Hermann Broch und die Romantik 9783110351958, 9783110307672

For the first time, this study examines the modern novelist Hermann Broch’s epochal and trans-epochal concepts of romant

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German Pages 236 [235] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Hermann Brochs moderne Romantik(kritik) – Herkunft, Horizonte, Perspektiven
I. Hermann Brochs Romantikkonzepte im Kontext seiner Zeit
Hermann Brochs Romantikkonzepte: Kritik und kreative Veränderungen
Zu Hermann Brochs Begriff der Romantik im Kontext seiner Zeit
Romantische Mythologie und der Roman der Moderne: Transformationen im Werk von Hermann Broch
Hermann Brochs romantisches Unbehagen
Signal und Sigel. Hermann Brochs sprach- und symboltheoretische Reflexionen zwischen Romantik und Neopositivismus
II Romantikkonzepte in Hermann Brochs Romanen
Hermann Brochs „Pasenow oder die Romantik“ und Carl Schmitts „Politische Romantik“
Hermann Brochs Huguenau: Phänotyp des (modernen) Verbrechers
„Der Tod des Vergil“ in München: Hermann Broch, Franz von Baader und eine andere Politische Romantik
Metaphysischer Humor zwischen Romantik und Moderne in Hermann Brochs „Die Schuldlosen“
III. Der Einfluss von Romantikkonzepten auf Hermann Brochs Ästhetik
Bezugssysteme: Romantik und Kitsch in Hermann Brochs Essayistik
Hermann Brochs melodramatische Imagination
Autorinnen und Autoren
Personenregister
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Hermann Broch und die Romantik
 9783110351958, 9783110307672

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Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler (Hrsg.) Hermann Broch und die Romantik

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Sara Landa

Volume 34

Hermann Broch und die Romantik Herausgegeben von Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler

ISBN 978-3-11-030767-2 e-ISBN 978-3-11-035195-8 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler Einleitung: Hermann Brochs moderne Romantik(kritik) – Herkunft, Horizonte, Perspektiven 1

I

Hermann Brochs Romantikkonzepte im Kontext seiner Zeit

Walter Hinderer Hermann Brochs Romantikkonzepte: Kritik und kreative Veränderungen Alice Stašková Zu Hermann Brochs Begriff der Romantik im Kontext seiner Zeit

11

35

Friedrich Vollhardt Romantische Mythologie und der Roman der Moderne: Transformationen im Werk von Hermann Broch 53 Thomas Borgard Hermann Brochs romantisches Unbehagen

69

Manuel Illi Signal und Sigel. Hermann Brochs sprach- und symboltheoretische Reflexionen zwischen Romantik und Neopositivismus 87

II

Romantikkonzepte in Hermann Brochs Romanen

Paul Michael Lützeler Hermann Brochs „Pasenow oder die Romantik“ und Carl Schmitts „Politische Romantik“ 107 Helmut Koopmann Hermann Brochs Huguenau: Phänotyp des (modernen) Verbrechers Patrick Eiden-Offe „Der Tod des Vergil“ in München: Hermann Broch, Franz von Baader und eine andere Politische Romantik 141

127

VI

Inhalt

Doren Wohlleben Metaphysischer Humor zwischen Romantik und Moderne in Hermann Brochs „Die Schuldlosen“ 167

III Der Einfluss von Romantikkonzepten auf Hermann Brochs Ästhetik Claudia Liebrand Bezugssysteme: Romantik und Kitsch in Hermann Brochs Essayistik Marion Schmaus Hermann Brochs melodramatische Imagination

Autorinnen und Autoren Personenregister

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Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler

Einleitung: Hermann Brochs moderne Romantik(kritik) – Herkunft, Horizonte, Perspektiven Hermann Broch (1886–1951), einen der wichtigsten und radikalsten Vertreter der Literarischen Moderne, gerade mit der Romantik in Verbindung zu bringen, mag zunächst irritieren. Doch spielt die in der Forschung bislang kaum berücksichtigte Kategorie der Romantik im Gesamtwerk Brochs gleich eine doppelte, zentrale Rolle: erstens als epochaler und zweitens als trans-epochaler bzw. formaler Begriff. Beide Verwendungsweisen dienen bei Hermann Broch gleichsam als Analyse des eigenen Zeitgeistes, als Standortbestimmung der Moderne in ihrem paradoxen Spannungsverhältnis von Fragment und Totalität, von dem Bedürfnis nach einer destruktiven Auflösung jeglicher überholten ideologischen Wert- und Weltbilder einerseits und einer konstruktiven Auseinandersetzung mit ethischen und poetischen Kräften auf der Suche nach neuen Erlösungsutopien andererseits. Hermann Brochs Verhältnis zum Begriff der Romantik lässt sich als ambivalent beschreiben: Findet, zumal in seinen theoretischen Schriften, in denen Broch den Begriff überwiegend pejorativ verwendet, eine explizite Abgrenzung zur Romantik statt, so lassen sich in seinem literarischen Werk immer wieder implizite Anlehnungen an romantische Konzepte beobachten. Auf den Epochenbegriff, unter den Hermann Broch Phänomene von der Frühromantik bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts subsumiert, bezieht er sich besonders in seinen (geschichts-) philosophischen und poetologischen Essays. Die Romantik wird hier nicht selten an den Beginn der Moderne gesetzt. Mit seiner trans-epochalen Romantikkonzeption assoziiert Broch hingegen eine Lebenshaltung, die an überkommenen Formen der Vergangenheit festhält: Sie bringt Broch auf den bei ihm despektierlichen Begriff der „Kitschromantik“, die er bestimmt als Ausfluss jener „Romantik, welche die gewesenen Werte für immer festhalten will und die in der Kontinuität des Geschichtsablaufs einen Spiegel des Ewigen sieht“ (KW 9/2, 151).1 Bereits im ersten Teil der Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (1931/32), in „1888 – Pasenow oder die Romantik“, lässt Broch die moderne Figur Eduard von Bertrand im Gespräch mit Joachim von Pasenow einen formalen

1 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat.

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Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler

Begriff der Romantik einspielen, der mit einer „toten und romantischen Gefühlskonvention“ und „überlebte[n] Formen“ (KW 1, 60) operiert und als kulturelle Praxis der Weltwahrnehmung und -darstellung potentielle Vertreter in den unterschiedlichsten europäischen Epochen aufweist. Mit seiner „Kritik der Romantik“, dem „Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne“ (Karl Heinz Bohrer), war Hermann Broch immer auch Kind seiner Zeit und lässt sich mit Positionen Karl Mannheims, Max Webers, vor allem aber Carl Schmitts „Politischer Romantik“ (1919) sowie Autoren der Zeitschrift „Hochland“ vergleichen. Die erste Sektion des Bandes verortet Hermann Brochs Romantik-Begriff daher im historischen Kontext, befragt ihn auf seine Herkunft, aber auch seine neuen Horizonte hin. Der kritischen Begriffsdimension wird dabei genauso Beachtung geschenkt wie ihrer kreativen Veränderung, deren innovatives Potential bei Hermann Broch gerade in der wechselseitigen Bezugnahme romantischer und moderner Sprach- und Erkenntnisformen liegt (W ALTER H INDERER , A LICE S TAŠKOVÁ , F RIEDRICH V OLLHARDT OLLH ARDT , T HOMAS B ORGARD , M ANUEL I LLI ). In der zweiten Sektion gilt es dann die im theoretischen Werk explizierten Romantikvorstellungen in den Romanen Hermann Brochs auf den Prüfstand zu stellen: In exemplarischen Lektüren der „Schlafwandler“ (1931/32), des „Tod des Vergil“ (1945) sowie der „Schuldlosen“ (1950) werden implizite Anlehnungen an romantische Konzepte von Novalis, Friedrich Schelling, Friedrich Schlegel bis hin zu Jean Paul vor der Kontrastfolie der Moderne herausgearbeitet (P AUL M ICHAEL ICH AEL L ÜTZELER , H ELMUT K OOPMANN , P ATRICK E IDEN -O FFE , D OREN W OHLLEBEN ). Gewissermaßen auf einer Metaebene weist die dritte Sektion den Einfluss von Romantikkonzepten auf Hermann Brochs Ästhetik nach, wobei Brochs Begriffsinventar der „Kitschromantik“ kritisch auf seinen eigenen essayistischen, mitunter melodramatischen Schreibstil bezogen wird (C LAUDIA L IEBRAND , M ARION S CHMAUS ). Leitend ist die Frage, inwieweit sich Brochs Totalitätsvorstellung auf die Frühromantik zurückführen lässt, wobei eine Entwicklung zwischen den „Schlafwandlern“ (1931/32) und der „Verzauberung“ (1953) festzustellen ist: Mit der „Verzauberung“ versucht Broch zum letzten Mal etwas, was die Frühromantiker auch anstrebten, merkt jedoch, dass dies nicht mehr möglich ist: Er baut Mythologien ein, bricht die Arbeit an dem Roman jedoch ab. Der „Tod des Vergil“ (1945) artikuliert die Skepsis gegenüber diesem Programm und nimmt von einer romantischen Ästhetik endgültig Abschied. Allenfalls ex negativo – Franz Kafka gilt Broch hierbei immer wieder als utopisches Leitbild – kann ein ‚neuer Mythos‘ geschaffen werden. Hoffnungen setzt Broch jedoch auf das Medium des Films. Obgleich er diese Erwartung nicht weiter begründet, eröffnet er hiermit für einen intermedialen Diskurs zwischen romantischer Gefühlskultur und modernem Abstraktionismus aktuelle Perspektiven.

Einleitung: Brochs Romantik(kritik)

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W ALTER H INDERER zeichnet Hermann Brochs komplexes Verhältnis zur Romantik nach: Einerseits pointiert er dessen scharfe Romantikkritik, andererseits betont er Brochs immer wieder aufscheinende Affinität zur Romantik, die sich besonders in seiner Suche nach Totalität zeige, deren „ahnendes Symbol“ das „Kunstwerk“ sei (KW 9/2, 48). Die Verbundenheit mit der Romantik spiegle sich auch in Brochs Wiener Bibliothek wider, die Ausgaben romantischer Autoren wie Friedrich Schlegel, Schelling, Schleiermacher, Fichte, Hegel, Novalis umfasse, aber auch Werke von Gotthilf Heinrich von Schubert oder Karl Gustav Carus, die das Seelenleben als romantische Entwicklungsgeschichte betrachteten. In einem Vergleich mit Walter Benjamins Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ erläutert Hinderer Hermann Brochs Wertsystem der Kunst, das sich im Absolutheitsanspruch der Kunst mit Ansichten des romantischen Kunstbegriffs vor allem der Frühromantiker parallelisieren lasse: Denn wie Schelling, Schlegel und Novalis hoffe auch Broch, durch eine „Re-Inthronisierung des Ästhetischen“ die verlorene Einheit wiederherstellen zu können. Sie lasse sich zu seiner Hoffnung auf einen neuen Mythos in Verbindung bringen, die Hinderer wiederum an das Spätwerk Schellings sowie Friedrich Schlegels Idee einer neuen Mythologie rückbindet und dabei Seitenblicke auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wirft. Das Streben nach kosmogonischer Totalität, das schon die Frühromantik propagiere, führe bei Broch ins Polyhistorische, was Hinderer an Brochs Wertungen seiner modernen Zeitgenossen James Joyce und Franz Kafka verdeutlicht: Während Broch bei Joyce noch „neo-romantische Züge“ feststelle, betone er bei Kafka zunächst anti-romantische Züge, nähere ihn dann aber über Grundbegriffe wie Theogonie und Kosmogonie an die Romantik an. Die Negation führe hierbei zu einer Negation der Negation und somit zu einer neuen Affirmation. A LICE S TAŠKOVÁ situiert Brochs ambivalenten, mithin auch pejorativen Romantik-Begriff im Kontext seiner Zeit. Zunächst rekonstruiert sie anhand des Begriffs des ‚Kunstwerks‘ sowie des ‚Stils‘ Parallelen zwischen dem Denken Brochs und der Kunstauffassung der Romantiker. Sie unterstreicht das mit Friedrich Nietzsche vergleichbare Spannungsverhältnis zwischen Brochs Romantikkritik einerseits und seinen romantikaffinen Konzepten andererseits. In den Mittelpunkt stellt Stašková die Verwendung des Romantik-Begriffs in der Zeitschrift „Hochland“. Anders als in seinen fiktionalen Werken verwende Broch den oft anthropologisch ausgerichteten Begriff Romantik in seinen essayistischen Schriften überwiegend epochal und bezeichne damit Phänomene seit der deutschen Frühromantik bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts. Auch geht Stašková auf den Stil-Begriff bei Hermann Broch ein, dessen Absenz in der romantischen Epoche er beklagt. Indem Broch teils entgegengesetzte Argumente der Romantik-Diskussion seiner Zeit aufeinander beziehe, versuche er selbst, jenen „großen Stil“ zu erschaffen, an dem seines Erachtens die Romantik gescheitert sei.

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Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler

F RIEDRICH RIEDR ICH V OLLHARDT verfolgt Spuren, die Hermann Broch 1947 in einem Brief an Daniel Brody gelegt hat, in dem Broch sich über den Umstand erfreut zeigt, dass der große Mythenforscher Karl Kerényi zwei seiner Essays zur Mythologie in seine Schriftenreihe aufnehmen wolle. Im Rückgriff auf Erich Unger sowie den späten Schelling (re-)konstruiert Vollhardt den von Broch selbst nicht hinreichend explizierten Mythos-Begriff. Der Leitfrage, wie sich in der Moderne die Vorstellung einer ‚Neuen Mythologie‘ entwickeln könne, geht Vollhardt durch Parallelverweise auf Schellings „Philosophie der Mythologie“ und Brochs Essay „Geist und Zeitgeist“ nach. Er analysiert – in Vergleichen mit James Joyce und Thomas Mann – Motive der „Schlafwandler“, die das Programm eines ‚mythisierenden Erzählens‘ literarisch umsetzen: Spezifisch für Broch seien die Psychologisierung des Einbruchs des Irrationalen, die Humanisierung der mythischen Erlebnisse sowie die Verinnerlichung der Religion. T HOMAS B ORGARD bezieht Brochs Wendung vom „Unbehagen an der Romantik“ (KW 9/2, 227) auf Sigmund Freuds siebzehn Jahre zuvor geäußertes „Unbehagen in der Kultur“, mit dem Broch die Deutung der weltgeschichtlichen Entwicklung als die eines „Wertzerfalls“ teilt. Brochs Haltung des Wertrelativismus erarbeitet Borgard im Rückgriff u.a. auf Heinrich Rickert, Georg Simmel, Karl Mannheim und Max Weber, wobei er das romantische Spannungsverhältnis von Fragment und Totalität in den Mittelpunkt rückt. Sodann liest er Hermann Brochs „Tod des Vergil“ als romantischen Gegenentwurf zum Werk Thomas Manns. Während letzterer sich noch an der ästhetischen Kultur der Jahrhundertwende orientiere, bewege sich Brochs Poetologie in einem Übergangsstadium, in dem Zweifel an der „Gemäßheit der eigenen Rede“ (KW 1, 707) entstünden. Borgard erarbeitet Parallelen zwischen Carl Schmitt und Hermann Broch, die im berühmten Dialog Vergils mit Augustus sinnfällig würden. M ANUEL I LLI verortet auf der Basis von Hermann Brochs Essay „Über syntaktische und kognitive Einheiten“ dessen sprachtheoretisches Konzept zwischen philosophisch-wissenschaftlichem und ästhetisch-poetischem Sprachgebrauch. Broch versuche, beiden von ihm als defizitär empfundenen Traditionen eine gemeinsame, neue Basis zu schaffen, indem er Anleihen bei zeitgenössischen, meist neopositivistischen sowie frühromantischen Sprach- und Symbolkonzepten mache. Hierbei geht Illi vor der Folie von Edmund Husserl, Ludwig Wittgenstein, Bertrand Russell sowie den Neopositivisten des Wiener Kreises, allen voran Moritz Schlick und Rudolf Carnap, auf Brochs Begriff der ‚Elementarsituation‘ ein. Er kontextualisiert Brochs Symbol-Begriff sprachphilosophisch, den Illi, anders als den semiotischen Signal-Begriff, als hermeneutisches Phänomen betrachtet, und weist mit Broch das Defizit der Signalsprachen nach. Wenn Hermann Broch die Sprache als Instrument empirischer Wirklichkeitserkenntnis beschreiben wolle, greife er neopositivistische Überlegungen, beispielsweise von Richard Gät-

Einleitung: Brochs Romantik(kritik)

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schenberger und Heinrich Rickert, auf. Wo es ihm hingegen um eine ästhetischpoetische Erkenntnis gehe, nähere sich Broch frühromantischen Positionen an und entwerfe die Dichtung als System ästhetischer Symbole. P AUL M ICHAEL ICH AEL L ÜTZELER macht im Rückgriff auf den ersten Romanteil „1888 – Pasenow oder die Romantik“ der „Schlafwandler“ einen trans-epochalen Romantikbegriff stark, der bei Hermann Broch mit einer Geistes- und Lebenshaltung einhergehe, „welche die gewesenen Werte für immer festhalten“ (KW 9/2, 151) wolle. Dabei profiliert Lützeler die intertextuellen Bezüge zu Carl Schmitts „Politischer Romantik“ (1919) und die schon dort angelegte Gegenläufigkeit des Romantikbegriffs als „revolutionäre Bewegung“ einerseits und „Rückkehr zur Tradition“ andererseits. Über die Figur Bertrand stellt Lützeler einen Zusammenhang zwischen den Romantikkonzeptionen von David Friedrich Strauß und Carl Schmitt zu der deutschen Kolonialromantik her, die 1888 als unzeitgemäß, verspätet, irrational und imitativ gelte. Als zweite Quelle für Brochs Romantikdefinitionen führt er Novalis’ Konzept des „Romantisierens“ an, das, mit Novalis, „dem Endlichen einen unendlichen Schein“ zu geben oder, mit Broch, „Irdisches zu Absolutem“ (KW 1, 23) zu erheben versucht. Hierbei arbeitet Lützeler die Differenzen zwischen Novalis sowie Friedrich Schlegel auf der einen und Hermann Broch auf der anderen Seite heraus. Bertrand wird als romantischer Occasionalist im Sinne Carl Schmitts gedeutet und als trans-epochaler Typus charakterisiert. H ELMUT K OOPMANN bezieht Walter Benjamins Begriff des ‚destruktiven Charakters‘ auf den Protagonisten Huguenau in Hermann Brochs drittem Romanteil „Die Schlafwandler“ und bestimmt ihn als Phänotyp des (modernen) Verbrechers, der rational gegenüber einer zunehmend irrational werdenden Welt agiere: „Huguenau ist ein Mensch, der zweckmäßig handelt“ (KW 1, 463). In dieser Zweckmäßigkeit sei er aller Romantik verlustig gegangen und verschreibe sich allein der Rationalität des kommerziellen Systems. Koopmann zeichnet den Gedanken des Verrats nach, der den gesamten Roman durchziehe und in der Figur Huguenaus mit dem Bibelverweis „Immer ist ein Verräter unter uns“ (KW 1, 591) kulminiere. Im Gegensatz zu Verbrechertypen des 18. und 19. Jahrhunderts, zum Beispiel zu Friedrich Schillers Franz Moor oder Heinrich Kleists Michael Kohlhaas, bewege sich der moderne Verbrecher innerhalb der Gesellschaft und sei äußerlich nicht mehr erkennbar. Er sei kein gesellschaftlicher Rebell mehr, sondern der schrankenlose, solipsistische Einzelne. Anders als bei Alfred Döblin, Bert Brecht, André Gide, Albert Camus oder Friedrich Dürrenmatt müsse dem Verbrechen bei Hermann Broch nicht mehr in der Seele des Verbrechers, sondern in dessen Zeit nachgespürt werden. Denn mit der Figur Huguenau erfülle sich die Prophezeiung des Dr. Wendling: „Möglich, daß eine Generation von Verbrechern heranwächst“ (KW 1, 594).

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Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler

P ATRICK E IDEN -O FFE konturiert Carl Schmitts Prägung der „Politischen Romantik“ als „Kampfformel“ (Eric Voegelin), als eine Geisteshaltung, die nicht nur beschrieben oder analysiert, sondern geradewegs bekämpft werden solle. Diese Lesart kontrastiert Eiden-Offe mit einer anderen Lesart der (politischen) Romantik, nämlich mit der Renaissance der „Münchener Romantik“, die u.a. der Historiker und Publizist Philipp Funk Anfang der 1920er Jahre mit seinem Artikel „Die Münchener Romantik“ in der Zeitschrift „Hochland“ ausgerufen hat. Es sei anzunehmen, dass Hermann Broch sowohl diesen Aufsatz als auch Carl Schmitts Buch gekannt habe. Auf dieser Basis zeigt Eiden-Offe die Gegenstrebigkeit in Brochs eigenem Umgang mit der Romantik auf, der zwischen expliziter Ablehnung und impliziter Anlehnung oszilliere. Er bezieht Brochs Konstruktion des Politischen im „Tod des Vergil“ auf Konzeptionen Franz von Baaders, der in den 1920er Jahren vermehrt und nicht unproblematisch im Zusammenhang mit der Romantik wahrgenommen wurde. Carl Schmitts Begriff des „ewigen Gesprächs“ sowie Franz von Baaders Idee vom „kommenden Reich“ entleiht Eiden-Offe für eine Analyse des Dialogs zwischen Vergil und Augustus im dritten Teil des „Tod des Vergil“. Baader und Broch verbinde, dass das Reich allein in diskontinuierlichen Momenten des Hier und Jetzt, in Begegnungen, die mit gegebenen politischen Ordnungen nicht verrechenbar seien, erscheine: mit Baader, in der Liebe. D OREN W OHLLEBEN greift den von Hermann Broch auf seinen letzten Roman „Die Schuldlosen“ bezogenen Begriff des ‚metaphysischen Humors‘ auf und nimmt ihn zum Anlass für eine bislang, anders als bei Franz Kafka, wenig erfolgte Verortung Brochs in der literaturhistorischen Tradition der Komik. Broch inszeniere in seinem Spätwerk einen „vielstimmigen Gelächterchor“ (KW 5, 163), in dem humoristische Stimmen der Romantik sowie der Moderne mitunter dissonant zusammentönten. Wohlleben arbeitet anhand dreier beispielhafter Textpassagen aus den „Schuldlosen“ Strukturanalogien und -differenzen zwischen Brochs Konzept des „metaphysischen Humors“ (KW 5, 322) und Friedrich Schlegels „transzendentaler Buffonerie“ aus dem 42. „Lyceum“-Fragment heraus, wo die Stimmung im Innern mit der mimischen Manier eines italienischen Buffo im Äußern kontrastiert wird. Auch Brochs metaphysischer Humor komme, was anhand des Dialogs des Imkers mit dem durch Selbstmord aus dem Leben scheidenden Andreas exemplifiziert wird, nicht im Metaphysischen selbst zustande, sondern in dessen grotesker Gegenüberstellung mit dem Irdischen. Im Gegensatz zu Schlegel bleibe diese Kluft, hierin eher Jean Paul vergleichbar, als unaufhebbar bestehen: Die ironisch-romantische Schwebe Schlegels zwischen Irdisch und Überirdisch exaltiere bei Broch zum satirisch-modernen Sprung, zu einem Sprung allerdings, dem im Ausbruch des Lachens ein katalytisches Moment innewohne. C LAUDIA L IEBRAND IEBR AND stellt Bezugssysteme zwischen Romantik und Kitsch in Brochs Essayistik her. Sie hinterfragt kritisch, ob die von Broch vorgelegte Skizze

Einleitung: Brochs Romantik(kritik)

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der Romantik als eine „Verwechslung des Endlichen mit dem Unendlichen“ (KW 9/2, 152) die ästhetischen Konfigurationen und die komplexe Kunsttheorie der Frühromantik, aber auch die Kunstpraxis der Spätromantik tatsächlich trifft. An einer exemplarischen Lektüre von E. T. A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ ermittelt sie, dass Brochs in der Forschung bislang meist auf die Spätromantik bezogenes Beschreibungsraster nicht einmal dort greife. Bereits E. T. A. Hoffmann mache zwar von einer ‚Imitiationskunst‘ Gebrauch, von, mit Broch, „vorverwendete[n] Vokabeln“ (KW 9/2, 150), setze diese aber ästhetisch reflexiv ein. Anstatt Kitsch – wie Broch – als ontologische Kategorie zu fassen, schlägt Liebrand vor, ihn als Wertungsdiskurs zu verstehen. Broch, der sich in seinem essayistischen, oft stark polarisierenden Duktus selbst nicht immer dem Kitsch entzöge, modelliere in seiner Romantikkritik eine Trivialromantik, die in den kanonischen Texten weder der Früh- noch der Spätromantik zu finden sei. M ARION S CHMAUS führt das von Hermann Broch nicht explizit verwendete Begriffsfeld des Melodramatischen in die Broch-Forschung ein, als dessen Alternativbegriffe bei Broch sie den ‚Kitsch‘ sowie die ‚Romantik‘ bestimmt. Mit dem auf Peter Brooks zurückgehenden Terminus der melodramatischen Imagination ruft sie eine kulturdiagnostische Kategorie auf, die in Theoriedebatten der Literatur- und Filmwissenschaften der 1970er Jahre geprägt worden sei und seither an Aktualität gewonnen habe. Das Melodramatische wird als eine moderne kulturelle Praxis der Weltwahrnehmung und -darstellung verstanden, als eine – hierin der Romantik vergleichbare – Konstante der Imagination und der literarischen Modi. Schmaus macht auf eine Strukturanalogie aufmerksam zwischen dem Melodramatischen als moderner Ausdrucksform eines Moralisch-Okkulten, das sich nach Brooks in einer moralischen Polarisierung und Schematisierung ausdrücke, und Brochs Kritik an der Romantik, der Broch ein „Fehlen von Mittelwerten“ (KW 9/2, 160) vorwirft. Als Melodramatisches zweiter Stufe bestimmt Schmaus in einer exemplarischen Lektüre von Hermann Brochs Filmrezension „Gone with the Wind“ Brochs eigene Essayistik, die sich durch antithetische Figurenzeichnung, polare Weltsicht und mit Pathos arbeitendem Appellcharakter auszeichne und somit selbst nicht gegen Kitsch gefeit sei. In Abschlussüberlegungen beobachtet Schmaus die Engführung von Melos und Drama in Brochs Romanen, wo der sprachskeptisch motivierte Übergang in die Musik als melodramatisches und auch (früh-)romantisches Erbe feststellbar sei. Hier hält sie dem pejorativen Romantik-Begriff in Brochs Essayistik einen produktiv-positiven entgegen, in dessen Nachfolge Hermann Brochs ethisches Kunstwerk als ein offenes und intermediales konturiert werden könne. Der vorliegende Band ist aus der internationalen und interdisziplinären DFGTagung „Wertbilder: Auflösungsprozesse und Erlösungsutopien. Hermann Broch und die Romantik“ hervorgegangen, die dank Anschubfinanzierung durch die

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Doren Wohlleben und Paul Michael Lützeler

Stiftung für Romantikforschung sowie großzügige Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft vom 27. bis 29. Juni 2012 in den schönen Räumlichkeiten der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München stattfinden konnte. Eine Bereicherung für die Tagung war die engagierte Teilnahme von Sachiko Broch de Rothermann (New York), der Schwiegertochter Hermann Brochs, sowie der Besuch von Gästen des Internationalen Arbeitskreises Hermann Broch (IAB), die aus verschiedenen Ländern Europas angereist waren. Ein Dank geht auch an die (ehemaligen) Studierenden und Broch-Hauptseminar-Teilnehmer/innen (Sommersemester 2006 und 2011) des interuniversitären Master-Studiengangs „Ethik der Textkulturen“ (Elitenetzwerk Bayern), die die Tagung tatkräftig durch Moderationen und Diskussionsbeiträge unterstützten – namentlich an die wissenschaftliche Hilfskraft Christin Zenker (Universität Augsburg), auch für die Durchsicht des Manuskripts. Ohne den Rückhalt an den Lehrstühlen von Christine Lubkoll (Universität Erlangen-Nürnberg) und Mathias Mayer (Universität Augsburg) hätte die Tagung so nicht stattfinden können: Ihnen sei, wie allen Kolleg/innen des EthikStudiengangs, sehr herzlich für das Vertrauen und die allseitige Unterstützung gedankt. Verbindlicher Dank sei auch Werner Frick und Gesa von Essen vom Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) abgestattet. Paul Michael Lützeler war Fellow am FRIAS, als die Tagung stattfand, und konnte die Zeit in Freiburg zur Mit-Vorbereitung des Symposiums sowie zur Ko-Redaktion der Tagungsbeiträge für die Drucklegung nutzen. Sein eigener Beitrag zu diesem Broch-Band profitierte auch insofern von seinem Hauptprojekt am FRIAS („Literatur und Kolonialismus“), als es half, jene über Brochs Romanfigur Bertrand vermittelte Vorstellung vom deutschen Kolonialismus als „romantisches“, d.h. in diesem Fall als zukunftsuntaugliches Projekt zu kontextualisieren. So war es nur sinnvoll, Werner Fricks und Gesa von Essens freundliches Angebot zu akzeptieren, den Tagungsband in einer wissenschaftlichen Reihe des FRIAS („linguae & litterae“) beim Verlag De Gruyter zu platzieren. Augsburg/St. Louis, im März 2013

I Hermann Brochs Romantikkonzepte im Kontext seiner Zeit

Walter Hinderer, Princeton

Hermann Brochs Romantikkonzepte: Kritik und kreative Veränderungen I Auf der Suche nach der Totalität Dass Hermann Broch zur Romantik ein kompliziertes, wenn nicht gar negatives Verhältnis hatte, geht aus einem Brief am 24.5.1949 an den Freund Abraham Sonne hervor. „Die Romantiker, diese Idioten“, so schreibt er hier, „haben immer wieder vom Einschlafen ohne Aufwachen geschwärmt und gesungen, während ich immerzu aufs endgültige Aufwachen (tunlichst ohne Wiedereinschlafen) warte.“1 In Parenthesen bezeichnete er sie auch noch als Antisemiten, „ob sie nun Novalis oder Eichendorff oder sogar auch Heine geheißen haben“ (KW 13/3, 329). Zugegeben, das ist alles etwas salopp und nicht ganz ohne Ironie formuliert, und es wäre zu fragen, wie er eigentlich den Gegensatz vom romantischem „Einschlafen ohne Aufwachen“ und sein Warten „aufs endgültige Aufwachen (tunlichst ohne Wiedereinschlafen)“ gemeint und verstanden hat. Steht hier die romantische Todessehnsucht mit religiösen Untertönen im Widerspruch zu seinem Wunsch nach einer grenzenlosen philosophischen Klarheit? War es der Gegensatz, den Hannah Arendt mit der Formel vom „Dichter wider Willen“ als „Grundzug seines Wesens“ definierte und mit dem Dreieck „Dichten – Erkennen – Handeln“ zu veranschaulichen versuchte? Seine Einstellung, so ließe sich hier einmal sentenzhaft behaupten, änderte sich mit den Überlegungen und Analysen einer Zeit, die auf allen Gebieten im Umbruch schien. „Was die Romane anlangt,“ schrieb er etwa am 12.1.1950 an Waldo Frank, „so weiß ich natürlich, daß sie ‚gut‘ sind. Aber mir fällt das Romanschreiben so leicht, daß es mir schwer fällt. Die Erkenntnisse, um die es mir geht, liegen tiefer, als daß sie romanhaft ausdrückbar wären.“ Dann folgt der Satz, auf den es mir in diesem Zusammenhang ankommt: Wenn ich politische Philosophie, oder wenn ich Erkenntnistheorie betreibe, so erfülle ich die mir auferlegten Verantwortungen sowohl mir selber wie meiner Arbeit wie der Welt gegenüber, doch wenn ich Romane schreibe, habe ich das Gefühl der Verantwortungslosigkeit. (KW 13/3, 412)

1 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat.

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Walter Hinderer

Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Äußerungen, die eine gewisse Nähe zu romantischen Auffassungen nahelegen. „Die Dichtung steht stets am Anfang und Ende des Glaubens“, behauptet er beispielsweise in einem Brief an Daisy Brody am 25.10.1934, „sie ist seine Morgen- und Abenddämmerung, aber immerhin mythische Dämmerung“. Es folgt die keineswegs romantikfeindliche Erläuterung: „In der Mitte des Glaubens aber steht die Theologie. Eines jeden Glaubens. Wäre dem nicht so, ich hätte es niemals gewagt, das Religiöse mit dichterischer Darstellung in einem Atem zu nennen“ (KW 13/1, 310). Er gesteht überdies in einem Brief an Egon Vietta vom 14.1.1934, dass es ihm unmöglich sei, „ohne Dialektik auszukommen“, und er empfindet seine „geschichtsphilosophischen Versuche […] methodisch durchaus“ als hegelianisch (KW 13/1, 277). Aber er war nicht nur von Hegel, sondern früh auch von Kant, Fichte, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und der Phänomenologie von Husserl bis Scheler beeinflusst, obwohl er dazu neigte, wie er in dem Brief an Vietta anmerkt, seine „eigenen Überzeugungen in fremde Gedankengänge hineinzuinterpretieren“ (KW 13/1, 277). Wie man dem „kommentierten Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes“ der sogenannten „Wiener Bibliothek“ Hermann Brochs2 entnehmen kann, verfügte er über eine bemerkenswert vielseitige Auswahl wichtiger philosophischer Schriften von den griechischen Klassikern Aristoteles und Platon bis zu Husserls „Logischen Untersuchungen“ und Schelers „Formalismus in der Ethik und materialer Wertethik“, um nur ein paar Beispiele anzuführen. Für unseren Zusammenhang scheint es mir allerdings besonders relevant zu sein, dass zu der „Wiener Bibliothek“ umfangreiche Ausgaben romantischer Autoren wie Friedrich Schlegels „Sämtliche Werke“ (1846), Schellings „Sämtliche Werke“ (1856–61), Schleiermachers „Sämtliche Werke“ (1836–62) gehörten und geradezu selbstverständlich Kants „Sämtliche Werke in zwei Ausgaben“, Fichtes Werke in einer Auswahl von 6 Bänden (1908–12) und Hegels „vollständige Ausgaben“ (1834–1887). Auch eine Edition von Novalis’ „Fragmenten“ und noch erstaunlicher vielleicht das für die Romantiker so wichtige Buch „Die Symbolik des Traumes“ von Gotthilf Heinrich von Schubert und „Psyche“ (3. Auflage) von Karl Gustav Carus waren in der Bibliothek enthalten.3 Carus’ Werk kann man durchaus als romantische Entwicklungsgeschichte der Seele bezeichnen. Bereits auf der ersten Seite definiert Carus pointiert und thesenhaft: „Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins.“4 Wie bei Schelling ist

2 Klaus Amann/Helmut Grote, Die ‚Wiener Bibliothek‘ Hermann Brochs, Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes, Wien/Köln 1990. 3 Ebd., S. 187/230/36. 4 Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Rudolf Marx (Hrsg.), Leipzig o.J., S. 1.

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auch bei Carus das Unbewusste im Gegensatz zum Unterbewusstsein Freuds keine „verdrängte“, sondern eine „vergessene“ Vergangenheit des Ich. Das anamnetische Verfahren wird bei diesen Philosophen Teil sowohl des transzendentalen als auch des naturphilosophischen Programms.5 So wie Broch die als problematisch empfundene Hervorbringung von Dichtung auf die Seite von Philosophie und Werttheorie treibt, führt Schelling seine Abneigung gegen bloße „Reflexionsphilosophie“ und sein übergeordneter Begriff der „intellektuellen“ Anschauung aller Dinge zu einer „Re-Inthronisierung des Ästhetischen“, um in diesem Zusammenhang Odo Marquard zu zitieren.6 Mit anderen Worten: Die Vereinigung des Bewusstlosen mit dem Bewussten kann nur in und durch Kunst geschehen. Deswegen bezeichnet Schelling in seiner Schrift „System des transzendentalen Idealismus“ (1800) auch die „Philosophie der Kunst“ als das „allgemeine Organon der Philosophie“.7 Für Schelling ist es allein der Kunst möglich, das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, „objektiv zu machen“. Genau diese Ansicht setzt Broch spätestens nach dem „Tod des Vergil“ dem Zweifel aus, obwohl ihn ursprünglich die „Ungeduld der Erkenntnis“ zur Dichtung trieb. In einem Essay über „Denkerische und dichterische Erkenntnis“ (1933) spricht er sogar von einer der Idee nach größeren und sogar zeitlosen „Geltungsdauer des Kunstwerkes“ als „die der wissenschaftlichen Prinzipien, die an seinem Aufbau mitbeteiligt gewesen waren“ (KW 9/2, 47). Die Feststellung, dass man „mit dem Rationalen allein weder hier noch anderswo“ auskommt, scheint ihn nicht nur von einer „Selbstrevision des wissenschaftlichen Denkens“ zu einer Umorientierung und „Neufundierung der Wissenschaftlichkeit“, sondern auch zu einer Annäherung von wissenschaftlicher und dichterischer Erkenntnis geführt zu haben. Beide Erkenntnisformen verbinden sich, was durchaus Vorstellungen von Friedrich Schlegel und Novalis entspricht, um die Totalität der Welt ahnen zu lassen. Dichten ist immer, wie Broch hier erklärt, Ungeduld der Erkenntnis, und jedes Kunstwerk ist ahnendes Symbol der geahnten Totalität –, und wenn diese zwiegespaltene und doppelte Aufgabe mit jeder Epoche neu anheben muß, um sich in stets neuen Stilen des Erkennens und der Kunst immer wieder abzuwandeln, es ist immer ein gemeinsamer Lebensstil, der beiden Erscheinungen zugrunde liegt, es ist in jeder Epoche der Geschichte und des Lebens die Einheit eines gemeinsamen Stils, eine Einheit, hinter der die Einheit des Logos steht. (KW 9/2, 48 f.)  

5 Vgl. dazu Walter Hinderer, „Wege zum Unbewußten“, in: Manuel Köppen/Rüdiger Steinlein (Hrsg.), Passagen, Festschrift für Peter Uwe Hohendahl, Berlin 2001, S. 75–91. 6 Odo Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, S 169 f. 7 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1799–1801, Darmstadt 1975, S. 349/628.  

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Eine notwendige Verbindung von wissenschaftlicher und dichterischer Erkenntnis hat im 18. Jahrhundert bereits Schiller in seiner Kritik an Bürgers Gedichten propagiert. Er argumentiert dabei allerdings zugunsten der Dichtkunst: Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt.8

Wie später Broch sah bereits Schiller in der Trennung und Absolutsetzung der einzelnen Wertgebiete die problematischen Defizite des Zeitalters und forderte eine neue Einheit im Zusammenschluss von Dichtkunst, Erfahrung und Vernunft, die Schaffung eines „Musters für das Jahrhundert“ dank einer idealisierenden Kunst, welche die geistigen Errungenschaften der Zeit „in ihrem Spiegel“ gesammelt hatte. Wenn Friedrich Schlegel in einem Athenäums-Fragment pointiert formuliert: „Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst“, lässt sich das fast als eine Art Echo zu Schillers Forderung verstehen. Allerdings gehört die Vereinigung „aller getrennten Gattungen der Poesie“ und „die Verbindung von Poesie mit der Philosophie und Rhetorik“ zum Programm der „romantischen Poesie“ als „progressiver Universalpoesie“, wie das vielzitierte Athenäumsfragment 116 deutlich macht. Dieses Programm transzendiert allerdings gerade auch in seiner spielerischen Formulierung das Konzept Schillers; denn Schlegel verlangt, dass sich Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegenem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen.9

Eine wenn man will philosophische Variante dazu, welche wahrscheinlich die Fichte-Studien des Autors angeregt haben, bietet dann Novalis mit folgendem Axiom: „Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert.“10 Darauf

8 Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, Peter Janz (Hrsg.), Frankfurt am Main 1992, S. 972. 9 Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, Wolfdietrich Rasch (Hrsg.), München 1964, S. 38 f. 10 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Hans-Joachim Mähl/ Richard Samuel (Hrsg.), Bd. 2, Darmstadt 1999, S. 334.  

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folgt dann eine Art Gebrauchsanweisung für die Romantisierung der Welt. Sie lautet bekanntlich: Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt.

Ohne den wissenschaftlichen Begriff „Universalpoesie“ zu verwenden, ist die Lingua Romana, also die romantische Sprache, die Novalis hier vorschlägt, ein Ausdruck der romantischen Philosophie auf gewissermaßen mathematischer Grundlage, ein Gedanke, der sich, wenigstens was die mathematische Grundlage betrifft, auch bei Broch findet. Er schreibt beispielsweise an Egon Vietta am 25.8.1933: Wissenschaftlichkeit ist heute bloß im mathematischen Gewande zulässig – geniale Ahnung Kants vor 150 Jahren –, und die außermathematische Wirkung des Wortes greift ins Überwissenschaftliche, das vielleicht das Dichterische ist. (KW 13/1, 250)

Das „vielleicht“ deutet nicht nur einen Zweifel an, sondern es weist auch zurück auf Bedenken im Hinblick auf die Funktion von Sprache. Ich meine diesen Satz: „‚Worte‘ sind in unserer Zeit nur mehr Träger von Meinungen, niemals aber von Wissenschaftlichkeit.“ In dem Essay „Über syntaktische und kognitive Einheiten“ definiert Broch die Mathematik prononciert „als das System von ‚Symbolen an sich‘“, weil sie das reversible „Spiegelbild sämtlicher möglicher Ding-Beziehungen“ sei, also gewissermaßen eine Annäherung an die verlorene Totalität ermögliche.11 Egon Vietta stellte in einem Beitrag noch 1951 fest, dass Broch „mathematische Begriffe auf den geschichtlichen Ablauf“ übertrage und ihn „mit der Strenge deduktiver Logik“ verquicke.12 Auf der anderen Seite wurde, wie Hermann Broch in seiner Werttheorie ausführt, durch eine radikale „Entfesselung des Logischen“ und den einsetzenden Abstraktionsprozess das „mittelalterliche Wertorganon“, „die stilbildende Kraft im irdischen Raume“, aufgehoben.13 Die einzelnen Lebensund Wissensgebiete, die einst in einer umfassenden Grundwissenschaft vereint waren, hatten sich verselbständigt. Alles, was ursprünglich in einem Zentralwert verbunden war, trat jetzt mit Absolutsheitsanspruch auf. Bekanntlich hatte bereits Schiller im 6. Brief „Ueber die ästhetische Erziehung“ die Fragmentarisie11 Hermann Broch, Erkennen und Handeln, Essays, Bd. 2, hg. und eingeleitet von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 175. 12 Egon Vietta, in: Der Monat, 1951, Nr. 36, S. 623. 13 Broch, Erkennen und Handeln, S. 19 ff.  

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rung und die Auflösung der einzelnen Lebensgebiete analysiert und den Vorgang dergestalt beschrieben: Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.14

Zweifelsohne kam es bereits im 18. Jahrhundert wegen der Erschütterung des optimistischen Wertverständnisses durch das Erdbeben von Lissabon (1755) und den Reaktionen auf den „Zusammenbruch der Leibniz-Theodizee“ (Odo Marquard) zu verschiedenen Neuorientierungen und Kompensationsversuchen.15 Angesichts der Versachlichung und Entzauberung der Welt entsteht, angefangen von Kants „Kritik der Urteilskraft“, fortgesetzt von Schillers ästhetischen Schriften bis zu Fichtes Neubewertung der kreativen Kräfte des Ich, Schellings Transzendentalphilosophie und Friedrich Schlegels und Novalis’ Beiträgen zur romantischen Universalpoesie eine neue Verzauberung im Bereich und durch den Bereich des Ästhetischen. So kritisch Hermann Broch die Romantiker auch ansonsten bewertet haben mag, der Rückgriff auf die ersehnte „Geschlossenheit des Welt- und Wertbildes“ im Mittelalter schien ihm einzuleuchten; denn „im Mittelalter besaß“ seiner Ansicht nach „das ideale Wertzentrum, auf das es ankommt, […] einen obersten Wert, dem alle anderen Werte untertan waren: den Glauben an den christlichen Gott. Sowohl die Kosmogonie war von diesem Zentralwert abhängig […] als auch der Mensch selber.“16 Hier galt kein Absolutheitsanspruch der getrennten Lebensbereiche, nicht die kapitalistische Devise „Geschäft ist Geschäft“ und kein L’art pour l’art der Künstler. Vielmehr war der Glaube der „Plausibilitätspunkt, bei dem jede Fragekette endigte“. Broch scheint nahezu kritiklos hier romantische Vorstellungen zu reproduzieren, wenn er das Mittelalter als „ein im Glauben ruhendes, ein finales, kein kausales Weltganzes“ beschreibt. Wie den Romantikern dient es ihm als ein Gegenbild gegen die zerstörerischen Defizite einer problematischen Gegenwart. Broch malt den Abstrahierungsprozess und die miteinander konkurierenden Autonomien der verschiedenen Wertgebiete als Alptraum aus, „und

14 Schiller, Werke und Briefe, Bd. 8, S. 572 f. 15 Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 42 ff. 16 Broch, Erkennen und Handeln, S. 19 f.  





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wehe“, so warnt er, weit über die Ansichten der Romantiker hinausgehend, „wenn in diesem Widerstreit von Wertgebieten, die sich eben noch die Balance halten, eines das Übergewicht erhält“, wie das Militärische oder wie das ökonomische Weltbild, „dem sogar der Krieg untertan ist“, „denn es umfaßt die Welt, es umfaßt alle anderen Werte und rottet sie aus wie ein Heuschreckenschwarm, der über ein Feld zieht“.17 In einem Radiovortrag thematisiert er 1933 die seit „etwa zwanzig Jahren akut gewordene Katastrophe der abendländischen Kultur“, kritisiert die Abwertung von geistiger und künstlerischer Arbeit mit dem Motto „Wenn Mars regiert, schweigen die Musen“, und schildert, wie obsolet in dieser Zeit die platonische Haltung des sogenannten Idealisten geworden ist. In diesem Zusammenhang taucht wiederum die auch von den Romantikern beschworene „Idee des christlich-platonischen Mittelalters“ auf, und Broch glaubt sogar, „Vorboten eines neuen Platonismus“, Vorboten eines „künftigen allgemeinen Zusammenschlusses“ zu erkennen (KW 10/1, 53–58). In dem zitierten Brief an Vietta (KW 13/1, 249) aus dem Jahre 1933 berichtet er, dass es ihm während der Arbeit an der Werttheorie „absolut klar“ wurde, „daß Philosophie nur im Rahmen einer Theologie möglich“ sei. Broch propagiert in dem Radiovortrag sogar eine „Wiedergewinnung der religiösen Haltung in ihrer ganzen gemeinschaftsbildenden Strenge und in ihrer ganzen ideellen Einheitlichkeit“, obwohl er gerade die romantische Kunstreligion der Kritik ausgesetzt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass er sich in diesem Zusammenhang mit aller Entschiedenheit auf Goethe beruft, den auch die Frühromantiker besonders verehrt haben, sieht man einmal von der Kritik von Novalis am „Wilhelm Meister“ ab. Man kann sicher Zweifel an Brochs Behauptung anmelden, ob Goethe wirklich „dem Geistigen, dem Künstlerischen, dem Dichterischen die religiöse Pflicht“ auferlegt habe, einen Baustein „zu einer künftigen neuen Einheit herbeizutragen“. Der Kunstenthusiasmus und die Kunstreligion der Romantik, die Hermann Broch ablehnte, wurde allerdings bereits von den Frühromantikern einer Grundsatzkritik unterzogen. In den nachgelassenen „Phantasien über die Kunst“ findet sich beispielsweise ein von Wilhelm Wackenroder verfasster Brief von Joseph Berglinger. Er denunziert hier Kunst als eine „verführerische Frucht“, als einen „täuschenden, trügerischen Aberglauben“, ja als ein „tödliches Gift“.18 Nichtdestoweniger lassen sich in den theoretischen Schriften Hermann Brochs immer wieder Spuren romantischer Reflexionen orten, wenn sie auch mit eigenen Gedankengängen besetzt sind und verändert werden.

17 Ebd., S. 21. 18 In: Wilhelm Heinrich Wackenroder, Werke und Briefe, Gerda Heinrich (Hrsg.), München/Wien 1984, S. 331–335.

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Es ist sicher kein Zufall, dass sich Walter Benjamin in seiner Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ einige Jahre vor Hermann Broch gezielt mit der Funktion und Bedeutung der romantischen Reflexion in der Kunsttheorie beschäftigt hat. Für ihn beruhte in methodischer Hinsicht die „gesamte romantische Theorie auf der Bestimmung des absoluten Reflexionsmediums als Kunst, genauer gesagt als der Idee der Kunst“.19 Da die „romantische Idee, der Einheit der Kunst“, so argumentiert Benjamin, auf „der Idee eines Kontinuums der Formen“ beruhte, so wurde „die Idee der Kunst definiert als das Reflexionsmedium der Formen“. Geradezu programmatisch formuliert Benjamin diese Einsicht so: „Die romantische Idee der Einheit der Kunst liegt also in der Idee eines Kontinuums der Formen“. In die geistige „Weisekunst“ und „Divinationskunst“ werden sowohl bei Schlegel als auch bei Novalis Philosophie und Wissenschaft einbezogen.20 Nicht von ungefähr kommt es dann im Zusammenhang mit der progressiven Universalpoesie zu einer Übertragung der Transzendentalphilosophie auf die Poesie. „Transzendentalpoesie“ bedeutet bei Novalis und Schlegel dann in der Tat sinngemäß „die absolute Reflexion der Poesie“, also „Poesie der Poesie“.21 Da für die Romantiker mit dem Begriff „romantisch“ noch „romanhaft“ oder „romanmäßig“ semantisch verbunden war, erscheint es ebenso verständlich, dass Friedrich Schlegel den „echten Roman“ als das „Non plus ultra, eine Summe alles Poetischen“ bezeichnete.22 Er stellt für ihn nicht nur das „Kontinuum der Formen“ als „die faßbare Erscheinung“ dar, sondern bedeutet „als höchste Form der Reflexion“ schlechthin die Vollendung „der Idee der Kunst“. Novalis seinerseits nennt „jene höhere Poesie die Poesie des Unendlichen“, was die romantische Kunst indirekt an Schillers Bestimmungen von sentimentalischer Dichtkunst annähert, und definiert ähnlich wie sein Freund Schlegel die „Poesie als die Prosa unter den Künsten“.23 Benjamin betont an dieser Stelle den für ihn zentralen Begriff der „Nüchternheit der Kunst“, den er für einen „durchaus neuen und noch unabsehbar fortwirkenden Grundgedanken der romantischen Kunstphilosophie“ hält. Durch ihn werde „vielleicht die größte Epoche in der abendländischen Philosophie der Kunst“ bezeichnet.24

19 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, Bd. 1, 1, S. 87. 20 Ebd., S. 89. 21 Ebd., S. 94 f. 22 Ebd., S. 99 ff. (hier auch Hinweis auf Rudolf Haym). 23 Ebd., S. 101 f. 24 Ebd., 103 f.  







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II Zum Wertsystem der Kunst Novalis schreibt 1799 an Caroline Schlegel: „Ich fange an, das Nüchterne, aber echte Fortschreitende, Weiterbringende zu lieben.“25 Benjamin betont dieses reflektierende und besonnene Verhalten, das auch den „gesetzlichen Kalkül“ Hölderlins charakterisiert, gegenüber der Ekstase, des dionysischen Prinzips, das dann Friedrich Nietzsche in dem Essay „Der Ursprung der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ propagiert hat. In einem frühen Aufsatz, „Notizen zu einer systematischen Ästhetik“ (1912), geht Hermann Broch unter dem Einfluss Schopenhauers gerade der Ekstase als „Erscheinungsform des Willens“ nach: Indem die Ekstase zur „Verdrängung des Leides“ führt, wird sie „zur Lust, zum Schönen“ (KW 9/2, 11 f.). Broch deutet hier die Ekstase des Menschen als „Reinheit der Entfaltung seines Ichs“, wodurch es zu einer „umfassenden Einheit“ komme, die „sowohl das erweiterte Subjekt als das Objekt dem Ich vereint“ (KW 9/2, 15). Broch nimmt hier schon mystische Begriffe vorweg, die dann sowohl im Hofmannsthal-Essay als auch im „Tod des Vergil“ systematischer entwickelt und dargestellt werden. Die „vollkommene Ekstase“, so heißt es schon in diesem frühen Aufsatz, ist gleichbedeutend mit dem „mystischen Entzücken des tat tvam asi“, „ausgeübt durch die Erkenntnis der Einheit von Denkgesetz und Weltgesetz“ (KW 9/2, 15). Indem Broch die verschiedenen Aspekte von Ekstase mit mystischen Anschauungen verbindet, kommt er in dem kurzen Überblick über den Aufstieg und Untergang von Kunstformen und Kulturen zu der Einsicht, dass in jeder „müden Kultur. […] der Rationalist“ entsteht. Es sind durchaus Suchbewegungen, mit denen Broch sich auch im Hinblick auf die Kunst der Gegenwart zu orientieren versucht. Am Ende steht die nicht gerade optimistische Prognose, dass er „viel eher“ als „eine große Kunst […] eine Zeit der décadence“ erahne (KW 9/2, 29/31). Bereits Essays wie „Neue religiöse Dichtung?“ (1933) und „Das Weltbild des Romans“ (1933) weisen neue Fragestellungen auf, die sich in einigen wichtigen Punkten durchaus mit Ansichten des romantischen Kunstbegriffs vor allem der Frühromantiker parallelisieren lassen. Broch definiert hier nicht nur das „Religiöse als das Ergebnis der Einheit stiftenden platonischen Haltung“, sondern sieht in dieser religiösen Tendenz sogar „die sittliche und humane Aufgabe des Dichterischen“ (KW 9/2, 54/57). Deshalb rückt er auch den mittelalterlichen Künstler in den Blickpunkt, um dessen Wertziel dem Wertsystem des L’art-pour-l’art-Künstlers gegenüberzustellen. Broch greift die Totalitätsidee des 18. Jahrhunderts von  

25 Ebd., zit. S.107.

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Klassik und Romantik auf, die nicht zuletzt 1916 in der „Theorie des Romans“ von Georg Lukács im Vordergrund steht, gerade auch in der negativen Besetzung: Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinns zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.26

Geradezu im Gegensatz zu der Auffassung der Romantiker formuliert Lukács pointiert: „Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt“.27 Hermann Broch seinerseits fordert ganz im Sinne der Frühromantik, dass „das Dichtwerk […] in seiner Einheit die gesamte Welt zu umfassen“ und „in der Auswahl der Realitätsvokabeln die Kosmogonie der Welt zu spiegeln“ hat; es soll außerdem „die Unendlichkeit des ethischen Wollens […] in dem Wunschbild, das sie [die Dichtung] gibt, aufleuchten“ lassen (KW 9/2, 115). Als Kronzeugen werden hier allerdings nicht Schlegel und Novalis genannt, sondern Goethe für die Klassik und James Joyce für die Gegenwart. Für Broch ist zwar „auch die Kunst als solche“ ein „ewig unabgeschlossenes System“, aber „jedes Einzelkunstwerk ist Spiegel der Totalität“.28 In seiner Schrift „Das Böse im Wertsystem der Kunst“ (1933) akzentuiert er die besondere „Funktion des Wertsystems der Kunst“ im Unterschied zu den übrigen Wertsystemen als „den ungeheuren und beinahe magischen Vorteil, in jedem ihrer Akte jene Totalität nicht nur ahnen zu lassen, sondern widerzuspiegeln“ (KW 9/2, 137). Diese Widerspiegelung verleiht dem Kunstwerk Broch zufolge noch eine „besondere Bedeutung“: Während in der Wissenschaft „das bereits Geformte sofort wieder den Charakter des Ungeformten erhält“, werde im Kunstwerk „das ‚Gewesene‘ zum unmittelbaren Bild der Zukunft, in die es hineinstrebt.“ Der „beinahe magische Vorteil“ liegt also für Broch in der Spiegelung der Totalität. Dieser Vorteil erzeugt „diese Abgeschlossenheit, dieses In-sich-Ruhen des wahren Kunstwerkes, diese Herausgehobenheit aus der Zeit, diese Konkretisierung des Wertschemas an sich“ und trägt zu der „dominierenden Stellung der Kunst im historischen Geschehen“ bei (KW 9/2, 137). Man muss sich an dieser Stelle fragen, inwiefern sich diese Ausführungen von den Ansichten der Frühromantik unterscheiden. In beiden Fällen kann man den Absolutheitsanspruch der Kunst sistieren. Wenn Broch dann die These aufstellt, dass Kunst im „strikten Gegensatz zur Wissenschaft, die ihrer Struktur 26 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied am Rhein/Berlin/Spandau 21963, S. 53. 27 Ebd., S. 87. 28 Hermann Broch, Dichten als Erkennen, Essays, Bd. 1, Hannah Arendt (Hrsg.), Zürich 1955, S. 330.

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gemäß geradezu revolutionär auf den Fortschritt eingestellt“ sei (KW 9/2, 137 f.), „immer konservativ zu sein“ habe, so widerspricht das keineswegs bestimmten Ausprägungen des romantischen Selbstverständnisses, besonders nach der Frühromantik. Auch die Besinnung der Kunst auf das Gewesene und die Rückgriffe auf die Antike und auf die Gotik gehört durchaus zu dem Programm der Romantik, wie sich leicht durch entsprechende Schriften von Friedrich und August Wilhelm Schlegel bis hin zu den Veröffentlichungen Adam Müllers belegen lässt. Die Kontinuität der Tradition wird für Broch in dieser Schrift zum „Ausdruck für die Einheit der Kultur, für eine Totalität des Humanen, die alle Zeiten und den ganzen Erdkreis umspannt“ (KW 9/2, 138). Wenn Broch einerseits „das Imitationssystem des Kitsches innerhalb des Wertsystems der Kunst“ als das Böse definiert, andererseits einschränkend bemerkt, „daß es ohne einen Tropfen Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch, in keiner Kunst“ abgehe (KW 9/2, 150), so lässt sich das kaum als eine indirekte Kritik an der Romantik missverstehen. Das „Wesen des Kitsches“ besteht für Broch außerdem in einer „Verwechslung“ der ethischen mit der ästhetischen Kategorie. Der Künstler will nicht „gut“, sondern „schön“ arbeiten, „es kommt ihm auf den schönen Effekt an“ (KW 9/2, 150). Obwohl in diesem Zusammenhang die Kategorien von „gut“ und „schön“ problematisch sind, kann man allgemein feststellen, dass in der Romantik früh eine Grundsatzkritik an den Verwechslungen von ethischen und religiösen Vorstellungen mit ästhetischen einsetzte. Wenn die Romantiker auch der „Versachlichung“ und „Entzauberung“ der Welt mit den Inszenierungen des Ästhetischen als einer neuen Verzauberung zu begegnen versuchten, so kam es bald in einer radikalen Gegenbewegung von Wackenroder und Tieck bis hin zu den „Nachtwachen des Bonaventura“ und Büchners „Dantons Tod“ zu massiven Entzauberungen neuer Verzauberungen durch die sogenannte „Romantiknatur“, um hier einen zenralen Begriff von Odo Marquard zu verwenden.29 In einer eingehenden Analyse macht Marquard deutlich, wie die „Depontenzierung der Transzendentalphilosophie“ und das Scheitern der romantischen Ästhetik die „Triebnatur“ etabliert. Es ist bemerkenswert, dass Hermann Broch in seinen frühen „Notizen zu einer systematischen Ästhetik“ diese Anlage zur Triebnatur, offensichtlich angeregt durch Schopenhauer, in enger Verbindung „zur ästhetischen und mystischen Ekstase“ sieht. Er kommt sogar anhand einiger Beispiele zu dem nicht gerade einleuchtenden Schluss, „daß der ästhetisch höherstehende auch der sexuell wertvollere Mensch“ sei (KW 9/2, 19).  

29 Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, S. 179–209.

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Wie man diese Ausführungen auch interpretiert, man kann an diesem Punkt feststellen, dass Broch bei seinen philosophischen Spekulationen zeitweise ebenfalls davon ausgeht, mit Hilfe eine „Re-Inthronisierung das Ästhetischen“, wie man sie bei Schelling, Schlegel, Novalis und anderen Romantikern findet, um die verlorene Einheit wiederherstellen und die Fragmentarisierung der Lebensbereiche und den allgemeinen Wertezerfall aufheben zu können. Ähnlich wie den Romantikern, um das etwas pauschal zu formulieren, ging es auch Broch zunächst um eine Synthese von Bewusstem und Unbewusstem, von Realität und Traumwelt, von Rationalem und Irrationalem, um eine Versöhnung von Gegensätzen, bis ihm zumindest nach der Arbeit am „Tod des Vergil“ Zweifel kamen, ob Dichtung und Literatur, sieht man von der „Ur-Genialität“ eines Kafkas ab, diese notwendigen Aufgaben der Epoche überhaupt noch leisten konnten (KW 13/3, 411 f.). Er, der nicht selten „in der Luft zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Dichterischen“ hing, wie er am 9.11.1947 Hermann Weigand mitteilte, betonte dort im Hinblick auf Rilke mit aller Entschiedenheit, „einmal muß man mit der Prävalenz des Ethischen gegenüber dem Ästhetischen Ernst machen und schweigen lernen“ (KW 13/3, 184). Unwillkürlich denkt man dabei an Wittgensteins Sentenz im „Tractatus logico-philosophicus“: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ (Nr.7), man sollte dann allerdings das Verbum „sprechen“ durch „schreiben“ ersetzen.30  

III Die mythische Erbschaft der Dichtung In seiner ebenso umfangreichen wie eindrucksvollen Schrift „Hofmannsthal und seine Zeit“ (1947/48) machte Broch aber nichtdestoweniger nach wie vor „die unmittelbare Erfassung der Welttotalität“ zum Kennzeichen eines „echten Kunstwerks“ (KW 9/1, 137 f.), das den Gesamtinhalt „einer Epoche (also nicht nur deren Stil) reproduziert und infolgedessen für den Zeitgenossen etwas unheimlich ‚Neues‘ darstellt“ (KW 9/1, 139). Gegen den Absolutsheitsanspruch des L’art pour l’art, das für Broch jeder sozialen Funktion entbehrt, setzt er die Hoffnung auf einen neuen Mythos. Für ihn ruht „tief im Unbewußten aller großen Kunst […] der Wunsch nochmals Mythos werden zu dürfen, nochmals die Totalität des Universums darzustellen“ (KW 9/1, 128). In der dritten Fassung von Hofmannsthals Prosaschriften setzt Broch den Mythos, der Kosmogonie sei (KW 9/1, 314), prononciert von neuen modernen Versuchen ab, die man im besten Fall als Gegen 

30 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-philosophicus, logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 1960, S. 115.

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Mythos bezeichnen könne, dem allerdings nicht James Joyce, aber in Ansätzen vor allem Kafka gerecht geworden sei. Auf der anderen Seite zitiert Broch im Zusammenhang des Themas Mythos eine Stelle aus Hofmannsthals „Buch der Freunde“, die durchaus den Ansichten Hermann Brochs entsprach. Die Stelle lautet: Mythisch ist alles Erdichtete, woran du als Lebender Anteil hast. Im Mythischen ist jedes Ding durch einen Doppelsinn, der sein Gegensinn ist, getragen: Tod = Leben, Schlangenkampf = Liebesumarmung. Darum ist im Mythischen alles im Gleichgewicht. (KW 9/1, 332)

Sah Broch 1934 „trotz aller Sehnsucht der Zeit nach dem Mythos“ keine Anzeichen eines neuen Mythos, so scheint sich in dieser Hinsicht nach 1945 seine Einstellung geändert zu haben. Von den verschiedenen möglichen Gedankenspuren, die romantische Philosophie und Dichtung im theoretischen Werk Hermann Brochs hinterlassen haben, lässt sich mit Sicherheit ein Thema ausmachen, das den engagierten Verfasser einer Werttheorie über mehrere Jahre beschäftigt hat, nämlich die Arbeit am Mythos. Auch Schelling hatte in seinem Spätwerk, in der „Philosophie der Mythologie“ und der „Philosophie der Kunst“, die romantische Arbeit am Mythos fortgesetzt. Er erklärte beispielsweise: „Mythologie ist die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst“ (§38) und „Der Charakter der wahren Mythologie ist der der Universalität, der Unendlichkeit“ (§40).31 Doch die Überlegungen zu einer neuen Mythologie fallen zweifelsohne in die Zeit des Avancement dreier neuer Philosophien: Geschichtsphilosophie, philosophische Anthropologie und philosophische Ästhetik. Es handelt sich, wie Odo Marquard listig als „Stuntman des Experten“ ausführt, „um Philosophien einer Neubestimmung des Menschen, die einen jahrhundertmittenspezifischen Lebensverlust des Menschen zu kompensieren versuchen“.32 Nach den ersten Erfolgen der philosophischen Ästhetik von Kant bis Schiller setzen sich diese Versuche auch bei der jüngeren Generation nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Forderungen einer neuen Mythologie fort. Als ein relevantes Dokument zu diesem Thema lässt sich das sogenannte „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ verstehen, das 1796 oder in den ersten Monaten von 1797 aufgeschrieben wurde. Wenn auch die Handschrift von Hegel stammt, so lassen sich hier ebenso Gedankengänge von Hegels Jugendfreunden im Tübinger Stift, Hölderlin und Schelling, ausmachen. Der Verfasser beginnt mit einer Kritik an der „langsamen, an Experi-

31 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 49/S. 57. 32 Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 39–42.

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menten mühsam schreitenden Physik“ und hofft auf eine „Physik im Großen“, die „einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne“.33 Er bezieht hier offensichtlich eine gleichgesinnte Gruppe mit ein. Von der Natur kommt er aufs „Menschenwerk“ zu sprechen, wobei er die „Idee der Menschheit“ gegen den mechanischen Staat setzt und in geradezu revolutionärer Absicht ankündigt, „das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut“ zu entblößen. Die Forderung lautet ebenso kurz wie bündig: „Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen“. Nach diesen Vorgaben, bei denen Fichtes „Wissenschaftslehre“ ebenso Pate gestanden hat wie bei den Frühromantikern,34 erfolgt der Salto mortale in die Ästhetik. In ihr, das heißt dem „ästhetischen Akt“, der alle Ideen umfasst, findet die gesuchte Synthese statt. Da nur in der Schönheit „Wahrheit und Güte“ verschwistert sind, so folgert der Verfasser – gewiss ganz im Sinne seiner Freunde –, muss der Philosoph „ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter“. Es wird nun allen Philosophien, sei es die „Philosophie des Geistes“ oder die Geschichtsphilosophie, die philosophische Ästhetik zur Pflichtdisziplin gemacht. Durch den allgemeinen „ästhetischen Sinn“ bekommt die Poesie eine höhere Würde, und sie wird wieder, was sie am Anfang war, nämlich die „Lehrerin der Menschheit“. Im Hintergrund lassen sich unschwer Ideen Hölderlins erkennen, wie er sie vor allem im Zweiten Buch des ersten Bandes seines Romans mit den Definitionen von Schönheit, Kunst und Religion und der Bestimmung Hyperions zum Volkserzieher durch Diotima dargestellt hat.35 Die radikale Aufwertung der Dichtkunst gegenüber Philosophie und Geschichte, wie sie in dem „Systemprogramm“ vorgetragen wird, kann man durchaus als romantisch bezeichnen. Allerdings wird die Dichtkunst hier nicht nur allen Wissenschaften, sondern auch den anderen Künsten übergeordnet, während es gerade der Frühromantik um die Einheit von Philosophie, Geschichte, Wissenschaft und den Künsten ging. Allerdings lässt sich die Idee, die angeblich „noch in keines Menschen Sinn gekommen“ sei, wie der Verfasser des „Systemprogramms“ behauptet, nämlich die Idee einer neuen Mythologie, durchaus als einen gleichzeitigen Einfall der Frühromantik reklamieren. Man braucht dabei nur an Friedrich Schlegels „Rede

33 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 1, Frühe Schriften, Frankfurt am Main 1971, S. 234–236. 34 Katharina Ratschko, Kunst als Sinnsuche und Sinnbildung, Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Moderne seit der Frühromantik, Hamburg 2010, S. 45 f. 35 Hölderlin, Werke und Briefe, Friedrich Beißner/Jochen Schmidt (Hrsg.), Bd. 1, Gedichte, Hyperion, Frankfurt am Main 1969, S. 365/S. 375.  

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über die Mythologie“, zu denken. Diese neue Mythologie muss „im Dienste der Ideen stehen“, „muß eine Mythologie der Vernunft werden“.36 Erst wenn die Ideen ästhetisch, das heißt mythologisch gemacht werden, sind alle Bildungsschranken aufgehoben, so lautet auch der erzieherische und politische Auftrag des „Systemprogramms“. Indem die Mythologie die Philosophie und die Philosophen sinnlich macht, kommt es zu der ersehnten „gleichen Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen“. Keine Kraft wird mehr unterdrückt, es „herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister“. Diese Utopie einer neuen Mythologie und Religion preist der Text „als das letzte größte Werk der Menschheit“, als die Revision und Erfüllung der „Geschichte der Menschheit“, was das „älteste Systemprogramm“ schon zu Anfang der Schrift als eine Art Wegweiser andeutet. Friedrich Schlegels „Rede über die Mythologie“, 1800 im 3. Band des „Athenäums“ als Unterkapitel des „Gesprächs über die Poesie“ erschienen, setzt den Diskurs des „Systemprogramms“ über eine „neue Mythologie“ fort. Aus der Einsicht in das grundlegende Defizit moderner Poesie, dass es ihr an einem Mittelpunkt fehlt, „wie es die Mythologie für die Alten war“,37 leitet Schlegel die Notwendigkeit einer „neuen Mythologie“ ab, die er aber deutlich nach den Vorstellungen der Frühromantik ausrichtet. Er bestimmt diese neue Mythologie nicht nur als „das künstlichste aller Kunstwerke“, das alle andern umfasst, sondern auch als die „höchste Schönheit“, in der sich die „höchste Ordnung“ mit dem Chaos dank des Katalysators Liebe „zu einer harmonischen Welt“ entfaltet, wie sie Schlegel zufolge „auch die alte Mythologie und Poesie“ darstellte. Für ihn ist ohnedies „die alte Poesie […] ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht“. So wie das „Systemprogramm“ die Forderung enthält, dass die neue Mythologie „im Dienste der Ideen stehen, […] eine Mythologie der Vernunft werden“ muss, orientiert auch Schlegel die neue Mythologie an den Errungenschaften des philosophischen Idealismus, der „gleichsam wie aus dem Nichts entstanden“ sei. Im Gegensatz zum „Systemprogramm“, das Schlegel nicht kennen konnte, sieht er den Idealismus bereits in der Physik wirken, bevor diese noch „vom Zauberstab der Philosophie berührt war“. Der Idealismus ist Teil der großen Revolution, der alle Wissenschaften und Künste Schlegel zufolge ergreifen wird. So wie es das Wesen des Geistes sei, „sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich herauszugehen und in sich zurückzukehren“, so werde „derselbe Prozeß auch im Ganzen und Großen jeder Form des Idealismus sichtbar“.38

36 Hegel, Werke 1, S. 236. 37 Schlegel, Kritische Schriften, S. 497 f. 38 Ebd., S. 499.  

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Die Wechselwirkung zwischen dem Aus-sich-Herausgehen und dem In-sichZurückgehen veranschaulicht nicht nur die Grundstruktur der Reflexion,39 sondern auch die notwendige Dialektik zwischen der theoretischen und praktischen Philosophie, nämlich Idealismus und Realismus, wie sie Schelling ebenfalls um 1800 im „System des transzendentalen Idealismus“ als zwei Seiten einer Medaille beschrieben hat. Ideelle und reelle Tätigkeiten setzen sich, wie es auch ähnlich in den Fichte-Studien von Novalis heißt, „wechselseitig voraus“ und aus beiden wird „der ganze Mechanismus des Ich“ abgeleitet.40 Nicht nur soll die Natur Ich, sondern auch das Ich Natur werden. Ganz im Sinne von Novalis hatte Schelling bereits in seinen „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797) die programmatische Forderung formuliert: „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.“41 Diesen sogenannten „Real-Idealismus“ reklamiert nun auch Schlegel für die neue Mythologie und verweist auf die „Spuren einer ähnlichen Tendenz […] in der Physik, der es an nichts mehr zu fehlen scheint, als einer mythologischen Ansicht der Natur“.42 Nun erfolgt wie schon im „Systemprogramm“ der plötzliche Sprung in die Ästhetik. Nur dort, das heißt genauer in der Poesie, kann die „Harmonie des Ideellen und Reellen“ stattfinden, eben nicht in der Philosophie. Schlegel verweist in diesem Zusammenhang gezielt auf Spinoza, wo man „den Anfang und das Ende aller Phantasie“ finden könne.43 Er erklärt die scintilla animae zum „zündenden Funken aller Poesie“ und fasst seine spekulativen Einfälle in folgender, als Frage formulierten Formel zusammen: „Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Phantasie und Liebe?“ Schlegel erklärt die Mythologie zum „Kunstwerk der Natur“ und charakterisiert ihr Gewebe dergestalt: „alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbinden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode.“ Er findet in der Organisation eine große Ähnlichkeit mit der romantischen Poesie, in der „künstlich geordneten Verwirrung“, der „reizenden Symmetrie von Widersprüchen“, dem „ewigen Wechsel von Enthusiasmus und Ironie“. Zudem sieht er in ihr schon eine „indirekte Mythologie“ und charakterisiert sie mit deutlichem Bezug auf die antike Mythologie folgendermaßen:

39 Vgl. dazu Ratschko, Kunst als Sinnsuche und Sinnbildung, S. 58; ebenso Winfried Menninghaus, Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt am Main 1987, S. 155–159. 40 Schelling, Schriften von 1799–1801, S. 386. 41 Ebd., S. 380. 42 Schlegel, Kritische Schriften, S. 499. 43 Ebd., S. 500 f.  

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Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.44

Es geht Schlegel aber nicht nur um die Erweckung der antiken Mythologie, sondern ebenso um die der andern Mythologien, um die „Entstehung der neuen Mythologie zu beschleunigen“. Mit Hinweisen auf Spinoza, Jakob Böhme und Fichtes „Wissenschaftslehre“ fordert er seine Freunde auf, den „großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution“ adäquat zu verstehen und in einer neuen Mythologie zu verwirklichen. Von den Freunden wird diese Rede einer wohlmeinenden Kritik unterzogen, wobei Lothario (Novalis) und Ludoviko (Schlegel) auf die Rückkehr eines „idealischen Zustands der Menschheit“ hoffen, in dem es nur Poesie gäbe und die Künste und Wissenschaften eins wären. Ludoviko (Schlegel) erhebt sogar die Physik in den Rang einer „mystischen Wissenschaft vom Ganzen“, und zwar unter Einschluß von Kosmogonien, Astrologie und Theosophie,45 während Lothario (Novalis) seine Ansicht dergestalt auf den Punkt bringt: „Eigentlich soll jedes Werk eine neue Offenbarung der Natur sein. Nur dadurch, daß es Eins und Alles ist, wird ein Werk zum Werk.“46 Es war sicher kein Zufall, dass sich im 20. Jahrhundert drei Emigranten fast um die gleiche Zeit mit dem Thema Mythos auseinandersetzten. Ich meine Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, deren „Dialektik der Aufklärung“ zuerst 1944 erschien, und Hermann Brochs Essay „Die mythische Erbschaft der Dichtung“, der 1945 in der Sonderausgabe der „Neuen Rundschau“ zu Thomas Manns 70. Geburtstag veröffentlicht wurde. Während es Thomas Mann in seiner Josephs-Tetralogie, wie er selbst betont, um die „Humanisierung des Mythos“47 ging, um eine Identifikations- und Identitätssuche, um die „Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv“,48 verfolgen Horkheimer und Adorno im ersten Exkurs „die Dialektik von Mythos und Aufklärung an der Odyssee, als einem der frühsten repräsentativen Zeugnisse bürgerlich-abendländischer Zivilisation“.49 Obwohl Aufklärung und

44 Ebd., S. 502. 45 Ebd., S. 505. 46 Ebd., S. 507. 47 Vgl. den Brief Thomas Manns an Karl Kerényi vom 18. Februar 1941. Zum Thema siehe Katherina Ratschko, Kunst als Sinnsuche und Sinnbildung, S. 185–214. 48 Thomas Mann, Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Hans Bürgin (Hrsg.), Bd. 9, Frankfurt am Main 1960, S. 665. 49 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969, S. 6.

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Mythos im Allgemeinen als Gegenbegriffe verstanden wurden, unterminieren die Verfasser der „Dialektik der Aufklärung“ bereits in der „Vorrede“ diese Auffassung, dergestalt zur Pointe zugespitzt: „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ Das homerische Epos wird für sie zum Beweis einer „Verschlingung von Aufklärung und Mythos“.50 Doch traten bei Homer, wie sie argumentieren, nicht einfach „Epos und Mythos, Form und Stoff“ auseinander, sondern es kam zu einer internen Auseinandersetzung. Zur Erläuterung des Vorgangs zitieren die Autoren Nietzsche: „Der apollinische Homer ist nur der Fortsetzer jenes allgemein menschlichen Kunstprozesses, dem wir die Individuation verdanken“. Diese Auffassung lässt sich durchaus mit Thomas Manns Konzept seines Josephs-Romans in Verbindung bringen. Hermann Broch dagegen leitet zunächst im Sinn der Frühromantik „Geschichtsschreibung, Biographie und historischen Roman“ von dem „Ur-Ahn“ Mythos ab, dem „Ur-Ahn jedweder erzählerischen Aussage“ (KW 9/2, 202). Im Mythischen enthüllt sich für ihn nicht nur „der Menschenseele Grundbestand“, sondern in Mythos und Logos, den Urbildern von Inhalt und Form, vollzieht sich seiner Ansicht nach auch das „Erfassen der Welt“, ein Verfahren, das sich ebenso in der Sprachstruktur widerspiegelt. Broch gebraucht in diesem Zusammenhang den Jungschen Begriff des „Archetyps“ und führt nicht nur die Dichtung, sondern ebenso „das Wissen um das Zeitlose“ auf die mythische Erbschaft zurück. Wie für die Romantiker umfasst auch für Broch der Mythos die Totalität aller menschlichen Bereiche und gipfelt er in der Kosmogonie (KW 9/2, 203). Während Horkheimer und Adorno die Verschlingung von Mythos und Aufklärung eher vorsichtig formulieren, schwingt für Broch in jedem mythischen Akt das Logische mit. Auf der anderen Seite betont er, dass die mythische Erbschaft das Streben nach einer Neuschöpfung „kosmogonisch geordneter Totalität“ befördert, wenn auch die Schaffung einer neuen Mythologie ein problematisches Projekt bleiben müsse (KW 9/2, 203 f.). Wie in Schlegels „Gespräch über den Roman“ besitzt dieses Thema auch einen besonderen Stellenwert in Hermann Brochs Essay. Er bezeichnet den Roman zwar nicht als ein „romantisches Buch“ wie Schlegel, aber schreibt dem „Roman-Kunstwerk“ die „Totalität eines Menschenlebens“ zu „mit all seinem Wertstreben“ (KW 9/2, 204). So wie bei der Geschichtsschreibung ist auch die „sprachliche Darstellung einer Welttotalität“ im Roman nicht „ohne dichterischen Einschlag“ denkbar. Die Mischung verschiedener Gattungen oder Textsorten, eine Mischung „aus Erzählung, Gesang und anderen Formen“, wie Schlegel festhält, gehört auch zur Romanbestimmung Brochs. Er verbindet allerdings in der Mitte des Essays, vielleicht motiviert von  

50 Ebd., S. 52.

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Manns Josephs-Romanen, seine mythisch-mystischen Spekulationen über den pythagoräischen Einheitsraum, in dem Zeit und Raum eine Synthese bilden, mit einer lyrischen Sprachbewegung und parataktischen Konstruktionen, die versuchen, die Einheit von „Mythos und Logos des Traumes“ zu veranschaulichen, wie Broch es dann eingehend im „Tod des Vergil“ praktizieren wird. Ob allerdings für die „lyrische Traumsekunde“ und das Eindringen ins „Gebiet der Prophetie, in ein echtes Traumwissen“ Manns „Einleitung zu den Geschichten Jakobs“ als schlüssiges Paradigma dienen kann, scheint mir zweifelhaft zu sein. Broch lässt sich von diesem Thema verführen, über den Unterschied von „alltäglichem und allnächtlichem Mythos“, über Tages- und Nachtlogik zu reflektieren und Ansätze zu einer wünschenswerten „Theorie der Prophetie“ zu entwickeln, die aufgrund einer „formalen Traumlogik“ die Sphäre der Eingebungen präzisieren könnte (KW 9/2, 206 f.). Broch verweist an diesem Punkt auf ein Athenäums-Fragment Schlegels, in dem der Historiker als „ein rückwärts gekehrter Prophet“ definiert wird,51 und wendet diese Definition allgemein auf die Geschichtsschreibung „als rückwärtsgewandte Prophetie“ und auf die „historische Dichtung“ an. Die Josephs-Tetralogie wird so zu einer historischen Dichtung mit „traumhaft-prophetischer Eingebung“, einem „Neuheits-Vorstoß“ in die Vergangenheit, was für manche romantische Romane wie etwa Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ ebenso gelten könnte wie für Brochs „Tod des Vergil“. Wenn Novalis in einem Fragment das Resultat eines Romans in der „Realisierung einer Idee“ sieht und diese Idee als „eine irrationale Größe“, als „eine unendliche Reihe von Sätzen“ bestimmt,52 lassen sich solche Gedankengänge, freilich übertragen in Brochs polyvalente Terminologie, auch in diesem Essay sistieren. Für ihn sind „Mythos und Logos prophetisch“ in der „Ahnung der Unendlichkeit“ vereint, allerdings setzt er dann die andere Seite der Entwicklung der Moderne, die völlige Auslöschung des Prophetischen aus dem Bewusstsein, der Kritik aus. War die „mythische Prophetie“ für Broch ethisch, so hat seiner Ansicht nach auch die „logische Prophetie“ in ihrer heutigen wissenschaftlichen Gestalt mit ethischer Verantwortung wenig mehr zu schaffen, obwohl er die Hoffnung nicht aufgeben will, dass sie dereinst diese ethische Aufgabe wieder erfüllen wird (KW 9/2, 208 ff.). Statt auf die moderne Wissenschaft setzt er auf die Dichtung, die aufgrund „ihrer Verwandtschaft mit allem Seherischen stets eine Ungeduld der Erkenntnis gewesen“ sei. Es zeigt sich hier deutlich, wie der Essay immer mehr zu einem Plädoyer der  



51 Schlegel, Kritische Schriften, S. 34. Broch weist auf das Fragment folgendermaßen hin: „Mit vollem Fug ist daher die Historie als rückwärtsgewandte Prophetie bezeichnet worden“ (KW 9/2, 207). 52 Novalis Werke, hg. und kommentiert von Gerhard Schulz, München 21981, S. 391 (Nr. 54).

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eigenen Vorstellungen wird, in dem durchaus auch romantische Vorstellungssplitter eingegangen sind. Bei aller Verwandtschaft mit dem Mythischen muss sich die Dichtung dem Geist der Epoche, auch seiner Wissenschaft, unterordnen, um sich der „logischen Prophetie“ annähern zu können. Mit anderen Worten: Das Streben nach kosmogonischer Totalität, das auch die Frühromantik propagierte, führt heute für Broch ins Polyhistorische. Er schildert die neue Situation und die Schwierigkeiten, mit denen sich der Romancier des 20. Jahrhunderts konfrontiert sieht. Mit bloßem Erzählen von belehrenden und unterhaltenden Geschichten lasse sich nicht mehr eine Totalität herstellen. Als Beispiele für den neuen Roman verweist Broch vor allem auf den „Ulysses“ und „Finnegan’s Wake“ von James Joyce, dem es im zweiten Roman sogar gelungen sei, „in den Traum, in die eigentliche Geburtsstätte des Mythos“ einzudringen.

IV Vom Mythos zum Altersstil So wie der polyhistorische Roman ins Kosmopolitische wachse, würde der Mythos der Gegenwart Broch zufolge auch übernational sein. Er hält es allerdings für durchaus möglich, dass sich der „Mythos der neuen Kultur […] vielleicht von der Romanform völlig loslösen“ und im Film „oder sonstwo einen viel adäquateren Ausdruck finden wird“ (KW 9/2, 211). Mit dieser überraschenden Prognose entfernt sich Broch deutlich von der Romantik, zu deren ästhetischem Zentrum eben die Gattung Roman gehörte. Das Thema Mythos setzt Hermann Broch dann mit einem Essay fort, dessen zweite Fassung unter dem englischen Titel „The Style of the Mythical Age“ als Einleitung zu dem Buch von Rachel Bespaloff „On the Iliad“ 1947 erschienen ist. Der Ausgangspunkt bildet die Paraphrase einer These von Bespaloffs Darstellung: „Homer steht an der Schwelle, an welcher Mythos sich zur Dichtung wandelt; Tolstoy an jener, wo Dichtung wieder zu Mythos wird“ (KW 9/2, 212). Dieses Wechselverhältnis zwischen zwei literarischen Lebensphasen wird für Broch gleichbedeutend mit einer Entwicklung vom Stadium der Kindheit zum Alter, wobei sich beide Stadien jeweils mit einem bestimmten Stil identifizieren lassen. Der Altersstil, wie Broch an Beispielen von Tizian, Rembrandt, Goya, Bachs „Kunst der Fuge“, den späten Quartetten Beethovens und nicht zuletzt mit den Schlussszenen von Goethes „Faust“ andeutet, zeichne sich durch „einen radikalen Umbruch des Stiles“ aus, den man am besten als eine Art „Abstraktionismus“ bezeichnen könne, bei dem sich „eine zunehmende Verengung des Vokabulariums“ mit einer „Bereicherung der syntaktischen Ausdrucksbeziehungen“ (KW 9/2, 213 ff.) feststellen lasse. Der vom „Altersstil“ begnadete Künstler destruiert nach Broch das überlieferte „Konventionsvokabular“ und baut sich „sein eigenes Vokabularium neu“ auf. Gerade der Altersstil ermögliche  

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es dem Künstler, „die Welt in ihrer Totalität zu erfassen“, weil der sogenannte „Abstraktionismus […] dem Mythos sehr nahe“ stehe. Sowohl Mythos als auch Altersstil werden nach Broch „zu Sigeln des Weltinhaltes, indem sie dessen Struktur in seiner wahren Wesenheit aufzeigen“ (KW 9/2, 215). Wenn Broch den Zusammenhang von Mythos und Mathematik betont, nähert er sich bewusst oder unbewusst an Gedanken von Novalis an, für den alle „Wissenschaft Mathematik werden“ sollte. Dieser erklärt außerdem das Zahlensystem als „Muster eines ächten Sprachzeichensystems“ und spricht gar von einer Poetik und Grammatik der Mathematik.53 Wenn man will, kann man darin bereits eine Tendenz zum „Abstraktionismus“ erkennen, von dem Broch spricht, der übrigens wie Ludoviko (Schlegel) in dem „Gespräch über Poesie“ Kosmogonie und Theosophie (bei Broch heißt das Theogonie) der richtigen Naturwissenschaft zuordnet, so dass auch von dieser Seite her im Modell eine Darstellung des Ganzen wieder erreicht werden kann. Broch wendet dann den Diskurs über den Mythos als „Urform jeglicher phänomenologischer Erkenntnis“ ins Philosophische (KW 9/2, 217). Er erklärt den Mythos nicht nur zur Urform der Erkenntnis, der Wissenschaft, der Kunst, sondern eben auch zur Urform der Philosophie. Für Broch besteht die Philosophie in einem Widerspruch. Auf der einen Seite kämpft sie „gegen die Überreste der mythischen Gedankenwelt“, auf der anderen versucht sie, „die mythische Struktur in erneuter Form wieder herzustellen“, vielleicht sogar im Sinne des Systemprogramms als eine „Mythologie der Vernunft“. Auch bei der Kunst lässt sich eine dergestalt widerspruchsvolle Entwicklung beobachten: Mythos wird zur Religion, das heißt zu einem religiösen Weltbild, in dem wie für die Romantiker ein einheitliches Wertsystem und ein einheitlicher Stil in der Kunst herrschen. Doch gerade dieses „geschlossene System“ muß Broch zufolge aufgebrochen werden, damit ein neues System, neue Formen und ein neuer Stil geschaffen werden können (KW 9/2, 221 ff.). In dem Auflösungsprozess, der nach Broch vom 18. bis zum 20. Jahrhundert währte, „verlor die westliche Gedankenstruktur ihren christlichen Mittelpunkt“ (KW 9/2, 222). Diese 150 Jahre des Zerfalls führten zu einer spezifischen Einstellung, die Broch sicher etwas einseitig als Romantik definiert. Wenn er den wesentlichen Grundzug der Romantik und ihre Weltanschauung allerdings in der Aufgabe sieht, die „Welttotalität“ neu herzustellen, so trifft das á tergo durchaus auf viele seiner theoretischen und literarischen Versuche zu. Er wertet allerdings die Romantik insofern ab, als sie sich nicht mehr zum „großen Stil“ aufzuschwingen vermag, da ihr ein allgemeingültiges Weltbild fehle. Das herrschende Defizit lässt den romantischen Künstler in die Sehnsucht „nach der religiösen Einheitlichkeit vergangener  

53 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 443 f.  

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Zeiten“ flüchten. Deswegen suchte er auch die Rückkehr zur katholischen Kirche, eine Kompensationsstrategie, die jedoch eine Reihe von Romantikern nicht geteilt hat. Auf dem Weg von der Romantik zur Abstraktheit ging Tolstoj nach Broch über die künstlerische Erfassung des Mythos hinaus und entsagte schließlich der Kunst, „um seine eigene ethische Welttotalität“ zu errichten und seine „abstrakte Theogonie“ zu entwickeln. Broch knüpft hier an Gedanken Bespaloffs an, bemerkt allerdings an einer Stelle, dass es im gewissen Sinne blasphemisch sei, „unser Zeitalter mit jenem der homerischen Epen“ vergleichen zu wollen (KW 9/2, 226 f.). Wie er schon in seiner Werttheorie ausführte, sieht Broch den Grund des „völligen Wertzerfalls“ in unserer Welt ähnlich wie die Romantiker in dem „Verlust eines religiösen Zentralwertes“. Nichtsdestoweniger beschleicht ihn bei dieser Entwicklung ein gesteigertes „Unbehagen an der Romantik, da diese in ihrem Suchen nach Gültigkeit innerhalb einer empirischen Welt sich nur mit den empirischen Wissenschaften verbünden konnte“ (KW 9/2, 227). Der behauptete Anteil der Romantik an einer weiteren Zersplitterung der „Wissenszweige“ und an der Anarchie der künstlerischen Methoden vom Naturalismus zum Expressionismus mag durch Brochs Ambivalenz gegenüber der Romantik oder eine einseitige Kenntnis ihrer Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten motiviert gewesen sein. Den Niedergang der modernen Kunst sieht er allerdings in der Unfähigkeit, die „Totalität der Welt“ darzustellen, ein Defizit, dem gerade die Frühromantik mit der „divinatorischen Kraft“ und einer „neuen Mythologie“ zu begegnen suchte, wie sie beispielsweise Schlegel in seiner „Rede über die Mythologie“ skizziert hat.54 Hermann Broch findet „das Prägezeichen unserer Epoche“ in dem allen Künsten gemeinsamen Abstraktionismus und Altersstil. Er stellt aus dieser Perspektive eine Verwandtschaft von so verschiedenen Künstlern wie Picasso, Strawinskij und Joyce fest. Dieser Abstraktionsmus ist nach Broch jedoch nicht mehr in der Lage, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, wie es den Romantikern noch vorschwebte. Allerdings wurde für ihn der Altersstil in der Literatur durch die „Rückkehr zum Mythos“ bestimmt, wie er ja bereits bei Thomas Mann und vor allem James Joyce beobachtet hatte (KW 9/2, 197 f.), aber es handelte sich in diesen Fällen eben nur um eine „Rückkehr zum Mythos in seinen alten Formen (selbst wenn diese so modernisiert werden wie bei Joyce)“ und keineswegs um eine Darstellung des neuen Mythos (KW 9/2, 229). Für Broch stellen die Schriften Franz Kafkas insofern eine Ausnahme dar, als hier „eine erste Verkörperung dieses neuen Mythos bereits verwirklicht wurde“. Wäre demnach Kafka als später Romantiker zu verstehen, dem die Erfüllung des „Systemprogramms“ gelungen ist? Sicher nicht. Während Broch noch bei Joyce „neo-romantische Züge“ wahrnimmt, treffe das gerade nicht  



54 Schlegel, Kritische Schriften, S. 503.

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für Kafka zu. Er findet hier eine seiner zentralen Ideen verwirklicht, nämlich die Vergegenwärtigung der „Prophetie des Mythos“, die „ethischen Charakter trägt“ (KW 9/2, 230). Bei Kafka stellt Broch einen dergestalt radikal antiromantischen Zug fest, dass „private Probleme […] ebenso abstoßend geworden [sind] wie gemeine Verbrechen“. Alle romantischen Zusammenhänge, seien es die „zwischen dem individuellen Einzelfall und dem Weltganzen, zwischen dem zufällig vereinzelten Umstand und dem Allgemeinbegriff“, werden hier also radikal in Frage gestellt und verurteilt. Kafka übersteigt mit seiner „untheoretischen Abstraktheit, die ihm.[…] durch ethische Erfordernisse auferlegt wurde“, sogar die Grenze der Literatur, wie Broch kritisch gegen den französischen Existentialismus bemerkt. Erstaunlich ist jedoch, wie Broch nach der Betonung der antiromantischen Haltung Kafkas an diesem Punkt nun plötzlich wieder romantische Begriffe wie Kosmogonie und Theogonie bemüht, um Kafkas Rückzug aus der Literatur und die Anordnung, sein Werk zu vernichten, zu erklären (KW 9/2, 231). Broch unterlegt Kafka eindeutig eigene Gedanken, wenn er pointiert formuliert: „Entweder vermag Dichtung zum Mythos vorzustoßen, oder sie hat ihren Bankrott zu erklären“. Scheitert die romantische oder transzendentalphilosophische Utopie von einer Rückkehr zum Mythos oder der Entwurf eines neuen Mythos, so scheint es keinen anderen Ausweg zu geben als den Abschied von der Literatur, wie das Broch ja auch im „Tod des Vergil“ thematisiert hat. Bei aller Kritik an der Romantik scheinen ihn aber die Ideen der Frühromantik nicht verlassen zu haben. Rückt er Kafka zunächst entschieden von der Romantik ab (KW 9/2, 230), so nähert er ihn aber dann gleich wieder an romantische Grundbegriffe wie Kosmogonie und Theogonie an (KW 9/2, 231). Die Negation scheint zu einer Negation der Negation, also zu einer neuen Affirmation hinzuführen. Man könnte auch sagen, die Argumentation bewegt sich im Kreise. Es wäre in der Tat die Frage zu stellen, ob „in allen Sparten der Kunst unserer Zeit“ wirklich ein „Vorentwurf jenes neuen Mythos“ aufscheint, „der zukünftig im religiösen Mittelpunkt des Wertsystems der Menschheit zu stehen kommen mag“, wie Broch auffallend vorsichtig formuliert. Seine Auseinandersetzung mit der Romantik, die in kreativen Aneignungen und Verwandlungen besteht, wurde über die Arbeit am Mythos zur intensiven Suchbewegung und Selbstverständigung eines Romanciers der Moderne in dürftiger Zeit. Man muss wahrscheinlich die „Arbeit am Mythos schon im Rücken haben“, wie Hans Blumenberg nicht ganz ohne Ironie bemerkt, „um der Arbeit am Mythos nachzugehen und sie als das Aufregende der Anstrengung an einem Material wahrzunehmen, dessen Härte und Widerstandskraft unabsehbare Ursprünge haben muß“.55 Was freilich die Begründung oder Fiktion eines neuen oder letzten

55 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, S. 294 f.  

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Mythos betrifft, so spricht Blumenberg die Vermutung aus, „daß ein solcher letzter Mythos der Grundmythos des deutschen Idealismus gewesen sein könnte“. Sybillinisch hätte darauf Broch mit den Verfassern der „Dialektik der Aufklärung“ antworten können: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression“.56 Doch positiver könnte man Hermann Brochs Arbeit am Mythos mit Jean-Luc Nancy auch dergestalt beschreiben: Der Schriftsteller ist wohl immer in gewisser Weise der Erzähler des Mythos, dessen Erzählstimme, dessen Erfinder und immer zugleich auch der Held seines eigenen Mythos. Oder anders gesagt ist die Schrift selber oder die Literatur ihre eigene Erzählung, sie wird so gestaltet, daß sich auch hier die mythische Szene wiederherstellt.57

56 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 42. 57 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 146.

Alice Stašková, Berlin

Zu Hermann Brochs Begriff der Romantik im Kontext seiner Zeit Brochs Verwendung der Wörter „Romantik“ oder „romantisch“ ist nicht selten pejorativ gefärbt, jedenfalls aber ambivalent. Das ist angesichts der Geschichte des Romantik-Begriffs seit dem Anfang und dann insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht verwunderlich. Noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts, im 1992 erschienenen Band des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“, stellte Ernst Behler fest: „Doch lebt die vehemente, polemische Beziehung zur Romantik bis in die heutige Zeit fort und zeigt damit die seit dem ersten Auftreten des Wortes ‚romantisch‘ bemerkbare polemische Bedeutungskomponente.“1 Behler belegt dies mit Zitaten aus Werken von Carl Schmitt, Alfred Bäumler, Georg Lukács oder Jürgen Habermas. Dabei lassen sich durchaus Parallelen zwischen dem Denken Brochs und der Kunstauffassung der Romantiker rekonstruieren, etwa mit Blick auf Brochs Begriff des Kunstwerks. Broch fordert, das Kunstwerk solle ein Ganzes sein, mithin eine „Totalität“ erschaffen und vermitteln, zugleich aber ins Reich der Transzendenz hinausweisen. Das kann als ein produktionsästhetisches Pendant zu den rezeptionsästhetischen Regeln angesehen werden, wie sie Friedrich Schleiermacher der Hermeneutik vorschreibt, – zumal auch Broch auf eine ‚mitschöpferische Tätigkeit des Lesers‘ verweist.2 Eine andere Parallele kann zwischen Brochs und Schleiermachers Stil-Begriff hergestellt werden. Broch baut den Stil zu einer umfassenden Kategorie aus; dieser wird bei ihm zu einer sichtbaren Chiffre des unerreichbar Ewigen. Bei Schleiermacher ist die Erfassung des „Stils“ eines

1 Ernst Behler, Art. „Romantik, das Romantische“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter u.a. (Hrsg.), Bd. 8, Darmstadt 1992, S. 1076–1086, hier S. 1082. 2 Vgl. mit Blick auf das Prinzip des Epos im Roman und zugleich auf das „Romantische“ in typologischer Bedeutung hinweisend Brochs Darlegung: „[I]mmer ist es die Identifikation mit jenem Sieger, die den Dichter wie den Leser im wahren Sinne des Wortes in Spannung und in Atem hält, die den einen zum Schaffen, den andern zum Mitschaffen anregt und die in der Dichtung eben jene Welt entstehen läßt, die nicht die ist, wie sie wirklich ist, sondern die, wie sie gewünscht oder gefürchtet wird. Wenn man will, der Name sagt es, die romantische Welt des Romans, eine Siegerwelt, die von den spanischen Anfängen dieser Kunstgattung bis zum modernen Detektivroman in unendlichen Variationen immer wieder sich erneuert.“ (KW 9/2, 99 f., Hervorhebung im Text). Hermann Brochs Werke werden zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat.  

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Werkes oder Autors das Ziel der Interpretation, das allerdings nie erreicht, bloß in einer „Annäherung“3 angestrebt werden kann. Brochs Kunstwerk-Begriff, der demjenigen der Romantik durchaus verwandt ist, kollidiert also mit seiner eigenen Einschätzung der Romantik. Einem solchen Konflikt nachzugehen, verlangte jedoch eine gründliche methodische Rechtfertigung, denn Brochs Einschätzung der Romantik bildet im Kontext seiner Zeit keineswegs eine Ausnahme. Der angedeutete Kunstwerk-Begriff wurde ja kaum mit der romantischen Theorie in Zusammenhang gebracht und Friedrich Schleiermacher vielmehr mit der Auffassung der Religion als Gefühl assoziiert oder im Sinne der Rezeption und Interpretation durch Wilhelm Dilthey betrachtet. Auch trägt die Brochsche Perspektive in ihrer Doppelwertigkeit den für die Debatten seiner Zeit charakteristischen Ambivalenzen Rechnung; einer Zeit, die durch eine spezifische und problematische Pluralität von Meinungen und „Weltanschauungen“ geprägt war.4 Daher wird im Folgenden einer Konfrontation von Brochs Romantikauffassung mit derjenigen der historischen Romantiker die Kontextualisierung im Rahmen von Brochs Zeit vorgezogen. In der genannten Spannung zwischen der Bewertung der Romantik und verschiedenen eigenen, doch romantikaffinen Konzepten und Konzeptionen ist Broch wohl mit Nietzsche vergleichbar; man denke zunächst an dessen Kritik des leeren Pathos der Romantik oder etwa an seine auf die „romantischen Musiker“ bezogene Bemerkung aus dem Nachlaß: „Das Wesentliche ist die Art von neuer Begierde, ein Nachmachen-wollen, Nachleben-wollen, die Verkleidung, die Verstellung der Seele… Die romantische Kunst ist nur ein Nothbehelf für eine manquierte ‚Realität‘“.5 Plausibel wird eine Konfrontation der Haltung Brochs mit derjenigen Nietzsches auch dadurch, dass die erste starke Welle der Wirkung Nietzsches zeitlich mit der Wiederentdeckung der historischen Romantik zusammenfiel.6 Bei Nietzsche ist, so

3 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, Manfred Frank (Hrsg.), Frankfurt am Main 71999, S. 168: „Das ganze Ziel [der psychologischen Auslegung] ist zu bezeichnen als vollkommenes Verstehen des Stils. […] Jenes Ziel ist nur durch Annäherung zu erreichen.“ sowie S. 172: „Von keinem Stil läßt sich ein B [egriff] geben“. 4 Zu dieser Voraussetzung vgl. Friedrich Vollhardt, „Hermann Broch und der religiöse Diskurs in den Kulturzeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos)“, in: Paul Michael Lützeler/Christine Maillard (Hrsg.), Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks, (Recherches germaniques, hors série no. 5, 2008), S. 36–52, hier S. 41 f. sowie die weiterführende Literatur ebd., S. 42, Anm. 17 und 18. 5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Berlin/New York 1999, Bd. 13, S. 494. 6 Vgl. Matthias Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/ New York 1989, S. 233.  

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Claus Zittel, eine „entschiedene […] Gegnerschaft“ gegenüber der Romantik festzustellen.7 Nietzsches Vorbehalte entsprechen dabei durchaus den gegenromantischen Topoi, denen man in der Literaturgeschichtsschreibung seit Gervinus bis hin zu seiner Zeit begegnet. Matthias Politycki identifiziert insgesamt zwölf von Nietzsche übernommene und von ihm auf verschiedene Weise umgewandelte oder angewandte Motive dieser Kritik an der Romantik: Formlosigkeit, Eklektizismus, L’art pour l’art, Unsittlichkeit und Prinzipienlosigkeit, Unehrlichkeit, Phantasterei, mithin „Wirklichkeitsschwäche“, Unmännlichkeit, Krankhaftigkeit, Absenz des Instinkts, inhaltliche wie formale Zerrissenheit, schließlich Verfall und Niedergang.8 Mehreren dieser Motive begegnen wir auch bei Broch. Darüber hinaus kritisiert Nietzsche, so Politycki, die romantische Rückwendung zur Vergangenheit als eine „Vorstufe des Nihilismus“, ferner die Orientierung am Volk, dem Nietzsche das Genie entgegensetzt, schließlich die christliche Tendenz der Romantik. Bei Broch ließe sich ein ähnliches Reservoir an Einwänden feststellen. Aber auch die Art und Weise, wie Nietzsche die gängige Bewertung konkreter Phänomene (im Falle seiner literarhistorischen Inspirationsquellen eben der literarischen) verallgemeinert, ist mit Broch durchaus vergleichbar, und zwar darin, dass auch Broch die (z.T. überlieferten) Beobachtungen und Beurteilungen des konkreten historischen Materials typologisch anwendet.9 Allerdings kann bei Nietzsche auch eine komplexere Beziehung zur Romantik festgestellt werden, zum Beispiel hinsichtlich des Begriffs der ‚Reflexion‘, wie Ernst Behler gezeigt hat. Diese und weitere Untersuchungen ergaben den Befund, dass Nietzsches „‚Kampf gegen die Romantik‘“ als „eine gegen die eigene Inklination gewonnene Position“ erscheint. „Das Ideal einer dionysischen Klassik“, so Behler weiter, „bringt Nietzsche gleichzeitig in eine unmittelbare geistige Verwandtschaft mit den Frühromantikern, die er selbst kaum kannte, während er von der Romantik im allgemeinen nur klischeehafte Vorstellungen hatte.“10 Ähnliches gilt zum Teil offenbar auch für Hermann Broch.11 Wenn es nun im Folgenden darum geht, die Ambivalenz von Brochs Romantik-Begriff wenigstens ansatzweise historisch zu kontextualisieren, so folgt dies

7 Claus Zittel, Art. „Romantik“, in: Nietzsche-Handbuch, Henning Ottmann (Hrsg.), Stuttgart 2000, S. 315–318, hier S. 316. 8 Vgl. Politycki, Umwertung aller Werte?, S. 234–240, das folgende Zitat S. 241. 9 Vgl. ebd., S. 234. 10 Ernst Behler, „Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche“ [1973], in: Ders., Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988, S. 116–141, hier S. 139. Vgl. auch Ernst Behler, „Nietzsche und die Frühromantische Schule“, in: Nietzsche-Studien, 7/1978, S. 59–96, insbes. S. 64. 11 Zu den Parallelen und Analogien von Brochs Kunstauffassungen mit denjenigen der Romantik vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Walter Hinderer.

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der Überzeugung, dass eine solche Kontextualisierung für das Verstehen von Brochs Begriffen und für eine adäquate Einschätzung seiner Leistung bei deren Herausbildung von grundlegender Bedeutung ist. Ein Argument dafür bietet Brochs Konzeptualisierung des Kitsches. In der Rezeption, zum Teil auch seitens der Forschung, wird sein Kitsch-Begriff als bemerkenswert eigenständig und komplex gewürdigt, auch erfreut er sich als eine der wenigen unter den historischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen bis heute einer beachtlichen Wirkung. Besonders bemerkenswert erscheint die Leistung von Brochs KitschTheorie aber darin, dass kaum eines der Motive dieser Theorie, die als charakteristisch, gar originell für Broch erscheinen oder wahrgenommen werden, von ihm selbst stammt. Beinahe allen diesen Motiven begegnet man (zum Teil in anderer Verwendung), bis in den Wortlaut hinein in den Diskussionen zum Kitsch seit etwa 1912 – sei es die Rede von der kriminellen Tätigkeit des Kitschproduzenten (so ähnlich bei Pazaurek bereits 1912) oder von der Notwendigkeit einer gewissen Kontaminierung des Kunstwerks durch den Kitsch (durch einen „Tropfen Kitsch“, wie es bei Broch heißt [KW 9/2, 150]), die etwa Carl Christian Bry in einem Artikel von 1925 in „Hochland“ postuliert hatte, oder gar die Rede vom Kitsch als Antichrist im System der Kunst (zu der sich Entsprechendes aus dem Jahre 1925 bei Fritz Karpfen finden läßt),12 um hier nur einzelne Beispiele aus der damaligen Debatte zu nennen. Im Folgenden geht es allerdings nicht um Brochs Kitsch-Begriff.13 Vielmehr sollen konkrete Motive seines Romantik-Begriffs anhand mehrerer Beispiele aus den 20er Jahren beleuchtet werden. Nebst einigen Monographien handelt es sich insbesondere um die Beiträge zur Romantik in der Zeitschrift „Hochland“.14 Die relativ enge Auswahl der Vergleichstexte ermöglicht es, zwei Tendenzen der

12 Vgl. Gustav E. Pazaurek, Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart/Berlin 1912; Carl Christian Bry, „Der Kitsch“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 1924/25, H. 7, S. 399–411 und Fritz Karpfen, Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Hamburg 1925 („Kitsch als Antichrist dieser Religion [der Kunst]“, S. 64). 13 Eine Kontextualisierung von Brochs Kitsch-Begriff mitsamt einer Sichtung von dessen Nachwirkungen ist Gegenstand einer umfassenderen Studie in Arbeit. Teilergebnisse habe ich in einem Vortrag anlässlich des Symposiums „Hermann Broch und das Geld“ im Literaturhaus Wien, 4.– 5.11.2011 präsentiert. Vgl. auch einige Hinweise in meinem Artikel „Hermann Broch zu Kunst und Kultur“ in: Broch-Handbuch, Michael Kessler/Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Berlin/New York 2014 (Druck in Vorbereitung). 14 Zu Brochs Beziehungen zu „Hochland“ vgl. Friedrich Vollhardt, „Hermann Broch und der religiöse Diskurs“. Zu „Hochland“ vgl. ferner Vollhardt, „Hochland-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des Kulturkatholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hrsg.), Moderne und Antimoderne. Renouveau Catholique und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2008, S. 67–100.

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Romantik-Einschätzung in Brochs Zeit aufzuzeigen, die gerade die Ambivalenz seines eigenen Romantik-Begriffs zu erklären helfen. In einem ersten Durchgang sollen nun einige Grundzüge von Brochs Romantik-Auffassung skizziert und im zweiten dann Parallelen hierzu in den Diskussionen zwischen 1904 und 1928 aufgewiesen werden. Es werden – bis auf einzelne Seitenblicke – ausschließlich Brochs theoretische und kritische Schriften berücksichtigt; die Verwendung von Begriffen und Konzepten in der Belletristik, auch bei Broch, verfolgt ja doch noch andere Ziele als jene der non-fiktionalen Prosa.15 Insgesamt geht es darum, eine solche Konstellation im Rahmen der damaligen Debatte aufzuzeigen, die es erlaubt, Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Brochschen Romantik-Auffassung zu sehen. Eine These oder zunächst Vermutung, die sich nach der Sichtung des Materials abzeichnet, sei den folgenden Ausführungen vorangeschickt: Brochs Einschätzung der Romantik ist dahingehend positiv, dass er die Notwendigkeit einer religiösen Erneuerung in Analogie zu denjenigen Auffassungen beschwört, denen wir im „Hochland“ in den Diskussionen um die sogenannte Münchner Romantik begegnen, sowie auch in Analogie zu einigen anderen Schriften, die auf eine Aufwertung der historischen Romantik zielten. Zugleich bestreitet Broch jedoch, und darin liegt der Grund für die Ambivalenz seiner Romantikeinschätzung, dass diese Erneuerung und Vermittlung durch die Romantik wie auch immer eingelöst worden ist oder eingelöst werden kann. Eine Bestätigung sowie einige Argumente dafür, dass die Romantik es eben nicht vermag, jene religiöse Erneuerung zu vollziehen und somit die Krise der Vermittlung zu überwinden, konnte Broch erwartungsgemäß in der „Politischen Romantik“ von Carl Schmitt finden, jenem als „antiromantisch“ (Julius Petersen) bewerteten Buch, dessen Romantik-Auffassung aber durchaus auch ambivalent ist oder als solches wahrgenommen wurde.16

I Zu Brochs Romantik-Begriff Abgesehen vom gelegentlichen fast schon umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „romantisch“ in Verbindungen wie „romantische Liebe“ oder „romanti15 Zu Brochs Romantik-Konzept in der „Schlafwandler“-Trilogie vgl. den Beitrag von Paul Michael Lützeler in diesem Band. 16 Zur Rezeption von Schmitts „Politischer Romantik“ unter den Literaturwissenschaftlern der Zeit vgl. Ralf Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn/München/Wien/Zürich 1999, S. 75 f.  

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scher Freundschaftskult“17 verwendet Broch den Begriff „Romantik“ in seinen theoretischen Schriften überwiegend epochal. Er bezeichnet damit verschiedene Phänomene seit der deutschen Frühromantik, etwa mit Blick auf Novalis, bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts.18 Dies belegt z.B. der Kommentar zu den „Schlafwandlern“ von 1929: Die Darstellung des dynamischen Zusammenhangs der Rationalität und des Irrationalen in der Trilogie werde „in drei zeitlichen und gesellschaftlichen Etappen, 1888, 1903, 1918 [gezeigt], also in jenen Perioden, in denen der Übergang von der ausklingenden Romantik des späten 19. Jahrhunderts zur sogenannten Sachlichkeit der Nachkriegsepoche sich vollzieht“ (KW 1, 719). Ausführlicher setzt sich Broch mit der Romantik in den Studien zum Roman und zum Kitsch aus den Jahren 1933 und 1950 sowie im Aufsatz „Mythos und Altersstil“ von 1947 auseinander, auch verwendet er in den Hofmannsthal-Studien mehrere Motive seines Romantik-Bildes. In dieser epochalen Bedeutung ist sein Begriff anthropologisch ausgerichtet und bezeichnet zugleich eine Haltung, ein Verhalten, eine Lebenseinstellung. So etwa schreibt Broch von „jener Geisteshaltung, die wir als die romantische bezeichnen“ (KW 9/2, 162), von einer „ganz bestimmte[n] Einstellung […], die man als Romantik bezeichnet“ und die von den „hundertfünfzig Jahre[n] des Zerfalls im Menschen […] bewirkt wurde“ (KW 9/2, 222) oder von der für den romantischen Künstler „typische[n] Haltung der Sehnsucht“ (KW 9/2, 223). Die anthropologische Ausrichtung des Begriffs sowie dessen Konkretisierung im Phänomen des Verhaltens bewirkt allerdings, dass der Begriff bei ihm eine universelle Geltung mitbeansprucht und somit die epochale Bedeutung transzendiert (eine im Übrigen für Brochs Umgang mit Begriffen charakteristische Dynamik).19 Seltener, im Bezug auf den Roman, datiert Broch dessen „romantische Welt“ seit „den spanischen Anfängen dieser Gattung.“ (KW 9/2, 100). Darin nähert er

17 Vgl. zu diesen Motiven etwa die Arbeiten von Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und der Romantik, Halle/Saale 1922 und Die deutsche Romantik, Bielefeld 1924. 18 Vgl. z.B. die Ausführungen zur „Romantik des 19. Jahrhunderts“ in KW 9/2, 158 ff. sowie zu der „große[n] Kunst der Romantik“ mitsamt einer Auflistung von Autoren, darunter auch Novalis, in KW 9/2, 159. 19 Diese Präzisierung meiner Einschätzung von Brochs Romantikbegriff als „epochal“ verdanke ich der Diskussion mit Paul Michael Lützeler im Rahmen der ausgetragenen Tagung. Im Sinne der transzendierenden Implikation der anthropologischen Ausrichtung von Brochs Romantikbegriff kollidiert meine Einschätzung als „epochal“ nicht mit der Bestimmung durch Paul Michael Lützeler als „transepochal“. Man könnte noch hinzufügen, dass die Brochsche Verwendung der „Romantik“ in der „Schlafwandler“-Trilogie eben auch eine Anwendung ist und somit, im Einklang mit der Intention des Werkes (und des Autors) eine die dargestellte Epoche übergreifende, „transepochale“ Geltung beansprucht und mithin auch einen typologischen Zug besitzt.  

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sich den typologischen Bestimmungen des Begriffs, die diesen in verschiedenen binären Oppositionen verankern (etwa klassisch-romantisch, romantisch-realistisch o.ä.). Die historische Ausdehnung der Bezeichnung „romantisch“ ist hier wohl auch im Rahmen von Brochs Geschichtsbild zu sehen, demgemäß sich in der Reformation und Renaissance der in der Krise anfangs des 20. Jahrhunderts kulminierende Verfall anbahnt. Somit könnte dieser Verwendung bereits eine pejorative Konnotation beigemessen werden. Die Komplexität der Romantik-Auffassung Brochs aber wird ersichtlich, wenn man seine Behauptung von der Notwendigkeit einer ‚romantischen Tendenz‘ ernst nimmt und seine Charakteristik der Epoche im damaligen zeitgenössischen Kontext betrachtet. Die „Romantik“ bezeichnet Broch als notwendig. So spricht er etwa 1933 von jener „durchaus berechtigten Romantik, welche die gewesenen Werte für immer festhalten will und die in der Kontinuität des Geschichtsablaufs einen Spiegel des Ewigen sieht“; auch nennt er diese „Einstellung des konservativen Geistes“ „höchst berechtigt […] und prinzipiell unwandelbar […]“ (KW 9/2, 151). Jene für den romantischen Künstler charakteristische „Haltung der Sehnsucht“ ist für ihn eine „nach der religiösen Einheitlichkeit vergangener Zeiten“ (KW 9/2, 223): Es ist diese bindende Notwendigkeit, die Welttotalität für jeden Einzelfall und individuell für jeden Einzelmenschen neu zu erstellen, die als der wesentliche Grundzug der Romantik gelten kann, und es versteht sich, daß diese romantische Weltanschauung niemals zur Wirklichkeit hätte gelangen können, ohne die Vorbereitung des Protestantismus, laut dessen Glaubenssätzen die menschliche Seele in unmittelbarer Verbindung mit Gott und dessen Schöpfung steht. (KW 9/2, 223)

Broch denkt hier die Romantik als das notwendige Phänomen einer geschichtlichen Krise. Dabei versucht er offenbar, im Rahmen seiner eigenen Geschichtsinterpretation die Ursachen für jene Situation der historischen Romantiker aufzudecken, die später etwa Arthur Henkel als ein Leiden „an der Selbstverantwortlichkeit, welche der Aufklärung als die Würde der menschlichen Bestimmung erschienen war“, identifizierte. „Der romantischen Generation“, so Henkel, „wurde bei den radikalen Konsequenzen des autonomen Denkens unheimlich“. Daher ist für ihn die Romantik „auch eine Krise der modernen, auf Descartes fußenden IchPhilosophie.“20 Der Ausdruck „notwendig“ besitzt also in Brochs Ausführungen zur Romantik eine doppelte Bedeutung. Erstens ist damit eine historische Notwendigkeit gemeint: die Romantik ist eines der Phänomene des Wertezerfalls als einer

20 Arthur Henkel, „Was ist eigentlich romantisch? Ein Vortrag“ [1965], in: Arthur Henkel, Der Zeiten Bildersaal. Studien und Vorträge, Stuttgart 1983, S. 93–106.

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Krise der Vermittlung. Zweitens ist diese Notwendigkeit eine anthropologische, denn (auch) die Romantik ist für Broch Ausdruck des Strebens nach Transzendenz. Mit Blick auf die Kunst der Romantik – gemeint ist dabei das 19. Jahrhundert insgesamt – spricht Broch wörtlich von einem „Riß“: „Ein scharfer Riß scheint durch die Kunstproduktion der Epoche zu gehen und sie schier übergangslos in zwei Hauptgruppen, einerseits in Werke von geradezu kosmischen Aspirationen, andererseits in solche des Kitsches zu spalten“ (KW 9/2, 160). Damit greift er einen Topos der Romantikkritik auf. So wird etwa, um nur ein Beispiel zu geben, in einem Beitrag im „Hochland“ von 1921 mit dem Titel „Dramaturgie, Romantik und christliches Drama“ die „Absage wider die Romantik“ als Haltung „wider jeden Riß, Weltgram, Zweifel, wider jene Nur-Sehnsucht, Unerfüllung, Problematik, wider alle, die im Ungenügen an der geründeten Erde ins unwirklich Maßlose stürmen und irren“ charakterisiert.21 Die Art und Weise, wie Broch der gängigen Metapher vom „Riß“ in seinem Konzept eine engere und dabei sehr genaue Bedeutung zuordnet, ist für seine Begriffsbildung durchaus symptomatisch (ähnlich geht er bei der Wiederverwendung gängiger Charakteristika des Kitsches in seiner Theorie vor). Den „Riß“ bezieht er zunächst konkret auf die qualitative Kluft zwischen großen romantischen Kunstwerken und der anspruchslosen Produktion des 19. Jahrhunderts. Das erlaubt ihm in der Folge zu behaupten, dass es der romantischen Epoche an „Mittelwerten“ (KW 9/2, 160) ermangele und sie folglich keinen einheitlichen Stil hervorbringen konnte. Beides sind wesentliche Punkte von Brochs Kritik an der Romantik. Mit Blick auf den zweiten Kritikpunkt, demzufolge die Romantik keinen „großen Stil“ aufweise, ist daran zu erinnern, dass Stil für Broch eine besonders wichtige und umfassende Kategorie ist. Er steht nach seiner Auffassung für eine im Bereich des Sichtbaren realisierte Einheit. Der Stil verweist somit auf das transzendente Absolute (in Brochs Terminologie die „platonische Idee“) und seine Funktion besteht darin, verschiedene Phänomene miteinander und auf diesen prinzipiell unerreichbaren Wert (telos) hin zu vermitteln. Der erste der beiden Kritikpunkte, demzufolge die Romantik keine „Mittelwerte“ kenne, impliziert das Nichtvorhandensein einer Beziehung zwischen der

21 Joseph Sprengler, „Dramaturgie, Romantik und christliches Drama“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 18/1920–21, Bd. 2, S. 412–416, hier S. 414. Es handelt sich hier um eine Charakteristik der Bemühungen Hebbels. In der Folge setzt sich Sprengler kurz mit der Diskussion „um das Klassische und romantische Dichtungsideal“ zwischen Muth und Flaskamp (anlässlich deren Publikationen „Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis“ bzw. „Die deutsche Romantik“); es sei, so Sprengler, „[f]ür die christlichpositive, Himmel und Erde umschlingende Romantik […] wahrlich nie bezwingender geworben worden als von Flaskamp“ (ebd., S. 415).

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hohen und der trivialen Kunst der Epoche. Die Formulierung „Fehlen der Mittelwerte“ (KW 9/2, 160) indiziert eine verfehlte Vermittlung. An der Absenz der Mittelwerte zeigt sich für ihn konsequenterweise die Uneinheitlichkeit des Stils, also der Nicht-Stil. Deswegen wird Broch, wenn er seine Beobachtungen kulturkritisch anwendet, das 19. Jahrhundert statt der Romantik dem Kitsch zuordnen.22 Interessanterweise geht er dabei ähnlich vor, wie im Jahre 1935 Norbert Elias, der die Epoche seit der Romantik ebenfalls als eine des Un-Stils zum „Kitschzeitalter“ ernannte.23 Der wesentliche Unterschied zu Broch besteht darin, dass sich Elias entscheidet, die Disparatheit der Stile selbst als einen Stil – den „Kitschstil“ – auszurufen, dies im Verzicht auf jegliche Wertung. Die Dualismen Brochs dagegen können in keiner derart höheren – und abschließenden – Synthese aufgehoben werden, und zwar wegen seiner Forderung nach der Vermittlung sämtlicher Phänomene zum Absoluten. Die von Broch genannten Charakteristika der romantischen Epoche – Absenz des Stils und der Mittelwerte – erklären nun, warum für ihn die Romantik keine Lösung der Krise herbeizuführen vermag. Die Kulturkrise ist ja bei Broch immer schon eine Krise der Vermittlung und der Religion. Die Romantik ist für ihn zwar notwendig als eine Reaktion auf die Auflösung der Beziehung zum Absoluten. Doch den – so der Ausdruck Brochs – „Zusammenschluß der Werte“, also eine erneute Vermittlung zum Absoluten, die religio, kann sie nicht bewirken. Denn sie ist nicht nur eine Reaktion auf den Prozess der Auflösung, sondern zugleich auch dessen Konsequenz und Symptom. Das romantische Verhalten kann die Vermittlung zum Absoluten nur als eine zum eigenen Subjekt realisieren – „Systemverendlichung“ (KW 9/2, 169) lautet Brochs Ausdruck für diese Tendenz.24 22 Vgl.: „Es ist also nicht unberechtigt, das 19. Jahrhundert als das des Kitsches und nicht als das der Romantik aufzufassen“ (KW 9/2, 161). 23 Vgl. Norbert Elias, „Kitschstil und Kitschzeitalter“ [1935], in: Gesammelte Schriften, Reinhart Blomert u.a. (Hrsg.), Bd. 1, Frühschriften. Bearb. von Reinhart Blomert, Frankfurt am Main 2002, S. 148–163. [zuerst in: Die Sammlung. Literarische Monatsschrift unter dem Patronat von André Gide, Aldous Huxley, Heinrich Mann, Klaus Mann (Hrsg.), 2, 1935, S. 252–263]. 24 Die „romantische Forderung“ bestünde nach Broch darin, dass sie „die platonische Idee der Kunst […], die Schönheit zum unmittelbaren, handgreiflichen Ziel eines jeden Kunstwerkes setzen [will]“ (KW 9/2, 168). Die ‚Pathetisierung‘ des Endlichen ins Unendliche, die Broch der Romantik und dann dem Kitsch kritisch attestiert (vgl. KW 9/2, 145, ähnlich 153 und die Folge dieser Tendenz in einer symmetrischen Verkehrung des Unendlichen [des „unendliche[n] Ziel[es] der Liebe […]“] „ins Endliche“, KW 9/2, 149) erweist ihn allerdings als einen doch auch genauen Leser von Novalis (vgl. Novalis: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“). Allerdings sind diese Forderungen nach Broch keineswegs erstrebenswert. Darin zeigt sich auf eine besonders evidente Weise, dass die Divergenz zwischen Brochs Einschätzung der Romantik und der Romantik selbst nicht unbedingt

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II Zum historischen Kontext von Brochs Einschätzung der Romantik Die Romantik erfährt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts insbesondere in der Literaturwissenschaft eine Aufwertung als literarische und künstlerische Bewegung.25 Brochs ambivalente Einschätzung ist wohl nur bedingt innerhalb dieses Kontextes zu sehen. Dennoch seien als Beispiele zwei Monographien genannt, deren Schwerpunkte mit Brochs Interessen übereinstimmen: als erste Walter Rehms Untersuchung zum „Todesgedanken in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik“ von 1928, als zweite der Versuch von Fritz Strich von 1922, im Rahmen einer Gegenübersetzung von Klassik und Romantik auch einen Stil der Romantik zu identifizieren.26 Das Interesse an einer Gegenüberstellung dieser Arbeiten mit Brochs Auffassungen liegt im Kontrast. Denn beide Autoren arbeiten konsequent mit typologischen Dichotomien. Im Vergleich dazu tritt Brochs primär geschichtsphilosophische Ausrichtung – und deren teleologische Tendenz – besonders stark hervor. Rehm verfolgt in seiner Geschichte der literarischen Darstellung des „Todesgedanken“ zwei Linien: die eine von frühgermanischer Zeit über das Hochmittelalter zur Reformation und von dort durch die Aufklärung zur Klassik, wo es Goethe dann ausspricht, Leben brauche den Tod als Hülle um zu leben. Und dann auf der anderen Seite von der Mystik zum Barock, von dort zum Irrationalismus des 18. Jahrhunderts und zur Romantik, wo dann Schlegel bekennt, nur in der Mitte des Todes entzünde sich das Leben.27

Als wesentlich für die Romantik hält Rehm die Wendung zum Katholizismus, „der in seinem Symbolwillen das Unendliche in endlich sinnlichen Formen bot“;28 (mit Blick auf seine Schilderungen der Konversion von Friedrich Schlegel ist man versucht, Joachim Pasenow als ironische literarische Verkörperung Schlegels zu lesen). Ambivalent erweist sich Rehms Blick auf die Romantik in dem Moment, an dem er auf die romantische Bejahung des Todes (diese reicht nach seiner Ein-

in einer Verkennung der Romantiker seinerseits gründet, sondern vielmehr darin, dass er ein ganz anderes Projekt verfolgt, in dessen Perspektive die romantische Lösung als eine Sackgasse erscheint. 25 Eine Untersuchung der akademischen Auseinandersetzung im Rahmen der Geistes-, Ideen-, Stil- und Problemgeschichte, zum Teil mit Blick auf deren spätere ideologische Implikationen bietet Ralf Klausnitzers Monographie Blaue Blume unterm Hakenkreuz. 26 Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich [1922], dritte, veränderte und wesentlich vermehrte Auflage, München 1928. 27 Walter Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Darmstadt 21967, S. 457. 28 Ebd., S. 401.

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schätzung bis hin zu Hofmannsthal), „eine neue, die heutige Form des Klassischen“29 folgen läßt (für ihn ist diese durch Thomas Manns „Zauberberg“ repräsentiert). Den Dualismus von Klassik und Romantik führt kurz zuvor Fritz Strich, in einer Anwendung der kunsthistorischen Typologie von Wölfflin und mit Blick auf Worringers „Abstraktion und Einfühlung“, auf eine anthropologische Polarität von „Vollendung“ und „Unendlichkeit“ zurück. Die Geschichtswissenschaft ist für Strich eine „Stilgeschichte“, denn [m]an nennt die Eigentümlichkeit des Ausdrucks einer Zeit, Nation oder Persönlichkeit, wodurch sie sich von allen anderen abgrenzt, und die Einheit ihres Ausdrucks, die sie in sich selbst zusammen bindet und zu einer Ganzheit macht, den Stil der Zeit, der Nation, der Persönlichkeit. Stil ist die einheitliche und eigentümliche Erscheinungsform der ewig menschlichen Substanz in Zeit und Raum.30

Diese auf der Idee der Einheit beruhende Definition des Stils macht es aber auch im Rahmen einer Aufwertung der Romantik unmöglich, in den Werken der nach dem Unendlichen strebenden Romantiker eine Form im höheren Sinne zu identifizieren, die einen romantischen Stil begründete.31 Diese beiden markanten Beispiele verweisen anhand zweier für Broch ebenfalls wichtiger Momente, dem Motiv des Todes sowie dem Begriff des Stils, auf die Ambivalenzen der Romantik-Auffassung zu Brochs Zeiten selbst dort, wo es zunächst um eine Aufwertung der Epoche ging. Zugleich zeigt sich im Kontrast zu diesen und ähnlichen Untersuchungen besonders deutlich, dass Broch kaum an einer Darstellung der Epoche, sondern vielmehr an der Möglichkeit einer Anwendung interessiert ist. Er wendet sich der Romantik auf der Suche nach der Lösung der von ihm diagnostizierten Krise der Gegenwart zu; es handelt sich bei dieser Vorgehensweise um eine Art Hermeneutik der applicatio. Darin steht Broch denjenigen Autoren nahe, die die Probleme der Romantik als „Grundfragen der Gegenwart“ behandelten, wie zum Beispiel Oskar Ewald, oder aber jenen, die zur Beschäftigung mit der Geschichte eine Gesinnung einforderten, wie dies etwa der Kreis um Philipp Funk im katholischen „Hochland“ tat.32

29 Ebd., S. 473. 30 Strich, Deutsche Klassik und Romantik, S. 3. 31 Vgl. Strich, Deutsche Klassik und Romantik, S. 175 f. Strich setzt in der Folge den Begriff des „reinen Ornaments“ bei Goethe der „Arabeske“ der Romantiker entgegen, S. 177. 32 Vgl. in diesem Sinne den Schluss der Besprechung Sebastian Merkles von Philipp Funks Buch, Von der Aufklärung zur Romantik [1925], in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 23/1925–26, Bd. 2, S. 483–488.  

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Der Philosoph Oskar Ewald (mit richtigem Namen Oskar Friedländer) postuliert in seiner Monographie „Die Probleme der Romantik als Grundfragen der Gegenwart“ von 1904, dass einzig die Auseinandersetzung mit der Romantik einen Ausweg aus der zeitgenössischen Krise, die er als eine Auflösung der Werte auffasst, herbeiführen kann.33 Dies zeigt Ewald an vier von ihm als „Probleme“ charakterisierten Aspekten: Staat, Kunst, Religion und Eros und verwendet dabei ein wertphilosophisches Vokabular. Die „Romantik enthüllt sich“, resümiert Ewald, „einer eindringenden Analyse eben als ein grandioser Versuch, neue Werte zu schaffen. Das Wertproblem rückt von selber aber in die Nähe des Individualismus.“34 Das Problem des Individualismus kommt nach seiner Einschätzung in der Romantik an seine äußerste Grenze. Denn hier gebe die Religion dem Menschen keinen Wert, sondern er schenkt ihn der Religion. Die Liebe adelt nicht den Menschen, sondern der Mensch die Liebe. Im Subjekt mündet also die Wertbetrachtung und vom Subjekt muß sie ihren Ausgang nehmen. Daher rührt auch der subjektivistische Charakter der Romantik, die diese Wahrheit ernst nahm und nicht hinter den täuschenden Phrasen der sozialen Ethik verhüllte.

Ewald sieht den Ausgang aus der Krise in einer Umwertung der Romantik. Die Lösung liege im – so wörtlich – „Ideal“ des „Individualismus“: „Lange freilich war die Geschichte unserer Zeit die Krankheitsgeschichte dieses Ideales. Aber wo einmal die klärende Vernunft den Widerstand der Masse überwindet, da ist die Krisis überstanden. Denn es gibt keine Erkenntnis, die nicht zugleich Genesung wäre.“35 Diese Genesung allerdings wäre für Broch keine; sie dürfte bloß ein Argument mehr liefern dafür, dass die Romantik ein besonders sinnfälliges Symptom der Krise darstellt. Die Ausführungen zur Romantik, denen wir in der katholischen Zeitschrift „Hochland“ im Kreis um Philipp Funk begegnen, stimmen dagegen mit Brochs Auffassung in mehreren Aspekten überein. Funk charakterisiert die Münchner katholische Romantik als einen „verhältnismäßig vollendete[n] Typus [der] posi-

33 Hermann Broch erwähnt 1918 an Ea von Allesch einen Vortrag von Ewald, an Brody schreibt er eher distanziert im Jahre 1930: „Daß diese Basis [der rationale Boden religiöser Logik und Plausibilität] jetzt fehlt, macht die Wendung zum Mystischen, die sich in der modernen Philosophie immer häufiger findet (Heidegger, in kleinerem Format Ewald etc.) so unbehaglich.“ (KW 13/1, 97). 34 Oskar Ewald, Die Probleme der Romantik als Grundfragen der Gegenwart, Berlin 1904 (erster Band von Ewald, Romantik und Gegenwart, weitere nicht erschienen), S. 219, das folgende Zitat ebd. 35 Ewald, Die Probleme der Romantik, S. 220 (Das Buch Ewalds ist „den Manen von Immanuel Kant“ gewidmet).

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tiven Geistigkeit“36 und verfolgt den Prozess einer geistigen Erneuerung, den diese Romantik auf sich genommen habe. Die Romantik in der von ihm aufgewerteten Münchner Ausprägung bedeute „die naturhafte Überwindung des Rationalismus“ und tendiere „zur positiven und ganzen Erschaffung der Welt und des eigenen Daseins.“ Diese „seelische Wiedergeburt der Zeit“ vollziehe sich in folgenden Schritten: Zunächst werde die „Einseitigkeit und Armut des Rationalismus“ „erkannt“. Dann tue sich die Intuition auf als ein wesenhaftes Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit. Der Sinn für volle Wirklichkeit wird erschlossen und schafft den Begriff einer seelischen Ganzheit des geistigen Erlebnisses, wodurch die tödliche Spaltung zwischen Leben und Denken aufhört. […] Die Totalität der Wahrheits- und Lebenserfahrung des Individuums führt zur Erkenntnis der Totalität des organischen Menschheitsgewächses in der Gesellschaft und in der Geschichte. Dadurch bekommt das leere Postulat demokratischer Menschheitsrechte, diese zweifelhafte Revolutionsfrucht, die vom napoleonischen Imperialismus und der bureaukratischen Restauration gleichermaßen bedroht war, eine positive Füllung und zugleich der nationale Trieb inneren Gehalt. Am fruchtbarsten aber zeigt sich die Entfaltung des positiven Sinns für das Leben als Ganzes und organisch Lebendiges im Bund mit Religion und Glauben.37

Die Münchner Romantik tendierte nach Funks Auffassung insgesamt dahin, den Rationalismus und den Relativismus „in psychologischer und noetischer Allseitigkeit, in Betonung der intuitiven Erkenntnis gegenüber der einseitig logischen“ zu überwinden. Sie habe dies, wie es bei Funk im Rekurs auf Platon heißt, kraft des ‚Eros‘ oder aber durch die „Glaubenskraft“ als „eine innere Schöpferkraft der Seele“ bewirkt.38 In seinem Buch „Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchener Romantik“ aus dem Jahre 1925 reagiert Funk implizit auf die Kritik an der Romantik „insbesondere von Nietzsche, Joël, Seillière“39 und lehnt auch den Dualismus von klassisch und romantisch ab. Im abschließenden Kapitel „Der Sinn der Romantik“ plädiert er dafür, von psychologischen Methoden sowie typologischen Herangehensweisen abzusehen und die Rede von einem überzeitlichen romantischen Seelentypus überhaupt zu verabschieden. In der romantischen Bewegung unterscheidet er zwei Schichten, einerseits eine in der Literatur

36 Philipp Funk, „Die Münchner ‚Romantik‘“, in: Hochland, 19/1921–22, Bd. 2, S. 544–557, hier S. 547. 37 Ebd., S. 546 f. 38 Ebd., S. 557. 39 Philipp Funk, Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchener Romantik, München 1925, S. 205. In einer Anmerkung (S. 206) erwähnt Funk Arbeiten (von Josef Nadler, Werner E. Thormann, Carl Schmitt und Alfred v. Martin), mit denen er sich im Text implizit auseinandersetzt und deren „aprioristischen Urteile[n]“ er zu begegnen sucht.  

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sich zeigende, oberflächlich „stoffliche“, die zu einer Diskreditierung des Begriffs der Romantik beitragen könnte, andererseits eine tiefere, die in einer Wiederentdeckung des geschichtlichen Sinnes fundiert sei. In dieser zweiten Schicht erst zeigt sich für ihn die Bedeutung der Romantik als einer durchaus konstruktiven Tendenz „im Sinne einer Wiedergeburt der Weltanschauung aus universalerem Verständnis und aus tieferer Seele.“ Die so verstandene Romantik sei nun „ein Stück von der neuen Objektrichtung des Geisteslebens und dadurch polar entfernt von der die literarische Romantik kennzeichnenden Subjektivität.“40 Die Absetzung von der literarischen Romantik ermöglicht es Funk, die Kritik am „Artistentum“ als partiell und unangemessen abzulehnen und die Romantik als ein Streben „zum Aufbau einer universalen Lebens- und Weltdeutung von absoluter Geltung, zu harmonischer Lebensgestaltung aus festen Ideen heraus, zur lebendigen Fühlung mit Volk und Gesellschaft, zum Leben nicht aus sich selbst und für sich selbst, sondern aus und für Gott“ zu charakterisieren. Eine auf diese Weise adäquat interpretierte Romantik hätte also den solipsistischen Subjektivismus überwunden. Funk schildert insgesamt die Romantik als ein Bestreben nach einer ganzheitlichen Erneuerung des geistigen Lebens. Im „Hochland“-Artikel beschreibt er diese Erneuerung als einen Prozess, der mit der Überwindung des Rationalismus anfängt und in der Einbindung des Einzelnen in der Gemeinschaft und dann in der Vermittlung der Gemeinschaft zum Absoluten in der Religion mündet. Dieser Prozess könne auf dem Wege der „seelische[n] Universalität des Katholizismus“41 vollzogen werden. Broch stimmt mit Funk in der Einschätzung der jeweiligen Phasen der geistigen Erneuerung überein, einschließlich der Aufwertung irrationaler Tendenzen der Romantik (Funk nennt sie „Intuition“). Ein Unterschied zwischen beiden Autoren besteht jedoch erstens darin, dass Broch bekanntlich den Begriff der Religion nicht konfessionell bestimmt, zweitens aber auch darin, dass er die Vollendung dieses Prozesses in der Romantik für unmöglich hält. Das Argument für diese Schlussfolgerung ist gerade jener radikale Subjektivismus, in dem – unter dem Stichwort „Ideal des Individualismus“ – zuvor etwa Oskar Ewald die Möglichkeit einer Überwindung der Krise gesehen hatte. Am prägnantesten konnte Broch seine Überlegung durch die Ausführungen von Carl Schmitt bestätigt finden.42 In „Hochland“ ist im Jahre 1924, zeitlich nahe 40 Ebd., S. 204. Das nächste Zitat S. 205. 41 Ebd., S. 547. 42 Konkret mit Blick auf die Münchner Romantik hätte Broch einige seiner Vorbehalte sogar durch Aussagen Funks stützen können; Funk selbst konzedierte hinsichtlich des Kunstschaffens, dass die Münchner Romantik als Späterscheinung eine „Nachschaffung“ und „Imitation“, zum

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der Diskussion um Funks Arbeiten über die Münchner Romantik, Carls Schmitts Artikel „Romantik“ erschienen, der in leicht veränderter Form als Vorrede zur zweiten Auflage der „Politischen Romantik“ von 1925 übernommen wurde (ursprünglich 1919). Darin definiert Schmitt die Romantik bekanntlich als „subjektivierten Occasionalismus“.43 Der Occasionalismus bezeichnet hier die romantische „Haltung zur Welt“, in der anstelle der Kausalität der Begriff der occasio trete – als „Anlaß, Gelegenheit, vielleicht auch Zufall“.44 Als „subjektiviert“ charakterisiert Schmitt die romantische „Vorstellung von einer letzten Instanz, einem absoluten Zentrum“. Das heißt, „an die Stelle Gottes [kann] etwas anderes als höchste Instanz und maßgebender Faktor treten, etwa der Staat, das Volk oder das einzelne Subjekt“. In der letzten Konsequenz dieser Haltung kann, so Schmitt, alles zum Anlaß für alles werden und wird alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar, und liegt gerade darin der große Reiz dieser Haltung […]. Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne die Abhängigkeit des Funktionellen, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance. In ihr kann der Romantiker alles zum Vehikel seines romantischen Interesses machen und – auch hier bald harmlos, bald perfide – die Illusion haben, daß die Welt nur ein Anlaß ist. In jeder andern geistigen Sphäre, auch in der alltäglichen Wirklichkeit, würde diese Haltung sofort lächerlich und unmöglich.45

Schmitts Schilderungen der romantischen Haltung, einschließlich der Bemerkung, Affekte stifteten keine Gemeinschaft, könnten durchaus als Kommentare zur Pasenow-Figur der „Schlafwandler“-Trilogie fungieren.46 Sogar ein Nebenmotiv in Schmitts Artikel, nämlich dessen Hervorhebung der Ansichten von Josef Nadler, lässt an den ostpreußischen Junker Pasenow denken. In seiner stammeskundlichen Literaturbetrachtung von 1924 stellte Nadler die umstrittene These auf, die eigentliche Romantik sei – in der Formulierung von Schmitt – „eine Teil „sogar bloß Kulisse“ war, vgl. Funk, „Die Münchner ‚Romantik‘“, S. 552. Dass Broch Funks Artikel in „Hochland“ gelesen haben könnte, halte ich für wahrscheinlich. Weniger wahrscheinlich ist jedoch seine Kenntnis des Buches „Von der Aufklärung zur Romantik“, weil wir bei Broch weder dem Zweifel über die typologische Verwendung des Begriffes noch Spuren von der Funkschen Argumentation zugunsten einer Überwindung des Subjektivismus in der Romantik begegnen. 43 Im Folgenden wird aus der Hochland-Fassung zitiert: Carl Schmitt, „Romantik“, in: Hochland, 22/1924–25, Bd. 1, S. 157–171, hier S. 170. 44 Ebd., S. 168 f., das folgende Zitat S. 168. 45 Ebd., S. 170. 46 Vgl. den Beitrag von Paul Michael Lützeler im vorliegenden Band.  

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völkische Wiedergeburt“ und „die Krönung des ostdeutschen Siedlungswerkes, das Umschalten der einstmals slawischen Völker zwischen Elbe und Memel vom Osten zum Westen, eine Rückkehr zur altdeutschen Kultur in einen Raum, wo Deutsche und Slawen miteinander kämpften.“47 Mit Blick auf Schmitts in der Folge ambivalente Äußerungen zu Nadler erscheint die Figur Joachim von Pasenow als eine Travestie der aberranten Romantik-These Nadlers. Und schließlich attestiert auch Schmitt der Romantik, sie hätte in der Kunst „keinen großen Stil“ aufgebracht, wobei sie, und auch dies greift Broch in seiner Sichtung der Romantik auf, eine Verabsolutierung der Kunst proklamiert hätte: „Die neue Kunst ist eine Kunst ohne Werke, wenigstens ohne Werke großen Stils, eine Kunst ohne Publizität und ohne Repräsentation.“48 Allerdings teilt Schmitt, wie Karl Heinz Bohrer darlegte, den Argwohn gegenüber dem Ästhetischen mit den meisten Soziologen und Ideenhistorikern seiner Zeit.49 Für Brochs kulturkritische Haltung gegenüber der Romantik, die im Rahmen seines Geschichtsbildes im Kontext der Kritik an der Moderne zu sehen ist, dürfte gelten, was Bohrer über Schmitts „Politische Romantik“ äußert: „Sein [Schmitts] Angriff gilt der Romantik als Paradigma der gefährlichen Moderne.“50 Broch greift also in seinem Konzept der Romantik verschiedene, auch entgegengesetzte Argumente der Romantik-Diskussion seiner Zeit auf. Mit den Motiven dieser Diskussion geht er dabei durchaus eigentümlich um. Er betont die Notwendigkeit einer erneuten prozessualen Vermittlung zum Absoluten. Bei der Reflexion über die Strukturen und zur Schilderung der Phasen dieses Prozesses konnte er sich bis ins Detail etwa in den Ausführungen zur Romantik aus der Feder der katholischen Historiker des „Hochland“ bedienen. Da er aber zugleich die Romantik als eine problematische Apotheose des Subjekts auffasst (gemäß der Position, die im „Hochland“ wiederum Carl Schmitt vertritt), muss die Romantik für Broch zwar einen solchen Erneuerungsprozess anvisieren und auf dessen Notwendigkeit hinweisen. Darin liegt für Broch auch ihr Verdienst. Doch realisieren konnte die Romantik diesen Prozess selbst nicht, ja sie konnte ihn für Broch nicht einmal einleiten.

47 Schmitt, Romantik, S. 164. Zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den umstrittenen Thesen von Nadler vgl. insbes. Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz, S. 58–66. 48 Schmitt, Romantik, S. 168. 49 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt am Main 1989, S. 191. 50 Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 288. Bohrer verweist hier auch auf die Überlegungen Hugo Balls zu Schmitts politischer Theologie in „Hochland“. Vgl. Hugo Ball, „Carl Schmitts Politische Theologie“, in: Hochland, 21/1924, Bd. 2, S. 263–286 (zu den „Analogien“ zwischen Schmitts „Politischer Theologie“ und der „Politischen Romantik“ von 1919 vgl. S. 282 f.)  

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Womöglich versuchte Broch selbst, indem er die verschiedenen Aspekte der Debatte aufeinander bezog und zu einer Synthese vermittelte, die wiederum über sich selbst hinausweist, in seinen Essays gerade jenen „großen Stil“ zu erschaffen, an dem nach seiner Auffassung die Romantik mitsamt ihrem Projekt gescheitert war. In diesem Stil verknüpfte er etwa die zeitgenössische Romantik-Debatte mit der zeitgleichen Kitsch-Diskussion. Broch bezog dabei denkbar disparate Motive aufeinander – zugunsten der Vision einer nie erreichbaren Kunst, die aber am Ende doch etwas ganz anderes wäre als Kunst.

Friedrich Vollhardt, München

Romantische Mythologie und der Roman der Moderne: Transformationen im Werk von Hermann Broch Im August 1947 schreibt Hermann Broch an Daniel Brody, dass er „mit dem Vorschlag mit den Albae Vigiliae erfreut einverstanden“ sei. Dazu erläutert der Kommentar in der Ausgabe des Verleger-Briefwechsels: „[Karl] Kerényi hatte vorgeschlagen, in diese von ihm herausgegebene Schriftenreihe zwei Essays Brochs zur Mythologie aufzunehmen, darunter die Ilias-Studie.“ Broch greift den Plan begeistert auf, nicht ohne Stolz über den Umstand, wie er Brody anvertraut, dass eine Koryphäe der Mythen-Forschung seine Arbeiten in dieser Weise würdigte.1 Das Thema dieses Beitrags ließe sich um vieles leichter fassen und ausführen, hätte Broch die Verabredung mit Kerényi eingehalten und ein Buch vorgelegt, das seinen Mythos-Begriff expliziert hätte. Doch auch ohne diesen Selbstkommentar lassen sich einige Linien im Werk verfolgen, die mit der Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Mythos in der Moderne zu tun haben, wobei sich Konstanten herausbilden. „Die Welt als solche war noch niemals mythisch oder mythologisch“, erklärt Broch in einem Brief an H. G. Adler und fährt fort: „bloß der Ausdruck, den der Mensch für die Welt und seine Stellung in ihr findet oder gefunden hat, verdient solche Bezeichnung, d.h. erhält die Gestalt und die Kraft des Mythos. Perioden des Glaubensumbruches fördern aber den mythischen Ausdruck. In Kafka sehe ich Symptome hierfür.“2

1 Hermann Broch − Daniel Brody, „Briefwechsel 1930−1951“, Bertold Hack/Marietta Kleiß (Hrsg.), Frankfurt am Main 1971, Brief Nr. 485 vom 07. August 1947, Sp. 898: „Daß er [Kerényi] meine Anschauungen so zustimmend betrachtet, daß er sogar darüber schreibt − natürlich bin ich auf seine Abhandlung sehr gespannt − macht mich ausgesprochen sehr froh; ich bin immer stolz, wenn mich die Erwachsenen (lies Fachleute und gar dieses Ranges) ernst nehmen.“ − Ein Hinweis auf diese Briefstelle bei Thomas Koebner, Die mythische Dimension in Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“, Diss. München 1967, S. 3, Anm. 1 (falsch datiert); zu Brochs Beziehungen zum Eranos-Kreis vgl. Friedrich Vollhardt, „Hermann Broch und der religiöse Diskurs in den Kulturzeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos)“, in: Paul Michael Lützeler/Christine Maillard (Hrsg.), Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks, Straßburg 2008 (Recherches germaniques, hors série no. 5), S. 37−52. 2 H. G. Adler − Hermann Broch, „Zwei Schriftsteller im Exil. Briefwechsel“, Ronald Speirs/John White (Hrsg.), Göttingen 2004, S. 48 (Brief vom 30. Mai 1950).

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Dann folgt die zu erwartende Abgrenzung gegenüber James Joyce und, hier nur implizit, Thomas Mann. In seiner Antwort bleibt Adler beim Thema und weiterhin skeptisch gegenüber der Kafka-Deutung. Um zu einer genaueren Verständigung zu kommen – trotz der qua exempla genannten Autoren bewegt sich der Briefwechsel noch im Feld vager Allgemeinbegriffe –, grenzt Adler sich nun scharf von dem verbreiteten pseudomythischen Denken ab und führt die Namen von Theoretikern an, auf die er sich zustimmend bezieht: Von Pseudomythen ist diese Zeit erfüllt, der Marxismus ist nicht frei von ihm, die Faschisten ‚predigen‘ ihn gar, Psychoanalytiker, Theosophen, Rudolf Steiner, Neochristen, Neoheiden, Richard Wagner usw. geben sich alle mehr oder weniger pseudomythische Gewänder, die mit echtem Mythos wenig oder nichts zu tun haben, wie auch die gedichteten ‚Mythen‘. Mythos verstehe ich hier im Sinne des späten Schelling oder von Erich Unger. Demnach begreife ich Kafka nicht als mythisch, […] doch als symbolisch, was etwas anderes ist.3

Auf diesen Brief hat Broch aus naheliegenden Gründen nicht mehr geantwortet, was zu bedauern ist, da ein Wort zu der genannten Abhandlung von Erich Unger und mehr noch zu Schelling von großem Aufschluß gewesen wäre; den beiden Spuren kann dennoch gefolgt werden.

I Dichtung und Mythologie Der Philosoph Erich Unger (1887−1950) teilte mit Broch die Erfahrungen einer Generation. Sein Buch mit dem Titel „Wirklichkeit Mythos Erkenntnis“, das der Brief erwähnt, ist 1930 im Münchner Oldenbourg-Verlag erschienen. Der zweite Teil behandelt „Dichtung und Philosophie“ im Verhältnis zum Mythos in einer Weise, die begreifbar macht, weshalb Adler kaum mehr als beiläufig und mit spürbarer Distanz von den „gedichteten ‚Mythen‘“ spricht – weil nämlich, wie Unger ausführt, ein Kulturphänomen wie Dichtung gegenüber einem Wirklichsein mythischen Gepräges zur Wesenlosigkeit herabsinkt oder ganz entfällt. Umgekehrt aber ist es gerade das Nichtsein mythischer Wirklichkeit, welches den tiefsten Zusammenhang zwischen der Intention der Dichtung einerseits und der der Wissenschaft und Philosophie andererseits stiftet, indem beide solche Realität negieren […].

Dabei handelt es sich nicht um eine gegensätzliche, sondern eine komplementäre Trennung, um einen „Verbundenheits-nexus der dichtenden und der erkennen-

3 Ebd., S. 55 (Brief vom 17. Juli 1950).

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den Betätigungen“, aus der die „positiven Leistungen dieser Kultur“ ebenso wie ihre „Fehlschläge“ hervorgehen.4 Bis zu einem bestimmten Punkt hätte Broch diesen Ausführungen folgen können, dann aber, nicht nur als Autor des „Vergil“Romans, widersprochen. Bleibt noch der Hinweis auf den späten Schelling. Zu vermuten ist – und diese These soll im Weiteren verfolgt werden –, dass Broch hier zugestimmt hätte. Denn um sich über den eigenen Mythos-Begriff mit Hilfe des in dieser Frage einflussreichsten Denkers der Romantik zu verständigen, erfüllte Broch eine wichtige Voraussetzung, da er mit Schellings „Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ vertraut war, vor allem mit der 11. bis 17. Vorlesung des zweiten Buches, das die „Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ enthält; sein Bibliotheksverzeichnis weist für diese Kapitel intensive Lesespuren und Anmerkungen nach.5 In seinen eigenen Texten finden sich jedoch keine vergleichbar deutlichen Spuren einer Theorie-Adaptation, was jedoch nicht allzuviel besagt, da Broch bei seinen Überlegungen zum Mythos in der Literatur auch auf andere seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelte Konzepte nicht eingeht und geschichtsphilosophische Annahmen, die für seine Argumentation grundlegend sind, in abstracto entwickelt. Das gilt auch für die mythentheoretischen Ansätze des 20. Jahrhunderts, zu denken ist etwa an Ernst Cassirer oder Bruno Malinowski. Eine Ausnahme bildet lediglich Rachel Bespaloff, deren Buch über Homers „Ilias“ er in seiner Schrift über „Mythos und Altersstil“ (1947) rezensiert. Neben diesem Essay − der von Kerényi erwünschten „Ilias-Studie“ − sind noch die beiden unter der Überschrift „Dichtung und Mythos“ edierten Abhandlungen aus den Jahren 1934 und 1945 heranzuziehen. An diesen Texten ist zu zeigen, dass Broch bestimmte Grundfiguren seiner Argumentation aus der Tradition beziehen konnte, die Schelling mit seiner „Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ begründet hat. Dazu noch eine Vorbemerkung, die das methodische Verfahren betrifft. Anders als bei der von Broch entwickelten Wertphilosophie, die neukantianisch geprägt ist, lässt sich bei seinen Schriften zur Massenpsychologie, zur Politik und eben auch zum Mythos eine Kontextualisierung nicht in vergleichbarer Weise vornehmen, einer historisch adäquaten Interpretation sind hier Grenzen gesetzt. Die daraus zu ziehenden Folgerungen hat jüngst Patrick Eiden-Offe in seiner Studie zum „Tod des Vergil“ diskutiert und in einem Satz zusammengefasst: „Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Stück applikativer Hermeneu-

4 Erich Unger, Wirklichkeit Mythos Erkenntnis, München/Berlin 1930, S. 119. 5 Vgl. Klaus Amann/Helmut Grote, Die ‚Wiener Bibliothek‘ Hermann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes, Wien/Köln 1990, S. 218 f.  

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tik.“6 Das heißt: Die im Roman entwickelten Überlegungen zum Reich der Demokratie werden mit Hilfe der zeitgenössischen, zugleich aber auch neuerer und ganz avancierter politiktheoretischer Diskurse ausgelegt, welche sich auf die Problemlagen der Klassischen Moderne applizieren lassen. Dabei muß nicht primär historisch argumentiert werden, viele Vergleiche sind systematisch begründet, um „die Leerstelle – oder den blinden Fleck – in Brochs Theorie schärfer in den Blick nehmen zu können […].“ Das hilft vor allem dort, wo sich in den Entwürfen Brochs „Zwiespältigkeit zwischen begrifflich-analytischer Beschreibung und symbolisch-operativer Programmatik“7 beobachten lässt. Solche Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen romantischer Mythologie und dem Roman der Moderne. Bestimmte ‚Leerstellen‘ werde ich jedoch nicht im Blick auf fortgeschriebene Mythostheorien, sondern mit dem Hinweis auf vorhandene Traditionsüberhänge oder Kontinuitäten zu schließen versuchen, kurz im Anschluss an die wirkmächtigen, von Broch studierten Schelling-Vorlesungen. Was sich hier an Beobachtungen ergibt, lässt sich in einer These zusammenfassen. Im Anschluß daran sollen einige Motive der „Schlafwandler“-Trilogie analysiert werden, die sich als Umsetzung des Programms eines ‚mythisierenden‘ Erzählens verstehen lassen.

II Wahrheit der Mythologie Die Ausgangsfrage lautet: In welchem Rahmen kann sich in der Moderne die Vorstellung einer ‚Neuen Mythologie‘ entwickeln? Niemand hat ein solches Projekt gründlicher durchdacht als Schelling, dessen Antwort hier nur andeutungsweise im Blick auf die von Broch studierten Passagen seines Spätwerks beantwortet werden kann. Zitiert sei eine Stelle, mit der Schelling zum zweiten Buch seiner „Philosophie der Mythologie“ überleitet und das Ziel seiner Untersuchung benennt: Und nun sehen Sie wohl: gerade eine solche philosophische Religion wäre uns nöthig, um das, was wir in der Mythologie als wirklich zu erkennen uns gedrungen sehen, auch als möglich, und demnach philosophisch zu begreifen, und so zu einer Philosophie der Mythologie zu gelangen. Aber diese philosophische Religion existirt nicht […].8

6 Patrick Eiden-Offe, Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“, München 2011, S. 9. 7 Ebd., S. 76. 8 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie. Erster Band: Einleitung in die Philosophie der Mythologie [1856], Darmstadt 1976, S. 250; Hervorhebungen im Original nicht berücksichtigt.

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Man kann nicht umhin, an Robert Musils Unterscheidung von Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn zu denken. Was einer solchen philosophischen Einleitung in die Mythologie entgegensteht, ist das neuzeitliche Bewusstsein, das der Mythologie unterstellt, eine Vertrautheit mit Weltzusammenhängen zu schaffen, aus der sich das moderne Subjekt gerade herausnimmt, um durch „methodischen Zweifel (Descartes), transzendentalphilosophische Reflexion (Kant) oder phänomenologische ἐποχή (Husserl) die Struktur des Selbstbewusstseins für sich, ohne ihre natürliche Hingegebenheit an die Objektwelt betrachten zu können.“9 Was dabei auf dem Weg in die Moderne übrig bleibt, ist − wie Schelling deutlich gesehen hat – das System „eines absoluten wissenschaftlichen Quietismus, der wohlthätig erscheinen kann gegenüber den blinden Bestrebungen eines vergeblich ringenden Denkens, aber zugleich dem Denken eine Verzichtleistung auferlegt, der es sich seiner Natur gemäß nicht unterwerfen kann.“10 Dieses Problem sollte fortbestehen. In der Vorbemerkung zu seinen religionssoziologischen Untersuchungen hat Max Weber am Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage gestellt, „welche Verkettung von Umständen“ dazu geführt hat, „daß auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch − wie wenigstens wir uns gerne vorstellen − in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen? Nur im Okzident gibt es Wissenschaft in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als gültig anerkennen.“11 Weber demonstriert die Errungenschaften unserer Zivilisation an einer langen Reihe von Beispielen, die von den Naturwissenschaften über die Lebensführung bis hin zum Kunstbetrieb reichen, und stellt die ausschließliche Geltung dieser Leistungen, das szientifische Weltverständnis, doch zugleich in Frage. Diesen Prozess einer Entzauberung der Welt durch Wissenschaft beschreibt Broch später kaum anders, nur in gesteigerter Form und mit derselben Schlussfolgerung. Was als Konsequenz aus der von Schelling so bezeichneten „Verzichtleistung“ auf alles Metaphysische folgt, ist die Anerkennung der „Erfahrung“ als einzige Quelle, aus der − so bereits Schelling − „die zu jeder Erkenntniß nothwendigen Begriffe abzuleiten“12 sind. Was Schelling hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Voraussetzung seiner „Philosophie der Mythologie“ reflektiert, wird von Broch in dem Essay „Geist und Zeitgeist“ (1934) unter dem Stichwort „positivistische Ehrlichkeit“ noch radikaler

9 Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings „Philosophie der Mythologie“, Berlin/New York 2006, S. 240. 10 Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 277. 11 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 41947, S. 1. 12 Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 277.

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gefasst. Im Blick auf das Programm des im ‚Wiener Kreis‘ entwickelten Empiriokritizismus, das Broch eingehend studiert hat, heißt es hier resümierend: Und so ist es vielleicht die einzig wahrhaft philosophische Tat des Positivismus, daß er nach vierhundertjähriger Entwicklung Schluß gemacht hat mit all seinen semi-philosophischen Aspirationen, daß er […] sein eigenes Feld immer weiter beschnitt und sich auf seinen eigentlichen wissenschaftlichen Kern beschränkte, der heute bereits mit ziemlicher Klarheit zu erkennen ist: er besteht in strenger Methodenkritik auf mathematisch-logistischer Basis, er gehört dem Reich der ‚Stummheit‘ an […]. (KW 9/2, 186)13

Ganz analog schreibt Schelling über die deduktiv verfahrenden mathematischen Wissenschaften: „Diese jedoch setzen sich gewisse Grenzen, die sie nicht überschreiten; ihre Ausgangspunkte sind Definitionen auch in dem Sinn wie Begrenzungen […], die sie sich selbst geben, um nicht auf das zu gerathen, wovon keine Deduction mehr möglich ist.“ Und Schelling kritisiert weiterhin, dass diese Wissenschaften zu keinem „unbedingten Verstand der Sachen“ gelangen und die „entwickelnde Kraft des Inhalts nicht vom Gegenstande selbst aus“ erhalten, woraus für das Subjekt immer nur eine „bedingte Ueberzeugung“14 resultiert. Dem ist eine andere Wissenschaft gegenüberzustellen, die von einem „unbedingten Princip“15 ausgeht und dabei induktiv verfährt − eine Philosophie der Mythologie. Nach der Zerstörung der christlichen Tradition Europas stellen sich „die beiden Begriffe Subjektiviät und mythische Ordnung als die Pole dar, um die sich die Reflexion“16 bewegt. Die mythische Ordnung hat dabei mit zwei Gruppen von Gegnern zu rechnen: Die eine „hält den Mythos für wahrheitswertindifferent und legt ihn als Posie aus“, die andere „Gruppe von Interpreten betrachtet die Mythologie als verschlüsselte oder verzerrte Wahrheit.“17 Beide Richtungen deuten den Mythos als eine archaische bzw. poetische Form der Weltbewältigung, also ganz im Sinne jenes neuzeitlichen Bewusstseins, von dem Schellings Analyse ausgeht. Beiden Interpretationen hält er in einem Schema seine Auffassung von der Wahrheit der Mythologie entgegen:

13 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat. 14 Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 296. 15 Ebd. 16 Manfred Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, II. Teil, Frankfurt am Main 1988, S. 335. 17 Gabriel, Der Mensch im Mythos, S. 239.

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A. Es ist überall keine Wahrheit in der Mythologie; sie ist: 1) entweder bloß poetisch gemeint, und die Wahrheit, die sich in ihr findet, ist eine bloß zufällige; 2) oder sie besteht aus sinnlosen Vorstellungen, welche die Unwissenheit erzeugt, Dichtkunst später ausgebildet und zu einem poetischen Ganzen verknüpft hat (J.H.Voß). B. Es ist Wahrheit in der Mythologie, aber nicht in der Mythologie als solcher. Das Mythologische ist: 1) entweder Einkleidung, Verhüllung a) einer historischen Wahrheit (Euemeros), b) einer physikalischen (Heyne); 2) oder Mißverstand, Entstellung a) einer rein wissenschaftlichen (wesentlich irreligiösen) (G.Hermann), b) einer religiösen Wahrheit (W. Jones), (Fr. Creuzer) C. Es ist Wahrheit in der Mythologie als solcher.

Dazu heißt es abschließend: Sie bemerken von selbst den Fortgang von A durch B zu C; die dritte Ansicht ist aber wirklich zugleich die Vereinigung der beiden andern, inwiefern die erste den eigentlichen Sinn festhält, aber mit der Abweisung jedes doctrinellen, die andere einen doctrinellen Sinn zugibt […], während die dritte in der eigentlich verstandenen Mythologie zugleich ihre Wahrheit sieht. […] Die Wahrheit in der Mythologie ist zunächst und speciell eine religiöse, denn der Proceß, durch den sie entsteht, ist der theogonische, und unstreitig subjectiv, d.h. für die von demselben ergriffene Menschheit hat sie nur diese, nämlich religiöse, Bedeutung.18

Broch umschreibt diese Dimension des Mythos mit Begriffen, die Schellings Intention entsprechen. In dem Essay über „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ (1945) wird die religiöse Suche nach einem solchen „Weltbild“ beschrieben, das „ebensowohl mythisch wie logisch-kausal eine so total umfassende Ordnung enthält, daß es kosmogonisch die ‚Schöpfung‘ darstellt, ja selber Schöpfung ist. Aller Mythos gipfelt in Kosmogonie; er ist das Ur-Bild des Aussagbaren, primitiv, dennoch unerreichbar an Einfachheit“ (KW 9/2, 203). Broch verwendet den Begriff der Einfachheit hier im Zusammenhang mit der Kosmogonie (bei Schelling: Theogonie), an anderer Stelle wird derselbe Begriff

18 Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 215.

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dann auf jene „Konkretisierungen des Mythischen“ bezogen, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts leichter wiederzugewinnen sind; denn diese haben „nur eine sehr geringe Variabilität, vielleicht weil eben die Grundstruktur des Humanen, das im Mythos zum Ausdruck kommt, von so großer Einfachheit ist […].“19 Die Emphase liegt auf dem Humanen. Und damit einher geht die Abgrenzung von den Experimenten mit dem Mythos, wie sie die literarische Avantgarde der 1920er Jahre − und Broch selbst − betrieben und verteidigt hat. Die Figur des „mythischen Wanderers Ulysses“ bei James Joyce darf nun jedoch nicht mehr „paradigmatisch genommen werden […].“20 An Waldo Frank schreibt Broch im Januar 1950 über das „Verantwortungsbewußtsein“ des Schriftstellers und die demgegenüber zweitrangigen Fragen der ästhetisch-technischen Gestaltung des Mythischen: „Selbst wenn es mir gelänge, die Ausdrucksbreite der Romanform noch um ein Stückchen zu erweitern −, was ist damit schon getan? Das waren noch Probleme eines Joyce, und so sehr ich ihn bewundere, ich weiß, daß dies bestenfalls eine Sache der Literaturgeschichte geworden ist“ (KW 13/3, 412). Vielleicht gibt Broch damit auch eine Antwort auf die fehlende Resonanz zu seinem Wagnis des „Vergil“-Romans, den man als „eine Art lyrisches Großgedicht“ beschreiben kann, als ein „absolutes Novum der Gattung“ und damit zugleich − wie der Lyriker Durs Grünbein urteilt − als „eine letzte Zumutung von Seiten der literarischen Moderne, ein Monument der Unlesbarkeit.“21 Mit der bereits 1934 geäußerten Joyce-Kritik war für Broch noch nicht das letzte Wort zum Mythos in der Moderne gesprochen. An einer Stelle des eben zitierten „Zeitgeist“-Essays wird er ganz konkret, indem er ein „mythisches Symbol“ erwähnt, das in der Neuzeit wie kein anderes in der deutschen Dichtung die Grundstruktur des Humanen zum Ausdruck bringt − die Gestalt des Dr. Faust: „Und wenn ein Dichter, getrieben von jener Sehnsucht nach dem Mythos und seiner Ewigkeitsgeltung, getrieben wird, Mythisches neu zu gestalten, so ist es nicht nur Bescheidenheit, […] mit dem schon Bestehenden vorlieb zu nehmen […]“ (KW 9/2, 197). Es ist anzunehmen, dass Broch diese poetologische Maxime im Rückblick auf seine gerade abgeschlossene Trilogie „Die Schlafwandler“ formuliert hat, vielleicht mit einer gewachsenen Distanz gegenüber jener mythisch-symbolischen Dimension, die für ihn in seiner ersten, affirmativen Phase der Joyce-Rezeption zentral war und die er nun „auf einige rudimentäre Themen- und Motivkomplexe“22 zu reduzieren

19 Ebd., S. 197. 20 Ebd., S. 198 f. 21 Durs Grünbein, „Traue nicht der Heiterkeit, das Wahre ist ernst“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04. April 2009, S. Z3. 22 Maren Jäger, Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945, Tübingen 2009, S. 431.  

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suchte. Das soll am Beispiel einiger Sequenzen der Romantrilogie geprüft werden, wobei die von dem Essayisten so stark reflektierte Faust-Sage am Beginn stehen wird.

III Das ‚Faust‘-Muster: Hermann Broch und Thomas Mann Broch verwendet den Stoff ironisch. Lediglich die Sphäre des Dämonischen, die der „Mephisto“ (KW 1, 139) Bertrand um sich verbreitet, scheint die Anspielung zu rechtfertigen. Hier wird sogar ein Motiv des Prosaromans von 1587 zitiert, um das Teuflische im Wesen Bertrands direkt vorstellbar zu machen, das durch die fühlbare Kälte, die von ihm ausgeht oder durch die bloße Nennung seines Namens hervorgerufen wird. Elisabeth sagt über ihn in einem Gespräch mit Joachim: „Er ist ein unruhiger und deshalb wohl auch ein beunruhigender Mensch“, was Joachim bejaht, dabei den Gedanken fassend, ob es wohl richtig war, wie man es in der Schule gelernt hatte und es gab Kälte, von der man Brandwunden davonträgt; Kälte des Weltalls fiel ihm jetzt ein, Kälte der Sterne. Dort schwebte Elisabeth auf silberner Wolke, unberührbar […]. Doch aus welcher Sphäre stammte jener, dessen Geschöpf und Opfer sie fast geworden wäre? Hatte Gott ihr und ihm den Versucher gesandt, so ist es zu einem Teil der auferlegten Prüfung geworden, Elisabeth von solch irdischer Anfechtung zu erlösen! (KW 1, 158)

Und auch das folgende Gespräch, das zur Verlobung führt, bleibt in „Kälte“ getaucht: „regungslos sie beide, war es ihnen, als ob um sie der Raum sich weitete, und als ob mit den weichenden Wänden die Luft immer dünner und kälter würde, so dünn, daß sie die Stimme kaum mehr trug“ (KW 1, 160). Das Dämonische ist bereits im ersten Roman der Trilogie vorhanden, es wird auch im „Esch“ mit der Figur Bertrands verbunden bleiben. Die Faust-Symbolik hat hier etwas von ihrer Kraft bewahrt, die sich bei den anderen Figuren, wie etwa bei dem Animiermädchen Ruzena, der verführten Margarete, ganz in das ironische Spiel mit dem mythischen Grundmuster auflöst. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Perspektivtechnik der Erzählung: Es ist Joachim, dem Bertrand wie ein Verführer erscheint und es ist dessen Rationalität, die der „Romantiker“ als Bedrohung der − von ihm bereits in Zweifel gezogenen − gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen empfindet. Auf der anderen Seite wird der Schutz, den ihm die Konvention noch gewährt, durch das „Irrationale“ und gleichzeitig Unstandesgemäße in der Begegnung mit Ruzena fragwürdig. Beide Erfahrungen verbinden sich für den jungen Pasenow zu dem bedrohlichen Gefühl, ins „Gleiten“ geraten zu sein. Im zweiten Roman sind es die

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wirren Erlösungsgedanken Eschs, die Bertrand zum Gegner und schließlich zum „Antichrist“ (KW 1, 268) erheben.23 Für den modernen Roman scheint der bewusst reduzierende und das Vorbild umformende Symbolbezug typisch zu sein. Thomas Mann hat den Fauststoff in vergleichbarer Weise bearbeitet. Natürlich spielt in seinem Roman der legendäre Teufelspakt eine größere Rolle als in den „Schlafwandlern“, wo die „Historia“ des 16. Jahrhunderts − der Thomas Mann eine Reihe von Motiven entnommen hat24 − so gut wie ohne Einfluss bleibt und nur die Figurenkonstellation des Goetheschen Faust zitiert wird. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass auch im Roman Thomas Manns das Faustmuster nur geringe Bedeutung hat. Der Komponist Adrian Leverkühn führt in seiner stillen Zurückgezogenheit alles andere als ein faustisches Leben; spürbar wird eher ein Nietzsche redivivus denn die mythische Wiederkehr des Faust.25 Sein Schicksal ist das der modernen Kunst, bezogen auf das der Gesellschaft. Der Teufel als das personifizierte Böse ist kein integrierender Bestandteil der Handlung. An seine Stelle tritt die Teufelssymbolik, die das Werk mit konvergenten Bezügen durchdringt und bis in die kleinsten Motive hinein − wie den Hundenamen „Suso“ (nach dem mittelalterlichen Mystiker Heinrich von Seuse) und „Kaschperl“ (der Teufel selber) oder den geschenkten Smaragdring, in den eine Flügelschlange mit pfeilgefiederter Zunge eingeschnitten ist − in einem System „rationaler Dämonie“ umfasst. Das Dämonische ist im Faustus-Roman Thomas Manns daher noch deutlicher anwesend als in den „Schlafwandlern“, wo es perspektivisch gebrochen erscheint. Die Funktion der historischen Anspielungen ist damit jedoch nicht leichter zu verstehen. Man hat zur Klärung dieser Frage gern auf den „Ulysses“ von James Joyce verwiesen, der, wie bemerkt, als das eigentliche Muster des symbolischen Romans in der Moderne gelten kann. Die Forschung hat sich hier eingehend mit dem antiken Vorbild und seiner modernen Adaptation befasst, ohne jedoch Schlüssiges über deren Beziehung mitteilen zu können. Bei Broch stellt sich die Frage in

23 Mit den ausgewählten Stellen, die ich hier einleitend anführe, reproduziere ich Überlegungen aus einem Kapitel meiner Dissertation: Friedrich Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“, Tübingen 1986, Kap. IV/1. 24 Über die von Thomas Mann benutzten Quellen informiert nun ausführlich und zuverlässig der Kommentar von Ruprecht Wimmer zum Band 10,1 der neuen Frankfurter Werkausgabe: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main 2007; die Forschungsliteratur zum Faust-Roman hat einen gigantischen Umfang erreicht, bereits Ende der 1990er Jahre zählte sie 80.000 Seiten; vgl. die Rez. von Frieder v. Ammon zu der Edition von Ruprecht Wimmer, in: Arbitrium, 26/2008, S. 230−236. 25 Vgl. Liisa Saariluoma, Nietzsche als Roman. Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘, Tübingen 1996.

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etwas anderer Weise, obwohl − oder besser gesagt: weil bei ihm ursprünglich ähnliche Intentionen wie bei Joyce vorhanden waren; die erste Fassung des „Huguenau“-Romans hatte Broch durch einen Odysseus-Rahmen eingeleitet, den er später, nach der Joyce-Lektüre, aufgegeben hat. Wolfgang Iser hat in einer Untersuchung zum „Ulysses“ auf eine merkwürdige Korrespondenz hingewiesen: „dem Nichterscheinen der homerischen Figuren in Ulysses scheint die aus ihrer hergebrachten Funktion entlassene Detailfülle des Romans zu entsprechen; dem Ausbleiben des Odysseus stehen die sich selbst präsentierenden, unstrukturierten Materialien gegenüber.“26 Womit der Blick auf die Appellstruktur des Romans gelenkt wird, der vom Leser die Integration der unstrukturierten Details verlangt. Das ist eine plausible Deutung des Verhältnisses von antikem und modernem Epos, wenn auch nicht die einzig mögliche. Umberto Eco hat in seiner Interpretation des Romans zu zeigen versucht, wie unentbehrlich der mythische Rahmen für das Verständnis der Joyceschen Erzählung ist. Die symbolischen Beziehungen im Roman werden durch die dem antiken Muster folgende Zuordnung sinnvoll, sie bleiben nicht dem intellektualistischen Vermögen des Lesers und seiner Kombinationsgabe überlassen.27 Mit Iser stimmt Eco jedoch darin überein, dass das Wiedererkennen und Gruppieren der verschiedenen Elemente vom Leser ein hohes Maß an Aktivität verlangt, das konstitutiv wird für das Lesen und Verstehen des Romans. Der Leser erweckt „die Schattenrisse der Anspielungen zum Leben, um doch nur zu gewärtigen, dass sie nicht gegeneinander aufzurechnen sind. Sie besitzen gerade soviel Gemeinsamkeit, dass er sich durch sie ihrer jeweiligen Verschiedenheit bewusst werden kann. Der Leser selbst aktualisiert diese Verschiedenheit, ohne sich mit ihrer Feststellung vollkommen beruhigen zu können.“28 Wolfgang Iser hat − wie seiner Joyce-Interpretation zu entnehmen ist − den Vergleichshintergrund, der die intersubjektive Diskutierbarkeit einzelner Sinnvollzüge des Lesens ermöglichen soll, nicht als einen vom Leser abgelösten Modus verstanden, sondern als Ergebnis des Zusammenspiels zwischen Text und Leser. Prozess und Resultat dieses Zusammenspiels nennt er „Wirkung“, ihre phänomenologische Beschreibung wird zum Ersatz der gesuchten Texttheorie. In der Auseinandersetzung mit Iser ist gezeigt worden, dass eine Wirkungstheorie als Theorie der Konstanten der Sinnkonstitution nicht metahistorisch, sondern nur über

26 Wolfgang Iser, „Der Archetyp als Leerform. Erzählschablonen und Kommunikation in Joyces ‚Ulysses‘“, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 369−408, hier S. 371. 27 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk [1962], übers. v. Günter Memmert, Frankfurt am Main 1977, S. 378. 28 Iser, „Der Archetyp als Leerform“, S. 402.

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die Annahme heuristischer Grenzwerte konzipiert werden kann, die über die in der Traditionsbildung gegebene Sedimentierung jeweiliger Konkretisationen zu ermitteln sind. An die Stelle der impliziten tritt die konkrete Leserdisposition, an die Stelle des einen Erwartungshorizontes tritt eine Vielfalt solcher differenzierter Horizonte, kurz: es geht um die in den zeitgenössischen Sinn- und Denksystemen verankerten Bedingungen der Möglichkeit des Textverstehens. Die Rekonstruktion der in der Entstehungszeit des Werkes möglichen Rezeption bleibt wesentlich Bedeutungszuschreibung, eben -konstruktion, die nicht mit der tatsächlichen historischen Bedeutung zu verwechseln ist. Ebensowenig ist sie mit der einzelnen Leserdeutung zu verwechseln, vielmehr lässt sich diese an der so rekonstruierten, als historisch adäquat betrachteten Textbedeutung überprüfen.29 Mit der Rezeption ist nur ein Bereich genannt, für den die mythischen Anspielungen Bedeutung haben. Ein zweiter liegt in der Poetik des Textes. Die mehrperspektivische Erzählweise, auf die eingangs hingewiesen wurde, hat die Auflösung der festen Grenze zwischen einer äußeren und der inneren Realität zur Folge. Die Technik des inneren Monologs und der wechselnden Bewusstseinsspiegelungen war seit der Jahrhundertwende in zahlreichen Werken angewandt worden, für die es kennzeichnend ist, dass den Personen als den Medien der Darstellung die Realität zerfällt oder als undurchschaubare, rätselhafte Mystifikation begegnet. Diese Erfahrung wird dann oft auf mythologische Modelle der Suche und Wahrheitsfindung bezogen und damit in eine scheinbar zeitlos-urgesetzliche Dimension gesteigert. Wo diese mythischen Bild- und Motivstrukturen ihre nur äußere Erzählfunktion verlieren und in die „Beglaubigung und Legitimation des Dargestellten umschlagen, verfällt die Dichtung der historisch bedingten Fragwürdigkeit und alibistischen Funktion der von ihr als Weltdeutungen zitierten Muster.“30 Die Wiederkehr des Mythos in der Moderne erweist sich hier als äußerst problematisch. Indem das Archaische und Archetypische unbefragt auf die Gegenwart bezogen wird, geht mit der Historizität die für die wissenschaftliche Aussage und künstlerische Intention gleich wichtige Distanz und damit − als das eigentlich ästhetische Moment − die Bedingung der Wirkung verloren. In dieser Geschichtslosigkeit liegt die Chance aller Remythisierungen, die im Dienst politisch-totalitärer Bewegungen stehen. Der antirationalistische Affekt wird ideologisch verfügbar, er wird zum „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (Rosenberg).

29 Vgl. dazu Friedrich Vollhardt, „Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik“, in: Wolfgang Adam/Holger Dainat/Gunter Schandera (Hrsg.), Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung?, Heidelberg 2003, S. 189−209. 30 Peter Kobbe, Mythos und Modernität. Eine poetologische und methodenkritische Studie zum Werk Hans Henny Jahnns, Stuttgart/Berlin 1973, S. 172.

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Sehr eindringlich hat Thomas Mann in seiner Rede über „Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte“ (1929) vor dem reaktionären Missbrauch des modernen Irrationalismus gewarnt. Die Ergründung des „Chthonischen“ und der „vorolympischen Ur- und Erdreligiosität“ in der Romantik setzt sich für ihn fort bis zu Klages, dem Wiederentdecker, Wiedererwecker Bachofens, und zu dem Geschichtspessimismus Spenglers, bis hinein also in gegenwärtigste Stimmungen und Denkformen, welche aktuelle Gelegenheit gewähren, das eigentümliche psychologische Zusammenfallen von Geistesunglauben und Geisteshaß zu studieren.31

Die Warnung vor den irrationalistischen Strömungen der zwanziger Jahre dient zugleich der Verteidigung der eigenen Mythosauffassung, dem Festhalten an der „Rationalität“ des Mythischen: „Man muß dem intellektuellen Faschismus den Mythos wegnehmen“, heißt es in einem vielzitierten Brief an Karl Kerényi, „und ihn ins Humane umfunktionieren. Ich tue längst nichts anderes mehr.“32 Mit der von Herder geprägten Formel, dass „die harte Mythologie […] aus den ältesten Zeiten von uns nicht anders als milde und menschlich angewandt werden dürfe“, nimmt Thomas Mann den mythischen Stoffen ihre vermeintliche Essentialität und gewinnt ihnen ihre Geschichtlichkeit als Muster der poetischen Gestaltung, als „lehrreiches Emblem“ zurück, wie dies Herder ausdrückte33 − von dem Schelling gelernt hat. Aktualisiert wird diese Forderung durch den Hinweis auf die Psychologie Freuds, die, so Thomas Mann in dem bereits erwähnten Brief an Kerenyi, der Mythologie des Dichters „in die Hände arbeitet“. Sie kann dies, weil sie „ein Element geistiger Gesinnung“ in sich enthält, „das sie untauglich macht, in irgendeinem geistfeindlich-reaktionären Sinn mißbraucht zu werden.“34

IV Mythisches Denken in Brochs „Pasenow“ Die Einheit von Rationalität und Mythos wird durch die Psychologie gewährleistet. Thomas Mann hat in der Reflexion über sein Werk dieses Verhältnis zu bestimmen versucht, seine Aussagen können stellvertretend für den mythischen

31 Thomas Mann, Essays, Bd. 3, Hermann Kurzke (Hrsg.), Frankfurt am Main 1978, S. 153−172, hier S. 157. 32 Karl Kerényi, Romandichtung und Mythologie. Ein Briefwechsel mit Thomas Mann, Zürich 1945, S. 85. − Dieser Briefwechsel ist als Bd. 11 der eingangs erwähnten Reihe Albae Vigiliae erschienen. 33 Johann Gottfried Herder, „Der entfesselte Prometheus. Scenen“, in: Sämtliche Werke, Bd. 28, Bernhard Suphan (Hrsg.), S. 329−368, hier S. 329. 34 Mann, Die Stellung Freuds, S. 171.

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Roman der Moderne zitiert werden. Alfred Döblin, Robert Musil und Hans Henny Jahnn haben in ähnlicher Weise die individuelle, psychologisch-ontogenetische Ausprägung des Mythischen in der Gegenwart dargestellt, ohne dabei die Wirkung archaischer, kollektiv-unbewusster Urmächte in ihrer regressiven Negation alles Vernunftmäßigen zu evozieren. Am Beispiel der „Schlafwandler“ lässt sich das Auftauchen religiöser Urelemente (Opfer, Erlösung, Vision, Sexualität) im Bewusstseinsstrom der handelnden Personen verfolgen; da sich das Erlebnis des „Irrationalen“ bei den Romantikern Pasenow und Esch mit einer elementaren religiösen Vorstellungswelt von Prüfung, Schuld, Sühne und schließlich Mord verknüpft, erscheint es gerechtfertigt, den Begriff des mythischen Denkens auf diese Handlungsebene und den im Roman geschaffenen Geltungsbereich des Mythischen zu beziehen, ohne dass zuvor eine genauere terminologische Festlegung versucht wird. Brochs eigene Intentionen, wie er sie in einem Brief über die religiöse Dimension des „Esch“Romans formulierte, scheinen damit am genauesten getroffen zu sein: Was ich mit dem Esch gewollt habe − die sozusagen erkenntnistheoretischen Gründe aufzeigen, die, aus dem Boden des rationalen (und in zweiter Linie erst Unbewußten) herauswachsend, zu den Ur-Ideen alles Religiösen, der Opferung, der Selbstopferung zur Wiedererlangung des Standes der Unschuld in der Welt führen […], ich mußte es deutlich machen, wie sie sich erst langsam anmelden, langsam und deutlich ins Bewußtsein treten, ehe sie abstrus (und dennoch für das Individuum zwingend) seine Lebensentscheidung herbeiführen. (KW 13/1, 130 f.)  

Bestimmte literarische Anspielungen treten dahinter zurück; ihre erzählerische Bedeutung ist geringer als die psychologische Motivierung der Handlung, die bereits im ersten Roman von mythischen Strukturen abhängt. Die Begegnung mit Ruzena wird für Joachim zu einem Einbruch des Irrationalen in seine vom Realitätsprinzip − dem der militärischen Konvention − beherrschte Lebensordnung. Durch die Landschaft, in die sie versetzt wird, erhält ihre erste Begegnung symbolische Bedeutung. Es werden Bilder einer erotischen Versöhnung zwischen Mensch und Natur beschworen, die ihr Telos in der geschlechtlichen Vereinigung der beiden Menschen finden (KW 1, 42 ff.). Das elementare Erlebnis des Sexuellen erhält eine transzendierende Bestimmung, es wird zur Ersatzfunktion für verlorengegangene religiöse Bindungen. Broch hat auf die Gestaltung der Szenen, in denen das Irrationale spürbar werden soll, großen Wert gelegt. Die sinnliche Begegnung zwischen Joachim und Ruzena wird in einem mystisch-erregten Sprachton beschrieben, und ähnlich steigert sich die Sprache auch am Schluss der in ihrem Naturalismus eher abstoßenden Schilderung des Geschlechtsverkehrs zwischen Esch und Mutter Hentjen:  

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Im Dunkel sah er Ruzenas Gesicht, doch wie dahingleitend war es, gleitend zwischen den dunkleren Ufergebüschen der Locken, und seine Hand mußte es suchen, sich vergewissern, daß es da sei, fand die Stirn und die Lider, unter denen hart der Augapfel ruht, fand die beglückende Rundung der Wange und die Linie des Mundes zum Kusse geöffnet. Welle des Sehnens schlug gegen Welle, hingezogen von der Strömung fand sein Kuß den ihren, und während die Weiden des Flusses emporwuchsen und von Ufer zu Ufer sich spannten, sie umschlossen wie eine selige Höhle, in deren befriedeter Ruhe die Stille des ewigen Sees ruht, war es, so leise er es sagte, erstickt und nicht mehr atmend, bloß ihren Atem noch suchend, war es wie ein Schrei, den sie vernahm: ‚Ich liebe dich‘, sie aufschloß, so daß wie eine Muschel im See sie sich aufschloß und er in ihr versank. (KW 1, 45) Nun hat sich ihr Mund an seinen suchenden gepreßt wie die Schnauze eines Tieres an eine Glasscheibe, und Esch war voll Wut, daß sie ihre Seele, damit er ihrer nicht habhaft werde, hinter den zusammengebissenen Zähnen gefangen hielt. Und als sie mit rauhem Grunzen endlich die Lippen öffnete, da empfand er Seligkeit, wie er sie noch nie bei einem Weibe erfahren hatte, verströmte grenzenlos in ihr, sehnend sie zu besitzen, die nicht mehr sie war, sondern ein wiedergeschenktes, dem Unbekannten abgerungenes mütterliches Leben, auslöschend das Ich, das seine Grenzen durchbrochen hat, verschwunden und untergetaucht in seiner Freiheit. Denn der Mensch, der das Gute und das Gerechte will, will das Absolute, und Esch ward zum ersten Male inne, daß es nicht auf Lust ankomme, sondern daß es um die Vereinigung geht, die herausgehoben ist über den zufälligen und traurigen, ja sogar schäbigen Anlaß, um ein vereinigtes Verlöschen, das zeitlos selber, die Zeit aufhebt und daß die Wiedergeburt des Menschen ruhend ist wie das All, das dennoch klein wird und ihm sich beschließt, wenn sein ekstatischer Wille es bezwungen hat, damit das ihm werde, was allein ihm zu eigen ist: die Erlösung. (KW 1, 286)

Die Sprache der Bilder, die Pflanzenmetaphern und die religiösen Formeln scheinen jenes Traumdunkel suggerieren zu wollen, in das sich der libidinöse Trieb verliert, um aus einem unbewussten, aber individuell erworbenen Zustand zu einem mythisch-rezenten, eben nur ‚irrational‘ erfahrbaren Wissen vorzudringen. Auf der literarischen Seite erinnern diese hymnischen Beschreibungen des Geschlechtlichen an die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts − der Zeit, in die die Handlung der beiden ersten Romane verlegt ist − sich entwickelnde Dichtung des Vitalismus, in der das Erotische und die Natur zum mythischen Ersatz religiöser Konventionen erhoben wurden. Broch hält dem entgegen, „daß das Irrationale etwas sehr Exaktes ist, d.h. daß es Aufgabe des erkennenden Menschen ist, das Rationale bis zur äußersten Grenze zu verfolgen, um erst von hier aus den Bereich des Irrationalen eben abzugrenzen.“35 Diese Abgrenzung hat im Roman eine ganz bestimmte Funktion. Das Irrationale ist hier nichts Archetypisches, sondern eine an die individuelle psycho-

35 Ebd., S. 319.

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logische Entwicklung der Protagonisten geknüpfte Erfahrung, die dort eintritt, wo sich die Wertbindungen der Menschen lockern und das kulturell vorgegebene Realitätsprinzip seine Kraft verliert: „Je einsamer der Mensch wird, je gelockerter das Wertsystem, in dem er sich befindet, desto deutlicher wird sein Tun vom Irrationalen her bestimmt“ (KW 1, 597). Bei Pasenow ist ein Rückzug in die gesellschaftlichen Konventionen noch möglich, das Erlebnis des Irrationalen in der Beziehung zu Ruzena und die Verunsicherung durch die Rationalität Bertrands lässt sich durch die Heirat mit Elisabeth abwehren. Für Esch ist ein solcher Rückzug nicht möglich. Er kann nur versuchen, Ersatz zu schaffen für das, was mit den Bindungen an ein vorgegebenes Wertsystem verlorengegangen ist. Der Logik des Zerfalls gemäß haben Wertbindungen dieser Art, bezogen auf eine Gemeinschaft von Menschen, für Huguenau keine Bedeutung mehr. Um nochmals die beiden wichtigsten Elemente der Gestaltung hervorzuheben: Broch schildert die Wertauflösung nicht als einen anonym verlaufenden Prozess, sondern in den greifbaren Wirkungen, die er ausübt; der Einbruch des Irrationalen wird psychologisch rückgebunden, die elementar-religiösen, aus der Verunsicherung erwachsenden „mythischen“ Erlebnisse und Reaktionsweisen werden, im Sinne Thomas Manns, „humanisiert“. Gleichzeitig verweisen die ungelösten Sinn- und Wertfragen auf ihre historische und gesellschaftliche Bedingtheit, da bestimmte Standeskonventionen oder einfach die zunehmende Sachlichkeit aller Lebensverhältnisse die Bedrohung oder den Verlust der Wertbindungen hervorrufen. Der Prozess der Säkularisation hat eine doppelte Tendenz, er spiegelt sich sowohl im religiösen als auch im allgemeinen Verhalten der Menschen: Je mehr die Welt entzaubert wird, desto mehr wird die Religion verinnerlicht − die Wahrheit in der Mythologie, das wusste bereits Schelling, bleibt „unstreitig subjectiv“.

Thomas Borgard, München/Bern

Hermann Brochs romantisches Unbehagen I Nochmals: Fragment und Totalität In seinem Aufsatz „Mythos und Altersstil“ aus dem Jahr 1947 diskutiert Broch poetologische und kulturhistorische Probleme, die er an einer Schlüsselstelle des Texts mit dem „Unbehagen an der Romantik“ (KW 9/2, 227)1 in Verbindung bringt. Der Ausdruck erinnert an Freuds 17 Jahre zuvor geäußertes „Unbehagen in der Kultur“. Und in der Tat ist Freuds Subtext bei Broch stets präsent, wo von jener weltgeschichtlichen Entwicklung die Rede ist, die bei ihm seit dem Frühwerk als „Wertzerfall“ firmiert. Laut Freud zwingt der Kultur- und Zivilisationsprozess den Menschen dazu, seine elementaren Triebe zu unterdrücken. Gleichwohl gilt, dass nichts, was im „Seelenleben […] einmal gebildet wurde, untergehen kann“,2 weshalb Kontrolliertes und Gebändigtes unter bestimmten Umständen wieder hervortritt. Diese Einsicht wendet Broch auf seine Beurteilung des nationalsozialistischen Massenwahns an, der sich ihm als – allerdings „absichtlich“ herbeigeführte – „Bewußtseinsverdunkelung“ und „Wiederverheidung“ präsentiert (KW 12, 336). Mit den „politischen Mythen“3 beschäftigt sich das in der Erstfassung 1935 entstandene Romanprojekt „Die Verzauberung“. Machtansprüche und kulturelle Werte rücken hier in ein hochambivalentes Mischungsverhältnis.4 Die im Vorgriff auf die massenwahntheoretische Begrifflichkeit der „Rationalverarmung“5 am Mythos explizierten Werte bilden dabei nicht das Gegenteil der Instinkte, sondern stellen in ihrem Wert für das konkrete Leben nur die Verlängerung des in den Trieben angelegten aggressiven Potenzials dar. Schon Freud stellte die „primäre Feindseligkeit der Menschen gegeneinander“ fest, weshalb „die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht“ sei.6 Im Duktus des durch die Schule der neukantia-

1 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat. 2 Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur [1930]“, in: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1974, S. 191–270, hier S. 201. 3 Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, Zürich 1949, S. 368. 4 Vgl. Paul Michael Lützeler, „Hermann Brochs ‚Die Verzauberung‘ als politischer Roman“, in: Neophilologicus, 61/1977, S. 111–126. 5 Vgl. Paul Michael Lützeler, Die Entropie des Menschen. Studien zum Werk Hermann Brochs, Würzburg 2000, S. 53 f. 6 Freud, „Unbehagen“, S. 241.  

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nischen Philosophie Rickerts gegangenen Broch wird allerdings impliziert, dass es vordem, gemeint ist das „christlich-platonische Weltbild des Mittelalters“ (KW 9/2, 130), geistreligiöse Werte zur Eindämmung des Macht- und Gewaltpotenzials gegeben habe: Wir […] unterstreichen, daß durch den Verlust eines religiösen Zentralwertes unsre heutige Welt […] in einen Zustand des völligen Wertzerfalls getreten ist […], in welchem jeder Einzelwert im Kampfe mit jedem andern Einzelwert steht und jeder bestrebt ist, die anderen allesamt zu beherrschen. (KW 9/2, 227)7

Der gesamte Komplex, der sozialgeschichtlich mit der Auflösung ständisch-hierarchischer Gesellschaftsformen einhergeht, bildet den Kern von Brochs Semantik der „Anarchie“ (KW 9/2, 227). Damit erneuert er in „Mythos und Altersstil“ zentrale Aussagen seiner Kulturphilosophie mit Blick auf den Weltzustand, den er angesichts von Nationalsozialismus, Exil und Krieg als „apokalyptisch“ (KW 9/2, 227) qualifiziert. Brochs Diagnose ist eingebettet in die Analyse des langfristigen sozial-, kunst- und wissensgeschichtlichen Umbruchs, der das Mittelalter von der Neuzeit trennt, aber auch die im 19. Jahrhundert verankerte altliberal-bürgerliche Welt von den Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts.8 Brochs methodologische Fähigkeiten erlauben es ihm, ideengeschichtlichen Fragen und Überlegungen zur Organisation sozialer Beziehungen formal-strukturelle Kriterien zugrunde zu legen. Zur Charakterisierung des zeitgenössischen Denkstils wählen die Zerfall-der-Werte-Traktate der „Schlafwandler“ mehrere miteinander zusammenhängende Vorstellungen. Die, wie Broch schreibt, sich auf eine „abstrakte Unendlichkeit“ beziehenden modernen Wissenschaften liefern durchweg fragmentarische Erkenntnisse; anthropomorphe Postulate und Projektionen, welche alle Dinge, von der „Gottesidee“ ausgehend, als Teile eines organisierten Ganzen begreifen, werden dadurch gegenstandslos. Die Auflösung der Synthesen hat die Verselbständigung der Teile zur Folge, die jetzt als einander gleichberechtigte Größen nebeneinanderstehen. In der Sprache Brochs ausgedrückt, bedeutet dies: „die Frageketten […] streben […] nicht mehr nach einem

7 Eine kritische Auseinandersetzung mit den transzendentalphilosophischen Grundlagen der Lehre Rickerts aus der Sicht einer Sozialanthropologie des Machtstrebens erfolgt in Helmuth Plessners Schrift „Macht und menschliche Natur“ (1931). Vgl. Stephan Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg im Breisgau/München 1992, S. 85 f. 8 Vgl. Thomas Borgard, „Planetarische Poetologie. Die symptomatische Bedeutung der Masse im amerikanischen Exilwerk Hermann Brochs“, in: Thomas Eicher/Paul Michael Lützeler/Hartmut Steinecke (Hrsg.), Hermann Broch. Politik, Menschenrechte – und Literatur?, Oberhausen 2005, S. 205–229.  

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Punkt, sondern haben sich parallelisiert“ (KW 1, 474). Mit anderen Worten: Wo ein Mangel an Sinn ist, da herrscht auch ein Mangel an Kohärenz und dieser wiederum signalisiert „unbegrenzte Kombinierbarkeit“.9 Für den wissenschaftlich und kühl analysierenden Betrachter des Geschehens ergibt sich eine wichtige Voraussetzung: Wohlverstandene Objektivität ist nur im Rahmen formaler Wissenschaftlichkeit und des gleichzeitigen Bewusstseins notwendiger inhaltlicher Festlegung in der sozialen Wirklichkeit möglich. Die methodologischen Grundlagen erarbeitet sich Broch in Anknüpfung an die neukantianische Wertlehre Rickerts,10 wohingegen die inhaltliche Perspektive die spätere „Massenwahntheorie“ und noch mehr den fingierten Dialog zwischen Vergil und Augustus im „Tod des Vergil“ dominiert. In der Haltung des Wertrelativismus in materialer Hinsicht zeigt die Wissenschaft die Vieldeutigkeit möglicher Rationalisierungsprozesse auf. Voraussetzungen für das im Kontext der Weimarer Kampfkultur11 zu Prominenz gelangende Konzept finden sich bereits in einer kurzen Mitteilung Georg Simmels an Rickert, aber auch bei dem ab den 1920er Jahren einflussreichen Wissenssoziologen Karl Mannheim. Für Simmel ist „alle Moral relativ“, ohne dass diese Einstellung logisch zwingend zur erkenntnistheoretischen Skepsis führen müsse;12 deshalb zieht die Einsicht in die „Seinsrelativität“, wie Mannheim hervorhebt, keinen erkenntnistheoretischen „Relativismus“ nach sich, sondern lediglich den für eine deskriptiv vorgehende Wissenschaft notwendigen „Relationismus, wonach bestimmte (qualitative) Wahrheiten gar nicht anders als seinsrelativ erfassbar und formulierbar sind.“13 In der Studie zur „Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“, in der diese Differenzierungen vorgenommen werden, bezieht Mannheim den Nieder-

9 Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S. 67. 10 Zu Rickerts philosophischem System vgl. Christian Krijnen, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Würzburg 2001. Zur Rezeption durch Broch vgl. Friedrich Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (1914–1932), Tübingen 1986 und Monika Ritzer, Hermann Broch und die Kulturkrise des frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. 11 Hierzu Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt am Main 1996, S. 25–28. 12 Vgl. die Nachweise bei Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Beziehungen, Frankfurt am Main 1996, S. 478 f. 13 Karl Mannheim, „Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen [1928]“, in: Volker Meja/Nico Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. 1, Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1982, S. 325–370, hier S. 331 sowie ders., Ideologie und Utopie [1928/1929], Frankfurt am Main 41965, S. 77.  

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gang des von ihm so bezeichneten Denktypus der „Konzentration“ zugunsten der „atomisierten Konkurrenz“ auf den Übergang von der Aufklärung zur Romantik.14 Broch erinnert an das Spannungsverhältnis zwischen metaphysischer Spekulation und Erkenntnissen der „empirischen Welt“; das romantische Unbehagen entsteht dort, wo die Romantik in ihrem Suchen nach Gültigkeit innerhalb einer empirischen Welt sich nur mit den empirischen Wissenschaften verbünden konnte (solcherart die Welt nur noch weiter in fragmentarische Wissenszweige zersplitternd) und derart, mangels Erreichung dieses Zieles, nur zusehends verzweifelter in dieser Suche wurde. (KW 9/2, 227)

Es ist die von Broch präzise benannte Spannung, die bereits um 1800 mehrere Debatten über das Verhältnis des Erkenntnissubjekts zum Erkenntnisobjekt auslöste. In seinen „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797) beantwortete Schelling die gestellte Frage, indem er das Problem der Erkenntnisbedingungen der äußeren Natur in den Bereich der Reflexion, und damit von Kants „reiner Vernunft“, zurückverlagerte.15 Aber es kam noch ein weiteres, poetologisches Motiv hinzu. In einem 1803 erschienenen Artikel des „Kritischen Journals der Philosophie“ verglich Schelling Dantes „Divina Commedia“ mit Goethes damals nur fragmentarisch zugänglichem „Faust“. Schelling wies hier der Kunst die Fähigkeit zu, etwas allgemein Gültiges auszudrücken, registrierte zugleich aber auch einen gewichtigen Unterschied zwischen Antike und Moderne. Aufgrund des selbstverständlichen und engen Verhältnisses der künstlerischen Produktion zur Mythologie drücke die antike Kunst die Werthaltung einer lebendigen Gemeinschaft aus. Dem modernen Künstler hingegen, so Schelling, fehle dieser verbürgte und kollektiv geteilte Sinn, nachdem die Wissenschaft den Mythos verdrängt habe.16 Schelling schreibt: In diesem Widerstreit, da die Kunst das Geschlossene, Begrenzte fordert, der Geist der Welt aber gegen das Unbegrenzte hintreibt und mit unwandelbarer Festigkeit jede Schranke

14 Hierzu ausführlich Thomas Borgard, Immanentismus und konjunktives Denken. Die Entstehung eines modernen Weltverständnisses aus dem strategischen Einsatz einer ‚psychologia prima‘ (1830– 1880), Tübingen 1999, Registerangaben zu „Atomisierung“, „Konkurrenz“ und „Konzentration“. 15 Zu Schelling und Kant vgl. Wolfgang Proß, „Lorenz Oken – Naturforschung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft“, in: Nicholas Saul (Hrsg.), Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften, München 1991, S. 44–71, hier S. 47–57. 16 In der Erörterung dieses Zusammenhangs folgt die Argumentation Wolfgang Proß, „Die Ästhetik des Werkes und das Ethos der Philologie. Überlegungen zur Bedeutung editorischen Handelns,“ in: Stéphanie Cudré-Mauroux/Annetta Ganzoni/Corinna Jäger-Trees (Hrsg.), Vom Umgang mit literarischen Quellen. Internationales Kolloquium vom 17.–19. Oktober 2001 in Bern/ Schweiz, Genève/Bern 2002, S. 57–94, hier S. 69–74.

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niederreisst, muss das Individuum eintreten, mit absoluter Freiheit sondern, der Mischung der Zeit dauernde Gestalten abzugewinnen suchen und innerhalb der durch Willkür gezogenen Formen dem Gebilde seiner Dichtung durch die absolute Eigenthümlichkeit wieder die Nothwendigkeit in sich und die Allgemeingültigkeit nach aussen geben.

Und Schelling fährt fort: „Die Erfindung, die [der moderne Dichter] in dieser Rücksicht macht, ist jedesmal einzig, eine Welt für sich, ganz der Person angehörig.“17 Schelling kommt also zu dem Schluss, dass es nach dem mythologischen Wertzerfall in der Leistung der Subjektivität des Dichters liegt, den verlorenen Zusammenhang wiederherzustellen. Die moderne Instanz, welche die Fragmente zu jener Totalität zusammenfügt, die der Poesie zu allen Zeiten eigentümlich ist, bezeichnet er als „nothwendige Willkühr“.18 Damit rückt ein Zusammenhang zwischen Autor und Werk in den Vordergrund, den Hofmannsthals „ChandosBrief“, Musils „Törleß“, aber auch Brochs früher Aufsatz „Der Kunststil als Stil der Epoche“ rund hundert Jahre später ebenfalls ausdeuten. Nach Auffassung Brochs befördert der Wertzerfall die „Autonomie des wertsetzenden Individuums“ (KW 10/2, 47); und wie Hofmannsthals „Brief“ zeigt, vermögen nach der Zertrümmerung der bürgerlichen Normenhierarchie Dinge und Qualitäten nebeneinandergestellt zu werden, die früher strikt getrennt waren, nämlich: Schönes und Hässliches, Gutes und Böses, Rationales und Irrationales. Auf den Punkt gebracht hat diesen Zusammenhang Max Weber in einer berühmten Passage seiner Rede „Wissenschaft als Beruf“: Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, […] – und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder, und vorher finden Sie es gestaltet in den „Fleurs du mal“, wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte; – […].19

Wird der mythische Gedanke eines gemeinsamen Ursprungs aller Dinge hinfällig, dann kann sich prinzipiell jeder Wert frei in sein Gegenteil verwandeln. Aus dem künstlerischen Konstruktivismus und der Ermächtigung des Subjekts resultiert der von Broch mit Blick auf die einander abwechselnden Kunststile, speziell Impressionismus und Expressionismus, beschriebene Eindruck des Anarchischen. In dem früheren Text ergibt sich daraus eine „ethische Forderung“ (KW 10/2, 46–49). 17 Zit. nach ebd., S. 70. 18 Zit. nach ebd., S. 71. 19 Max Weber, „Wissenschaft als Beruf [1919]“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Johannes Winckelmann (Hrsg.), Tübingen 71988, S. 582–613, hier S. 603 f.  

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Wie die von Schelling so markant aufgeworfene Problematik zeigt, kommt der Debatte um die künstlerische Identität von Fragment und Totalität, gespiegelt im Verhältnis von Autor und Werk, eine übergreifende Bedeutung zu. Doch warum registiert Broch in diesem Kontext ein „Unbehagen an der Romantik“? Er verknüpft seine Grundannahmen zum Auslegungs- und Rezeptionsprozess mit der Frage nach einer Sinnstiftung durch Kunst, die offenbar auch durch Webers eindeutige Aussagen nicht aus der Welt zu schaffen war. Interessanterweise spitzt Broch das Thema extrem zu. Er tut dies an dem Ort des Arguments, der Schelling Anlass bot, die fragmentarische Wirklichkeit durch die poetische Gabe der Erfindung und als das vom Leser nachvollziehbare Zeugnis einer Künstlerbiografie aufgehoben zu sehen. Broch erinnert an die Innovationen des „Abstraktionismus“ und erwähnt dabei Joyce, dessen Dichtung „noch neo-romantische Züge“ trage; gleichzeitig wendet er sich gegen Thomas Manns „Rückkehr zum Mythos“. Weder bei Joyce noch bei Mann, sondern erst bei Kafka und Tolstoj habe, so Broch, „das persönliche Problem aufgehört zu existieren“; und zwar nicht nur aus „technischen“ Gründen, wie er hinzufügt (KW 9/2, 229 f.). An der entscheidenden Stelle der Abhandlung über „Mythos und Altersstil“ heißt es dazu:  

private Probleme sind ebenso abstoßend geworden wie gemeine Verbrechen. Und damit wurde das endgültig verdammende Urteil über die Romantik gefällt, über jeglichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem individuellen Einzelfall und dem Weltganzen, zwischen dem zufällig vereinzelten Umstand und dem Allgemeinbegriff, also jenen Zusammenhängen, denen die romantische Auffassung übergroße Bedeutung beigemessen hatte. (KW 9/2, 230)

Broch gibt die Wechselbeziehungen zwischen ästhetischer Innovation und ethischem Gesellschaftsbezug kritischen Fragestellungen preis. Dabei entzündet sich sein „Unbehagen“ an der von Schelling in paradoxer Umschreibung benannten Dichterpraxis ‚willkürlicher Notwendigkeit‘. Mögen Lektüre und Rezeption auch eine Identität von Leben und Werk voraussetzen: Es ist die identifizierende Teilhabe am schöpferischen Prozess im Horizont der singulären Stellung von Werk und Autor, die Broch jetzt problematisch erscheint. Wie ist nun aber genauer zu verstehen, dass er „Abscheu vor dem Privatproblem“ artikuliert und sich zugleich gegen Hitlers „neuen Mythos“ erklärt, welcher „die Äußerung des Individuums und seiner menschlichen Probleme unter Verbot setzt“? (KW 9/2, 230 f.) Broch geht es um den Unterschied zwischen dem Privaten und dem, was er als „Existenz“ bezeichnet. Die Existenz-Semantik verknüpft sich mit der Frage praktischer Subjektivität („Denn alle moralische Kraft geht vom Individuum aus“; KW 12, 325), welche selbständige und freie Akte des Individuums voraussetzt, die es erst zu dem machen, was es ist. Sodann setzt dieser Vorgang, soll er moralische Kraft erlangen, die Fähigkeit zur Selbstüberwindung voraus: bis  

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hin zu jener Bereitschaft, in welcher sich das Ideelle und Geistige sozial vermittelt. Broch schreibt dazu in den Schriften zur „Massenwahntheorie“: „Der Opfertod eines einzelnen hat einmal in der Geschichte grundlegend die Welt verändert, der Opfertod eines Volkes hat noch nie auch nur annähernd Ähnliches vollbracht“ (KW 12, 325). Broch kämpft sozusagen an zwei Fronten: seine „Aufforderung an die Kunst, ‚gut‘ und nicht ‚schön‘ zu arbeiten“ (KW 9/2, 133), richtet sich gegen den selbstsüchtigen, nicht an Wahrheitserkenntnis interessierten Ästheten und gegen das hier aufscheinende „Böse“; paradigmatisch wird dies verkörpert durch den römischen Kaiser Nero, „der alles um des schönen Effektes willen tut“ (KW 9/2, 95). Gleichzeitig negiert Broch am Beispiel Hitlers (KW 9/2, 231) den von einer Staatsmacht pseudoreligiös und demagogisch eingesetzten „Pseudo-Mythos“ an der Stelle, an der seit dem Untergang des alten Mythos zwischen Gemeinschaft und Kunstproduktion ein Abgrund klafft. Im Hitler-Staat wird von jedem Einzelnen verlangt, ein „Opfer“ um eines kollektiven Zieles willen zu erbringen, wobei das Subjekt im Unterschied zur christlichen Akzentsetzung in ein unpersönliches Verhältnis zum Tod tritt. Vergleichbares lässt sich für das nachrevolutionäre Russland sagen.20 Der pseudohafte Charakter dieser Opferpraxis hängt mit dem Bürokratismus und Technizismus zusammen, mit dem der „Nazi-Terror“ (KW 9/2, 231) den Tod militärisch organisiert und den Einzelnen zu einem unselbständigen Teil der manipulierbaren Masse abwertet. Dass die Autonomie sozialgeschichtlich problematisch geworden war, erschließt sich auch aus Bemerkungen Ernst Jüngers in dessen „Arbeiter“-Essay (1932), wenn es heißt, dass an der Herausbildung der Massengesellschaften „jede individuelle Fragestellung […] abgleiten“ muss. In scharfem Gegensatz zum „romantischen Raum“ steht nun der „elementare Raum“, in dem das „Eindringen der Technik“ zur „Auflösung des Individuums und seiner Wertungen“ führe. Die militärisch-technische und die ökonomische „Einschmelzung“ des Menschen in die „sachlichen Zusammenhänge“ bedeutet laut Jünger unweigerlich, „daß eine veraltete literarische Fragestellung ihren Rang verloren hat.“21 Anhand vergleichbar gestellter Probleme entwickelt Broch ein tiefes Gespür für die Aporien einer kokett um Sinn bemühten Literatur. Es handelt sich um die divinatorische Überhöhung des Werks zu einem Instrument der Zukunftsdeutung. Im Begriff der Divination erweist sich seit Herder und Schleiermacher sowohl eine ritualistisch-theologische als auch eine hermeneutische Funktion.22 Insbesondere

20 Vgl. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008. 21 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt [1932], Stuttgart 1982, S. 147 f. 22 Vgl. Manfred Frank, „Der Text und sein Stil. Schleiermachers Sprachtheorie“, in: Ders., Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt am Main 1980, bes. S. 30–32 (zu Schleiermacher). Proß weist auf den Umstand hin, dass  

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Brochs komplexe und vielschichtige Traumsemantik rückt im späten Hauptwerk „Der Tod des Vergil“ in einen engen Zusammenhang zur literarischen inventio bzw. schöpferischen Fantasie. In dieser Perspektive entfaltet sich im Horizont der Aneignung Vergils und des von Träumen geleiteten Weges des traditionell auch als wachsam charakterisierten Aeneas23 eine an die stoische divinatio anschließende mantische Weltsicht. Für die Mantik führte Cicero die zeichendeutende divinatio artificialis (Auspizien, Eingeweideschau etc.) an sowie die divinatio naturalis. Damit waren die in Träumen und in Ekstase gegebenen Prophezeiungen gemeint, in denen durch göttliche Eingebung die Zukunft gedeutet wurde.24 Stoisch mutet bei Broch die gleichermaßen zurück ins Ursprüngliche und ins Zukünftige zielende Denkform an, die er in dem anlässlich von Thomas Manns 70. Geburtstag erschienenen Aufsatz „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ die „im Blick auf wissenschaftliche Erkenntnisse (Mach, Freud) klassische Identitätsannahmen in Frage“ stellenden Schriftsteller die „Ausarbeitung eines Unternehmens wie der Hermeneutik Diltheys“ nicht zu behindern vermocht haben und ergänzt: „es gehört zu den merkwürdigen Phänomenen der Kunstproduktion selbst wie der über sie reflektierenden Disziplinen, dass die völlige Negation von Sinnzusammenhängen niemals das Ende von Sinnkonstruktionen oder das Ende der Interpretation bedeutet. Es handelt sich um eine ebenso emphatische wie kokette Denkform, die Negation von Sinn zur Grundlage der Konstitution eben dieses verweigerten Sinnes zu erheben […].“ (Proß, Die Ästhetik des Werkes, S. 72 f.) 23 Vgl. Gregor Weber, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, Stuttgart 2000, S. 371 sowie die ausführliche Darstellung der „Aeneis“ bei Christine Walde, Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, München/Leipzig 2001, bes. S. 261–311. Über das die ethische Verantwortlichkeit des Aeneas unterstreichende Motiv der Wachsamkeit im Unterschied zur „schlafenden Welt ringsum“ sowie dessen Grund in Vergils Schlafen und Wachen miteinander kontrastierender Homerexegese vgl. Tilman Schmit-Neuerburg, Vergils Aeneis und die antike Homerexegese. Untersuchungen zum Einfluss ethischer und kritischer Homerrezeption auf ‚imitatio‘ und ‚aemulatio‘ Vergils, Berlin/New York 1999, S. 145–154. 24 Vgl. Otto Zwierlein, „Mantik und Prognostik im Weltbild Vergils“, in: Wolfgang Hogrebe (Hrsg.), Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur, Würzburg 2005, S. 133–150, hier S. 138. Zur mantischen Zukunftsschau im 6. Buch der „Aeneis“ vgl. ebd., S. 143– 145, bes. S. 144 f.: „Wenn er [d.i. Anchises in seiner langen prophetischen Rede; T.B.] dieser Zukunftsvision die stoische Doktrin von der anima mundi und der Abkunft der Seelen vom göttlichen πνεύμα und ihrer Rückkehr zum feurigen Himmelsaether und damit vermischt die platonische und orphisch-pythagoreische Lehre von der Wiedergeburt vorschaltet, erscheint die visionär geoffenbarte künftige Geschichte Roms als ein providentieller, von der Gottheit vorherbestimmter Prozeß. Der Erzähler verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem einzigen kausal verknüpften, zielgerichteten zeitlichen Kontinuum, und es hat den Anschein, daß ihm auch die räumlichen Vorstellungen in eins zusammenfließen. Denn er hat die Erzählung als eine räumlich konkrete, mythologische Katabasis begonnen und sie als einen konkreten Gang durch die einzelnen Stationen der Unterwelt weitergeführt, endet aber […] in den weiten Regionen des (sublunaren) Luftraums […], bevor sein Anchises schließlich Aeneas und die Sibylle durch die Tore der Träume entläßt.“  



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(1945) zur Skizze einer „Theorie der Prophetie“ ausarbeitet.25 Auffällig ist ferner, dass „Der Tod des Vergil“ die in den „Schlafwandlern“ erkennbare auktoriale Distanz zu den Figuren nahezu vollständig in den Modus figuraler Selbstprüfung überführt. Der Sprachakt nimmt also die Überlegenheitsgeste des Erzählens gegenüber den erzählten Gegenständen zurück. Zu denken ist hierbei an eine Äußerung Musils, wonach die Ironie im „Mann ohne Eigenschaften“ „keine Geste der Überlegenheit, sondern eine Form des Kampfes“ sei.26 Vor allem aber wird Brochs „Vergil“ jetzt lesbar als romantisch unbehagter Gegenentwurf zum Werk Thomas Manns. Denn Mann schreibt dem Erzähler der „Joseph“-Romane einen „ironisch überlegenen Blick“ zu und charakterisiert die Tetralogie als „humoristisch getönte, ironisch abgedämpfte, ich möchte fast sagen: verschämte Menschheitsdichtung“. Der Stil als Ausdruck des Wunsches nach einem allgemeingültigen Wert verweist auf eine Totalität, die für Mann nur noch ironisch „abgedämpft“ zu schildern ist.27 Trotzdem bleibt sein Stilverständnis hinter der komplexeren Problemstellung Brochs zurück. Denn Thomas Mann füllt die durch die biblischen Parataxen entstehenden Lücken durch eine Psychologisierung des Mythos, wie Sabine Kyora hervorgehoben hat: „Im Gegensatz zur Verwendung der parataktischen Reihung in modernen Texten liest Th. Mann diese Parataxe […] als Mangel, den er mit seiner Darstellung beheben kann“.28 Während sich Mann damit, wie schon im „Tod in Venedig“ (1912), noch an der ästhetischen Kultur der Jahrhundertwende orientiert, situiert sich Brochs Poetologie in einem Übergangsstadium. Es entstehen Zweifel an der „Gemäßheit der eigenen Rede“ (KW 1, 707), weswegen er sich in einem Dilemma befindet: Angesichts der apokalyptischen Szenerie wird das abstrahierende Übersteigen alles Konkreten zu einem ethischen Gebot; dessen konsequentester Ausdruck ist aber nach dem Durchgang durch das

25 Broch führt folgende Begründung an: „Denn […] besonders […] die zum ‚Neuen‘ hinstoßende Erkenntnis mit ihrer zukunftgerichteten Frage wie mit ihrer produktiven Antwort reicht logisch über das Aristotelische hinaus und ist psychologisch in der Sphäre der ‚Eingebungen‘, aus denen alles ‚Neue‘ herrührt, also in der Traumsphäre angesiedelt.“ (KW 9/2, 207). Auf eine mögliche Einordnung dieser Stelle in den Traditionszusammenhang der stoischen Mantik sowie in den geistesgeschichtlichen Rahmen der Koinzidenz von visum und evenire hat Jörg Villwock hingewiesen. Vgl. Jörg Villwock, Die Sprache – Ein „Gespräch der Seele mit Gott“, Frankfurt am Main 1996, S. 190 f. Über den Traum als „eine Eingebung von göttlicher Seite“ vgl. auch Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Leipzig/Wien 1900, S. 2. 26 Zit. nach Sabine Kyora, Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens, Würzburg 2007, S. 255. 27 Zit. nach Kyora, ebd. Vgl. Peter-André Alt, Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns „Der Zauberberg“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Frankfurt am Main/Bern/New York 1985, bes. S. 413–415. 28 Kyora, Eine Poetik der Moderne, S. 268, Anm.784.  

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romantische Unbehagen nicht nur der Verzicht auf jegliche Normsetzung; sondern dort, wo die Lektüre als Vorgang der Divination des literarischen Kunstwerks, wie ihn Schelling diskutiert, fraglich wird, ist seine Zerstörung eine reale Option. Broch erörtert die prekäre Situation am Beispiel Kafkas: Kafka, in der ahnenden Erfassung einer neuen Kosmogonie, der Ahnung jener neuen Theogonie, deren Erstellung ihm aufgetragen war, im Ringen mit seiner Liebe zur Literatur und seinem Abscheu vor dem Literarischen, verzweifelnd an der schließlichen Untauglichkeit jeglichen künstlerischen Bemühens, kam letztlich zu dem Entschluß […] sich aus der Literatur zurückzuziehen, und folgerichtig ordnete er letztwillig die Vernichtung seines Werkes an […]. (KW 9/2, 231)

Im Rahmen des ethisch-ästhetischen Missverhältnisses, das Broch auf Kafka bezieht und im „Tod des Vergil“ poetisch ausgestaltet, findet die Rede von den untauglichen Privatproblemen der Schriftsteller ihren Platz. Sie kontrastiert die auf die politische Situation unter dem Nationalsozialismus bezogene „ethische Forderung“ mit der geistig-ästhetischen Selbstgefälligkeit, die Broch in einem Brief an Frank Thiess (17. Januar 1950) mit verantwortungsloser „Dichterfürstlichkeit“ assoziiert (KW 13/3, 414). Wie gesagt, während die Rede von der Krise um 1900 vor allem „ästhetisch kultiviert“29 wird, um sich im Kanonenlärm von 1914– 1918 „um so unvermittelter und brachialer“30 Bahn zu brechen, separieren Brochs „Schlafwandler“ in Gestalt der eingeschobenen Traktate Krisendiagnose und poetische Krisendarstellung und errichten so eine Metaebene für die Selbstreflexion der Literatur im Medium der Literatur. Diese Entscheidung schärft das Instrumentarium philosophischer Kritik und gleichzeitig rückt sie mit der Verwissenschaftlichung literarischer Produktivität von den unter das Verdikt ästhetizistischer Selbstbezüglichkeit (oder des gefährlichen Irrationalismus) fallenden Kunstrichtungen der vorangegangenen Epoche ab. Implizit und explizit verstärkt sich damit auch, was für alle nachfolgenden Werke Brochs bedeutsam wird: die Aufmerksamkeit für die Funktionsweisen konkreter Machtpolitik. Die Konfrontation zwischen ihr, im „Tod des Vergil“ repräsentiert durch die Augustus-Figur, und der ästhetischen Hochkultur, repräsentiert durch die Bewusstseinszustände und Traumsequenzen Vergils, wird zum zentralen Thema des Spätwerks. Wer den „Tod des Vergil“ zur Hand nimmt, bemerkt im Vergleich zu den konventionelleren „Schlafwandlern“ sofort, dass hier besondere Mittel eingesetzt werden, denen eine doppelbödige, sowohl konstruktive als auch subversive Kraft hin-

29 Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1996, S. 31. 30 Ebd.

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sichtlich der Gültigkeit und Legitimation sinnhafter Bedeutungsgehalte zueigen ist. Wo der Text parabolisch auf einen neuen Wert hindeutet,31 schafft er zugleich die Voraussetzung für die nacherzählte Absicht Vergils, das eigene Werk zu zerstören. Broch sieht sich nach dem Abschluss der „Schlafwandler“32 mit Kräften konfrontiert, die in der das Intellektuellen- und Kunstproblem offen zur Schau stellenden „Phase der Politisierung um 1930“33 zur absoluten Entscheidung drängen. Bereits 1913 sagte Kurt Hiller das Ende der ästhetischen Kultur voraus und erklärte, dass die Zeit, wo Ästhetizismus, kultivierte Indifferenz, witzige Passivität fashionable waren, sehr bald vorbei sein wird, und daß der Eth, der Wollende, Gesinnungsvolle, Kämpfende, daß Politik, Begeisterung […] wieder in Mode kommen werden […].34

Noch in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) steht der Vers zu lesen: „Ich danke Gott an jedem Morgen, daß ich nicht brauch’ fürs Röm’sche Reich zu sorgen“.35 Brochs Meta-Analyse der Krise hat hingegen ein doppeltes Ziel: Sie setzt einen Kontrapunkt gegen das unpolitische Kulturzeitalter, ohne aber ein „Opfer des Intellektes“36 erbringen zu wollen; anders als Jüngers „Heroischer Realismus“ nimmt sie den Niedergang der (bildungs-)bürgerlichen Welt nicht zum Anlass für „ein Pathos, das von den gewaltigen und entsprechend leidvollen Transformationen, die es zu verkünden hat, fasziniert ist“.37

31 Zu dieser Überlegung vgl. Ludger Heidbrink, „Ambivalenzen des Finalismus. Grundzüge einer Hermeneutik des Aufhörens“, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, 3/2004, S. 153–174, bes. S. 165. 32 Vgl. Thomas Borgard, „Hermann Brochs intellektuelle Entwicklung nach 1932. Religiöses Suchbild, Literatur und Gesellschaftslehre kultureller Ambivalenz“, in: Paul Michael Lützeler/ Christine Maillard (Hrsg.), Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks (Recherches Germaniques, hors série 5, 2008), S. 135–164. 33 Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 247. 34 Kurt Hiller, Die Weisheit der Langeweile. Eine Zeit- und Streitschrift, Leipzig 1913, Bd. 1, S. 28. 35 Zit. nach Günter Meuter, Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994, S. 40 (Anm. 88). 36 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 612. Dabei stützt sich Broch nicht zuletzt auf Rickerts kritische Weltanschauungsanalyse. Vgl. den repräsentativen Aufsatz von Heinrich Rickert, „Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung [1933]“, in: Rainer A. Bast (Hrsg.), Heinrich Rickert, Philosophische Aufsätze, Tübingen 1999, S. 325–346. 37 Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 393.

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II Entfesselte Sprache oder Politik? Im Anschluss an Thomas Manns Nennung der Termini „Reich“ und Rom öffnet sich ein weiterer Horizont für die Diskussion des Romantischen. Als einen typischen Romantiker bezeichnet der mit Broch brieflich in Kontakt stehende Waldemar Gurian in seiner Studie „Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789/1914“ (1929) Chateaubriand. Dieser liebe es, sich für alles einzusetzen, „was seinem Ich einen wirkungsvollen, grossartigen Hintergrund bereiten konnte“; in solcher Verfassung besitze Chateaubriand „kein echtes, von Verantwortung bestimmtes Gefühl“, ihm sei „die Monarchie, die Kirche, die Tradition nur Material […], um sein Ich zu vergessen und es zugleich zu objektivieren“. Gerade deshalb seien, so resümiert Gurian unter Verweis auf Carl Schmitts 1919 publizierte Schrift „Politische Romantik“, Chateaubriands intellektuelle Leistungen „nur ein ästhetisches Feuerwerk“.38 Vor dem Hintergrund der bürgerkriegsartigen Weimarer Verhältnisse sieht die deutsche Kultursoziologie den „depossedierten Mittelstand“ drei Gefahren ausgesetzt: der Ausbeutung durch das „Kapital“, der Zuwendung zur politischen Rechten und der Suche nach „Zuflucht in der Religion“.39 Schon Thomas Carlyle versah die Kulturidee mit einer religiösen Komponente, wobei sowohl das Künstlerische als auch das Religiöse „im Zeichen des Ästhetischen“40 standen: hier als Verbündete „im aktuellen Kampf gegen die kapitalistische Unkultur“.41 Die „Flucht in die Irrationalitäten des apolitischen Gefühls“42 wird laut Weber ab ca. 1900 zum Ausdruck einer spezifisch modernen Intellektuellenreligiosität. Dabei bringt das kulturelle Bewusstsein, unter anderem repräsentiert durch Gustav Klimt und Stephan George, sezessionistische Gruppenbildungen hervor, in welchen der Kunst eine erlösende Funktion von den Folgen moderner Orientierungsverluste zugesprochen wird.43 Den Kontrast zwischen alter Gemeinverbindlichkeit und der eine neue Gemeinschaftsbildung gerade ausschließenden

38 Waldemar Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789/ 1914, Mönchengladbach 1929, S. 65 f. 39 Siegfried Kracauer, „Aufruhr der Mittelschichten. Eine Auseinandersetzung mit dem ‚Tat‘Kreis [1931]“, in: Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1977, S. 81–105, hier S. 101. 40 Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 449. 41 Ebd. 42 Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie [1922], 5. rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 362. 43 Vgl. Richard Faber/Christine Holste (Hrsg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000.  

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Intellektualisierung des formalen Kunstbewusstseins decken nach dem Ersten Weltkrieg Analysen auf, die sich mit der „kulturellen Hypertrophie“ und der „Kulturentfremdung“ beschäftigen,44 aber auch sich gegen die soziale Verantwortungslosigkeit des Ästheten richtende Streitschriften. Von der Wissenssoziologie wird nicht die Rückkehr zu einem wie auch immer weltanschaulich begründeten Gemeinschaftshandeln angestrebt, etwa primordiale (ethnische oder nationale) Bindungen hervorhebend, sondern hier wird „die Theorie […] zum Erbe der entfremdeten Kunstschöpfungen“.45 Vorangetrieben wird auf diese Weise die „Entzauberung der Welt“46 im Rahmen des szientifischen Rationalismus, der sich dem „Willen zur Wahrheit“ verschreibt und der von Nietzsches griffiger Formel vom „Tod Gottes“ polemisch auf den Punkt gebrachten religiösen Entwertung parallel läuft.47 Broch stellt den gesamten Prozess in Übereinstimmung mit Nietzsche und Weber dar als „Wertzerfall“ oder „Zerfall der Werte“, womit auch bei ihm die Voraussetzungen einer durch ein übergreifendes geistiges Band zusammengehaltenen Gemeinschaft entfallen. Die rhetorisch und stilistisch eindrucksvolle Kanarienvogelszene der „Schlafwandler“ setzt diese Einsicht mustergültig um (KW 1, 87).48 Wie Gurians in der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ veröffentlichte Rezension einer Schrift des Weber-Schülers Paul Honigsheim zeigt, verpflichtet „Webers These vom wertfreien Charakter der Wissenschaft“ den formalen Ansatz auf funktionale Erklärungen; von ihnen kann keine Handlungsanleitung erwartet werden, welche ja eine material-inhaltliche Festlegung voraussetzen würde – im Sinne von: „Dies ist zu tun, dies ist gut, dies ist wirklich“.49 In seiner 1925 eingereichten Habilitationsschrift über den „Konservatismus“ pflichtet Mannheim dieser Haltung bei: „Zur Soziologie […] gehört Distanz, produktiver Stand-

44 Karl Mannheim, „Seele und Kultur [1918]“, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Berlin/Neuwied 1964, S. 66–84, hier S. 75. 45 Ebd., S. 76 (Hervorhebung T.B.). 46 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 612. 47 Vgl. die Analyse von Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie, S. 154–156. 48 Vgl. Alice Stašková, „Der Stil auf der Suche nach der Religion im frühen Schaffen Hermann Brochs“, in: Paul Michael Lützeler/Christine Maillard (Hrsg.), Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks (Recherches Germaniques, hors série no. 5, 2008), S. 21–36, bes. S. 25 f. 49 Die Zitate sind entnommen aus: Waldemar Gurian, „Ein Traum vom Dritten Reich“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst„ 22/1924–25, Bd. 1, S. 237–242, hier S. 240 f. Zur kulturgeschichtlichen Einordnung von Gurians Schrift vgl. Friedrich Vollhardt, „Hermann Broch und der religiöse Diskurs in den Kulturzeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos)“, in: Lützeler/Maillard (Hrsg.), Hermann Broch, S. 37–52.  



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ort, existentiell geschaffene produktive Blickeinstellung“.50 Mannheims Schrift bietet die Exponenten des altkonservativen Denkens Justus Möser, Edmund Burke und Adam Müller als Repräsentanten des „freischwebenden Intellektuellen“51 auf; nur weil diese sich von ihrer Schichtenbindung zu distanzieren vermochten, konnten sie ihre eigenen Existenzgrundlagen durchsichtig machen. Gurian kritisiert indes noch eine andere Konsequenz des materialen Wertrelativismus, die sich über Webers „tragische Skepsis“, welche „nicht fähig ist, Entscheidungen zu fällen“ hinwegsetzt, indem sie Zuflucht bei der Mystik sucht. Honigsheim, so Gurian, wolle prinzipiell „jeden Menschen“ dazu bewegen, „die innere Musik […] erklingen zu lassen“.52 Das Pathos der „mystisch-romantischen Sprache“53 negiert die von Rickert herausgearbeitete – und für Broch vorbildliche – Haltung des theoretischen Menschen, der distanziert „über“ das „atheoretische Leben“ nachdenkt,54 und zwar zugunsten des Mit- und Nacherlebens, wie es das Hermeneutikkonzept Diltheys vorsieht.55 Was Heimito von Doderer in Form eines Verbots ausdrücken wird, nämlich „ein monströses Faktum“ nach herkömmlicher Erzählweise durch individualpsychologische „Motivierungen mundgerecht zu machen“,56 gilt in gewissem Sinne auch für den späten Broch. Jedenfalls gründen seine Ablehnung des herkömmlichen psychologischen Erzählstils (Thomas Mann) und der Einsatz eines „kommunikativ deregulierten Sprachhandelns“57 im „Tod des Vergil“ in der zuvor skizzierten Diskussion. Brochs Maßnahme verbindet den „Anspruch radikaler Subjektivität“ mit einer bis dahin in der deutschsprachigen Literatur unbekannten „Selbstbewegung der Formen“.58 Der Sprachgestalt selbst kommt also eine besondere Bedeutung zu. Trotz des evozierten römisch-christlichen Ordnungsmotivs nimmt die permutierende Sinn-

50 David Kettler/Volker Meja/Nico Stehr (Hrsg.), Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens [1925], Frankfurt am Main 1984, S. 157 (Hervorhebung; T.B.). 51 Zur Definition vgl. ebd., S. 146. 52 Gurian, Ein Traum vom Dritten Reich, S. 240. 53 Vollhardt, „Broch und der religiöse Diskurs in den Kulturzeitschriften“, S. 47. 54 Rickert, „Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung“, S. 337. 55 Vgl. Eilert Herms, „Ganzheit als Geschick. Dogmatik als Begriff menschlicher Ganzheitserfahrung und Anleitung zu ihrer Wahrnehmung“, in: Volker Drehsen (Hrsg.), Der ‚ganze Mensch‘. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. Festschrift für Dietrich Rössler zum siebzigsten Geburtstag, Berlin 1997, S. 369–406, hier S. 370. 56 Heimito von Doderer, Die Merowinger oder Die totale Familie [1962], München 1995, S. 33. 57 Erich Kleinschmidt, Gleitende Sprache. Sprachbewußtsein und Poetik in der literarischen Moderne, München 1992, S. 173. 58 Ebd., S. 174. Kleinschmidt bezieht sich hier nicht auf Broch, der leider unerwähnt bleibt, sondern auf Carl Einstein.

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produktion des „Tod des Vergil“ den epischen Erzählcharakter der vorbildlichen „Aeneis“ wieder zurück. Die ein formales Regelwissen gleichsam mechanisch abspulenden sprachlichen Metamorphosen sind im eigentlichen Sinne geschichtslos und wiederholen das ovidische „Denkbild Dauer im Ende“.59 Die von Augustus’ Reichsgründung verkörperte chronologische Anstrengung rückt dadurch in ein zweifelhaftes Licht.60 Den Mangel an Kohärenz signalisieren die tendenziell unbegrenzte Kombinatorik der Wort- und Sinngefüge und auf der inhaltlichen Ebene: die den Brand Trojas memorierenden apokalyptischen Stimmungsbilder der vom Vulkanismus durchzogenen fiktiven Szenerie. So heißt es in der zweiten titellosen Fassung aus dem Jahr 1937: emporgeworfen vom Vulkan der Zeit, vom Vulkan der Nacht, vom Vulkan des Todes […]. Viele Städte brannten ringsum, Städte der fernen Vergangenheit und der fernsten Zukunft, menschenfauchende, menschenzerquälte Städte, Tempelsäulen barsten, Turmhäuser zerbrachen, die Haßvögel strichen in großen Kreisen über die Verwüstungen des Anfanges und des Endes […].61

Broch hebt in seinen Selbstaussagen hervor, anstatt von einem bestimmten Menschenbild sei von einem „Unendlichkeitskomplex“ sozialer Verhältnisse auszugehen, „dessen Unbekanntheitsqualitäten mit denen der Mathematik“ strukturell vergleichbar seien. Durch die „Entfesselung all ihrer Kombinationsmöglichkeiten“ (KW 10/1, 76) erhalten die sozialen Gegebenheiten im 20. Jahrhundert eine Plastizität, die füglich als permanente ovidische Metamorphose gedacht werden kann. Vergil sieht im zweiten Kapitel „Feuer – Der Abstieg“ […] die todeserwartende Gestaltenvielfalt der Menschen, […] viervielfältigt zu einem […] dichten Gestaltengewimmel, […] der irdische Mensch im Mannigfaltigkeitskreis seiner Abwandlungen, […] tiergesichtig, pflanzengesichtig, steingesichtig […]. (KW 4, 141 f.)62  

Metamorphisierte Mischwesen bevölkern die fiebertraumartigen Visionen des Dichters; sie lassen ihn den poetischen Ort der begrifflich nicht eindeutig erfassbaren Transformationen und Identitätswechsel skeptisch deuten, erkennend,

59 Zu Ovid vgl. Reinhart Herzog, „Vom Aufhören. Darstellungsformen menschlicher Dauer im Ende [1996]“, in: Peter Habermehl (Hrsg.), Reinhart Herzog, Spätantike. Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur, Göttingen 2002, S. 349–405, hier S. 385. 60 Vgl. ebd., S. 387. 61 [titellos], in: Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Materialien zu Hermann Broch „Der Tod des Vergil“, Frankfurt am Main 1976, S. 23–87, hier S. 43. 62 Vgl. auch KW 4, 61.

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daß alle Wege der Umkehrung, daß alle Wege der Erstarrung, des Spieles und des Rausches unweigerlich zum Tierhaften führen, daß alle Wege der Schönheit unweigerlich im Grauensfratzigen enden. (KW 4, 164)63

Dieser gleichsam ‚entscheidungslosen‘ Denkfigur bereitet im Text Augustus und bereitet in der zeitgenössischen Wirklichkeit Schmitts Dezisionismus ein Ende. Schmitt erkennt in der Romantik nur eine Fehlentwicklung der Aufklärungskritik und formuliert stattdessen sein berühmtes tertium non datur.64 Näher führt seine Schrift „Politische Romantik“ zu der romantischen machtpolitischen Produktivlosigkeit aus: Die Wurzel der romantischen Erhabenheit ist die Unfähigkeit, sich zu entscheiden, das „höhere Dritte“, von dem sie [d.i. die Romantiker] immer sprechen, nicht ein höheres, sondern ein anderes Drittes, d.h. immer der Ausweg vor dem Entweder-Oder. Weil sie die Entscheidung offen lassen, weil sie die occasio „gegensätzisch“ konstruieren, damit sie der elastische Punkt für den Sprung in das „höhere Dritte“ sein kann, hat man von ihrem „Dualismus“ gesprochen und Anklänge an gnostische und neuplatonische Theorien gefunden, wo es sich nur um die Gegenstandslosigkeit eines Occasionalismus handelte.65

Romantisch subjektivierte occasio: sie bezeichnet in Schmitts Auslegung eine passive, ästhetische Haltung zur Welt ohne „jede Bindung an eine Norm“, also „ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend […].“66 Insbesondere der Parlamentarismus macht die „argumentierende öffentliche Diskussion zu einer leeren Formalität“; gesellschaftliche Friktionen werden nicht im Dienst des besseren Arguments abgebaut, sondern im parteipolitischen „Interesse“, das die eigenen „Machtmöglichkeiten“ kühl abwägt.67 An die Stelle definitiver Resultate tritt in der modernen Massendemokratie, wie Schmitt im Anschluss an die gegenrevolutionäre Staatsphilosophie von Donoso Cortés schreibt, die „ewige Diskussion“.68 Im Kontext der diskutierenden Klasse (Cortés: „una clasa dis63 Vgl. Pascal Nicklas, Die Beständigkeit des Wandels. Metamorphosen in Literatur und Wissenschaft, Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 401 f. 64 Vgl. Reinhard Blomert, „Ehre und Kredit. Wissenssoziologische Anmerkungen zu Carl Schmitts Polemik gegen den ‚subjektivierten Occasionalismus‘“, in: Günter Meuter/Henrique Ricardo Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 113–126, hier S. 116 f. 65 Carl Schmitt, Politische Romantik [1919], Berlin 61998, S. 162 f. 66 Ebd., S. 22/S. 25. 67 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [1923], Nachdruck d. 2. Aufl. 1926, Berlin 1996, S. 10 f. 68 Ebd., S. 46.  







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cutidora“69) verdrängt folglich auch das Recht den Staat, den Schmitt in einer Verschränkung von machtpolitischen und politisch-theologischen Argumenten neu begründen will. Auch Gurian bezeichnet in der Honigsheim-Rezension „Ein Traum vom Dritten Reich“ die „Bourgeoisie“ als ewig „diskutierende Klasse“; hier komme es zu „[k]eine[r] Entscheidung – sondern [nur zu einer] Nebeneinanderordnung von Bekenntnissen […]“. Und er fährt fort: Romantisch ist eine Haltung, die glaubt, die schöpferische Kraft der Menschheit, die jeder Mensch in seiner Weise repräsentiert, werde von selber einen Kosmos bilden. Wie aber, wenn ein Bekenntnis auftaucht, das die Absolutheit einer Institution fordert […]? Ein Bekenntnis […], das die Ansprüche aller ihm widerstreitenden Bekenntnisse verwirft? Wenn ein römischer Katholik auftritt?70

Der Ausspruch: „Auch ich bin Römischer Katholik, und ihr werdet sehen, daß durch mich die Kirche triumphiren und sich weit ausdehnen wird“71, wird Napoléon Bonaparte zugeschrieben. Gurian beurteilt den von Louis Napoléon 1851 durchgeführten Staatsstreich im Vorfeld der Wiederherstellung des Kaisertums und der begeisterten Reaktion des ultramontanen Journalisten Louis Veuillot in diesem Kontext wie folgt: „Die Bourgeoisie erschien Veuillot einfach unfähig, Ordnung zu schaffen. […] Er […]sah damit den Parlamentarismus, das Regime der Transaktionen und Diskussionen […] als erledigt an.“72 Mit dem Begriff „Ordnung“ erinnern Gurians Worte indirekt an Vergils berühmtes „Ab integro nascitur ordo“. Mit diesem Ausspruch beschließt der das „Reich“ als höchsten und deutschesten „Ordnungsbegriff“ bezeichnende Schmitt73 nicht nur seine Schrift „Der Begriff des Politischen“ (1927), sondern verabschiedet damit auch das von ihm sogenannte „Zeitalter der Neutralisierungen“: Wir erkennen den Pluralismus des geistigen Lebens und wissen, daß das Zentralgebiet des geistigen Daseins kein neutrales Gebiet sein kann […]. Eine Gruppierung, die auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kampf und hat nur den Wert einer romantischen Klage. Denn das Leben kämpft nicht mit dem Tod und der Geist nicht mit der Geistlosigkeit. Geist kämpft

69 Zit. nach Alfons Motschenbacher, Katechon oder Großinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der Politischen Theologie Carl Schmitts, Marburg 2000, S. 115. 70 Zu den Zitaten vgl. Gurian, Ein Traum vom Dritten Reich, S. 241/S. 242. 71 Zit. nach Aloysius Pichler, Geschichte der kirchlichen Trennung zwischen dem Orient und Occident von den ersten Anfängen bis zur jüngsten Gegenwart, Bd. 2, Die Russische, Hellenische und die übrigen orientalischen Kirchen mit einem dogmatischen Theile, München 1865, S. 553. 72 Gurian, Die politischen und sozialen Ideen, S. 218. 73 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 44.

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gegen Geist, Leben gegen Leben, und aus der Kraft eines integren Wissens entsteht die Ordnung der menschlichen Dinge. Ab integro nascitur ordo.74

Der Vergils 4. „Ekloge“ verpflichtete Ordnungsgedanke findet sich bei Schmitt 1940 auch in einem direkt auf die Person Hitlers gemünzten Satz: „Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen. – ‚Ab integro nascitur ordo.‘“75 Broch greift den politisch-theologischen Aspekt der Romantik-Diskussion in der Ausgestaltung des Dialogs Vergil-Augustus im „Tod des Vergil“ auf. In seinen im Umkreis des „Vergil“ getroffenen Selbstkommentaren verarbeitet Broch Argumente, die letztlich auf die Wandlungsfähigkeit der Romantik zurückzubeziehen sind. So lässt sich zeigen, dass Romantiker, die sich im frühen 19. Jahrhundert in den Dienst des Konservativismus als sozialpolitische Bewegung stellten, gleichzeitig aufhörten, ‚romantisch‘ zu sein.

74 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen [1927/1932], Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 61996, S. 95. 75 Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles 1929–1939, Hamburg 1940, S. 312.

Manuel Illi, Erlangen

Signal und Sigel. Hermann Brochs sprach- und symboltheoretische Reflexionen zwischen Romantik und Neopositivismus „In uns, da ist es stiller geworden, / Und unsere Sprache ist nicht mehr die Welt: / Reichtum des Kindes, der ist uns verloren […]“ (KW 8, 60).1 Diese Verse aus Hermann Brochs „Sonett vom Altern“ (1944) scheinen sich auf den ersten Blick gut in jene größtenteils sentimentale Erfahrung des Sprachverlusts einzufügen, die viele Autoren der literarischen Moderne teilen. Zwar beklagt auch Broch im Rahmen der Wertezerfall-Theorie sprachliche Verlusterscheinungen, anders als viele Zeitgenossen verfällt er jedoch keineswegs in eine radikale Sprachkritik. In seinem Essay „Über syntaktische und kognitive Einheiten“ aus dem Jahr 1946 entwickelt Broch ein sprachtheoretisches Konzept, das zwischen philosophischwissenschaftlichem und ästhetisch-poetischem Sprachgebrauch differenziert und beiden eine gemeinsame Basis verleihen möchte. Beide Bereiche erweisen sich nach seiner Einschätzung auf ihre je eigene Art als defizitär. Durch Anleihen bei zeitgenössischen – meist neopositivistischen – wie auch bei frühromantischen Sprach- und Symbolkonzepten versucht er die Möglichkeit einer wechselseitigen Ergänzung zu eröffnen.

I Hermann Brochs sprachtheoretische Reflexionen Zunächst entwickelt Broch in „Über syntaktische und kognitive Einheiten“ eine Art semiotisches Dreieck aus syntaktischen Einheiten, eidetischen Einheiten und Elementarsituationen bzw. Elementarvorgängen.2 Syntaktische Einheiten, also Sät-

1 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat. 2 Der Fragment gebliebene Aufsatz „Über syntaktische und kognitive Einheiten“ war bereits mehrfach Gegenstand der Brochforschung; vgl. James E. Knowlton, „Hermann Brochs Sprachtheorie“, in: Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift, 11/1976, S. 405–418; Kuno Lorenz, „Brochs erkenntnistheoretisches Programm“, in: Paul M. Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch, Frankfurt am Main 1986, S. 246–259; Kuno Lorenz, „Philosophische Dichtung“, in: Paul M. Lützeler/ Michael Kessler (Hrsg.), Brochs theoretisches Werk, Frankfurt am Main 1988, S. 24–34 und Michael Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, Hermann Brochs Tod des Vergil zwischen logischem Kalkül und phänomenologischem Experiment, Würzburg/Bonn 1994 (bes. Kap. III, S. 23–52).

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ze bzw. die Kombination mehrerer Sätze zu einem Absatz oder Buch, haben in diesem Modell die Funktion, kognitive Gebilde, die im Geist des Sprechenden und letztlich im Menschengeist als solchem aufgetreten sind und auftreten, tunlichst genau hör- und sichtbar zu machen, und da dies die einzige Aufgabe der Sprache ist, muß wohl auch der Sinn der verschiedenen Sprachformen hier verankert sein. Damit wird die Prävalenz des Apriorischen auch von der Sprache selbst statuiert. (KW 10/2, 248)

Die ‚kognitiven Gebilde‘ oder ‚eidetischen Einheiten‘ sind den syntaktischen somit apriorisch vorgeordnet und „auf einen bestimmten äußeren oder inneren Weltausschnitt bezogen, der an einer bestimmten Stelle des Raumes und der Zeit lokalisiert ist und für die Dauer seines Bestehens als ‚Ganzes‘ erfaßt wird“ (KW 10/2, 249). Diesen Weltausschnitt nennt Broch ‚Elementarsituation‘. Als Beispiel führt er ein brennendes Licht an. Elementarsituationen erwiesen sich jedoch als idealisiertes, statisches Konstrukt, da genau genommen stets eine Elementarsituation der anderen folge und nie isoliert auftrete. Den Übergang von der einen zur nächsten Situation nennt Broch ‚Elementarveränderung‘, das Beispiel hier ist ein verlöschendes Licht. Die Elementarsituation ist „die Aktualisierung eines Schemas“,3 der eidetischen Elementar-Einheit, die ihrerseits „als logische ‚Erzeugerin‘ der Syntax-Einheit betrachtet werden [kann]; sie hat diese erzeugt, um durch sie (und durch kein anderes Mittel) ans sprachliche Licht gebracht zu werden. Die Eidos-Einheit ist durch die Syntax-Einheit zu repräsentieren, weil sie nur durch diese repräsentierbar ist“ (KW 10/2, 250 f.). Der Bezug auf eine Elementarsituation, der ‚Meinungs-Akt‘, und die sprachliche Repräsentation durch syntaktische Einheiten, der ‚Sprachakt‘, seien formal identisch, so Broch. Er nennt dies ‚Simultaneitäts-Phänomen‘. Bei dieser Art der sprachlichen Repräsentation handle es sich um „eine Punkt für Punkt isomorphe (eben reversible) Abbildung“ (KW 10/2, 268), aus der sich eine einfache Grundregel der Reversibilität ergebe: „Ein Gedanke, ein Satz – ein Satz, ein Gedanke“ (KW 10/2, 254). Analog gelte, wenn Sätze in einem größeren Kontext, Broch nennt dies „höhere syntaktische Ordnung“ (KW 10/2, 252), eingebunden werden können: ‚ein Gedanke, ein Absatz – ein Absatz, ein Gedanke‘. Deutlich sind bereits in der Terminologie die Verweise auf Edmund Husserls phänomenologische Philosophie4 erkennbar. Auffälliger noch sind die Bezüge des Syntax-Essays zur Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, wie er sie 1921/22  

3 Lorenz, „Philosophische Dichtung“, S. 30 f. 4 Vgl. dazu Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 28 f.  



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im „Tractatus logico-philosophicus“ entwickelt. Dies wird an folgenden exemplarisch ausgewählten Sätzen erkennbar: 2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen. 2.11 Das Bild stellt die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten vor. Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. […] 2.151 Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die Dinge so zu einander verhalten, wie die Elemente des Bildes. 2.1511 Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr. […] 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. […]5

Das logische Abbild der Wirklichkeit entspricht den ‚kognitiven Gebilden‘ bzw. ‚eidetischen Einheiten‘. Diese ans sprachliche Licht zu bringen sei, so Broch, Aufgabe der syntaktischen Einheiten; hierzu Wittgenstein: 3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus. 3.11 Wir benützen das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (Laut- oder Schriftzeichen etc.) des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage. […] 3.5 Das angewandte, gedachte, Satzzeichen ist der Gedanke. 4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. […] 4.01 Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken […] 4.21 Der einfachste Satz, der Elementarsatz, behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes.6

Satz 3.5 und 4 sind in Brochs Reversibilitäts-Prinzip und Satz 4.01 im Simultaneitäts-Prinzip reformuliert; und schließlich ist in der ‚elementaren syntaktischen Einheit‘ der ‚Elementarsatz‘ aus Satz 4.21 zu erkennen. Wittgenstein knüpft mit diesem Begriff an Bertrand Russells atomic propositions an. Die Neopositivisten des Wiener Kreises, allen voran Moritz Schlick und Rudolf Carnap, bei denen Broch während seiner Studienzeit 1925 bis 1930 Veranstaltungen besuchte, griffen das Konzept elementarer Aussagesätze auf. In der anschließenden Debatte um die erkenntnistheoretische Funktion von Elementarsätzen, in die auch Otto Neurath involviert war, wurden diese auch ‚Protokollsätze‘ oder ‚Beobachtungssätze‘ genannt. Dass Broch Aspekte dieser Diskussion rezipiert, wird ersichtlich, wenn man Moritz Schlicks Charakterisierung der Protokollsätze im Aufsatz „Wende der Philosophie“ (1934) betrachtet: Protokollsätze sind „Sätze, welche in absoluter Schlichtheit, ohne jede Formung, Veränderung oder Zutat die Tatsachen aussprechen, in deren Bearbeitung jede Wissenschaft besteht, und die jeder Behaup-

5 Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus“, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1960, S. 7–83, hier S. 14, S. 15 und S. 17. Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ ist für Hermann Brochs Wiener Bibliothek nachgewiesen (vgl. Klaus Amann/Helmut Grote, Die „Wiener Bibliothek“ Hermann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes, Wien 1990). Im Folgenden werden alle Bände, die a.a.O. für die Wiener Bibliothek verzeichnet sind, mit dem Zusatz „nachgewiesen für die Wiener Bibliothek“ (nachg. W.B.) versehen. 6 Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus“, S. 17, S. 25, S. 27 und S. 37 (nachg. W.B.).

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Manuel Illi

tung über die Welt, jedem Wissen vorhergehen.“7 Es handelt sich dabei um „Zeichenkomplexe, die, wenn man sie aus den üblichen Abkürzungen in die vollständige Sprechweise überträgt, etwa bedeuten würden: ‚Herr N. N. hat zu der und der Zeit an dem und dem Ort das und das beobachtet‘.“8 Die raumzeitliche Lokalisierung einer Sachverhaltsbeobachtung durch ein erkennendes Subjekt wird hier ebenfalls betont. Auch die Beschreibungen dessen, wie Eidos-Einheiten bzw. Sachverhalte sprachlich repräsentiert werden, sind bei Broch und den genannten Neopositivisten identisch. Es handelt sich um eine strukturelle Abbildung. Wörter, Namen oder Zeichen benennen Gegenstände (sofern es sich bei den Wörtern nicht um Herleitungen aus anderen Wörtern handelt) und erst der Satz als syntaktisches Gefüge von Wörtern bildet ab bzw. repräsentiert. In der Formulierung Moritz Schlicks: „Die Welt besteht aus Tatsachen, die Tatsachen haben eine Struktur, und unsere Aussagen bilden die Tatsachen korrekt ab, sie sind wahr, wenn sie dieselbe Struktur haben“9 – Broch spricht von „Satzstruktur“ (KW 10/2, 252). Allerdings ergibt sich auch ein fundamentaler Unterschied zur neopositivistischen Position. Broch trennt strikt zwischen Tatsache bzw. Weltausschnitt einerseits und eidetischer Einheit bzw. Begriff andererseits. Für Carnap ist beides gleichbedeutend, sind beide Begriffe tautologisch, so dass es des Konstrukts einer idealen Eidos-Einheit nicht bedarf: „[…] ob ein Satz für Begriffe oder für Gegenstände gilt, das bedeutet keinen logischen Unterschied, sondern höchstens einen psychologischen […].“10 Diese neopositivistische Ablehnung der EidosEinheiten – im Essay nennt Broch sie den „Tautologie-Vorwurf“ (KW 10/2, 251) – versucht er durch einen Rückgriff auf den Rickertschen Neukantianismus zu entkräften. Heinrich Rickert negiert eine unmittelbare, sprachliche Abbildung von Tatsachen der Wirklichkeit: Sätze haben wissenschaftliche Bedeutung als Träger theoretischer Sinngebilde, und diese sind deshalb nicht in Impressionen und ihre Derivate aufzulösen, weil Sinnliches seinem Wesen nach nie wahr sein kann. Die ‚Geltung‘ jeder Wahrheit liegt in einer prinzipiell anderen Sphäre als alles sinnlich Wahrnehmbare und ist auch nicht aus Sinnlichem abzuleiten.11

7 Moritz Schlick, „Über das Fundament der Erkenntnis“, in: Erkenntnis, 4/1934, S. 79–99, hier S. 79. 8 Ebd., S. 79. 9 Moritz Schlick, Philosophische Logik, Frankfurt am Main 1986, S. 193. 10 Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998, S. 5. 11 Heinrich Rickert, „Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare“ in: Philosophische Aufsätze, Rainer A. Bast (Hrsg.), Tübingen 1999, S. 107–152, hier S. 135.

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Vorausgesetzt ist dabei […] ein Subjekt, das etwas anderes als das Wort mit dem Worte meint. Erst wenn wir ein Ich oder seinen psychischen Akt hinzudenken, können wir von ‚meinen‘ reden und den Ausdruck ‚bezeichnen‘ so verwenden, daß darunter soviel wie ein Hinweisen auf etwas zu verstehen ist. Das Wort selbst ‚meint‘ streng genommen nichts.12

Broch kombiniert also die meinende Bezugnahme Rickerts mit der syntaktischen Strukturabbildung des Neopositivismus. Mit beiden Positionen teilt Broch die Grundannahme, dass Wirklichkeit bzw. Wirklichkeitserkenntnis prinzipiell sprachlich repräsentierbar sei. So verwundert es auch nicht, dass er radikal sprachskeptische oder sprachkritische Ansätze kaum erwähnt. Weder geht er auf Friedrich Nietzsches prominenten Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn“ (entstanden 1873, veröffentlicht 1900),13 noch auf Fritz Mauthners vieldiskutierte „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ (1901/1902)14 ein. Hugo von Hofmannsthals Sprachkrise wertet er als Hinleitung zu einer „neuen Sprachliebe“, „welche […] dem Schweigen mit neuen, fruchtbaren und sogar magischen Mitteln wieder zur Sprache zu verhelfen“ (KW 9/1, 217 f.) versucht. Dennoch kann auch Brochs Sprachreflexion ein kritisches Potential zugesprochen werden, das in den erwähnten Referenzen bereits angelegt ist. Sprache wird bei Wittgenstein, Schlick, Carnap und Rickert primär als Instrument der wissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis behandelt. Gerade die neopositivistische Sprachanalyse stößt bei ihrer radikalen Bestandsaufnahme an die Grenzen des Sagbaren. Die sprachliche Repräsentation von Tatsachen der positiv gegebenen Wirklichkeit ist klar, eindeutig und reversibel; alle metaphysischen, ethischen und ästhetischen Gehalte entziehen sich unter diesen Voraussetzungen  

12 Rickert, „Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare“, S. 130. Broch legt in ganz ähnlicher Weise im Syntax-Essay dar: „Von der Sprache her wird nichts ‚gemeint‘, vielmehr wird sie, unbeschadet ihrer Autonomie, von einem ‚meinenden Akt‘ der Erkenntnis dirigiert, und ihre Strukturgebilde […] werden bloß dann sinnvoll […], wenn als Ergänzung zu ihnen ideale, nichtempirische Kognitiv-Gebilde angenommen werden, mit denen sie in einem Entsprechungs-Verhältnis stehen und deren Ausdruck sie sein sollen“ (KW 10/2, 249). 13 „Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten? Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten Grade. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der Tautologie d.h. mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln.“ (Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Giorgio Colli (Hrsg.), München/Berlin/New York 1999, S. 875–890, hier S. 877). 14 Nach Mauthner sind „Sprache und Denken ein und dasselbe“ (Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache 2, Stuttgart 1901, S. 63); „Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten; darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich“ (Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache 1, Stuttgart 1901, S. 97).

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jedoch einer eindeutigen sprachlichen Repräsentation. Wittgenstein bringt dies in folgenden, häufig zitierten Sätzen des „Tractatus“ zum Ausdruck: 5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. 5.61 Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen. […] Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können. […]. 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. […] 7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.15

Moritz Schlick grenzt das sinnvoll Sagbare im Anschluss an Wittgenstein so ein: „Das Streben der Metaphysiker war von jeher auf das widersinnige Ziel gerichtet, […] das Unsagbare zu sagen; Qualitäten lassen sich nicht sagen, sondern nur im Erlebnis aufzeigen, Erkenntnis aber hat damit nichts zu schaffen.“16 Rickerts Resümee ist nicht weit von Schlicks Einschätzung entfernt, auch wenn es weniger radikal ausfällt: Unser Ergebnis können wir auch so formulieren: was wir für die vierte Seinsart oder das Jenseits der Welt, d.h. über die unerfahrbare Wertrealität oder ‚Sinnwirklichkeit‘ zu denken versuchen, darf lediglich als ein Gleichnis gelten für das, was wir ‚adäquat‘ nicht mehr bezeichnen können und rein wissenschaftlich in genau bestimmten Begriffen nie erkennen werden.17

Nicht erst in der Syntax-Studie übernimmt Broch diese Eingrenzung dessen, was sprachlich eindeutig (‚Punkt für Punkt‘) repräsentierbar ist. Bereits 1931 führt er in seinem Vortrag „Über die Grundlagen des Romans ‚Die Schlafwandler‘“ aus: Die Wissenschaft versucht, ihre Sprache, ihre Geschäftsbriefe, immer mehr vom Wort unabhängig zu machen, d.h. sie sucht ein absolut korrektes Verständigungsmittel. Sie hat es auch gefunden. […] Was die neue Philosophie will, ihre Erhebung zur reinen Wissenschaft, ihre Abkehr vom Dahin-Reden über die Dinge drängt letzten Endes zu ihrer Mathematisierung. Das ist erfreulich. Und der Ansatz ist auch bereits vorhanden, nämlich in der Logistik [bzw. im Logizismus, M. I.] und ihrer Zeichensprache. Aber gleichzeitig wird eine furchtbare Verarmung der Philosophie deutlich. […] Die Mathematisierung der Philosophie hat das ungeheure Gebiet des Mystisch-Ethischen aus ihrer Problematik ausgeschaltet. Legitim ausgeschaltet. Und vielleicht auf später verschoben, bis die Ausdrucksmittel des Rationalen wieder so weit gediehen sein werden, das Metaphysische zu erfassen. Es ist ein ungeheures Verdienst des Positivismus, seine Kräfte zu kennen und zu wissen, woran er nicht mehr heranreicht. Er hat seine Krankheitseinsicht. (KW1, 729 f.)  

15 Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus“, S. 64 und S. 82. 16 Moritz Schlick, „Wende der Philosophie“ in: Erkenntnis, 1/1930–31, S. 4–11, hier S. 9 (nachg. W.B.). 17 Heinrich Rickert, Grundprobleme der Philosophie, Tübingen 1934, S. 141.

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Diese ‚furchtbare Verarmung‘ wird von Broch ganz im Sinne seiner Werttheorie als Auflösungsprozess beschrieben, der mit der Hinwendung zur Unmittelbarkeit der Dinge und spirituellen Innerlichkeit in der Renaissance anhob: „So laut diese Epoche war, ein erster Hauch des Schweigens war über die Welt hinweggegangen: denn stumm ist die mathematische Sprache der neuen Naturwissenschaft, […] die Sprache Gottes hatte der Sprache der Dinge zu weichen begonnen“ (KW 10/2, 167). Neben den eidetischen Elementar-Einheiten postuliert Broch ‚höhere eidetische Einheiten‘, die sich nicht mehr auf einzelne Elementarsituationen reversibel beziehen lassen. Er illustriert dies mittels folgenden Absatzes aus drei Sätzen: „Die Stube ist dunkel. Ein Mann erscheint mit einer Kerze in der Türe. Die Stubenmitte ist beleuchtet, aber die Ecken bleiben im Schatten“ (KW 10/2, 256). Die drei elementaren Syntax-Einheiten stellen zwar drei separate ElementarEinheiten dar, aber als Gesamtheit repräsentieren sie nicht in derselben Art und Weise, d.h. reversibel, eine eidetische Elementar-Einheit: „die Reversibilität ist aufgehoben, und die angeblich hinter der Syntax-Einheit des Absatzes stehende Eidos-Einheit ist unsichtbar geworden“ (KW 10/2, 256). Mit Bezug auf die Mathematik versucht Broch die Existenz dieser höheren eidetischen Einheiten zu plausibilisieren. Akzeptiere man wie in der Mathematik deren Existenz, so müsse man gleichzeitig auch akzeptieren, dass diese nicht restlos durch syntaktische Einheiten zu repräsentieren seien. Den nicht reversibel darstellbaren Rest umschreibt er als „Inhaltsüberschuss“, „Qualitätsüberschuss“ oder „qualitative[s] Existenz-Plus“ (KW 10/2, 266 f.). Aus der Unmöglichkeit einer reversiblen Abbildung ergebe sich jedoch keine „generelle Unaussprechlichkeit“, sondern lediglich die „diskursive Unausdrückbarkeit“ (KW 10/2, 266). Jenseits der diskursiven Sprache und der reversiblen Repräsentation eröffne sich das Gebiet der Kunst und Dichtung: „Der Mensch hat zur Symbolisierung all der Seinserkenntnisse […] sich das Ausdrucksmittel der Kunst geschaffen; sie ist durch und durch symboltragende Strukturqualität“ (KW 10/2, 266). Auch bei Dichtung handle es sich also um strukturelle Abbildungen. Jedoch sind dies Abbildungen anderer Art, es sind Symbolisierungen.  

II Der Begriff ‚Symbol‘ im Kontext der Broch’schen Sprachreflexion Dreh- und Angelpunkt der Ausführungen zu reversibler und irreversibler sprachlicher Repräsentation und damit von wissenschaftlichem und ästhetischem Sprachgebrauch in der Syntax-Studie ist der Begriff ‚Symbol‘. Wie bereits Richard Brinkmann und Michael Roesler-Graichen feststellen, vermengt Broch teils sehr

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heterogene symboltheoretische Konzepte und Ansätze.18 Um diese Vermengung präziser zu beschreiben, erscheint eine grundlegende Differenzierung zwischen semiotischem Symbolbegriff einerseits und ästhetischem bzw. literarischem Symbolbegriff andererseits zweckmäßig: 1) Der semiotische Symbolbegriff: In der Wissenschaftssprache, Logik sowie Sprachphilosophie werden mit ‚Symbol‘ häufig jene arbiträren Zeichen benannt, die durch genau festgelegte Gebrauchskonventionen an die Stelle von Ausdrücken der Umgangs- und Wissenschaftssprache treten (z.B. in der Logik das Symbol „¬“ für „nicht“/„non“ oder das Vorfahrt-gewähren-Schild im Straßenverkehr). In diesem Sinn verwenden Schlick und Carnap oder auch Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead den Terminus. Bisweilen werden alle konventionell-arbiträren Zeichen als Symbole bezeichnet. 2) Der ästhetische bzw. literarische Symbolbegriff: In ästhetischen und literaturwissenschaftlichen Kontexten werden unter dem Begriff ‚Symbol‘ meist nur jene speziellen Zeichen subsumiert, deren Bedeutung gerade nicht arbiträr und konventionell konstituiert wird, sondern durch eine analoge oder synekdochische Beziehung motiviert ist (häufig genanntes Beispiel ist der Tintenfleck, welchen Charlotte in Goethes „Die Wahlverwandtschaften“ beim Signieren auf das Briefpapier bringt und der als Symbol einer Schuld-Befleckung gedeutet werden kann). Gerhard Kurz unterscheidet drei Typen der Motivierung literarischer Symbole: die synekdochische, die metonymische und die metaphorische.19 Er weist darauf hin, dass es wichtig ist – möchte man den Zeichencharakter des Symbols bewahren –, die Relation von Symbol und Symbolisiertem nicht mit der von Bezeichnendem und Bezeichnetem gleichzusetzen: Das Symbol bezeichnet nicht und benennt nicht. […]. Die Bedeutung sprachlicher Zeichen kenne ich, ich habe sie gelernt, die Bedeutung von Symbolen muß ich deuten. Erst durch ihre Deutung werden Gegenstände und Ereignisse zu Symbolen. Die symbolische Bedeutung ist die symbolische Deutung. Das Symbol ist kein semiotisches, es ist ein hermeneutisches Phänomen.20

18 Vgl. Richard Brinkmann, „Zu Brochs Symbolbegriff“, in: Paul M. Lützeler/Michael Kessler (Hrsg.): Brochs theoretisches Werk, Frankfurt am Main 1988, S. 35–48, S. 39 und Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 42. Neben der Adaption des Symbolbegriffs Goethes und Kants ließen sich Bezüge zu den symboltheoretischen Überlegungen von Ernst Cassirer, Sigmund Freud, Carl Gustav Jung etc. herstellen, auf die im Folgenden jedoch nicht eingegangen werden kann. 19 Vgl. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982, S. 79. 20 Ebd., S. 79.

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Diese Unterscheidung liegt Brochs Differenzierung in reversible und irreversible Abbildungsprozesse zugrunde. Auch wenn Broch den semiotischen nicht explizit vom ästhetischen Symbolbegriff trennt, ist in seinen Texten das Bemühen erkennbar, den zunächst undifferenzierten Symbolbegriff terminologisch zu präzisieren. Werden in der Syntax-Studie zunächst allumfassend „Leben, Rede, Verständigung, Erkenntnis, was immer den Menschen ausmacht“ (KW 10/2, 268) als symbolhafte Prozesse bezeichnet, folgt eine Fokussierung auf die Mathematik als „System von ‚Symbolen an sich‘“ (KW 10/2, 271), die völlig inhaltsfrei seien und in diesem Kontext offensichtlich mathematische Variablen und Aussageformen bezeichnen. Im Essay „Logik einer zerfallenden Welt“ (1931) nennt er die semiotischen Symbole auch ‚Signale‘: „Die Sprache Gottes ist zerfallen in esoterische Sprachen, die kaum Sprachen mehr sind, bestenfalls Signale; es sind Dingsprachen: Geschäftsbriefe, mathematische Formeln, militärische Kommandos, Werkzeichnungen und Statistik […]“ (KW 10/2, 169, Hervorhebung M.I.). Eine ähnliche Charakterisierung ist in Richard Gätschenbergers „ΣΥΜΒΟΛΑ. Anfangsgründe der Erkenntnistheorie“ (1920)21 zu finden: Signale nennt man vorzugsweise solche künstliche Zeichen, die aus größerer Entfernung gegeben werden. Zum größten Teil sind sie Satzvertreter, d.h. sie sind meist nicht in Buchstaben, Silben, Wörter zerlegbar, daher auch nicht Sätze, bezeichnen aber trotzdem Satzgegenstände.22

Wenn Broch Kunst und Dichtung thematisiert, grenzt er deren ‚Kunstsymbole‘ von den Signal-Symbolen ab. Symbolisierungen sind irreversible Abbildungsprozesse. Zwar ähneln sie den reversiblen, da sie gleichfalls mit Hilfe eines Abbildes ein Urbild ‚repräsentieren‘, aber es wird nun dieses hier nicht mehr wie dort als vollkommen ‚bekannt‘ angenommen, gestattet nicht mehr eine Punkt für Punkt isomorphe (eben reversible) Abbildung, sondern erfordert kraft seines ‚Inhaltsüberschusses‘ eine andersgeartete, eine ‚andeutungsweise‘ Repräsentation. (KW 10/2, 268)

Das Kunstsymbol ist vielmehr Abdruck einer höheren Wahrheit, wie ein Sigel Abdruck eines Ringes oder Stempels ist.

21 Die Texte Richard Gätschenbergers sind nicht für die Wiener Bibliothek Hermann Brochs nachgewiesen. Sie wurden jedoch im Rahmen des Wiener Kreises rezipiert. Gätschenbergers „Zeichen, Fundamente des Wissens“ wurde 1934 in der Zeitschrift „Erkenntnis“, die Broch abonniert hatte, von Fred Bon rezensiert und zur Lektüre empfohlen. 22 Richard Gätschenberger, ΣΥΜΒΟΛΑ. Anfangsgründe einer Erkenntnistheorie, Karlsruhe 1920, S. 192.

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Das echte Symbol entsteht erst auf einer zweiten Ebene; es entsteht erst, wenn eine Umsetzung in ein anderes Material erfolgt. […] Das Symbol wird immer mehr zum Sigel, zu einem allgemein gültigen Zeichen, das seine naturhafte Herkunft zwar immer noch ungebrochen in sich trägt, aber in seiner Entnaturalisierung vielleicht die einzige Realisierung der platonischen Idee in der Welt des Empirischen darstellt (KW 5, 293 f., Hervorhebung M.I.).  

Diese Charakterisierung entstammt den 1933 an Peter Suhrkamp adressierten Bemerkungen zu den „Tierkreis-Erzählungen“ und lässt deutlich die Unterscheidung der beiden Symbolbegriffe erkennen: Signal einerseits, Sigel andererseits. Das Defizit der Signalsprachen – also der semiotischen Symbole in Wissenschaft und Philosophie – ist die Ausgrenzung aller metaphysischen Gehalte sowie der zunehmende Zerfall in Spezialsprachen. Zumindest das letzte Problem ist für Broch lösbar. Er knüpft mit seinem Konzept einer „zweiten Mathematik“ (KW 10/ 2, 264), die statt mit Zahlkalkülen mittels eines Satzkalküls die gesamte EidosHierarchie abbilden soll, explizit an Carnaps Bestreben an, eine Einheitswissenschaft zu etablieren, deren zentrales Fundament eine allgemeine Wissenschaftssprache ist.23 Auch Gätschenberger entwirft in „ΣΥΜΒΟΛΑ“ die Möglichkeit eines idealen Satzsystems, das alle Kenntnis sprachlich zu repräsentieren vermag und als dessen Vorbild die Mathematik dient.24 Doch auch die ‚zweite Mathematik‘ erweist sich als ungenügend in zweifacher Weise: Erstens hält bereits Gätschenberger das ideale Satzsystem zwar für prinzipiell möglich, betont aber: „Wir nähern uns ihm asymptotisch im Laufe der Zeiten.“25 Damit rückt eine Realisierung in utopische Ferne, denn „jedes reale Satzsystem [ist] unvollständig. Selbst wenn ein Unparteiischer das Satzsystem aller Vertreter der Wissenschaft ausführte, blieben noch ungeheure Lücken.“26 Das kann, so nun wiederum Broch, den einzelnen Menschen nicht befriedigen, die „intuitive (und unbewusste) Welterfassung […] muss […] vorauseilen“ (KW 10/2, 265). Zweitens gehe die ‚intuitive Welterfassung‘ ohnehin andere Wege als die deduktive Erkenntnis eines formalen Systems, das selbst in idealer Umsetzung den Inhaltsüberschuss höherer EidosEinheiten nicht darzustellen vermag. Das Defizit der Signalsprachen lässt sich nicht durch deren Optimierung beseitigen. Schließlich, so Brochs Schlussfolgerung, könne nur die Kunst, im Besonderen die Dichtung, diese Ungeduld vorauseilend in Form echter bzw. ästhetischer Symbole befriedigen und so das diskursiv Unsagbare dennoch zur Sprache bringen. Nur das echte Symbol vermag, „nicht

23 24 25 26

Vgl. dazu Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 41 f. Gätschenberger, ΣΥΜΒΟΛΑ, S. 252 und S. 377 f. Ebd., S. 429. Ebd., S. 430.  



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nur die eidetischen Bestände ‚andeutungsweise‘ wiederzugeben, sondern auch über das positivistisch Erfaßbare hinauszugreifen“ (KW 10/2, 267). Auch für diese These ergeben sich Bezugspunkte zu den genannten Autoren. Zunächst ist es wiederum Rickert, der derartige metaphysische Symbole beschreibt: Bei dem metaphysischen Denken […] handelt es sich um eine besondere Art der Symbolik, die in doppelter Hinsicht symbolischen Charakter trägt. Bei ihr bildet nicht nur das sinnliche Sein der Sprache den Träger eines unsinnlichen Seins [in Brochs Terminologie die EidosEinheiten, M.I.], sondern auch dies unsinnliche Sein, das verstehbar im Diesseits liegt, muß sich als Bild für ein übersinnliches Jenseits deuten lassen.27

Des Weiteren entwirft Ferdinand Weinhandl in „Das aufschließende Symbol“ (1929) Symbole, die „auf ein Unendliches und insofern für einen endlichen Geist Unausschöpfbares hindeuten“, indem sie „in irgendwelchen Zügen […] mit dem Transzendenten [übereinstimmen]“.28 Doch ergibt sich für Weinhandl wie für Broch ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem, eine geradezu „verzweifelte Frage: wie soll etwas Unbekanntes angedeutet werden“ (KW 10/2, 268), denn jenes Transzendente kann per definitionem nicht vom erkennenden Bewusstsein in einem Meinungs-Akt mit eidetischen Einheiten verknüpft werden. Die Ahnung des Transzendenten wird folglich aus den echten Symbolen nur indirekt in einem deutenden Prozess gewonnen. Wie Weinhandl betont, lassen sich aber derartige Symbole „nicht in einer einzigen Deutung endlich und abschließend auslegen und erschöpfen“.29 Das „betreffende Transzendente [ist] nur auf dem Weg über das Symbol, nur durch das Symbol und nur an Hand des Symbols“30 zugänglich und kann durch das Bewusstsein nur gedeutet werden. Der eindeutige Weg zurück von der Deutung über das Symbol zum Transzendenten ist verschlossen – das ist das Prinzip der Irreduzibilität; d.h. weder das Transzendente kann auf ein einziges Symbol noch ein Symbol auf eine einzige Deutung reduziert werden. Broch vergleicht dies mit dem Versuch, in Hieroglyphen verfasste Texte zu übersetzen, ohne jedoch die Hoffnung zu besitzen, jemals einen Stein von Rosette zu finden (vgl. KW 10/2, 269). Der Erkenntnisgewinn in der Beschäftigung mit derartigen Symbolen kann also nicht konkret-inhaltlicher Art sein, sondern legt die inhaltsfreien Strukturqualitäten frei,

27 28 29 30

Heinrich Rickert, Grundprobleme der Philosophie, S. 140 f. Ferdinand Weinhandl, Über das aufschließende Symbol, Berlin 1929, S. 12 (nachg. W.B.). Ebd., S. 13. Ebd., S. 33.  

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d.h. es müssen, damit Symbolisierung überhaupt möglich werde, auch hier „Strukturqualitäten“, und seien sie noch so leer, vermittels „Induktion“ in das unsichtbare Urbild projiziert werden, auf daß es sich daran konstituiere. „Symbol an sich“ und „Symptom an sich“ streben einander zu, und fast ließe sich von einem radikal abstrakten Rosette-Stein sprechen. (KW 10/2, 270)

Auch hier zeigt sich Brochs Nähe zu Weinhandls Überlegungen; dieser schreibt: „Das Transzendente in seiner Transzendenz bleibt auch dem aufschließenden Symbol unzugänglich.“31 Und dennoch: Auch wenn uns das Symbol keinerlei Aufschluss darüber gibt, wie es im Transzendenten aussieht und das heißt wie es dort unabhängig von allem im Erfahrungszusammenhang stehenden Gedacht- und Gewußtsein bestellt ist, so gibt es uns eben doch Aufschluss über das Transzendente selbst in seinen Verhältnissen zu uns, unserm Handeln und unserer Welt und nicht etwa bloß über uns selbst oder über die auch unabhängig vom Symbol geschaute Erscheinungswelt.32

In der Beschränkung auf die abstrakte Struktur und Relation liegt für Broch die Nähe des ästhetisch-metaphysischen Symbols zum rein semiotisch-mathematischen begründet. In der Studie „Hofmannsthal und seine Zeit“ (1947/48) führt er diese Analogie explizit auf einen Autor der Romantik zurück: „Die Bereiche des Erkennens und des Dichtens, ja des Träumens laufen unaufhörlich ineinander. Novalis wußte um die pythagoräische Verwandtschaft der Dichtungs-Logik mit dem mathematischen Denken“ (KW 9/1, 217). Aber auch in der Syntax-Studie sind bei der Charakterisierung ästhetischer Symbole Parallelen zur frühromantischen Sprach- und Symboltheorie augenfällig, insbesondere zu Texten von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Bereits August Wilhelm Schlegel beklagt in den „Vorlesungen über schöne Kunst und Literatur“ (1801–04) den zunehmenden Verlust des poetischen Charakters der Sprache: So wird im Fortgange der Cultur die Sprache aus einer Einheit lebendiger Bezeichnung in eine Sammlung willkürlicher conventioneller Zeichen verwandelt erscheinen. Am weitesten wird dies in der wissenschaftlichen Sprache getrieben, wo sie so viel möglich vom beseelten Hauch zur algebraischen Chiffer herabsinkt.33

31 Ebd., S. 117. 32 Ebd., S. 49; vgl. auch S. 67. 33 August Wilhelm von Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd 1. Vorlesungen über Ästhetik I, Ernst Behler (Hrsg.), Paderborn 1989, S. 404 (nachg. W.B.).

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Broch spricht, wie bereits erwähnt, von der stummen Sprache der Mathematik, von der Signal-Sprache, die den Inhalts- oder Qualitätsüberschuss nicht auszudrücken vermag. In diesem Sinne ist auch die folgende Passage bei Friedrich Schlegel zu verstehen: […] jeder Begriff [enthält] immer auch etwas Unerklärbares, Unauflösbares, Unbegreifliches […], nicht als etwas, was gar nicht in das menschliche Bewußtsein eingehen könne, sondern was sich durch den bloßen Begriff und durch alle Konstruktion nicht mitteilen läßt, wozu die geistige Anschauung durchaus notwendig ist.34

Das echte, d.h. das poetische Symbol habe anders als die algebraische Chiffre, so wiederum August Schlegel, „Anschaulichkeit, Belebtheit und Bildlichkeit“35 und gebe damit dem Geistigen eine konkret erfahrbare Gestalt: [Das] Schöne ist eine symbolische Darstellung des Unendlichen; weil alsdann zugleich klar wird, wie das Unendliche im Endlichen zur Erscheinung kommen kann. […] Dichten […] ist nichts andres als ein ewiges symbolisiren: wir suchen entweder für etwas Geistiges eine äußere Hülle, oder wir bezeichnen ein Äußres auf ein unsichtbares Innres.36

So auch Broch: „Die Entstehung eines Symbols, das seiner sichtbaren Natur gemäß an und für sich endlich sein muß, kann also nur dann geschehen, wenn in solcher Endlichkeit auch das Unendliche eingeschlossen ist“ (KW 5, 297). Im „Gespräch über die Poesie“ legt Friedrich Schlegel dar, wo diese poetische Symbolisierung mustergültig umgesetzt sei, und zwar in der Mythologie: Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe? Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht.37

34 Friedrich Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band XII, Philosophische Vorlesungen 1800–1807, Teil 1, Jean-Jacques Anstett (Hrsg.), München 1964 (nachg. W.B.); ‚Begriff‘ meint in diesem Kontext allerdings ‚Idee‘: „Begriffe, wie wir sie hier verlangen, sind was Kant, Fichte und vor ihnen so viele andere Ideen nennen […]“ (S. 387). 35 August Wilhelm von Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, S. 404. 36 Ebd., S. 248. 37 Friedrich Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I, Hans Eichner (Hrsg.), München 1967, S. 318. Den Ausführungen Astrid Keiners zufolge kann hier die Formulierung „hieroglyphischer Ausdruck“ durchaus im Sinne von ‚Symbolisierung‘ verstanden werden (vgl. Astrid Keiner, Hieroglyphenromantik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und zu seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie, Würzburg 2003, S. 128 f. und S. 121).  

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Broch teilt diese Beurteilung: Das Mythische ist „die dichterische Erkenntnis an sich, es ist die ewige Hoffnung, die immer aufblüht, wenn die rationale Erkenntnis an ihre Grenze gelangt, Hoffnung, im Mythos die verlorengegangene Sprache wiederzufinden“ (KW 9/2, 196). Der Mythos bzw. die mythische Dichtung erscheint hier folglich als Kompensation der ‚furchtbaren Verarmung‘ von Philosophie und Wissenschaften. Wie so häufig ist Broch um ein ausgewogenes Verhältnis von ‚denkerischer und dichterischer Erkenntnis‘ bemüht und distanziert sich damit von der einseitigen Aufwertung der Poesie in der Frühromantik, beispielsweise durch August Schlegel: [Die mythische Poesie] lässt noch jenseits der höchsten Speculation des Philosophen Seherblicke thun, welche den Geist‚ eben da, wo er, um sich selbst anzuschauen, allem Leben entsagt hatte, wieder in die Mitte des Lebens zurückzaubern. So ist sie der Gipfel der Wissenschaft, die Deuterin, Dollmetscherin jener himmlischen Offenbarung, wie die […] eine Sprache der Götter.38

Berücksichtigt man die Nähe zur frühromantischen Symboltheorie, wird die Differenz zwischen ästhetischem Sigel und semiotischem Signal in ihrer Tragweite sichtbar. Das ästhetisch-literarische Symbol wird bestimmt durch „Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten“ (Novalis),39 durch die „Übereinstimmung des Symbols mit dem Transzendenten“ (Weinhandl),40 durch „ein besonderes Analogon“ (Broch, KW 5, 297). Der semiotische Symbolbegriff beruht dagegen auf der Annahme, dass „im Gegensatz zu den Abbildern […] Symbol und Gegenstand einander nicht ähnlich [sind]“ (Gätschenberger).41 Wie umfassend der semiotische Symbolbegriff im Kontext des Neopositivismus gefasst wird, wird auch an folgendem Zitat aus Schlicks Aufsatz „Erkennen, Erleben, Metaphysik“ (1926) deutlich: Mitteilbar ist, was auf irgendeine Weise formuliert, das heißt, durch irgendwelche Symbole ausgedrückt werden kann, seien es Worte der Sprache oder sonstige Zeichen. […] Es ist also für das Wesen der Erkenntnis gerade diese symbolische Beziehung des Bezeichnens, der Zuordnung charakteristisch, welche zugleich immer schon Ausdruck, symbolische Darstellung, ist.42

38 August Wilhelm von Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen, S. 388. 39 Novalis, Schriften, Bd. 3. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Paul Kluckhohn/Richard H. Samuel/Hans-Joachim Mähl (Hrsg.), Stuttgart 1988, S. 266. 40 Ferdinand Weinhandl, Über das aufschließende Symbol, S. 32 (nachg. W.B.). 41 Gätschenberger, ΣΥΜΒΟΛΑ, S. 193. 42 Moritz Schlick, „Erleben, Erkennen, Metaphysik“, in: Kant-Studien, 31/1926, S. 146–158, hier S. 146 (nachg. W.B.).

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Die Tatsache, dass Hermann Broch sowohl den semiotischen als auch den ästhetisch-poetischen Symbolbegriff gebraucht und dies nicht immer terminologisch kenntlich macht, sorgt speziell im Essay „Über syntaktische und kognitive Einheiten“ für Unklarheiten. So zieht Michael Roesler-Graichen folgendes Resümee: Es unterlaufen ihm [Hermann Broch, M.I.] […] in bezug auf Begriffe wie ‚Symbol‘ und ‚Intuition‘, die im mathematischen Intuitionismus und in der Grundlagenforschung allgemein streng definiert sind, Vermengungen mit dem künstlerischen Intuitionsbegriff und dem ästhetischen Symbolverständnis. Im Gegensatz zur Mathematik lassen sich die eidetischen Abstraktionen, die Broch annimmt, nicht unmittelbar ausdrücken, wie dies mit Hilfe eines mathematischen Symbols möglich wäre.43

III Schlussfolgerung: Brochs Sprachreflexionen zwischen Romantik und Neopositivismus Hermann Broch übernimmt zentrale Aspekte des Neopositivismus von Richard Gätschenberger und Heinrich Rickert in seinen sprachtheoretischen Überlegungen dann, wenn er Sprache als Instrument empirischer Wirklichkeitserkenntnis zu beschreiben versucht. In einer historischen Perspektivierung bewertet er die Errungenschaften des Neopositivismus – entgegen seiner sonstigen Distanzierung von diesem – insofern positiv, als ihre analytisch-logische Methode eine solide sprachphilosophische Fundierung für Wissenschaften, Mathematik und Logik ermöglicht. In dem zunehmenden Verlust an sprachlich-rationalen Ausdrucksmöglichkeiten metaphysischer Gehalte macht Broch allerdings die Kehrseite dieser sprachlichen Präzisierung und Formalisierung aus: „[…] es ist Wittgenstein, der diese letzte Konsequenz gezogen hat, und der alle übrigen philosophischen Belange und Aspirationen in das Reich der ‚Mystik‘ verwiesen hat […] – die Ästhetik wurde eigentlich schon früher fallen gelassen“ (KW 10/1, 202 f.). Indem er auf den neopositivistischen Kontext Bezug nimmt, findet auch dessen semiotische Auffassung des Symbols Eingang in seine Argumentation. Problematisch daran ist, dass sich in der neopositivistischen Sprachtheorie eine unüberwindbare Kluft zwischen Wissenschaften und Dichtung eröffnet, die Brochs Bemühen, beide als zwei Formen des einen menschlichen Erkenntnisstrebens zu beschreiben, radikal entgegenstehen. Besonders markant wird diese Diskrepanz wiederum anhand eines Abschnitts aus Schlicks „Erkennen, Erleben, Metaphysik“:  

43 Roesler-Graichen, Poetik und Erkenntnistheorie, S. 42.

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Dem Physiker scheint es versagt zu sein, mit dem Dichter von einer grünen Wiese und einem blauen Himmel zu sprechen […]. Die Geisteswissenschaften und die Dichtung unterscheiden sich nicht dadurch von der exakten Erkenntnis, daß sie etwas ausdrücken könnten, was dieser versagt ist (sie können im Gegenteil nur weniger aussagen), sondern dadurch, daß sie nicht nur ausdrücken, sondern zugleich etwas anderes erreichen wollen. Sie wollen nämlich in letzter Linie Erlebnisse anregen und hervorrufen […].44

Dichtung und Naturwissenschaften haben nach neopositivistischem Verständnis nicht nur keine gemeinsame Sprache, sondern auch kein gemeinsames Erkenntnisanliegen. In der frühromantischen Reflexion wird, im Folgenden beispielhaft in Novalis’ „Die Lehrlinge zu Sais“, eine konträre Position bezogen: Naturforscher und Dichter haben durch eine Sprache sich immer wie ein Volk gezeigt. Was jene im Ganzen sammelten und in großen, geordneten Massen aufstellten, haben diese für menschliche Herzen zur täglichen Nahrung und Notdurft verarbeitet, und jene unermeßliche Natur zu mannigfaltigen, kleinen, gefälligen Naturen zersplittert und gebildet. Wenn diese mehr das Flüssige und Flüchtige mit leichtem Sinn verfolgten, suchten jene mit scharfen Messerschnitten den innern Bau und die Verhältnisse der Glieder zu erforschen.45

Züge dieser erkenntnissuchenden Arbeitsgemeinschaft von Wissenschaftlern und Dichtern finden sich ebenfalls in Brochs Texten, zu denken ist beispielsweise an die programmatische Baum-Metapher im Essay „Denkerische und dichterische Erkenntnis“ (1933): Denn wissenschaftliche und künstlerische Erkenntnis sind Zweige eines einzigen Stammes, und der ist die Erkenntnis schlechthin. Und wenn es die Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, zur Totalität der Welt in unendlich vielen, unendlich kleinen rationalen Schritten vorzudringen, ewig sich ihr anzunähern, niemals sie erreichend, und wenn es die Aufgabe der künstlerischen Erkenntnis ist, den von der Wissenschaft unerreichbaren „Weltrest“ ahnen zu lassen, jenen Weltrest, der doch vorhanden, der doch gewußt ist und den zu erfassen die ewige Sehnsucht des Menschen ist – immer ist Dichten solche Ungeduld der Erkenntnis […]. (KW 9/2, 48 f.)  

Dort, wo der Neopositivismus keinen Raum für ästhetisch-poetische Erkenntnis lässt, nähert sich Broch argumentativ frühromantischen Positionen an. Er entwirft Dichtung als System echter, also ästhetischer Symbole, welchen es möglich sein soll, die aus der Philosophie und Wissenschaft ausgeschiedenen Bereiche der Metaphysik und Ästhetik sprachlich darzustellen. Dabei adaptiert Broch al-

44 Moritz Schlick, „Erleben, Erkennen, Metaphysik“, S. 149. 45 Novalis, „Die Lehrlinge zu Sais“, in: Schriften, Bd. 1, Das dichterische Werk, Kluckhohn/ Samuel (Hrsg.), S. 79–109, hier S. 84.

Signal und Sigel

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lerdings einen Symbolbegriff, der massiv von demjenigen abweicht, der dem Kontext der neopositivistischen Sprachtheorie entstammt. Denn die genannten frühromantischen Autoren halten, wie Ernst Behler zeigt, an einem „allegorischen Konzept der Poesie“46 und damit der poetischen Symbole fest, folglich auch an einer metaphorischen Ähnlichkeit von Symbol und Symbolisiertem. Zudem wird das frühromantische Symbolkonzept mit der Metaphorik von Chiffre und Hieroglyphe mit dem Aspekt des Unauflöslichen, dem Rätselhaften angereichert und dadurch zusätzlich von ausschließlich arbiträren und konventionellen Zeichenkonzepten abgegrenzt.47 Die frühromantische Sprachtheorie bietet in diesem Sinne keine produktiven Impulse für die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme in Physik, Mathematik und Logik der Jahrhundertwende. Frühromantische wie neopositivistische Ansätze weisen somit aus Brochs Perspektive betrachtet gleichermaßen gravierende Defizite auf, die er jedoch im Syntax-Essay durch wechselseitige Ergänzung aufzuheben versucht. Die frühromantische Ästhetik und Poetik ermöglicht es Broch, die erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Kluft, die der Neopositivismus aufriss, zu überwinden und Dichtung als Weg zur Erkenntnis metaphysischer Gehalte zu rehabilitieren. Der Neopositivismus seinerseits stellt ihm mit Protokollsatz, Struktur-Abbildung und logischer Satzanalyse die richtigen Mittel zur Verfügung, um dem Anspruch gerecht zu werden, auch die wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen Anforderungen an die Sprachtheorie adäquat im Aufsatz zu berücksichtigen. Unter diesen Vorzeichen erscheint die Vermengung von semiotischem und ästhetisch-literarischem Symbolbegriff nicht als Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit, sondern vielmehr als – wenn auch nicht unproblematische – Argumentationsstrategie im Syntax-Essay. Indem Logik und Mathematik, „das wissenschaftliche Kern-Gebiet“ (KW 10/2, 257), ebenso wie Dichtung und Literatur als SymbolSystem beschrieben werden, führt Broch denkerische und dichterische Erkenntnis auf einen Stamm, also ein sprachtheoretisches Fundament zurück. Beide Systeme stellen eine sprachliche Abbildung dar. Von dieser Gemeinsamkeit ausgehend werden beide Bereiche differenziert, in ihrer Eigenart näher beschrieben und so als gleichwertige und gleichrangige Erkenntnisformen nebeneinander gestellt: Philosophie und Wissenschaften bilden ‚Punkt für Punkt‘, d.h. reversibel mittels semiotischer Symbole oder Signale ab, Dichtung und Kunst bilden nach dem Muster Urbild-Abbild irreversibel mittels ästhetischer Symbole oder Siglen

46 Ernst Behler, „Symbol und Allegorie in der frühromantischen Theorie“, in: Ernst Behler (Hrsg.), Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn 1993, S. 249–263, hier S. 261. 47 Vgl. Keiner, Hieroglyphenromantik, besonders S. 111 f. (zu Novalis) und S. 119 f. (zu Friedrich Schlegel).  



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Manuel Illi

ab. So gelingt es Broch, die jeweilige erkenntnistheoretische Hierarchisierung von Neopositivismus (Absprechen der Erkenntnisfunktion von Literatur und Ästhetik) und Frühromantik (erkenntnistheoretischer Überordnung der Poesie) zu nivellieren. Brochs sprachtheoretische Überlegungen erscheinen als argumentative Untermauerung seiner Erkenntnistheorie, nach der Wissenschaften und Literatur zwar defizitär sind, zusammen einander aber produktiv auf dem Weg zur „Erkenntnis schlechthin“ (KW 9/2, 48) ergänzen.

II Romantikkonzepte in Hermann Brochs Romanen

Paul Michael Lützeler, St. Louis

Hermann Brochs „Pasenow oder die Romantik“ und Carl Schmitts „Politische Romantik“ I Ein trans-epochaler Romantikbegriff Broch hatte ursprünglich nur den Namen „Pasenow“ als Titel für den ersten Band seiner Romantrilogie „Die Schlafwandler“ vorgesehen, wie den frühen Manuskripten zu entnehmen ist (KW 1, 739 f.).1 Später ergänzte er den Hinweis „oder die Romantik“, und zuletzt fügte er noch die Jahreszahl „1888“ hinzu. Stellt man sich bei „Pasenow oder die Romantik“ eine fiktive Biografie vor, die in die Zeit der deutschen Romantik (also ins späte 18. oder frühe 19. Jahrhundert) fällt, so wird dieser Eindruck durch die Angabe der Jahreszahl „1888“ korrigiert. Die Jahre um 1890 gelten als Beginn einer kurzen „neuromantischen“ Zeit,2 in der Autoren und Autorinnen wie Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch,3 Agnes Miegel und Börries von Münchhausen bewusst an Themen und Schreibweisen der Romantik anknüpften. Bei der Lektüre von Brochs „Pasenow“ erkennt man bald, dass der Titel auch auf diese Phase der Literatur nicht anspielt. Offenbar hat das Buch nur wenig mit dichtungs- und kunsthistorischen Periodisierungen zu tun, und am besten sieht man sich genauer an, wie „Romantik“ im Pasenow-Roman bzw. in der Trilogie allgemein umschrieben wird. Brochs Verständnis von Romantik bezieht sich nicht lediglich auf die Epoche der Zeitgenossen von Friedrich Schlegel und Novalis, von Achim von Arnim und Clemens Brentano, von Ludwig Tieck und Joseph von Eichendorff. Eduard von Bertrand bringt im Gespräch mit Joachim von Pasenow einen formalen Begriff von Romantik ins Spiel, der potentiell Vertreter in den unterschiedlichsten europäischen Kulturepochen von der Antike bis zur Gegenwart aufweist. Bertrand spricht  

1 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat. 2 Wolfgang Paulsen (Hrsg.), Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, Heidelberg 1969, S. 15–31. 3 Ricarda Huch veröffentlichte während der neuromantischen Phase zwei einflussreiche Bücher über die Romantik: Blütezeit der Romantik (1899) und Ausbreitung und Verfall der Romantik (1902), beide in Leipzig bei Haessel erschienen.

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Paul Michael Lützeler

von einer „romantischen Gefühlskonvention“, die sich in Bahnen „überlebter Formen“ bewegt, und deren Charakteristika „Müdigkeit“ (KW 1, 60) und „Auswegslosigkeit“ (KW 1, 61) seien. Ergänzende Formulierungen vergleichbarer Art finden sich im dritten Band der „Schlafwandler“. In der Essayfolge „Zerfall der Werte“ wird der „Romantiker“ bestimmt als jemand, dem es „um Geschlossenheit des Welt- und Wertbildes geht, und der das ersehnte Bild in der Vergangenheit sucht“ (KW 1, 496). Dabei könne der „rückgewendete Blick“ zum Beispiel auf „die Antike“ oder „die Gotik“ (KW 1, 497) gerichtet sein. Bezeichnend sei ein „Zurücksehnen in die Obhut des Glaubens“ (KW 1, 498) vergangener Jahrhunderte. In den „Huguenau“-Band der „Schlafwandler“ hat Broch auch Aphorismen eingeflochten, in denen ebenfalls das Nichtzeitgemäße romantischen Verhaltens herausgestellt wird: Der „romantische Mensch“ klammere sich, heißt es da, „an die Formen eines fremden und dogmatisierten Wertsystems“ (KW 1, 597). Das „Festhalten an alten romantischen Formen“ vermittle jedoch lediglich den „Rausch einer Schein-Gemeinschaft“ und biete keinen „Schutz vor der Unsicherheit“ (KW 1, 707), die die Gegenwart mit ihrer offenen Zukunft mit sich bringe. Man sollte bekanntlich die Perspektiven von Erzählern nicht mit den Ansichten der Romanautoren verwechseln, doch fällt auf, dass sich bei Broch auch in seinen nicht-fiktionalen Texten identische Definitionen von Romantik finden, die sich nicht lediglich auf die frühen Dekaden des 19. Jahrhunderts beziehen, sondern trans-epochal zu verstehen sind. So schreibt er in seinen Essays, dass es sich bei „Romantik“ um eine „konservative Stabilisierung“ (KW 9/2, 138) handle, um jene Einstellung, „welche die gewesenen Werte für immer festhalten“ (KW 9/2, 151) wolle. Das Beharren auf „feststehenden Konventionen“ einer vergangenen „Väterwelt“, in der angeblich „alles gut und richtig war“, komme einer „Flucht vor der Wirklichkeit“ (KW 9/2, 151) gleich. Würde es sich hier um pauschale Bemerkungen zur historischen Romantik der Jahre um 1800 handeln, könnte man Broch den Vorwurf einer stark verkürzten, jener Epoche nicht gerecht werdenden Kritik nicht ersparen. Es geht bei ihm aber um einen viel allgemeiner gehaltenen, nämlich trans-epochalen Romantikbegriff.4 Bei seinen Beispielen für romantisches Verhalten bezieht Broch sich im „Pasenow“ auf die preußische militärisch-agrarische

4 Vgl. Theodore Ziolkowski, „Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur. Methodologische Überlegungen“, in: Wolfgang Paulsen (Hrsg.), Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, S. 15–31. Dort finden sich auf den Seiten 24–27 auch Hinweise auf Broch allgemein und die Romantrilogie „Die Schlafwandler“ im Besonderen. Er schreibt zutreffend auf S. 25: „Die Romantik gilt für ihn [Broch] als eine nach rückwärts gewandte, konservative Bewegung, die aus Angst vor der Wirklichkeit das Historische verabsolutiert und zu bewahren versucht.“ Allerdings trifft Ziolkowski noch nicht die bei Broch wichtige Unterscheidung zwischen einem historischen und einem trans-epochalen Romantikbegriff.

Hermann Brochs „Pasenow“-Roman

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Adelsschicht des Wilhelminismus im späten 19. Jahrhundert, im „Zerfall der Werte“ wird die „Mittelalter“-Fixierung (KW 1, 496) des Novalis in Erinnerung gerufen und in seinen Essays kommt er auf die „Sehnsucht nach dem Rousseauschen Naturzustand“ (KW 10/1, 225) im 18. Jahrhundert, beim „jesuitischen Barock“ (KW 10/1, 208) auf die „Neuauflage der mittelalterlichen Theologie“ in der frühen Neuzeit und schließlich gar auf „die späte minoische Kunst“ der griechischen Antike zu sprechen, die ebenfalls „Merkmale eines romantischen Zeitalters“ (KW 9/2, 225) aufweise. Diese trans-epochale Typisierung der romantischen Einstellung findet man nicht nur bei Broch, sondern auch bei Carl Schmitt, der Broch hier entweder inspirierte oder in seiner Auffassung bestärkte. Die intertextuellen Bezüge zwischen einem Roman Hermann Brochs und einem theoretischen Werk Carl Schmitts sollen hier profiliert werden. Broch war gegen Ende des Ersten Weltkriegs und in den frühen 1920er Jahren Mitglied eines Kreises junger deutscher und österreichischer Intellektueller, der von Franz Blei in Wien zusammengehalten wurde. Ihm gehörten auch Albert Paris Gütersloh, Robert Musil, Paul Schrecker und Carl Schmitt an.5 In Bleis Zeitschrift „Summa“ publizierten die meisten Teilnehmer dieses Kreises, auch Hermann Broch und Carl Schmitt.6 In den 1920er Jahren wurde Carl Schmitt zum prominenten Beiträger der katholischen – kirchlich nicht gebundenen – Kulturzeitschrift „Hochland“,7 einem Journal, das auch Broch las. Briefliche Dokumente der Beziehung zwischen Broch und Schmitt haben sich nicht erhalten, doch sandte Broch seinen Essay „Logik einer zerfallenden Welt“ (KW 10/ 2, 156–171) mit der Widmung „Herrn Prof. Dr. Carl Schmitt in Ergebenheit Hermann Broch Februar 1932“ an den alten Bekannten.8 Ab 1933 gab es zwischen dem zum Hitler-Verehrer mutierten deutschen Staatslehrer und dem österreichischen

5 Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 94–101; vgl. ferner Helga Mitterbauer, „Hermann Broch und Franz Blei: Untergehende Kultur, zerfallende Werte“, in: Endre Kiss/Paul Michael Lützeler/Gabriella Rácz (Hrsg.), Hermann Brochs literarische Freundschaften, Tübingen 2008, S. 37–50. 6 Vgl. Paul Michael Lützeler, Hermann Broch. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1985, S. 283. 7 Vgl. Friedrich Vollhardt, „Hermann Broch und der religiöse Diskurs in den Kulturzeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos)“, in: Paul Michael Lützeler/Christine Maillard (Hrsg.), Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks (Recherches germaniques, hors serie no. 5, 2008), S. 37–52. 8 Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum, „Hermann Broch und Carl Schmitt“, in: Jürgen Heideking (Hrsg.), Wege der Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 69–100, hier S. 69. Nach Mitteilung von Graf Vitzthum vom 14.4.2012 befand sich der Sonderdruck mit Brochs Widmung an Broch damals im Privatbesitz von Roman Schnur (1927–1996), einem Kollegen Vitzthums an der juristischen Fakultät der Universität Tübingen. Schnur war ein Verehrer des Werks von Carl Schmitt und hat mehrfach über ihn publiziert.

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Schriftsteller keinen Kontakt mehr, doch wusste man im ehemaligen Freundeskreis von Franz Blei über Schmitts Entwicklung zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“ Bescheid.9 Schmitt hatte 1934 nach der Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm und anderer Gegner des NS-Regimes das Vorgehen Hitlers mit dem Artikel „Der Führer schützt das Recht“ nachträglich für legitim erklärt.10 Da wird deklariert, dass „der Führer“, kraft „seines Führertums“ und als „oberster Gerichtsherr, unmittelbar Recht schafft.“ Im April 1946 erkundigte Broch sich bei Egon Vietta danach, was mit Schmitt in der Nachkriegszeit geschehen sei,11 doch erhielt er auf seine Frage keine Antwort. Sicher lasen und schätzten die Mitglieder des BleiKreises die frühen Schriften von Carl Schmitt, und das erstmals 1919 erschienene Buch „Politische Romantik“ dürfte auch Broch gekannt haben. Falls Broch damals das Werk nicht gelesen haben sollte, wurde er in den frühen 1920er Jahren durch Schmitts Publikationen in „Hochland“ darauf hingewiesen. 1925 erschien die zweite Auflage seiner Studie „Die politische Romantik“, die – im Gegensatz zur ersten – ein großer Erfolg wurde, und nach der in der Folge zitiert wird. Am Anfang seines Buches betont Schmitt, dass die „Definition des Romantischen“ nicht von einem als „romantisch empfundenen Gegenstand oder Thema ausgehen“ dürfe (etwa vom „Mittelalter“ oder „der Ruine“), „sondern vom romantischen Subjekt“.12 Dieses Subjekt entwickle eine „spezifisch romantische Beziehung zur Welt“ (PR 5), die zwei Hauptrichtungen kenne: eine „der Energie“ bzw. des „aktuellen Lebens“ und eine „der Dekadenz“ bzw. der „Flucht in Vergangenheit und Tradition“ (PR 7). Romantik könne sich einerseits als „revolutionäre Bewegung gegen die überlieferten Formen und die bestehenden sozialen Zustände“ richten; andererseits sich aber auch als „Rückkehr zur Tradition“, als „Flucht in die Vergangenheit“ (PR 13) äußern. Hippolyte Taine hat 1864 in seiner „Histoire de la littérature anglaise“ die erste Richtung profiliert, Heinrich Heine 1836 in der „Romantischen Schule“ dagegen die zweite. Hier fassen wir die zweite, die traditionsverhaftete romantische Beziehung zur Welt ins Auge. Carl Schmitt nimmt sie am Ende seiner Studie aus ihrer Bindung an eine bestimmte historische Phase heraus. Da fügt er einen Exkurs über das 1847 veröffentlichte

9 „Kronjurist des Dritten Reiches“ ist eine Bezeichnung, die Waldemar Gurian für seinen ehemaligen Lehrer Carl Schmitt fand. Gurian, der schon vor 1933 mit Schmitt gebrochen hatte, war im amerikanischen Exil mit Broch befreundet. Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt, S. 315. 10 Carl Schmitt, „Der Führer schützt das Recht“, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 39.5/1934, Sp. 945–950. 11 Silvio Vietta/Roberto Rizzo (Hrsg.), „Sich an den Tod heranpürschen…“ Hermann Broch und Egon Vietta im Briefwechsel 1933–1951, Göttingen 2012, S. 55. 12 Carl Schmitt, Politische Romantik, München/Leipzig 1925, S. 5. In der Folge wird das Buch mit (PR) und folgender Seitenangabe zitiert.

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Buch „Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige“13 von David Friedrich Strauß ein. Strauß war bei Erscheinen der Studie über den spätrömischen Kaiser Iulianus Apostata seit über einem Jahrzehnt berühmt, hatte er doch 1835/36 mit „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ eines der meistdiskutierten Bücher des 19. Jahrhunderts publiziert. Der zeitgenössische Leser musste bei dem Schlagwort vom „Romantiker auf dem Thron“ an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. denken, und es ging Strauß auch darum, dessen „konservative und antiliberale Politik“ (PR 210) bloßzustellen. Auf die kulturellen und politischen Analogien weist Schmitt hin, die erkennbar seien, obgleich 1500 Jahre zwischen der Herrschaft des römischen Cäsaren und der des preußischen Königs lagen. In der Mitte des 4. Jahrhunderts – so die von Strauß konstruierte historische Parallele – suchte Julian den Kult der römischen Götter gegen die unaufhaltsam wachsende Verehrung des Christengottes zu verteidigen und zu re-etablieren.14 In der Mitte des 18. Jahrhunderts will Friedrich Wilhelm IV. – genau so vergeblich – das immer schwächer werdende Christentum mit Kirchen- und Dombauten stabilisieren und beleben: Man denke an das Projekt der Fertigstellung des Kölner Domes, die er zu seiner Chefsache erklärte.15 In beiden Fällen soll auch durch die jeweils alt-überlieferte Religion das Amt des Herrschers gestützt werden. Die zentrale Stelle in Straußens Buch, an der es um die trans-epochale Definition von Romantik geht, wird ausführlich von Schmitt zitiert: Die geschichtlichen Stellen, wo Romantik und Romantiker aufkommen können, sind solche Epochen, wo einer altgewordenen Bildung eine neue gegenübersteht, welche, noch unfertig und unausgebildet, in Vergleichung mit den entwickelten Positionen von jener, als negativ erscheint. Auf solchen Markscheiden der Weltgeschichte werden Menschen, in denen Gefühl und Einbildungskraft das klare Denken überwiegt, Seelen von mehr Wärme als Helle, sich immer rückwärts, zum Alten, kehren; aus dem Unglauben und der Prosa, die sie um sich her überhandnehmen sehen, werden sie nach der gestaltenreichen und gemüthlichen Welt des alten Glaubens, der urväterlichen Sitte sich sehnen, und diese für sich und wo möglich auch außer sich wiederherzustellen suchen. Da sie aber von dem ihnen widrigen neuen Principe, als Kinder ihrer Zeit, mehr als sie wissen, selbst auch durchdrungen sind, so wird das Alte, wie es sich in ihnen und durch sie reproducirt, nicht mehr das reine, ursprünglich Alte sein, sondern mit dem Neuen vielfach gemischt, und dadurch an dieses zum Voraus verrathen; der Glaube nicht mehr der ächte, unwillkürlich das Subjekt beherr-

13 David Friedrich Strauß, Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige, Mannheim 1847. 14 Zum heutigen Forschungsstand vgl. Glen Warren Bowersock, Julian the Apostate, Cambridge 1997 und Klaus Bringmann, Kaiser Julian, Darmstadt 2004. 15 Vgl. Jan Werquet, Historismus und Repräsentation. Die Baupolitik Friedrich Wilhelms IV. in der preußischen Rheinprovinz, Berlin 2010. Vgl. ferner Frank L. Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990.

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schende, sondern ein solcher, an welchem dieses willkürlich und absichtlich festhält. Den Widerspruch und die Unwahrheit, welche hierin liegen, verbirgt sich jenes gemüthliche Bewusstsein durch ein phantastisches Dunkel, worein es sie verhüllt: die Romantik ist wesentlich Mysticismus, und nur mystische Gemüther können Romantiker sein. Allein die Widersprüche zwischen dem Alten und Neuen sind zum Theil auch im tiefsten Dunkel mit Händen zu greifen; die Unwahrheit eines willkürlichen Glaubens ohnehin muß im innersten Bewußtsein empfunden werden: weßwegen denn Selbstverblendung und innere Unwahrhaftigkeit zum Wesen jeder Romantik gehören.16

Schmitt applaudiert Strauß, wenn er zu dem Zitat festhält: Diese Begriffsbestimmung, die wegen ihrer typischen Bedeutung ausführlich wiedergegeben wurde, ist wohl die beste Zusammenfassung einer oft wiederholten Ansicht über das Romantische. Sie versucht, […] einen allgemeinen, welthistorischen Typus des Romantikers aufzustellen. (PR 212)

Es ist möglich, dass Broch nach der Lektüre von Schmitts „Politischer Romantik“ auch das kleine Buch von David Friedrich Strauß selbst gelesen hat. Das Verzeichnis von Brochs Wiener Bibliothek17 enthält neben drei Einzeltiteln von Strauß auch dessen „Gesammelte Schriften“, wie sie in zwölf Bänden, herausgegeben von Eduard Zeller, in Bonn zwischen 1876 und 1878 erschienen waren. In seinem Buch über Iulianus Apostata hat Strauß an anderer Stelle nochmals festgehalten, dass beim „Romantiker“ die „Ideale rückwärts liegen“, dass er „eine ausgelebte Geistes- und Lebensgestalt […] gewaltsam festhalten“ wolle, dass er „das Rad der Geschichte zurückdrehen“ möchte, wobei er jedoch dem „Genius der Zeit unterliegen“ müsse.18 Diese Stelle wie auch das lange Zitat lesen sich so, als werde hier das Verhalten Joachim von Pasenows auf den Nenner gebracht: Broch hat die Figur des jungen Pasenow im Sinne eines trans-epochalen Typusbegriffs vom Romantiker gestaltet.19 Pasenow ist eine dieser Straußschen „Seelen von mehr Wärme als Helle“. Seine Sehnsucht ist jene „romantische“ nach der „gemüthlichen Welt des alten Glaubens“ und nach der „urväterlichen Sitte“. An ihm exemplifiziert Broch die Hinwendung „zum Alten“ allgemein, aber auch die

16 Strauß, Der Romantiker auf dem Throne, S. 20 f. Bei Carl Schmitt findet sich das Zitat auf S. 211 f., doch wird hier nach dem Original zitiert. 17 Klaus Amann/Helmut Grote (Hrsg.), Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs. Kommentiertes Verzeichnis des rekonstruierten Bestandes, Wien/Köln 1990. 18 Strauß, Der Romantiker auf dem Throne, S. 51 f. 19 Auf keinen Fall kann man wie Mandelkow behaupten, dass „Typusbegriff und historischer Begriff der Romantik für Broch identisch“ seien. Vgl. Karl Robert Mandelkow, Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“. Gestaltung und Reflexion im modernen deutschen Roman, Heidelberg 1962, S. 89.  





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Tatsache, dass man mit einer solchen Einstellung sich der Vergangenheit ausliefert und die Gegegenwart „verräth“, weil man zum „ursprünglich Alten“ keinen Zugang mehr haben kann, da es „mit dem Neuen vielfach gemischt“ ist.

II Deutsche Kolonialromantik Auch der außenpolitische Bereich wird von Bertrand in den Kategorien der Schmitt-/Straußschen Romantik gesehen. Den deutschen Kolonialismus tut er als „Romantik“ im Sinne von unzeitgemäß und rückwärtsorientiert, ja gar als „Spaß“ ab. Zum deutschen Afrikaprojekt führt Bertrand im Gespräch mit Pasenow aus: Nun ja, was soll dabei heraussehen? Ein bißchen privater Kriegsspaß und Kriegsruhm für die unmittelbar Beteiligten. Natürlich alle Achtung für Dr. Peters, und wäre er früher gekommen, ich hätte wahrhaftig mitgetan, aber was soll sonst wirklich dabei heraussehen, außer Romantik? Ist ja doch alles Romantik – mit Ausnahme der katholischen und evangelischen Missionstätigkeit natürlich, die nüchterne, zweckdienliche Arbeit besorgt. Aber alles andere – Spaß, nichts als Spaß. (KW 1, 32)

Bertrand ist ein global agierender Baumwollhändler, der zwischen Europa, Indien und Amerika geschäftlich unterwegs ist. Er hat nicht nur in deutschen Hafenstädten wie Hamburg und Bremen, sondern auch beim Cotton Exchange in Liverpool (KW 1, 30 f.) Büros und Vertretungen.20 Bertrands Sachverstand als Kaufmann rät ihm, auf die britische Karte zu setzen, wenn es um Kolonialgeschäfte geht. Er, der sich zur Beschaffung von Baumwolle oft in „Indien“ (KW 1, 120/158/164/169), der bevölkerungsreichsten Kolonie des British Empire, aufhält, betont, dass er „überflüssige Kapitalien immer noch lieber in englischen Kolonialpapieren“ als „in deutschen“ anlege (KW 1, 32). Gerade für ihn als Cotton Dealer sind gute Beziehungen zu Indien unerläßlich, denn dort ist Baumwolle (neben Jute und Tee) eines der drei Hauptprodukte des Landes.21 Während Bertrand im englischen Kolonialismus ein in Jahrhunderten entstandenes, stabiles politisch-wirtschaftliches System erkennt, kann er nichts anfangen mit den verspäteten Anstrengungen von Carl Peters, der die deutsche Beteiligung am Wettlauf um Afrika, den „scramble for Africa“,22 gestalten möchte. Bertrand in Brochs Roman ist ein  

20 Seiner Neigung zu allem Englischen gibt er schon äußerlich dadurch zu erkennen, dass er sich in „englisches Tuch“ (KW 1, 31) kleidet und eine „englische Pfeife“ (KW 1, 59) raucht. Auch sein „Rechtsvertreter“ sieht „einem Engländer ähnlich“ (KW 1, 147). 21 Vgl. Tapan Raychaudhuri/Irfan Habib (Hrsg.), The Cambridge Economic History of India, 2 Bde., Cambridge/New York 1982/1983. 22 Thomas Pakenham, The Scramble for Africa, London 1992.

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Bewunderer des englischen Imperiums, und Anglophilie zeichnete auch den Publizisten Carl Peters aus. Der hatte sich in den frühen 1880er Jahren in London über das global agierende England informiert und drang darauf, dass das seit gut einem Jahrzehnt vereinigte Deutsche Reich ebenfalls Kolonien bekomme. 1884 (also vier Jahre vor dem hier referierten fiktiven Gespräch zwischen Brochs Romanfiguren) gründete Peters die „Gesellschaft für Deutsche Kolonisation“, unternahm auf eigene Faust noch im gleichen Jahr eine Expedition nach Ostafrika, schloss dort mit lokalen Häuptlingen einige sogenannte „Schutzverträge“ ab und drängte die deutsche Außenpolitik, die von Bismarck gelenkt wurde, dazu, der von Peters gegründeten Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft einen kaiserlichen Schutzbrief auszustellen. Im Jahr 1887 schloss Peters mit dem Sultan von Sansibar einen Vertrag ab, der einen Küstenstreifen des ostafrikanischen Festlands gegenüber der Insel der neuen Gesellschaft von Peters unterstellte.23 1888, also im Jahr der Romanhandlung, brach ein Aufstand der Küstenbewohner aus, was das Ende der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft und den Beginn der Kontrolle dieser Region durch das Deutsche Reich bedeutete: Damals wurde Hermann von Wissmann als Reichskommissar für Deutsch-Ostafrika eingesetzt, der ein Jahr später den Aufstand der einheimischen Bevölkerung mit militärischer Gewalt niederschlug.24 So lässt sich die kaufmännische Skepsis Bertrands gegenüber den Aktionen von Carl Peters verstehen. Vom kommerziellen Standpunkt aus betrachtet waren die deutschen Kolonien damals kein Erfolg, ganz im Gegensatz zu den britischen. „Romantik“ im Sinne der Bedeutung von unzeitgemäß, verspätet, irrational und imitativ ist im Jahr 1888 eine angemessene Bezeichnung der Kolonialpolitik des Reiches. Zu berücksichtigen bei der Interpretation von Bertrands Bedenken ist auch, dass Bismarck wenige Jahre zuvor (von Mitte November 1884 bis Ende Februar 1885) in Berlin die sogenannte Afrika- bzw. Kongokonferenz25 geleitet hatte. Der Reichskanzler versuchte sich erneut als „ehrlicher Makler“: diesmal beim Ausgleich von Interessengegensätzen zwischen England, Frankreich und Belgien auf dem afrikanischen Kontinent, der wie ein

23 Vgl. Arne Perras, Carl Peters and German Imperialism 1856–1918. A Political Biography, Oxford 2004, vgl. dort besonders das Kapitel 3 über „Peters and the German East Africa Company (1885– 1887)“, S. 67–130. 24 Vgl. Thomas Morlang, „‚Finde ich keinen Weg, so bahne ich mir einen‘. Der umstrittene ‚Kolonialheld‘ Hermann von Wissmann“, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hrsg.), … Macht und Anteil an der Weltherrschaft‘. Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005, S. 37–43. 25 Ronald Robinson, „The Conference in Berlin and the Future in Africa, 1884–1885“, in: Stig Förster/Wolfgang J. Mommsen/Ronald Robinson (Hrsg.), Bismarck, Europe, and Africa. The Berlin Africa Conference 1884–1885 and the Onset of Partition, Oxford 1988, S. 1–32.

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Kuchen zur Feier europäischer Macht aufgeteilt wurde. Auch das Deutsche Reich sicherte seine Präsenz in Togo, Kamerun und Deutsch-Südwestafrika ab. Bismarcks Politik blieb von der Rücksicht auf den europäischen Frieden bestimmt, was es ihm nicht erlaubte, durch zu große Forderungen in Afrika die Weltmächte England und Frankreich gegen Deutschland aufzubringen. Bei der Afrikakonferenz ging es vor allem um die Sicherung des internationalen Handels mit dem Kongo, der als Privatkolonie dem belgischen König Leopold II. zugestanden wurde. In das Jahr 1888 fällt auch der Regierungsantritt Wilhelms II., dem Bismarcksche Rücksichten fremd sein werden und der damit Kriegskonfrontationen mit anderen Mächten riskiert. Aber das ist im Augenblick der Unterhaltung zwischen Pasenow und Bertrand noch nicht abzusehen. So angemessen der Begriff „Romantik“ in dem hier benutzten typologischen Sinn ist, fragt sich doch, ob Bertrands mehrfach wiederholte Charakterisierung des deutschen Kolonialismus als „Spaß“ angemessen ist. Wie kann jemand, dem die kolonialen Betrugsmanöver der Deutschen gegenüber der afrikanischen einheimischen Bevölkerung sicher bekannt sind, hier von „Spaß“ sprechen, umso mehr, als inzwischen die ersten Aufstände gegen die neuen Herren begonnen haben? Offenbar ist hier von der subjektiven Einstellung der neuen deutschen Kolonialherren die Rede und nicht von einer objektiven Einschätzung der Gesamtlage. Bertrands Einschätzung der kolonialen Unternehmung von Carl Peters als subjektiven „Spaß“ wird durch neue Kulturstudien zum Thema bestätigt. Christian Geulen hat sich Peters’ Berichte aus dem Jahr 1885 in der „Täglichen Rundschau“ über dessen Expedition nach Ostafrika genauer auf die psychologische Motivation ihres Autors hin angeschaut. Geulen stellt fest: In einer eindeutig an Karl May geschulten Mischung aus Abenteuer- und Hintertreppenroman finden sich in diesem Bericht weder eine Begründung für das waghalsige Unternehmen noch der explizite Versuch, die Leser von der Notwendigkeit einer deutschen Kolonialpolitik zu überzeugen, oder irgendwelche sachlichen Informationen über das ‚erworbene‘ Land oder seine Bewohner. Stattdessen war Peters’ Bericht eine reine Abenteuergeschichte von vier Deutschen, die unter falschem Namen heimlich das Reich verlassen, nach Afrika fahren, dort eine stattliche Anzahl von Dienern und Trägern engagieren, ins Landesinnere ziehen, manche Kämpfe bestehen und vor allem in möglichst raffinierter Weise obskure Verträge mit exotischen Häuptlingen abschließen, von denen einer sogar – laut Peters – ein klassisches Blutsbrüderschaftsritual mit ihm vollzog […]. Die Kolonisierung [war] für Peters tatsächlich vor allem ein Abenteuer, mit weniger ökonomischem oder politischem als primär emotionalem ‚Mehrwert‘ […].26

26 Christian Geulen, „‚The Final Frontier…‘ Heimat, Nation und Kolonie um 1900: Carl Peters“, in: Birthe Kundrus (Hrsg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt/New York 2003, S. 35–55, hier S. 49 f.  

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Mit seiner Bemerkung über den „privaten Kriegsspaß“ der neuen Kolonialisten zeigt Bertrand aber auch, dass er selbst kooperierender und profitierender Teilnehmer am kolonialen System ist. Nicht nur gesteht er, dass er Pläne wie die von Carl Peters akzeptiert hätte, wenn sie früher realisiert worden wären; er bezieht auch die negativen politischen und ökonomischen Auswirkungen des europäischen Kolonialismus auf die Kultur der Afrikaner – oder der Inder – nicht in seine Überlegungen ein. Geradezu zynisch klingen Bertrands Bemerkungen zur christlichen Missionierung in Afrika: Ja, sehen Sie, Europa ist für die Kirche doch schon ein recht dubioser Posten geworden. Afrika hingegen! Hunderte von Millionen Seelen als Rohmaterial für den Glauben. Und Sie können überzeugt sein, daß ein getaufter Neger ein besserer Christ ist als zwanzig Europäer. Wenn sich Katholizismus und Protestantismus bei diesen Fanatisierten den Rang ablaufen wollen, so ist dies mehr als verständlich; dort liegt ja die Zukunft des Glaubens, dort sind jene künftigen Glaubensstreiter, die einmal gegen das heidnisch versunkene und verpfuhlte Europa im Namen Christi sengend und brennend losziehen sollen, um schließlich einen schwarzen Papst inmitten der rauchenden Trümmer Roms auf den Stuhl Petri zu setzen. (KW 1, 33)

Die christliche Missionierung war aufs Engste mit dem politisch-wirtschaftlichen Unternehmen der Kolonialisierung verbunden.27 Man denkt bei der prophezeiten Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Afrika und Europa vielleicht an die dialektische Verkehrung des Verhältnisses von Herr und Knecht, wie Hegel sie in der „Phänomenologie des Geistes“ beschworen hat, übrigens möglicherweise – wie Susan Buck-Mors28 gezeigt hat – im Hinblick auf jene schwarzen Sklaven, die in Haiti Ende 1803 den Sieg über die französischen Herren davongetragen hatten. Aber das wäre eine Fehlinterpretation der Bertrandschen Vision, denn der Sieg der Afrikaner wird nicht in Dimensionen der Hegelschen Geschichtsphilosophie gesehen, in der Geschichte im Sinne zunehmender menschlicher Freiheit fortschreitet. Im Gegenteil wird der Erfolg der ‚fanatisierten‘ „Neger“, wie es heißt, mit dem Ende der Welt im Sinne christlicher Eschatologie gesehen: Die zum Christentum konvertierten Afrikaner werden in einem Vernichtungskreuzzug das säkularisierte, neu-heidnische Europa niedermachen. Dabei bezieht Bertrand sich indirekt auf Nostradamus, der in seinen Prophezeiungen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts vorausgesagt hat, dass der Weltuntergang beginne, wenn ein

27 Vgl. Horst Gründer, „Christian Missionary Activities in Africa in the Age of Imperialism and the Berlin Conference of 1884–1885“, in: Stig Förster et al., Bismarck, Europe, and Africa, Oxford 1988, S. 85–103. 28 Susan Buck-Mors, Hegel, Haiti and Universal History, Pittsburgh 2009.

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„schwarzer Papst“ der Nachfolger Petri geworden sei.29 So ist nach Bertrands Auslassungen Pasenows erschreckte Reaktion: „Das ist die Apokalypse Johannis“ (KW 1, 33).

III Romantische Erhebung des Irdischen zu Absolutem Bei Pasenow junior, dessen Entrückungszustände mehrfach beschrieben werden, fehlt auch nicht das „mystische Gemüth“, mit dem nach David Friedrich Strauß der „Widerspruch“ zwischen Altem und Neuem überspielt werden soll. Man denke an Pasenows traumhafte Ekstase beim Anhören eines „Chorals“, wenn „eine gewisse Erhellung und Verschärfung“ von Erinnerungsbildern sich zur „Gewißheit des göttlichen Lebens“ (KW 1, 130) steigert. Wie fest sich Pasenow junior auch an Konvention und Tradition klammert, bleibt ihm das Empfinden nicht erspart, dass sein überlieferter protestantisch-christlicher Glaube alles andere als fest verankert ist. Er sieht ein, dass „ihrer aller Glaube […] heuchlerisch“ und „brüchig“ (KW 1, 49) geworden ist. So mobilisiert er Kräfte in sich, um gegen die wachsende Einsicht in die Unzeitgemäßheit des alten Glaubens anzukämpfen und Verstand und Gefühl in die Bahnen der Konvention zu lenken. Der „christliche Hausstand“ wird sein erklärtes Ziel, von dem er sich „Verheißung der Gläubigkeit“ auf „dem Weg zu Gott“ (KW 1, 171) verspricht, d.h. „die rettende Hilfe der Gnade“, die es ihm ermöglichen werde, nicht „sinnlos auf Erden wandeln“ (KW 1, 177) zu müssen. Die Künstlichkeit und Angestrengtheit dieses konservativen Projekts wird offenbar, wenn es ins Metaphysische gesteigert werden soll. Was er anstrebt, ist eigentlich nicht „gleichbedeutend“ mehr „mit dem, was unter christlichem Hausstand zu verstehen ist“, vielmehr will Pasenow das Bild von seiner künftigen Frau, Elisabeth von Baddensen, „in die Nähe jener Sphäre des Himmlischen zwingen“, in der sie ihm „als zarteste silberne schwebendste Madonna“ (KW 1, 159) erscheint.30 Gerade weil die Kraft der Tradition im Schwinden begriffen ist, muss sie, um ihr wieder Geltung zu verschaffen, metaphysisch überhöht werden. Broch bringt hier eine zusätzliche Definition des Romantischen ins Spiel, die er nicht von Carl Schmitt und David Friedrich Strauß übernommen hat, die aber doch auf deren Argumentationslinie liegt. Es sei „immer Romantik“, heißt es

29 The Complete Prophecies of Nostradamus, translated, edited, and interpreted by Henry C. Roberts; re-edited by Lee Roberts Amsterdam and Harvey Amsterdam; updated by Robert Lawrence, New York 1994. Die Prophezeiung basiert auf III. 92 (S. 107) und VI. 25 (S. 187). 30 An der Stelle wird Elisabeth auch mit „Schneewittchen im Glassarg“ (KW 1, 159) verglichen. Dazu: Katrin Schneider, „Dornröschen wollte nicht geküsst sein. Romantik und verkehrte Märchenwelt in Hermann Brochs ‚Die Schlafwandler‘“, in: Orbis linguarum, 34/2009, S. 125–138.

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bereits früh im „Pasenow“-Roman, „wenn Irdisches zu Absolutem erhoben“ (KW 1, 23) werde. Auch hier ist eine Aussage eingebaut, die nicht lediglich die Meinung des Erzählers wiedergibt, sondern als These des Autors erkennbar ist. In einem späten Essay spricht Broch davon, dass „Romantik“ im Spiel sei, wenn versucht werde, das „Alltagsgeschehen in absolute […] Sphären emporzusteigern“ (KW 9/2, 163) bzw. das „Irdische ins Ewige“ (KW 9/2, 169) zu heben. Hier war Broch durch Novalis beeinflusst, der in seinen „Fragmenten“ bestimmte, was „Romantisieren“ sei und dabei als hervorstechendes Merkmal herausgestellte: „dem Endlichen einen unendlichen Schein“31 zu geben. Bei Friedrich Schlegel kommen vergleichbare Wendungen vor, wenn er im „Athenäum“ die These aufstellt: „Denke dir ein Endliches ins Unendliche gebildet, so denkst du einen Menschen.“32 Die Unterschiede im Verständnis dieser Operation sind bei Broch, Novalis und Schlegel aber beträchtlich. Novalis skizziert das in seinen Augen innovative ästhetische Programm romantischer Poetologie, mit dem er sich als Autor der Jenaer Frühromantik von Goethes angeblich allzu „prosaischem“ Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ distanziert,33 und Friedrich Schlegel schwebt ein Ideal universeller Bildung vor Augen. Broch dagegen charakterisiert ein von ihm abgelehntes kulturideologisches Verhalten, mit dem Tradition und Konvention der Schein des Ewiggültigen attestiert werden soll. Wo man im „Pasenow“Roman auch hinschaut, geht es um die Einsicht in den Glaubensverlust bei gleichzeitiger Beschwörung des Geistes der alten Religion. Joachim von Pasenow gesteht sich ein, dass er „die Christlichkeit verloren“ hat, und doch versucht er „zu beten“, darauf „achthabend, keine leeren Worte aufzusagen“ (KW 1, 52).34 Das Gastzimmer auf dem Landgut der Pasenows weist ein „großes Kruzifix“ auf,

31 Novalis Werke, Gerhard Schulz (Hrsg.), München 1969, S. 385 (Fragmente und Studien 1797– 1798, Nr. 37). Vgl. dazu auch Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil, Das Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1806, München ²2000, S. 248 f. 32 Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2, München 1958, S. 266. Brochs Verzeichnis seiner Wiener Bibliothek enthält: Friedrich v. Schlegels sämmtliche Werke. 2. Orig.-Ausgabe Bände 1–15, Wien 1846 mit den Supplementbänden 1–4, Bonn 1846. Vgl. Amann/Grote (Hrsg.), Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs, S. 220. 33 Hendrik Birus, „‚Grösste Tendenz des Zeitalters‘ oder ‚Ein Candide, gegen die Poësie gerichtet‘? Friedrich Schlegels und Novalis’ Kritik des ‚Wilhelm Meister‘“, in: Karl Eibl/Bernd Scheffer (Hrsg.), Goethes Kritiker, Paderborn 2001, S. 27–43, hier S. 18 f. 34 Ursula Ritzenhoff bemerkt dazu richtig: „Als er [Joachim von Pasenow] das Religiöse wieder entdeckt, hat es den ehemaligen Wirklichkeitsbezug verloren und kann ihm keine Hilfe gegen die Einsamkeit mehr gewähren.“ Dies., Hermann Brochs „Pasenow“-Roman. Eine Re-Orientierung, Bern 1977, S. 27.  



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das inzwischen bloß eine „Zier“, ein „gewöhnlicher Einrichtungsbestandteil“ geworden ist. Der Erzähler weist auf die geistige Verfasstheit der Pasenow-Generation hin, die wünscht, dass dieses religiöse Symbol „wieder zu dem“ werde, „als das man es einstens hier angebracht hatte“: als „Wächter“ in „einem Hause christlicher Gemeinschaft“ (KW 1, 92). Die „romantische“ Absolutsetzung kaum noch wirkungsmächtiger Werte bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Religion, sondern prägt auch das soziale Verhalten und die politischen Anschauungen Joachim von Pasenows. Das wird schon deutlich bei der unterschiedlichen Einstellung zu den spätromantischen Kompositionen von Louis Spohr, die sich in den 1880er Jahren in Deutschland noch großer Beliebtheit erfreuten.35 Elisabeth von Baddensen spielt Spohrs Kammermusik mit Hingabe und Joachim von Pasenow „liebt“ seine Musik. Hingegen findet der ganz der Gegenwart zugewandte Eduard von Bertrand den Komponisten Spohr „grausam langweilig“ (KW 1, 104). Pasenow besucht in Berlin Spohrs Oper „Faust“, die 1818, also siebzig Jahre zuvor, erstmals aufgeführt worden war. Die junge Frau, die bei Goethe Margarete bzw. Gretchen ist, und die an der Untreue Fausts zugrunde geht, heißt bei Spohr „Röschen“. Pasenow, dessen Kunstrezeption durchweg auf der Identifikationsebene verläuft, assoziiert während des Opernbesuches sich selbst mit Faust, Röschen mit seiner geliebten Ruzena und Bertrand mit Mephisto (KW 1, 40/78).

IV Die Romantik der Uniform Der Erzähler vermittelt Bertrands Einschätzung von der rückwärtsgewandten Zeit des Wilhelminismus: Es sei eine Epoche, deren „eigentliche Romantik“ die „der Uniform“ ist. Seit dem Zerfall der überlieferten christlichen Religion habe „die Tracht des Klerikers“ die Kraft verloren, die Absolutheit des Glaubens zu vergegenwärtigen. An die Stelle dieser Tracht sei nun die weltliche Uniform getreten. Romantisch werde die Uniform jedoch vom „Irdischen zu Absolutem“ erhoben, so als „gäbe es eine überweltliche und überzeitliche Idee der Uniform“. Wie ehemals die „Tracht des Klerikers“ die vorbehaltlose Identifikation mit dem Glauben signalisierte, so werde nun der weltliche, vor allem militärisch „Uniformierte“ zum „Besessenen der Uniform“ (KW 1, 23). Soweit Eduard von Bertrands Zeitdiagnose, wie sie dem Leser durch den Erzähler vermittelt wird und wie Broch sie im dritten Band der „Schlafwandler“-Trilogie in der Essayfolge „Zerfall der Werte“ systemtheoretisch fundiert und ausweitet. Der Erzähler knüpft an die Überlegungen Bertrands an und entwickelt eine Psychologie des Uniformtragens,

35 Vgl. Clive Brown, Louis Spohr. Eine kritische Biografie, Kassel 2009.

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wobei die Abgrenzung zwischen der Welt der Uniform und der des „Zivilistischen“ im Mittelpunkt steht. Beschrieben wird die Uniform als „eine zweite und dichtere Haut“, die es ihrem Träger erlaube, „in sein eigentliches und festeres Leben“ zurückzukehren, auf dass „die Unsicherheit des Lebens“ von ihm abrücke (KW 1, 24). Erkauft werde die so gewonnene „Sicherheit des Lebens“ allerdings mit „Unduldsamkeit und Unverständnis“ (KW 1, 25) der Welt des Zivilistischen gegenüber. Joachim von Pasenow verkörpert die hier geschilderte Uniformideologie. Die „Uniform“ ist ihm „des Königs Rock“, und mit ihrem „Unpersönlichen“ (KW 1, 98) schützt sie ihn vor dem „Anarchischen“, das allem Zivilen anhaftet. Auf diesen Schutz ist er so sehr angewiesen, dass er sich wünscht, „die Uniform“ wäre eine „direkte Emanation der Haut“ (KW 1, 26): dann fiele der ihn irritierende Wechsel ins Zivilistische fort. Broch fängt in diesen Passagen über die Uniformideologie im späten 19. Jahrhundert etwas spezifisch Preußisches ein. Schon Novalis hatte in „Glauben und Liebe oder Der König und die Königin“ seinem Faible für Uniformen keine Zügel angelegt, als er räsonnierte: Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht. Überall sollte der Staat sichtbar, jeder Mensch, als Bürger charakterisiert sein. Ließen sich nicht Abzeichen und Uniformen durchaus einführen? Wer so etwas für geringfügig hält, kennt eine wesentliche Eigenthümlichkeit unserer Natur nicht.36

Broch war offenbar mit dieser „Eigenthümlichkeit“ vertraut. Zu Novalis’ Absicht heißt es bei Jan Niklas Howe: „Es handelt sich um eine umfassende Politisierung des gesamten Staatsgefüges, der gezielten Deindividualisierung zum Zwecke der Sichtbarmachung der politischen Macht.“37 Der amerikanische Historiker Gordon A. Craig38 empfiehlt den Lesern seiner „Deutschen Geschichte 1866–1945“, sich die Passagen über die Uniform im „Pasenow“-Roman anzuschauen, um einen Eindruck von der Uniformfixiertheit der preußischen Gesellschaft in der Zeit nach der Reichsgründung zu erhalten. Wie im religiösen Bereich greift in Pasenow jedoch auch beim militärischen Dienst ein Gefühl der Unsicherheit um sich, denn auch in der Uniform fühlt er sich plötzlich nicht mehr „geborgen und abgeschlossen“ (KW 1, 27). Der „Sehnsucht nach Festigkeit, Sicherheit und Ruhe“ steht sein

36 Novalis Werke, Schulz (Hrsg.), S. 358 („Glauben und Liebe“, Paragraph 19). 37 Jan Niklas Howe, „Der arabeske Staat. Politik und Ornament bei Novalis“, in: Athenäum, 20/ 2010, S. 65–109, hier S. 95. 38 Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, München 1981, S. 209. Vgl. dazu ferner: Gisela Brude-Firnau, „Wilhelm II. oder die Romantik. Motivübernahme und -gestaltung bei Hermann Broch“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 93.2/1974, S. 238–257. Vgl. auch die englischsprachige Ausgabe: Gordon A. Craig, Germany 1866–1945, New York 1978, S. 228 f.  

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Empfinden gegenüber, dass „irgendein Pfeiler des Lebens brüchig geworden“ ist, und dass das „Gewölbe“, welches bisher durch diesen Pfeiler im „Gleichgewicht“ gehalten wurde, „bersten“ (KW 1, 36) könne. Beim Reitunterricht, den Pasenow als Leutnant bei der Kavallerie zu überwachen hat, kommt ihm der Exerzierplatz wie eine „Manege“, der „Wachtmeister“ wie ein „Clown“ und die Kaserne wie ein „Zirkus“ (KW 1, 126) vor. Es ist Bertrand, an den Pasenow denken muss, wenn ihm Zweifel an der Solidität jener Grundstützen der preußischen Gesellschaft, nämlich Religion, Militär und Regierung, kommen. Das Adjektiv „brüchig“ wird im „Pasenow“ häufig verwendet39 und die Erfahrung, dass alles „brüchig“ geworden ist, geht in die Gefühlswelt Pasenows ein. Angesprochen und benannt, analysiert und aufgedeckt aber wird das Fragile der Schein-Stabilität in Gesellschaft und Politik durch Bertrand.

V Bertrand als romantischer Occasionalist Da Pasenow junior – mit David Friedrich Strauß zu sprechen – eine romantische „Seele von mehr Wärme als Helle“ besitzt und ihm daher die analytischen Fähigkeiten der Zeitdiagnose abgehen, hat Broch ihm einen kritischen Freund als Gegenpol zugesellt, dessen Argumentationen von einer Seele mit mehr Helle als Wärme zeugt: Eduard von Bertrand. Der sieht in Pasenow junior jemanden, der „nur mit einem kleinen Stück seines Seins in die Zeit“ ihrer Generation hineinreicht, der vielmehr mit dem „größeren Stück“ seiner Existenz „in einer anderen Zeit“ (KW 1, 90) angesiedelt ist. Aus der Sicht Pasenows ist Bertrand eine „mephistophelische“ Figur.40 Joachim, der Konstruktivist heiler Zukunft aus der Vergangenheit, fürchtet Bertrands „unheilvolle“, „dämonische“ (KW 1, 128) Skepsis und illusionslose Hinwendung zur Gegenwart. Allerdings sind die Aussagen Bertrands hier nicht ernst gemeint. Bertrand ist zwar ein nüchterner Zeitdiagnostiker, der im Gegensatz zu Pasenow keiner vergangenheitsverhafteten Ideologie anhängt, aber er gehört wie der von ihm kritisierte Carl Peters der Wilhelminischen Spaßgesellschaft an. Pasenow empfindet nicht zu Unrecht die „Rede“ seines antagonistischen Freundes als „undurchsichtig“, „pfauenhaft“, „ironisch“ und „schauspielerhaft“ (KW 1, 32/33). Bertrands „ironischer Zug um den Mund“ wird vom Erzähler gleich drei Mal im Roman erwähnt (KW 1, 32/65/142) und sein „ironisches“ Lächeln nicht minder oft (KW 1, 32/150/151). Pasenow fragt sich und

39 KW 1, 18/34/36/49 (zweimal)/50/67/120. 40 Siehe dazu die Vergleiche, die Joachim zwischen Mephisto und Bertrand anstellt: KW 1, 40/ 78/128/139/176.

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Bertrand, ob der bei seinen Auslassungen über die christianisierten Afrikaner nicht bloß „spaßt“ und „scherzt“ (KW 1, 33) – worauf der Baumwollhändler die Antwort schuldig bleibt und sich in ein freundliches Lächeln flüchtet. Der Eindruck Pasenows, dass Bertrand ständig „spaße“ (KW 1, 64/126), verstärkt sich in der Folge und auch Elisabeth von Baddensen kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Pasenow wirbt um sie, doch hat sie sich in Bertrand verliebt und auch er gesteht ihr seine Sehnsucht nach ihr. Ihr Kommentar dazu: „Es ist ja nicht wahr.“ (KW 1, 154). Er hat ihr erklärt, warum „das Mysterium der Einheit“ ein „unerreichbares Ziel der Liebe“ sei, und dass dieses „Mysterium“ nur „in einer fürchterlichen Übersteigerung der Fremdheit“ geahnt werden könne. Von hier aus gesehen fallen Willkommen und Abschied bei Bertrand gleichsam zusammen. Die Auffassung von der absoluten Liebe ex negativo, d.h. als Resultat übersteigerter Fremdheit, bezeichnet Bertrand als seinen „tiefsten Glauben“ (KW 1, 112). Der hält ihn aber nicht davon ab, sich „ins Spaßhafte zu retten“, als er in einem weiteren Gespräch mit Elisabeth erneut seine Liebe kommentiert. Als Elisabeth ihn ermahnt, er solle „jetzt nicht spaßen“, weiß Bertrand nicht einmal, ob es ihm mit seiner Einstellung „ernst“ ist (KW 1, 154). Soviel gibt er zu: „Ich bin egoistisch.“ (KW 1, 155) Später wird Bertrand im Roman als „Ästhet“ (KW 1, 596) bezeichnet. Auch Bertrand kann als „Romantiker“ im Sinne der frühen Schrift von Carl Schmitt verstanden werden. Neben dem trans-epochalen Romantiker-Typus wird in Schmitts „Politischer Romantik“ auch – und vor allem – der Romantiker im engeren Sinne zu charakterisieren versucht. Schmitts Urteil über die Generation deutscher Autoren von Novalis über Friedrich Schlegel bis Adam Müller fällt vernichtend aus. Sein Grundvorwurf besteht darin, dass der moderne Subjektivismus und Individualismus hier maßlos übersteigert sei, dass bei ihren Vorstellungen von der neuen Religion oder dem neuen Mythos das vorgeblich geniale Dichter- oder Denkersubjekt sich an die Stelle Gottes gerückt habe. Wie das theologische Verständnis sei auch das der irdischen Realität und des Politischen oratorisch und verwechsle Wirklichkeit mit Schein. Hier werde „das Ästhetische verabsolutiert und zum Mittelpunkt erhoben“, doch seien „weder religiöse, noch moralische, noch politische Entscheidungen, noch wissenschaftliche Begriffe“ im „Bereich des Nur-Ästhetischen möglich“ (PR 21). Schmitt umschreibt die „romantische Haltung“ (PR, 22) mit „Occasionalismus“ (PR 24). Zum Begriff der „occasio“ führt er aus: Man kann ihn mit Vorstellungen wie: Anlaß, Gelegenheit, vielleicht auch Zufall umschreiben. Aber seine eigentliche Bedeutung erhält er durch einen Gegensatz: er verneint den Begriff der causa, das heißt, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm. Es ist ein auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt […] ist mit der Vorstellung des bloß Occasionellen unvereinbar. Wo das Gelegentliche und Zufällige zum Prinzip wird, entsteht eine große Überlegenheit über solche Bindungen. (PR 22)

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Nach dieser allgemeinen Bestimmung erfolgt die exemplarische im Hinblick auf die romantische Generation: Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht. (PR 24)

Das „ästhetisch produzierende Subjekt“ habe „das geistige Zentrum in sich selbst“ verlegt (PR 26) und mit seinem „Individualismus“ (PR 43) und seiner „Wurzellosigkeit“ lege der Romantiker eine „innere Widerstandslosigkeit gegen den jeweilig nächsten und stärksten Eindruck“ an den Tag (PR 77). So favorisierten die Romantiker denn auch „Möglichkeit“ als die „höhere Kategorie“ gegenüber der Wirklichkeit, doch sei das eine bloß „negative“ Präferenz, womit man sich ein „ewiges Versprechen ewiger Kraft“ vorgaukle (PR 102). Das bei den Romantikern so beliebte „Phantastische, Proteusartige, Wunderbare, Geheimnisvolle“ laufe bloß auf die „Negation des Heute und Hier“ (PR 104) hinaus, sei Resultat des Bemühens um die „ewig unrealisierte Möglichkeit“ (PR 102). „Der Romantiker weicht der Wirklichkeit aus, aber ironisch“, heißt es weiter bei Schmitt, und „statt neue Wirklichkeiten zu schaffen“, könne er lediglich „die jeweilig gegenwärtige“ Realität „paralysieren“ (PR 105). „Angriffsziel seiner Ironie“ sei „nicht das Subjekt, sondern die objektive Realität“. Dabei solle „die Ironie die Realität nicht vernichten“, sondern „dem Subjekt“ es nur ermöglichen, „jedem Definitivum auszuweichen“ (PR 107). Es geht hier nicht um eine erneute Auseinandersetzung mit Carl Schmitts These von der „occasionalistischen Struktur der Romantik“ (PR 113), die nur auf der Folie von Schmitts eigenen konservativen Vorstellungen von göttlicher und irdischer Macht zu verstehen ist, die aber der Komplexität romantischer Dichtungen, Theorien und politischen Visionen nicht gerecht wird. Was hier interessiert, ist die Tatsache, dass Broch die Figur des Eduard von Bertrand unter dem Einfluss von Schmitts Charakterisierung des Romantikers als eines Occasionalisten modelliert hat, denn mit ihm haben wir jenen individualistischen, ästhetischen, ironischen, negativen, bindungsscheuen, unverbindlichen, allen Möglichkeiten offen bleibenden „Romantiker“ vor uns, wie er von Schmitt beschrieben worden ist. Wie erfolgreich Bertrand mit seiner Selbstdarstellung als Möglichkeitsmensch ist, der allen Festlegungen entgeht, zeigt sich bei Pasenows und Elisabeths Besuch des Berliner Kaiserpanoramas,41 wo man sich eine Bilderserie über Indien an-

41 Vgl. Paul Michael Lützeler, „Pasenow oder die Angst vor der Moderne“, in: Ders., Hermann Broch und die Moderne, S. 52 f.  

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schaut. Die beiden identifizieren prompt irgendeinen Mann, der im gezeigten Bild auf einer Bank im „Königspark von Kalkutta“ sitzt, als „Bertrand“. Das ist bei einem Kolonialherrn mit „Tropenhelm“ im Hafen von „Bombay“ (KW 1, 167) oder beim Anblick eines „weißen Sahibs“ in „Ceylon“ nicht anders. Auch bei der „Elefantenjagd“ glauben die Verlobten „Bertrand“ zu erkennen: „das Gewehr schußfertig in der Rechten und den Tod verheißend“. Schließlich dehnt sich die Projektionsfläche ins Metaphysische, und aus dem ironischen Baumwollhändler wird der numinose „Passant“, den „ewig du suchen mußt“, den „du ewig ersehnst“, der „entschwindet, während du seine Hand noch hältst“ (KW 1, 168 f.). Schmitt meinte den Romantikertypus der Novalis- und Friedrich-Schlegel-Generation zu charakterisieren, wenn er vom „Occasionalisten“ sprach, und er bezog auch Adam Müller in seine Kritik an der intellektuellen Beliebigkeit der romantischen Generation mit ein. Vielleicht hat Broch im „Huguenau“-Teil der „Schlafwandler“ den Namen „Bertrand Müller“ im Hinblick auf Adam Müller gewählt, um so die oft diskutierte Beziehung zwischen Eduard von Bertrand, der in den ersten beiden Romanteilen vorkommt, und Dr. phil. Bertrand Müller, dem Autor des „Zerfalls der Werte“,42 assoziativ noch zu verstärken. Anders als Schmitt enthistorisiert und typisiert Broch auch den Romantiker als Occasionalisten: Broch porträtiert keinen Zeitgenossen von Novalis oder Adam Müller, sondern einen Individualisten des Fin de Siècle. Auch den Occasionalisten kann man als trans-epochalen Typus verstehen; auch ihm haftet wenig historisch Einmaliges an. Eines der Zauberworte des Fin de Siècle wurde ‚Ich‘: Es war der große einzelne, der wie ein Fixstern am ideologischen Himmel der Zeit leuchtete. Es waren Werke des Ich-Kults wie Nietzsches „Zarathustra“, Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ oder Maurice Barrès’ „Le culte du moi“, die als Identifikationsbücher die Gemüter der damals heranwachsenden jungen Leute bewegte. Leittypen der Jahrhundertwende-Kultur waren der Dandy- und Bohèmien-Typ,43 deren Ziel nichts als individualistische Selbstverwirklichung war. Die fiktionale Verarbeitung von Anregungen aus Carl Schmitts literarhistorischer Studie „Politische Romantik“ ist u.a. ein weiteres Beispiel für die Wirkung der Mitglieder des FranzBlei-Kreises44 auf Hermann Broch. Broch hat ein Leben lang über den „Stil der Epoche“ nachgedacht: von der frühen Abhandlung „Zur Erkenntnis dieser Zeit“ (1917–1919) (KW 10/2, 11–77)  

42 Vgl. Dorrit C. Cohn, „The Bertrand Figure“, in: Dies., The Sleepwalkers. Elucidations of Hermann Broch’s Trilogy, The Hague/Paris 1966, S. 61–102. 43 Vgl. Hiltrud Gnüg, Kult der Kälte: Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988; Helmut Kreuzer, Die Boheme: Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968. 44 Helga Mitterbauer, Die Netzwerke des Franz Blei: Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 2003.

Hermann Brochs „Pasenow“-Roman

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über die Essayfolge „Zerfall der Werte“ in den „Schlafwandlern“ (KW 1, 461 ff.) bis zur Studie „Hofmannsthal und seine Zeit“ (KW 9/1, 213 ff.). Bei der Reflexion über die verschiedenen Zeitalter, in die die Historiker die Geschichte unterteilen, fällt auf, dass Broch zum einen wie die Vertreter des Historismus von einer Eigentümlichkeit und Eigenständigkeit unterschiedlicher Geschichtsphasen ausgeht, dass er aber auch Zusammenhänge und Verbindungen, die in der Hegelschen Geschichtsphilosophie betont werden, nicht übersieht. So kombiniert er die individualisierende Sicht in der Ranke-Tradition mit der generalisierenden der Hegelianer. Seine epochenübergreifende Großerzählung ist die vom „Zerfall der Werte“, die für ihn fortschreitende Modernisierung im Sinne eines Sichabsetzens von Tradition und Konvention bedeutet, von Überlieferungen religiöser, kultureller, sozialer und künstlerischer Art. Nichtsdestoweniger glaubt er den jeweils eigentümlichen „Stil der Epoche“ für die aufeinander folgenden historischen Phasen erfassen zu können. Vor allem dem „Künstler“ sei aufgetragen, den „Stil seiner Epoche“ (KW 1, 461) zu bestimmen. Zur „Sichtbarkeit“ kann die Epoche werden, wenn es in der Kunst gelingt, ein „Symbol“ zu finden, das die „Lebens- und Gedankens- und Arbeitsäußerung“ (KW 9/1, 213) der Zeit veranschaulicht.45 In seinem Roman „Die Schlafwandler“ hat Broch drei Figuren kreiert, von denen er zu Recht annahm, dass sie die unterschiedlichen Phasen der Epoche zwischen 1888 und 1918 symbolhaft veranschaulichen. Pasenow, Esch und Huguenau stehen jeweils für unterschiedliche Reaktionen auf den Prozess der Moderne: Pasenow für die Angst vor der Veränderung und die Flucht in die Tradition; Esch für die Orientierungslosigkeit des religiös und sozial Entwurzelten, und Huguenau für den Kommerz, der außer Profitmaximierung keine anderen Werte mehr kennt. Zu Beginn des Historismus hatte Friedrich Schlegel in seiner Abhandlung „Signatur des Zeitalters“46 dargelegt, wie sich bei der Interpretation einer Epoche bestimmte Merkmale zu einer „Signatur“ kristallisieren. Vergleichbar spricht Broch vom Symbol der Epoche, das geschaffen werden muss, wenn der „Stil“ der Zeit verdeutlicht werden soll. Die Signatur bzw. das Symbol des Zeitalters macht ihre individuellen und institutionellen Aktionen verstehbar. Im „Pasenow“-Roman hat Broch mit dem antagonistischen Freundespaar Pasenow/Bertrand ein Epochensymbol geschaffen, das die Flucht vor der Realität veranschaulicht. Pasenows Flucht ist zeitlich, Bertrands dagegen räumlich dimensioniert: Pasenow zieht sich vor den Herausforderungen der Epoche in die Konventionen und  



45 Vgl. Katharina Ratschko, Kunst als Sinnsuche und Sinnbildung. Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Moderne in der Frühromantik, Hamburg 2010. 46 Friedrich Schlegel, „Signatur des Zeitalters [1820–23]“, in: Ders., Studien zur Geschichte und Politik, eingeleitet und hrsg. von Ernst Behler, München 1966, S. 483–596.

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Rituale der Vergangenheit zurück; Bertrand dagegen sucht auf anderen Kontinenten – Amerika und Indien – im Kontext von globalem bzw. kolonialem Kommerz ein Leben der Distanz, der Unverbindlichkeit und der ironischen Unentschiedenheit zu führen. Eine Gesellschaft, für die reaktionäre bzw. occasionalistische Eliten repräsentativ sind, wird sich nicht halten können. Broch läßt Bertrand in der Folge Selbstmord begehen47 und Pasenow ist 1918 bei Kriegsende ohnmächtig im doppelten Sinn des Wortes.

47 In einem Aphorismus des dritten Trilogieteils der „Schlafwandler“ heißt es: „Da gab es einen, der flüchtete vor seiner eigenen Einsamkeit bis nach Indien und Amerika. Er wollte das Problem der Einsamkeit mit irdischen Mitteln lösen, – er war ein Ästhet und deshalb mußte er sich umbringen“ (KW 1, 596).

Helmut Koopmann, Augsburg

Hermann Brochs Huguenau: Phänotyp des (modernen) Verbrechers Am 20. November 1931, also zu einer Zeit, als Broch am letzten Kapitel der „Schlafwandler“ arbeitete, schrieb Walter Benjamin in der „Frankfurter Zeitung“ über ein Zeitphänomen, das ihm damals aufgefallen war, und seine Überschrift lautete: „Der destruktive Charakter“. Sein Porträt war ernüchternd: Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. […] Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zustands bedeutet. […] Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. Die Natur ist es, die ihm das Tempo vorschreibt, indirekt wenigstens: denn er muß ihr zuvorkommen. Sonst wird sie selber die Zerstörung übernehmen. […] Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an die Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen. […] Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich. Das Mißverstandenwerden kann ihm nichts anhaben. […] Der destruktive Charakter steht in der Front der Traditionalisten. Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven. − Der destruktive Charakter hat das Bewußtsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schiefgehen kann. Daher ist der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst. − Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall einen Weg. […] Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter.1

Das ist im Zusammenhang mit Brochs „Schlafwandlern“ nicht ohne Beklemmung zu lesen, denn was Benjamin hier beschreibt, ist in großer Präzision das Phänomen Huguenau. Broch hat für den Typus des destruktiven Charakters in seinem Roman freilich eine noch schärfere Formel: Es ist der Verbrecher, der in Huguenau begegnet. Ihm gilt unsere Aufmerksamkeit, genauer: dem Phänotypischen dieser Gestalt.

1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann/Tillman Rexroth (Hrsg.), Bd. 4,1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, Frankfurt 1972, S. 396 ff.  

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I Verrat und Zweckmäßigkeit Huguenau hat in der Romantrilogie kein Vorleben, und das heißt: er begegnet erst im dritten Teil der „Schlafwandler“. Aber die beiden vorangehenden Romanabschnitte liefern, wenn auch undeutlich, dennoch etwas von seiner Vorgeschichte, oder vielmehr: sie konturieren den Hintergrund, vor dem der Verbrecher erst als solcher in Erscheinung treten kann. Dazu gehört ein Phänomen, das uns sogar schon auf den ersten Seiten des Romans begegnet und Beunruhigung auslöst. Es hat mehr mit Stimmungen, mit Verdächtigungen und Vermutungen zu tun als mit der sichtbaren Realität, kennzeichnet also jenes stratum, das schon von den ersten Seiten an den Roman untergründig mitbestimmt. Wir treffen bereits in der Charakteristik des Joachim von Pasenow auf ein Wort, dessen Kontext zunächst unverständlich bleibt, dem aber dennoch eine offenbar entscheidende Bedeutung zukommt: Verrat. Den Bruder umgibt eine Aura des Verrätertums, und damit verbunden ist Unheimliches, ja Bedrohliches, etwas, das den Untergrund des Geschehens ausmacht. Das Leben ist von dem Augenblick an, an dem von „Verrat“ die Rede ist, gleichsam unterminiert: da löst sich etwas bis dahin für fraglos und selbstverständlich Gehaltenes auf, wird unglaubwürdig, was gesichert erschien. Der Gedanke an Verrat breitet sich von da an im Roman geradezu epidemisch aus: Verrätertum bleibt nicht auf die Pasenow-Familie beschränkt, auch Bertrand gilt als Verräter; er wird mehrfach so tituliert (KW 1, 25)2 − und wir wissen zunächst überhaupt nicht, was den Verrat, was das Verrätertum eigentlich ausmacht. Wer wird verraten, was wird verraten, warum wird etwas verraten, was ist das Wesen des Verrats? Wir hören darüber nichts, und wir werden auch später nichts Genaueres erfahren. Wir wissen nur, dass Verrat als Stichwort, Vorwurf und quasi als Generalthema die „Schlafwandler“ bis ans Ende hin durchzieht, auch in eigentümlichen Umkehrungen: Huguenau, der eigentlich und unzweideutig ein Verräter ist, sieht den Verrat nur bei anderen, beim Major und Esch, aber zu Huguenau hinwiederum bemerkt Esch: „Immer ist ein Verräter unter uns“ (KW 1, 591). Die Formulierung lässt erkennen, dass da mehr im Spiel ist als landläufiger Betrug: der Verrat an Christus ist mitassoziiert. Hinweise auf Bibelkapitel ergänzen diese Assoziation, ohne dass freilich dadurch deutlicher würde, wie es um diesen Verrat bestellt ist und was die Dimensionen des Verrats eigentlich ausmacht, und wir werden vom Erzähler auch weiterhin nachhaltig darüber im Dunklen gehalten, was Verrat sei, wer oder was verraten werde. Sicher

2 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat.

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ist nur, dass das Thema des Verrats immer enger mit Huguenau verbunden wird, aber es bekommt andererseits ein immer größeres Ausmaß, wenn auch vom Verrat an den Deutschen die Rede ist (KW 1, 633). Aber dann, nach einem nochmaligen „Immer ist ein Verräter unter uns“, das erneut auf die theologischen Dimensionen des Verrats zielt, wird Huguenau endgültig als der „Verräter“ schlechthin identifiziert: aus dem Chaos der Welt „grinste die Fratze Huguenaus, die Fratze des Verräters“ (KW 1, 643). Und so bekommt er denn am Ende vom Major auch seinen identifikatorischen Abschied: „er soll sich packen… der Verräter…“ (KW 1, 646). Vorher schon hat Pasenow umfänglichere, wenn auch vage Vorstellungen vom Wesen des Verräters geäußert: „Ein Verräter ist ein unehrenhafter Mensch, ein Verräter ist ein Mensch, der sein Vaterland verrät, ein Verräter ist ein Mensch, der das Vaterland und die Kameraden betrogen hat… ein Deserteur ist ein Verräter“ (KW 1, 642). Betrug also und Vaterlandsverrat, da Huguenau desertiert ist, aber die Charakteristik dreht sich plötzlich gegen den Major selbst, denn der weiß mit einem Male: „er selber ist der Verräter“; er bezichtigt sich der Unehrenhaftigkeit (um der Ehrenhaftigkeit willen hatte sein Bruder sich seinerzeit auf ein ebenso törichtes wie tödliches Duell eingelassen) und gedenkt der eigenen Unehrenhaftigkeit mit einer Pistolenkugel ein Ende zu machen, um Strafe auf sich zu nehmen. Doch schließlich wischt er seine merkwürdig träumerischen Überlegungen mit einem entschlossenen „Hirngespinst“ zur Seite. Aber das beendet die Szene nicht; denn dann taucht der Verräter Huguenau auf, und plötzlich erscheint ihm dieser Verräter, der kleine Deserteur, als „Werkzeug der göttlichen Strafe, Urheber des wachsenden Unglücks“ (KW 1, 643). Das Böse ist in ihm geradezu Gestalt geworden − und dann versinkt alles im Chaos. Der Einzige, der ungeschoren davonkommt, ist der Verräter Huguenau: er begeht einen Mord. Er gleicht nicht nur „dem Verbrecher, der nicht imstande ist, den Weg zur Wertwirklichkeit einer ersehnteren Gemeinschaft zu finden“ (KW 1, 713); dieser Verräter ist ein Verbrecher. Die Entwicklung der Zeit, der Geschichte durch die drei Teile der „Schlafwandler“ hindurch ist nicht eine von der Rationalität in die Irrationalität, sondern umgekehrt: Der Phänotyp des Verbrechers, wie er sich in Huguenau darstellt, agiert rational gegenüber einer immer irrationaler werdenden Umwelt. Er ist „ein Mensch, der zweckmäßig handelt“ (KW 1, 463); sein rational-geschäftsmäßiges Denken prägt alles, was er unternimmt. Während sich die Welt um Huguenau verfratzt und ständig unwirklicher wird, weiß er sich gesichert in seiner kalkulatorischen Weltsicht, in seinem „kaufmännischen System“ (KW 1, 703), das von nichts anderem als auf sich selbst bezogener Rationalität geprägt ist, kehrt zurück in das „Kaufmännische“ (KW 1, 703), in das „geldlich-kommerzielle System“ (KW 1, 707). Anderes kennt Huguenau nicht; er ist ein Freigeist (KW 1, 697). In ihm handelt die „autonom gewordene Vernunft“ (KW 1, 691), seine Handlungs-

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weise ist „vernünftig“ (KW 1, 689), so wie der von ihm begangene Mord an Esch aus seiner Sicht nur zu „vernünftig“ war. Nach dem Mord stellt er fest: „Es war alles gut“ (KW 1, 678), und so ist das Ganze denn nichts anderes als eine „ordnungsgemäße Gebahrung“. Verräter, ein unehrenhafter Mensch und ein Deserteur ist er nur aus der Sicht der Anderen, sein eigenes Zweckmäßigkeitsdenken schiebt derartige Urteile einfach beiseite. Und wenn er auch ein Abenteurer ist, so ist er nur in den Augen der noch in Romantik Befangenen ein „Stellvertreter des Bösen“ (KW 1, 633). Er ist dabei alles andere als ein „einsames Ich“ (KW 1, 538); Einsamkeit kennt er nicht, da sie ja etwas anderes voraussetzt, von dem her gesehen diese als solche erst spürbar würde. Ein Weltbild hat er nicht, kennt auch nicht die „Geschlossenheit“ eines solchen (KW 1, 496). Er sieht vor allem im Unglück anderer die Möglichkeiten der eigenen Bereicherung, und er macht sich deren Träumereien zunutze, indem er sein eigenes Handeln als allein realitätsbezogen rechtfertigt. Er ist, wenn es darauf ankommt, ein Hochstapler, und damit gehört er ein wenig auch jener Zunft an, die sich seit der Jahrhundertwende als Begleitphänomen der Gründerzeit überall verbreitet hat. Aber vor allem ist ihm nur an einem gelegen: am eigenen Vorteil. Er begeht seinen Mord nicht aus niederen Beweggründen, auch nicht aus einem impetuosen Handeln heraus, wie es für Esch so charakteristisch ist, sondern aus geradezu instinktivem Kalkül: nur so kann er seine defraudösen Ziele weiterverfolgen. Wer ihm im Wege steht, wird beseitigt, mit Hilfe eines Bajonetts oder auch mit Hilfe eines Krankentransports nach Köln, und der Krieg spielt ihm dabei immer stärker in die Hände: je mehr alles ins Chimärische entgleitet, desto wirklicher werden seine Ziele und desto vernünftiger sein Handeln. Er ist Rationalist, und weil ihm Ethik, Moral, Gewissen oder eine religiös begründete Verantwortlichkeit nie abhanden kommen konnten, da er sie gar nicht besaß, weil er die Welt geschickt zu nutzen weiß, wenn es um seinen Vorteil geht, ist er schon deswegen nichts Geringeres als ein Verbrecher, ohne zu wissen, dass er einer ist. „Huguenau ist ein Mensch, der zweckmäßig handelt“ (KW 1, 463): das ist der neue Typus des Verbrechers, denn Zweckmäßigkeit heißt Verlust aller Bindungen, aller Werte, aller Träume, aller Gemeinschaft, allen Glaubens und aller Beziehungen, kurzum: aller „Romantik“. Der zweckmäßig Handelnde ist der „destruktive Charakter“ Walter Benjamins, er schafft Platz (für sich), ist immer frisch bei der Arbeit, sieht überall einen Weg, der immer der seinige ist, und so hat er denn andere überall aus dem Weg zu räumen: den Major, Esch und dessen Witwe. Am Ende des Romans − das ist das Letzte, was wir von ihm sehen − marschiert er „lustig summend fürbaß, schlug auch mit dem Stocke den Takt, und sooft einer grüßte, salutierte er und sagte ‚Salü‘“ (KW 1, 709).

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II Rebell und Verbrecher: Abgrenzungen und Rückblicke Eines ist Huguenau nicht: ein Rebell. Broch hat in seinem Roman (in dem wichtigen Kapitel 32) den Verbrecher deutlich gegen den Rebellen abgesetzt und hat sich gegen das Verwechseln verwahrt, auch wenn die Gesellschaft den Rebellen oft als Verbrecher brandmarke und der Verbrecher sich manchmal als Rebell ausgebe. Der Rebell ist immer „treuester Sohn der Gemeinschaft“, auch wenn die ihm zugleich „Ziel der Opposition und Auflehnung“ (KW 1, 464) ist. Ein Rebell: das war „Luther gegen den Papst“. Der Rebell will das Bestehende verändern, will es aber nicht „unterjochen“ (KW 1, 465), er ist ein aufrichtiger Kämpfer, der die Welt wieder in Ordnung bringen will, und so ist er denn ein eher konservativer Charakter, dessen Rebellion letztlich auf Wiederherstellung aus ist, auf Entwirrung aller Fäden, die sich auf falsche und verderbliche Weise ineinander verdreht haben, und wenn der Begriff nicht schon so arg besetzt wäre, würde man vielleicht vom Rebellen als einem konservativen Revolutionär sprechen, dessen Ziel aber nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit liegt: es geht ihm um nichts anderes als um die Restitution des in Unordnung Geratenen. Huguenau aber ist kein Rebell, da er sich wie selbstverständlich in die bestehende Ordnung einfügt. Sein Verbrechertum, so Broch, sei ein geradezu bürgerlicher Beruf. Die Ordnung dieser Welt, so der etwas mäandrische Gedankengang Brochs, sei gar nicht zu ändern, und so seien denn die Verbrecher „lediglich von der Begierde erfüllt […], ihrem Beruf in Ruhe nachzugehen und immer klagloser, lautloser, ja feinnerviger sich einzupassen in den Dienst, welcher der gesamten Ordnung und dem Bestehenden gilt“. Für diesen Verbrechertypus heißt das: „Nichts kehrt sich gegen das Bestehende. Vorschläge zur Verbesserung oder Milderung des Strafrechts sind niemals von den Verbrechern angeregt worden“ (KW 1, 465). Der Rebell also, so zusammenfassend Broch, will das Bestehende unterjochen, um der Gesellschaft wieder zu ihrer ursprünglichen Rechtmäßigkeit zu verhelfen, der Verbrecher sucht sich ihr einzugliedern. Und eben das erklärt Huguenau zu einem Verbrecher, wie Broch ihn definiert: er sieht sich vor der Aufgabe, „seine eigene kleine Welt und Wirklichkeit am Rande der größeren Ordnung zu errichten“ (KW 1, 465). Er gehört selbst in seinem Bemühen, sich den Kurtrierschen Boten unrechtmäßigerweise anzueignen, zu jenem Land, „dessen Gesetze er achtete und liebte, in das er eindringen und in dem er wohnen wollte“ (KW 1, 466); er ist jemand, dem nicht an Umsturz oder Aufruhr gelegen ist, sondern der sich einfügt in „jene größere, gute, fast geliebte Ordnung, die zu ändern nicht vonnöten ist“ (KW 1, 465). Der Verbrecher wütet nicht gegen die Welt, er lebt sein Verbrechertum innerhalb der „Ordnung in der Welt“ (KW 1, 529), er ist Teil der Welt, da er willens ist, sich „einzupassen in den Dienst, welcher der gesamten Ordnung und dem Bestehenden gilt“. Er bejaht selbst die Strafen, die

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nötig sind, um das Gefüge wohlgeordnet zu erhalten, und billigt schließlich sogar, daß „Deserteure zum Tode des Erschießens verurteilt werden“ (KW 1, 465) − aber dieses lag, so Broch, für ihn „vorderhand abseits“ (KW 1, 465 f.). Und die Welt akzeptiert seine Existenz bis in seinen bürgerlichen Alltag hinein; Huguenaus Trachten geht einzig und allein dahin, sich seinem eigenen Land gleichsam anzuschmiegen, „diesem Land an der Grenze einer Welt voller guter Ordnungen“ (immer wieder ist davon die Rede), sich einzubeziehen in die größere Ordnung der Welt, ohne die es „Bestehendes“ nicht geben kann. Eben das macht Huguenau zum skrupellosen Zeitgenossen. Einer seiner Gegenspieler ist Pasenow, und Gegenfiguren sind auch die Lazarettbewohner, aber vor allem ist es Esch, jener „Mensch impetuoser Haltungen“ (KW 1, 595), der alles andere als zweckorientiert handelt: so muss er als der eigentliche Feind Huguenaus denn auch hinweg. Huguenau ist nicht der harmlose „Hanswurst mit dem französischen Namen“ (KW 1, 630), er ist als rational Handelnder höchst gefährlich; ein Schlafwandeln wie die anderen kennt er nicht, ihn treibt die „autonom gewordene Vernunft“ (KW 1, 691). Und wenn diese auch aus der Sicht der Romantiker „radikal böse“ ist: für Huguenau existiert das Böse nicht, er ist der „wertentblößte Mensch“ (KW 1, 711). So wird er denn als jemand beschrieben, der alles und alle überlebt und sich am Ende nur zu gut in das „geldlich-kommerzielle System“ (KW 1, 707) einfügt. Der von ihm zweckrational begangene Mord stört ihn überhaupt nicht. Wir lesen: „Huguenau hatte einen Mord begangen. Er hat ihn hinterher vergessen, er dachte nicht mehr an ihn, während er jeden einzelnen kaufmännischen Coup, der ihm in der Folge gelungen war […], treu im Gedächtnis bewahrte“ (KW 1, 703). Am Ende bekommt Huguenau denn auch einen richtigen, gültigen Militärfahrschein zur Passage in seine colmarsche Heimat; über seinen Mord, über Desertion und Revolution denkt er nicht nach. Brochs Urteil über ihn verbirgt sich in dem harmlosen Satz, dass seine Handlungsweise „vernünftig“ gewesen sei (KW 1, 689). Im Zeitalter der Weltwirtschaftskrise kommt mit ihm ein neuer Typus des Verbrechers herauf, und Broch ist (neben Benjamin) einer der ersten, der ihn beschreibt. Huguenau geht es um wertfreie Profitmaximierung und nichts anderes: ein homo oeconomicus, der Kants kategorischen Imperativ auf den Kopf stellt. Gerade deswegen wird er Sieger bleiben. Dieser Phänotyp des Verbrechers, der seinen Ort innerhalb der Gesellschaft sucht und dort auch findet, der immer weniger deutlich als Verbrecher zu erkennen ist, ist neu. Verbrechen hat es natürlich immer gegeben: in der Antike sind es überirdische Mächte, die ins Verbrechen führen (Ödipus), aber ein Verbrechen kann auch die Folge von Rachsucht und Eifersucht sein (Medea). Gerade dieser psychologische Sonderfall, der aber von größter Allgemeinheit ist, bestimmt die Verbrecherliteratur noch bis tief in das 18. Jahrhundert hinein. Doch damals war  

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der Umgang mit Verbrechern, an einer Gestalt wie Huguenau gemessen, wesentlich erleichtert: man sah dem schlechten Kerl ohne Mühe an, dass er ein solcher war. Schillers Franz Moor liefert dafür ein illustratives Beispiel: er hat eines Lappländers Nase, ein Mohrenmaul und Hottentottenaugen, die Natur hat ihm eine „Bürde von Häßlichkeit“ aufgeladen: ein „überlegender Schurke“3 von „heimtückischer, schadenfroher Gemütsart“.4 Seinem Äußeren entspricht sein Inneres, und so wird er denn geradezu zwangsläufig zum Verbrecher, in diesem Fall zum Vatermörder, auch wenn Eifersucht ebenfalls mit im Spiel ist. Kann er etwas für seine Taten? Eigentlich nicht, und so gibt er der Natur die Schuld, die „von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworffen, und mich daraus gebacken“: sie ging „parteylich zu Werke“.5 Aber wie wird jemand zu dem, der er ist, wenn er nicht ein von der Natur so Geschlagener ist? Was macht jemanden zum Verbrecher? Die Literatur des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereitet solch physiologischen Erklärungen, wie sie Franz Moor zur eigenen Rechtfertigung anführt, ein Ende. Sie liefert in drei Anläufen neue Begründungen für das Aufkommen von Verbrechern. Zum einen gibt es psychische Ursachen; Schiller, der seinen Franz Moor gewissermaßen auf natürliche Art zum Bösewicht hatte werden lassen, hat später, 1792, in der Vorrede zum ersten Teil seiner Pitaval-Ausgabe („Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit“6) als Gründe, die zum Verbrecher werden lassen, vor allem seelische „Triebfedern“ verantwortlich gemacht, „welche sich im gewöhnlichen Leben dem Auge des Beobachters verstecken“; da ist „das geheime Spiel der Leidenschaft“, das sich gerne der Intrige bedient, da sind „die geheimen Bewegursachen menschlicher Handlungen“. Es ist, kurz gesagt, das „menschliche Herz“, damals auch ein moralisch wichtiges Organ des Menschen, das ins Verbrechen führen kann7 – so Schiller in seiner Vorrede. Manche späteren Verbrecher sind sogar wahnsinnig wie der Goldschmied Cardillac bei E. T. A. Hoffmann im „Fräulein von Scuderi“; da ist Geheimnisvolles mit im Spiel, und am Ende ist der Verbrecher vor allem dessen Opfer. Der Verbrecher selbst interessiert zwar nicht sonderlich, weil ihn die Nemesis (in der Literatur dieser Zeit) schließlich ja doch erreicht, aber die Beschäftigung mit ihm liefert einen

3 Schillers Werke. Nationalausgabe. Julius Petersen (†)/Hermann Schneider (Hrsg.), Weimar 1943 ff. (im Folgenden als NA mit Band- und Seitenzahl). Hier: NA 22, 120. 4 NA 22, 115. 5 NA 3, 18. 6 NA 19/1, 202. 7 Vgl. dazu Thomas Sprecher, Literatur und Verbrechen. Kunst und Kriminalität in der europäischen Erzählprosa um 1900 (= Das Abendland. Neue Folge 36. Forschungen zur Geschichte des europäischen Geisteslebens), Frankfurt 2011, S. 96 ff.  



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unendlich „wichtigen Gewinn für Menschenkenntniß und Menschenbehandlung“8 − so Schiller zur Begründung seines Interesses in seinem Vorwort. Warum das geheime Spiel der Leidenschaft diesen zum Verbrecher werden lässt und jenen nicht, sagt Schiller allerdings nicht: die Psyche ist eben ein verwickeltes Labyrinth. Es geht um „wahre Motive der handelnden Spieler“, um das „versteckteste Gewebe der Bosheit“. So ist es, mit anderen Worten, die eigentlich undurchschaubare Seele des Menschen, die ihn zum Handeln und gelegentlich eben auch zum Verbrechen antreibt. Es gibt schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, ebenfalls bei Schiller, auf die Frage, wodurch jemand zum Verbrecher werden kann, neben der psychologischen noch eine zweite Erklärung: auch Umwelteinflüsse können einen Menschen zum Bösen hin verändern. Schiller, einer der ersten, der soziale Faktoren geltend machte, sprach zwar immer noch von der „unveränderlichen Natur der menschlichen Seele“, aber auch von den „veränderlichen Bedingungen, welche sie [die Seele] von außen bestimmten“.9 Verbrecher ist man nicht nur aus seelischer Prädisposition; man kann auch zum Verbrecher werden, wenn die Gesellschaft das Ihrige dazu tut. Schon in Schillers Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ ist das im Sinne einer Fallstudie mustergültig exemplifiziert. Von Huguenau ist das alles meilenweit entfernt. Seit er desertiert ist, geht es ihm wieder gut; er setzt seine Verbrecherlaufbahn kalkuliert fort, als „rasierter und frischer Mensch mit dem Geruch von Kölnisch-Wasser in der Nase“ (KW 1, 397). So wird er bleiben. Vom undurchschaubaren Labyrinth des menschlichen Inneren kein Wort. Doch da ist noch etwas Drittes, was den Menschen ins Verbrechen treiben kann – und damit kommen wir der Frage nach den Voraussetzungen für Huguenaus Verbrecherexistenz schon näher. Die Wurzeln liegen im 18. Jahrhundert. Die Aufklärer, genauer: Kant und Schiller, glaubten an den Satz „Bestimme dich aus dir selbst“. Der aber gilt seit dem Aufkommen der „Erfahrungsseelenkunde“, der Psychologie, nur noch sehr eingeschränkt. Denn es gibt neben der letztlich unerklärlichen Veranlagung eines „Menschenherzens“ und jenseits der Einflüsse der Gesellschaft etwas, was den Menschen ebenfalls zum Verbrecher werden lassen kann: die Verabsolutierung jenes Satzes „Bestimme dich aus dir selbst“, also den Entschluß zur schrankenlosen Individualität, die notfalls das Recht des Einzelnen gegen das jeweils herrschende Rechtssystem der Gesellschaft durchzusetzen bereit ist. Auch der Rebell hält sich am Ende mehr an seine Vorstellungen als an die Paragraphen des Gesetzes und ist bereit, sein Recht

8 NA 19/1, 203. 9 NA 16, 9

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gegen ein allgemeines Recht einzufordern, wenn er dieses allgemeine Recht verletzt sieht. Doch wenn der Rebell noch im Glauben handelt, dass er das Gesetz in einer ungeordnet und verworren gewordenen Welt auf seiner Seite habe und dass eine allgemeine Gesetzlichkeit notfalls durch Rebellion wiederhergestellt werden müsse, dann wird daraus bei demjenigen, für den eine allgemeine Gesetzlichkeit gar nicht existiert, am Ende nur zu häufig ein Verbrecher, der allein seine Eigengesetzlichkeit anerkennt. Den schrankenlosen, durch nichts eingegrenzten, radikal solipsistischen, einzig auf sich bedachten Einzelnen, einen solchen Verbrecher gibt es im 18. oder auch 19. Jahrhundert noch nicht. Es gibt allenfalls den Rebellen; Heinrich von Kleist liefert mit seinem „Michael Kohlhaas“ dafür ein prägnantes Beispiel. Aber Kleists Geschichte steht an einer Zeitenwende: mit ihr ändert sich das Verhältnis zu Recht und Unrecht, zu Schuld und Vergebung, zu Rache und Gerechtigkeit. 1798 hatte der Popularphilosoph Garve zwar noch geschrieben: „Wenn der Mensch ein unmittelbares Gefühl dessen hätte, was Recht und Unrecht, Tugend und Laster wäre: so hätte er auch einen weit sichereren Führer […] als er nach der Erfahrung wirklich hat“.10 Garve zufolge existiert dieses „unmittelbare Gefühl“. Auch bei Kleist gibt noch so etwas wie Rechtsgefühl. „Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder“, heißt in seiner Kohlhaas-Geschichte, und dieses Rechtsgefühl war ein humanitäres, letztlich jedem Menschen eingeborenes. Doch einige Jahrzehnte später war fraglich geworden, ob es dieses allgemeine Rechtsgefühl überhaupt gebe. Schon Friedrich Schlegel forderte „eine gefühlte Gerechtigkeit, die mehr ist, als die Gerechtigkeit des Gesetzes und der Ehre“: der Gesetzgeber sitzt nicht als allgemein verbindliche Instanz irgendwo, sondern im Inneren, das eigene Rechtsgefühl ist mit ihm identisch.11 Und dieses Rechtsgefühl führte häufig zur allgemeinen Rechtsverweigerung, zur Verabsolutierung des eigenen innersten Gefühls, dem der Einzelne eine für ihn alleinverbindliche Gerechtigkeit zusprach. Kurzum, im 19. Jahrhundert konkurrieren immer stärker dreierlei Rechtsvorstellungen: auf der einen Seite das positive Recht, auf der anderen Seite das Recht des Einzelnen und dessen Vorsatz, dieses Recht durchzusetzen bei gleichzeitigem

10 Christian Garve, Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsere Zeiten, Breslau 1798 (Neudruck Bruxelles 1968). Vgl. dazu den wichtigen Aufsatz von Joachim Rückert: „…Der Welt in der Pflicht verfallen…“. Kleists „Kohlhaas“ als moral- und rechtsphilosophische Stellungnahme, in: Kleist-Jahrbuch, 1988/89, S. 375–403, hier S. 386. 11 Dazu ausführlicher Helmut Koopmann, „Schillers Sonnenwirt, Kleists Kohlhaas und andere Kriminalfälle der deutschen Literatur“, in: ZIS (Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik,), 3/2010 (= Festschrift für Jörg Tenckhoff), S. 270–279, hier S. 276.

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Glauben, dass dieses Recht des Einzelnen letztlich von einer allgemeinen Gesetzlichkeit gedeckt sei (das Beispiel des „Kohlhaas“); schließlich aber die ausschließliche Anerkennung einer eigenen Gesetzlichkeit ohne ein allgemeines Rechtsempfinden. Eichendorff, eine knappe Generation später als Kleist lebend, hat gemeint, dass in der Moderne aller „Accent auf das Subject gelegt, und dieses eine souveraine Macht“ geworden sei.12 Der Individualitätsglaube der Moderne zeigt hier sein Fratzengesicht, mit dieser dritten Möglichkeit ist jeder Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, und am Ende steht ein Buchtitel wie Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“, am Ende aber auch der dritte Teil der „Schlafwandler“. „Sachlichkeit“ ist Brochs Formel für einen schrankenlos gewordenen Egoismus, der nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich über Leichen geht. Im Falle des Huguenau führt das nicht wie bei Schillers „Räubern“ zu Gegengründungen, zu einem neuen Staat mit eigener Gesetzlichkeit. Huguenau ist kein Rebell wie Karl Moor oder Michael Kohlhaas − er ist ein Verbrecher. Von einem überindividuellen Rechtsgefühl, wie immer es definiert sein mag, kann bei ihm nicht mehr die Rede sein. Er nutzt die von ihm instrumentalisierte Rechtlichkeit der Gesellschaft zum alleinigen Vorteil. Der Verbrecher Huguenau stellt sich nicht gegen den Staat, sondern arbeitet unter seinem Schutz − und legitimiert sich dadurch auch in der Öffentlichkeit. Was Huguenau am Ende von der Witwe des von ihm Ermordeten fordert, ist, so der Roman, rechtlich sogar einwandfrei. Des Erzählers Kommentar: Das war eine erpresserische und häßliche Handlung, aber sie wurde von Huguenau nicht als solche empfunden; sie verstieß weder gegen seine Privattheologie noch gegen die des kommerziellen Wertsystems, ja sie wäre auch von Huguenaus Mitbürgern nicht als häßlich empfunden worden, denn es war ein kommerziell und juristisch einwandfreier Brief, und selbst Frau Esch empfand solche Legalität als ein Fatum, dem sie sich williger beugte, als etwa einer Beschlagnahmung von seiten der Kommunisten. (KW 1, 696)

Schillers Räuber Moor wusste noch um seine Schuld und büßte sie; Kleists Kohlhaas wusste um die Schuld des Staates, aber auch er büßte, büßte für seine Rache-Tat, für sein Rebellentum und anerkannte damit ein höheres Recht. Huguenau hingegen büßt für gar nichts, denn er ist sich einer Schuld umso weniger bewusst, als sein Handeln in völligem Einklang mit den Gesetzen steht. Noch einmal: was macht ihn denn nun zum Verbrecher?

12 Literarhistorische Schriften von Freiherrn Joseph von Eichendorff, Bd. 2: Abhandlungen zur Literatur, Wolfram Mauser (Hrsg.) (= Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe […], Hermann Kunisch [Hrsg.]), Regensburg 1965, S. 38.

Hermann Brochs Huguenau: Phänotyp des (modernen) Verbrechers

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Broch hat darauf eine ebenso eindeutige wie irritierende Antwort: Huguenau, ein Mensch, der „zweckmäßig handelt“ (KW 1, 463), ist eine Zeiterscheinung, Gefangener eines Denkschemas, das ihn zwingt, „so und nicht anders zu handeln, das ihm seine geschäftlichen Erwägungen vorschreibt und ihn Verträge so und nicht anders konzipieren läßt“. Seine „innere Logik“ ist dabei in „die Gesamtlogik der Epoche eingeordnet“, und damit ist, unterschiedlich zu Schiller und Kleist, zur Droste und den Rechtsgeschichten anderer des 19. Jahrhunderts, eigentlich die Epoche verantwortlich, die ihn hervorgebracht hat. So ist nur konsequent, dass er den Mord an Esch nicht nur nicht bedauert, sondern bald auch vergisst: Der Zweckrationalität ist mit dem Mord Genüge getan, und Huguenau kann den Platz in der Gesellschaft bekommen, an dem ihm liegt − einen Platz in „einer ganzen Generation von Verbrechern“ (KW 1, 594). So wird er zum Bösen im Alltagsgewand, bewegt sich ungehindert in einer bürgerlichen Ordnung, obwohl die Welt mit ihren ausgedienten Wertsystemen in eine einzigartige Unordnung geraten ist. Es ist hier nicht der Ort, sich auf das komplizierte Gebiet der Brochschen Werttheorien ausführlicher einzulassen − darüber ist von anderer Seite Zureichendes gesagt worden. Festzuhalten ist nur, dass im Epilog zum „Zerfall der Werte“ Huguenaus Mord an Esch als „vernünftig“ bewertet wird, und zugleich steht dort ein Satz, der auch von Eichendorff stammen könnte: „Die autonom gewordene Vernunft ist radikal böse“ (KW 1, 691). Huguenau ist die „letzte Zerspaltungseinheit“ im Wertzerfall, er ist, als „menschliches Individuum“, entlassen aus „jedem Wertverband“, „zum ausschließlichen Träger des Individualwertes geworden“ (KW 1, 693) − ein metaphysischer outcast, da sich „der Verband zu Individuen aufgelöst und zerstäubt hat“. Der Mord war am Ende nur eine Art „Ferialhandlung“, war kaufmännisch zwar nicht vorgesehen, widersprach dem Kaufmännischen aber auch nicht, und wenn Huguenau dann endgültig auf die „Linie des kaufmännischen Ethos“ einschwenkt und aus dem Dasein als Deserteur ins Kaufmännische zurückkehrt, so ist er ein Verbrecher, der seinen juristischen Segen gerade dann erhält, wenn er Frau Esch nicht nur ihres Mannes, sondern auch ihres Vermögens beraubt. Mit ihm hat sich die „Romantik“, wie Broch sie versteht, endgültig verabschiedet, ist das metaphysische Träumen an ein Ende gekommen. Am Ende herrscht nur noch die Rationalität des kommerziellen Systems. Selbst Mord wird nicht mehr als Mord gewertet, sofern er nur in dieses System passt.

III Huguenau: systemkonformer Verbrecher, in guter Gesellschaft Eben darin zeigt sich das Verbrecherische seines Denkens. Der Verbrecher in Brochs Roman ist keine psychopathologische Figur, kein von der Gemeinschaft in

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eine Außenseiterposition Hineingetriebener, er ist nicht genetisch als Verbrecher angelegt, wenn er auch einiges vom Scharlatan und Hochstapler an sich hat. Er agiert systemkonform, und man ist versucht zu sagen: er kann eigentlich auch gar nicht anders. Er ist alles andere als ein Entarteter, er wird nicht von seinen Trieben verführt, er ist weder Dieb noch Banknotenfälscher, weder Einbruchsspezialist noch Wechselreiter, und in dem Band von Carl Falkenberg mit dem Titel „Versuch einer Darstellung der verschiedenen Classen von Räubern, Dieben und Diebeshehlern, mit besonderer Hinsicht auf die vorzüglichsten Mittel sich ihrer zu bemächtigen, ihre Verbrechen zu entdecken und zu verhüten, Ein Handbuch für Polizeibeamte, Kriminalisten und Gensd’armen“ von 1816–1813 fände er keinen Platz, auch nicht in Erich Wulffens „Gauner- und Verbrechertypen“ von 1910.14 Aber er war dennoch in guter Gesellschaft: Verbrecher gab es in der Literatur des 20. Jahrhunderts reichlich. Döblins „Berlin Alexanderplatz“ ist (auch) ein Verbrecherroman, seine Geschichte von den beiden Freundinnen und ihrem Giftmord gehört hierher; Ferdinand Bruckner schrieb 1928 ein Drama mit dem Titel „Die Verbrecher“, Brecht mit seiner „Dreigroschenoper“ und André Gide mit seinen „Verliesen des Vatikan“ haben sich des Themas ebenso angenommen wie später Albert Camus mit „La Chute“, und Dürrenmatt schließlich ist gar ein Großmeister der Verbrecherliteratur. Die meisten von ihnen bestätigen jenen Satz „Die Dichter aller Zeiten haben sich bemüht, die Wurzeln des Verbrechens in der Seele des Täters bloßzulegen“ des Strafrechtler Franz von Liszt.15 Broch aber nennt andere Wurzeln: für ihn ist der Verbrecher eine Zeiterscheinung schlechthin. Die Verbrecher anderer Zeiten haben Motive, sie wissen auch um ihr Verbrechertum, leben zumeist am Rande der Gesellschaft – Huguenau hat kein Motiv, es sei denn, man sähe es in seinem ökonomisch orientierten rationalen Handeln als solchem. Er lebt eben nur in einer Epoche, die ihn geprägt hat − und die in ihrer ausschließlich ökonomischen Orientierung eine wertfreie und damit verbrecherische ist. Mit Huguenau erfüllt sich die Prophezeiung des Dr. Wendling: „Möglich, daß eine Generation von Verbrechern heranwächst“ (KW 1, 594). Von der „ungeheuren Haltbarkeit einer noch vorhandenen Ideologie“, wie jener meint, ist nichts mehr zu spüren: sie wird mit Huguenau hinweggeschwemmt. Übrig bleibt das „einsame Ich“ (KW 1, 538), und das setzt sich, von keinem „Wert“ gehindert, durch. Es ist eben darin verbrecherisch, dass es seine Verbrechen nicht als solche

13 2 Bde, Berlin 1816/18. Vgl. hierzu und zum Folgenden Thomas Sprecher, Literatur und Verbrechen, dem ich viele Hinweise verdanke, S.122. 14 Berlin – Groß Lichterfelde Ost 1910. 15 „Die Aufgaben und Methoden der Strafrechtswissenschaft“, in: Franz von Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2 (1892–1904), Berlin 1905, S. 289.

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registriert: Betrug und Vaterlandsverrat, Mord und Desertion gelten nichts, sofern sie dem eigenen Aufstieg dienen. Broch ist mit seiner Vorstellung, daß das Gute oder das Böse, die gute oder die böse Tat eigentlich vom Zeitgeist und den Umständen abhänge, allerdings kein absoluter Neuerer: Nietzsche hat das schon so gesehen, wie das kürzlich noch von Lucas Gschwend aus juristischer Sicht – „Nietzsche und die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts“ – dargestellt worden ist.16 Andererseits ist der Brochsche Phänotypus des Verbrechers ein großer Schritt über das hinaus, was die Kriminologie des 19. Jahrhunderts unter dem Verbrecher verstand: da sprach man noch vom „geborenen Verbrecher“17 im Gegensatz zum „normalen Menschen“, und im Gefolge Lombrosos18 war für den Verbrecher allein die Kriminalpsychologie und nicht etwa die Literatur zuständig. Von dessen Einstellung, dass der Verbrecher letztlich ein „verhinderter Mensch“ sei, ein „atavistischer Typus“, ein „Entarteter“ (so auch Max Nordau 1892/93 in „Entartung“), hatte man sich freilich schon um 1900 verabschiedet; den „geborenen Verbrecher“ gab es bereits damals nicht mehr. Broch aber beschreibt einen neuen Verbrecher-Typus, der seine Verbrechen für völlig normal hält, weil sie ins kaufmännische System passen. Er kann so mühelos wie geschmeidig zum Verbrecher werden, weil ihn kein Wertsystem mehr hält. Der Verbrecher Huguenau: also ein Zeittypus, aus Sicht seiner Epoche nicht verantwortlich für seine Verbrechen. Dass man zu Ende des 18. Jahrhunderts noch glaubte, man könne auf den ersten Blick hin erkennen, wer ein Schurke sei und wer nicht, hat aus Brochs Sicht etwas Naiv-Rührendes an sich. Der Verbrecher Huguenau ist fest in der Gesellschaft angesiedelt, steht mit ihr auf gutem Fuße, und die Gesellschaft duldet ihn nicht nur, sie schätzt ihn auch. Am Ende muss er nicht einmal eine individuelle Rechtsbegründung für sein Tun vorzeigen; er ist ja nur ein etwas exponierterer Vertreter des Zeitgeistes. Er reklamiert durchaus auch kein eigenes Recht für sich, denn er weiß: die Gesellschaft denkt wie er, er denkt wie die Gesellschaft, und das legitimiert ihn vorbehaltlos; mit ihm ist die neue Zeit. Er ist die Verkörperung jener Epoche, in der das Individuum, wertfrei, zum alleinigen Wert geworden ist, und so ist er, der Mörder, Verräter und Deserteur, eigentlich nur „dieses letzte Produkt eines jeden Wertzerfalls“ (KW 1, 712). Ja, Broch gesteht ihm noch mehr zu: „er ist Exponent des europäischen Geistes schlechthin“ (KW 1, 703). Mit ihm endet das Zwischenreich der Träume, der Hoff-

16 Zürich 1999. Auch dazu Thomas Sprecher, Literatur und Verbrechen, S. 128 f. 17 Dazu ebd., S. 121. 18 Cesare Lombroso, L’uomo delinquente studiato in rapporto alla Anthropologia, alla Medicina Legale e alle discipline carcerarie, Milano 1876; dt. als Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Übersetzt von Moritz O. Fränkel, 2 Bde., Hamburg 1887/1890.  

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nungen, der Ängste, der Bedrohungen und der Utopien, die den ganzen Roman durchziehen: der Verbrecher Huguenau bleibt am Ende allein übrig, und er lebt nicht schlecht dabei. Er findet, systemkonform, in eine Normalität, die ihm so selbstverständlich wird, dass er nicht daran denkt, sie in Frage zu stellen. Und am Ende wird er den Philistertod eines angesehenen Kaufmannes sterben. Im Schutz dieser Zeit hält der Verbrecher Huguenau seine Verbrechen für völlig legitimiert. Skrupel, Reue kennt er nicht. Er ist so bedenkenlos, dass ihm seine Verbrechen schließlich sogar ins Vergessliche geraten. Er endet in bürgerlicher Normalität. Dieser Verbrechertypus ist jung und heiter, weil er, „immer frisch bei der Arbeit“, Platz schafft, und darin ist er geradezu die Zuverlässigkeit selbst. Er räumt „nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter“; seinen Mord begeht er nach „ein paar tangoartigen katzigen Sprüngen“ (KW 1, 677), fast lautlos, und dann ist ihm „leicht und froh“ (KW 1, 678) zumute, er ist mit sich und der Welt zufrieden: er hat wieder einmal jemand aus dem Weg geräumt. Zerstören verjüngt. Und er will gar nicht wissen, was an die Stelle des Zerstörten tritt. Er sieht überall einen Weg. Er macht die Dinge handlich und liquidiert. Noch einmal: gibt es eine bessere Charakteristik Huguenaus als die in jenem kleinen Artikel Benjamins über den destruktiven Charakter?

Patrick Eiden-Offe, Duisburg-Essen

„Der Tod des Vergil“ in München: Hermann Broch, Franz von Baader und eine andere Politische Romantik Wer heute von Politischer Romantik spricht oder schreibt – mit einem großem P zumal – kommt nicht umhin, sich mit Carl Schmitt und dessen gleichnamiger Schrift aus dem Jahr 1919 zu beschäftigen. Nicht nur mit diesem Titel – zu denken wäre des Weiteren an den „Begriff des Politischen“ sowie an die notorische „Politische Theologie“ – hat Schmitt etwas unter Beweis gestellt, was er ansonsten bei den Deutschen vermisst: die Fähigkeit, mit leichter Hand eingängige und doch treffende Begriffe zu prägen und in Umlauf zu bringen.1 Mit seiner Wendung „Politische Romantik“ jedenfalls hat es Schmitt geschafft, dass seine Fassung der Sache und sein Schlagwort für diese Sache die Sache selbst im allgemeinen Bewusstsein überlagert, wenn nicht gar gänzlich verdrängt hat. Die Prägung „Politische Romantik“ ist dabei nicht nur und vielleicht nicht einmal vor allem wissenschaftlicher Begriff, sondern zugleich „Kampfbegriff“ oder, um eine Wendung von Eric[h] Voegelin über Schmitt zu entlehnen, „Kampfformel“.2 Der Begriff „Politische Romantik“ meint seit Schmitt eine Geisteshaltung, die nicht nur beschrieben oder analysiert, sondern geradewegs bekämpft werden soll. Worum es Schmitt in letzter Instanz zu tun ist, ist nicht das historische Phänomen, sondern der Modellcharakter dieses Phänomens; was Schmitt mit seinem Begriff und seiner Schrift „Politische Romantik“ bekämpfen will, sind die Wiedergänger der Politischen Romantik in der eigenen Gegenwart, im Deutschland des verlorenen Weltkriegs und der Revolution. Es geht Schmitt, so lässt sich zuspitzen, letztlich darum, gerade im eigenen (konservativen, gegenrevolutionären) Lager die Reihen zu säubern und zu schließen und unsichere (d.i.: flatterhafte, bloß occasionalistische) Kantonisten – die neuen Adam Müller und Friedrich Schlegel – zu identifizieren und auszuschließen.

1 Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1968 [1919/1924], S. 3: „Den Deutschen fehlt die Leichtigkeit, die aus einem Wort eine handliche, einfache Bezeichnung macht, wegen der man sich ohne große Umstände einigt.“ 2 Erich Voegelin, Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien/ New York 1997 [1936], S. 15. Voegelin versucht in dieser Schrift, den Schmittschen Begriff des „totalen Staates“ theoretisch aufzulockern (vgl. S. 17), um ihn flexibler auf den österreichischen Kontext anwenden zu können. Zu diesem Zweck stellt Voegelin in seiner Einleitung einige grundsätzliche und sehr triftige Überlegungen zum Charakter von Schmitts Begriffsprägungen an.

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Um dem historischen Phänomen der Politischen Romantik gerecht zu werden, sollte man sich nun hüten, die in Rede stehende Sache mit Schmitts Zurichtung und Aufbereitung derselben zu verwechseln. Die dauerhafte Überschreibung der Politischen Romantik durch Schmitts glückliche, weil erfolgreiche Prägung sollte, wo schon nicht rückgängig zu machen, so doch reflektiert werden. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, die „Politische Romantik“ Schmitts mit anderen Lesarten der (politischen) Romantik zu kontrastieren. Ich möchte im Folgenden dabei eine Lesart heranziehen, die nicht weniger aus der politischen Aktualität heraus motiviert ist als die Schmitts – und zudem aus derselben Aktualität –, die aber zu anderen Schlüssen kommt. Ich meine die Renaissance der „Münchener Romantik“, die u.a. der Historiker und Publizist Philipp Funk Anfang der 1920er Jahre mit seinem Artikel „Die Münchener ‚Romantik‘“ in der Zeitschrift „Hochland“ ausgerufen und die er dann in seiner Habilitationsschrift „Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchner Romantik“ ausgeführt hat.3 Hermann Broch hat mit ziemlicher Sicherheit sowohl Schmitts Buch wie, als regelmäßiger Leser und Beiträger des „Hochland“, mit großer Wahrscheinlichkeit auch Funks Artikel gekannt.4 Es soll im Folgenden nun nicht darum gehen, Einflüsse Schmitts oder Funks auf Brochs Schriften im Allgemeinen und den „Tod des Vergil“ im Besonderen nachzuweisen. Allerdings soll jedoch das Gegenspiel von Schmitts und Funks Romantik-Konzeptionen dazu dienen, eine Gegenstrebigkeit in Brochs eigenem Umgang mit der Romantik zu verdeutlichen: Ich meine die Kombination von expliziter Kritik oder Ablehnung der Romantik auf der einen bei gleichzeitiger impliziter Aufnahme und Fortführung bestimmter, durchaus bestimmender Reflexionsfiguren der Romantik auf der anderen Seite. Im Bereich des Politischen bezieht sich Brochs Romantik-Kritik der Sache nach – wenn auch nie explizit in der Form eines Zitats oder auch nur einer Erwähnung – auf Schmitts Abfertigung der Politischen Romantik; die Aufnahme und Fortführung romantischer Züge lässt sich – ebenfalls bloß der Sache nach und wieder ohne Zitat oder Erwähnung – auf Funks Romantik-Konzeption be-

3 Philipp Funk, „Die Münchener ‚Romantik‘“, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 19/1921–22, Bd. 2, S. 544–559; Philipp Funk, Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchner Romantik, München 1925. 4 Funks Buch zur Münchner Romantik findet sich nicht in Brochs Bibliothek; zu Broch und dem „Hochland“ vgl. Friedrich Vollhardt, „Hermann Broch und der religiöse Diskurs in Kulturzeitschriften seiner Zeit (Summa, Hochland, Eranos)“, in: Paul Michael Lützeler/Christine Maillard (Hrsg.), Hermann Broch: Religion, Mythos, Utopie – zur ethischen Perspektive seines Werks (Recherches germaniques, hors série no. 5, 2008), S. 37–52.

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ziehen (oder doch wenigstens auf eine Romantik-Konzeption, die derjenigen Funks verwandt ist). Auch Funks „Münchener Romantik“ ist eine eminent politische Romantik; Funk fokussiert allerdings vornehmlich Autoren, die bei Schmitt gar nicht oder nur am Rande vorkommen. Der Autor, auf den ich mich dabei im Folgenden konzentrieren werde, weil er für die Frage des Politischen als der instruktivste wird gelten können, ist Franz von Baader.5 Auch Baader wird von Broch weder zitiert noch erwähnt.6 Die Konstruktion des Politischen aber, so wie sie sich im „Tod des Vergil“ findet, kann durchaus in eine Nähe zu Baaderschen Konzeptionen gebracht werden. Jenseits der Frage eines direkten Einflusses können sich beide Konzeptionen – Brochs politisch-literarische und Baaders politischtheologische – gegenseitig durchaus erhellen und erläutern: Allein auf diesen bescheidenen heuristischen Zweck zielen die folgenden Überlegungen ab. Hinzu tritt das Anliegen einer erweiterten historischen Kontextualisierung Brochs, die sich durch den Baader-Vergleich herstellen lässt. Gerade im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und besonders in den 1920er Jahren lässt sich ein neu erwachendes, durchaus politisch motiviertes Interesse an Baader nachweisen, das sich interessanter- und vielleicht bezeichnenderweise nicht einfach dem gängigen (und auch damals gängigen) Rechts-Links-Schema fügt. Nachdem Hans Reichels Dissertation über „Die Sozietätsphilosophie Franz von Baaders“ 1901 das Thema allererst wieder eröffnet hat,7 wurden zwischen 1917 und 1926 verschiedene Neuausgaben ausgewählter Schriften Baaders, v.a. zur „Sozietätsphilosophie“, wie die politische oder Sozialphilosophie bei Baader heißt, veröffentlicht. Den Anfang machte die Sammlung „Grundzüge der Sozietätsphilosophie“, herausgegeben von Alexander Schmid in der Schriftenreihe der Zeitschrift „Summa“;8 Broch war in allen vier überhaupt erschienenen Nummern der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift mit je mindestens einem Beitrag vertreten. In der ersten Nummer der „Summa“ aus dem Jahr 1917 erschienen nicht nur je ein Artikel von Carl Schmitt („Recht und Macht“) und Hermann Broch („Zolas Vorurteil“), sondern im Anhang auch der Reprint einer Schrift des von Schmitt geschmähten Politischen Romantikers Adam Müller mit dem bezeichnenden Titel „Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswis-

5 Baader taucht bei Schmitt nur als Kuriosum in einer Fußnote auf, als Bewunderer der griechisch-orthodoxen Kirche; vgl. Schmitt, Romantik, S. 97, Anm. 6 In Brochs Bibliothek finden sich keine Schriften Baaders. 7 Hans Reichel, „Die Sozietätsphilosophie Franz von Baaders“, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 57/1901, S. 193–264. 8 Franz von Baader, Grundzüge der Sozietätsphilosophie, Alexander Schmid (Hrsg.) (SummaSchriften Nr. 2), Hellerau 1917.

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senschaften und der Staatswirtschaft insbesondere“.9 Im Insel-Verlag Leipzig erschien dann 1921 eine weitere, umfangreichere Sammlung mit „Schriften Franz von Baaders“.10 Der Herausgeber dieser Sammlung, Max Pulver, veröffentlichte in der zweiten Nummer der „Summa“ einen Artikel mit dem Titel „Vis sanguinis ultra mortem“; in diesem zitiert er einen für die Sozietätsphilosophie durchaus bezeichnenden Satz Baaders – in Anführungszeichen, aber ohne Quellenangabe: Der Mensch steht mit den Menschen in zeitlich räumlichen Beziehungen, er steht aber zugleich mit den Menschen, mit den übrigen Intelligenzen, und mit Gott in überzeitlichen und überräumlichen geistigen oder ewigen Beziehungen, woraus das Ineinanderbestehen zweier Sozietäten sich ergibt, so wie zweier Autoritäten, einer zeitlichen und einer nichtzeitlichen. Die nichtzeitliche Sozietät umfaßt ihrer Natur gemäß alle Zeiten und Räume, und dasselbe muß folglich auch von ihrer Autorität gelten. Auch kann die zeitliche Sozietät nur in der nichtzeitlichen, diese aber nicht umgekehrt in jener sein und bestehen.11

In der zweiten Nummer der „Summa“ sind auch Brochs Essay „Morgenstern“ sowie Schmitts Abhandlung „Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung“ erschienen.12 Als dritte Baader-Ausgabe sind schließlich die „Schriften zur Gesellschaftsphilosophie“ zu nennen, die Johannes Sauter 1925 im Verlag Gustav Fischer in Jena herausgegeben hat. Diese Ausgabe ist die bei weitem umfangreichste; in ihr findet sich im Anhang auch ein 400seitiges „Lebensbild Franz von Baaders und Erläuterungen zu seinen Schriften“ aus der Feder des Herausgebers. Sauter legt in seinen Erläuterungen dabei besonderes Gewicht auf Baaders „System der Volkswirtschaftslehre“, das auf 80 Seiten dargelegt wird.13 Sauters Ausgabe ist in der Schriftenreihe „Die Herdflamme“ (Untertitel: „Sammlung der gesellschaftswissenschaftlichen Grundwerke aller Zeiten und Völker“) erschienen; den ersten

9 Carl Schmitt, „Recht und Macht“; Hermann Broch, „Zolas Vorurteil“; Adam Müller, „Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere“, in: Summa, 1917, Bd. 1, Erstes Viertel, S. 37–52 (Schmitt), S. 155–158 (Broch) und S. 171–200 (Müller). 10 Schriften Franz von Baaders, ausgewählt und hg. von Max Pulver, Leipzig 1921. 11 Max Pulver, „Vis sanguinis ultra mortem“, in: Summa, 1917, Bd. 2, Zweites Viertel, S. 81–90, hier S. 83. Das Zitat stammt aus Baaders Lamennais-Rezension: Franz von Baader, „Recension der Schrift: Essai sur l’Indifférence en matière de Réligion, par M. l’Abbé F. de la Mennais“, in: Ders., Sämtliche Werke, Franz Hoffmann u.a. (Hrsg.), Leipzig 1851–1863, Reprint Aalen 1963 (im Folgenden: SW mit Band in arabischer Ziffer), Bd. 5, S. 121–246, hier S. 245; in den SW geringfügig andere Schreibung als in „Summa“ sowie eine Fußnote nach dem Wort „überräumlichen“. 12 Hermann Broch, „Morgenstern“; Carl Schmitt, „Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung“, in: Summa, 1917, Bd. 2, Zweites Viertel, S. 150–154 (Broch) und S. 71–80 (Schmitt). 13 Franz von Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, Johannes Sauter (Hrsg.), Jena 1925.

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Band dieser Reihe bildete eine Neuausgabe von Adam Müllers „Die Elemente der Staatskunst“; Band 2 waren Müllers „Versuche einer neuen Theorie des Geldes“; Band 18 präsentierte „Adam Müllers handschriftliche Zusätze zu den ‚Elementen der Staatskunst‘“. Band 8 schließlich konzentrierte sich auf „Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik“. Baader wurde, wie diese kurze Revue verdeutlicht, in den 1920er Jahren durchaus im Kontext der Romantik wahrgenommen, als Bestandteil dessen, was Georg Lukács (mit Bezug auf Eichendorff) später „romantische[n] Antikapitalismus“ genannt hat.14 Hier wären sicher auch die Erwähnung Baaders in Ernst Blochs „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“ – unter der Überschrift: „Beschluss und die Hälfte des Reichs“ stellt Bloch in Form einer Liste die „unterirdische Geschichte der Revolution“ dar: „die Talbrüder, Katharer, Waldenser, Albigenser, Abt Joachim von Calabrese, die Brüder vom guten Willen, vom gemeinsamen Leben, vom vollen Geiste, vom freien Geiste, Eckart, die Hussiten, Münzer und die Täufer, Sebastian Franck, die Illuminaten, Rousseau und Kants humanistische Mystik, Weitling, Baader, Tolstoi“15 – sowie Hugo Balls Auseinandersetzung mit Baader zu rubrizieren. In Balls Pamphlet „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ von 1919 erscheint Baader – wiederum zusammen mit dem radikalchristlichen Arbeiterkommunisten Wilhelm Weitling – als Figur des Widerspruchs gegen Hegels protestantische Staatsgläubigkeit und gegen Marx’ Autoritarismus der erwählten Klasse und deren Partei.16 Dezidiert gegen die Einordnung Baaders in die Romantik – und gegen Vereinnahmungsversuche Baaders „aus den Kreisen der Neuromantik“, worunter vor allem der „Summa“-Kreis gefasst wird – wendet sich Leo Löwenthal. Dessen Frankfurter Dissertation mit dem Titel „Die Sozietätsphilosophie Franz von Baa-

14 Vgl. Georg Lukács, „Eichendorff“, in: Ders., Werke, Bd. 7: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Neuwied/Berlin 1964 [1940], S. 232–248, hier S. 234. 15 Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt am Main 1969 [1921], S. 228. In der Nachbemerkung zur Neuauflage bemerkt Bloch selbst die „revolutionäre Romantik“ seines Jugendwerks (S. 230). Zu Bloch und Baader vgl. die Regensburger katholisch-theologische, von Joseph Ratzinger betreute Habilitation von Friedrich Hartl, Der Begriff des Schöpferischen. Deutungsversuche der Dialektik durch Ernst Bloch und Franz von Baader, Frankfurt am Main u.a. 1979. 16 Hugo Ball, Die Folgen der Reformation. Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.), Göttingen 2011. Ball war regelmäßiger Beiträger des „Hochland“ und hat dort 1924 einen fulminanten Rezensionsessay über Schmitt veröffentlicht: Hugo Ball, „Carl Schmitts Politische Theologie“, in: Hochland, 21/1924, S. 263–285. Zur Freundschaft der seltsamen Geistesbrüder Schmitt und Ball vgl. – aus Schmitts Sicht! – Joachim Schickel, Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, S. 31–59. In diesem Gespräch erklärt Schmitt umwegig, dass Ball in ihm wohl „eine Art Bruder“ gesehen habe (S. 33).

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ders. Beispiel und Problem einer ‚religiösen Soziologie‘“ aus dem Jahr 1923 kann sicherlich als avancierteste Auseinandersetzung mit der Philosophie Baaders – nicht nur in den 1920er Jahren – gelten. Die minutiöse und äußerst textnahe Rekonstruktion – Löwenthal selbst schreibt von einem „folgerechten Nachbau“17 – der verstreut präsentierten, weitgehend fragmentarischen Philosophie Baaders betont vor allem die strukturelle Notwendigkeit der Theologie und religiösen Anthropologie Baaders für die Sozialphilosophie. Löwenthals politisch motiviertes, auf diese Motivation aber nicht zu reduzierendes und darum auch nicht reduktionistisches Augenmerk für theologische Fragestellungen scheint mir Brochs Intentionen (und auch Brochs Denkstil) sehr nahe zu stehen, ebenso die Skepsis gegenüber der Romantik als politischer Haltung. Die Zugehörigkeit Baaders zur Romantik muss sicher fraglich und kann vielleicht in der Schwebe bleiben. Auch Funk setzt die Romantik im Titel seines „Hochland“-Aufsatzes in Anführungszeichen; für ihn ist der Terminus nur eine Abbreviatur, ein terminologisches Hilfsmittel, das durch die gedankliche Durchdringung der Sache selbst überflüssig wird.18 Dieselbe kritische Distanz zum „Kampfbegriff“ der Romantik – der „Politischen“ zumal – teilt auch Alexandra Aidler, der die aktuellste, umfassendste und gründlichste Durchdringung der Baaderschen politisch-theologischen Philosophie zu verdanken ist. Sie nimmt den Fehdehandschuh, den Schmitt mit seiner Schrift „Politische Romantik“ geworfen hat, auf und versucht eine strategische „Umwertung“, nach derer gerade die von Schmitt inkriminierte oder gar ridikülisierte passivisch-occasionalistische Haltung der Romantiker als neues und erneuertes Bewusstsein der Demokratie zu verstehen ist. Der Sache nach scheint Brochs Versuch einer Neuerfindung der Demokratie aus ihren neu und anders gefundenen und zu Bewusstsein gebrachten Grundlagen heraus an eine solche „Umwertung“ des Begriffs der „politischen Romantik“ anschließbar zu sein.19 Ob wir das dann überhaupt noch „Romantik“ nennen möchten, oder nicht, mag hier dahin gestellt bleiben.

17 Leo Löwenthal, „Die Sozietätsphilosophie Franz von Baaders. Beispiel und Problem einer ‚religiösen Soziologie‘“, in: Ders., Philosophische Frühschriften (Schriften Bd. 5), Frankfurt am Main 1990, S. 99–165, hier S. 111. 18 Funk, „Münchener ‚Romantik‘“, S. 547; hier distanziert er sich von der „landläufige[n] Romantik, von der man in der Literaturgeschichte hört“; die Denkungsart des Münchener Kreises mag er nur „der Kürze halber wohl auch ‚romantisch‘ nennen“. 19 Alexandra Aidler, Demokratie und das Göttliche. Das Phänomen der Politischen Romantik, Würzburg 2012; zu Schmitt besonders S. 33 ff. Aidler bearbeitet neben Baader vor allem den späten Friedrich Schlegel sowie – ebenfalls unter dem Signum der „Politischen Romantik“ – die politischen Theorien Jacques Rancières und Jacques Derridas. Da ich in meiner eigenen Dissertation auf Konvergenzen zwischen Derridas „kommender Demokratie“ und Brochs „kommendem Reich der Demokratie“ hingewiesen haben, schließt sich hier in gewisser Weise ein Zirkel der  

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I Das „ewige Gespräch“ bei Carl Schmitt und im „Tod des Vergil“ In Schmitts Schrift „Politische Romantik“ wird an mehreren Stellen behauptet, die Politischen Romantiker würden sich lieber in einem „ewigen Gespräch“ ergehen, als zu eindeutigen Lösungen und dann zu Entschlüssen zu kommen: Die Formel vom „ewigen Gespräch“ bezeichnet für Carl Schmitt geradezu die Unwilligkeit und Unfähigkeit der Romantiker zu einer Entscheidung im anspruchsvollen Sinn. Die Romantiker, so Schmitt, bewohnen eine „immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht.“20 Diese Nicht- oder Anti-Struktur des romantischen Denkens affiziert laut Schmitt noch das Reden über die Romantik: Wer, zumal in Deutschland, diesen Begriff überhaupt in den Mund nimmt, „bemerkt bald“, so Schmitt im ersten Absatz der Vorrede, „daß er in ein ewiges Gespräch und ein aussichtsloses Gerede verwickelt ist“.21 Einige Jahre später, 1922, lässt Schmitt den vierten Teil seiner Schrift „Politische Theologie“, der der „Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ gewidmet ist, mit folgenden Sätzen beginnen, um die intellektuelle Fallhöhe zwischen den von ihm verachteten deutschen Romantikern und den großen romanischen Staatsphilosophen der Gegenrevolution zu verdeutlichen: Den deutschen Romantikern ist eine originelle Vorstellung eigentümlich: das ewige Gespräch; Novalis und Adam Müller bewegen sich darin als der eigentlichen Realisierung ihres Geistes. Die katholischen Staatsphilosophen, die man in Deutschland Romantiker nennt, weil sie konservativ und reaktionär waren und mittelalterliche Zustände idealisierten, de Maistre, Bonald und Donoso Cortes hätten ein ewiges Gespräch wohl eher für ein Phantasieprodukt von grausiger Komik gehalten. Denn was ihre gegenrevolutionäre Staatsphilosophie auszeichnet, ist das Bewusstsein, dass die Zeit eine Entscheidung verlangt … Alle formulieren ein großes Entweder-Oder, dessen Rigorosität eher nach Diktatur klingt als nach einem ewigen Gespräch.22

Verweisung. Zu Derrida vgl. Aidler, Demokratie, S. 271–320; vgl. ebenfalls Patrick Eiden-Offe, Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“, Paderborn/München 2011, besonders S. 378–382. 20 Schmitt, Politische Romantik, S. 19. 21 Ebd., S. 5. 22 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1996 [1922], S. 66.

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Die Formel vom „ewigen Gespräch“ wird von Schmitt nicht aus den Schriften der Romantiker hergeleitet, geschweige denn zitiert, obwohl er sie des öfteren mit Anführungszeichen markiert. Schmitt nutzt die Formel, um eine geheime Gemeinsamkeit der politischen Romantiker und ihrer erklärten Feinde zu markieren und diese Gemeinsamkeit evident werden zu lassen, ohne sie argumentativ herleiten zu müssen. Es ist, so Schmitt, eine besondere Ironie der Geschichte, dass die politischen Romantiker mit ihrer Vorliebe fürs „ewige Gespräch“ letztlich derselben Idealvorstellung nachhängen wie ihre Gegner, die Anhänger des liberalen Parlamentarismus. Wo die Romantiker in ihrer Geselligkeitsseligkeit das „ewige Gespräch“ suchten, da glaubten die Liberalen an ein „government by discussion“. Sie glaubten, dass das „ewige Gespräch“ im Parlament ein politischer Wert an sich, ein Prozedere, das selbst werthaltig und darum erstrebenswert sei. Beiden, den Liberalen wie den Romantikern, sei es dabei letztlich gleichgültig, was in den Gesprächen, was in den Debatten schlussendlich beschlossen wird. Eine Entscheidung ist für sie immer ein Abbruch des Gesprächs, ein Abbruch der Diskussion, und schon daher hoch problematisch. Der Abbruch der Kommunikation gilt ihnen als Einbruch nackter Faktizität und Notwendigkeit; beide trachten danach, solche Einbrüche wo nicht ganz zu verhindern, so doch zu mildern und zurückzudrängen. Man wird nun mit einem gewissen Recht das lange Gespräch zwischen Augustus und Vergil im dritten Teil von Brochs Roman „Der Tod des Vergil“ als Inszenierung eines „ewigen Gesprächs“ im Sinne Schmitts lesen können, und zugleich als literarische Inszenierung der Kritik, die man – mit Schmitt – an einem solcherart verstandenen „ewigen Gespräch“ haben kann. Zunächst muss allerdings festgestellt werden, dass Broch alle guten Gründe ins Feld führt, die für das Gespräch als Form der Konfliktlösung sprechen. Der Konflikt zwischen Vergil und Augustus besteht darin, dass Vergil seine unvollendete „Aeneis“ für nichtswürdig und ästhetisch-ethisch für unrettbar verloren hält und sie daher verbrennen möchte; Augustus wiederum sieht in der „Aeneis“ einen Spiegel seines eigenen Staatswerks und möchte sie daher unbedingt erhalten. Dass sich aus dieser Ausgangslage heraus überhaupt ein Streitgespräch entspinnt, liegt vor allem daran, dass Augustus ein solches Gespräch sucht, denn er könnte sich – und das ist Vergil von Anfang an klar – des Manuskriptkoffers auch ohne weiteres mit Gewalt bemächtigen. Das Gespräch steht von vorneherein im Schatten seines immer möglichen gewaltsamen Abbruchs, und doch setzen beide Gesprächspartner eine enorme Energie frei, um zu einer Lösung im Gespräch zu kommen. Es ist also nicht dem mangelnden Willen der beiden Gesprächspartner zur Einigung geschuldet, dass sich eine solche Einigung partout nicht einstellen will. Stattdessen dient das Gespräch eher dazu, jedes zuvor von den Freunden unterstellte Einverständnis

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aufzuzehren und zu zerstören. Schmitt sieht das „ewige Gespräch“ der Romantiker gekennzeichnet von „leeren und ermüdenden Wiederholungen“; ähnlich urteilen Vergil und Augustus im Verlauf ihres Gesprächs über selbiges: „[…]überaus umständlich, überaus ermüdend, überaus anstrengend“ (KW 4, 335)23 wirkt das Gespräch auf Vergil, und der handfestere Augustus schließlich resümiert am Ende des Gesprächs dessen Verlauf als „umständliche[s] Getue“ und „irrsinnige[s] Geklügel“ (KW 4, 367). Im und als Gespräch inszeniert Broch seine Skepsis gegenüber diskursivargumentativen Konfliktlösungsstrategien, und er zeigt zudem, dass auch die zwanglose Form des freien Gesprächs selbst einen Zwangscharakter und womöglich sogar etwas Zwanghaftes annehmen kann: „Stets neue Rede, stets neue Antwort, – der Zwang hierzu wurde überaus quälend“ (KW 4, 329), heißt es an einer Stelle. Vergrößert in den Bezugsrahmen des Politischen könnte man sagen: Broch inszeniert im Gespräch zwischen Augustus und Vergil seine Skepsis gegenüber dem liberalen Diskussionsoptimismus, der sich in der Formel vom „government by discussion“ ausdrückt – eine Skepsis, die er, im Übrigen, auch in der „Massenwahntheorie“ immer wieder zum Ausdruck bringt. Obwohl Broch sich pessimistisch gegenüber den Mitteln diskursiv-argumentativer Konfliktlösung zeigt, optiert er im „Tod des Vergil“ umgekehrt aber auch nicht für eine diktatorische Lösung, wie Schmitt sie favorisiert. Das Gespräch im „Tod des Vergil“ wird zu einer Lösung geführt, gerade weil es als Diskussion scheitert, und für die gefundene Lösung ist das langwierige, für alle Seiten und also auch den Leser „überaus ermüdend[e]“ Scheitern zuvor absolut unabdingbar: Es hätte nicht übersprungen werden können. Im Gespräch kommt es schließlich zu einer Übereinkunft, die es beiden Gesprächspartnern ermöglicht, ihren Dissens aufrechtzuerhalten. Es ist eine seltsame und berührende Szene, in der Vergil Augustus die „Aeneis“ schließlich übergibt (KW 4, 368 f.). Die Motivation dieser Gabe ist der Forschung seit dem Erscheinen des Vergil-Romans ein Rätsel geblieben. Vielleicht ist dieses Rätsel sogar die eigentliche Gabe des Romans an uns, seine Leser: eine Gabe, die sich als Gabe erhält durch ihre Unverständlichkeit. Ich möchte vorschlagen, gerade das Scheitern des Gesprächs als Motivation des schließlich gefundenen Einvernehmens zu deuten, eines Einvernehmens ohne Einigung. Gerade weil Augustus am Ende des Gesprächs immer weiter in Rage gerät über Vergils Ausflüchte und dessen „Geklügel“, gerade weil Augustus Vergil anbrüllt und  

23 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat.

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beschuldigt, undankbar und anmaßend zu sein, gerade deshalb erkennt Vergil, dass es Augustus wirklich um etwas zu tun ist im Gespräch, und gerade im und durch das Gezeter des Geheiligten – „Kein Zweifel, der Geheiligte zeterte“ – bauen sich für Vergil Brücken möglicher Verständigung, „Brücken des Menschlichen und der Menschlichkeit, verkettend das Wort mit dem Gegenwort“ (KW 4, 366). Es ist nicht die bloße Verkettung eines Wortes mit einem anderen Wort, sondern die von Wort und Gegen-Wort, von Wort und etwas, was mehr und anderes ist als Wort, von Wort und Tat vielleicht, die zur Einigung führt. Broch kritisiert die Illusion, dass man den notwendigen Schritt zur Entscheidung ganz in einen endlosen Austausch von Argumenten auflösen kann. Er kritisiert aber auch die starre Gegenüberstellung von aussichtslosem, leerem Gerede auf der einen und tatkräftiger Entscheidung auf der anderen Seite, wie sie Schmitt vertritt. Broch unterläuft diese leere und aussichtslose Opposition und zeigt, dass sich selbst gewichtige Entscheidungen – und die über das Schicksal der „Aeneis“ ist für Vergil eine Entscheidung auf Leben und Tod – immer nur im Je und Je der konkreten Situation fällen lassen; in einem Zwischenreich, wo sich Prinzipien, taktische Erwägungen und persönliche Einstellungen unentwirrbar überkreuzen. In diesem Zwischenreich tauchen dann plötzlich auch wieder Elemente auf, die im langen Gespräch zuvor ganz verloren gegangen waren und vielleicht auch gefehlt haben: nämlich Ironie und Humor. Die beiden alten Freunde machen die Entscheidung, nachdem diese schließlich gefällt worden ist, für sich selbst und den anderen lebbar, indem sie miteinander scherzen und sich fast kindlich necken. Genau in diesem Moment schließlich teilt sich auch dem Leser etwas von jenen vielleicht etwas schwergewichtig benannten „Brücken des Menschlichen und der Menschlichkeit“ mit, von denen zuvor die Rede war. Nicht die Entscheidung an sich ist das Problem, so legt Broch hier nahe, sondern die verschiedenen Weisen, in denen Menschen mit ihren Entscheidungen zu leben lernen. Dass dabei Humor mehr zu helfen und zu heilen vermag als bloße Entschlossenheit, das ist eine der tief humanen Botschaften, die der Roman für seine Leser bereithält.

II Das kommende Reich: Franz von Baader und „Der Tod des Vergil“ Der Sache nach wird im Gespräch zwischen Augustus und Vergil an zentraler Stelle der Begriff des Reichs verhandelt, und zwar als Gegenbegriff zu dem des Staates. In einer ersten Annäherung lässt sich die Opposition von Staat und Reich auf die Konfrontation zwischen Augustus und Vergil abbilden: Augustus ist ganz Staatsmann, er hat den Staat zu seiner Sache gemacht. Vergil hingegen verkündet ein Reich, dessen genaue Konturen nicht nur Augustus unklar bleiben, sondern auch

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dem Leser und offensichtlich sogar Vergil selbst. Und sowenig der Streit zwischen Augustus und Vergil in sachlicher Hinsicht zugunsten einer der beiden Seiten entschieden wird, so wenig lässt sich das Problem von Staat und Reich in eine jener Entweder-Oder-Fragen auflösen, die Schmitt im Verbund mit den von ihm verehrten Propagandisten der Gegenrevolution so schätzt. Der Begriff des Reichs kann nicht in sich und für sich allein zu Stande gebracht werden; er lässt sich nur in Anlehnung und in Abhängigkeit vom Begriff des Staates verstehen – auch und gerade, weil das Reich die Autonomie und Selbstgenügsamkeit des Staates bestreitet. Staat und Reich werden von Broch als Relationsbegriffe präsentiert, und in dem ganzen umständlichen und ermüdenden Gespräch zwischen Augustus und Vergil geht es nicht unwesentlich um die Ausmittlung dieses Verhältnisses. Das Reich – um einige der zentralen Formulierung aus dem Gespräch in Erinnerung zu rufen – wird von Vergil als eine Ordnung präsentiert, in der und in die „der römische Staat über sich selbst hinauswachsen“ wird. Der Staat soll dabei „zum Reiche der Erkenntnis werden“ (KW 4, 338). Schließlich heißt es, dass das „Ziel des Staates“ im „Reich der Wahrheit“ zu erblicken sei, in einem Reich „hingebreitet über alle Länder, dennoch wachsend wie ein Baum aus der Tiefe der Erde zu denen des Himmels, da es die wachsende Frömmigkeit ist, in der das Reich wird, des Reiches Friede, die Wirklichkeit als entfaltete Wahrheit“ (KW 4, 348). Den „Grenzen des Staates“, die zu bewachen Augustus sich zur Aufgabe gemacht hat, steht die Grenzenlosigkeit des Reichs gegenüber. Dies Reich nun wird – so Vergil in der politisch vielleicht konzisesten, wenngleich immer noch höchst enigmatischen Passage – „nicht ein Reich der Volksmassen sein, ja nicht einmal ein Reich der Völker, sondern ein Reich der Menschengemeinschaft, getragen […] von der menschlichen Einzelseele, von ihrer Würde und von ihrer Freiheit, getragen von ihrer göttlichen Ebenbildhaftigkeit“ (KW 4, 345). Vergil versucht, den Staatsmann Augustus für seine Idee des Reichs zu gewinnen; er will Augustus sogar zeigen, dass Staat und Reich sich gar nicht entgegenstehen, sondern dass der Staat Voraussetzung des Reichs ist: Wenn der Staat über sich hinauswachsen kann zum Reich, dann ist das Reich vielleicht sogar gar nichts anderes als der Staat, bloß betrachtet unter dem Gesichtspunkt seines „Wachsen[s] und Werden[s]“ (KW 4, 338). Dass diese Auffassung sich vielleicht als etwas zu harmonisch geriert, wird daraus ersichtlich, dass Augustus mit ihr gar nichts anzufangen weiß. Er beharrt vielmehr darauf, dass sein Staat nicht mehr weiter wachsen solle oder dürfe, da er sonst seine innere Integrations- und seine äußere Verteidigungsfähigkeit verlieren würde. Der augusteische Staat, so wie Augustus ihn sieht, ist schon strategisch abgerundet und versehen mit einer ‚saturierten Ideologie‘, um einen Begriff Brochs aus der „Massenwahntheorie“ zu gebrauchen: Der augusteische Staat genügt sich selbst.

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Es ließe sich nun einwenden, dass Augustus und Vergil letztlich einfach aneinander vorbeireden. Augustus, so könnte man sagen, ist ein rein diesseitig orientierter Machtpolitiker, der sich um höhere Werte nicht bekümmert; Vergil hingegen, so lautete das komplementäre Argument, rede letztlich ausschließlich über religiöse, metaphysische oder mystische Dinge: Die beiden müssten sich also eigentlich gar nicht ins Gehege kommen. Dagegen muss nun aber ernst genommen werden, dass sich zwischen Augustus und Vergil sehr wohl ein handfester Streit entspinnt. Der Streit ist als Symptom dafür zu lesen, dass es am Grunde des Gesprächs tatsächlich einen Streitfall gibt. Worin besteht dieser? Zunächst ist festzuhalten, dass der augusteische Staat, so wie er sich hier präsentiert, als eine abgerundete, in sich ruhende Sache, nur funktionieren kann, wenn er sich gerade nicht rein machtpolitisch installiert, sondern eine religiöse Dimension in sich einbezieht. Es ist kein Zufall, dass Augustus immer wieder über die „römische Frömmigkeit“ (KW 4, 352) spricht. Ohne diese pietas wäre der augusteische Staat nicht überlebensfähig. Es steht diese Frömmigkeit allerdings für eine Religion, die ganz und gar in den Staatsaufbau mit einbezogen ist; sie ist integraler Teil des augusteischen Staatswerks, und es ist kein Zufall, dass Augustus im Gespräch immer wieder als Brückenbauer angesprochen wird. Denn in der institutionellen Architektur des Prinzipats ist es unabdingbar, dass Augustus auch das Amt des Pontifex Maximus, des höchsten Priesters, bekleidet. In Anlehnung an Eric Voegelin lässt sich diese Form der augusteischen Frömmigkeit als immanentistische Frömmigkeit bezeichnet: Sie ist vollkommen einbezogen in ein geschlossenes Verweisgefüge, in der jedes Element auf jedes andere bezogen ist und so immer und unausweichlich nur die Macht des augusteischen Staates bestätigt. Deshalb muss Augustus so empfindlich reagieren, wenn Vergil den Begriff einer anderen Frömmigkeit einführt, die auf einen offenen Horizont verweist, eine „wachsende[] Frömmigkeit“ jenseits aller staatstragenden „Verkörperung“ (KW 4, 351 f.). Augustus weiß nur zu gut, dass das „Wachsen und Werden“ dieser transzendenzoffenen Frömmigkeit unweigerlich das festgefügte Gebäude des augusteischen Staatssystems sprengen muss. Wenn Augustus und Vergil sich um die Begriffe Staat und Reich streiten, dann liegt am Grund der Auseinandersetzung letztlich das ungeklärte Verhältnis von Religion und Politik. Und hier kann ein erster Berührungspunkt mit der „Politischen Romantik“ Franz von Baaders ausgemacht werden. Mit dieser lässt sich, noch bevor der Schritt zu einer positiven Bestimmung des Reichs unternommen werden könnte, die Kritik Brochs am augusteischen Staatsverständnis explizieren. Denn die Politischen Romantiker fordern mitnichten – wie es die Doxa will, wie es ihnen zeitgenössisch aber auch schon die Liberalen und Radikalen des Vormärz vorgeworfen haben – eine Identität von geistlicher und politischer  

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Macht.24 Die Vertreter der „Politischen Romantik“ – neben Baader wäre im hier gemeinten Sinn auch an den späten Friedrich Schlegel zu erinnern – grenzen sich ganz im Gegenteil entschieden von jeder Forderung nach Installation oder Restauration einer Theokratie ab. Im Text „Über den Begriff der Theokratie“ stellt Baader fest, dass die Theokratie, verstanden als „Glaube der Delegation der weltlichen Macht durch die geistliche“, dem Christentum und besonders dem Katholizismus strikt „fremd“ sei.25 Vielmehr werde nur durch die „Scheidung der weltlichen und der geistlichen Macht und Autorität die Freiheit der christlichen Sozietät verbürgt“. Freiheit gebe es nur, wo geistliche und weltliche Macht getrennt gehalten werden; ihre „Confundierung (sei es nun, dass die Kirche den Staat, sei es dass dieser jene verschlingt)“ hingegen führe zu „Despotie“. Despotie ist immer dann gegeben, wenn ein „weltlicher Regent […] sich als Kirchenoberhaupt oder als Papst be24 Die radikalen Vormärz-Autoren sahen sich mit dem politischen Ernstfall der Politischen Romantik konfrontiert, mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. in Preußen 1840. Für eine valide, weil äußerst differenzierte Kritik der Staatsauffassung dieses „Romantikers auf dem Throne“ vgl. F.O. [Friedrich Oswald, d.i. Friedrich Engels], „Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen“, in: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, Georg Herwegh (Hrsg.), Zürich und Winterthur: Verlag des Literarischen Comptoirs 1843; Reprint Leipzig 1989, S. 294–302. Die Münchner Politische Romantik wird im Vormärz entweder direkt in Person des Königs Ludwig I. von Bayern attackiert, oder indirekt über die Berufungspolitik Friedrich Wilhelms IV., der sich mit Philosophen und Künstlern aus dem Münchener Kreis umgab, so dass nun auch die preußische Politik von Münchner Romantikern bestimmt zu sein schien; ins Visier besonders der radikalen Hegelschen Linken geriet dabei speziell Schelling, der seit 1841 in Berlin auf Hegels Stuhl Philosophie las. Vgl. dazu äußerst rüde und undifferenziert, dafür aber umso amüsanter: Heinrich Heine, „Lobgesänge auf König Ludwig“, in: Deutsch-Französische Jahrbücher. 1ste und 2te Lieferung, Arnold Ruge/Karl Marx (Hrsg.), Paris 1844; Reprint Leipzig 1973, S. 129–132, sowie die beiden Broschüren des jungen Engels: Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reactionsversuchs gegen die freie Philosophie, Leipzig: Verlag Robert Binder 1842 und: Schelling, der Philosoph in Christo, oder die Verklärung der Weltweisheit zur Gottesweisheit. Für gläubige Christen denen der philosophische Sprachgebrauch unbekannt ist, Berlin: Verlag von A. Eyssenhardt 1842; wieder abgedruckt in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 41, Berlin 2008, S. 171–221 und S. 223–245. Der militante LinksHegelianer Engels attackiert en passant in seiner Alexander-Jung-Rezension in den „Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst“ aus dem Jahr 1842 auch Baader für dessen „somnambüle Mystik und Unphilosophie“; Friedrich Engel, „Alexander Jung. Vorlesungen über die moderne Literatur der Deutschen“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1981, S. 433–445, hier S. 445. 25 Baader, „Ueber den Begriff der Theokratie“, SW 1, S. 312–313, hier S. 313. Zu Beginn dieses Textes wendet sich Baader gegen die zeitgenössische, aber wohl auch noch heute aktuelle Doxa über den Katholizismus: „Es ist von den gemässigten und gutgesinnten Akatholiken seit einiger Zeit eingeführter Gebrauch, das Wesen des Katholicismus als eine Theokratie vorzustellen, welche aus dem Christenthum im Mittelalter sich ausgebildet, in der That also folglich bereits lange antiquirt sein würde“ (S. 312).

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nimmt (gerirt)“ – und umgekehrt: Der Konflikt Baaders mit dem Papsttum hat hier seinen Kern.26 In Baaders Sinn kann der Augustus in Brochs Roman als Theokrat gekennzeichnet werden, der gerade durch die religiöse Dimension seiner Herrschaft – und nicht etwa durch ihr Fehlen – eine despotische Verknechtung seiner Untertanen bewirkt. Indem Augustus die Verehrung der Götter und die „römische Frömmigkeit“ völlig in den „Geltungskreis des Staates“ (KW 4, 350) einzieht, werden Frömmigkeit und Religion – in Baaders Worten – „zum Polizeidienst herabgewürdiget“.27 Wenn die „römische Frömmigkeit“ der Staat selbst ist, „Dienst am Staat“ und „Einordnung in ihn“, wenn römische Frömmigkeit und römisch-augusteischer Staat eins sind (KW 4, 353 f.), dann findet der fromme Römer seine Identität darin, dass er „Fürstenknecht“ und „Pfaffenknecht“ in einem ist.28 In den Fragmenten seiner „Massenwahntheorie“ wird Broch die immer „despotischen“ Verschmelzungsversuche von Religion und Politik, von Kirche und Staat mit einem Begriff Voegelins als „politische Religionen“ (KW 12, 525) oder als „politische Ersatzreligion[en]“ kritisieren.29 Die Wendung gegen die Theokratie ist aber nur eine Seite der Medaille. Baader führt auf dem politisch-religiösen Feld gewissermaßen einen Zwei-Fronten-Kampf; er bekämpft nicht nur die „Confundierung“, „Vermengung“ oder „Verschmelzung“ von weltlicher und geistlicher Macht, sondern auch deren gänzliche Trennung. Der Gegner ist hier der zeitgenössische Liberalismus, der mit der Juli-Revolution in Frankreich 1830 in Form des Laizismus einen wichtigen Sieg errungen hatte. Die Liberalen betreiben, dass die Regierungen „von allem sacre sich lossagen[]“30 und sich rein weltlich orientieren sollen. Das ist für Baader gänzlich undenkbar – oder nur als Widervernunft denkbar. Denn jede Gesellschaft bezieht sich notwendig auf eine Autorität, und da deren Wesen „weder im Menschen noch unter ihm gefunden werden kann“, kann es nur „über dem Menschen“, in Gott gefunden werden.31 Joseph de Maistre, auf den sich Baader verschiedentlich positiv bezieht,32 hat  

26 Vgl. Baader, „Ueber die Trennbarkeit oder Untrennbarkeit des Papsthums oder des Primats vom Katholizismus“, SW 5, S. 369–382. 27 Baader, „Ueber die sichtbare und unsichtbare Kirche, so wie über die sichtbaren und unsichtbaren Wirkungen der sichtbaren Kirche“, SW 7, S. 209–222, hier S. 221. 28 SW 5, S. 313. 29 Vgl. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, München 1996 [1938]. 30 Vgl. Baader, „Ueber die dermalige Stellung der Religion zur Regierung in Frankreich“, SW 5, S. 317 f., hier S. 317. 31 Baader, „Ueber den Begriff der Autorität“, SW 5, S. 294–299, hier S. 296. 32 Vgl. etwa im „Zweiten Heft“ der Fermenta Cognitionis, SW 2, S. 214, sowie kritisch zu de Maistres falscher „Deduction der Infallibilität des Kirchenoberhaupts“, die Baader nur als eine  

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diesem Punkt im berühmten fünften Kapitel seiner „Considérations sur la France“ – neben Burkes „Reflections on the Revolution in France“ vielleicht das Glaubensbuch der Gegenrevolution – erläutert: Gegen den „religionsfeindlichen Charakter der französischen Revolution“ gerichtet (so der Titel des Kapitels), stellt de Maistre fest, dass „alle denkbaren Einrichtungen […] auf einer religiösen Vorstellung“ „beruhen“ würden – „oder sie währen nicht lang“. Die „ganze Reihe der menschlichen Einrichtungen, von den großen Einrichtungen, welche die Zeitalter scheiden, bis zum kleinsten gesellschaftlichen Gebilde“, von den großen Reichen bis zu den Gilden und letztlich sogar den Familien, diese ganze Reihe von Institutionen bildet überhaupt nur eine „Reihe“, weil ein jedes ihrer Elemente „eine göttliche Grundlage hat“, und damit wesentlich nicht von den Menschen selbst gemacht ist. Jede Institution wird erst zu einer solchen dadurch, dass sie von der „Sonne“ der göttlichen Macht durchdrungen und auf diese ausgerichtet ist. Das viel zitierte „Teuflische“, das de Maistre in der Revolution erblickt, ist in einem durchaus technischen Sinn zu verstehen: als Abkehr von Gott als Ziel und Grundlage und als willentlicher Versuch, die menschliche Gesellschaft ohne Gott nur in sich selbst zu begründen und nur an selbst gesetzten Werten und Zielen auszurichten.33 Die theologisch-metaphysische Widervernünftigkeit des Liberalismus zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er schon auf der Ebene des „bloß“ Politischen immer wieder mit seinem angeblichen, selbstbehaupteten Gegenteil zusammenfällt. Für Baader betreiben diejenigen, die weltliche und geistliche Macht fein säuberlich und endgültig trennen wollen, und diejenigen, die weltliche und geistliche Macht zu einer einzigen verschmelzen wollen, dieselbe, gottes-, menschen- und freiheitsfeindliche Sache. Die Unterscheidung der „illiberalen“ von den „liberalen Ultra’s“ – eine „zweifache Narrheit“34 – bleibt eine äußerliche, welche die zugrunde liegende Identität beider nur vertuscht. Diese Identität weist sich in der Unfähigkeit aus, Staat und Kirche, weltliche und religiöse

Verkleidung des Infallibilitätsanspruchs „jedes weltlichen Fürsten“ deutet – eines Anspruch, den de Maistres Deduktion nur „einschwärz[e]“, so Baader (Brief an J. v. Obercamp vom 6. Juni 1825, SW 15, S. 429). 33 Joseph de Maistre, Betrachtungen über Frankreich, Wien und Leipzig 1991 [1796], S. 47 f. In den Anmerkungen zu seinem „Sendschrieben an einen Freund über die französische Revolution“ zitiert Baader eine längere Passage aus de Maistres „Considerations“, in der der berühmte Satz fällt, dass „nicht die Menschen diese Revolution führen, sondern dass die Menschen nur gleichsam bei ihr selber angestellt sind (SW 6, S. 326). Vgl. de Maistre, Betrachtungen, S. 9: „Sehr mit Recht hat man bemerkt, daß die französische Revolution die Menschen mehr lenkt, als die Menschen sie.“ 34 Aus der Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Ueber den Evolutionismus und Revolutionismus, oder die posit. und negat. Evolution des Lebens überhaupt und des socialen Lebens insbesondere“, SW 6, S. 73–108, hier S. 102.  

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Sozialität, als organischen Vermittlungszusammenhang zu begreifen.35 Nebenbei: Vielleicht lässt sich hier ein Grund dafür sehen, dass die Augustus-Figur in Brochs „Vergil“ in der Forschung gleichermaßen als „idealized totalitarian“ wie als Modell eines demokratischen Führers gelesen wurde.36 Vor dem Hintergrund der von Baader diagnostizierten politischen coincidentia oppositorum muss man sagen, dass beide Lesarten das gleiche Recht beanspruchen können. In einem Text, welcher der „Identität des Despotismus und des Revolutionismus“ gewidmet ist, bezieht sich Baader explizit auf die Vermittlungslehre des späten Friedrich Schlegel. Auch Schlegel ficht in seinem großen Essay „Signatur des Zeitalters“ von 1820–23 einen Zwei-Fronten-Kampf gegen die Liberalen und die Legitimisten, insofern sich beide Seiten als „Parteien“ gerieren und damit ihre Standpunkte vereinseitigen – sei es als Wunsch nach absoluter Verschmelzung oder nach absoluter Trennung von Thron und Altar.37 In eben dieser Totalisierung und Verabsolutierung des Parteienwesens erblickt Schlegel, durchaus im Einklang mit Baaders Sprachgebrauch, den „schrankenlosen Ultrageist[]“ der Gegenwart.38 Auch für Schlegel berühren sich die Gegensätze: so finden sich „oft dieselben zerstörenden Prinzipien und Elemente der Auflösung bei ganz entgegengesetzten Parteien“, eine „rein mathematische Staatsansicht und Staatsbehandlung“, eine „Neigung zu Zentralisieren“ und zur „systematischen Verschmelzung und Vertilgung alles Lokalen und selbstständig Korporativen“: kurz, sowohl die liberale wie die legitimistische Partei werden beherrscht von einem „falschen Systeme von absoluter Einheit und absoluter Freiheit“.39 Gegen diesen Ungeist des Absoluten – das „Absolute ist der eigentliche Feind des Menschengeschlechts“, weil alles Absolute „seiner Natur nach anorganisch, die Elemente entbindend und zerstörend“ wirkt40 – und gegen die Forderung nach dem „Unbedingten“, die mit dem „Ultrawesen“41 notwendig verbunden ist, bietet Schlegel

35 Baader, „Identität des Despotismus und des Revolutionismus“, SW 5, S. 290–292. 36 Vgl. Theodore Ziolkowski, Virgil and the Moderns, Princeton 1993, S. 205 und Wolfgang Graf Vizthum, „Hermann Broch und Carl Schmitt“, in: Jürgen Heideking/Gerhard Hufnagel/Franz Knipping (Hrsg.), Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schultz, Berlin/New York 1989, S. 69–100, hier S. 80. 37 Friedrich Schlegel, „Die Signatur des Zeitalters“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München/ Paderborn/Wien 1966, Bd. 7, S. 483–596. Die Idee einer „Verschmelzung der geistlichen und weltlichen Macht“ weist Schlegel als genuin unchristlich aus und schreibt sie der „Erscheinung des Chalifats“ zu (vgl. ebd., S. 588 und S. 592). 38 Ebd., S. 492. 39 Ebd., S. 495. 40 Ebd., S. 519. 41 Ebd., S. 521.

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mit großer Emphase ein Pathos der Vermittlung auf; einen Geist, der sich selbst bescheidet und um seine Bedingt- und Gebundenheit weiß. Historische und geistige Wirklichkeit erlangt dieser Gedanke der Vermittlung in der positiv gegebenen institutionellen Gestalt der Gesellschaft, im Gewebe ihrer „selbstständigen Korporationen“; an diese Vermittlungslehre Schlegels schließt denn auch Baader explizit an.42 Freiheit und Sicherheit kann es für Baader nur durch die „Vermittlung von Ständen, Corporationen &c.“, von „Mittelorgane[n] (bis herab auf die Innungen und Zünfte)“ geben, und Baader pflichtet Schlegel besonders darin bei, dass dieser „die Kirche selbst mit Recht die erste Innung und hiermit aller Innungen Mutter“ nennt.43 Es geht also offenbar nicht darum, dass die Korporationen und Stände zwischen Kirche und Staat vermitteln; die Kirche bringt als Innung vielmehr allererst den Gedanken der institutionellen Vermittlung selbst in die Welt. Wenn wir, so wiederum Schlegel, nicht auf einen „unmittelbaren Eintritt des Reiches Gottes auf Erden“44 hoffen können und dürfen, dann doch auf einen vermittelten, auf einen Eintritt des Reiches Gottes als Vermittlung. Die Kirche als erstes und höchstes aller „vermittelnden Organe“, so Baader, sorgt dafür, dass „die Action der höchsten Macht“ nicht „unvermittelt auf das Individuum fällt“, da diese sonst „notwendig erdrückend oder despotisch“ wirken müsste.45 Die Lehre von den Vermittlungsorganen als Garanten der Freiheit und Sicherheit sowohl der Regenten wie der Regierten46 führt zu einer Auffassung der Gesellschaft als Gefüge, als einer zwar nicht starren, aber doch hierarchisch gestaffelten Ordnung. Es ist die Ordnung eines Organismus, in dem alles und jeder seinen Platz finden und an diesem Platz seine Funktion fürs Ganze erfüllen kann.47 Wichtig ist hier, dass zwar alle Glieder des Organismus als Glieder gleichwertig, von ihrer jeweiligen Beschaffenheit aber wesentlich ungleich sind: „Verbindung setzt Ungleichheit zwischen den sich Verbindenden voraus, weil zwischen Gleichen nur Anhäufung (Aggregation) statt findet.“48 Die Ungleichheit –

42 Schlegel schreibt von „einheimisch lokalen und historisch begründeten ständischen Instituten“ (ebd., S. 524). 43 SW 5, S. 290. 44 Schlegel, Signatur, S. 507. 45 SW 5, 290. 46 Vgl. SW 5, 290: Ohne ständig-korporative Vermittlung sei „weder der Regent von den Regierten, noch sind Diese von Jenem frei und sicher“. 47 Vgl. grundsätzlich, wenn auch ohne Bezug auf Baader, Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg i. Br. 1999. 48 Baader, „Ueber das durch die französ. Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik“, SW 6, S. 11–28, hier S. 1 f. Die Polemik gegen  

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das „Hohe und Niedrige, Superiorität und Abhängigkeit, Ueberfluss und Bedürfnis“49 – drückt sich als Höhendifferenz innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges aus: in Form einer Abstufung und Hierarchie vom monarchischen Haupt der Gesellschaft „bis herab auf die Innungen und Zünfte“ [Herv. PEO] als ausführende, werkelnde Glieder.50 Genau gegen ein solches Bild der Gesellschaft aber opponiert Broch mit seinem Konzept der Demokratie – und hier kann und muss auch eine deutliche Differenz zwischen Brochs und Baaders Gesellschaftskonstruktionen markiert werden. In der „Massenwahntheorie“ schreibt Broch, in deutlicher terminologischer Anlehnung an politisch-romantische Vorstellungen, aber bei strikter inhaltlicher Abgrenzung: Demokratie ist ihrem Prinzip nach – also abgesehen von ihren ökonomischen und machtpolitischen Existenzbedingungen – eine ethisch-religiöse Gründung, sie ist ein ‚unsichtbares Gottesreich‘, das Reich, in dem es keine irdischen Statthalter für Gott mehr braucht, keinen Papst und vor allem keinen Kaiser und keine Hierarchie, weil eine jegliche Seele bereits zu ihrer vollen Ebenbildhaftigkeit und zu der ihr eingeborenen vollen menschlichen Würde erweckt worden ist (KW 12, 367 f.).  

Broch lehnt für die Demokratie all die Vermittlungsinstanzen und -institutionen ab, die Baader mit Schlegel so wichtig sind. Im Reich der Demokratie – denn als Reich wird die Demokratie hier, und sei’s auch metaphorisch (aber metaphorisch wofür?), bezeichnet – werden keine Repräsentanten und Verkörperungen Gottes mehr benötigt, und deshalb ist auch der Streit darüber, wer denn nun der legitime und höchste Repräsentant Gottes auf Erden sei – Kaiser oder Papst – obsolet geworden. Selbst die Kirche, die bei Baader noch als „sichtbare Kirche“ die „unsichtbare“ im Irdischen vertritt, hat bei Broch ihre Funktion verloren. Gleichwohl aber ist die Demokratie als „unsichtbares Gottesreich“ nicht einfach unmittelbar gegeben als dann auch irdisches (sichtbares) Reich; denn wäre sie es, so

die bloße Aggregation von Gleichen richtet sich gegen den Liberalismus, der, wie Schlegel schreibt, „den ganzen Körper der bürgerlichen Gesellschaft erst in seine einzelnen Staatsatome oder Individuen zerschlagen [muss], und diese Atome dann in Masse bald nach dieser, bald nach jener Richtung in Bewegung setzen“ will (Schlegel, Signatur, S. 536). 49 SW 6, 16. 50 Vgl. SW 2, S. 214: „Man hat die Behauptung Maistre’s anstössig gefunden: dass die Freiheit des Volks ihm nur von seinem Regenten komme, aber diese Behauptung will eigentlich nur sagen; dass nur im Centralorgan des Organismus jedes einzelne Organ begründet und also frei gegen alle übrigen einzelnen Gliedmaassen ist. Als begründend ist das Haupt sohin allerdings befreiend, aber diese Begründung oder Verselbständigung ist darum nicht minder wechselseitig, und das sich dem Leibe entgegensetzende Haupt entgründet sich nicht minder, wie der sich vom Haupte trennende Leib.“

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würde sich wiederum ein Kaiser oder Papst als ihr Oberhaupt gerieren können. Gesucht – von Broch postuliert – wird also das paradoxe Prinzip einer vermittelten Unmittelbarkeit, über das die Demokratie als „ethisch-religiöse Gründung“ ins Irdische hineinwirken kann, ohne ganz in diesem aufzugehen. Genau hier kommt das für Broch zentrale Prinzip der „Ebenbildhaftigkeit“ der „Seele“ ins Spiel, das Prinzip der „göttlichen Ebenbildhaftigkeit“ der „menschlichen Einzelseele“, jeder „menschlichen Einzelseele“, wie es an schon zitierter, zentraler Stelle im Gespräch zwischen Vergil und Augustus heißt (KW 4, 345). Die Ebenbildhaftigkeit ist das demokratisch-universelle Vermittlungsprinzip, das jede Seele unmittelbar zu Gott und zur Seele des Anderen, des Nebenmenschen, stellt. Der Wichtigkeit dieses Prinzips entspricht bei Broch nun eine auffällige Zurückhaltung in Bezug auf dessen genauere Bestimmung. Ironischerweise sind es wiederum die Theorien der Politischen Romantiker Baader und Schlegel – gegen deren organologische Institutionenlehre Broch sein Prinzip der Ebenbildhaftigkeit zumindest implizit in Stellung bringt –, die helfen können, das Prinzip der Ebenbildhaftigkeit aufzuklären. Denn auch in der Politischen Romantik (Baaders und Schlegels) gibt es ein politisch verstandenes Prinzip der Ebenbildhaftigkeit, das bei Baader in dessen Theorie der Liebe mitformuliert ist. Das Reich Gottes hat eine „weltbürgerliche (politische) Tendenz“, schreibt Baader in seinem Text „Ueber das durch die Französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik“. Die vorgebliche Trennung, die in der Bibel zwischen dem Reich Gottes und „dieser Welt“ ausgesprochen wird – „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 18, 36) – muss interpretatorisch weitergetrieben und überwunden werden. Baader: „[W]enn schon dieses Reich nicht von dieser Welt ist und kömmt, so kömmt es doch für sie und in sie.“51 Das Reich Gottes aber kommt für und in die Welt als Liebe. Die Liebe, so Baader, muss als „wahrhaft organisches und organisirendes Lebensprincip“52 auch das des Politischen werden; Liebe ist für Baader immer auch politische Liebe. Entsprechend spricht sich im „Hauptgebote“ der christlichen Religion: „‚Liebe Gott über Alles, deinen Nächsten aber wie dich selbst‘ in der That das Princip alles wahrhaft freien Gemeinlebens und Gemeinwesens“ aus.53 Die enge Verbindung zwischen Gott und dem Nächsten, die das Gebot und besonders Baaders Deutung des Gebotes knüpft, bleibt für Baaders Philosophie eines „freien“ Gemeinwesens zentral. Denn „das Band der Liebe oder Vereini-

51 SW 6, S. 25. 52 SW 6, S. 15. 53 Ebd.

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gung, welche mehrere Gemüther als Glieder eines und desselben Gemeinwesens frei, weil von innen heraus (durch Zug und nicht durch Druck) verbindet, kann nur als Wirksamkeit eines und des selben all’ diesen Gemüthern innewohnenden und wirklich höheren und centralen Wesens (d.h. ihres gemeinsamen Gottes) begriffen werden“.54 Im Prinzip der „Inwohnung Gottes“ manifestiert sich Gott im menschlichen Sein und besonders im menschlichen Mit-Sein, in der menschlichen Sozietät. Gott wird hier wesentlich bestimmt durch seine gesellschaftsstiftende Funktion: als „höhere[s] und zentrale[s] Wesen[]“ versammelt er die verstreuten Glieder der Sozietät und zentriert diese um sich; erst dadurch wird er der „gemeinsame[] Gott[]“, der Gott der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft. Gott, das ist bei Baader – forciert – der Name des „wahren Gemeingeistes“.55 Von hier aus ist nur mehr ein Schritt zu Brochs Konzept einer „göttlichen Ebenbildhaftigkeit“ der menschlichen Seele, einer Ebenbildhaftigkeit ohne Originalbild: einer „göttlichen Ebenbildhaftigkeit“ ohne Gott. Es ist eine Ebenbildhaftigkeit, in der das Göttliche keine gesonderte Existenz mehr besitzt, sondern nur mehr erscheint im unendlichen Abgleich der Einzelseelen.56 Der Schritt von Baader zu Broch wird noch kürzer, wenn man bedenkt, dass sich auch Baaders Theorie (Theologie) der Inwohnung in einer Theorie der Seele und des Bildes ausspricht. Die Seele ist für Baader nicht, wie für die „neuen Psychologen“, Eigenschaft oder Besitztum eines Individuums, sondern wesentlich Relation: Geöffnet-Sein gegenüber Gott. Diese Öffnung – Löwenthal verweilt auf äußerst instruktive Weise an diesem Punkt – realisiert sich in einer der Seele als einem „konkreten, religiösen Sachverhalt mitgegebene[n] Bildhaftigkeit“.57 Die Seele selbst ist Gegenstand und Ergebnis einer „inneren immateriellen und allverbreiteten Imagination“ Gottes.58 Als unsichtbares Abbild des Unsichtbaren zeigt sich die Seele

54 SW 6, S. 13 f. Löwenthal betont besonders diesen Aspekt: „So werden die durch die gemeinsame Liebe zu Gott Verbündeten auch untereinander liebend sich verhalten und dem Gesetz der Liebe gehorchen“ (Löwenthal, Baader, S. 134). 55 SW 6, S. 14. 56 Vgl. dazu Patrick Eiden, „Anstand und Abstand. Hermann Broch und die Frage der Demokratie“, in: Ulrich Kinzel (Hrsg.), An den Rändern der Moral. Studien zur literarischen Ethik. Ulrich Wergin gewidmet, Würzburg 2008, S. 133–149. 57 Löwenthal, Baader, S. 130. 58 In seinem Text „Ueber die Incompetenz unserer dermaligen Philosophie zur Erklärung der Erscheinungen aus dem Nachtgebiete der Natur“ expliziert Baader den „Begriff der Imagination“, so wie er ihn bei Paracelsus und besonders bei Jakob Böhme findet; SW 4, S. 303–324, hier S. 308 f. Eine „geistige und moralische Gewalt, die nur in der Imagination vorherrscht[]“, beschwört auch de Maistre (Joseph de Maistre, Vom Papst. Ausgewählte Texte, Berlin 2007, S. 156).  



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nur der anderen Seele, dem anderen Menschen im Verbund mit allen anderen Geschöpfen. Der Schüler, Herausgeber und unermüdliche Apostel Baaders, Franz Hoffmann, fasst zusammen: Das große Reich Gottes hat nun keinen andern Sinn, als die Geschöpfe des gesamten Universums in eine wahrhaft organische Innung zu bringen, weil nur in dieser lebendigen Gemeinschaft Gott Alles in Allem geworden ist, als der Eine und derselbe Lebensgeist, der sich in jedem Geschöpfe auf einzige Weise im Abbilde manifestiert. Daher denn Jedes aller Anderen bedarf, um die Totalität der Manifestation Gottes im Abbilde zu bewerkstelligen. Jedes Geschöpf ist unentbehrlich, denn jedes hat eine andere Gabe.59

III Das Reich der Liebe und die Zugkräfte der Demokratie Die Aussicht auf das Reich Gottes und die Einsicht darein, dass jede menschliche Gesellschaft in Gott wurzelt und auf Gott geöffnet ist, ohne doch ihre Regeln aus Gott ableiten zu können, diese Aus- und Einsichten dienen – auf je verschieden akzentuierte Weise – Baader wie Broch zur Kritik an aktuellen Formen (oder besser: Deformationen) des Politischen. Die Liebe als universelles Band zwischen Gott und den Menschen wie zwischen Mensch und Nebenmensch erlaubt es, den Staat (das politische Gemeinwesen) als freie Übereinkunft zu denken und zu erfahren: Die liebende Verbindung der Menschen untereinander und nach Oben und Unten ist eine Verbindung der „Zug“-Kräfte, wie Baader schreibt; eine Verbindung, in der es den einem zum anderen zieht in der Einsicht und im sicheren Gefühl, dass der eine ohne den anderen – und ohne den Anderen: ohne Gott – nichts ist. Dem „Zug“ stellt Baader den „Druck“ gegenüber: als Druck aber wird das Gemeinwesen gegenüber dem Einzelnen zur despotischen Macht, egal „ob diese Despotie monarchische, aristokratische oder demokratische Form annimmt“.60 Despotie oder Freiheit, das ist keine Frage der Staatsform, wie es die Tradition der politischen Philosophie seit Aristoteles annahm, sondern eine Frage der inneren Bindungskräfte, die in den verschiedenen Staatsformen zur Entfaltung kommen. Liebe oder „Nicht-Liebe“,61 das ist die Frage; Liebe führt zu

59 Franz Hoffman, Vorhalle zur speculativen Lehre Franz Baader’s, Aschaffenburg 1837, S. 98. Baader hat, so betont Löwenthal, Hoffmanns Buch „ausdrücklich und mehrmals als Wiedergabe seiner eigenen Absichten und Ansichten legitimiert“ (Löwenthal, Baader, S. 114 f.). Den Aspekt der Gabe als Instanz der Vermittlung betont Aidler, Demokratie, besonders im ersten Teil „Gesetz der Liebe, Gesetz der Gabe“, S. 45–121. 60 SW 6, S. 19. 61 SW 6, S. 15.  

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Freiheit, Nicht-Liebe oder Hass aber in das „Zwang-, Druck- und Nothverhältnis von Despotie und Sclaverei“.62 Durch die „Religion der Liebe und Freiheit“, wie Baader das Christentum bündig bezeichnet,63 können die sozialen Kohäsionskräfte im Staat gestärkt werden; Kräfte die den Staat erst mehr werden lassen als jene berühmt-berüchtigte „alles dirigierende, und alles regierende Gesetzesmaschine“, von der Friedrich Schlegel schreibt.64 Das muss auch Broch und sein Projekt einer Neu-Gründung der Demokratie interessieren. Nur wenn es in der Demokratie noch etwas anderes gibt als jene bloß weltlichen Zwangs-, Not- und Druckkräfte, die jeden Staat immer auch zusammenhalten; nur wenn es in der Demokratie auch Zug-Kräfte gibt, die die Menschen in freier Übereinkunft an ihr Gemeinwesen binden, nur dann kann die Demokratie es mit jenen despotisch-totalitären Systemen aufnehmen, die auf der Verschmelzung von irdischen und über- oder unterirdischen Mächten basieren. Den Totalitarismen unterwerfen sich die Menschen, so Broch, in einer Art Überidentifikation mit ihrer eigenen Furcht; der Demokratie sollten die Menschen – um eine schöne Formulierung Baaders zu entwenden – „con amore dienen“.65 Die historisch-logischen Voraussetzungen für den modernen Totalitarismus sind, so Broch, durch die Französische Revolution in die Welt gebracht worden. Während Broch noch gewillt scheint, die Französische Revolution „dialektisch“ zu betrachten – einerseits hat sie ein neues, geschlossenes Wahnsystem geschaffen, andererseits aber auch Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung und Selbstbesinnung eröffnet66 – liegt die Sache für Baader eindeutig: Wir haben es im (post-) revolutionären Frankreich mit einer Regierung zu tun, die, „von allem sacre sich lossagend“, die Menschen in den Staub wirft; dass sie dort dann zertreten werden, darf nicht weiter wunder nehmen. Die Analyse und Beschreibung dieses Zustands aber könnte auch von Broch stammen, wenn dieser die „panikisierten Massen“ (vgl. z.B. KW 12, S. 309) seiner Gegenwart beschreibt, die nur darauf warten, von einem „dämonische[n] Demagogen“ geführt zu werden (KW 12, 300 f.). Dazu Baader: „[I]ndem sich diese Regierung somit völlig säcularisiert und von aller verticalen Anknüpfung los gemacht hat, hat sie sich auch ganz der Haltlosigkeit und Beweglichkeit des Staubes in der Horizontalfläche preisgegeben“.67 Die liberalen  

62 SW 6, S. 18. 63 SW 6, S. 26. 64 Schlegel, Signatur, S. 546. 65 SW 5, 292. 66 Vgl. die Ausführungen zur „Farce“ einer „Götzin der Vernunft“ in der Französischen Revolution, KW 12, S. 367 und S. 519. 67 Baader, „Ueber die dermalige Stellung der Religion zur Regierung in Frankreich“, SW 5, S. 317 f., hier S. 317.  

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Kräfte, die alles Stehende und Beständige, vor allem die Ständeverfassung, ablehnen, bewirken – ob sie wollen oder nicht – eine „Auflösung“ des Sozialen „in unorganische Massen“68 und schaffen so wiederum die Voraussetzung für einen neuen Despotismus. Die geheime Identität von Liberalismus und Despotismus ist somit erneut erwiesen.

IV Die Einrichtung des Reichs Mit Brochs entschlossener Demokratisierung des Reichsbegriffs wird eine latente Widersprüchlichkeit in den Konzepten der Politischen Romantiker deutlich: Gerade dadurch, dass Broch die Demokratie in – so steht zu vermuten: notwendig, jedenfalls nicht ohne weiteres zu ersetzenden – religiös-theologischen Begriffen umschreibt: „unsichtbares Gottesreich“, „göttliche Ebenbildhaftigkeit“, gerade dadurch wird klar, dass sich die romantischen Konzepte von irdischer Statthalterschaft und durchgestufter politisch-hierarchischer Repräsentation in einer demokratischen Ordnung nicht werden halten lassen. Durch Brochs politischtheologische Umschrift des Demokratieproblems wird die Unverträglichkeit des romantisch-egalitären Universalismus – wie er sich etwa in Schlegels Furor gegen die Persistenz des Sklavenhandels in seiner Zeit äußert69 – und der romantischen Institutionenlehre unübersehbar. Umgekehrt aber kommt es durch Brochs Abkehr von hierarchischer Vermittlung, durch seine Gegnerschaft gegen Papst und Kaiser sowie seine Betonung der Gottesunmittelbarkeit jeder menschlichen Einzelseele zu einer institutionellen Entkernung des Reichsbegriffs. Broch nimmt dem politisch-religiösen Konzept des Reichs wesentliche Elemente dessen, was dieses – und sei’s auch widersprüchlich – ausmacht: eben seine institutionelle Kontur, die auf der Dichotomie von Kaiser und Papst, von weltlicher und geistlicher Macht beruht. „Freiheit“ im emphatischen Sinn, den etwa Baader dem Wort gibt, kann es nur in jenem Raum geben, der sich durch eine Spaltung der Macht eröffnet, eine Spaltung zwischen weltlicher und überweltlicher Sphäre; und Freiheit kann sich nur dort halten, wo diese Spaltung institutionell gesichert und auf Dauer gestellt ist. Indem Broch all das kippt, werden seine Ausführungen zum Reich im „Tod des Vergil“ gerade in ihrer konkret-politischen Dimension tendenziell unverständlich. Dass das Reich überhaupt als ein genuin politischer – wenn auch nicht rein säkular-politischer – Begriff gelesen werden muss, gerät, wie die Rezeptions-

68 SW 5, S. 291. 69 Vgl. Schlegel, Signatur, S. 569 f.  

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geschichte des Romans zeigt, nur allzu leicht aus dem Blick. Indem sich Broch vor allem in seinem essayistischen Werk immer wieder von der Romantik distanziert, verliert er mit der Politischen Romantik auch den Resonanzraum, in dem die – altmodisch gesprochen – politische Botschaft des Romans überhaupt noch auf einen Empfänger hätte rechnen (oder auch nur hoffen) können. Für das politische Denken nach der Politischen Romantik hat der Begriff des Reichs jeden ernsthaften Sinn verloren; er wird stattdessen zu einer Projektionsfläche meist offen rückwärtsgewandter Fantasien, die sich zudem in ihren Wertnahmen immer weniger genuin politisch, dafür umso stärker und entschlossener rein ästhetisch ausweisen.70 Wenn nun das Reich nicht mehr als institutionelles Gefüge, das zwischen dieser und der anderen Welt vermittelt, gedacht werden kann und soll – und so muss Brochs Wendung gegen jede „Hierarchie“ in der Demokratie wohl verstanden werden –, dann müssen alternative Denkmöglichkeiten für das Zusammenspiel von Staat und Reich aufgezeigt werden. Auch hier aber kann vielleicht wieder Baader – und sein Leser Löwenthal – assistieren. Nach Baader liegt die wesentliche Differenz zwischen der weltlichen und der überweltlichen Sphäre in der Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit begründet, und es ist der Hauptfehler der modernen, akatholischen Philosophie, beides systematisch miteinander zu vermengen. Die Ewigkeit kann nicht aus der Zeit verstanden werden, die Zeit aber ist umgekehrt aus der Ewigkeit ableitbar, denn die Zeit ist aus der Ewigkeit herausgefallen; sie ist eine „Versetztheit“ der Ewigkeit.71 Man darf Zeit und Ewigkeit nicht „vermengen“, aber es wäre auch gottlos, sie ganz zu trennen. Der Modus der Zeitlichkeit aber, in der eine nicht-vermengende Zusammenschau beider Sphären möglich ist, ist das „Hier und Jetzt“: Jedes bestimmte Jetzt und Hier wird nämlich nur in dem Immer und Überall als begriffen geschaut, und man kann darum die Zeit (Dauer) als eine Suspension der Ewigkeit (des Immer) betrachten und sagen, dass sich erste zur letzteren verhält wie Teile zum Ganzen, in welche diese letztere teilbar, eben darum aber actu (solange das Ganze nicht aufgehoben) nicht schon geteilt ist.72

70 Hier wäre, neben dem ästhetisch-politischen Vergilismus der Zwischenkriegszeit (vgl. dazu Eiden-Offe, Reich der Demokratie, S. 104–122), vor allem an die Ästhetiken des Reichs im Umfeld Georges und der Konservativen Revolution zu denken; vgl. dazu die Beiträge in Uwe Hebekus/ Ingo Stöckmann (Hrsg.), Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933, München/Paderborn 2008. 71 Baader, „Elementarbegriffe über die Zeit als Einleitung zur Philosophie der Societät und der Geschichte“, SW 14, S. 29–54, hier S. 34. 72 Ebd.

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Ohne den Anspruch zu erheben, dies alles zu verstehen und in Broch übersetzen zu können, wird man doch sicher eine Übereinstimmung in der Privilegierung des hic et nunc ausmachen können.73 Auch für Broch zeigt sich – oder besser: ereignet sich – das genuin ethische Moment der Demokratie im je konkreten Aufeinandertreffen mit dem immer unvertretbaren Anderen, im Moment der Begegnung und der Hilfeleistung. Wenn es bei Baader und Broch heißt, dass das Reich in die Welt kommt, dann kommt es nicht in einem kontinuierlichen Prozess, um dann irgendwann ganz da zu sein, sondern es kommt in solchen diskontinuierlichen Momenten des Hier und Jetzt, in Begegnungen, die nicht verrechenbar sind mit gegebenen politischen Ordnungen. Keine Ordnung kann solche Begegnungen erzwingen, aber politische Ordnungen lassen sich danach bewerten, ob sie Begegnungen ermöglichen oder verhindern. Die Demokratie ist (genau dann) eine gute Ordnung, wenn sie die Menschen offen für die Begegnung mit dem Anderen hält. In der politisch aufgeheizten Atmosphäre der 1920er bis 40er Jahre haben sowohl Broch wie der Baader-Interpret Löwenthal großen Wert darauf gelegt, dass es nur allzu oft auch gerade die menschheitserlösenden Utopien sein können, die authentisch menschliche Begegnungen verhindern. Die „religiöse Wahrheit“, die für eine gute politische Ordnung unerlässlich ist, gilt immer „hic et nunc, das heißt ewig und überall, raum- und zeitfrei“, so paraphrasiert Löwenthal Baader. Jede „Geschichtsphilosophie der ‚Übergangszeit‘ aber, des ‚ErstDann‘, etwa die des Bolschewismus, die eine Gemeinschaft freier […] Existenzen erst nach und durch eine radikale Vernichtung der alten Welt, der bürgerlichen Gesellschaft sich denken kann“, so führt Löwenthal – nun deutlich über Baader hinausgehend – weiter aus, jede solcherart gebaute Geschichtsphilosophie ist unvereinbar mit dem Wahrheits- und dem ethischen Anspruch einer Theorie, die auf die Möglichkeit menschlicher Begegnung setzt.74 Hier stimmt Broch ein, wenn er etwa dem Marxismus vorwirft, immer nur mit der „hundertprozentigen Verwirklichung“ der Humanität in der Zukunft zu rechnen, nicht aber mit der Möglichkeit und Notwendigkeit, dass „in jedem Weltaugenblick das Menschenleid auf ein Minimum reduziert“ werden sollte (KW 11, 378). Das Hier und Jetzt der Begegnung, das ethische Moment der freien Übereinstimmung aus „Zug“, nicht aus „Druck“, ist in der Sprache Baaders Ausdruck der Liebe. Dies wiederum zeigt sich auch im Gespräch zwischen Vergil und Augustus, und zwar just im Moment der Lösung des Konflikts. Nachdem Vergil Augustus

73 Zur Wichtigkeit des hic et nunc in Brochs politischer Theorie vgl. Patrick Eiden-Offe, „Übertragender Anfang im Hier und Jetzt. Zu Hermann Brochs Reich der Demokratie“, in: Tobias Döring/Barbara Vinken/Günter Zöllner (Hrsg.), Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800, München/Paderborn 2010, S. 255–276. 74 Löwenthal, Baader, S. 127 f.  

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schließlich die „Aeneis“ angeboten hat („Octavian, nimm das Gedicht!“ KW 4, 368), aber noch bevor Augustus die Gabe annimmt, heißt es: Oh, selbst die kleinste stürzende Sekunde, die aus einer Menschenseele sich löst, um in den Zeitenabgrund zu verschwinden, ist größer in ihrer Unerfaßlichkeit als jegliches Werk, und aus des Cäsars Seele löste sich nun eine solche Sekunde, eine Sekunde der Freundschaft, eine Sekunde der Zuneigung, eine Sekunde der Liebe, deutlich spürbar, obwohl er bloß sagte: „Wir wollen es uns überlegen.“ (KW 4, 368)

Die Liebe führt nicht zu einer Verschmelzung, sondern bleibt als „Sekunde“ gezeichnet von der Teilbarkeit, die auch Baader betont. Die Liebe ist immer eine geteilte, zwischen zweien, die da sind und sich lieben; aber sie ist auch immer weiter teilbar. Sie ist „grenzenlos“, wie das Reich, dessen Ankunft Vergil verkündet, und in ihrer Teilbarkeit verbreitet sie sich über die ganze Welt: nur in ihr, mit ihr und durch sie kommt das Reich in die Welt.

Doren Wohlleben, Augsburg/Erlangen

Metaphysischer Humor zwischen Romantik und Moderne in Hermann Brochs „Die Schuldlosen“ Der „metaphysische Humor“ (KW 5, 322)1 sei das Gütesiegel schlechthin des letzten vollendeten literarischen Werks Hermann Brochs, des „Romans in elf Erzählungen“ „Die Schuldlosen“. Wenigstens darin stimmten der sich im Princetoner Exil befindende Autor, dessen Freund und langjähriger Züricher Verleger Daniel Brody sowie der Münchener Verleger Willi Weismann ausnahmsweise einmal überein. Mit jenem Humor wurden „Die Schuldlosen“, die zunächst von Weismann als bloße Novellensammlung konzipiert, dann aber von Broch zu einem ambitionierten Romanprojekt ausgearbeitet wurden, im Herbst 1950 bereits im Klappentext beworben. Obwohl der am amerikanischen Vorbild geschulte, innovative Werbetext zunächst von Broch selbst aufgesetzt, dann von Weismann mehrfach überarbeitet und von Brody verknappt worden ist, bildet der Verweis auf den „metaphysischen Humor“ in allen Fassungen den Höhe- und Schlusspunkt.2 Auch der Verleger des Romans, Willi Weismann, so lässt sich einem Brief vom 23. Oktober 1950 der bis heute unpublizierten Korrespondenz entnehmen, insistiert Broch gegenüber auf dem „ironischen Humor“,3 welcher unbedingt schon auf dem Einband Erwähnung finden müsse. Und sogar den rigorosen Streichungen Daniel Brodys, der den zweiseitigen Klappentext Brochs auf eine halbe Seite reduzierte, hielt der Humorhinweis stand. So lautet der Schlusssatz des Schutzumschlags der Erstausgabe: wenn irgendwo von humordurchtränktem Ernst gesprochen werden darf, so sicherlich hier; manchmal bis zu ausgesprochener Komik gesteigert, laufen die Ereignisse vor dem Hinter-

1 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat. 2 Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Christina Bylow, „Hermann Broch und der Verleger Willi Weismann. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Romans ‚Die Schuldlosen‘ (1946–1951)“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 38/1992, S. 191–255 sowie Jochen Meyer, „Hermann Broch ,… das ganze Buch ist ein Seiltänzerkunststück‘. Aus der Entstehungs- und Verlagsgeschichte der ‚Schuldlosen‘“, in: Marbacher Magazin, 33/ 1985, S. 3–25. 3 Kathrin Kuna, Der Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Willi Weismann (1946–1951). Diplomarbeit, Wien 2008, http://othes.univie.ac.at/2752/ (Stand: 1.11.2010), S. 178.

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Doren Wohlleben

grund eines geradezu metaphysischen Humors ab, und eben das macht den beglückenden Optimismus dieses Romans aus. (KW 5, 322)

I Brochs Epochen durchtönender „vielstimmige[r] Gelächterchor“ Doch die Rezeptionsgeschichte des von Anfang an stark kritisierten Romans ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Sie hob auf vielerlei ab – so z.B. auf die Schuldfrage, auf die lyrischen Stimmen sowie auf die komplexe Entstehungsgeschichte des Romans4 –, aber nicht auf den Humor, schon gar nicht auf dessen angeblich „beglückenden Optimismus“. Allenfalls war in meist disqualifizierendem Ton von einem unvereinten Nebeneinander von Satire und Pathos in den eingefügten Gedichten die Rede.5 Bis heute findet die Komik im Romanwerk Brochs – im Gegensatz beispielsweise zur jüngeren Kafka-Forschung, in die das akademische Lachen in den letzten Jahre Einzug gehalten hat6 – fast keine Beachtung. Dem Dramatiker Broch billigt man Komik durchaus zu,7 und beim Briefeschreiber findet man einen oft als ‚jüdisch‘ näher bestimmten Humor allenthalben,8 man denke nur an die Korrespondenzen mit Daniel Brody, die Broch mit zahlreichen Anspielungen auf jüdische Witze durchsetzt. Aber was macht es uns heute so schwer, in den Romanen den von Zeitgenossen als allgegenwärtig empfundenen humordurchtränkten Ernst spontan wahrzunehmen oder gar literaturhistorisch zu verorten? Ein Grund könnte sein, dass

4 Zum Forschungsstand vgl. den Artikel von Doren Wohlleben, „Die Schuldlosen“, in: Michael Kessler/Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Broch-Handbuch, Berlin/New York 2014 (Druck in Vorbereitung). 5 Manfred Durzak, „Zwischen Satire und Pathos. Die Möglichkeiten des Erzählers Hermann Broch in den ‚Schuldlosen‘“, in: Joseph Strelka (Hrsg.), Broch heute, Bern/München 1978, S. 133–154. 6 Vgl. hierzu: Michel Dentan, Der Humor im Werk Franz Kafkas, übersetzt von Hans H. Hiebel. Titel der frz. Originalausgabe: Humour et création littéraire dans l’oeuvre de Kafka (1961), Münster 2012. Christine Lubkoll, „Das Lachen in der Literatur. Begegnungen mit einem Kulturthema im Deutschunterricht am Beispiel von Franz Kafka“, in: Didaktik Deutsch, 5/1998, S. 18–35 sowie Astrid Dehe/Achim Engstler, Kafkas komische Seiten, Göttingen 2011 mit den dortigen Literaturangaben (S. 10, Fußnote 6) sowie Ralf Halfmann, Nach der Ironie. David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität, Bielefeld 2012. 7 Z.B. Paul Michael Lützeler, „‚Aus der Luft gegriffen‘. Komödie der Weltwirtschaftskrise“, in: Ders., Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrechte, Biografie, München 2011, S. 85–99. 8 Vgl. hierzu: Sigurd Paul Scheichl, „‚Nebbich noch immer Princeton Hospital‘. Jüdische Selbststilisierung in Brochs Briefen an Daniel Brody“, in: Michael Kessler (Hrsg.), Hermann Broch. Neue Studien. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 60. Geburtstag, Tübingen 2003, S. 363–378.

Metaphysischer Humor

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sich der Brochsche Humor in den „Schuldlosen“ – anders als bei Kafka, der mit dem absurden Lachen und dem Spiel mit Paradoxien zielsicher in der Moderne gelandet ist – auf einer prekären Gratwanderung zwischen Romantik und Moderne bewegt: Broch inszeniert einen „vielstimmigen Gelächterchor“ (KW 5, 163), in dem humoristische Stimmen aus unterschiedlichen Epochen – mitunter dissonant – zusammentönen. Zuvor noch ein kurzer Verweis auf die in der Sekundärliteratur vereinzelt erarbeiteten Humor-Traditionen in Brochs Romanen: Das nihilistische Lachen ist bereits in den Sechzigern sowohl in Brochs Trilogie „Die Schlafwandler“ als auch in seinem Roman „Der Tod des Vergil“ als Dreh- und Angelpunkt ausgemacht worden.9 Ihm kommt einerseits, hierin an Friedrich Nietzsche erinnernd, eine wertzerstörende, andererseits eine (selbst-)erkenntnisgewinnende Bedeutung zu.10 Der Bruch mit alten – im Brochschen Jargon ‚romantischen‘ – Wertmustern zeigt sich in der Aufhebung jedweder semantischen Dichotomien, in einer „urplötzlichen Vermischung aller Sphären“, in einem „spaßigen Zusammenbruch der Ordnungen“ (KW 4, 121 f.). Eine Aufhebung und Verstellung der Wirklichkeit ist die Folge: So ist im „Tod des Vergil“ von einem „wirklichkeitsvernichtende[n] Gelächter“ die Rede, das den „Bestand der Welt überhaupt“ in Frage stellt (KW 4, 124). Dieses Gelächter wurde in den Neunzigern11 mit dem „karnevalistischen Weltempfinden“ Michail Bachtins in Verbindung gebracht, als dessen Kern „das Pathos des Wechsels und der Veränderungen, des Todes und der Erneuerung“ betrachtet wird, wobei der Karneval als „ein Fest der alles vernichtenden und alles erneuernden Zeit“ gilt.12 Zu Beginn seines Vergil-Romans inszeniert Broch im Abstieg Vergils in die Elendsgasse und der Szene mit den drei Trunkenbolden eine „Volkskultur“, die Bachtin in seinem Karnevalskonzept noch mit spätromantischen Vorstellungen revolutionärer Hoffnungen verknüpfte. Letztere teilt Broch wohl kaum mehr. Doch holt er über die Satire, deren großes Vorbild für ihn Karl Kraus ist, das Politische zurück, das in der jüngeren Forschung auch im Kontext einer literarischen Ethik verhandelt wird.13 Neuerdings findet mit Blick auf die  

9 Vgl. hierzu: Dorrit Cohn, „Laughter at the Nadir: On a Theme in Hermann Broch’s Novels“, in: Monatshefte, 61.2/1969, S. 113–121. 10 Vgl. hierzu: Walter Hinderer, Die „Todeserkenntnis“ in Hermann Brochs ‚Tod des Vergil‘, München 1961, S. 101. 11 Jürgen Heizmann, Antike und Moderne in Hermann Brochs ‚Tod des Vergil‘. Über Dichtung und Wissenschaft, Utopie und Ideologie, Tübingen 1997, besonders S. 49–53. 12 Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostojewskis, übersetzt von Adelheid Schramm, Frankfurt am Main 1985, S. 139. Vgl. hierzu auch: Heizmann, Antike und Moderne in Hermann Brochs ‚Tod des Vergil‘, S. 47–57. 13 Vgl. hierzu: Mathias Mayer, Der erste Weltkrieg und die literarische Ethik, München 2010, besonders S. 129–152.

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„Schlafwandler“-Trilogie auch die Ironie Beachtung, und zwar sowohl die Ironie im Text als auch die Ironie des Textes:14 Während der Erzähler im „Pasenow“Roman grundsätzlich noch die fiktive Erzählhaltung eines romantischen Erzählers einnimmt, dominiert im zweiten und dritten Roman zunehmend die Erzählhaltung eines modernen Erzählers, der romantische Klischees entlarvt und Leseerwartungen enttäuscht. Vereinzelt macht sich letzterer schon im ersten Buch, „1888 Pasenow oder die Romantik“, bemerkbar. Dessen Titel spielt bereits mit der Ironie, da im Wilhelminismus, auf den die Jahreszahl verweist, die Romantik als unzeitgemäß erscheinen muss.15 Besonders bei den Gesichtsbeschreibungen, bei denen die Wert- und Kulturkrise am offensichtlichsten zutage tritt, lässt ein ironischer Erzähler die zunächst idyllisch anmutenden Naturschilderungen ins Satirische kippen.16 Romantik und moderne Sachlichkeit treffen punktuell unvermittelt aufeinander, sind insgesamt aber in diesem frühen Roman, anders als in den „Schuldlosen“, durch die Buchteilung noch klar separiert. Die humorvollen Passagen und ironischen Erzählerkommentare nehmen im Laufe der „Schlafwandler“-Trilogie ab. Das Lachen wird – ganz in der christlichen Tradition, in der es seit jeher als unheilig gilt – in der negativen Christus-Figur Gödicke überwiegend als nihilistisches Symbol und Symptom einer Wertkrise gelesen.17 Dagegen gewinnt es in Brochs letztem Roman „Die Schuldlosen“ (1950), der oft mit seinem Altersstil und seinem Bedürfnis nach einem neuen Mythos assoziiert wird, eine metaphysische Bedeutung. Letztere konstituiert sich teils in (impliziter) Anlehnung an die, teils in (expliziter) Abgrenzung zu der Romantik.

II „Metaphysischer Humor“ (H. Broch) und „transzendentale Buffonerie“ (F. Schlegel) Im Folgenden sollen Strukturanalogien und -differenzen zwischen Brochs unreflektiert gebliebenem Konzept des „metaphysischen Humors“ (KW 5, 322) sowie

14 Elizabeth Guihamon, „Pasenows Ironie in Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie“, in: Graham Bartram/Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Hermann Brochs „Schlafwandler“-Trilogie. Neue Interpretationen. Das Lancaster-Symposium von 2009, Tübingen 2012, S. 141–156, hier S. 153. 15 Vgl. ebd., S. 141. 16 Vgl. hierzu: Doren Wohlleben, „‚Verlöschen der Gesichter in der Landschaft‘. Porträts in Hermann Brochs ‚Die Schlafwandler‘“, in: Alice Stašková/Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch und die Künste, Berlin/New York 2009, S. 39–54. 17 Vgl. hierzu: Cohn, „Laughter at the Nadir: On a Theme in Hermann Broch’s Novels“, S. 113– 121.

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der „transzendentalen Buffonerie“ gewagt werden, wie sie Friedrich Schlegel im 42. „Lyceum“-Fragment reklamiert: Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.18

Die Ironie wird bei Friedrich Schlegel als eine Form des Paradoxen betrachtet, die „transzendentale Buffonerie“ als eine Methode, durch das scheinbar Gegensätzliche einen komischen Effekt zu erzielen, welcher der Erkenntnis dient. Auch bei Hermann Broch erhält der „metaphysische Humor“ (KW 5, 322) eine heuristische, wenn nicht gar eschatologische Funktion, wird Lachen und Läutern amalgamiert. Und dennoch wird dieser immer wieder konterkariert durch andere Humor-Traditionen, die jeglichen Schlegelschen Glauben desavouieren, sich dem Unendlichen mittels Ironie, einem Schweben zwischen Idealem und Realem, nähern zu können. Stattdessen hält Broch an der Unaufhebbarkeit zwischen menschlichendlicher und transzendental-unendlicher Sphäre fest. Er ist hierin eher Jean Paul in seiner „Vorschule der Ästhetik“ vergleichbar, der die „vernichtende“ „Idee des Humors“ mit der „unendliche[n]“ zusammendenkt: Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschaut: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist. Daher so wie die griechische Dichtkunst heiter machte im Gegensatze der modernen: so macht der Humor zum Teil ernst im Gegensatze des alten Scherzes; er geht auf dem niedrigen Sokkus, aber oft mit der tragischen Maske, wenigstens in der Hand.19

Denn auch die komödiantischsten Figuren Brochs halten ihre „tragischen Masken“ stets in der Hand. Ihre satirische Überzeichnung dient nie der bloßen Belustigung, sondern verweist immer auf die Sinnkrise, auf die – metaphorisch gesprochen – Gesichtslosigkeit ihrer Zeit. Doch diese Krise wird nicht, wie in den essayistischen Einlagen „Zerfall der Werte“ im dritten Buch der „Schlafwandler“, theoretisch angeprangert, sondern stilistisch und dramatisch in Szene gesetzt.

18 Friedrich Schlegel, „Lyceum“. Kritische Fragmente [42], in: KA II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Hans Eichner (Hrsg.), München/Paderborn/Wien 1967, S. 152. 19 Jean Paul, „Vorschule der Ästhetik“ (§ 33: Die vernichtende oder unendliche Idee des Humors), in: Jean Pauls Werke, Bd. 5, Norbert Miller (Hrsg.), München 31973, S. 129–132, hier S. 129.

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Broch inszeniert radikale Stil-Brüche. Der Broch-Stil in seinem letzten Roman ist, so der unschöne Kalauer, der bewusste Stil-Bruch, der eine eigene Komik erzeugt. Er erinnert stark an die poetischen Verfahrensweisen von Karl Kraus,20 auf den Broch bei seinen theoretischen Erörterungen zur Satire immer wieder rekurriert. Denn „die satirische Struktur“, dies legt Broch in seinem Hofmannsthal-Essay dar, „ist ihrem innersten Wesen nach immer Polemik und (in einem weitesten Sinn) immer Politik“ (KW 9/1, 116). Die ‚Absolut-Satire‘, die – anders als bei Friedrich Schiller – dem Mangel in der Realität kein Ideal mehr entgegen zu stellen weiß, gilt Broch als „die ethische Kunst kat’exochen“ (KW 9/1, 270), da sie stets gegen das Böse gerichtet sei. Nur im Satirischen, der „Zentralkunst des 20. Jhds.“ (KW 9/1, 271), findet bei Hermann Broch der gute alte italienische Buffo noch seinen Platz. Seine satirischen Figurenzeichnungen sind oftmals mit komödiantischen Requisiten ausgestattet, sei es der an die Slapstick-Komik eines Charlie Chaplin-Films erinnernde Spazierstock des alten Pasenow in den „Schlafwandlern“21 oder der von Zacharias in zwei Teile, in Hutkappe und Hutkrempe, zerschnittene und mit Andreas brüderlich geteilte Hut in den „Schuldlosen“, dessen Krempe Andreas andauernd über die Nase rutscht, bis er sie resigniert als Kragen trägt: Der junge Mann war aufrichtig bekümmert; immer wieder versuchte er, die Krempe zu fixieren; immer wieder rutschte sie ihm herunter, fiel über die Nase bis zum Hals, und endlich resignierte er: „Ich trage sie als Kragen; das macht sich auch ganz gut.“ Das gefiel dem Zacharias: „Wenn du grüßen willst, schlüpfst du sie dir über den Kopf. Fein, was?“ Hie und da blickte ein Passant flüchtig belustigt auf das sonderbar adjustierte Paar, doch zumeist liefen die wenigen, die sich noch auf der Straße befanden, achtlos vorbei. (KW 5, 162)

Karikaturistisch überzeichnet und stereotypisiert erinnern Brochs Protagonisten an die buffoneske Volkskomödie, an die, nochmals mit Schlegel, „mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo“. Ihre Komik unterhält und verletzt, was intradiegetisch thematisiert wird: Das Lachen, das schon im „Tod des Vergil“ als „Hohnlachen“ konkretisiert wurde (KW 4, 105), wird in der Andreas-Zacharias-Szene der „Schuldlosen“ zum „Gespött des Pöbels“, „zu einem vielstimmigen Gelächterchor, der unter Schenkelschlagen und Bauchhalten zu maßlosem Gegröhle anschwoll“ und in der „Menschenseele“ des verlachten 20 Vgl. zum Stilbruch als Stilmittel der Satire: Sigurd Paul Scheichl, „Der Stilbruch als Stilmittel bei Karl Kraus“, in: Sigurd Paul Scheichl/Edward Timms (Hrsg.), Karl Kraus in neuer Sicht. Londoner Kraus-Symposium, München 1968, S. 128–142. 21 Vgl. hierzu: Wohlleben, „‚Verlöschen der Gesichter in der Landschaft‘. Porträts in Hermann Brochs ‚Die Schlafwandler‘“, besonders S. 40–43.

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Zacharias „seinen Stachel zurück[lässt]“ (KW 5, 163). Der Schulmeister empört sich daraufhin über die „Läppischkeit“ der Spötter und fordert die romantische Unendlichkeitssehnsucht ein: „Wo aber bleibt das Unendliche, dem sie als Deutsche verpflichtet wären?“ (KW 5, 164). Ausgerechnet Zacharias, der im zweiten Kapitel „Methodisch konstruiert“ als „ein aus Mittelmäßigkeit konstruierter Charakter“ eingeführt worden ist, übt Kritik am deutschen Humor. Dabei wurde er von Anfang an von einem ironisierenden Erzähler kommentiert: Zacharias entbehrt nämlich völlig der „humoristischen Einstellung“, die Sigmund Freud als die Gabe des Über-Ich bestimmt, „im Humor so liebevoll tröstlich zum eingeschüchterten Ich“22 zu sprechen. Denn Zacharias macht „sich über die Fiktivität der Dinge und Erkenntnisse wenig Gedanken“ (KW 5, 33). Nachdem er sich betrunken von seiner Frau unter Anwesenheit seines neuen Bekannten A. mit einem Staubwedel hat verschlagen lassen (und auch hier schwingt die Tradition der Volkskomödie mit), heißt es aus der personalen Erzählperspektive des Andreas, die mit derjenigen des Autors deckungsgleich zu sein scheint: Vernünftiger und bedächtiger als anderswo geht es in Deutschland zu, trotzdem triebverfallener und gieriger und höllischer als anderswo. Weniger scheinheilig als anderswo geht es in Deutschland zu, trotzdem verlogener. Denn es ist, als sei dem Deutschen eine seltsame Sucht nach dem Unbedingten eingeboren, so daß er jene glücklich-humorvolle Bändigung der Triebe verschmähen muß, die dem westlichen Menschen, obwohl dieser vielfach der triebstärkere ist, als anstrebenswerte Lebensgestaltung vorschwebt; dem Deutschen fällt der Humor schwer, und wenn er ihn hat, so ist es ein anderer, ein schrulliger Schlag von Humor, eben der des bedächtigen Entweder-Oder, das die deutsche Lebensart auszeichnet und deren Plumpheit ausmacht, einerseits zur vollkommenen Askese, andererseits zur äußersten Triebentfesselung spornend: Zwischenlösungen sind dem Deutschen verächtlich […]. (KW 5, 171)

Doch wie unterscheidet sich dieser „schrullige Schlag von Humor“ (KW 5, 171) der Deutschen von jenem im Klappentext gerühmten „metaphysischen Humor“ (KW 5, 322)? Eine indirekte Antwort verbirgt sich möglicherweise in der Auftaktparabel. Sie fügte Broch ganz zum Schluss, quasi zeitgleich mit dem Klappentext, als die Metastimme der eingegliederten lyrischen Stimmen noch hinzu: Das Paradoxon wird hier mit dem Humor zusammengebracht. Ein ostjüdischer Rabbi philosophiert mit seinen Schülern über das Problem der Zeit, die er als ein Zugleich von „Schweigen und Stimme“ (KW 5, 11) definiert. Der Dialog ist dem Sprach- und Argumentationsduktus der chassidischen Geschichten Martin Bubers nachemp-

22 Sigmund Freud, „Der Humor“, in: Studienausgabe, Bd. 4: Psychologische Schriften, Frankfurt am Main 71989, S. 275–282, hier S. 282.

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funden, die Hermann Broch, der in seinen jungen Jahren die Kabbala studierte, kannte.23 Der Stil ähnelt der im Talmudstudium etablierten intellektuellen Methode des pilpul, einer Form dialektischer Argumentation, bei der sich Lehrer und Schüler in einer Interaktion ständigen Fragens und Antwortens begegnen.24 Er lässt sich auch im jüdischen Witz beobachten, den Broch in seinen späten Privatkorrespondenzen, in denen er die Kunst jüdischer Selbststilisierung pflegt, so gut beherrscht.25 Anders als bei Buber bricht bei Broch der Rabbi immer wieder in Lachen aus, was die Schüler zunächst entsetzt, dann erleichtert. Und dieses Lachen macht der Rabbi selbst zum Thema und begründet es als ein göttliches Lachen, das er der karnevalesken Narren-Komik der „Possenreißer“ und „Jahrmarktzauberer“ diametral gegenüberstellt: „So haltet Ihr den Herrn, dessen Namen geheiligt ist, für einen Possenreißer vor seinen Engeln? für einen Jahrmarktzauberer, der mit den Stäbchen klopft und seine Kunststücke ankündigt? Fast ist es mir, als hätte er Narren wie euch geschaffen, um über sie lachen zu können, wie ich es jetzt tue, denn wahrlich, Sein Ernst ist Lachen, und Sein Lachen ist Ernst.“ (KW 5, 10)

Dieses Ineinandergreifen von Ernst und Lachen, von Anfang und Ende, ist allen Humorkonzeptionen Brochs, seien es die romantischen, die romantik-kritischen, die modernen oder die jüdischen, gemeinsam. Besonders markant wird es, wenn Broch seinen metaphysischen Humor mit einer Erzähllogik des Endes verschränkt, die zwischen postmodernen Auflösungsprozessen und vormodernen Erlösungsutopien changiert. Anhand dreier Szenen soll dies im Folgenden exemplifiziert werden: Bei zweien wird Irdisches in Überirdisches überhöht, nämlich erstens bei der Einführungsszene des Protagonisten Andreas in einer Pariser Kneipe im Anfangsteil sowie zweitens bei seinem Aufstieg in die Waschküche zu seiner späteren Geliebten Melitta, der märchenhaften Adoptivtochter des Imkers, die sich seinetwegen das Leben nimmt. Bei der dritten Szene, dem Selbstmord des Andreas nach seinem mäeutischen Dialog mit dem Imker im Schlussteil, wird Überirdisches ins Irdische zurückgebrochen.

23 Vgl. Scheichl, „‚Nebbich noch immer Princeton Hospital‘. Jüdische Selbststilisierung in Brochs Briefen an Daniel Brody“, hier S. 366. 24 Vgl. hierzu: Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998, S. 110. 25 Scheichl, „‚Nebbich noch immer Princeton Hospital‘. Jüdische Selbststilisierung in Brochs Briefen an Daniel Brody“, besonders S. 374–376.

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III Szene 1: Moderne Verzweiflung statt romantischer Unendlichkeit. Liebestod und Kitschromantik Der Protagonist Andreas, dessen kranke Mutter kürzlich verstorben ist, wird erstmals als Anfang Zwanzigjähriger in einem Pariser Café eingeführt: „vielleicht schon ein wenig angetrunken“ (KW 5, 20). Er überhört dort das Gespräch zweier Liebenden: Sie bittet ihn um Geld, beide sind in Sorge, dass ein nicht näher identifizierter Mann – ihr Gatte, ein Nebenbuhler, ihr Vater? – sie dort antrifft. Der wohlhabende Single Andreas, ein Diamantenhändler, bislang noch namenslos und immer nur als „junger Mann“ beschrieben, phantasiert sich nach und nach in deren Dialog hinein: Er halluziniert sich als Wohltäter, der sein „schönes Drecksgeld“ (KW 5, 23) der jungen Frau vermacht, durch „Selbstmord“ aus dem Leben scheidet, ihr damit zum Vorbild dient und ihren jungen Lover hierdurch zum alleinigen Erben macht. Deren Furcht vor der Ankunft eines Mannes teilt er, überhöht sie aber ins Metaphysische, indem er den Mann mit dem „Steinernen Gast“ (KW 5, 25) gleichsetzt. Zwar ist er sich der Fiktivität seiner Furcht immer wieder bewusst („Das gibt’s nur in der Oper, meine Herrschaften, und da nur im Don Juan“, KW 5, 25), doch bleibt sie auch nach der Desillusionierung gegenwärtig und löst sich in ein erleichtertes Lachen auf: „Jetzt kommt er [der Steinerne Gast/der Tod] trotzdem und macht reinen Tisch“. Doch es war nur der Kellner, der mit dem Whisky vor ihm stand, und das war so komisch, daß er lachend wiederholen mußte: „Kommt trotzdem, ist schon gekommen“. (KW 5, 25)

Für den Leser wird die Komik der mehrseitigen Szene immer wieder dadurch erzeugt, dass der Protagonist, der sich nach dem „Schutz“ der „Namenslosigkeit“ sehnt, um „allen Verflechtungen entlöst“ (KW 5, 29) zu sein, die heimlich mitgehörten Gesprächsfragmente der Liebenden philosophisch oder literarisch überhöht, ins Metaphysische steigert. Er betreibt also ein „Emporheben des Irdischen ins Ewige“ (KW 9/2, 169), das Broch in seinen Essays zum Kitsch sowohl mit der „spezifischen Struktur der Romantik“ als auch mit dem Phänomen des Kitsches assoziiert und im Begriff der „Kitschromantik“ (KW 9/2, 151 f.) synthetisiert.26 Die „Verflechtung der Stimmen“ (KW 5, 26), die zugleich poeto 

26 Broch ist hierbei einseitig auf eine Definition von Novalis fixiert, die er pauschalisierend auf die gesamte Romantik überträgt und mit seinem Kitsch-Vorwurf weder der Spät- noch der Frühromantik gerecht wird, vgl. hierzu den Beitrag von Claudia Liebrand in diesem Band. In seinem Kapitel „Die Welt muß romantisiert werden“ aus den Fragmenten schreibt Novalis: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere

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logisches Motto des Romans sind („Verstehen ist Verflechten“, KW 5, 26), wird dermaßen exzessiv betrieben, dass aus einem übertriebenen Verstehensdrang heraus Missverständnisse resultieren, die Polyphonie ins Karnevaleske kippt. Andreas führt jegliche hermeneutische wie auch romantische Totalitätsvorstellung ad absurdum: Wo „Stimmschicksale“ und „Schicksalsstimmen“ in einem „Verflechtungsknäuel“ (KW 5, 26) durcheinander tönen, kommt er, der Steinerne Gast: Der Revolver knackt. Die Instrumente werden gestimmt, denkt der junge Mann, und wenn alle Stimmen zusammenklingen, dann ist der Augenblick des Todes da: dann werde ich hingeschmettert sein auf das marmorne Andreaskreuz, als ob ich daran angeheftet werden soll, angeheftet an meinen Namen. (KW 5, 30)

Erneut lässt Broch seinen Protagonisten einen Selbstmord halluzinieren und stellt ihn so in eine Tradition der Hochromantik, die Broch in seinem Essay zum Kitsch als eine Kategorienverwechslung zwischen ethisch und ästhetisch anprangert: In der Hochromantik wimmelt es nur so von Liebestragödien, von Selbstmorden und Doppelselbstmorden, denn zwischen irrealen Konvenüs wandelnd, die für ihn Symbolwert angenommen haben, merkt der Neurotiker nicht, daß er unaufhörlich die ethische und die ästhetische Kategorie miteinander verwechselt und Befehle befolgt, die überhaupt keine sind. (KW 9/2, 171)

Den romantischen Liebestod, den Broch hier theoretisch kritisiert, setzt er in seiner zweiten Novelle der „Schuldlosen“ literarisch um, in der Zacharias, der Schulmeister, und seine Frau Philippine als junges Liebespaar eingeführt werden. Die Kritik wird auf der Darstellungsebene verstärkt, indem sich Broch des abrupten Stilbruchs bedient: Melodramatische Szenen27 werden ins Ironische gekippt, Utopisches ins Satirische gewendet. Der mit dem Leser sympathisierende Erzähler meldet sich dabei, anders als im Rest des Romans, immer wieder zu Wort, hält den methodischen Konstruktcharakter vor Augen: Philippinens romantischer Sinn, vom Wort des Sterbens gefangen, wandelte die Vorzüge der verschiedenen Todesarten ab. Die ungestümen Formen ihrer Liebe forderten ein ungestümes Ende. Da jedoch nichts geschah, weder die Erde zu erwünschtem Beben sich öffnete, noch der Hügel vor der Stadt Lava zu speien anfing, vielmehr Zacharias trotz schmerzverzerrter Miene täglich zur Schule wandelte und sie, Philippine, bereits voller

ich es […]“ (Novalis, „Poëticismen [Nr. 105]“, in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophische Werk I, Richard Samuel [Hrsg.], Stuttgart 1965, S. 545). 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Marion Schmaus in diesem Band.

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blauer Flecke an Hals und Armen war, vermochte sie ihn, ein Ende zu bereiten, daß er einen Revolver erstünde. Er fühlte, und auch wir, die wir es herbeiführen, fühlen es, daß damit die Würfel gefallen sind. (KW 5, 41)

Broch zieht alle Register des romantischen Begriffsinventars, wenn von „Einheit“, „Totalität“, „Ganzheit“, „gelöster Klarheit“, der Verbundenheit mit der „Weltlichkeit und dem Weibe“, dem „Fixsternhimmel“, den „Welten neuer Zentralsonnen“ und der „Erleuchtung im Herzen“ die Rede ist, die – Novalis lässt grüßen – das Wissen „im Denken des Kopfes“ überflüssig mache (KW 5, 42 f.), bis sie in der Allerkenntnis („Ich bin das All“, KW 5, 43) aufgehe. Die geradezu Brechtsche Desillusionierung folgt prompt, wenn der Leser im Konjunktiv II erfährt, dass „dieser Weg vom Schäbigen ins Ewige für den Durchschnittsmenschen einen Ausnahmefall“ darstelle, und es sich im Falle Zacharias und Philippine wohl doch alles im Gebüsch „in gewohnt plumper Ungelenkheit“ abgespielt habe, „um sodann dem ihnen angemessenen natürlichen, freilich nicht unbedingt glücklichen Ende zuzueilen“ (KW 5, 44). Das Happy End, bei dem bei Kurt Tucholsky bekanntlich „abjeblendt“ wird, wird als Illusion entlarvt: „Indes das Leben ist lang, und die Ehe macht vergeßlich“ (KW 5, 44), woran der angetrunkene Zacharias in seinen „vier Reden“ in der siebten Novelle anzuknüpfen scheint, wenn er die romantische Liebe, die im Selbstmord kulminiert, als Scheu vor späterer Enttäuschung psychologisiert, denn es werde nicht „die Unendlichkeit seiner Liebe“, sondern „die Verzweiflung an ihr“ besiegelt (KW 5, 152).  

IV Szene 2: Dampf statt Licht. Romantische Unendlichkeitsphantasien und verkehrte Höhlenausgänge Der bei Zacharias und Philippine nur als Gedankenexperiment durchgespielte, methodisch konstruierte Suizid wird bei der Beziehung des Protagonisten Andreas zu der märchenhaften Imker-Adoptivtochter Mellita, die sich aufgrund einer Intrige Hildegards das Leben nimmt, zum dramatischen Handlungselement. Und wenn sich am Ende auch noch Andreas nach romantisch-pathetischen Unendlichkeitsphantasien erschießt – eine Szene, die, wie von Broch raffiniert suggeriert, gemeinhin als ein philosophischer Höhepunkt gelesen wird – fragt man sich schon, ob dieser metaphysische Ernst nicht zumindest „humordurchtränkt“, wenn nicht gar satirisch zu lesen ist. Als sich Andreas und Melitta zum ersten Mal begegnen, in der Waschküche im oberen Stockwerk eines hohen Hauses, befindet sich Andreas in metaphysischer Entdecker-Laune: „Jählings wurde das Horizontale ihm widerwärtig; es

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war, als ob im Horizontalen das Gefüge aller Angst läge wie ein Labyrinth. Man mußte einmal den Entschluss fassen, emporzusteigen […]“ (KW 5, 127). Ist dieser Entschluss erst einmal gefasst, verwandelt sich auch das biederste Mehrfamilienhaus für Andreas in einen höhlengleichnisartigen Erfahrungsraum, wird die oben durch Zufall angetroffene Wäscherin zu einer lange erwarteten Erlöserin. Die für A. auch sexuell attraktive Melitta bietet seinen erkenntnis- und erlebnissehnsüchtigen Höhenflügen jedoch immer wieder Einhalt. Auf den dringlichen Wunsch des Andreas hin: „Ich möchte gerne noch höher hinauf, in die Waschküche, auf den Dachboden“, antwortet sie ernüchternd: „Davon hätten Sie wenig Gewinn […] denn wir haben heute die Wäsche gekocht, so dass alles voller Dampf ist“ (KW 5, 131). Wo bei Plato dem Aufsteigenden ganz oben die Sonne lacht, umfängt ihn bei Broch der Dampf. Andreas muss sich mit einem gepflegten, von Missverständnissen gezeichneten Small talk über die „Sonnenuhr“ begnügen, den Melitta immerhin als „sehr sinnreich“ lobt und mit „zutraulicher Koketterie“ hinzusetzt: „nicht wahr, Herr Andreas?“ (KW 5, 134). Als die „Last der Enttäuschung“ allzu groß geworden ist, „vielleicht weil er doch noch etwas erwartete“ und „seine Bitte, noch höher zu steigen“ gerne erneut hervorgebracht hätte (KW 5, 135), entscheidet sich A. zum Abstieg. Auf seinen Wunsch hin „Ich gehe ungern den gleichen Weg zurück“ (KW 5, 135), schickt ihn Melitta durch die dunklen Gänge einer Lederhandlung zurück ins Schattenreich, auf einem „Weg, der ohnehin so lang gewesen war, daß es unverständlich blieb“ (KW 5, 137). Hatte Broch mit der Sonnenuhr im kitsch-affinen Melitta-Dialog möglicherweise auf Theodor Fontanes Romanbeginn der „Effi Briest“ alludiert, ihn parodiert, so lässt er seinen Protagonisten jetzt den dunklen Seelenraum eines Franz Kafka betreten, in dem er das „Gefühl für Zeit“ verliert, „sich nicht zurechtfinde[t]“ (KW 5, 139). Das in diesen modern-abstrakten Räumlichkeiten erstandene Ledertäschchen wird schließlich zum Auslöser der romantischen Liebestragödie, die Melitta und letztlich auch Andreas in den Tod treibt.

V Szene 3: Der Steinerne Gast als Poltergeist. Transzendentale Buffonerie, karnevalesk verkleidet Die Einführungsszene des betrunkenen Protagonisten im Pariser Café wird am Romanende wieder aufgegriffen, wenn der Steinerne Gast in Gestalt des Imkers mit dem parodistisch-programmatischen Namen Lebrecht Endeguth dann wirklich kommt. Den Imker, eine surreal-utopische Großvater-Figur, entwarf Broch schon Mitte der vierziger Jahre in seinem Gedicht „Der Urgefährte“ (1946): Dieses – im Übrigen gänzlich humorlose – Gedicht mutet in seiner Strophenform und Thematik zunächst stark romantisch an:

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Als ich traumschwer heut im Schlafe deine Hand in meine nahm: war es Lohn da, war es Strafe, daß noch schweres Wachen kam? Schnee lag in der dunklen Stube, und der Fluß war still vereist; offne Tür in leichtem Hube zeigte den, der lang verreist, und ich wußte, was er brachte, wußte Sinn und die Gestalt; aber unaussprechlich sachte war das Wissen rückverhallt. Kreuzen sich in mir noch Reime, Sprache und das Menschenwort? Wo sich’s kreuzt ist das Geheime, wo sich’s öffnet ist es fort; […]. (KW 8, 66)

Der Kreuzreim28 wird zwar kurz als unzeitgemäß („noch“) thematisiert, letztlich aber mit Verweis auf eine der beliebtesten Denkfiguren der Romantik, auf „das Geheime“, bejaht. Auch die mit der Todesthematik verschränkte Naturmetaphorik, welche die Winterszenerie zu einer Seelenlandschaft werden lässt, erinnert an die von Broch in seinen theoretischen Schriften unter Kitschverdacht gestellten spätromantischen Gedichte Joseph von Eichendorffs.29 Erst in der vierten und vorletzten Strophe klingt die Moderne an, allerdings ist der Übergang vorsichtig und fließend. Das an eine transzendentale Universalpoesie gemahnende „Wissen-Einverständnis“ (V. 25) wird in ein modernes „Entwissen“ (V. 31) gewendet. Es zieht im letzten Vers die Hofmannsthalsche Problematik einer „leere[n] Stummheit“ (V. 35) nach sich. Die Hoffnung auf den romantischen neuen Mythos eines verständigen Begleiters ist am Ende zumindest relativiert. Doch der für die „Schuldlosen“ spezifische Brochsche Stil-Bruch wird im Gedicht nicht inszeniert: Noch gleitet der Urgefährte „unaussprechlich sachte“ durch die Epochen, wo er später im Roman steinern poltern wird.

28 Zur Reimtechnik Hermann Brochs vgl. Sigurd Paul Scheichl, „‚Verzeihen Sie, daß es gereimt ist‘. Hermann Broch und der Reim. Mit einem unbekannten Gedicht“, in: Johann Holzner/Michael Klein/Wolfgang Wiesmüller (Hrsg.), Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich, Innsbruck 1981, S. 179–196. 29 Vgl. hierzu den Beitrag von Claudia Liebrand in diesem Band.

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Auch in den „Schuldlosen“ personifiziert der Urahne zunächst einmal ein universalpoetisches, polyphones Prinzip. Sein Gesang klingt „fast wie ein Choral vieler Stimmen“ (KW 5, 253), ist aber zugleich durchsetzt von Lachen: „Der Fremde lachte, und aus dem Lachen klang wieder der Gesang heraus“ (KW 5, 254). Neben dem Rabbi in der „Parabel von der Stimme“ ist er die einzige Romanfigur, die zu einem metaphysischen Humor befähigt ist und deren Lachen eine ethische Läuterungsfunktion erfüllt. Die stumme Sprache des Lachens assoziiert Broch schon im „Tod des Vergil“ mit der Musik, wo es heißt, dass sich die stumme Sprache des Lachens und die stumme Sprache der Musik, beides Sprachen außerhalb der Sprache, unterhalb und oberhalb der Grenzen menschlicher Gebundenheit, sich zu neuer Sprache verbündeten, zu einer Sprache, in der die Furchtbarkeit des Lachens wundersam von der Holdheit des Schönen aufgenommen [werde]. (KW 4, 110)

Der Imker tritt in den „Schuldlosen“ in einen mäeutischen Dialog mit Andreas, dessen Erinnerung und Schuldbewusstsein er nach und nach wachruft. Vielleicht praktiziert er, ähnlich dem pilpul-Ritual des Rabbis und seiner Schüler in der „Parabel“, sogar die von Friedrich Schlegel in seinem „Lyceum“-Fragment gepriesene „sokratische Ironie“, eine philosophische Denk- und Gesprächshaltung, von der Schlegel dann zur „transzendentalen Buffonerie“30 überleitet. Jedenfalls sind auch hier Metaphysik und Humor wieder eng miteinander verwoben. Denn der Abgang des Imkers ist weder der eines Heiligen, eines katholischen Beichtvaters noch der eines an den Rabbi erinnernden „Ur-Ahnen, der mit wehendem Bart sich über ihn beugte und mit diamantener Lippe seine Stirne küßte“ (KW 5, 273). Vielmehr tritt der Steinerne Gast, einer buffo-Figur vergleichbar, wie ein Poltergeist knarzend von der Bühne: „Und weil er Fleisch und Blut war, knarrte die Stiege unter seinen Röhrenstiefeln. Freilich hätte sie das auch getan, wenn er ein Diamantgeist gewesen wäre“ (KW 5, 273). Diese Bühne ist daraufhin für die metaphysischen Höhenflüge des bekehrten Andreas frei, der die „Gewichtlosigkeit“ des Seins und der Seele goutiert, den Seelenwunsch nach „Überwindung der Absonderung“ verspürt, sich in den „Nicht-Raum“ begibt (KW 5, 274) und dort „ohne Drohung“, „in Natürlichkeit“ seinem Leben mit einem Kopfschuss ein ‚romantisches‘ Ende macht (KW 5, 275). Doch ausgerechnet die komödiantischste Figur des ganzen Romans, die Magd Zerline, kommentiert die Erlösung des an ein „Andreaskreuz“ Geschlagenen und löst so jegliche metaphysische Erhabenheit in physische Behäbigkeit auf: Ruhig zog sie einen Stuhl herbei und setzte sich in fetter Behäbigkeit vor den Toten hin, ihn um so aufmerksamer betrachtend, als er nun plötzlich abgemagert schien, geradezu zurück-

30 Schlegel, „Lyceum“, S. 152.

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verwandelt zu dem blonden Jungengesicht, mit dem sie ihn vor nun gut zehn Jahren kennengelernt hatte: „Er hat’s gesühnt“, sagte sie schließlich mit lauter Stimme und wußte selber kaum, was sie damit hatte sagen wollen, und warum sie es so laut hatte äußern müssen. Doch weil damit die Unterhaltung in Gang gebracht worden war, sprach sie weiter: „Grad heut, wo ich Hühnerragout mit Klößen gemacht hab, was er so gern gehabt hat wegen des Weißweins, den ich hineintu, und wegen der Trüffeln… plötzlich war’s ihm eilig.“ (KW 5, 275)

Auch hier findet ein abrupter, bewusst inszenierter Schwenk statt von dem personalen Standpunkt des Jenseitigen eines Fast-Erlösten – kurz zuvor war noch in Heideggerscher poetischer Dichte von der „Gewichtlosigkeit des Seins“ (KW 5, 275) die Rede – hin zum Standpunkt des Diesseitigen einer Köchin, dem „Hühnerragout mit Klößen“.31 Aus der paradoxalen Gleichzeitigkeit sowie dem Ineinandergreifen sich eigentlich widersprechender Seins- und Stilbereiche resultiert erneut die spezifische Komik des späten Broch – und der metaphysische Humor des Romans.

VI Zusammenfassung: Lachen und Läutern Sowohl der am Selbstmord Melittas schuldig gewordene Andreas als auch der laut Selbstkommentaren Brochs angeblich von jeglicher Schuld ausgenommene Imker oszillieren zwischen Romantik und Moderne, zwischen Kitsch und neuem Mythos: Andreas – benannt nach der Titelfigur des gleichnamigen Fragments Hugo von Hofmannsthals, in Anlehnung an Franz Kafka, dem Broch als einzigem modernen Dichter die potentielle Fähigkeit zur neuen Mythenbildung zubilligt, zumeist mit A. abgekürzt – ist einerseits Kind der Moderne und in seiner „Gleichgültigkeit gegenüber fremdes Leid“ (KW 1, 420) Nachfolger des ‚sachlichen‘ Hugenau aus den „Schlafwandlern“. Andererseits wird er gerade in den Selbstmordszenen immer wieder als unendlichkeitssehnsüchtig und – im Brochschen Sinne – ‚romantisch‘ gezeichnet. Denn er versucht, mit Novalis, „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein [zu] gebe[n]“32 – und scheitert daran. Dass er, so Broch in seinem Selbstkommentar, am Ende „versöhnt, fast in der Gnade“ (KW 4, 303) scheidet, mag fiktionsintern zutreffen, fiktionsextern lässt ihn der Knödel-Humor Zerlines wohl eher in Ungna-

31 Das possenhafte Essensmotiv in Verbindung mit dem Tod erinnert an den 2. Aufzug, 13. Auftritt von Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“: Leporello schlingt, kurz bevor der Komtur seinen Herrn in die Hölle holt (Don Giovanni: „Ei, wie schlingt er, wie gerissen, / Und er glaubt, ich säh’ es nicht“). 32 Novalis, „Poëticismen [Nr. 105]“, S. 545.

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Doren Wohlleben

de fallen und sein in den beiden ersten Novellen antizipiertes Ende als ‚methodisch konstruiert‘ erscheinen. Zwar wird eine Erlösungsutopie anzitiert – Andreas erfährt nach einer Zwiesprache mit dem Imker, dem lyrisch-romantischen Urahnen, eine Läuterung und eine metaphysische Entrückung, bis er dann an sein Andreaskreuz geheftet wird. Aber dieser metaphysische Akt wird mit Zerlines Hinweis auf das polizeiliche Protokoll bürokratisiert und parodiert. Der metaphysische Humor kommt demnach nicht im Metaphysischen zustande, sondern in dessen Kontrastierung mit dem Irdischen, was zunächst an die „transzendentale Buffonerie“ Schlegels erinnern mag: Im Innern die Stimmung (das singende, nach innen gewendete Lachen des Urgefährten), im Äußern die mimische Manier eines guten italienischen Buffo (der polternde Abgang des Diamantengeistes). Anders als bei Schlegel bleibt dieser Kontrast aber als unaufhebbar bestehen: Die ironische Schwebe Schlegels zwischen Irdisch und Überirdisch exaltiert bei Broch zum satirischen Sprung, zu einem Sprung allerdings, dem im Ausbruch des Lachens mitunter ein katalytisches Moment innewohnt. Die Hoffnung auf Läuterung sah Broch 1950, inspiriert durch Karl Jaspers,33 weder mehr in der Jurisprudenz noch in der Philosophie oder Theologie, sondern allein in der Literatur gegeben: Verbrechen unterliegen der Strafe, doch Schuld ist keine juristische, sondern eine ethische Kategorie, und ihr Gegengewicht, ihre Auslöschungsmöglichkeit, ist die Sühne, nie und nimmer die Strafe. M. a. W., Sühne ist nicht wie die Strafe an den Begriff der Abbüßung, sondern an den der Läuterung gebunden und erfordert daher den Übertritt aus dem juristischen in den menschlichen Bereich, also in jenen, der Dichtung zugänglich ist und ihre Aufgabe darstellt. (KW 5, 306 f.)  

Möglicherweise beruht Läuterung zusätzlich auf einer spezifischen Fähigkeit, welche die Literatur den anderen Disziplinen voraus hat: nämlich das Lachen dialogisch in Szene zu setzen. Folglich sind es weniger, wie uns Broch dies in seinen Briefkorrespondenzen und Selbstauslegungen mit unerbittlicher Vehemenz suggeriert, die lyrischen, letztlich stets monologischen Stimmen, die das „niet- und nahtlose des Romans“ (KW 5, 312 f.) ausmachen. Vielmehr ist es Brochs – in Dialogen besonders brillanter – metaphysischer Humor, ein ‚jüdelnder‘34 Altersstil, der, wie auch im Briefwechsel mit Brody, zugleich ein Erkenntnisstil ist. Es ist ein Stil, der den Erfordernissen der Modernität hervorragend   

33 Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979, S. 21–24. 34 Als ‚jüdelnd‘ bezeichnet Hermann Broch sentimental seine Großmutter in seinem Brief an Daniel Brody vom 19. Oktober 1948 (Hermann Broch – Daniel Brody: Briefwechsel 1930–1951, Bertold Hack/Marietta Kleiß (Hrsg.), Frankfurt 1971, S. 952).

Metaphysischer Humor

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angepasst ist, indem er Dinge – gewissermaßen in romantischer Manier – zusammenfügt, sie dann aber – im postmodernen Gestus – wieder auseinandernimmt. Wie der Rabbi in der „Parabel von der Stimme“ „die Hand vor den Mund [legt], damit sie [die Schüler] das Lächeln hinter seinem Bart nicht bemerken mögen“ (KW 5, 9), kaschiert Broch gerade bei den ernstesten Fragen gekonnt ein Schmunzeln. Und vielleicht erinnert uns die Angora-Katze Arouette, die sich in den „Schuldlosen“ in den Andreas-Szenen leitmotivisch immer wieder anschleicht,35 ja auch an die Katze aus Lewis Carroll’s „Alice im Wunderland“: Deren erlösendes Lächeln bleibt sogar dann zurück, wenn sie selbst sich längst aufgelöst hat.

35 Vgl. hierzu Brochs Selbstkommentar in seinem „Entstehungsbericht“: „[…] solcherart, von Anfachung und Wiederanfachung bewegt, geschieht die Läuterung, und das Kunstwerk – nicht jedes, wohl aber jedes totalitätsangenäherte, ohne darum just ein ‚Faust‘ sein zu müssen – besitzt diese Anfachungskraft, manchmal nur mit der ganzen Fülle seines Atems, manchmal aber auch schon mit einem einzigen Hauch, mit einem sanftesten Wink, ja will es das Glück, mit einem einzigen ganz leichten Hindeuten zur Katze Arouette“ (KW 5, 328).

III Der Einfluss von Romantikkonzepten auf Hermann Brochs Ästhetik

Claudia Liebrand, Köln

Bezugssysteme: Romantik und Kitsch in Hermann Brochs Essayistik Seit der Postmoderne hat der Kitsch seinen Schrecken verloren.1 Kulturelle Aneignungspraktiken, wie sie etwa in Susan Sontags „Anmerkungen zu ‚Camp‘“2 propagiert werden, irritieren die Grenze zwischen Hochkultur und populärer Kultur, auch die zwischen Hochkultur und Kitsch (ohne dass sie sie aufheben) – so listet Sontag einen kleinen Katalog „[e]inige[r] wahllos herausgegriffene[r] Beispiele für Dinge, die zum Kanon des Camp gehören“, auf: Max Beerbohms Zuleika Dobson or an Oxford Love Story die Lampen des Glaskünstlers Louis Comfort Tiffany das Brown Derby Restaurant auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles The Enquirer, Schlagzeilen und Berichte Aubrey Beardsley-Zeichnungen Schwanensee Bellinis Opern Viscontis Inszenierungen von Wildes Salome und John Fords ’Tis Pity She’s a Whore [Giovanni und Arabella] gewisse Postkarten der Jahrhundertwende King Kong [King Kong und die weiße Frau] von Schoedsack und Cooper der kubanische Schlagersänger [sic] La Lupe

1 Aus der Fülle der Beiträge, die sich mit dem Problem des Kitsches beschäftigen, seien genannt: Jean Améry, „Kitsch, Kunst, Kitschkunst. Randbemerkungen zu einem aktuellen Thema“, in: Schweizer Rundschau, 67/1968, S. 485–488; Wolfgang Braungart, „Kleine Apologie des Kitsches“, in: Sprache und Literatur, 28/1997, 79, S. 3–17; Wolfgang Braungart (Hrsg.), Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen, Tübingen 2002; Wolfgang Braungart, „Aus denen Kehlen der ältsten Müttergens.“ Über Kitsch und Trivialität, populäre Kultur und Elitekultur, Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Volksballade, besonders bei Herder und Goethe, 2005, http://www. goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/braungart_volksballade.pdf (Stand: 30.08.2012); Ute Dettmar/Thomas Küpper (Hrsg.), Kitsch. Texte und Theorien, Stuttgart 2007; Umberto Eco, „Der Geschmack der anderen, Kitsch und Camp“, in: Ders. (Hrsg.), Die Geschichte der Hässlichkeit, München 2007, S. 391–419; Hans-Edwin Friedrich, „Kitsch“, in: Harald Fricke u.a (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin/New York 2000, S. 263–266; Julia Genz, Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch, München 2011; Dieter Kliche, „Kitsch“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, S. 272–288; Harry Pross (Hrsg.), Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München 1985; Gert Theile (Hrsg.), Das Schöne und das Triviale, München 2003. 2 Susan Sontag, „Anmerkungen zu ‚Camp‘“, in: Dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Reinbek 1968, S. 269–284.

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Claudia Liebrand

Gods’s [sic] Man, Lynn [sic] Wards Roman in Holzschnitten die alten Flash Gordon-Comics Frauenkleider aus den zwanziger Jahren (Federboas, Kleider mit Stickperlen) die Romane von Ronald Firbank und Ivy Compton-Burnett Filme für Herren, ohne Wollust betrachtet.3

Solch eine beliebige Zusammenstellung, der es nichtsdestotrotz um Exemplarität zu tun ist, in Bezug auf Camp oder auch auf Kitsch anzuführen, ist durchaus geschickt, gilt doch für Kitsch das, was auch für Pornographie in Anschlag gebracht worden ist, sie sei schwer zu definieren, aber man erkenne sie, wenn man sie sehe. Im Folgenden soll es nicht um den Kitsch und seine Verhandlung in den ästhetischen Konfigurationen der Postmoderne gehen, auch nicht um die Camp-Perspektive auf Kitsch. In den Blick genommen werden Überlegungen der Hochmoderne, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Problem des Kitsches – und zwar Überlegungen, die Hermann Broch angestellt hat – in seinen Essays „Das Weltbild des Romans“ und „Das Böse im Wertsystem der Kunst“ aus dem Jahr 1933 und in einem Vortrag mit dem Titel „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ aus dem Jahr 1950 (publiziert wurde der Vortrag im Jahr 1955). Broch hat bekanntlich den Kitsch zum „Böse[n] im Wertsystem der Kunst“ (KW 9/2, 119)4 erklärt. Er sieht den „künstlerische[n] Ausdruck der Zeit […] in der ungeheuren Spannung […], die zwischen dem Guten und dem Bösen innerhalb der Kunst liegt. – Das Böse in der Kunst aber ist der Kitsch“ (KW 9/2, 123). Dieser Kitsch ist nach Broch immer ein „Imitationssystem […] innerhalb des Wertsystems der Kunst, […] [er ist], wenn auch in Verkleinerung, Abbild […] des Systems des Antichrist“ (KW 9/2, 147). Und damit ist der Kitsch – für Broch – auch das System des Reaktionären im Wertsystem des Konservativismus. Denn die „ästhetische Forderung“ gründet sich auf das Gewesene schlechthin, das sie zum Wertziel, zu einem „falschen“ Wertziel transponiert, zu einem falschen Wertsubjekt erhebt, zu einem Anti-Gott, Träger des Bösen, dessen antiethische Forderungen dogmatisch in die lebendige Entwicklung des ursprünglichen Systems und seine autonome Freiheit eingreifen. Und eben weil es die „ästhetische Forderung“ ist, die sich solcherart auswirkt, eben deshalb ist der Kitsch als ästhetisches Phänomen im engern Sinne berufen, Repräsentant des ethisch Bösen zu werden. (KW 9/2, 147)

3 Ebd., S. 271. 4 Zitate aus Hermann Broch, „Das Böse im Wertsystem der Kunst“, in: Kommentierte Werkausgabe, Schriften zur Literatur 2. Theorie, Bd. 9/2, Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Frankfurt am Main 1976, S. 119–157. In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat.

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I Der Ursprung des Kitsches in der Romantik Die Romantik nun sieht Broch in der Verantwortung für die Entstehung des Kitsches. Er glaubt in „Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ zeigen zu können, „warum der Kitsch aus der Romantik und just aus der Romantik hatte entstehen müssen“ (KW 9/2, 168), – und sieht dafür als entscheidenden Grund die „Verwechslung des Endlichen mit dem Unendlichen“ (KW 9/2, 152), die die Romantik vorgenommen habe. Die Romantik habe die Schönheit nicht als unerreichbares, anzustrebendes Telos angesehen, sondern die romantische Forderung will die platonische Idee der Kunst, sie will die Schönheit zum unmittelbaren, handgreiflichen Ziel eines jeden Kunstwerkes setzen. In gewissem Sinn wird hierdurch der Systemcharakter der Kunst aufgehoben, doch soweit er bestehen bleibt, wird ihm der Stempel der Geschlossenheit aufgedrückt; das unendliche System wird zum endlichen. Wenn in der akademischen Kunst unaufhörlich nach Schönheitsregeln gesucht wird, nach denen sich jede Kunstproduktion zu richten hätte, so wird eine ähnliche Verendlichung vorgenommen. Gewiß sind Romantik und Akademik nicht zu identifizieren, es ist ja nicht einmal der Kitsch […] mit Akademik identisch, aber der gemeinsame Nenner, der in alldem steckt, die Systemverendlichung, ist nicht zu übersehen, und da sie die unerläßliche Vorbedingung alles Kitsches bildet, zugleich aber auch der spezifischen Struktur der Romantik, nämlich der Emporhebung des Irdischen ins Ewige, das Dasein verdankt, darf behauptet werden, daß sie, ohne deshalb selber Kitsch sein zu müssen, seine Mutter ist, und daß es Momente gibt, in denen das Kind der Mutter zum Verwechseln ähnlich wird. (KW 9/2, 168 f.)  

Es bleibt die Frage, ob die von Broch vorgelegte Skizze der Romantik die ästhetischen Konfigurationen und die komplexe Kunsttheorie der Frühromantik, aber auch die Kunstpraxis etwa der Spätromantik tatsächlich trifft. Ist für die frühromantische Poetik doch gerade die Verflüssigung von fixen Strukturen kennzeichnend, eine Kunsttheorie, die darauf setzt, in einer unabschließbaren Bewegung an der Utopie zu arbeiten, am Umbau des alten Äons in den neuen Äon. Novalis propagiert eine progressive Universalpoesie, Offenheit auch in der Form (des Fragments beispielsweise). Das literarische Schaffen ist für ihn ein konstruktiver Prozess: „Poësie ist die große Kunst der Construction der transscendentalen Gesundheit. Der Poët ist also der transscendentale Arzt“5 und „Poésie = Gemütherregungskunst“6. Wie für Friedrich Schlegel ist für Novalis das Moment der

5 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Das philosophische Werk I, Bd. 2, Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz (Hrsg.), Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, Darmstadt 1965, S. 535. 6 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Das philosophische Werk II, Bd. 3, Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz (Hrsg.), Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, Darmstadt 1968, S. 639.

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reflexiven Verfasstheit, der Selbstreflexion des Kunstwerks konstitutiv – dieser Prozess ist auf Infinitesimalität ausgelegt, prinzipiell unabschließbar. Nun wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Brochs Romantik-Konzept eher auf die Spätromantik als auf die ‚revolutionäre‘ Frühromantik ziele.7 Zu ermitteln wäre also, ob Brochs Beschreibungsraster, wenn es denn nicht für die Frühromantik greift, die Spätromantik angemessen in den Blick nimmt. So setzt E.T.A. Hoffmann, um einen, neben Joseph von Eichendorff vielleicht den paradigmatischen spätromantischen Autor der deutschen Literatur zu fokussieren, durchaus Konfigurationen in Szene, die sich als Umsetzungen eines ‚poetischen Absolutismus‘ beschreiben lassen. Für Hoffmann, der mit dieser Konzeption auf Vorgaben der Frühromantik rekurriert, steht die Kunst ein für einen Bereich des ganz anderen, des Jenseitigen, des Transzendenten. Schon von Wilhelm Heinrich Wackenroder war die Kunst zur Religion, zum absoluten transzendenten Wert erhoben worden. Überdies hatte sie der Autor der „Herzensergießungen“ gewissermaßen das Erbe des Pietismus, den sie als säkularisierte Religion ersetzen sollte, antreten lassen: die entschiedene Weltverachtung.8 So eng verbunden das Hoffmann’sche Kunstideologem – und zwar sowohl was Kunstapotheose und Lebensannihilation angeht als auch in Bezug auf die Doppelkodierung des transzendenten Werts, der Kunst, als heilige und dämonische – aber der Konzeption Wackenroders und auch Ludwig Tiecks ist,9 so grundsätzlich differiert seine ästhetische Konzeption etwa von den kunsttheoretischen Überzeugungen Fried-

7 Zumindest annotiert aber sei, dass Broch in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik durchaus auch etwa Novalis in die Reihe jener Romantiker stellt, gegen die er sich kritisch positioniert. 8 Eine Konsequenz dieser radikalen Weltverachtung ist für den Künstler schon bei Wackenroder eine sterile, lebensferne ‚ästhetizistische‘ Lebensform – ein Problem, das noch mehr als ein Jahrhundert später von Thomas Mann als virulent erfahren wird. 9 In Bezug setzen lässt sich die Hoffmann’sche ästhetische Axiomatik natürlich auch zur Kunstphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, für den das Kunstwerk Organon des Absoluten ist (das nur in Bildern und Symbolen, aber nicht begrifflich, diskursiv vermittelbar sei). Die Kunst wird bei Schelling zur sakralen Kunst-Ideologie. In der intellektualen Anschauung des (das Objektive und das Subjektive, das Bewusste und das Unbewusste verbindenden) Kunstwerks ist es möglich, in einen ‚mystischen‘ Zustand zu gelangen und unmittelbar des Absoluten innezuwerden. Vgl. auch Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750–1945, 2 Bde., Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Bd. 1, 2, durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988 [11985], S. 390–403. Hoffmann war kein philosophischer, kein ‚theoretischer‘ Kopf. Ihn hat die zeitgenössische idealistische Philosophie Immanuel Kants, Johann Gottlieb Fichtes und Friedrich Wilhelm Joseph Schellings nicht interessiert. Philosophische Autoren der ‚ersten Garnitur‘ hat er – soweit sich nachweisen lässt – nicht gelesen; er hielt sich an Multiplikatoren und Popularisatoren (wie z.B. den Naturphilosophen Gotthilf Heinrich von Schubert). Insofern tauchen Schelling’sche oder

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rich Schlegels und Novalis’. Deren Glaube an das utopische Potential von Kunst, an die unabschließbare, aber emsige, an die infinitesimale Bewegung vom Endlichen zum Unendlichen, an die weltverändernde Kraft der Universalpoesie negiert der Hoffmann’sche ‚poetische Absolutismus‘. Die Kunst vermag dem Leben nur noch antagonistisch gegenüberzustehen, an eine ‚Romantisierung‘ der Welt im Novalis’schen Sinne ist nicht mehr zu denken. Stattdessen radikalisiert Hoffmann die Position Wackenroders noch: In seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“ oder im Nachtstück „Der Sandmann“ etwa wird eine Kunstkonzeption präsentiert, die das Ästhetische so verabsolutiert und vergegenständlicht, dass die kunstbesessenen Helden in Tod und Wahnsinn abdriften – angesichts der radikalen Vorgaben des kunstmetaphysischen Programms, das ihnen auferlegt ist. Schon diese das Ästhetische absolut setzenden ‚Predigten‘ in den Hoffmann’schen Texten, die sich in Bezug bringen lassen zur Broch’schen Setzung, dass die romantische Forderung „die Schönheit zum unmittelbaren, handgreiflichen Ziel eines jeden Kunstwerkes setzen“ (KW 9/2, 168) wolle, werden in den Texten, die ihnen verpflichtet sind, allerdings konterkariert durch ‚Subtexte‘, die die Aporien einer solcherart verfassten absolut gesetzten Ästhetik fixieren. Bereits in die frühen Hoffmann’schen Texte eingeschrieben sind die Verwerfungen eines ästhetischen Axioms, das die Kunst als das andere von Welt und Vernunft setzt, als radikal immateriell und transzendent begreift; Exposition des kunstmetaphysischen Programms und seine Kritik fallen bei Hoffmann zusammen. Insofern wäre gegen Brochs Polemik gegen die Romantik nicht nur von der Warte der ‚revolutionären‘ Frühromantik, sondern auch von der Warte der Spätromantik aus Position zu beziehen. Wenn die von Broch diagnostizierte Vergegenständlichung des Ästhetischen doch nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man nicht trivialisierend liest, in den Texten des Spätromantikers E.T.A. Hoffmann zu finden ist, könnte man nun darauf verweisen, dass zumindest die „reaktionäre Technik des ‚Effekts‘“ (KW 9/2, 150) die Hoffmann’schen spätromantischen Texte zu ‚kitschigen‘ mache, zu solchen, die in das Wertsystem des ‚Bösen‘ einzurechnen seien. Denn zum Wesen des Kitsches gehört nicht nur die „Verwechslung des Endlichen mit dem Unendlichen“ (KW 9/2, 152), sondern Broch definiert als zum Wesen des Kitsches gehörig „die Verwechslung der ethischen mit der ästhetischen Kategorie“ (KW 9/2, 150). Der Kitsch wolle „nicht ‚gut‘, sondern ‚schön‘ arbeiten, es kommt ihm auf den schönen Effekt an.“ (KW 9/2, 150) Zwar gehe es in keiner Kunst „ohne einen Tropfen Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch“ ab, der Effekt greife aber immer auf das „Gewesene

Fichte’sche Konzepte in seinen Werken zwar auf, sind aber vermittelt und gebrochen und aus ihrem philosophischen Kontext herausgerissen.

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und Erprobte“ zurück und komme „immer wieder beim Kitsch zum Vorschein“ (KW 9/2, 150). Die Probe aufs Exempel sei gemacht – Hoffmanns Texte bersten vor Effektgeladenheit, macht sie das kitschig?

II Schein und Widerschein – Das Beispiel „Der goldene Topf“ Herausgegriffen sei nur ein Beispiel – Hoffmanns „Goldener Topf“. Dem Text sei ein wenig Raum gegeben, um das Problem des ‚Effektes‘ und des ‚Kitsches‘ zu erörtern.10 Die letzte Vigilie des Dichter-Märchens präsentiert uns den Protagonisten Anselmus nach seiner Dichterwerdung. Das ‚höhere Reich‘, das Übernatürliche, das in dieser zwölften Vigilie inszeniert wird, ist auf den ersten Blick als künstlich erkennbar und reflektiert insofern die Faktur des Kunstmärchens. Es ist einem Bühnenbild nachgestellt und ist ohne ontische Referenz allein Resultat und Effekt von Sprache: Anselmus umschlingt sie [Serpentina] mit der Inbrunst des glühendsten Verlangens – die Lilie brennt in flammenden Strahlen über seinem Haupte. Und lauter regen sich die Bäume und die Büsche und heller und freudiger jauchzen die Quellen – die Vögel – allerlei bunte Insekten tanzen in den Luftwirbeln – ein frohes freudiges jubelndes Getümmel in der Luft – in den Wässern – auf der Erde feiert das Fest der Liebe! – Da zucken Blitze überall leuchtend durch die Büsche – Diamanten blicken wie funkelnde Augen aus der Erde! – hohe Springbäche strahlen aus den Quellen – seltsame Düfte wehen mit rauschendem Flügelschlag daher – es sind die Elementargeister die der Lilie huldigen und des Anselmus Glück verkünden. – Da erhebt Anselmus das Haupt wie vom Strahlenglanz der Verklärung umflossen!11

Es wird eine sprachlich verfasste Illusionsbühne aufgeschlagen, auf der keine Realität mehr nachgespielt wird, die vielmehr den Schein als Schein durchsichtig macht, die Atlantis nicht zur Darstellung bringt, sondern erst generiert. Dieses – aus dem Punschrausch geborene – Dichterparadies ist ohne jede sinnliche Anschauung, keine originäre Vision, sondern Zitat der Holunderbaumszene der ersten Vigilie. Zu deuten ist dieser Rekurs nicht nach dem Muster der Erfüllung, die auf das Versprechen folgt, sondern als Wiederholung, als Verweis auf die Zitatstruktur des mythopoetischen Berichts. In der dritten, achten und zwölften

10 Vgl. meine ausführliche Lektüre des „Goldenen Topfs“ in: Claudia Liebrand, Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns, Freiburg i.Br. 1996, S. 109–138. 11 E.T.A. Hoffmann, „Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit“, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, Bd. 2/1, Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht (Hrsg.), Frankfurt am Main 1993, S. 229–321, hier S. 320.

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Vigilie verfährt der Text so, wie er auch Anselmus verfahren lässt, er kopiert Prätexte. Ausgeschrieben, zitiert werden Gotthilf Heinrich von Schubert, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Novalis, die biblische Schöpfungsgeschichte. Der Text, der diese Quellen nachschreibt, rückt aber – durch ebendiesen Akt des Zitierens – von ihnen ab. Das Zitat negiert wie die Allegorie die Präsenz, eine im Wortsinne ursprüngliche Erfahrung. Es setzt Erfahrung als immer schon gedeutete, uneigentliche und vollzieht damit einen Akt der Distanzierung, der mit einem Sprechen, das nur noch ein Nachsprechen sein kann, notwendig einhergeht. Der ‚Kern‘, der mythische Innenraum des „Goldenen Topfs“ ist von Skepsis und Ironie affiziert – er reinszeniert den Ursprung, von dem er handelt, nicht, er streicht ihn eher aus – ist insofern ein dezidiertes Votum für eine ‚Naturpoesie‘, die immer schon Kunstpoesie ist. Zur Disposition gestellt wird der Verbindlichkeitsgrad der ‚höheren Wirklichkeit‘, jenes Bereichs, der die Welt der Philister transzendiert. Die Bemerkung, die Registrator Heerbrand (der damit ein vorweggenommener Broch wäre) über die Kosmogonie der dritten Vigilie macht: „Erlauben Sie, das ist orientalischer Schwulst, werter Hr. Archivarius“,12 steht nicht nur für die Borniertheit und Petrifikation phantasieunbegabter Philister. Das Urteil des Registrators kennzeichnet durchaus die aufgeblähte, bemüht mystisch bedeutsame, auf Überhöhung abzielende Sprache der Kosmogonie. Die ‚ästhetische‘ Kritik, der die Imagination des Wunderbaren hier unterzogen wird – das Kunstmärchen ist also auch in einem emphatischen Sinne romantisch, als es seine eigene Kritik formuliert –, korreliert mit einer (am eindringlichsten in die zehnte Vigilie inskribierten) psychologisch motivierten. Es handelt sich um jenen ‚Fall ins Kristall‘, der dem Helden eingangs vom Äpfelweib, als er ihren Korb umstößt, prophezeit wird – einen Sühne- und Purifikationsakt, der die Lehrzeit des Dichters Anselmus abschließt. Anselmus, der Serpentina ‚verraten‘ und ein zu kopierendes Original mit einem Tintenfleck verunziert hat, wird zur Strafe vom Salamander Lindhorst in eine Flasche verbannt. Seine Erlebnisse in diesem Zustand von Regression und Erstarrung, Erfahrungen „gräßlicher Angst“, „jeder Nerv im Todeskampfe blutend“,13 sind psychotisch organisiert. Kennengelernt hat Anselmus bereits Inspiration und dichterische Entrückung, den platonischen ‚Wahnsinn‘ des künstlerischen Enthusiasmus. Dessen dunkle, dessen pathologische Seite exponieren „[d]ie Leiden des Studenten Anselmus in der gläsernen Flasche“.14

12 Ebd., S. 246. 13 Ebd., S. 303. 14 Ebd., S. 302.

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In diesem gläsernen Gefängnis wird der künftige Dichter, der mit seinem Sündenfall wirklich das Erbe des Geisterfürsten Phosphorus und dessen Lieblings, des Salamanders, antritt – erst sein Vergehen nähert seine Biographie ihrer an –, vom „dumpfe[n] Brausen des Wahnsinns“15 umfangen. Aber das Märchen erlöst seinen Helden aus den psychotischen Ängsten, gibt den kleinen Homunkulus im engen Innenraum der Flasche der Außenwelt wieder, gewährt ihm die Neugeburt als Dichter: Ein Blitz zuckte durch das Innere des Anselmus, der herrliche Dreiklang der Krystallglocken ertönte stärker und mächtiger als er ihn je vernommen – seine Fibern und Nerven erbebten – aber immer mehr anschwellend dröhnte der Akkord durch das Zimmer, das Glas, welches den Anselmus umschlossen, zersprang und er stürzte in die Arme der holden lieblichen Serpentina.16

Was mit Hintergrundmusik in grandioser Unwetterkulisse hier über alle Maßen effektvoll inszeniert wird, ist Anselmus’ Selbstwerdung in der Poesie. Anselmus zeugt sich, indem er sich der Poesie vermählt, noch einmal selbst – und verschwindet gleichzeitig aus der empirischen Welt der Paulmanns und Heerbrands, er zieht sich zurück in einen Eigenraum der Fiktion, geht ein in den Binnenraum des Textes, in das allegorische paradis artificiel von Atlantis, den Raum der Kunst und des Todes. Dem Leser wird verraten, dass jede Niederlassung in Atlantis ein „poetisches Besitztum […] [des] innern Sinns“ ist, dass der Rückzug in ein Reich, über dessen fiktive Verfasstheit kein Zweifel bestehen kann, „Seligkeit“17 bedeutet. Aufgrund dieser fiktiven Verfasstheit, die ‚ontische Festlegungen‘ nicht erlaubt, kann Atlantis auch nur geschaut und bereist werden im Rausch (sei es des Punsches, sei es der künstlerischen Inspiration – und für Hoffmann schließen sich beide nicht aus, sondern bedingen sich wechselseitig). Wohnen in Atlantis kann nur der Märchenheld Anselmus, für die Erzählerfigur bleibt Atlantis ‚Augentäuschung‘, Halluzination, theatrale Szenerie. Ebendiese Erzählerfigur leidet darunter, dass sie sich nur eines ‚papierenen‘, aus der theatralen Effektmaschinerie resultierenden Atlantis bemächtigen kann: Aber nun fühlte ich mich von jähem Schmerz durchbohrt und zerrissen. „Ach glücklicher Anselmus, der du die Bürde des alltäglichen Lebens abgeworfen, der du in der Liebe zu der holden Serpentina die Schwingen rüstig rührtest und nun lebst in Wonne und Freude auf deinem Rittergut in Atlantis! – aber ich Armer! – bald – ja in wenigen Minuten bin ich selbst

15 Ebd., S. 303. 16 Ebd., S. 309. 17 Ebd., S. 321.

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aus diesem schönen Saal, der noch lange kein Rittergut in Atlantis ist, versetzt in mein Dachstübchen und die Armseligkeiten des bedürftigen Lebens befangen meinen Sinn und mein Blick ist von tausend Unheil wie von dickem Nebel umhüllt, daß ich wohl niemals die Lilie schauen werde.“ – Da klopfte mir der Archivarius Lindhorst leise auf die Achsel und sprach: Still still Verehrter! klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht so eben selbst in Atlantis und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?18

Auf das Lamento des Erzählers reagiert der Archivarius mit der – ihm als Ausgeburt der Fiktion anstehenden – Gelassenheit. Atlantis ist das Leben in der Poesie; die Frage nach seinem ‚Ort‘ kann mithin nur eine ästhetische, keine ontologische sein. Und wenn es Atlantis nur als simulacrum, als theatrale Szenerie, als Fiktionsraum gibt, dann gibt es die Auswanderung in jenes Sehnsuchtsland nur auf den Flügeln der Imagination und die Reise dorthin kann jederzeit unternommen werden. Es ist eine Reise in ein Buchstabenland, in dem die Herrschaft des Signifikats gebrochen ist und die Signifikanten frei flottieren dürfen; in dem der ‚Buchstabe‘ rehabilitiert wird und beginnt, den Sinn zu subvertieren und in Un-Sinn zu verwandeln. Wie Hoffmann den ‚Buchstaben‘ gegen den ‚Geist‘, Literalität gegen Figurativität ausspielt, lässt sich z.B. an der Schilderung des Lindhorst’schen Gartens, auch ein paradis artificiel, zeigen. Nachdem Anselmus es in der sechsten Vigilie endlich gelungen ist, das Türklopfer-Äpfelweib19 zu überwinden und an der gefährlich-tödlichen Riesenschlange vorbei ins Residuum des goldgrün schimmernden, blauäugigen Schlängleins Serpentina, in das Haus des Archivarius Lindhorst also, zu gelangen, führt ihn der Archivarius durch zahlreiche Gänge und Gemächer in die Bibliothek. Anselmus wandert durch eine eigenartige Innenlandschaft: „[A]us dem tiefen Dunkel dicker Zypressenstauden blickten Marmorbecken hervor, aus denen sich wunderliche Figuren erhoben, Krystallenstrahlen hervorspritzend, die plätschernd niederfielen in schimmernde Lilienkelche […].“20 Wie die Wirklichkeit verfasst ist, die dieser Satz beschreibt, der so souverän auf der Grenzscheide metaphorischen und nichtmetaphorischen Sprechens balanciert,21 bleibt rätselhaft. Gibt es in Lindhorsts paradis artificiel gläsern-kristallene

18 Ebd. 19 Diese Türklopfer-Riesenschlange, die das kleine Schlänglein ‚bewacht‘, ist auch nur eine andere Serpentina – monströs vergrößert, nicht jungfräulich harmlos, sondern verschlingend mütterlich-chthonisch. 20 Hoffmann, „Der goldene Topf“, S. 270. 21 Vgl. L.C. Nygaard, „Anselmus as Amanuensis: The Motif of Copying in Hoffmann’s ‚Der goldne Topf‘“, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies, 19/1983, 2, S. 79–104, hier S. 94.

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Fontänen, die auf Marmorbecken drapiert sind – oder meint der Text Wasserstrahlen klar wie Kristall? Werden diese aufgefangen durch Blumenkelche – oder ist von Marmorbecken, die die Form von Lilienkelchen haben, die Rede? Mutiert der Archivarius, der bisweilen ja auch als Geier aufzutreten beliebt, in einen Feuerlilienbusch22 – oder sitzt der Leser, der solches imaginiert, nur einer optischen Täuschung des Anselmus’ oder einer Metonymie auf, in der die Feuerlilien des Lindhorst’schen Schlafrocks für die Person einstehen? Wie bewusst der Text den literalen gegen den figurativen Sinn ausspielt, wird auch in der achten Vigilie deutlich, in der Anselmus Zugang zum Allerheiligsten des Lindhorst’schen paradis artificiel, zur „Bibliothek der Palmbäume“,23 erhält. Hier werden „Spottvögel“24 zu wirklichen Vögeln, Pergamentblätter zu wirklichen, zu smaragdgrünen Palmenblättern, ‚subvertieren‘ Signifikanten also die konventionell festgelegte ‚übertragene‘ Bedeutung. Der ‚Textsinn‘ ist nicht ausgerichtet auf privilegierte Signifikate, sondern orientiert sich an den Signifikantenketten, an der Materialität der Zeichen. Das Märchen gibt sich also im emphatischen Sinne als Kunstpoesie zu erkennen – als Poesie, die auf ihre Faktur, ihren Fiktionscharakter, ihre effektberechnete Theatralität und ihre materiale Bedingtheit referiert. Textereignis wird eine Wirklichkeit, die nicht Reales referentiell abbildet, sondern die sich als virtuelle statuiert, deren Struktur eine sprachgeborene ist. Hoffmann spielt mit dem Signifikantenmaterial, überführt uneigentliches in eigentliches Sprechen, führt – auf eine an Kleist erinnernde Weise – Entmetaphorisierungen von Metaphern vor. So lässt er – mit stupender und nicht zu schlagender Logik – den Bruder des Archivarius Lindhorst unter die Drachen gehen, weil es ihn – so sagt der Text – „wurmt[.]“,25 dass der bereits tote Vater ihn die Treppe hinunterwirft. Wenn die Herrschaft des Signifikats über den Signifikanten aufgehoben ist, wenn die Gesetze der Traumsprache und Traumlogik, die diese Hierarchie auch subvertieren, übernommen werden, wenn Sprache auf ihre eigene Materialität referiert, dann wird der, der durch etwas ‚gewurmt‘ wird, eben zum Drachen, zum Lindwurm. Die Folgen dieser ‚Literalisierungsstrategie‘ sind weitreichende. Sollte der Rekurs auf ‚Buchstäblichkeit‘ dem „Goldenen Topf“ tatsächlich eingeschrieben sein, dann bedeutet das, dass die Textvisionen der paradis artificiels, zu denen auch Atlantis gehört, nicht ‚platonisch‘ strukturiert sind, nicht den Blick frei geben auf eine Wahrheit, die hinter und jenseits des bloß Wirklichen zu finden ist, dass sie

22 „In dem Augenblick schritt der Feuerlilienbusch auf ihn [Anselmus] zu und er sah, daß es der Archivarius Lindhorst war, dessen blumigter in Gelb und Rot glänzender Schlafrock ihn nur getäuscht hatte.“ Hoffmann, „Der goldene Topf“, S. 270. 23 Ebd., S. 284. 24 Ebd., S. 287. 25 Ebd., S. 248.

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nicht eine ‚Idee‘ zur Erscheinung bringen, sondern dass sie sich an der ‚materialen‘ Struktur der Sprache entlangschreiben, im emphatischen Sinne Kunstpoesie sind. Atlantis wäre dann Fiktion im genuinen Sinne, würde durch Sprache nicht mehr abgebildet, sondern durch sie erst generiert, wäre mithin schein-haft. Dieser Scheincharakter, auf dem „Der goldene Topf“ beharrt und auf den er immer wieder verweist, wird manifest in den schon beschriebenen Strategien der Entontologisierung und Ästhetisierung, in der spielerisch angelegten Zitatstruktur des Textes, die den „Goldenen Topf“ als Literatur, die sich von Literatur herschreibt, kennzeichnet,26 als einen Text, dessen Wirklichkeitsbezug ein vermittelter, weil an Prä-Texten orientierter ist. Und der Schein ist greifbar auch als Widerschein des „Goldenen Topfs“. Das titelgebende Requisit ist natürlich auch ein Reflexionsmedium: im „Goldenen Topf“, der ein nobilitierter Nachttopf ist, spiegelt sich – überaus effektvoll – das Reich der Poesie, jenes „wundervolle[.] Reich, wie es jetzt im Einklang mit der ganzen Natur besteht, in blendendem herrlichen Widerschein“.27

III Gute und schlechte Musikanten – Ethik und Ästhetik Die in den Blick genommenen auf Effekt angelegten und opernhaft anmutenden Passagen (und für Broch ist ja auch die Oper eine Schwester des Kitsches), die ich – ich hätte zahlreiche andere Beispiele wählen können – dem „Goldenen Topf“ entnommen habe, fielen zweifellos unter das von Broch aufgestellte strenge Kitschverdikt (es wurde ja darauf hingewiesen, dass eine Figur des Hoffmann’schen Textes selbst eine Bewertung als „Schwulst“28 vornimmt – und Schwulst und Kitsch dürfen hier wohl synonym gesetzt werden). Wir haben es unstreitig mit ‚Imitationskunst‘ zu tun, mit Zitat, mit Übernahmen. Hoffmann leiht sich dezidiert nicht, wie Broch es für gute, für ‚echte‘ Kunst fordert, „seine Realitätsvokabeln […] unmittelbar [aus] der Welt“ (KW 9/2, 150). Er verwendet – wie Broch formuliert – „vorverwendete Vokabeln“ (KW 9/2, 150), die zum Klischee erstarrt sind. Aber er verwendet sie ästhetisch reflexiv, macht das Theatrale

26 Vgl. dazu auch Oesterle: „‚Der goldne Topf‘ ist ein ‚Buch, in dem es um die Fiktion der Bücher geht‘. E. T. A. Hoffmann läßt […] das Imaginäre ‚im Zwischenraum der Texte‘ entstehen, er läßt es sich ‚von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen‘ ausdehnen und ‚aus dem Intervall zwischen den Buchstaben hervorkommen‘.“ (Günter Oesterle, „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen ‚Der goldne Topf‘“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 1/1991, S. 69–107, hier S. 107) Kein Wunder also, dass einer der Zentralorte des Märchens eine Bibliothek ist. 27 Hoffmann, „Der goldene Topf“, S. 291. 28 Ebd., S. 246.

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als Theatrales durchsichtig, verfällt nicht dem Schein, sondern stellt ihn aus. Mit dem Broch’schen Kitsch-Begriff lässt sich das Hoffmann’sche Verfahren, auf das ein Blick geworfen wurde, um auch die Spätromantik vor dem Verdikt, das über sie gefällt wird, zu verteidigen, nicht angemessen beschreiben – auch weil Brochs kunsttheoretische Annahmen letztlich aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kommen und der Genieästhetik verpflichtet sind. Der Künstler als alter deus ist in seiner Konzeption keiner, dessen Texte auf die Archive eben jener Texte zurückgreifen, die ‚gewesen‘ und ‚erprobt‘ sind: Brochs Motto ist das make it new, dem auch der Modernismus verpflichtet ist. Parodistische, auf das auch subversive Potential von Zitaten setzende Verfahren, die der Iteration verpflichtet sind, vermag Broch nicht zu würdigen – ebensowenig eine Ästhetik, die der Verdinglichungsfalle gerade dadurch entgeht, dass sie reflexiv einholt, dass und wie sie auf Vorgaben bezogen ist, und dass sie Theatralität als Theatralität ausstellt. Er hält solche Verfahren für prekär, sie verweisen auf die „Repräsentanz des Bösen“: „Und gerade daß diese Triebbefriedigung mit endlichen und rationalen Mitteln erzielt wird, gerade dieses Pathetisieren des Endlichen zum Unendlichen, dieses Hinarbeiten auf das ‚Schöne‘ gibt dem Kitsch jenen Anstrich der Unwahrhaftigkeit, hinter der man das ethisch ‚Böse‘ ahnt“ (KW 9/2, 153). Brochs Privilegierung der Ethik vor der Ästhetik, genauer: seine Behauptung, dass Kunst nur dann nicht in den Kitsch abdrifte, wenn die Zielvorgabe eine ethisch gute sei, mutet integer an, ist – wie wir wissen – aber auch heikel. Peter von Matt hat vor einigen Jahren einen Essay vorgelegt, „‚Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!‘ Über die biographische Falle im Umgang mit der Literatur“,29 in dem er das Problem, das auch Broch umtreibt, in einer Verschiebung auf das Biographische in den Blick nimmt. Von Matt thematisiert einen Ausruf der Hoffmann’schen Künstlerfigur Kreisler:30 „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten“. [D]ie Brisanz der Wendung [wird] sofort klar. Sie stellt einen Gegensatz auf, in dem eine Unterstellung steckt. Die rein additive Verbindung zweier Aussagen: „Ihr seid gute Leute, und ihr seid schlechte Musikanten“, drängt sich uns durch die pointierte Knappheit als kausale Verknüpfung auf: „Ihr seid gute Leute, deshalb seid ihr schlechte Musikanten!“ Damit aber liegt die Behauptung in der Luft, ein guter Mensch könne nie ein großer Künstler sein. Zu einem großen Künstler brauche es einen Einschlag von – ja was nun? – Schuftigkeit? Gaunerei? Niedertracht? Verbrecherseele sogar? – auf jeden Fall ein moralisches Zwielicht.

29 Peter von Matt, „‚Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!‘ Über die biographische Falle im Umgang mit der Literatur“, in: Ders., Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur, München 2007, S. 239–247. 30 Kreisler zitiert in diesem Zusammenhang (allerdings nicht wörtlich) Clemens Brentanos „Ponce de Leon“.

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Dagegen könnte man zunächst einwenden, die Grußformel: „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!“ unterstelle keineswegs, daß jeder gute Künstler irgendwo Dreck am Stecken haben müsse. Denn indem auch die Kontrastformel darin stecke: „Ihr schlechten Leute und guten Musikanten!“, besage sie höchstens, daß auch ein bedenklicher Charakter glänzende Kunst hervorbringen könne. Das aber wird man doch wohl noch sagen dürfen. Darf man es wirklich? Gibt es nicht gerade hier schwere Einwände?31

Von Matt führt im Folgenden Einwände an, wie sie etwa von Paul Celan formuliert wurden (er hätte auch Hermann Broch anführen können), um dann doch die Engführung von Ethik und Ästhetik am Beispiel der Mann-Brüder in Frage zu stellen. Er fokussiert den Streit zwischen dem republikanisch-liberalen, Frankreich-freundlichen Heinrich Mann und dem politisch gegenläufig ausgerichteten Thomas Mann: Thomas [Mann] las Heinrichs Essay über Zola von 1915 als persönlichen Angriff und geriet darüber in einen Furor, der drei Jahre dauerte und zu einem Buch von 611 Seiten führte, den „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Es ist ein glänzendes und abscheuliches Buch. Nie hat ein reaktionärer Kopf besser geschrieben. Ein guter Musikant ohne Zweifel. Man zieht den Hut und knirscht mit den Zähnen. Damit stecken wir wieder mitten im Problem. Wir geben heute dem Heinrich Mann des Zola-Essays in umfassendem Sinne recht und dem Thomas Mann der „Betrachtungen“ ebenso entschieden unrecht, aber daß beide gerade auch in diesen Texten große Künstler sind, daran ist nicht zu rütteln. Und wenn wir die Entwicklung Thomas Mann [sic] im Anschluß an die „Betrachtungen“ genau studieren, dann dämmert uns, daß die Raserei gegen den Bruder, die alle stilistischen und intellektuellen Reserven forderte, zur unabdingbaren Voraussetzung wurde für seinen größten Roman, „Der Zauberberg“. Genau dieses Duell nämlich inszenierte er dort als Komödie der politischen Philosophie. Die homerische Redeschlacht zwischen den gleichermaßen zwielichtigen Figuren Naphta und Settembrini wurde zu einem hinreißenden Schauspiel, in dessen Hintergrund sich der Autor selbst schattenhaft abzeichnete – nun aber nicht mehr als präfaschistischer Berserker, sondern wie ein ironischer Gott, der seine Marionetten spielen läßt. Der Weg zum Kunstwerk ist offenbar verschlungen. Er führt durch Höhlen und Sümpfe, über Grate und Gletscherfelder, durch fauliges Dunkel und grelles Licht. Landkarten gibt es dafür keine. Und am Ende weiß der Künstler selbst nicht mehr, wo er sich überall herumgetrieben hat.32

Indem Broch (anders als von Matt) keinerlei Spielräume für die Verhandlungen zwischen Ethik und Ästhetik einräumt – eine Haltung, die angesichts der politischen Situation, in der Broch 1933 seine Kitschtheorie entwirft, verständlich ist

31 Von Matt, „‚Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!‘“, S. 240. 32 Ebd., S. 245 f.  

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und Respekt abnötigt –, verliert er – selbst dem Dogmatismus verfallend, den er dem Kitsch unterstellt – den Blick für Schattierungen. Ohnehin ist nicht immer leicht nachvollziehbar, warum er einzelne Texte so oder so in seinem dualen Kitsch-Kunst-System einordnet. So sieht er Eichendorffs Gedichte immer wieder in den Kitsch abdriften. Broch schreibt: [B]etrachten Sie etwa […] „Abendlandschaft“, deren erste sechs Zeilen: Der Hirt bläst seine Weise, Von fern ein Schuß noch fällt, Die Wälder rauschen leise Und Ströme tief im Feld. Nur hinter jenem Hügel Noch spielt der Abendschein – wohl zum Schönsten gehören, was an sparsamer Präzision je in deutscher Lyrik geleistet worden ist, und dieser Vollkommenheit werden zwei Zeilen nachgeschickt, die nichts als sentimental-läppische Volksliednachahmung sind, nämlich O hätt ich, hätt ich Flügel, Zu fliegen da hinein! Nur in ganz wenigen Gedichten, so in der „Reisesehnsucht“ oder im „Greisenlied“ gelingt es Eichendorff, sein kosmisches Niveau durchgängig zu bewahren; die meisten andern scheinen verdammt, an der Sentimentalitäts-Klippe ihrer letzten Zeilen zu scheitern und zur Kitschgrenze abtreiben zu müssen. (KW 9/2, 161)

Eichendorff hat weder (darauf hat bereits Paul Michael Lützeler in seinem Anmerkungsapparat in der „Kommentierten Werkausgabe“ Brochs hingewiesen [vgl. KW 9/2, 173]) ein Gedicht „Reisesehnsucht“ noch ein Gedicht „Greisenlied“ verfasst. Mit „Reisesehnsucht“ gemeint ist wohl Eichendorffs „Sehnsucht“, dessen erste Strophe lautet: Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab’ ich mir heimlich gedacht: Ach wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht!33

33 Die beiden weiteren Strophen des Eichendorff’schen Gedichtes lauten: „Zwei junge Gesellen gingen / Vorüber am Bergeshang, / Ich hörte im Wandern sie singen / Die stille Gegend entlang: /

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Warum der Reisewunsch des sprechenden, des lyrischen Ichs in der ersten „Sehnsucht“-Strophe nicht unter das Kitsch-Verdikt fällt, der des Ichs in der „Abendlandschaft“ dagegen schon, ist mir unerfindlich – und das mag darauf hinweisen, dass Brochs Beispiel kritisch zu diskutieren ist (erinnert sei an das für Pornographie und Kitsch gleichermaßen geltende Axiom: schwer zu definieren, aber leicht zu erkennen). Die Sehnsucht des „Abendlandschaft“-Ichs, zu fliegen, lässt sich auch beziehen auf die Flugphantasie in Eichendorffs berühmtestem Gedicht „Mondnacht“: Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blüten-Schimmer Von ihm nun träumen müßt’. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.34

„Mondnacht“ unterlegt der die Berührung von Immanenz und Transzendenz beschwörenden Naturschilderung antike Mythologie, die Hochzeit von Gaia und Uranos. Und die christlich gedachte Seele spannt ihre Flügel aus – und mit einem seiner berühmten Konjunktive rückt Eichendorff das ‚Nach-Haus-Fliegen‘, die Rückkehr ins Paradies der Kindheit, ins schlesische Lubowitz und ins Haus des christlichen Vater-Gottes, ins Als-ob, das schon die erste Strophe bestimmt: „Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt“. Mit demselben Konjunktiv markiert ist nun jener – von Broch als kitschig gegeißelter – Wunsch des Ichs, Flügel zu haben. Der Wunsch, die Sehnsucht, kennzeichnet sich mithin als

Von schwindelnden Felsenschlüften, / Wo die Wälder rauschen so sacht, / Von Quellen, die von den Klüften / Sich stürzen in die Waldesnacht. // Sie sangen von Marmorbildern, / Von Gärten, die über’m Gestein / In dämmernden Lauben verwildern, / Palästen im Mondenschein, / Wo die Mädchen am Fenster lauschen, / Wann der Lauten Klang erwacht / Und die Brunnen verschlafen rauschen / In der prächtigen Sommernacht. –“ Joseph von Eichendorff, „Sehnsucht“, in: Werke in sechs Bänden, Gedichte, Versepen, Bd. 1, Hartwig Schultz (Hrsg.), Frankfurt am Main 1987, S. 315. 34 Joseph von Eichendorff, „Mondnacht“, in: Werke in sechs Bänden, Gedichte, Versepen, Bd. 1, Hartwig Schultz (Hrsg.), Frankfurt am Main 1987, S. 322 f.  

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Wunsch, als Sehnsucht. Dass an die Erfüllung dieser Sehnsucht nicht zu denken ist, wissen sowohl sprechendes Ich als auch die Leser des Gedichts. Broch schätzt die ersten sechs Verse von „Abendlandschaft“ im Gegensatz zu den letzten beiden Zeilen (sie gehörten, wie bereits zitiert, „zum Schönsten […], was an sparsamer Präzision je in deutscher Lyrik geleistet worden ist“ [KW 9/2, 161]). Diese Verse begreift er wohl deshalb als ‚künstlerisch‘, weil sie ObjektivLebensweltliches zur Darstellung bringen, die „Realitätsvokabeln […] unmittelbar der Welt entnehmen“ (KW 9/2, 150) und nicht auf „vorverwendete Vokabeln“ (KW 9/2, 150) setzen und damit im „Imitationssystem“ (KW 9/2, 147) gefangen sind.35 Dieser Eindruck des Objektiv-Lebensweltlichen aber täuscht. Eichendorffs Gedichte, auch seine „Abendlandschaft“, beziehen sich zwar zweifellos auch auf „Welt“, die Eichendorff-Forschung hat aber mit Akribie herausgearbeitet, dass der Beschreibungsapparat, den der Dichter verwendet, aus einem Bausatz an Topoi, eben jenen „vorverwendete[n] Vokabeln“, besteht, die Eichendorff in endlosen Variationen immer wieder neu arrangiert und neu komponiert. Immer rauschen die Wälder und sprudeln die Quellen. Die Eichendorff’sche ‚Natur‘ ist – das hat Helmut Koopmann einlässig beschrieben36 – seriell verfasst, sie ist eine

35 Möglicherweise greift Broch mit seiner Wendung gegen das „Imitationssystem“ Überlegungen auf, die Karl Kraus in seinem wirkmächtigen Essay „Heine und die Folgen“ anstellte. „Heine und die Folgen“ wurde zuerst 1910 veröffentlicht (und erschien 1911 dann in der „Fackel“). Karl Kraus wirft Heine vor, eine (auf das Erbe der Romantik rekurrierende) Lyrik zu präsentieren, die nur noch aus Versatzstücken bestehe: „Aber man mache den Versuch, im aufgeschlagenen ‚Buch der Lieder‘ die rechte und die linke Seite durcheinander zu lesen und Verse auszutauschen. Man wird nicht enttäuscht sein, wenn man von Heine nicht enttäuscht ist. Und die es schon sind, werden es erst recht nicht sein. ‚Es zwitscherten die Vögelein – viel’ muntere Liebesmelodein.‘ Das kann rechts und links stehen. ‚Auf meiner Herzliebsten Äugelein‘: das muß sich nicht allein auf ‚meiner Herzliebsten Mündlein klein‘ reimen, und die ‚blauen Veilchen der Äugelein‘ wieder nicht allein auf die ‚roten Rosen der Wängelein‘, überall könnte die Bitte stehen: ‚Lieb Liebchen, leg’s Händchen aufs Herze mein‘, und nirgend würde in diesem Kämmerlein der Poesie die Verwechslung von mein und dein störend empfunden werden. Dagegen ließe sich etwa die ganze Lorelei von Heine nicht mit dem Fischer von Goethe vertauschen, wiewohl der Unterschied scheinbar nur der ist, daß die Lorelei von oben auf den Schiffer, das feuchte Weib aber von unten auf den Fischer einwirkt.“ Karl Kraus, „Heine und die Folgen“, in: Schriften, Untergang der Welt durch schwarze Magie, Bd. 4, Christian Wagenknecht (Hrsg.), Frankfurt am Main 1989, S. 185–210, hier S. 197 f. 36 „[…] Eichendorff praktiziert serielle Kunst. Oder wie wollen wir das Phänomen anders bezeichnen, das uns nicht nur in seiner Lyrik häufiger begegnet? Die gleiche Landschaft taucht in verschiedenen Gedichten auf, mit fast den gleichen Worten. Strophen sind ohne weiteres austauschbar; denn sie besagen das Gleiche. Natürlich hat Eichendorff nicht fünfmal das gleiche Gedicht auf eine wirkliche Szenerie hin geschrieben, aber dennoch spiegelt sich die gleiche Szenerie sehr viel mehr als fünffach in seinen Gedichten. Man wird nicht von einer einzigen Ideallandschaft sprechen können, aber einige dieser Landschaften tauchen fortwährend auf, so daß schon der Eindruck einer seriellen Darstellungskunst aufkommen kann; denn eines fehlt  

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Natur ‚zweiter Ordnung‘, gehörte insofern als Musterbeispiel in das Broch’sche „Imitationssystem“. Brochs Hochschätzung der ersten sechs Zeilen der „Abendlandschaft“ beruht also auf einem Missverständnis, nähme er die auf Serialität setzende Faktur der Eichendorff’schen Verse wahr, müsste er sie als zum „Imitationssystem“ gehörig verdammen – nicht erst die letzten beiden Verse des Gedichts ließen sich als Sündenfall des Kitsches identifizieren. Der Kitsch wäre dem Gedicht von der ersten Zeile an inhärent, das Gedicht gehörte von der ersten Zeile der Sphäre des Kitsches an.

IV Kitsch, Kunst und Autoaggression Vielleicht ist es – auch im Anschluss an diese Überlegung – also weniger sinnvoll, Kitsch (wie Broch es propagiert) als ontologische Kategorie zu begreifen. Vielmehr sollte man ihn als Wertungsdiskurs verstehen, wie es neuere Arbeiten – genannt sei nur die wichtige Studie von Julia Genz – vorschlagen. Genz spricht von Diskursen der leichten Zugänglichkeit, zu denen der Kitschdiskurs – wie auch der Banalitätsdiskurs, der Trivialitätsdiskurs und der Schunddiskurs – gehöre. Verweist der Kitsch im Feld des Ästhetischen auf sein Gegenteil, die Kunst, ist als Opposition des Banalen im Feld des Sozialen die Exklusivität auszumachen. Die Trivialität zeigt auf ihr anderes im Feld des Kognitiven, Intellektuellen, sie referiert auf die Komplexität. Und die Rede vom Schund und Schmutz ist moralisch motiviert und hat die Reinheit im Visier.37 Für Broch ist ‚Kitsch‘ der Begriffsmantel, der das Triviale, das Banale und auch den Schund inkludiert. Und dieser Kitsch, der für ihn „zum überwiegenden Teil aus jener Geisteshaltung [kommt], die wir als die romantische erkennen“ (KW 9/2, 162), steht für ihn nicht für leichte Zugänglichkeit, sondern – davon war eingangs die Rede – für das „Böse im Wertsystem der Kunst“ (KW 9/2, 119). Beeindruckend ist der Furor, mit dem Broch für die Reinheit der Kunst kämpft. Der Kunsttheoretiker Broch lässt nicht mit sich handeln: Seine Verteufelung des Kitsches ist nicht nur metaphorisch. Zu oft wiederholt sich die Rede vom AntiChrist, um ihr nicht zu glauben: Der Kitsch ist das Böse schlechthin. Mag man den Zugriff auf ‚Kitsch‘, den Broch wählt, mit Fragezeichen versehen, mag man darauf verweisen, dass die Position einer Hochmoderne wohl historisch geworden ist – zumindest auch diesen Landschaften: Individualität.“ Helmut Koopmann, „Serielles in Eichendorffs Lyrik?“, in: Michael Kessler/Helmut Koopmann (Hrsg.), Eichendorffs Modernität. Akten des internationalen, interdisziplinären Eichendorff-Symposions 6.–8. Oktober 1988, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Tübingen 1989, S. 81–96, hier S. 82. 37 Vgl. Genz, Diskurse der Wertung, S. 89.

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einer Hochmoderne, die Ästhetik und Ethik rigoros in eins setzt, deren kunsttheoretische Vorannahmen, etwa über die Verwerflichkeit der ‚Imitation‘, des Rekurses von kulturellen Objektivationen nicht auf die „Welt“ (KW 9/2, 150), sondern auf das ästhetische System, in Zweifel gezogen werden können –, so nötigt die Entschiedenheit, mit der Broch auf seiner Axiomatik beharrt, auch Bewunderung ab – neben dem auch ausgelösten Schrecken ob des demonstrierten Dogmatismus. Hingewiesen sei auf das ‚autoaggressive‘ Element, das Brochs Kitschdiskurs durchzieht: Wenn es keine Kunst „ohne einen Tropfen Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch“ (KW 9/2, 150) gibt, dann ist noch die beste Kunst – und auch Brochs eigene Kunst – von dem infiltriert, was als das absolut Böse vor Augen gestellt wird: Sie ist – zumindest ein wenig – kitschig. Und gerade die Broch’schen Essays (darauf hat nachdrücklich Marion Schmaus hingewiesen38) – unter denen insbesondere auch die Broch’schen Essays, die den Kitsch ins Visier nehmen – rekurrieren auf dessen ‚melodramatische‘, manichäische Darstellungsformen, operieren mit strikten Schwarz-weiß- und Böse-gut-Schemata: In dieser Perspektive wären die gegen den Kitsch anschreibenden Essays selbst kitschig. Was Brochs Blick auf die Romantik angeht, so ist sicherlich zu konzedieren, dass Broch noch nicht auf Theodor W. Adornos das Feld gänzlich neu vermessenden Eichendorff-Aufsatz zurückgreifen konnte, der erst nach den hier behandelten Beiträgen zum Zusammenhang von Kitsch und Romantik 1958 publiziert wurde (Brochs spätester hier in den Blick genommener Beitrag stammt aus dem Jahr 1950).39 Angesichts der historischen Situation in den dreißiger Jahren und auch im Nachkriegsdeutschland lässt sich Brochs verzweifelter Versuch, die Ästhetik politisch und moralisch in Stellung zu bringen, nachvollziehen. Festzuhalten ist aber auch: Die Romantik, die Broch modelliert, um sie als ‚Mutter des Kitsches‘ (vgl. KW 9/2, 169) dingfest zu machen, ist eine Trivialromantik, die uns in den kanonischen Texten, seien es die der frühen oder die der späteren Romantiker, gerade nicht entgegentritt.

38 Vgl. den Beitrag von Marion Schmaus in diesem Band. 39 Theodor W. Adorno, „Zum Gedächtnis Eichendorffs“ [ursprünglich ein Vortrag zum hundertsten Todestag im Westdeutschen Rundfunk, November 1957, erschienen in den Akzenten, 1958, 1], in: Ders., Noten zur Literatur, Berlin/Frankfurt am Main 1958, S. 105–143.

Marion Schmaus, Marburg

Hermann Brochs melodramatische Imagination Von Hermann Brochs melodramatischer Imagination zu sprechen, stellt insofern ein Wagnis dar, als der Autor selbst, soweit aufgrund der digitalen Ausgabe seiner Werke erkennbar,1 das Begriffsfeld des Melodramatischen nicht verwendet. Warum es trotzdem sinnvoll sein kann, insbesondere das essayistische Werk Brochs vor diesem Hintergrund wahrzunehmen, möchte der folgende Beitrag in drei Argumentationsschritten konturieren. Einleitend gilt es, den Begriff und den Diskurs zur melodramatischen Imagination knapp vorzustellen, bevor unter den Vorzeichen ‚Kitsch und Schund‘ und ‚Kippfiguren: Melodramatisches zweiter Stufe‘ Umrisse von Brochs melodramatischer Imagination skizziert werden sollen. Einerseits lässt sich zeigen, dass bei Broch Melodramatisches kulturkritisch und -diagnostisch zum Einsatz kommt; andererseits lässt es sich symptomatisch auf Brochs essayistisches Werk beziehen. Seine Schriften weisen in ihrem Adressatenbezug, ihrer Rhetorik und ihrer Zeitbezogenheit eine besondere Nähe zu einem theatralischen, spezifischer noch zu einem melodramatischen Modus auf. Mit dem Begriff der ‚melodramatischen Imagination‘ ist eine kulturdiagnostische Kategorie aufgerufen, die in Theoriedebatten der Literatur- und Filmwissenschaft der 1970er Jahre2 geprägt worden ist und in diesem Jahrhundert, gerade auch im Hinblick auf die erneut verstärkte Melodramenproduktion im Film, etwa bei Lars von Trier oder Pedro Almodóvar, an Aktualität gewonnen hat. Dass diese Begrifflichkeit allerdings auch für die Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ausgehenden 1920er und 30er Relevanz beanspruchen kann, sei

1 Vgl. Hermann Broch, Das essayistische Werk und Briefe. Kommentierte Werkausgabe, Paul Michael Lützeler (Hrsg.), ebook. 2 Siehe hierzu vor allem Thomas Elsaesser, „Tales of Sound and Fury: Observations on the Family Melodrama“, in: Monogram, 4/1972, S. 2–15, in Erweiterung wiederabgedruckt: „Tales of Sound and Fury“. Anmerkungen zum Familienmelodram, in: Christian Cargnelli/Michael Palm (Hrsg.), Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Wien 1994, S. 92–128; Peter Brooks, „The Melodramatic Imagination“, in: Partisan Review, 39/1972, S. 195–212, in Erweiterung wiederabgedruckt: „Die melodramatische Imagination“, in: Cargnelli/ Palm (Hrsg.), Und immer wieder geht die Sonne auf, S. 34–63; Peter Brooks, The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven/London 1976.

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kurz angedeutet. So taucht der Begriff des „Monodram“,3 der seit dem 18. Jahrhundert geläufige, alternative Begriff für Melodrama,4 bei Arthur Schnitzler im Kontext von Überlegungen zur Dramatisierung und Verfilmung seiner Novelle „Fräulein Else“ auf. Er macht damit auf eine doppelte Präsenz des Melodramatischen in diesem Text aufmerksam. Zum einen in Gestalt einer Literatur- und Kulturkritik, wenn das Rezeptions- und Lektüreverhalten der Protagonistin ihren imaginären Weltfluchten Vorschub leistet: u.a. spielt hier Massenets Oper „Manon“ (1884) eine Rolle. Der Text lässt mit dem eingelassenen Partiturzitat aus Schumanns Klavierzyklus „Carnaval“ (op. 9) das Melodramatische allerdings auch als intermediale Figur in Erscheinung treten,5 wo Elses öffentliche Stimme versagt, tritt die Musik als Ausdrucksmittel für sie ein. Und auch in Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“-Komplex taucht das Melodramatische vielgestaltig auf: als musikdramatisches Genre in Brecht/Weills „Dreigroschenoper“ in Gestalt des Sprechgesangs des „Mond über Soho“, als pejorativer Begriff für das ‚private Abbauprodukt‘ der Kunst im „Dreigroschenprozeß“ und schließlich als zitiertes filmisches Melodrama, das sentimentalen Inhalt mit ästhetischer Innovation verbindet.6 Arnold Schönberg wäre als wichtiger Vertreter der modernen Musik zu nennen, dessen gesamtes Werk von der Auseinandersetzung mit dem Melodram durchzogen ist, angefangen von den frühen Stücken „Erwartung“ (1909), „Die glückliche Hand“ (1910/13) über den „Pierrot Lunaire“ (1912) bis zu „Moses und Aron“ (1923/37). Im letztgenannten Werk ist der melodramatische Sprechgesang Moses zugeordnet, der im Gegensatz zu seinem eloquent-singenden Bruder Aron von sich sagt: „Meine Zunge ist ungelenk: ich kann denken, aber nicht reden.“7 Seinem „verzweifelten Pathos des Nichtsagenkönnens“ ist das „im Pathetischen wurzelnde melodramatische Sprechen“8 ganz gemäß. An seine Ausdrucksgren-

3 Arthur Schnitzlers Tagebuchnotiz vom 9. Juli 1924 wird zit. nach: Evelyne Polt-Heinzl (Hrsg.), Erläuterungen und Dokumente. Arthur Schnitzler Fräulein Else, Stuttgart 2002, S. 39. Siehe im Weiteren ebd., S. 59–66. 4 Vgl. hierzu Wolfgang Schimpf, „Melodrama“, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2, Berlin 2000, S. 558–562. 5 Siehe hierzu Martin Huber, Text und Musik. Musikalische Zeichen im narrativen und ideologischen Funktionszusammenhang ausgewählter Erzähltexte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u.a. 1992, S. 78–91. 6 Vgl. Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1985–2000, Bd. 21, S. 486; Bd. 16, S. 287 f., S. 347 f. 7 Arnold Schönberg, Moses und Aron. Oper in drei Akten, Mainz 1957, S. 5. 8 Ulrich Kühn, Sprech-Ton-Kunst. Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel und Musiktheater (1770–1933), Tübingen 2001, S. 298.  



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zen bringt Schönberg das Melodram schließlich in seinem „Survivor from Warsaw“ (1947), wo die deutsche Sprechstimme des Ghetto-Aufsehers gegen den Chor der Überlebenden und ihr „Shema Yisroel“ geführt wird. In der Aktualität melodramatischer Imagination in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen Pejoratives und Reflexiv-Intermediales eine bis zur Unteilbarkeit gehende Verbindung ein und weisen auf eine für die melodramatische Imagination charakteristische Kippfigur, die seit ihrem Anfang mit Rousseaus „Pygmalion“ bis zur Gegenwart relevant bleibt. Das zwischen Symptom und Diagnose changierende Melodramatische und Brochs kulturkritische Essays lassen sich durchaus in einen produktiven Dialog bringen. Vorab seien die zentralen Elemente benannt, die sich im Diskurs über melodramatische Imagination verdichten, denn sie werden den Fortgang der Argumentation strukturieren: Wahrnehmung der Kunst unter dem Vorzeichen des Moralischen, ein besonderes Augenmerk auf die modernen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kunst – Stichworte sind hier Populär-, Massen- bzw. Industriekunst, und schließlich eine intermediale Reflexion auf das Zusammenoder Gegenspiel der Künste, insbesondere im Hinblick auf die Verbindung von Wort und Musik.

I Melodramatische Imagination Zunächst seien die Konturen der Diskussion zur melodramatischen Imagination vorgestellt, wie sie von Peter Brooks, Thomas Elsaesser und jüngeren Datums von Hermann Kappelhoff geführt wurde.9 Das Melodrama entwickelt sich im 18. Jahrhundert als eine populäre Bühnengattung, die sich vor allem durch ihre klare rezeptionsästhetische Ausrichtung, die Rührung, respektive den Tränenfluss ihres Publikums profiliert. Zentrale Merkmale des Genres: Intermedialität, antithetische Plot-Struktur, typisierte Darstellung, zeichenhafter Exzess, Serialität und nicht zuletzt der Austausch zwischen verschiedenen Nationalliteraturen, sind an dieser beabsichtigten affektiven und moralischen Wirkung ausgerichtet. Wenn in Deutschland von Melodrama, in Frankreich von mélodrame und in England und Amerika von melodrame gesprochen wird, so verweisen die Begriffe auf unterschiedliche Genres und Textformen. In Deutschland ist laut Wolfgang Schimpfs Artikel im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ unter Melodrama eine: „[d]ramatische Kleinform“ zu verstehen, „deren Textstruktur durch die

9 Vgl. Hermann Kappelhoff, Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004.

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intendierte Verbindung von gesprochener Sprache und Instrumentalmusik geprägt ist.“10 Die Wortbedeutung des Kompositums aus Melos (Lied) und Drama (Handlung) ist in Deutschland in einer eigentümlich orthodoxen Ausprägung durch die von Schimpf vorgestellte Kurztragödie mit Instrumentalmusik realisiert worden. Schimpfs Artikel kennt allerdings auch die weite internationale Begriffsbestimmung, die abgrenzend angeführt wird: Nicht zu verwechseln mit dem hier umrissenen Gattungstypus des musikalischen Melodramas sind gesprochene Rühr- und Spektakelstücke des 19. Jahrhunderts, die sich unter dem Terminus mélodrame bzw. melodrame in der französischen und englischen Literatur fest etablierten.11

Die hier angesprochene Verwechselung wird im Folgenden mit dem gattungsübergreifenden Begriff einer melodramatischen Imagination programmatisch vorgenommen. Es gilt den germanistischen Spezialdiskurs zum Melodrama komparatistisch und intermedial zu erweitern und an eine rege anglistisch-amerikanistische und filmwissenschaftliche Debatte anzuschließen.12 Peter Brooks Begriffsprägung der melodramatischen Imagination kann hier als Leitfaden dienen. Er fasst das Melodramatische abgelöst von einem bestimmten Kunstgenre als eine moderne kulturelle Praxis der Weltwahrnehmung und -darstellung auf, die sich verschiedener Medien bedienen kann. Ähnlich den Begriffen Barock und Romantik wird „das Melodram als eine Konstante der Imagination und der literarischen Modi betrachte[t]“.13 Es handelt sich um ein „Modell der Bedeutungsproduktion für die literarische Dramatisierung der menschlichen Existenz“.14 Dieser Modus wird kulturhistorisch genauer konturiert, denn das Melodramatische wird im Zeitalter von Aufklärung und Französischer Revolution als säkularisierte Aus-

10 Schimpf, „Melodrama“, S. 559. 11 Ebd., S. 559. 12 Die Produktivität dieses Ansatzes dokumentiert sich in den in jüngster Zeit publizierten Beiträgen und Tagungsbänden zum Thema, siehe: Bettine Menke/Armin Schäfer/Daniel Eschkötter (Hrsg.), Das Melodram: Ein Medienbastard..., Berlin 2013; Scott Loren/Jörg Metelmann (Hrsg.), Irritation of Life. The Subversive Melodrama of Michael Haneke, David Lynch and Lars von Trier, Marburg 2013; dies. (Hrsg.), After the Tears. Victimhood and Subjectivity in the Melodramatic Mode, Amsterdam (im Erscheinen); Marion Schmaus (Hrsg.), Melodrama – Zwischen Populärkultur und Moralisch-Okkultem. Komparatistische und intermediale Perspektiven, Heidelberg (im Erscheinen); dies.: „Zur Genese melodramatischer Imagination. Englisch-Deutscher Tauschhandel im Zeichen der Rührung bei George Lillo, Friedrich Ludwig Schröder und August von Kotzebue“, in: Sigrid Nieberle/Claudia Nitschke (Hrsg.), Dramen-Wirtschaft. Deutsch-englische Intertexte im 18. Jahrhundert, Berlin 2014. 13 Brooks, „Die Melodramatische Imagination“, S. 51. 14 Ebd., S. 50.

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drucksform eines „Moralisch-Okkulten“ verortet. Dieses „Moralisch-Okkulte“ ist ein „Sammelplatz fragmentarischer und profanierter Überbleibsel sakraler Mythen.“15 Im melodramatischen Modus überleben die zentralen moralischen Polarisierungen von Gut und Böse, nachdem der lange Zeit herrschende religiöse Deutungsrahmen seine Legitimation verloren hat. Der religiöse Mythos als Weltbild der Tragödie dankt in der Moderne zugunsten einer diffusen Sphäre des MoralischOkkulten ab, das sich vorrangig im Melodrama artikuliert. „Der Begriff scheint […] notwendig zu sein, da er wie kein anderer auf einen Modus höchster Emotionalität und heftiger ethischer Konflikte verweist“,16 so Brooks. Exzesshafter Inhalt und Ausdruck versinnbildlichen, was mit dem Melodrama auf dem Spiel steht, nämlich die größten Fragen der menschlichen als einer moralischen Existenz. Diese kulturhistorische Verortung der melodramatischen Imagination findet im ersten Melodrama, in Rousseaus „Pygmalion“, 1762 und damit im selben Jahr entstanden wie der „Contrat social“, einen Anhaltspunkt. Bei Rousseau wird gut aufklärerisch der religiöse Bezug weitgehend gekappt. Zwar ist noch von „Göttern“ die Rede, allerdings werden auch diese als Menschenwerk analysiert. Wenn hier noch etwas angerufen wird, so handelt es sich um abstrakte Prinzipien wie die Natur. Pygmalions „rien ne nous écoute“, „niemand und nichts hört uns“17 ist Vorbote der von Georg Lukács als Kennzeichen der Moderne benannten „transzendentalen Obdachlosigkeit“.18 Hermann Brochs Diagnose der Moderne als „Wert-Vakuum“ (KW 9/1, 135 u.a.)19 kann hierzu in Bezug gesetzt werden, und auch die Datierung ist vergleichbar, lässt Broch die Moderne doch mit der Romantik beginnen. Das Melodramatische als moderne Ausdrucksform eines Moralisch-Okkulten drückt sich nach Brooks in der „Hingabe an heftige Gefühle“ aus: „eine moralische Polarisierung und Schematisierung, extreme Situationen, Handlungen und Seinszustände, unverhüllte Schurkerei, die Verfolgung der Guten und die letztendliche Belohnung der Tugend, eine schwülstige und extravagante Ausdrucksweise, düstere Verschwörungen, Spannung und atemberaubende Umschwünge.“20 Broch

15 Ebd., S. 39. 16 Ebd., S. 49. 17 Jean-Jacques Rousseau, Pigmalion. Monologue, o.O. 1772, S. 17. Jean-Jacques Rousseau, „Pygmalion“, in: Ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1989, S. 169–179, S. 176. 18 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied/Berlin 1971, S. 32. 19 In der Folge werden Hermann Brochs Werke zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe, hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Die Bandnummer und die Seitenzahl in Klammern folgen jeweils dem Zitat. 20 Brooks, „Die Melodramatische Imagination“, S. 47.

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spricht von einem ähnlichen Phänomen in Bezug auf die Romantik als ein „Fehlen von Mittelwerten“ (KW 9/2, 160). Die Dramatisierung arbeitet mit einfachen Mitteln, klaren Antithesen und Stereotypen. Gerade in dieser klaren Antithetik zeige sich der melodramatische Modus als ein „radikal demokratischer“.21 Und zwar zum einen im Hinblick auf seine Inhalte, denn im 19. Jahrhundert wendet sich die melodramatische Imagination sozialen Fragen, der Armenfrage, der Rassenproblematik etc. verstärkt zu. Als ein Beispiel für diese soziale, auch realistisch-dokumentarische Orientierung des Melodramas gilt „Uncle Tom’s Cabin“, auf das noch zurückzukommen sein wird. Zum anderen ist das Melodramatische aber auch in seinem „Bemühen, seine Darstellungen für alle eindeutig und klar lesbar zu machen“ „radikal demokratisch“.22 Aus rezeptionsästhetischer Warte arbeitet der melodramatische Modus mit Typischem und Klischiertem, um die angestrebte affektive Wirkung und die einfache Lesbarkeit des Stücks und durch dieses der Welt zu erzielen. Das Erkennen im Melodrama ist oft genug ein Wiedererkennen. Das Klischeehafte gehört also essentiell zur melodramatischen Wirkung. Das Melodrama erzielt seine Evidenz mit dem uns Vertrautesten, unseren klischierten ‚natürlichen‘ Gefühlen. Im 19. Jahrhundert diffundiert das im engeren Sinne Musik-Dramatische in andere Textformen. Im Hinblick auf Balzac und Dickens ist auf die Verbindung zwischen realistischem Erzählen und Melodrama hingewiesen worden,23 für den deutschen Sprachraum wäre eine solche Verbindung erst noch zu diskutieren. Begriffe wie Zeit- oder Sittengemälde werden im 19. Jahrhundert alternativ für das Melodramatische geführt und machen darauf aufmerksam, dass die melodramatische Imagination affirmativ oder kritisch der Mode, dem Zeitgeist, der Realität, dem Populären auf der Spur ist und sich strukturell über das Zitat, das Plagiat oder die Übersetzung konstituiert. Die theoretische Auseinandersetzung seit den 1970er Jahren entwickelt ein konstruktives Verhältnis zu ihrem Gegenstand, mit wenigen Berührungsängsten, was Unterhaltungskultur und Massenproduktion angeht. Sie geht den Versprechen nach, die in der Wortbedeutung des Kompositums aus Melos-Lied und Drama-Handlung liegen, dem ästhetischen einer Gleichberechtigung von Körpersprache, Musik und Dichtung sowie einem demokratischen einer Lesbarkeit der Welt und der menschlichen Existenz für alle. Dieser Form einer konstruktiven Zuwendung zum mit Melodrama bezeichneten Phänomenbereich steht Broch scheinbar diametral entgegen.

21 Ebd., S. 53. 22 Brooks, „Die melodramatische Imagination“, S. 53. 23 Vgl. Brooks, The Melodramatic Imagination; Tore Rem, Dickens, Melodrama, and the Parodic Imagination, New York 2002.

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II Kitsch und Schund Hermann Broch verwendet für ein pejoratives Verständnis des Melodramatischen alternative Begriffe, der prominenteste ist ‚Kitsch‘.24 Er bezeichnet, dem Autor zufolge, das funktionslose Schöne, das allein auf den ästhetischen Effekt berechnete. Weitere Begriffe, die sich dem Spektrum Melodrama in seinen Essays zuordnen lassen, sind: „Dekoration“ (KW 9/1, 46, 111 f.), „Operngroteske“ (KW 9/ 1, 68), falsches „Pathos“ (KW 9/1, 89), „Populärerzeugnis“ (KW 9/1, 246), „Industrieprodukt“ (KW 9/1, 247) und „Schund“ (KW 9/2, 39, 58 f., 237, 243). Die eindeutigen Beispiele für ein in schlechtem Sinne melodramatisches Machwerk sind allerdings rar gesät, so werden die Romane Hedwig Courths-Mahlers besprochen25 und „Uncle Tom’s Cabin“ sowie der Film im Allgemeinen26 und im Besonderen „Gone with the Wind“ (1939). Die weiteren diskutierten Beispiele sind nicht mehr so einfach zu fassen, denn sie scheinen bereits auf ein erweitertes Verständnis des Kitsches oder des Melodramatischen hinzuweisen, das dieses auch als produktiv fasst, als ein Grenzkunstwerk, dessen Negatives in Positives kippen kann. Hier wird mehrfach Zola genannt,27 das Gesamtkunstwerk Richard Wagners,28 auch Hofmannsthals Werke oder insgesamt die ganze Hofmannsthal’sche Existenz scheint einen solchen Grenzgang zu vollziehen.29 Und sogar der emphatisch gewürdigte James Joyce, dessen „Ulysses“ ein „Totalitätskunstwerk“ und darin „Spiegel des Zeitgeistes“ (KW 9/1, 65) sei, wird doch auch der „Neoromantik“ (KW 9/2, 229) geziehen. Damit wäre der letzte Alternativbegriff für Melodramatisches bei Broch benannt, nämlich ‚Romantik‘. Die Hinwendung des Wortes zur Musik assoziiert Broch tatsächlich mit dem Romantischen, etwa im Hinweis auf Wagners romantisches Gesamtkunstwerk – und dies sehr zu Recht, insofern die Rezeption von Rousseaus Melodram „Pygmalion“ tatsächlich über den Sturm und Drang, über Herder dann insbesondere in der musikalischen Poetologie der Romantik ihren Ausdruck findet. An Brochs Romantikverständnis zeigt sich die Spannweite seiner melodramatischen Imagination, die von kulturkritischer Negation bis zu kunstreflexiver, sprachkritischer Würdigung reicht. Doch damit wären wir bereits beim nächsten Argumentationsschritt.  



24 Siehe hierzu den Beitrag von Alice Stašková in diesem Band. 25 Vgl. W 9/2, 96 f., 103, 107, 112. 26 Vgl. KW 9/2, 107. 27 Vgl. KW 9/2, 97 f., 99 f. 28 KW 9/1, 140 f. 29 Der ausführlichen Schilderung dieses biographisch-schriftstellerischen Grenzganges ist das 2. Kapitel von „Hofmannsthal und seine Zeit“ (1947/48) gewidmet, vgl. KW 9/1, 175 f.  









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Zunächst wäre die Kulturdiagnose, die unter dem Vorzeichen Kitsch und Schund geführt wird, näher zu beleuchten und auf ihre Verwandtschaft mit dem Melodramatischen hin zu befragen. Am deutlichsten lässt sich dies an seinem Essay „‚Gone with the Wind‘ und die Wiedereinführung der Sklaverei in Amerika“ von 1940 zeigen. Denn hier befasst er sich auch im engeren Sinn mit Melodramatischem, dem Film-Melodram „Gone with the Wind“ und dem Roman von Harriet Beecher Stowe „Uncle Tom’s Cabin“ (1852), der zur Genese und Entwicklung melodramatischer Imagination in Amerika über zahlreiche melodramatische Bühnen-Adaptionen zentral dazu gehört und an dem Christof Deckers Studie „Hollywoods kritischer Blick. Das soziale Melodrama in der amerikanischen Kultur 1840–1950“30 die Breitenwirksamkeit und die politische Wirkung des Melodramatischen demonstrieren kann. „Uncle Tom’s Cabin“ leistete tatsächlich einen bedeutenden Beitrag zum Abolitionismus und zur Abschaffung der Sklaverei in Amerika. Mit diesem Fragment amerikanischer Kulturgeschichtsschreibung lässt Broch seinen Essay zu und Verriss von „Gone with the Wind“ beginnen. Unter der Hand und binnen zweier Absätze wandelt sich dann die Filmrezension zur symptomatischen Zeitdiagnose von Nazi-Deutschland und darüber hinaus des von der „Idee der Sklaverei“ geleiteten Totalitarismus der Gegenwart. Einstens gab es Onkel Toms Hütte, heute gibt es Gone with the Wind: die Befreiung der Sklaven wurde mit einem ziemlich sentimentalen Schund eingeleitet – kündigt sich in dieser neuen Sentimentalität nicht die Wiedereinführung der Sklaverei an? Onkel Toms Hütte war ein ziemlich mäßiges Buch, und Gone with the Wind ist ein recht guter Film, die Ansprüche an die psychologische und technische Ausführung sind während dieser 80 Jahre etwas gewachsen, aber beide Erzeugnisse sind in ganz besonderem Maße Ausdruck ihres Zeitgeistes, des Zeitgeistes von 1860 und 1940, genau so wie der damalige Leser es war, der heutige Kinobesucher es ist, und war die Sentimentalität damals humanitätsduselnd, so ist sie heute bestialitätsberauscht; dies ist ihr Zeitgeist. Indes, so wird wahrscheinlich eingewendet werden, Gone with the Wind ist doch gar nicht bestialitätsberauscht, wie kann man nur so etwas behaupten! Es zeigt doch die Schrecken des Krieges, es ist doch ein pazifistischer Film! Jawohl, es ist ein pazifistischer Film, u. z. so sehr, daß für jedermann der Aggressionscharakter der Demokratie aufs äußerste einsichtig wird, dartuend wie ein unschuldig ritterlicher Blut- und Bodenstaat von gleichmachenden Bolschewistenhorden überfallen wird: die wahrhafte Kultur Amerikas war im Süden zentriert, eine feudale, edle und gütige Kultur, süß ihre Mädchenblüten (manchmal ein wenig herb und wild), friedlich ihre Herrenhäuser, heiter-treu ihre Neger –, oh, wie ist es schön und beneidenswert, Sklave sein zu dürfen –, und die bolschewistisch-kapitalistischen Yankees haben dies niedergebrannt, niedergeschändet, niedergetreten, um statt dessen die Herrschaft des Dollars zu errichten! Ein Propagandafilm? Nein, jedoch ein Film des Zeitgeistes, und er ist es

30 Frankfurt/New York 2003, S. 63–84.

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umsomehr, als wahrscheinlichst keinem einzigen der Beteiligten, weder der Autorin, noch dem Hersteller, noch dem Regisseur und am allerwenigsten dem Publikum bewußt ist, woran sie da allesamt beteiligt sind. Hitler sagt: „Seit dem Bürgerkriege, wo die Südstaaten wider alle geschichtliche Logik und jede geistige Gesundheit unterlagen, befinden sich die Amerikaner im Stadium des politischen und völkischen Verfalls. […] Die Ansätze zu einer großen, auf der Idee der Sklaverei und der Ungleichheit beruhenden neuen Gesellschaftsordnung sind damals zerstört worden und damit auch die Zukunftskeime eines wirklich großen Amerikas.“ (KW 9/2, 237 f.)  

Hitler wird dann im Weiteren bei Broch als ein gleichsam idealer Rezipient von „Gone with the Wind“ vorgestellt, der sich mit dem „edlen blonden Leslie Howard“ identifizieren kann, nicht aber mit dem „businessman“ – „für den Typus der Clark Gables dürfte Hitler weniger übrig haben“ (KW 9/2, 242). „Gone with the Wind“ wird als Ausdruck des politischen Zeitgeistes von „Herrennation“ und „Konzentrationslager“ und prophetisches Machwerk wahrgenommen: Worin wird aber diese neue Sklaverei bestehen? Wird sie die Rückkehr zu der lieblichschwerelosen Welt sein, wie sie von Gone with the Wind vorgezaubert wird? Nun, wir kennen die Greuel der deutschen und spanischen Konzentrationslager, in denen bereits hunderttausende von Sklaven schmachten, eine Arbeitsarmee, die zu ihrer Fron hingeprügelt wird, künstlich vertierte Roboter, denen man jeglichen Rest von Menschentum austreibt, die man auf Lebenszeit aus jedem Menschenverbande ausschließt, um sie letztlich zu Tausenden zu Tode zu quälen. (KW 9/2, 242)

Broch arbeitet an diesem Film Merkmale melodramatischer Imagination heraus, wie sie die Theoriebildung seit den 1970er Jahren diagnostiziert hat: Typisierung oder sogenannte ‚flat charakters‘, die antithetisch gegenüber gestellt werden – Leslie Howard versus Clark Gabel – und eine ebenso antithetische PlotStruktur – „unschuldig-ritterlicher Blut- und Bodenstaat“ versus „Aggressionscharakter der Demokratie“ (KW 9/2, 237). Und diese ästhetischen Verfahren werden als im Dienste der Moralisierung und im Dienste einer einfachen Lesbarkeit der Welt wahrgenommen. Zunächst erscheint dabei in der Analogie von „Onkel Toms Hütte“ und „Gone with the Wind“ die Moralisierung als ethisch indifferent, im älteren Fall „humanitätsduselnd“, im jüngeren Fall „bestialitätsberauscht“ (KW 9/2, 237). Beide, Roman und Film erscheinen als wertorientierte Produkte, nur handelt es sich bei der als zusammenfassendem Wert von „Gone with the Wind“ diagnostizierten „Idee der Sklaverei“ (KW 9/2, 238) um einen Unwert. An dieser Stelle lohnt ein Blick auf Brochs definitorische Differenzierung zwischen Wert, Moral und Ethik. In seinem Vortrag „Das Weltbild des Romans“ (1933) bestimmt er ‚Wert‘ als Handlungsziel eines gesellschaftlichen Subsystems:

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ein Wertsystem ist ein Gebilde unendlich vieler Einzelhandlungen, die – von den verschiedenen Angehörigen des Wertsystems ausgeführt – alle dem gleichen unendlich fernen Wertziel zugewendet sind und von diesem Wertziel her ihre Wertung als ethisch oder unethisch empfangen. (KW 9/2, 90 f.)  

Als Ethik respektive „ethische Forderung“ wird dann jene Form der Wertorientierung gefasst, die sich auf ein „absolutes“, radikal zukünftiges und niemals gänzlich im Irdischen zu realisierendes, noch adäquat zu definierendes „Ziel“ richtet. Von diesem „absoluten Ziel“ heißt es, dass es „in seiner Unendlichkeit unsichtbar ist und so wenig definiert werden kann wie Gott selber oder das Schöne an sich oder das Glück an sich oder die Harmonie.“ (KW 9/2, 91) Mit Ethik würde also eine Form erkenntnis- und sprachkritischer Selbstbescheidung einhergehen. Als Moral wiederum wird dann jene „Gestalt“ bestimmt, in der die „ethische Forderung ins Irdische eingreift“, die keine positiven „Anweisungen“ zur Erreichung des Wertziels geben kann, sondern sich allein darauf beschränkt, „das definierbare Böse zu verbieten“. Diese zunächst systemtheoretisch-formale Beschreibung ist insofern tatsächlich ethisch indifferent, als Krieg als ein mögliches Wertziel gesellschaftlicher Subsysteme wertneutral neben Gott, das Schöne und das Gute gestellt wird.31 So wie „Onkel Toms Hütte“ „humanitätsduselnd“ einem historischen politischen Subsystem um 1860 die Idee der Sklavenbefreiung vorgab oder „Gone with the Wind“ einem solchen um 1940 jene der „Wiedereinführung der Sklaverei“ (KW 9/2, 237). Ein nietzscheanisch relativistischer oder besser relationaler Blick auf historische Prozesse als Formen eines Kampfs der Werte bekundet sich in der folgenden Formulierung: „Jedes Wertsystem steht nicht nur mit allen Nebensystemen, sondern auch mit seiner eigenen Vergangenheit im Kampfe“ (KW 9/2, 91). Varianten einer z.B. güterethischen Bestimmung von Handlungszielen, die ein höchstes Gut bestimmen, sind einem solchen Denkansatz verschlossen, der sich zu Prozessen der historischen Entwicklung und Umwertung der Werte eigentlich nur beobachtend, nicht wiederum wertend verhalten kann. Hermann Brochs Unterordnung der ästhetischen Dimension unter die ethische bleibt, meiner Ansicht nach, allerdings nicht bei dieser relationalen Position stehen, sondern beansprucht eine andere, die allerdings weniger diskursiv als ästhetisch begründet wird. Dies führt uns zum nächsten Argumentationsschritt.

31 Vgl. KW 9/2, 91 f.  

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III Kippfiguren: Melodramatisches zweiter Stufe Zum theoriegeleiteten melodramatischen Diskurs gehört das Wahrnehmen melodramatischer Kippfiguren dazu. Peter Brooks etwa konstatiert am französischen Bühnenmelodram eines Pixérécourt einen melodramatischen Exzess der Zeichen, wonach die vielschichtige, auf verschiedenen medialen Ebenen verlaufende antithetische Einsinnigkeit melodramatischer Symbolik ein Zuviel an Bedeutung generiert und ins Unleserliche kippt. Medial zeichnen sich solche melodramatischen Momente häufig durch einen Ausfall der Wortsprache und den Einsatz der Musik bzw. auch der Pantomime aus.32 Thomas Elsaesser sieht einen solchen Umschlag nur „in den besten Melodramen“ realisiert und bringt diesen in Zusammenhang mit einer „Sublimierung des dramatischen Konflikts ins Dekor, in Farbe, Gestik und Bildkomposition“33 sowie einem Realismus der Oberfläche. Kippfiguren als Charakteristikum moderner Kunstwerke, in denen Überzeichnung in eine Kenntlichkeit höherer Stufe umschlägt, arbeitet auch Hermann Broch in seiner Essayistik heraus und zwar angesichts der Stücke des französischen Dramatikers Victorien Sardou. Zu dessen Werk führt Broch aus: gewiß, es war „Verklärungsspiel“, doch da es echtes Spiel war, wurde auch die Verklärung, die Verklärung ins Humane echt; es war Echtheit kraft Übersteigerung des Unechten und Dekorativen ins Essentielle, eine Echtheit, die sozusagen an der Grenze lag – (KW 9/1, 119).

Eine solche Echtheit reklamiert Broch für „Gone with the Wind“ nicht, und doch findet sich auch in seinem Essay eine Kippfigur, die hier zwar weniger vom Material provoziert wird, jedoch auch nicht unabhängig von diesem ist. Gleichsam ex negativo wird über das überzeichnete Zerrbild der „Nordarmee“ – „lediglich durch einen plündernden Vergewaltiger, durch drei pokerspielende Offiziere und schließlich durch einen etwas idiotisch-gutmütigen Hauptmann repräsentiert“ – eine Leerstelle konturiert, die Broch dann mit dem „Gesicht“ und „Namen Lincolns“ (KW 9/2, 240 f.) füllt. Der antithetischen melodramatischen Weltsicht von „Gone with the Wind“ setzt Broch eine melodramatische Essayistik entgegen, ein Melodramatisches zweiter Stufe, das der Gegenwart in einer Theatrum mundi-Metaphorik ihrerseits in einem theatralischen Modus begegnet:  

Die Gegenspieler des Dramas, welches da vonstatten geht, dieses Dramas einer sich selbst auflösenden Weltmoral, heißen heute mehr denn je Lincoln und Hitler. Wer nicht dem

32 Vgl. Brooks, The Melodramatic Imagination, S. 24–80. 33 Elsaesser, „Tales of Sound and Fury. Anmerkungen zum Familienmelodram“, S. 105.

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Untergang geweiht sein will, darf nicht mit Blindheit geschlagen sein; er muss die Symptome des Zeitgeistes sehen können, und zu diesen ist Gone with the Wind zu zählen, Symptom für einen Zeitgeist, in dem sich die Sehnsucht nach Sklaverei schon mehr als deutlich ankündigt. (KW 9/2, 245)

Diese melodramatische Essayistik teilt mit ihrem Antipoden „Gone with the Wind“ die antithetische Figurenzeichnung und polare Weltsicht, die wertende Perspektive, den Zeitbezug und den mit Pathos arbeitenden Appellcharakter. Den melodramatischen ästhetischen Strategien des Filmes wollen melodramatische rhetorische Strategien des Essays begegnen. Wie Hermann Broch in einem Brief an Ruth Norden vom Februar 1940 formuliert, sitzt die „Popularität und Durchsichtigkeit des Ausdrucks“ seines Essays gleichsam parasitär auf jener des Films auf und strebt durch diese Textur eine dem Film vergleichbare „Millionenverbreitung“ an. Er hoffte auf eine Publikation in großen amerikanischen Wochenzeitschriften und schlug zu diesem Zweck eine Bebilderung des Artikels und einprägsame Zwischenüberschriften vor. Neben Bildern aus „Gone with the Wind“ sollte auch seine ästhetische Strategie durch „Lincoln und Hitler“ bebildert werden. Zu einer solchen Veröffentlichung von „‚Gone with the Wind‘ und die Wiedereinführung der Sklaverei in Amerika“ ist es nicht gekommen. Broch hat jedoch diesem seinen „erste[n] Vorstoß ins Populäre“ Bedeutung beigemessen: „hingegen weiß ich, daß das Gesagte wichtig ist.“ (KW 13/2, 170 f.) Allerdings fällt Brochs Beitrag zu „Gone with the Wind“ nicht gänzlich aus seinem essayistischen Werk heraus, sondern übertreibt seinerseits dort praktizierte rhetorisch-ästhetische Strategien. Broch hat zugestanden, dass auch das ‚echte Kunstwerk‘ ein gewisses Maß an Pathos bzw. Kitsch nicht entbehren kann: „Denn ganz ohne Effekt, also ohne einen Tropfen Kitsch geht es in keiner Kunst ab.“ (KW 9/2, 95) Und die Broch-Forschung, u.a. Durzak und Dowden, haben Passagen seines literarischen Werks dem Kitsch-Verdacht ausgesetzt.34 Im Hinblick auf die Essayistik möchte ich sogar behaupten, dass dieser ein ganz ordentlicher Tropfen Pathos oder Kitsch beigemengt ist und von einer melodramatischen Signatur dieser Rhetorik gesprochen werden kann. Eine polare, gleichsam manichäische Weltsicht und antithetische Begriffsbildung sowie Argumentationsführung können als Merkmale dieses Stils genannt werden. Die Welt und die sie abbildende Kunst werden hier in den Antithesen von Ordnung und Chaos, Huma 

34 Manfred Durzak, „Zwischen Satire und Pathos. Die Möglichkeiten des Erzählers Hermann Broch in den ‚Schuldlosen‘“, in: Joseph Strelka (Hrsg.), Broch heute, Bern 1978, S. 133–154; Stephen Dowden, „Ornament, Totality, Kitsch and ‚The Sleepwalkers‘. A Response to Claudia Brodsky“, in: Ders. (Hrsg.), Hermann Broch: Literature, Philosophy, Politics, Columbia 1988, S. 273–278.

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nität und Barbarei,35 Masse und Individuum, Rationalem und Irrationalem gezeichnet. Besonders auffällig ist dieser melodramatische Gestus in kurzen Beiträgen wie „Mythos und Dichtung bei Thomas Mann“ (1935), „James Joyce und die Gegenwart“ (1936) sowie dem ausführlicher betrachteten zu „Gone with the Wind“. Melodramatische Überzeichnung scheint mir auch bei Brochs Definition des Kitsches am Werke, wenn dieser als das „radikal Böse“, als „Sünde“ bestimmt oder der Sphäre des „Anti-Christs“ (KW 9/1, 258 f.) zugeordnet wird. Bei diesen Wendungen müsste man geradezu von einem performativen Widerspruch sprechen, denn als Kitsch wird ja die Wiederholung des Veralteten, Formelhaften und Klischierten definiert. Und als Höhepunkt einer solchen verkitschten Rede wider den Kitsch könnte man die Bezeichnung seines Produzenten als „Verbrecher“ in dem Vortrag „Das Weltbild des Romans“ benennen:  

Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts- oder Wenigkönner, er ist durchaus nicht nach den Maßstäben des Ästhetischen zu werten, sondern er ist – wir befinden uns, wie Sie sehen, in der Sphäre der Operette und des Tonfilms –, er ist kurzerhand ein schlechter Mensch, er ist ein ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will. (KW 9/2, 95)

Andernorts beigefügte Nero- und Hitler-Vergleiche tun ihr Übriges.36 Es ist wahrscheinlich eine Überzeichnung meinerseits, wenn ich den in diesem Zitat gebrauchten Einschub „wir befinden uns, wie Sie sehen“ etc. inklusiv und selbstreflexiv verstehe, auch die Broch’sche Argumentation befindet sich in diesen Momenten der Überzeichnung in der Sphäre der Operette. An diesem Moment der Selbstreflexivität – Kitsch, der sich als Kitsch ausstellt, melodramatisches Pathos, das sich als solches zu erkennen gibt – ist die Differenz zwischen einem Melodramatischen erster und zweiter Stufe kenntlich zu machen. Solche in der Essayistik zu findenden performativen Widersprüche sind eine Ausdrucksform dieses Melodramatischen zweiter Stufe. Und es wäre noch zu ergänzen, dass der „Gone with the Wind“-Beitrag in seiner extremen Verknappung und Verkürzung, seiner Assoziationslogik, die innerhalb weniger Zeilen vom Film zu Hitler, von Hollywood zum Konzentrationslager und zurück kommt, hierfür als ein besonders eindrückliches und provozierendes Beispiel gelten kann. Eine andere Ausdrucksform solcher melodramatischer Brechung soll abschließend in der Verbindung von Wort und Musik angedeutet werden, wie sie Broch etwa an James Joyce oder Hofmannsthal herausarbeitet. Der Einsatz musikalischer Verfahren in Brochs Romanen wäre hier als ein weiterführendes, von der For-

35 Vgl. KW 9/1, 30 f. 36 Vgl. KW 9/2, 96, 237 f.  



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schung bereits konturiertes Analysefeld zu nennen.37 Ähnlich wie im Falle der Überzeichnung ist die Engführung von Melos und Drama der melodramatischen Imagination genuin. In der eigentümlichen Form, dass die seit Rousseaus „Pygmalion“ beteiligten Medien und Künste Pantomime, Musik und gesprochenes Wort nicht ineinander im Sinne eines Gesamtkunstwerks laufen, sondern einander nachgeordnet sind. Für ein solches differenziertes Miteinander spricht sich auch Broch in „Mythos und Altersstil“ aus, wenn er etwa im Hinblick auf Joyces Verhältnis zur Musik konstatiert: Desungeachtet vermag Abstraktionismus kein ‚Gesamtkunstwerk‘ – jenes Ideal der späten Romantiker – zu schaffen, sondern es bleiben die Künste trotz allem voneinander geschieden. So kann besonders die Literatur nie völlig abstrakt und ‚musikalisiert‘ werden […]. (KW 9/2, 229)

Eher sei die moderne Literatur von Momenten des Abbruchs des Diskursiven und einer „musikalischen Auflösung der Sprache“ und zwar als Ausdruck einer radikalen Sprachskepsis geprägt. Im Kontext des Hofmannsthal’schen „ChandosBriefs“ spricht Broch davon, dass die „diskursive Sprache“ im Angesicht der Musik zu etwas „Unzureichendem“ werde. Als „Sprachverleugnung“ wende sie sich in einem Akt dichterischer Selbstbeschränkung – „Abdankung des Dichters und sein heroischer Verzicht“ (KW 9/1, 217 f.) – an die Musik, damit diese „die endgültige Ausdeutung des Wortes“ in der Vertonung übernehme: „es ist der bedeutsame Schritt vom Theater zur Oper, […] ein Schritt […], der nochmals das Über-sich-selbst-Hinauswachsen in sich einschließt und ebendarum eine letzte Stilsteigerung des Theaters ist.“ (KW 9/1, 218) Diese Stilsteigerung des Theaters kann als eine weitere Kippfigur angeführt werden, in der ein Melodramatisches erster Stufe durch Übersteigerung ins konstruktiv verstandene Melodramatische zweiter Stufe kippt, hier als ein aus Sprachskepsis resultierendes, intermediales Phänomen. Mit diesen Überlegungen schließt Broch an Aktualisierungsformen des Melodramatischen bei Brecht/Weill und Schönberg an, denen das gesprochene Wort in Verbindung mit Instrumentalmusik zu einem Moment reflexiv-ästhetischer Unterbrechung wird, vor dem Hintergrund und in Abgrenzung zur traditionellen Oper. Der sprachskeptisch motivierte Übergang in die Musik erscheint mir als produktives melodramatisches und  

37 Béla Szende, „Musikalische Gestaltungsprinzipien in Hermann Brochs Roman ‚Der Tod des Vergil‘. Versuch einer Deutung“, in: Deutung und Wertung als Grundprobleme philologischer Arbeit, Greifswald 1989, S. 162–171; Martin A. Hainz, „Zerline, matrix reloaded. Zu Mozart und Broch“, in: Rüdiger Görner (Hrsg.), Mozart – eine Herausforderung für Literatur und Denken. Mozart – A Challenge for Literature and Thought, Bern u.a. 2007, S. 265–283.

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auch romantisches Erbe bei Broch feststellbar, wohl mehr der Früh- als der Spätromantik geschuldet, die Broch, wie im obigen Zitat vermerkt, mit dem Gesamtkunstwerk assoziiert. Und dies wäre dann ein Romantikverständnis, das jenseits des zumeist pejorativ konturierten Romantik-Begriffs seiner Essayistik läge und mit dem und in dessen Nachfolge sein ethisches Kunstwerk als ein offenes, intermediales und unendlicher Perfektibilität harrendes zu konturieren wäre.

Autorinnen und Autoren Thomas Borgard: Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychologie in München und Bern; Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie der Gottlieb Daimler- und Karl BenzStiftung; wissenschaftlicher Assistent am Institut für Germanistik der Universität Bern, dort Habilitation und Privatdozentur. Internationale Gastdozenturen. 2006 Verleihung Hermann Broch Fellowship der Yale University (USA). 2007/08 Professur für Neuere deutsche Literatur (in Vertretung) am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Bürgerlicher Realismus, die Wiener Moderne, internationale Avantgarde, Spät- und Postmoderne, Ästhetik und Stiltheorie, Wissens- und Techniksoziologie, Wirtschaftsgeschichte, Theorie und Systematik universalgeschichtlicher Prozesse. Publikationen u.a.: Immanentismus und konjunktives Denken (1999), Herausforderung China, Hrsg. (2009), sowie zahlreiche Aufsätze und Handbuchartikel. Patrick Eiden-Offe: Studium der Germanistik, Philosophie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Tübingen, Hamburg, Baltimore und Konstanz; Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Germanistik und Kulturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. 2009: Preis der Stadt Konstanz zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Universität Konstanz; 2008–2011: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster; 2008: Promotion über Hermann Brochs Roman „Der Tod des Vergil“. Forschungsschwerpunkte: Klassenbildungsprozesse in der Literatur und Sozialtheorie des Vormärz und des Realismus. Publikationen: Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ (2011); regelmäßige Veröffentlichungen von Essays im Merkur, zuletzt über die Rückkehr Hegels und über Marx und Engels als Projektemacher. Walter Hinderer: Studium der Germanistik, Philosophie, Anglistik und Geschichtswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1960 Promotion über Hermann Broch; 1966 Übersiedelung in die USA; ab 1978 bis zur Emeritierung Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Princeton University. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur, Philosophie und Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, insbesondere deutschsprachige Dramatik und Lyrik sowie Literaturkritik und Literaturtheorie.

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Autorinnen und Autoren

Publikationen u.a.: Die ‚Todeserkenntnis‘ in Hermann Brochs „Tod des Vergil“ (1961); Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller (1998); Die deutsche Exzellenzinitiative und die amerikanische Eliteuniversität (2007); Schiller und kein Ende. Metamorphosen und kreative Aneignungen (2009). Herausgeber zahlreicher Sammelbände zur deutschen Klassik und Romantik. Manuel Illi: Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Germanistischen Linguistik in Erlangen sowie des Masterprogramms „Ethik der Textkulturen“; Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit dem Sommersemester 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissenschaften (speziell Mathematik und Physik); Literaturtheorie; literarische Moderne; Literatur und Mythos. Publikationen: „Tragikomödie“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13. (2011); „‚Und Gott chillte‘? Einige Überlegungen zu neueren ‚Bibelprojekten‘ aus literaturtheoretischer Perspektive“, in: Bibel und Literatur. Methodische Zugänge und theoretische Perspektiven (2012); „Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen“, in: Handbuch Exilliteratur – Von Heinrich Heine bis Herta Müller (2013). Helmut Koopmann: Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Bonn und Münster; 1960 Promotion in Bonn über die Romane Thomas Manns; ab 1969 Professor für Neuere deutsche Philologie in Bonn, seit 1974 bis zur Emeritierung 2001 Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg; Vorsitzender der Eichendorff-Gesellschaft sowie der Heinrichvon-Kleist-Gesellschaft (1992–1996), Vorstand des Arbeitskreises Heinrich Mann (1978–1996); im Herausgebergremium mehrerer Fachzeitschriften, u.a. Acta Germanica und des Jahrbuchs der Association for German Studies in Südafrika. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere Literatur des 18. Jahrhunderts, der Jahrhundertwende 19./20. Jh. und der Nachkriegszeit. Publikationen u.a.: Thomas-Mann-Handbuch, Hrsg. (3., aktualisierte Auflage 2001); Schiller-Handbuch, Hrsg. (2, durchgesehene und aktualisierte Auflage 2011); Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe (2002); Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder (2005). Claudia Liebrand: Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 1989 Promotion über das Romanwerk Fontanes; Habilitation 1995 über E.T.A. Hoffmann; Heisenberg-Stipendiatin; seit 1999

Autorinnen und Autoren

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Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Literaturwissenschaft/Medientheorie am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne, Geschlechterdifferenz, Medien (insb. Film) und kulturelle Kommunikation. Neuere Publikationen: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hüshoffs Texte (2008); Apokrypher Avantgardismus http://www.amazon.de/Apokrypher-Avant gardismus-Thomas-Klassische-Moderne/dp/3770546733/ref=sr_1_1?ie=UTF8s= booksqid=1224664332sr=8-1. Thomas Mann und die Klassische Moderne, hrsg. mit Stefan Börnchen (2008); Franz Kafka. Neue Wege der Forschung (²2010); Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs, hrsg. mit Thomas Wortmann und Irmtraud Hnilica (2010); Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, hrsg. mit Oliver Kohns (2012), sowie zahlreiche Publikationen zur europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Paul Michael Lützeler: Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities an der Washington University in St.Louis; Lehre der Germanistik, Komparatistik und European Studies; Leiter des Max Kade Center for Contemporary German Literature, Herausgabe des dortigen germanistischen Jahrbuchs Gegenwartsliteratur. Experte auf dem Gebiet des Europadiskurses der Schriftsteller und Herausgeber und Interpret der Werke von Hermann Broch. Kritiker für Kulturzeitschriften und Zeitungen. Auszeichnungen: Alexander von Humboldt-Preis; GoetheMedaille. Publikationen u.a.: Hermann Broch. Eine Biographie (1985); Geschichte in der Literatur. Studien zu Werken von Lessing bis Hebbel (1987); Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (1992); Kontinentalisierung: Das Europa der Schriftsteller (2007); Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman (2009); Hermann Broch und die Moderne (2011), Transatlantische Germanistik (2013). Marion Schmaus: Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie an den Universitäten München und Tübingen; 2009–2012 Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg; seit 2012 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Literatur und Philosophie, Literatur und Anthropologie/Naturwissenschaften, Literaturtheorie sowie Gender Studies.

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Autorinnen und Autoren

Publikationen u.a.: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault (2009); Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936) (2009); Aufklärungen: Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag (2003), hrsg. mit Werner Frick, Susanne Komfort-Hein und Michael Voges sowie zahlreiche Aufsätze und Forschungsprojekte, z.B. zu Ingeborg Bachmann und zum Melodrama. Alice Stašková: Studium der Germanistik und Romanistik in Prag, Paris, Leipzig und Heidelberg, Promotion 2005; bis 2009 am Institut für germanische Studien der Karlsuniversität, seitdem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin; Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung. Schwerpunkte der Forschung: deutsche und französische Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts (u.a. Friedrich Schiller, Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann, Hermann Broch, L.-F. Céline, Georges Perec), germano-bohemistische Themen (u.a. F. Palacky oder die tschechische experimentelle Poesie), Stiltheorie sowie Rhetorik. Publikationen: Nächte der Aufklärung. Studien zur Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie in „Voyage au bout de la nuit“ von L.-F. Céline und „Die Schlafwandler“ von H. Broch (2008); Friedrich Schiller und Europa, Hrsg. (2007), Goethe dnes/ Goethe heute, hrsg. mit Milan Tvrdí (auf Tschechisch und Deutsch, 2008); Hermann Broch und die Künste, hrsg. mit Paul Michael Lützeler (2010). Friedrich Vollhardt: Studium der Germanistik, Philosophie und Theologie in München und Freiburg; Promotion 1984 in München, Förderpreis der LudwigMaximilians-Universität; Assistent am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg, Habilitation 1992; Heisenberg-Stipendiat; seit April 2004 Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit; Literatur- und Wissenschaftsgeschichte; Klassische Moderne; Literaturtheorie und Ästhetik. Publikationen: Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“ (1986); Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert (2001) sowie zahlreiche Aufsätze, z.B. zu Hermann Broch, Hermeneutik und Wissen in Literatur und Literaturwissenschaft.

Autorinnen und Autoren

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Doren Wohlleben: Studium der Germanistik und Klassischen Philologie in Heidelberg und Pisa; 2004 Promotion an der Universität Regensburg im Graduiertenkolleg „Kulturen der Lüge“ (DFG-Stipendiatin); Postdoc-Stipendiatin des Hochschul- und Wissenschaftsprogramm der Universität Augsburg mit einem Forschungsprojekt zu Hannah Arendt und Hermann Broch; seit 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Master-Studiengang „Ethik der Textkulturen“ (Elitenetzwerk Bayern) an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Augsburg – 2013 Habilitation über das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur; 2012 Gastprofessur an der Hebrew University Jerusalem. Publikationen: Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in PoetikVorlesungen und Romanen der Gegenwart (2005), Fragen an die Sphinx. Kulturhermeneutik einer Chimäre zwischen Mythos und Wissenschaft, hrsg. mit Bernadette Malinowski und Jörg Wesche (2011) sowie Aufsätze zu Hermann Broch, Hannah Arendt, W. G. Sebald, zum Verhältnis von Ethik und Literatur sowie von Rätsel und Hermeneutik.

Personenregister Adler, H.G. 53 f. Adorno, Theodor W. 3, 27 f., 34, 204 Alighieri, Dante 72 Allesch, Ea von 46 Almodóvar, Pedro 205 Arendt, Hannah 11 Arnim, Achim von 107 Aristoteles 12, 161 Baader, Franz von 6, 141–166 Bach, Johann Sebastian 30 Bachofen, Johann Jakob 65 Bachtin, Michail Michajlovič 169 Ball, Hugo 50, 145 Balzac, Honoré de 210 Baudelaire, Charles Pierre 73 Bäumler, Alfred 35 Beethoven, Ludwig van 30 Benjamin, Walter 3, 5, 18, 19, 127, 130, 132, 140 Berglinger, Joseph 17 Bespaloff, Rachel 30, 32, 55 Bismarck, Otto Eduard Leopold von 114 f. Blei, Franz 109, 110, 124, 143 Bloch, Ernst 145 Blumenberg, Hans 33 f. Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 147 Bonaparte, Napoléon 85 Böhme, Jakob 27, 160 Brecht, Bertolt 5, 138, 177, 206, 218 Brentano, Clemens 107, 198 Bry, Carl Christian 38 Brody, Daniel 4, 46, 53, 167, 168, 182 Brody, Daisy 12 Bruckner, Ferdinand 138 Buber, Martin 173, 174 Büchner, Georg 21 Bürger, Gottfried August 14 Burke, Edmund 82, 155 Calabrese, Joachim von 145 Camus, Albert 5, 138 Carlyle, Thomas 80 Carnap, Rudolf 4, 89, 90, 91, 94, 96

Carroll, Lewis 183 Carus, Karl Gustav 3, 12 f. Cassirer, Ernst 55, 69, 94 Celan, Paul 199 Chaplin, Charlie 172 Chateaubriand, François-René de 80 Cicero, Marcus Tullius 76 Cortés, Donoso 84 f., 147 Courth-Mahlers, Hedwig 211 De Maistre, Joseph 147, 154 f., 160 Derrida, Jacques 146 f. Descartes, René 41, 57 Dickens, Charles 210 Dilthey, Wilhelm 36, 76, 82 Döblin, Alfred 5, 66, 138 Doderer, Heimito von 82 Droste-Hülshoff, Annette von 137 Dürrenmatt, Friedrich 5, 138 Eckart/Meister Eckhart 145 Eichendorff, Joseph Karl Benedikt Freiherr von 11, 107, 136, 137, 145, 179, 190, 200–203, 204 Einstein, Carl 82 Elias, Norbert 43 Ewald, Oskar [Oskar Friedländer] 45, 46, 48 Falkenberg, Carl 138 Fichte, Johann Gottlieb 3, 12, 14, 16, 24, 26, 27, 99, 190, 191 Freud, Sigmund 4, 13, 65, 69, 76 f., 94, 173 Franck, Sebastian 145 Frank, Waldo 11, 60 Friedrich Wilhelm IV. 111, 153 Funk, Philipp 6, 45, 46–48, 49, 142 f., 146 Gätschenberger, Richard 4 f., 95, 96, 100, 101 Garve, Christian 135 George, Stefan 80 Gervinus, Georg Gottfried 37 Gide, André Paul Guillaume 5, 138 Goethe, Johann Wolfgang 17, 20, 30, 44, 45, 62, 72, 94, 118, 119, 202

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Personenregister

Goya, Francisco de 30 Grünbein, Durs 66 Gurian, Waldemar 80, 81, 82, 85, 110 Gütersloh, Albert Paris 109

Liszt, Franz von 138 Löwenthal, Leo 145 f., 160, 161, 164 f. Lukács, Georg 20, 35, 145, 209 Luther, Martin 131

Habermas, Jürgen 35 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3, 12, 23–25, 116, 125, 145, 153 Heidegger, Martin 46 Heine, Heinrich 11, 110, 153, 202 Herder, Johann Gottfried von 65, 75, 211 Hiller, Kurt 79 Hitler, Adolf 74, 75, 86, 109 f., 213, 215, 216, 217 Hoffmann, E.T.A. 7, 133, 190, 191, 192–197, 198 Hoffmann, Franz 161 Hofmannsthal, Hugo von 19, 22, 23, 40, 45, 73, 91, 98, 107, 125, 172, 179, 181, 211, 217, 218 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 19, 23, 24 Homer 28, 30, 55, 63, 76, 199 Honigsheim, Paul 81, 82, 85 Horkheimer, Max 3, 27 f., 34 Huch, Ricarda 107 Husserl, Edmund 4, 12, 57, 88

Mach, Ernst 76 Malinowski, Bronisław Kasper 55 Mann, Heinrich 199 Mann, Thomas 4, 27, 28, 29, 32, 45, 54, 61–65, 68, 74, 76, 77, 79, 80, 82, 190, 199, 217 Mannheim, Karl 2, 4, 71 f., 81 f. Marquard, Odo 13, 16, 21, 23 Martin, Alfred von 47 Marx, Karl 145 Massenet, Jules Émile Frédéric 206 Mauthner, Fritz 91 Miegel, Agnes 107 Möser, Justus 82 Mozart, Wolfgang Amadeus 181 Müller, Adam 21, 82, 122, 124, 141, 143 f., 145, 147 Münchhausen, Börries von 107 Musil, Robert 57, 66, 73, 77, 109

Jahn, Hans Henny 66 Jaspers, Karl 182 Joyce, James Augustine Aloysius 3, 4, 20, 23, 30, 32 f., 54, 60, 62 f., 74, 211, 217, 218 Jung, Carl Gustav 34, 94 Jünger, Ernst 75, 79 Kafka, Franz 2, 3, 6, 22, 23, 32 f., 53, 54, 74, 78, 168, 169, 178, 181 Kant, Immanuel 12, 15, 16, 23, 46, 57, 72, 94, 99, 132, 134, 145, 190 Kerényi, Karl 4, 27, 53, 55, 65 Kierkegaard, Søren Aabye 12 Klimt, Gustav 80 Klages, Ludwig 65 Kleist, Heinrich von 5, 135, 136, 137, 196 Kraus, Karl 169, 172, 202 Leibniz, Gottfried Wilhelm 16 Leopold II. 115

Nadler, Josef 47, 49 f. Nancy, Jean-Luc 34 Napoleon III. 85 Nero 75 Neurath, Otto 89 Nietzsche, Friedrich 3, 12, 19, 28, 36 f., 47, 62, 73, 81, 91, 124, 139, 169 Nordau, Max 139 Norden, Ruth 216 Nostradamus 116 Novalis 2, 3, 5, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 26, 27, 29, 31, 40, 43, 98, 100, 102 f., 107, 109, 118, 120, 122, 124, 147, 175 f., 177, 181, 189 f., 191, 193 Oswald, Friedrich [Friedrich Engels] 153 Ovid 83 Paracelsus 160 Paul, Jean 2, 6, 171 Peters, Carl 113–116, 121 Picasso, Pablo 32 Pixérécourt, René Charles Guilbert de 215

Personenregister

Plato 12, 178 Pulver, Max 144 Rancière, Jacques 146 Rehm, Walter 44 f. Reichel, Hans 143 Rembrandt 30 Rickert, Heinrich 4, 5, 70, 71, 79, 82, 90 f., 92, 97, 101 Rilke, Rainer Maria 22 Röhm, Ernst 110 Rousseau, Jean-Jacques 109, 145, 207, 209, 211, 218 Russell, Bertrand Arthur William 4, 89, 94 Sardou, Victorien 215 Sauter, Johannes 144 Scheler, Max 12 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2, 3, 4, 12, 13, 16, 22, 23, 26, 54, 55, 56, 57–59, 65, 68, 72 f., 74, 78, 153, 190, 193 Schiller, Friedrich 5, 14, 15, 16, 18, 23, 133, 134, 135, 136, 137, 172 Schlegel, August Wilhelm 21, 98 f., 100 Schlegel, Caroline 19 Schlegel, Friedrich 2, 3, 5, 6, 12, 13, 14, 16, 18, 20, 22, 24 f., 26 f., 28, 29, 31, 32, 44, 98 f., 103, 107, 118, 122, 124, 125, 135, 141, 146, 153, 156 f., 158, 159, 162, 163, 170–174, 180, 182, 189, 190 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 3, 12, 35 f., 75 Schlick, Moritz 4, 89 f., 91, 92, 94, 99, 100, 101 Schmid, Alexander 143 Schmitt, Carl 2, 4, 5, 6, 35, 39, 47, 48–50, 80, 84 f., 86, 107–126, 141 f., 143, 144, 145, 146, 147–150, 151 Schnitzler, Arthur 206 Schönberg, Arnold 206, 218 Schopenhauer, Arthur 12, 19, 21 Schrecker, Paul 109 Schubert, Gotthilf Heinrich von 3, 12, 190, 193 Schumann, Robert 206 Seillière, Ernest-Antoine 47 Seuse, Heinrich von 62 Simmel, Georg 4, 71

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Sonne, Abraham 11 Schnur, Roman 109 Spengler, Oswald 65 Spinoza, Baruch 26, 27 Spohr, Louis 117 Sprengler, Joseph 42 Steiner, Rudolf 54 Stirner, Max 136 Stowe, Harriet Beecher 210, 211, 212, 213 Strauß, David Friedrich 5, 111 f., 113, 117, 121 Strawinskij/Stravinskij, Igor’ Fëdorovič 32 Strich, Fritz 44, 45 Suhrkamp, Peter 96 Taine, Hyppolite 110 Thiess, Frank 78 Thormann, Werner E. 47 Tieck, Ludwig 21, 107, 190 Tizian 30 Tolstoi/Tolstoj, Lev Nikolaevič 32, 74, 145 Trier, Lars von 205 Tucholsky, Kurt 177 Unger, Erich 4, 54 f. Veuillot, Louis 85 Vietta, Egon 12, 15, 17, 110 Voegelin, Eric[h] 6, 141, 152, 154 Wackenroder, Wilhelm 17, 21, 190, 191 Wagner, Richard 54, 211 Weber, Max 2, 4, 57, 73, 74, 80, 81, 82 Weigand, Hermann 22 Weill, Kurt 218 Weinhandl, Ferdinand 97 f., 100 Weismann, Willi 167 Weitling, Wilhelm 145 Whitehead, Alfred N. 94 Wilhelm II. 114 Wissmann, Hermann von 114 Wittgenstein, Ludwig 4, 22, 88 f., 91, 92, 101 Wölfflin, Heinrich 45 Worringer, Wilhelm 45 Zeller, Eduard 111 Zola, Emile 143, 199