen: den »Herrn der Zeit« (I , 897, 899), also den Gott der (irdischen, menschlichen) Geschichte. Dass es sich um Zeus handelt, ist durch seine mythischen Eigenschaften Blitz und Donner außer Zweifel gesetzt: Der Herr der Zeit, um seine Herrschaft bang, Thront finster blikend über der Empörung. Sein Tag erlischt, und seine Blize leuchten […] (I , 897) Und heute noch begegn’ ich ihm, denn heute 10 Knaupp sieht in der Ode Der blinde Sänger »[d]ie Epitheta des Zeus […] dem Sonnengott zugeschrieben« (III , 156), ebenso in der späteren Fassung Chiron (III , 264).

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Bereitet er, der Herr der Zeit, zur Feier Zum Zeichen ein Gewitter mir und sich. (I , 899) Allerdings ist Zeus als Gott der Geschichte ebenfalls bereits seit der Zeit um 1796 vorgeprägt, wie es die Ode Der Zeitgeist beweist: Zu lang schon waltest über dem Haupte mir Du in der dunklen Wolke, du Gott der Zeit! […] Lass’ endlich, Vater! offenen Aug’s mich dir Begegnen! Hast denn du nicht zuerst den Geist Mit deinem Stral aus mir gewekt? […] (I , 228) Die »dunkle« Wolke ist die Gewitterwolke des Zeus (im Gegensatz zur ›hellen‹ Wolke der Hera, s. u. im Anschluss), und der den »Geist« weckende Blitzstrahl ist der den inneren Äther der Nerven und des Gehirns zum »Gesang« stimulierende ›Chock‹ des kairologischen, enthusiastisch as-sociierenden Ereignisses11. Im Gott der Geschichte ist also der naturgeschichtliche Zeus nicht getilgt, sondern lediglich erweitert. In der Rede des Manes, aus der das erste der obigen beiden Empedokles-Zitate stammt, wie auch in der Antwort des Empedokles, aus dem das zweite genommen ist, geht es um revolutionäre »Empörung« und Bürgerkrieg, mit deutlichen Konnotationen der Französischen Revolution: Und wenn, indeß ich in der Halle schwieg, Um Mitternacht der Aufruhr weheklagt Und durchs Gefilde stürzt, und lebensmüd Sein eignes Haus und die verlaideten Verlaßnen Tempel mit eigner Hand zerbrach, Wenn sich die Brüder flohn, und sich die Liebsten Vorübereilten, und der Vater nicht Den Sohn erkannt, und Menschenwort nicht mehr Verständlich war, und menschliches Gesez, Da faßte mich die Deutung schaudernd an, Es war der scheidende Gott meines Volks! (I ,  898 f.) Der »Gott des Volks« ist nicht identisch mit dem »Herrn der Zeit«, was sich aus der in dem Fragment ›Über Religion‹ entwickelten Theorie konsequent ergibt: Jeder Gott ist in entmythologisierter Version gleich dem »Geist«, also der Kultur bzw. dem Diskurs der ihn produzierenden As-Sociation – der Gott eines Volkes 11 Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter (I , 285; III , 158): »Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn / Der Zeit, Geseze giebt […]«. Im Entwurf heißt es sogar: »gleich mir / Geseze giebt«. Das ist eine radikal entmythologisierende Formulierung, die nur poetische Gesetze meinen kann.

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also ein historisch spezifischer, räumlich wie zeitlich begrenzter. Mit Foucault gesprochen, geht es um das historische Apriori. Im Unterschied dazu ist Zeus als Gott der gesamten historischen Zeit und aller konfligierenden Völker bzw. Kulturen universal. Dieser historische Zeus ist identisch mit dem Weltgeist. Entsprechend der kairologischen Arbeitshypothese ist nach der aktualhistorischen Situation zu fragen, die Hölderlin mythologisch mit dem historischen Zeus bzw. dem Weltgeist und der dazu gehörigen Modellsymbolik benennt. Die Antwort ist eindeutig: Es ist die Hoffnung auf einen postrevolutionären Frieden und dann die (allerdings bald enttäuschte) Erfüllung dieser Hoffnung durch Napoleons Friedensschlüsse von Lunéville 1801 und Amiens 1802. Für Hölderlin, der stets besonders an den kulturell-religiösen Komponenten interessiert war, ist als dritter Friedensschluss Napoleons unbedingt das Konkordat mit dem Papst, das als ein Frieden zwischen Aufklärung und Christentum gesehen werden konnte, zusätzlich zu berücksichtigen. Wenn man diese Konstellation der kairologisch-politischen Isotopie unaufgeregt rekonstruiert, liest sich die Friedensfeier völlig transparent: Der »Fürst« des Kairos, d. h. der den Frieden ermöglichende Staatsapparat, ist der »allbekannte« Held der jahrelangen Revolutionskriege, also der siegreiche Stratege und Konsul der Republik, Napoleon Bonaparte: Und dämmernden Auges denk’ ich schon, Vom ernsten Tagwerk lächelnd, Ihn selbst zu sehn, den Fürsten des Fests. Doch wenn du schon dein Ausland gern verläugnest, Und als von langen Heldenzuge müd, Dein Auge senkst, vergessen, leichtbeschattet, Und Freundesgestalt annimmst, du Allbekannter, doch Beugt fast die Knie das Hohe. Nichts vor dir, Nur Eines weiß ich, Sterbliches bist du nicht. Ein Weiser mag mir manches erhellen; wo aber Ein Gott noch auch erscheint, Da ist doch andere Klarheit. (I , 362) Wenn Jochen Schmidt auch von dem deutschnationalistischen ›Chock‹, den in den 1950er Jahren die »Napoleonthese« auslöste, ganz entfernt ist, so plädiert er dennoch weiter gegen diese Lesart und identifiziert den »Fürsten des Fests« mit dem universalen Zeus, dem Weltgeist12. Wie kann aber bei Zeus ein Zweifel über seine Unsterblichkeit bestehen? Ganz offensichtlich geht es um eine Interferenz von Sterblichkeit und Unsterblichkeit – also um einen Halbgott, so dass gelesen werden kann: »wo aber [außer dem Menschen, in dem Menschen] / Ein Gott noch auch erscheint«. Der »Fürst des Fests« ist also nicht identisch mit dem »Donnerer« und seinem »tausendjährigen« Wirken (Vs. 32), nicht mit dem »Herrn der 12 DKV  I ,  894 ff.

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Zeit« bzw. »Gott der Zeit« (Strophe 7), nicht mit dem »Vater« (Vs. 75) und schon gar nicht mit dem »Alllebendigen«, also mit Deus-Natura-Potentia (Vs. 71) – er ist nicht der moderne Zeus, sondern der moderne Herakles. Dieses Konzept herrscht völlig unverändert auch noch in den SophoklesAnmerkungen von 1804. Der »Vater der Zeit« und »Vater der Erde« wird dort explizit mit »Zeus« identifiziert (II , 372, 37313). Wie die Thematisierung der kantischen Aprioris Raum und Zeit anzeigt (II , 316, 372), versucht Hölderlin sich an der Problematik der Emergenz dieser Bedingungen der Möglichkeit von Naturerkenntnis innerhalb der spinozistischen all-einen Deus-Natura-Potentia. Das menschliche Gehirn als Produkt der Natur projiziert die Aprioris, um die Natur »berechenbar« zu machen und als »Verstand von Gegenwart auf die Zukunft« zu schließen (ebd., 372). Gleichzeitig ›folget das Gemüth dem Wandel der Zeit mitfühlend‹ (ebd.) – beide Modi der Natur, die vom Verstand im Rahmen der kantischen Aprioris berechnete und die vom Gemüt im Rahmen historischer Aprioris mitgefühlte, können mythisch als Zeus benannt werden: die astronomische Zyklik als ›Stundenzählung‹ und die historische Dynamik (der »reißende Zeitgeist«; II . 370) im Leiden als ›Begegnung mit dem Gott‹. »In der äußersten Gränze des Leidens bestehet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raumes« (II , 316) – im historischen Antagonismus und in der Revolution (der »vaterländischen Umkehr«; II , 375) löst sich das historische Apriori momentan auf und fällt das Bewusstsein zurück auf das Minimum der kantischen Aprioris.

9.3.2. Hera Der Schlüssel zu Hera (Juno) ist Hölderlins Formel der »abendländischen junonischen Nüchternheit« im ersten Böhlendorffbrief vom 4.12.1801 (II , 912), die durch die Formel »heilignüchternes Wasser« aus Hälfte des Lebens (I , 445) naturgeschichtlich lesbar wird. Wasser als Element der Meere, der Seen und der Flüsse, der Wolke und des Regens bildet den Gegensatz zum Feuer, äthertheoretisch als ›Nüchternheit schaffender Äther‹ im Gegensatz zum ›Trunkenheit schaffenden Äther‹. Mythisch ist Hera als ständig von Zeus zur Eifersucht gereizte Ehefrau das ›kühle‹, ›löschende‹ Komplement des Zeus, der mit seinen Blitzen und seinem (im Gegensatz zum Wasserregen) »goldenen Regen« zahllose Schwangerschaften erzeugt. Auch Zeus ist also mit dem Motiv der Wolke verbunden, und zwar der Gewitterwolke. Die schwarze, elektrischen Äther brütende und Blitze schleudernde Wolke des Zeus steht gegen die kühlende Wolke der Hera, die reine Regenwolke. Diese kühlende Wolke ist ein dominantes Motiv der hölderlinschen

13 Vgl. auch Griechenland: I , 479).

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Mythopoesie. Es wird vor allem auch auf geistige (sprachlich-diskursive) Phänomene bezogen wie in der Friedensfeier: Und die lieben Freunde, das treue Gewölk, Umschatteten dich auch, damit der heiligkühne Durch Wildniß mild dein Stral zu Menschen kam, o Jüngling! (I , 363) Das sind Verse aus der Apostrophe an den Halbgott Christus. In dessen Erscheinung zeigt sich als Anteil des göttlichen Vaters der elektrische Äther, der wie im Semele-Mythos toddrohend ist. Wiederum will das mehrstimmig gelesen werden: metaphorisch als Mythos, synekdochisch-modellsymbolisch als Naturgeschichte. Naturgeschichtlich geht es um den geistigen Äther des kulturrevolutionären ›Funkens‹, der eine neue As-Sociation stiftet, die aber durch »Wildniß« gedämpft werden muss, soll sie nicht in kollektivem Selbstmord enden wie bei den Griechen von Xanthos14. »Wildniß« meint hier wie dann auch in der fünften Strophe der Friedensfeier (»und kommen muß zum heiligen Ort das Wilde«15) das mittelalterlich-kirchliche Christentum. Wie der Zusatz »abendländisch« erweist, ist der Gegensatz zwischen dem ›heißen‹ Zeus und der ›kühlen‹ Hera in der naturgeschichtlichen, entmythologisierenden Lesart klimatologisch als heiße und kühle Zone, emphatisch als Griechenland und Deutschland zu konkretisieren. Das in Nordwesteuropa oder Hesperien dominierende bewölkte Klima kühlt auf doppelte Weise: durch Regen und Schatten, dämpft und schwächt also die ›heißen‹ Äther (thermischer Äther, elektrischer Äther). Die vom Klima vorgegebene Ausgangssituation des »deutschen Dichters« ist daher junonische Nüchternheit: Dann sizt im tiefen Schatten Wenn über dem Haupt die Ulme säuselt, Am kühlathmenden Bache der deutsche Dichter Und singt, wenn er des heiligen nüchternen Wassers Genug getrunken, fernhin lauschend in die Stille, Den Seelengesang. (I , 349) Jede dieser Zeilen aus Deutscher Gesang lässt sich naturgeschichtlich und äthertheoretisch lesen (z. B. »kühlathmend«); wie Hölderlin aber im ersten Böhlendorffbrief ausführt, muss der deutsche Dichter zur junonischen Nüchternheit noch das Feuer des Zeus (den ›aufbrausenden‹ Äther des Pathos) hinzuerwerben  – viel spricht dafür, dass er selbst seinen Körper jedoch als bereits ›halb griechisch‹ erlebt hat (s. o. Kap. 7). Hölderlins entmythologisierende Verwendung der griechischen Mythen musste stark selektiv verfahren und nur die naturgeschichtlich lesbaren Ele 14 I , 333 (dazu HR , 146 ff.). 15 Unter anderem wörtlich in den Kreuzzügen.

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mente herauslösen. Allerdings gab es ein kaum zu übergehendes, durch Homer »allbekanntes« Element des Mythos, das auch bei Hölderlin begegnet, und zwar die Kopulation des höchsten göttlichen Ehepaars in der Wolke. Diese sozu­ sagen ›synthetische‹ Wolke aus der heißen des Zeus und der kühlen der Hera ist möglicherweise die »goldene Wolke«16, wie sie bereits in einem Entwurf zum ›Manifest-Gedicht‹ An den Aether von 1797 mit eindeutig naturgeschichtlicher Isotopie evoziert wird: Sieh! es ruht, wie ein Kind, in deinem Schoose die Erde, Süßbelebend hauchst du sie an, mit schmeichelnden zarten Melodieen umsäuselst du sie, mit Stralen der Sonne Tränkest du sie, mit Reegen und Thau aus goldener Wolke. (III , 91) Sehr wahrscheinlich ist diese goldene, Zeus und Hera vereinende Wolke mit der »Gesangeswolke« identisch17. Dafür spricht der Kontext der Zugvögel aus dem Hymnenentwurf Das Nächste Beste: Und Ek um Eke Das Liebere gewahrend Denn immer halten sie sich genau an das Nächste, Sehn sie die heiligen Wälder und die Flamme, blühendduftend Des Wachstums und die Wolken des Gesanges fern und athmen Othem Der Gesänge. (I , 421) Dass die Zugvögel einen spezifischen Sinn besitzen, mit dem sie sich am Magnet­ feld der Erde orientieren und längs der Längengrade navigieren, konnte Hölderlin noch nicht wissen. Seine äthertheoretische Spekulation kommt aber zu einem funktionalen Äquivalent: Er glaubt die Vögel durch konzentrierten Sauerstoff des Nordostwindes enorm scharf- und weitsehend (»Und ihnen machet waker / ​ Scharfwehend die Augen der Nordost«), so dass sie u. a. die (vermutlich goldenen) »Wolken des Gesanges« von weitem vor sich sehen. Doch ist dieser Gesichtssinn kombiniert mit dem Einatmen eines spezifischen Äthers. Wie aus einem frühen Entwurf der Hymne Am Quell der Donau hervorgeht, kann die Gesangeswolke auch als ›Volksgeist‹ und sogar ›Staatsgeist‹ (»Fürsten«) dienen: Und mit der Donau Woogen In Wolken des Gesanges tront, herrschet über die Völker, über die Fürsten ein Gott, doch keiner wird nennen. (III , 196) 16 Im Kommentar der DKV ist die antik-mythische Bedeutung der »goldenen Wolke« angegeben: Sie wird Göttern allgemein zugerechnet und mit der »Aura« gleichgesetzt (DKV  I , 715). 17 Jochen Schmidt bestätigt die Synthese aus Trunkenheit und Nüchternheit als ein analoges poetisches Konzept des Pseudo-Longin (DKV  I , 837).

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Der unbestimmte Artikel verweist auf einen spezifischen Gott der Donaukulturen, also auf eine Art Spezifizierung des Zeus – und offenbar mit einem Anteil von Hera.

9.3.3. Apollon und Artemis Apollon als Sonnengott Helios, Phoibos und Hyperion ist die an jedem Tage unerschöpfliche Quelle des Lichtäthers und des thermischen Äthers. Hölderlin wählt aus den zahlreichen Mythemen insbesondere den des Pfeilschützen, wobei die Sonnenstrahlen Pfeile sind und bei Überstärke töten können. So erschoss Apollon alle Kinder der Niobe, die sich gerühmt hatte, mehr Kinder als Apollons Mutter Leto zu haben. Leto konnte ihre beiden von Zeus gezeugten Kinder Apollon und Artemis trotz der eifersüchtigen Verfolgung durch Hera nur auf der neu aus dem Meer aufgetauchten Insel Delos zur Welt bringen. Dort befand sich später ein zentrales Heiligtum des Apollon. Relevant für Hölderlin sind außer dem Schützen in erster Linie der Dichter-Sänger mit der Lyra, der Wahrsager des pythischen Orakels und der Erfinder der Medizin: Denn, seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich Friedenathmend entwand, frommend in Laid und Glük Unsre Weise der Menschen Herz erfreute, so waren auch Wir, die Sänger des Volks, gerne bei Lebenden Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem hold, Jedem offen; so ist ja Unser Ahne, der Sonnengott, Der den fröhlichen Tag Armen und Reichen gönnt, Der in flüchtiger Zeit uns, die Vergänglichen, Aufgerichtet an goldnen Gängelbanden, wie Kinder, hält. (I , 284) Hölderlins berühmtes Diktum aus dem zweiten Böhlendorffbrief, nach dem ihn in Südfrankreich »Apollo geschlagen« habe (I , 921), wurde in Kapitel 7.3. bereits ausführlich im Rahmen der naturgeschichtlichen Isotopie erörtert. Es gehört zu dem gefährlichen, tückischen und auch brutalen Apollon, der die Kinder der Niobe erschoss und dem Marsyas sadistisch die Haut abzog. Apollons Schwester Artemis erhielt von Zeus das Privileg ewiger Jungfrauenschaft. Sie wird von den Nymphen bedient. Als Göttin der Jagd und des Waldes teilt sie als Pfeilschützin mit ihrem Bruder die sporadische Grausamkeit.

Die Halbgötter Dionysos und Herakles  

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9.3.4. Eros und Aphrodite Die Liebesgötter begegnen als mythische Personen selten bei Hölderlin, weil er die individuelle sexuelle Begierde meistens mit dem kollektiven, as-sociativen Vereinigungstrieb integriert, dessen mythischer Name der Halbgott Dionysos ist. Allerdings sind Eros und Aphrodite häufig mit der »Freude« und »Lust« (Spino­ zas Laetitia) identisch. Aphrodite wurde in der antiken Mythologie auch mit der höchsten Muse Urania identifiziert, was Hölderlin in dem frühen Reimgedicht Hymnus an die Göttin der Harmonie (mit dem Heinse-Motto) übernimmt. Urania ist die kosmische Muse, emphatisch auch die Muse der Astronomie. In Hölderlins Gedicht ist sie identisch mit der »Liebe« und »Schönheit« (Aphrodite), durch die das ursprüngliche Chaos sich in den Kosmos mit dem Menschen im Zentrum verwandelte. Insbesondere soll sie eine revolutionäre Fraternité begründen. Dieser Text entstand vor der Entwicklung der naturgeschichtlichen Isotopie. Danach wird Aphrodite als aus dem Meer geboren entmythologisiert: Mit guter Stimmung, mit dem Weingott, vielverheißend dem bedeutenden Und der Lieblingin Des Griechenlandes Der meergeborenen, schiklich blikenden […]. (I , 416) Der Kontext dieser Skizze aus dem Homburger Folioheft ist naturale, geologi­ sche und meteorologische »Stimmung« zum »Freudigsten«, worin Eros und Aphrodite zusammen wirken. Die Spezifik des Anteils der Göttin ist nicht evident: Möglicherweise steht sie für alle ›Schäume‹ des Meeres und alle Freuden der Küsten.

9.3.5. Athena Athena, die mythisch aus dem Kopf des Zeus geborene Göttin der Weisheit und Wissenschaft, lässt sich mustergültig »beweisbarer« naturgeschichtlich entmytho­ligisieren: als der bewusstseinsgenerierende, geistgenerierende Gehirnäther Sömmerrings.

9.4. Die Halbgötter Dionysos und Herakles Da die Funktion der beiden für Hölderlin wichtigsten altgriechischen »Halbgötter« in vielen Kapiteln bereits erörtert wurde, genügt hier abschließend ein kurzes Resümee. Die Struktur eines Halbgotts ist das Resultat einer ›Kreuzung‹

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aus einem »Gott«, entmythologisiert einer Naturmacht, und einem Menschen bzw. einem inventiven menschlichen Kollektiv. Ein Halbgott ist also die Inkarnation der prozessualen Gleitbegriffe »Geist«, »Genius«, die die Kontinuität zwischen unbewussten naturalen Affekten und menschlich-bewusster (sprachlicher) Praxis betonen und damit die Konsequenz aus Spinozas Ablehnung der zwei inkompatiblen Substanzen Natur und Geist ziehen. Idealtypisch ist diese Inkarnation beim personalen Halbgott (Empedokles, Christus, Rousseau u. a.) realisiert: Ihr »göttliches« Erbe besteht in ihrer radikalen Offenheit zu den kollektiven, massendynamischen Energien, den revolutionären Enthusiasmen der volontés générales, denen sie eine bewusste sprachliche Stimme zu verleihen fähig sind. Im mythischen Halbgott (Dionysos, Herakles u. a.) sind je mehrere anonyme frühgeschichtliche Genies, die Erfinder von Kulturtechniken wie Landwirtschaft, Künste und Staat, zusammengefasst. Sowohl für Dionysos wie für Herakles geht es um inventive Kollektive, die den frühgeschichtlichen Phasen ›Natur‹ 2 (Hirtenphase) und Kultur 1 bzw. Kultur 2 (Bauernphase/Städtegründungen) entsprechen: ›Natur‹ 1 (»Wilde«: Jäger, Nomaden, Wälder, Höhlen)

Kentauren

›Natur‹ 2 (»Barbaren«: Hirten, Fischer, Stromtäler, Inseln, Brunnen, Feste, Künste)

Chiron = Übergang zu ›Natur‹ 2 Dionysos

Kultur 1 (»Zivilisierte«: Bauern, Privateigentum, Kampf um Besitz)

Herakles

Kultur 2 (»Nationen«: Städte, Staaten, Kriege)

Herakles

›Natur‹-Kultur 1 (Polisdemokratie: egalitärer Sozialvertrag, demokratische Kultur)

›Gesetzgeber‹ Lykurg (Empedokles)18

9.4.1. Dionysos So wie Athena aus dem Kopf des Zeus, so wurde Dionysos aus seiner Lende geboren, die an die Stelle einer Gebärmutter treten musste, um den Embryo vor der eifersüchtigen Hera zu verbergen.

18 Hölderlins Empedokles ist ein ›Vorläufer‹-Halbgott Rousseaus, also einer erwarteten post-historischen egalitären As-Sociation.

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Als »Weingott«, wie bereits in Kapitel 2.4. über die Elegie Brod und Wein ausgeführt, ist Dionysos in naturgeschichtlicher Lektüre in enger Bedeutung der berauschende, enthusiasmusgenerierende und as-sociierende Äther im Wein. Die Anekdote, nach der Kleopatra ihre kostbarsten Perlen übermütig in Wein aufgelöst habe, ist in naturgeschichtlicher Lesart Modellsymbol der ›öffnenden‹ Kraft des Alkohols im Wein. Dionysos hat diese Kraft nach Griechenland gebracht. Darüber hinaus ist er deshalb ein Sammelbegriff für sämtliche ›öffnenden‹ Äther, insbesondere auch für die äußeren klimatischen Wärme-Äther. Hölderlin betont Dionysos’ Herkunft aus dem heißen Indien, dessen orientalische Hitze und enthusiastische Lebensart er nach Griechenland »verpflanzt« hat. Unter dem Aspekt der frühgeschichtlichen Phasen ist Dionysos der Gott einer vorstaatlichen, rein zivilgesellschaftlichen As-Sociation (»Gemeingeist Bacchus«; I , 249). Er entspricht damit der Hirtenphase (Phase ›Natur‹ 2) Rousseaus, der »Musenzeit« Hölderlins, also der Epoche der Erfindung von Liebe, Musik, Tanz, Poesie und Fest. Das erklärt Hölderlins Symbolisierung Rousseaus als inventiven Rückkehrers zu Dionysos in der Rheinhymne. Die folgende herakleische Phase der Agrikultur und der Städte hat das ›goldene Zeitalter‹ der Hirten zerstört (Saturn und Dionysos wurden ersetzt durch Zeus und Herakles).

9.4.2. Herakles Herakles ist der Halbgott der Phase der Landwirtschaft (»Ein Akersmann, der athmend von der Arbeit / Sein Haupt entblößet«; I , 469), des Privateigentums und der Klassen, der Städte- und Staatengründung und der Kriege (Kultur 1 und Kultur 2 nach Rousseau: »Wie Fürsten Herkules«; I , 469). Seine zwölf »Arbeiten« lassen sich »beweisbarer« als ebenso viele Inventionen von Bedingungen der Möglichkeit für Kultur, also als historische Aprioris der Kultur, lesen. Insbesondere die Reinigung des Augiasstalls ist bereits Arbeit im engen Sinne. Die »göttliche« Seite des Herakles lässt sich nicht auf eine ähnlich synthetische Formel wie die der ›Äther-Gärung‹ bei Dionysos bringen. Dominant ist die »göttliche« Hilfe zur menschlichen Arbeit: das »Bauen« der Götter und das Herstellen und Bewahren von »festen« Strukturen. Insbesondere betont Hölderlin das ›Tragen von Lasten‹: »Johannes. Christus. Diesen, ein / Lastträger möchte ich singen, gleich dem Herkules […]« (I , 465). Dem liegt das Mythem zugrunde, dass Herakles dem Atlas das Tragen des Himmels abnahm, damit dieser ihm die goldenen Äpfel der Hesperiden besorgen konnte (11. Arbeit). Kriege führte er insbesondere gegen die Kentauren, also die ›Natur‹-Menschen der früheren Phasen.

10. Kulturgeschichte ohne Linie: Das griechische Paradigma und Europas inventive Rückkehren nach Griechenland

Aber die Besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt recht symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen. O Griechenland, mit deiner Genialität und deiner Frömmigkeit, wo bist du hingekommen? Auch ich mit allem gutem Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen in der Welt nur nach, und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so umgeschikter und ungereimter, weil ich, wie die Gänse mit platten Füßen im modernen Wasser stehe, und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle. (II , 728; 1.1.1799 an den Bruder) Ähnlich wie bei dem Bild vom vermauerten Himmel (s. o. Kap. 2.2.) antizipiert Hölderlin auch hier Baudelaires kriechende Vögel Albatros und (Dichter-) Schwan (Le Cygne). Der Wunsch möchte, getragen vom Äther, frei atmend nach Griechenland fliegen – die moderne Ätherarmut hält ihn gefangen am Boden. Auch Baudelaires Fluchtlinie zielte nicht in ein l’art pour l’art, wie man lange Zeit glauben wollte und spätestens seit Walter Benjamin nicht mehr glauben kann. Umso weniger Hölderlins Fluchtlinie nach Griechenland. Das Gänsebild steht in dem großen Brief, in dem der Schreiber ein regelrechtes Manifest der Kulturrevolution entwirft – mit einer aktivistischen Applikationsvorgabe am Schluss: […] und wenn das Reich der Finsterniß mit Gewalt einbrechen will, so werfen wir die Feder unter den Tisch und gehen in Gottes Nahmen dahin, wo die Noth am grössten ist, und wir am nöthigsten sind. (I ,  729 f.) Dieser hyperiontische Aktivismus war vermutlich die Folge eines bei Alabanda-Sinclair angesteckten momentanen kairologischen Enthusiasmus im letzten Jahr des alten Jahrhunderts. Das kulturrevolutionäre Programm dagegen war gegen kurzfristige Konjunkturen gefeit und dauerhaft ernst gemeint (im gleichen Brief wird die Antithese von »Spiel« und »Ernst« entfaltet, vermutlich mit kritischem Bezug auf Schillers »Spieltrieb« als Fundament jeder Poesie – ebenso wie die Kritik an der ›symmetrischen Welt‹ sich auf Weimar beziehen dürfte). Von einem kulturrevolutionären Kairos 1800 erwartete Hölderlin einen sozialen Auftrag und ein Publikum für seine Poesie, die diesem Kairos die authentische Stimme geben sollte. Vom Zeitschriftenprojekt 1799 bis zum ›Blätter‹-Projekt der Friedensfeier 1803 erhoffte er sich ein Medium, in dem sein Konzept neo-

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pindarischer kairologischer Hymnen von einem kleinen Liebhaberkreis aus hätte proliferieren können: Ich bitte dieses Blatt nur gutmüthig zu lesen. So wird es sicher nicht unfaßlich, noch weniger anstößig seyn. Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders. An einem schönen Tage läßt sich ja fast jede Sangart hören, und die Natur, wovon es her ist, nimmts auch wieder. / Der Verfasser gedenkt dem Publikum eine ganze Sammlung von dergleichen Blättern vorzulegen, und dieses soll irgend eine Probe seyn davon. (I , 361) Kulturrevolutionärer Luthergestus, inventive Rückkehr zur Natur, neogriechische, doch radikal moderne »Sangart« in »Blättern«: Ganz offensichtlich baute Hölderlin auf einen Faszinationseffekt der lautlichen und semantischen Rhythmen, in die kairologische Botschaften ›gefasst‹ und dadurch »faßlich« würden, traute also seinem Ton eine starke Applikationsmacht zu. Der neopindarische Rhythmus des »idealischen Tons« sollte direkt auf die »Götter« des Körpers, also seinen Tonus wirken und dadurch auch den Geist aus seinem Gefängnis-Behälter befreien. Dieser Rhythmus sollte also eine ›große Öffnung‹ bewirken, hin auf die Perspektive einer großen Fluchtlinie zu einer neuen dionysischen Friedenskultur nach den Revolutionskriegen am Ende der christlichen Epoche. Die große Öffnung sollte eine »offne Gemeine« (I , 334) ermöglichen. Eine neue dionysische As-Sociation unter Friedensbedingungen würde, das war die Hoffnung, ein neues historisches Apriori zeitigen: die Bedingung der Möglichkeit zur Lösung der modernen Antagonismen. Alles Weitere würde sich daraus ergeben können, weil in einer »offnen Gemeine« (Commune) die naturalen Energien (die Äther der Fraternité) freigesetzt wären – eine Utopie freilich, die die Rechnung ohne die kapitalistischen, nationalistischen und amtskirchlichen Wirte machte. Die griechische Fluchtlinie war im neuen Jahrhundert also nun um den griechischen Christus zentriert und damit neu konkretisiert, wie es in Patmos entwickelt wurde (s. o. Kap. 4.2.). Wie in dieser Studie dargestellt, war Hölderlins griechische Fluchtlinie von Beginn an mehrpolig und plural, sie ›fasste‹ mehrere Griechenländer verschiedener Epochen und verschiedener Kulturen von den prähistorischen Zeiten bis Neugriechenland. Diese Pluralität wird in der faszinierenden Eingangsstrophe von Patmos in aktualisierter Fassung auf den Begriff gebracht: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn

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Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brüken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, O fittige gieb uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. (I , 447) In dieser Strophe sind die wesentlichen Entwicklungstendenzen der hölderlinschen Poesie und die entsprechenden Isotopien verdichtet. Es beginnt mit der Engführung der naturgeschichtlichen und der theo-logischen Isotopie: So ist »der Gott« des zweiten Verses der überall präsente kosmische Äther in allen seinen Evolutionen. Menschen können ihn nur in Ge-fäßen, Organen, Gehirnen »fassen«. Eine spätere Version lautet: Voll Güt’ ist; keiner aber fasset Allein Gott. (I , 460, 463) Das sind bereits die verschiedenen Religionen bzw. Kulturen, von denen keine allein den unendlichen Äther in Organen und Sprachen fühlbar und bewusst machen kann. Das sind die »Liebsten«, die im Kairos von 1800 unversöhnlich auf den »Gipfeln der Zeit« sitzen. Das Bild ist einleuchtend: Wie in den Alpen klaffen ›Abgründe‹ zwischen ihnen, obwohl sie in der Luftlinie nicht weit auseinander liegen. Alle diese »Liebsten« sind griechischer Herkunft: die altgriechische dionysische Kultur mit ihren frühgeschichtlichen mythischen Vorstufen; das Christentum mit dem geheimen griechischen Christus, mit seinen orientalischen Komponenten, besonders auch die Orthodoxie; die moderne westliche Aufklärung mit ihrer Orientierung am klassischen Griechenland und an der altgriechischen Demokratie in der Französischen Revolution mit ihren egalitären Volksfesten als Folge der »Umkehr« der Aufklärung durch Rousseau. Insbesondere gilt es (im Kairos des napoleonischen Konkordats), den Antagonismus zwischen Christentum und Aufklärung zu versöhnen (ein zentrales Projekt Rousseaus). Dazu braucht es »leichtgebauete Brüken« und »Fittige«, um über die Abgründe »hinübergehn« zu können. Diese »leichtgebauete Brüke« und diese ›AdlerFittige‹ existieren evidentermaßen bereits real als die Hymne mit ihren Rhythmen. Und diese Hymne fliegt anschließend nach Griechenland, entdeckt dort den griechischen Christus als Bedingung der Möglichkeit des pluralen Toleranzprogramms, um mit diesem neuen historischen Apriori »wiederzukehren« zur Friedensfeier. Die Konstellation des frommen Landgrafen von Homburg und seines aufgeklärt-revolutionären Ministers Sinclair hätte also ›nur‹ vervielfältigt werden

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müssen … Angenommen aber, der Landgraf und andere tolerante Christen seinesgleichen würden Patmos und Friedensfeier ›einfach nicht kapieren‹? Dann sollte die »Sangart«, also die musikalische Form, ihr ›Gemüt‹ direkt affizieren. So wie die erste Strophe eine semantische Verdichtung der griechischen Fluchtlinie darstellt, so auch ein Muster des neopindarischen Rhythmus mit seinem Rubato aus Stauungen und Entstauungen. Der Eingangsvers akkumuliert zwei Akzente in zwei Versfüßen und stärkt sie enorm durch ihre Isolierung. Die Auflösung erfolgt im zweiten Vers durch die vier Senkungen in einem der zweiten Pentameterhälfte ähnlichen Metrum. Der dritte Vers nimmt in der Mitte sowohl rhythmisch wie lautlich den Eingangsvers wieder auf: »Gefáhr íst«, und steigert die Akkumulation durch eine weitere betonte Silbe: »wächst«. Diese Silbe ist durch ein starkes Enjambement zusätzlich betont und hebt dadurch die vielleicht bekannteste Gnome Hölderlins wirklich aere perennius hervor. Nachdem daran anschließend eine zweite Gnome wiederum die Bewegung kupiert (»Im Finstern wohnen / Die Adler«), beginnt eine lange musikalische Phrase, die durch ständige Enjambements integriert ist. Die einzelnen Verse oszillieren zwischen zwei und drei Hebungen, wodurch wiederum das mittlere, auch semantisch zentrale Verspaar (fünf und drei Akzente)  mit seinen vielen ›fließenden‹ Senkungen (Daktylen) rhythmisch unterstrichen wird: Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brüken. Das ist, en passant gesagt, ein gutes Beispiel für die Thesen der Autoreflexivität: Ja, die »Brüken« konnotieren die Hymne, aber die griechische Fluchtlinie besitzt ein reales as-sociatives Ziel – die politisch-kairologische Isotopie ist kodominant mit der autoreflexiv-poetologischen. Danach beginnt die zweite Hälfte der Strophe mit dem typischen »Drum« (»Drum an den Isthmos komm!«), das über eine neue Serie von Enjambements in die Bitte (»So gieb […] gieb uns«) um Versetzung nach Griechenland mündet, die der Genius erfüllt. Die erhoffte Friedensutopie ist nicht von einem auf der großen Fortschrittslinie progredierenden Weltgeist garantiert. Sie hängt außer von der Hymne auch von glücklichen Zufällen ab, die aus der Gefahr retten. Deus-Natura-Potentia folgt keinem »Projekt der Moderne«, sondern eher einer Art von prädarwinscher Evolution durch wildes Wachstum und Selektion: Doch furchtbar ist, wie da und dort Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott. (I , 450) Später noch fataler: Doch furchtbar wahrhaft ists, wie da und dort Unendlich hin zerstört das Lebende Gott. (I , 457)

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Aus diesem Konzept der Selektion (der »haíresis«, s. o. Kap. 4.2.) folgt, dass die dionysischen, »götter«nahen und kunstaffinen Kulturen nicht auf einer kontinuierlichen Fortschrittslinie durch kontinuierliche »Aufhebungen« aufeinander folgen. Inventive Rückkehren sind keine Aufhebungen, sie folgen keiner Teleo­ logie. Kunstaffine Kulturen entstehen nicht als programmierte Synthesen, son­ dern als kontingente »Schiksaale« wie die Rheinkultur, die zum Orient ›wollte‹, aber von einem »Gott« (einer Naturkontingenz) zum Atlantik gelenkt wurde. Zu solchen »Schiksaalen« zählen die kulturellen Interferenzen, die Hybridisierun­ gen. Schon Altgriechenland war hybrid, multikulturell: Dionysos kam aus dem Orient. Umso mehr wird das für die erwartete hesperische Friedenskultur gelten. Der Hölderlin des Homburger Folioheftes exploriert verschiedene möglicherweise rettende Fluchtlinien, die sich anzubieten scheinen. Typisch ist die Formel »umsonst nicht«, die eben gerade nicht teleologisch gelesen werden will, sondern naturale (»göttliche«) Möglichkeiten für »halbgöttliche« (genial-menschliche) Interventionen bietet: Aber meinest du nun, es haben die Thore vergebens Aufgethan1 und den Weg freudig die Geister gemacht? Und es schenken umsonst zu des Gastmahls Fülle die Guten Neben dem Weine noch auch Beeren und Honig und Obst? (I , 384) […] Umsonst nicht hat Seitwärts gebogen Einer von Bergen der Jugend Das Gebirg, und gerichtet das Gebirg Heimatlich. (I , 421) Die kairologischen Gelegenheiten, also die Fluchtlinien, können auch verpasst werden. Das ist die Sorge, die den Hölderlin des zweiten Homburger Aufenthalts mehr und mehr bedrückt und verdüstert. Es ist wahrscheinlich, dass diese Depression auch körperlichen Verschlechterungen entsprang. Sicher war jedenfalls, dass die Hoffnung auf eine neue dionysische Kultur Hesperiens und Deutschlands unbedingt auf eine neuerliche inventive Rückkehr nach Griechenland verwiesen war – diese griechische Hybridisierung musste radikal inventiv sein (das Programm der Böhlendorffbriefe und der Sophokles-Anmerkungen). Es galt also, die inventive Rückkehr der Renaissance (Heinses Ardinghello) noch zu radikalisieren. Ein wahrhaft surreales, utopisches Bild ist in der ersten Strophe von Patmos impliziert: Schroffe Alpengipfel, integriert durch ein Netz fragiler 1 Das Ziel der vorliegenden Studie war es, ihre Leserinnen in den Stand zu versetzen, Hölderlin selbständig polyisotopisch zu lesen – also hier sofort die offenen Tore als solche der Wanderung auf der dionysischen Fluchtlinie zu erkennen und die »Geister« in der naturgeschichtlichen und der damit gekoppelten theo-logischen Isotopie als die zwischen Naturmächten und kollektiver Sprache der As-Sociation gleitenden kairologischen Tendenzen zu identifizieren.

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Brücken, unter denen die Abgründe bleiben. Eine radikale Multikultur und das Gegenbild zu einer hegelschen Aufhebung: ein permanentes ›Hinübergehn und Wiederkehren‹, eine multipolare Fluchtlinie auf Dauer. Große Kulturen der ra­ dikalen, egalitären Demokratie, der Fraternité und des Friedens als Emergenzen ohne Linie – wie Sternbilder oder freie Blumenmuster – noch treffender wie ein griechischer Archipel: Das stets erneut offene Ziel der griechischen Fluchtlinie ist das Gegenteil eines symmetrischen Telos. Etwa seit der Jahrhundertwende und spätestens seit er Gallia Graeca gesehen und erfahren hatte, war Hölderlin kompromisslos entschlossen, den Fluchtlinien seiner »Sangart« zu folgen, wohin immer sie ihn führten – zunächst noch mit Hoffnungen auf ein zeitgenössisches Publikum, seit etwa 1803 nur noch als ›Eremit in Griechenland‹, immer weiter schreibend, auch fertige Texte weiterschreibend ins Offene, dennoch noch immer auf ein Publikum, nun ein künftiges, hoffend: Was kümmern sie dich O Gesang den Reinen, ich zwar Ich sterbe, doch du Gehest andere Bahn, umsonst Mag dich ein Neidisches hindern. Wenn dann in kommender Zeit Du einem Guten begegnest So grüß ihn, und er denkt, Wie unsere Tage wohl Voll Glüks, voll Leidens gewesen. (I , 412)

Literatur Ausgaben Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, hg. v. Michael Knaupp, München 1993 (3 Bde.). Diese Ausgabe wird in der Regel benutzt und dann abgekürzt als (Bde.) I, II , III plus Seite zitiert.

– Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner, Stuttgart 1943–1985 (8 Bde. in 14 Teilbdn.) Zitiert als SA  Iff. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Dieter E. Sattler u. a., Frankfurt/Main 1975 ff. (20 Bde.) Zitiert als FA  Iff. Friedrich Hölderlin, »Bevestigter Gesang«. Die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1806, hg. v. Dietrich Uffhausen, Stuttgart 1989. Zitiert als BG . Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Bibliothek Deutscher Klassiker, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/Main 1992 (3 Bde.). Zitiert als DKV  Iff. Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, hg. v. Bernard Gagnebin/Marcel Raymond. Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1959–1995 (5 Bde.). Zitiert als P Iff. Häufig zitiertes Periodikum: Hölderlin-Jahrbuch. Zitiert als HJb 1 ff.



Häufig benutzte Publikation Jürgen Link, Hölderlin-Rousseau: Inventive Rückkehr. Opladen/Wiesbaden 1999. Zitiert als HR .

Forschungsliteratur Häufiger zitierte Titel werden in Kurzform zitiert. Der vollständige Titel in dieser Liste. Theodor W. Adorno, »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«, in: Schmidt (Hg.), Über Hölderlin, 339–378. Christoph Albrecht, Geopolitik und Geschichtsphilosophie 1748–1798, Berlin 1998. Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger, Zürich u. Freiburg/Br. 1954. Beda Allemann, Hölderlins Friedensfeier, Pfullingen 1955. Friedbert Aspetsberger, Welteinheit und epische Gestaltung. Studien zur Ichform von Hölderlins Roman »Hyperion«, München 1971. Hansjörg Bay (Hg.), Hyperion – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman, Opladen u. Wiesbaden 1998. Hansjörg Bay, »›Hyperion‹ ambivalent«, in: ders. (Hg.), Hyperion – terra incognita, 66–93. Maria Behre, »Des dunkeln Lichtes voll«. Hölderlins Mythoskonzept Dionysos, München 1987.

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Literatur

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