Herders christlicher Monismus: Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal 9783161510649, 9783161504082

Claas Cordemann stellt im interdisziplinären Diskurs mit der germanistischen und philosophischen Herderforschung den The

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German Pages 322 [323] Year 2010

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Widmung
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Einleitung
1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung
2. Zu Methode und Verfahren der Untersuchung
Kapitel I Herders Anthropologie
1. Das Problem einer Bestimmung des Humanitätsbegriffs Herders
2. Vom Universum zur Unsterblichkeit – die Zentralstellung der Anthropologie
3. Humanität als Gabe und Aufgabe
3.1 Herders Deutung der kopernikanischen Wende
3.2 Stufengang der Organisationen – Der Mensch als Naturwesen
3.3 Die Sonderstellung des Menschen – Der Mensch als Kulturwesen
3.3.1 Die physiologische Fundierung der Humanität
3.3.2 Der erste Freigelassene der Schöpfung – Bestimmung zur Selbstbestimmung
3.3.3 Erlernte Vernunft – Vermittelte Selbstbestimmung
3.3.4 Humanität als Deutekategorie der Kulturgeschichte
a) Humanität in der Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit
b) Humanität und Selbsterhaltung
c) Humanität als Norm und Telos
Kapitel II Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie
1. Das Bekenntnis zu Spinoza
2. Der Dialog als Vorurteilskritik
3. Der Geist des Spinozismus
3.1 Gott als Substanz
3.1.1 Substanz als Durchsichselbstsein
3.1.2 Zeit und Ewigkeit
3.2 Gott als Kraft
3.2.1 Die krafttheoretische Fundierung
3.2.2 Kritik am Mittelbegriff der Kraft?
3.3 Gott als Geist
3.3.1 Notwendigkeit und Freiheit
3.3.2 Das Absolute und die Individualität
a) Gottes schöpferisches Dasein
b) Zur Konstitution endlicher Individualität
c) Gott ähnlich werden – das Telos humaner Existenz
4. Theoriedimensionen von Herders Spinozarezeption
Kapitel III Humanität und Religion
1. Geschichtsphilosophie als Theodizee
2. Anknüpfung an den Deismus
3. Mythos und Religion
4. Religion und Offenbarung
Kapitel IV Humanität und Christologie
1. Hamartiologische Aspekte
2. Der Mensch – das werdende Bild Gottes
3. Christus als vollendete Humanität
3.1 Christologischer Schwund?
3.2 Kritik am Dogma
3.2.1 Kritik an der Erbsündenlehre
3.2.2 Kritik an der Trinitätslehre
3.2.3 Abgrenzung von Religion und Lehrmeinungen
3.3 Anknüpfung an die Logoschristologie
3.3.1 Der frühe logoschristologische Ansatz
3.3.2 Christologischer Monismus
a) Auferstehung als Interpretament von Erfahrung – das Gespräch mit Reimarus
b) Geschichtlichkeit der Wahrheit – das Gespräch mit Lessing und Kant
c) Christologie der Wirkung
Rückblick und Ausblick
1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken
1.1 Der Vater
1.2 Der Sohn
1.3 Der heilige Geist
1.4 Christentum als Religion der Menschheit
2. Fluchtlinien
Literaturverzeichnis
Quellen
1. Johann Gottfried Herder
2. Schriften anderer Autoren
Sekundärliteratur
Personenregister
Sachregister
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Herders christlicher Monismus: Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal
 9783161510649, 9783161504082

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel 154

Claas Cordemann

Herders christlicher Monismus Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal

Mohr Siebeck

Claas Cordemann, geboren 1971; 1992–2001 Studium in Göttingen und Halle/Saale; 2001–05 Repetent der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers am Institutum Lutheranum; 2005–06 und 2009–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie in Göttingen; 2006–09 Vikariat; seit 2009 Pastor in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers; 2009 Promotion.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. e-ISBN PDF 978-3-16-151064-9 ISBN 978-3-16-150408-2 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Für meine Mutter

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Evangelischtheologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation im Fach Systematische Theologie angenommen. Das Promotionsverfahren wurde am 8. Juli 2009 mit dem Rigorosum abgeschlossen. Die eingereichte Fassung der Arbeit trägt den Titel »Das Bild Gottes auf Erden. Zur Begründung von Christologie und Humanitätsideal durch Johann Gottfried Herders christlichen Monismus«. Für die Veröffentlichung wurde der Text geringfügig überarbeitet. Ich habe vielfach Anregung, Ermutigung und Unterstützung während der Abfassung meiner Dissertation erfahren. Mein erster und größter Dank gilt meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar, an deren Lehrstuhl ich als Repetent sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter gearbeitet habe. Sie hat das Entstehen der Arbeit durchgehend in einem kritisch-konstruktiven Dialog begleitet und gefördert. Das gemeinsame Denken und der geistige Austausch mit ihr jenseits von theologischem Lagerdenken, einzig dem sachlichen Argument verpflichtet, waren immer wieder inspirierend und motivierend. Sie hat auch das umfängliche Erstgutachten zur Dissertation erstellt. Herrn Prof. Dr. Joachim Ringleben möchte ich nicht nur für die Anfertigung des Zweitgutachtens danken, sondern auch für die Rückfragen und Impulse, die ich zu meiner Arbeit von ihm erfahren habe. In dem von beiden geleiteten Doktorandenkolloquium habe ich viele Anregungen bekommen. In der ersten Phase der thematischen Orientierung waren mir die Hinweise von Dr. Günter Arnold, Prof. Dr. Ulrich Barth sowie Prof. Dr. Christoph Bultmann sehr hilfreich. Besonderer Dank gilt auch meinen »Doktorgeschwistern« Frau Dr. Christina Costanza, Herrn Dr. Alexander Heit sowie Herrn Bernhard Knoblauch. Die mit ihnen geführten Diskussionen waren ein fruchtbarer Gedankenaustausch, der an vielen Stellen unsichtbar in meine Arbeit eingegangen ist. Ein herzlicher Dank gilt auch Dr. Christof Ellsiepen, der mir wertvolle Hinweise zu meinem Spinoza-Kapitel gab. Meine Frau Annika hat sich des mühsamen Geschäfts des Korrekturlesens angenommen. Dass ich ihr darüber hinaus noch vieles mehr zu danken habe, als hier zu sagen ist, weiß jeder, der sich an solch ein Vorhaben heran gewagt hat.

VIII

Vorwort

Da die Fertigstellung der Dissertation in die Zeit meines Vikariates in der Münstergemeinde St. Alexandri in Einbeck gefallen ist, möchte ich mich auch bei meinem Mentor Pastor Wolfgang Teicke bedanken. Er hat mich sehr wohlwollend beim Abschluss der Arbeit unterstützt. Herzlich gedankt sei auch der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Sie hat meine wissenschaftliche Arbeit auf der Repetentenstelle an dem von Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar geleiteten Institutum Lutheranum vier Jahre lang gefördert. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Beiträge zur historischen Theologie sowie Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Herrn Matthias Spitzner für die gleichermaßen freundliche wie sorgfältige verlegerische Betreuung. Dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort danke ich für die Gewährung eines namhaften Druckkostenzuschusses. Das Buch ist meiner Mutter Jutta Poppinga gewidmet, die mir den Sinn für die religiöse Tiefe des Lebens geweckt hat. Ellierode, im Juni 2010

Claas Cordemann

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung . . .

1

2. Zu Methode und Verfahren der Untersuchung . . . . . . . . . . . . .

11

Kapitel I

Herders Anthropologie 1. Das Problem einer Bestimmung des Humanitätsbegriffs Herders . .

13

2. Vom Universum zur Unsterblichkeit – die Zentralstellung der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

3. Humanität als Gabe und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Herders Deutung der kopernikanischen Wende . . . . . . . . . . . . 3.2 Stufengang der Organisationen – Der Mensch als Naturwesen . . . . 3.3 Die Sonderstellung des Menschen – Der Mensch als Kulturwesen . . 3.3.1 Die physiologische Fundierung der Humanität . . . . . . . . .

18 18 23 30 32

3.3.2 Der erste Freigelassene der Schöpfung – Bestimmung zur Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Erlernte Vernunft – Vermittelte Selbstbestimmung . . . 3.3.4 Humanität als Deutekategorie der Kulturgeschichte . . a) Humanität in der Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Humanität und Selbsterhaltung . . . . . . . . . . . c) Humanität als Norm und Telos . . . . . . . . . . .

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39 45 51

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51 56 63

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel II

Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie 1. Das Bekenntnis zu Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

2. Der Dialog als Vorurteilskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

3. Der Geist des Spinozismus . . . . . . . . . . 3.1 Gott als Substanz . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Substanz als Durchsichselbstsein . . 3.1.2 Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . 3.2 Gott als Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die krafttheoretische Fundierung . . 3.2.2 Kritik am Mittelbegriff der Kraft? . 3.3 Gott als Geist . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Notwendigkeit und Freiheit . . . . . 3.3.2 Das Absolute und die Individualität . a) Gottes schöpferisches Dasein . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . b) Zur Konstitution endlicher Individualität .

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. . . . . . . . . . . . c) Gott ähnlich werden – das Telos humaner Existenz .

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4. Theoriedimensionen von Herders Spinozarezeption. . . . . . . . . .

157

Kapitel III

Humanität und Religion 1. Geschichtsphilosophie als Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

2. Anknüpfung an den Deismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

3. Mythos und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

184

4. Religion und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

Kapitel IV

Humanität und Christologie 1. Hamartiologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

2. Der Mensch – das werdende Bild Gottes . . . . . . . . . . . . . . . .

215

XI

Inhaltsverzeichnis

3. Christus als vollendete Humanität . . . 3.1 Christologischer Schwund? . . . . . . 3.2 Kritik am Dogma . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Kritik an der Erbsündenlehre . . 3.2.2 Kritik an der Trinitätslehre . . .

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. . . . . 3.2.3 Abgrenzung von Religion und Lehrmeinungen . 3.3 Anknüpfung an die Logoschristologie . . . . . . . . . 3.3.1 Der frühe logoschristologische Ansatz . . . . . 3.3.2 Christologischer Monismus . . . . . . . . . . .

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a) Auferstehung als Interpretament von Erfahrung – das Gespräch mit Reimarus . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geschichtlichkeit der Wahrheit – das Gespräch mit Lessing und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Christologie der Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220 220 224 224 226 226 231 234 237 239 245 248

Rückblick und Ausblick 1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken 1.1 Der Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der heilige Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Christentum als Religion der Menschheit . . . . . . . . .

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257 258 261 263 264

2. Fluchtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271 295 300

Siglenverzeichnis AA

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. BH Bibliotheca Herderiana, Vimariae 1804 DA Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803, hg. v. W. Dobbek und G. Arnold, 14 Bde., Weimar 1984–2005 Eth. Baruch de Spinoza, Ethica ordine Geometrico demonstrata (lat./dt.), in: Ders., Opera, Bd. 2, hg. v. K. Blumenstock, Darmstadt 41989 FA Johann Gottfried Herder, Werke in 10 Bänden, hg. v. U. Gaier u. a., Frankfurt am Main 1985 ff. H Johann Gottfried Herder, Werke in 3 Bänden, hg. v. W. Proß, München 1984 ff. KA Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe, Abt. 1 Schriften, hg. v. A. Beutel, Tübingen 2001 ff. LW Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden, aufgrund der in Zusammenarbeit mit K. Eibl, H. Göbel, K. S. Guthke u. a. besorgten Werkausgabe in acht Bänden, hg. v. H. G. Göpfert, München/Wien 1982 N Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, 6 Bde., hg. v. J. Nadler, Wien 1949– 1957 SWS Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913, Nachdruck Hildesheim 1967/68 WW Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 51983, Sonderausgabe 1998 ZH Johann Georg Hamann, Briefwechsel, 7 Bde., hg. v. W. Ziesemer und A. Henkel, Wiesbaden/Frankfurt am Main 1955–1979

Einleitung 1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung Johann Gottfried Herder war »kein Stern erster oder sonstiger Größe [. . .], sondern ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert«1. Es ist vielleicht kein Satz über Herder mehr zitiert worden als dieses berühmte Diktum von Jean Paul. Nur ein Jahr nach dem Tod seines Freundes gibt Jean Paul damit den Tenor der Herderrezeption bis in die Gegenwart an. Für kaum einen anderen Autor wie Herder lässt sich mit solchem Recht sagen, dass er Gegenstand einer interdisziplinären Forschungsgemeinschaft geworden ist. Germanisten, Philosophen, Geschichts- und Kulturtheoretiker, Ethnologen und Anthropologen können sich gleichermaßen auf ihn beziehen. Dabei kommt es seit den letzten zwei Jahrzehnten zu einer regelrechten Herder-Renaissance, die sich in der Gründung der Internationalen Herder-Gesellschaft 1985 sowie in zahlreichen fachwissenschaftlichen Einzeluntersuchungen und einigen wenigen knappen Gesamtdarstellungen niederschlägt. 2 Zwei forschungsgeschichtliche Entwicklungen der letzten Jahre sind dabei besonders erfreulich. Zum einen wird der interdisziplinäre Diskurs durch regelmäßige Kongresse institutionalisiert und damit auf eine verlässliche Basis gestellt.3 Zum anderen wird in diesem Diskurs immer mehr 1 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, 443. 2 Vgl. zu der ausbordenden Herder-Literatur D. Kuhles, Herder-Bibliographie 1977–1992, Stuttgart/Weimar 1994, die in den Herder-Jahrbüchern seit 1996 kontinuierlich weiter geführt wird. Als einführende Gesamtdarstellungen sei hier auf H. D. Irmscher, Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001; J. Heise, Johann Gottfried Herder zur Einführung, Hamburg 1998 sowie M. Zaremba, Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Eine Biographie, Köln/Weimar/Wien 2002 verwiesen. 3 Dafür sind die von der Internationalen Herder-Gesellschaft abgehaltenen Tagungen maßgeblich, deren Ergebnisse in Tagungsbänden veröffentlicht sind: W. Koepke/S. B. Knoll (Hg.), Johann Gottfried Herder. Innovator Through the Ages, Bonn 1982; W. Koepke (Hg.), Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment. Columbia, S. C. 1990; K. Mueller-Vollmer (Hg.), Herder today: contributions from the International Herder Conference, Nov. 5–8, 1987, Stanford/California/Berlin/New York 1990; M. Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur,

2

Einleitung

der Theologe Herder entdeckt – und zwar nicht nur von den anderen Disziplinen, sondern von den Fachtheologen selbst.4 Dass das immer noch eigens betont werden muss, ist Ausdruck einer kaum zu verstehenden Vernachlässigung Herders von Seiten der Theologie.5 Kaum zu verstehen insofern, als dass Herder Zeit seines Lebens Theologe, Kirchenmann und Prediger gewesen ist. Es sollte daher nahe liegend sein, dass Herders Interesse an Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Kulturtheorie für seine Theologie zumindest nicht – um das Wenigste zu sagen – gleichgültig gewesen sein wird. Die vorliegende Arbeit will mehr sagen. Mir geht es darum zu zeigen, dass und inwiefern Herders Untersuchungen und Erkenntnisse auf den verschiedenen Feldern seines Schaffens ihre letzte Einheit erst aus der theologischen Perspektive auf sein Werk gewinnen. Das ist keine von außen an Herders Werk herangetragene Unterstellung, sondern ergibt sich aus der theologischen Perspektive auf die Welt von selbst. In ihr wird sich der Mensch als Ganzer in seinem Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis vorstellig. Wo der Theologe Herder den Menschen in der Welt denkt, da denkt er ihn immer zugleich in seinem Verhältnis zu Gott, dem Urgrund der Welt. So ist Herders Werk auch da, wo es nicht explizit theologisch spricht, doch auf seinen theologischen Verweishorizont hin zu befragen. Herders Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Kulturtheorie sollen auf ihren theologischen Begründungszusammenhang hin beleuchtet werden. Herder wird dabei als ein Denker von Format erkennbar, dessen Werk den Vergleich mit der ihn rezeptionsgeschichtlich innerhalb der Theologie immer noch überstrahlenden Gestalt Schleiermachers nicht zu scheuen braucht. Würzburg 1994; W. Koepke/K. Menges (Hg.), Johann Gottfried Herder. Academic disciplines and the pursuit of knowledge, Columbia, S. C. 1996; R. Otto (Hg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996; R. Otto/J. H. Zammito (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Beiträge zur Konferenz der International Herder Society Weimar 2000, Heidelberg 2001. Die interdisziplinären Tagungen stehen in der Tradition der vom Landesbischof J. G. Maltusch begründeten »Bückeburger Gesprächen über Johann Gottfried Herder«, deren Ergebnisse in fünf Bänden (hg. v. J. G. Maltusch: 1973, 1976 sowie B. Poschmann: 1980, 1984, 1989) publiziert wurden. 4 Hier sei besonders auf die Tagung anlässlich zu Herders 200. Todestag im Dezember 2003 in Jena hingewiesen; vgl. M. Kessler/V. Leppin, Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, Berlin/New York 2005. 5 Die Theologie scheint sich von Anfang an mit Herder schwer getan zu haben. Bereits 1871 schreibt A. Werner, Herder als Theologe, III: »In der Absicht, eine alte Ehrenschuld von der Theologie abzuwälzen, greift dieses Buch aus der Fülle des Herder’schen Geistes dasjenige heraus, was das eigentliche Centrum seines Lebens und Strebens gewesen ist. Bisher haben fast nur die Literarhistoriker, und auch diese natürlich blos beiläufig, die Bedeutung Herders für Theologie und Kirche beleuchtet«.

1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung

3

Mit der These, dass sich überhaupt so etwas wie eine Einheit in Herders Werk rekonstruieren lässt, bewegt sich meine Arbeit im Rahmen eines sich immer deutlicher herausbildenden Konsenses innerhalb der internationalen Herderforschung. Die ältere Herderforschung kam nicht zuletzt durch die Orientierung an einem von Kant her sich verstehenden Wissenschaftsbegriff zu einer pessimistischen Sicht auf die Theoriefähigkeit von Herders Werk. 6 Wurden schon die einzelnen Schriften Herders in sich als inkohärent und nicht systematisierbar verstanden, so musste die Frage gar nach einer Einheit im Werk Herders als gänzlich abwegig erscheinen. Wenn überhaupt, so sah man mehr oder weniger einheitliche ›Phasen‹ in Herders Denken, die mit biographisch-lebensweltlichen Umbrüchen in Zusammenhang gebracht wurden. Demgegenüber werden in der neueren Herderforschung zunehmend die Kontinuität der Themen sowie die sachliche Kongruenz der verschiedenen Felder seines Schaffens herausgearbeitet.7 Es wird immer deutlicher, dass Herders Denken weniger von radikalen Brüchen, Abbrüchen und Neuansätzen geprägt ist als viel mehr von einem hohen Maß an Beständigkeit. 8 Herder widmet sich Zeit seines Lebens in neuen Anläufen immer wieder denselben Themen. Dabei kommt es freilich zu Verschiebungen und neuen Pointierungen, aber dass der junge Herder eine grundsätzlich andere Konzeption gegenüber dem alten oder gar altersmüden Herder gehabt hätte, davon kann 6

Dazu trug maßgeblich auch das Standardwerk zur Biographie Herders von dem Neukantianer R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., (1877/85), ND Berlin 1958, bei. Zu den Phasen der Herder-Rezeption vgl. B. Becker, Phasen der Herder-Rezeption von 1871–1945, 421–436; W. Koepke, Herder als Deutscher? Zur Herder-Rezeption im 20. Jahrhundert vor 1930, 127–143; H. Clairmont, Nie »des Gegensatzes seines deutschen Fühlens und der werdenden Humanitätsidee ganz Herr geworden«. Zur Herder-Rezeption zwischen 1945–1960, 159–178. 7 Vgl. H. D. Irmscher, Probleme der Herder-Forschung, 266–317; H. B. Nisbet, Zur Revision des Herder-Bildes im Lichte der neueren Forschung, 101–117; H. Clairmont, Ein neues Herder-Bild befreit vom Firnis der Rezeption? 70–89; C. Bultmann, Herderforschung 1985–2000, 35–60; M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, IX–XV; A. Klein, Anthropologisierung, 9–12, sowie den von T. Borsche herausgegebenen Aufsatzband: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München 2006. Zur angelsächsischen Herderforschung vgl. R. E. Norton, Die anglo-amerikanische Herder-Rezeption: »Gegenaufklärung« und ihre Befürworter, 215–222. Vgl. besonders den letzten von der Internationalen HerderGesellschaft herausgegebenen Tagungsband: S. Gross/G. Sauder (Hg.): Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Saarbrücken 2004, Heidelberg 2007. In konzentrierter Weise bietet E. Herms, Art. Herder, 70–95, einen in dieser Kürze unübertroffenen Überblick über Leben und Werk Herders. 8 Von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Einschätzung der Hintergründe des Herderschen Schreibens und der diversen Debattenlagen, in denen Herder sich bewegt, ist die Kommentierung der Briefe Herders durch G. Arnold, die jetzt für die ersten sieben Bände der Briefe vorliegt.

4

Einleitung

keine Rede sein. So kann man etwa in Herders früher Geschichtsphilosophie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit stärker das Individualitätsaxiom betont sehen, während in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ein stärker universalistischer Zug zum Tragen kommt. Aber schon allein die Tatsache, dass in beiden Titeln der Kollektivsingular »Menschheit« vorkommt, sollte vor einer schlichten Entgegensetzung warnen, die durch eine genaue Interpretation vollends ad absurdum geführt werden würde. Dem hier von der neueren Herderforschung eingeschlagenen Weg, der von der Konsistenz der Herderschen Gedankenführung ausgeht und dadurch erst Gewichtsverlagerungen in seinem Denken richtig einzuordnen vermag, ist auch die vorliegende Arbeit verpflichtet. Zeichnet sich in diesem Sinne methodisch gesehen ein Konsens in der Herderforschung ab, so verlagert sich der Dissens in der Forschung eben auf die Frage der Gewichtungen, die dabei für Herders Denken vorgenommen werden. Eben solch einer Frage von Gewichten ist auch die vorliegende Untersuchung gewidmet. Die These meiner Arbeit lautet, dass Herders Natur- und Kulturtheorie in einer spinozanisch9 inspirierten Metaphysik gründen, die ihrerseits von Herder als eine erfahrungstheoretische Neuformulierung der Logoschristologie verstanden wird. Humanität als der Begriff, unter dem Herder das Wesen des Menschen reflektiert, erweist sich von daher für Herder als eine letztlich dezidiert christologische Kategorie. Herders Humanitätskonzept kann somit als der Versuch einer Retheologisierung des seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sich immer mehr profan verstehenden Menschheitsbegriffs gelesen werden.10 Die gesamte natürlich-geschichtliche Welt wird so Gegenstand eines christlichen Verstehens und Handelns. Was das im Einzelnen heißt, kann nur im Durchgang durch die Arbeit gezeigt werden. Inwiefern ich mich mit dieser These aber in der gegenwärtigen Herderforschung positioniere, soll hier im Vergleich zu einigen Arbeiten aus der neueren Herderforschung exemplarisch deutlich gemacht werden. a) Als erstes sei hier die zweibändige kirchengeschichtliche Dissertation von Martin Keßler genannt: Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar von 2007. Keßler widmet sich in fünf Kapiteln der Amtstätigkeit Herders in Sachsen-Weimar. Im ersten Kapitel zeichnet er differenziert Herders Weg zur 9 Wie in der Spinozaforschung üblich unterscheide ich in dieser Untersuchung zwischen »spinozanisch« und »spinozistisch«. Während sich »spinozanisch« auf die genuine Theoriebildung Spinozas bezieht, rekurriert »spinozistisch« auf die späteren an Spinoza anknüpfenden Theorielagen. 10 Zur Geschichte und Relevanz des Humanitäts- bzw. Menschheitsbegriff vgl. H. E. Bödeker, Art. Menschheit, Humanität, Humanismus, 1063–1128, sowie E. Herms, Art. Humanität, 661–682.

1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung

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Berufung nach Weimar nach. Dabei kommt es gegenüber der gängigen Forschung zu einer präziseren Einschätzung der Rolle Goethes in diesem Verfahren. Das zweite Kapitel widmet sich den institutionentheoretischen Voraussetzungen von Herders Amtsführung. Bereits hier wird Herders ungeheuerliches Arbeitspensum deutlich, das seine literarische Tätigkeit ›nebenher‹ noch eindrücklicher erscheinen lässt. Die beiden folgenden Kapitel behandeln unter der Differenzierung der drei Amtsbereiche von Kirche, Schule und Universität Herders personalpolitische Einflussmöglichkeiten sowie seine unauffällig, aber mit Nachdruck vorgenommene Gestaltung und Umformung der Amtsbereiche. Schließlich wird im letzten Kapitel Herders Tätigkeit in seinem Predigtamt in Weimar rekonstruiert, wobei – wie in der gesamten Arbeit – detailliert auf bisher unveröffentlichtes Archivmaterial zurückgegriffen wird. In minutiöser Arbeit werden Herders Kurzschrift, seine Predigtdispositionen sowie die adressatenspezifischen Differenzen seiner Predigten analysiert. Die Pionierarbeit von Keßler leistet m. E. für die Herderforschung Entscheidendes. Indem sie Herders Amtstätigkeit in Sachsen-Weimar bis in die kleinste Notiz hinein verfolgt, wird sein umfassendes literarisches Werk der Weimarer Zeit in dessen lebensweltliche Entstehungsbedingungen eingebettet. Herder, der einmal als »Mann der Literatur«11 charakterisiert wurde, wird so kontextualisiert und als eine Person vorgestellt, die in ihren Amtsbereichen je nach den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihre literarischen Ideen mit wechselndem Erfolg auch praktisch verfolgt. Gegenüber dieser historisch-genetischen Quellenarbeit ist meine Arbeit dezidiert als eine systematisch-theologische Rekonstruktion von Herders Denken konzipiert. Die theologiegeschichtliche Position sowie die Einheit im Denken Herders lässt sich letztlich nur durch eine textnahe Interpretation der Schriften Herders sowie der sich in ihnen widerspiegelnden Diskurse eruieren. Dieser Fragestellung nach einer systematisierenden Zusammenschau der theologischen Gehalte geht die Arbeit von Keßler bewusst nicht nach. So werden in dem unter systematisch-theologischer Perspektive spannendsten Abschnitt der Arbeit, in dem Keßler die argumentativen und thematischen Aspekte von Herders Predigten zusammenfasst12 , diese zwar summarisch rekapituliert, aber weder untereinander noch in Bezug auf sein literarisches Werk in ein Verhältnis gesetzt oder in ihrer systematisch-theologischen Reichweite gedeutet. Solchen systematisch-theologischen Begründungszusammenhängen will meine Arbeit nachgehen. Wie verhalten sich die ontologischen und naturphilosophischen Theorieelemente zu den anthropologischen, kultur11

H. D. Irmscher, Blick auf einen »Bund von Sternen«, Frankfurter Rundschau vom 20. August 1994, ZB 3. 12 M. Kessler, Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern, Bd. 2, 890–975.

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Einleitung

theoretischen und ästhetischen? Welche Stellung nimmt in diesem Geflecht die Religion und speziell das Christentum ein? Diese Frage aufnehmend führt meine Beschäftigung mit Herder zu einer Arbeit, die keiner werkgeschichtlichen, sondern einer systematischen Darstellungslogik folgt, welche das interne Begründungsgefälle von Herders Denken erhellt. Dazu scheint mir das Werk der Weimarer Zeit besonders geeignet zu sein, da hier sein Denken zu einer letzten großen Thesis kommt, die sich in seinem Humanitätsverständnis manifestiert.13 b) Die bedeutendste Arbeit der neueren Herderphilologie ist neben der bereits genannten Kommentierung der Briefe Herders durch Günter Arnold der werkgeschichtliche Kommentar zu Herders geschichtsphilosophischem Hauptwerk den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit durch Wolfgang Proß von 2002.14 Wolfgang Proß zeigt in seinem Nachwort und in seinem Kommentar, wie tief Herders Ideen in der europäischen Geistesgeschichte von der Antike bis ins späte 18. Jahrhundert verwurzelt sind. Die Ideen erscheinen so nicht mehr als eine unableitbar auftretende ›geniale‹ Intuition eines Einzelnen, sondern sind als das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung Herders mit den geistigen Strömungen seiner Zeit zu verstehen. Proß’ Kommentar kann geradezu als eine Archäologie von Herders Geist gelesen werden, indem er die Quellen Herders als grundierende Texte der Ideen freilegt. Entgegen der seit Kants Rezension der Ideen sich in der Philosophiegeschichte immer noch fortschreibenden Meinung, Herder tauge allenfalls zum Popularphilosophen, zeigt Proß’ Kommentar Herder auf der Höhe der philosophischen Debattenlage der Zeit, in der Herder seine eigene durchaus luzide Positionsbestimmung vornimmt. Der Fokus der Kommentierung liegt dabei auf der »Neukonzeption der Geschichtsphilosophie aus dem Geist der Naturphilosophie«15 . So sehr die Kommentierung im Einzelnen überzeugt, so sehr macht sich irgendwann eine Unzufriedenheit in Bezug auf die Gesamtrichtung des Kom13 Damit berührt sich meine Arbeit vom Grundansatz mit der praktisch-theologischen Habilitation von M. Kumlehn, Gott zur Sprache bringen. Studien zum Predigtverständnis Johann Gottfried Herders im Kontext seiner philosophischen Anthropologie, Tübingen 2009. Ausgehend von Herders anthropologischen Grundlagen rekonstruiert Kumlehn in konzentrierter Form Herders Homiletik. 14 Vgl. Johann Gottfried Herder, Werke, hg. v. W. Pross. Bd. III: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Teilbde. (Bd. III/1: Text, Nachwort; Bd. III/2: Kommentar, Register), München/Wien 2002. Vgl. dazu die umfassende Rezension von G. Arnold in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 2003 (255. Jg.; Heft 3–4, 293–307). 15 W. Pross, H III/1, 890. Zur Naturalisierungsthese vgl. auch H. B. Nisbeth, Die Naturgeschichte der Nationen. Naturgeschichte und naturwissenschaftliche Modelle in Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menscheit«, 153–164.

1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung

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mentars bemerkbar. Denn der Kommentar ist dort stark, wo er die Quellen für die Naturalisierung und Immanentisierung der Menschheitsgeschichte bereitstellt, während er ein auffallendes Desinteresse an allen religiös-metaphysischen Bezügen aufweist. Das ist insofern besonders bedauerlich, weil Herder an den entscheidenden Schaltstellen der Ideen – ganz deutlich im fünften und fünfzehnten Buch – in aller Regel auf religiös-metaphysischem Hintergrund argumentiert. Während also die These von Proß auf eine Verabschiedung von Religion und Metaphysik aus dem Werk Herders hinausläuft, so ist meine These, dass Herders Humanitätskonzept und dessen unbestrittene Naturalisierung nur auf der Basis einer religiös-metaphysischen Gesamtkomposition verstanden werden kann. Andernfalls müssten tatsächlich alle teleologischen und universalistischen Züge in Herders Denken geleugnet werden. Ich bestreite also die Naturalisierungsthese nicht, sondern versuche nachzuweisen, dass die Naturalisierung auf metaphysischem Grunde verläuft und von ihm her überhaupt erst ihre Einheit bekommt. Diese religiös-metaphysische Gesamtkomposition lässt sich in aller Vorläufigkeit inhaltlich als die wesensmäßige Identität von Natur und Geist aus dem schöpferischen Geist Gottes begreifen. Es ist das Verdienst von Marion Heinz, dass sie in ihrer Habilitation Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder bereits für das Frühwerk Herders deutlich herausgearbeitet hat, dass Herder von Anfang an darum bemüht war, »monistische Systemansätze zu formulieren«16 . Ausgehend von Herders frühem Versuch über das Sein von 1763 zeichnet sie bis zur dritten Fassung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele von 1778 die Entstehung von Herders erkenntnistheoretischem Programm nach, das sie treffend als die Vermittlung von Sensualismus und Idealismus charakterisiert. Die in dieser von Marion Heinz rekonstruierten Erkenntnistheorie der Frühschriften angelegte Metaphysik reflektiert Herder allerdings erst in seiner Spinozaschrift Gott. Einige Gespräche von 1787 vollends durch. Diese Metaphysik wird von mir als die Grundlage rekonstruiert, auf der für Herder überhaupt erst von einer Naturalisierung der Anthropologie und Geschichte gesprochen werden kann. Dass dies entgegen Herders Selbstzeugnis geschieht, der nicht müde wird zu betonten, dass er ein Gegner der metaphysischen Spekulation sei, kann als Indiz dafür genommen werden, dass er eine Metaphysik aus der Erfahrung des endlichen Bewusstseins entwirft, die er selbst wegen ihres Erfahrungsbezuges nicht als Metaphysik versteht. 16 M. Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778), XV. Vgl. zur Sache auch den hervorragenden Aufsatz von G. Scholz, Herder und die Metaphysik, 13–31.

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Einleitung

c) Herders monistischem Systemansatz in der Metaphysik korrespondiert das sein Werk durchziehende Ursprungsdenken. Die Frage nach dem Ursprung der Menschheitsgeschichte, der Sprache, der Religion wie der Literatur, die er als »Philosoph auf dem Schiffe«17 genialisch entwirft, führt für den Theologen Herder notwendig zu einer besonderen Würdigung der alttestamentlichen Urgeschichte.18 Demgemäß lässt sich innerhalb der Herderforschung im Vergleich zu Herders Schriften zum Neuen Testament eine deutliche Schwerpunktsetzung auf die Interpretation von Herders Schriften zum Alten Testament konstatieren. Diese forschungsgeschichtliche Gewichtung führt zu weitreichenden Einschätzungen bezüglich der theologischen Ausrichtung von Herders Werk insgesamt. Prägnant wird sie von Gerhard vom Hofe auf den Punkt gebracht. Demnach denke »Herder schöpfungstheologisch [. . .], also vornehmlich ursprungsorientiert und nicht futuristisch, mithin nicht – wie sich von einem Theologen erwarten ließe – heilsgeschichtlicheschatologisch«19. In dieser schöpfungstheologischen Ausrichtung seines Denkens wird dann auch der Grund von Herders ästhetischem Verständnis von Hermeneutik und Geschichte gesehen. 20 Die wichtigste und umfassendste Arbeit der letzten Jahre zu Herders Deutung der Urgeschichte und ihrer Bedeutung für die Geschichte der Menschheit ist die Habilitation von Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes von 1999. Das besondere Verdienst dieser ideengeschichtlich verfahrenden Arbeit liegt darin, dass sie Herders Genesisinterpretation nicht allein als eine ästhetische Dichtungstheorie liest, sondern als einen ponderablen religionsphilosophischen Entwurf in der Auseinandersetzung mit der Religionskritik David Humes. Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts wird dabei gleichermaßen als ein Werk aus dem Geist der Aufklärung wie als ein Werk der Kritik an demselben konturiert. Dafür legt Bultmann in den ersten drei Kapiteln die Voraussetzungen für Herders Genesisinterpretation dar: aus Herders eigenen frühen poetologischen Schriften, der frühen Hebraistik von Grotius bis Lowth sowie der Religionskritik David Humes selbst. Dann kommt es im vierten Kapitel vor 17

J. G. Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, FA 9/2, 16. Vgl. dazu J. G. Herder, Schriften zum Alten Testament, herausgegeben und kommentiert von R. Smend, FA 5, Frankfurt a. M. 1993. 19 G. v. Hofe, Die Geschichte als »Epopee Gottes«. Zu Herders ästhetischer Geschichtstheorie, 68. Vgl. dazu grundlegend K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 21953. 20 An diese Interpretationslinie sachlich anknüpfend zeichnet M. Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 21–85, luzide die ästhetische Dimension in Herders Religionsverständnis nach. Vgl. so auch B. Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, 261–361. 18

1. Zur Fragestellung der Untersuchung im Kontext der Forschung

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diesem Hintergrund zu einer konzentrierten Interpretation der Ältesten Urkunde. Das letzte Kapitel zeichnet abschließend die Wirkungsgeschichte von Herders Deutung der Urgeschichte nach. Bultmann arbeitet so die Bedeutung der Urgeschichte für Herder als einen »Schlüsseltext«21 für die Geschichte der Menschheit wie für die theologische Anthropologie insbesondere heraus. In der Konzentration auf Herders Ursprungsdenken kommt es wie in der Herderforschung insgesamt so auch bei Bultmann zu einer relativierenden Einschätzung der Bedeutung der Christologie für Herders Denken.22 Faktisch wird in dieser Deutung die Christologie in das Ursprungsdenken hinein aufgehoben. Zu der schöpfungstheologischen Bestimmung des Menschen kann demnach die Christologie nichts Neues mehr hinzubringen und ist daher insofern auch nicht mehr im Vollsinne als Christologie, sondern nur noch als Jesulogie zu begreifen. Das Diktum von Ulrich Gaier spiegelt die opinio communis bezüglich Herders Christologie wider: »Christus hat demnach nicht die wesentliche Funktion für das Heil der Menschen, sondern ist ein verehrungswürdiger, vorbildlicher Mensch, der im Sinne der jedem Menschen aufgegebenen Verähnlichung an die Gottheit gottähnlich war und wirkte«23. Diese Deutung der Christologie Herders halte ich für eine forschungsgeschichtliche Verzerrung, die sich m. E. vor allem daraus ergibt, dass Herders Interpretation der neutestamentlichen Schriften in der Forschung nicht hinreichend Beachtung findet. Demgegenüber ist es in dieser Arbeit mein Ziel, die fundamentalanthropologische wie universalgeschichtliche Bedeutung der Christologie für Herders Humanitätsbegriff wie sein Denken überhaupt herauszuarbeiten. Wenn Herder dabei das traditionelle heilsgeschichtliche Denken verlässt, besagt dies nicht, dass er keine Christologie hätte, sondern nur, dass er unter den Bedingungen seiner geschichtsphilosophischen Einsichten einen diesen entsprechenden Christologietypus entwirft. Christus als das ›Bild Gottes auf Erden‹ ist nach Herder das Urbild des Menschen überhaupt. d) Damit komme ich zum letzten Punkt, mit dem ich meine Position in der derzeitigen Forschungslandschaft zu Herder charakterisieren möchte. Wie gerade dargelegt, geht es mir darum, Herders Werk in seiner Einheit zu verstehen. Damit trifft sich meine Rekonstruktionsperspektive im Kern mit der von Thomas Zippert. In seiner Dissertation Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophischen-literarischen Lebenswerkes von 1994 versucht Zippert ebenfalls von der Theologie her, die Einheit von Herders Lebenswerk zu bestimmen. Er konzentriert sich dazu auf Herders Frühwerk. Nach einer Ein21 22 23

C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 190. Vgl. aaO. 160–165. U. Gaier, Herders systematologische Theologie, 217.

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leitung wird in vier Kapiteln, die sich an der Biographie Herders orientieren, werkgeschichtlich von Herders Studienzeit über die Zeit in Riga und die Reisezeit bis hin zu seinen Jahren als Hofprediger in Bückeburg genetisch Herders Offenbarungsverständnis als das integrale Thema seines Schaffens herausgearbeitet. Zippert schafft es so, das Frühwerk über die einzelnen biographischen Stationen hinweg in seinem inneren Zusammenhang zu rekonstruieren. Von Christoph Bultmann wurde m. E. allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass der von Zippert zugrunde gelegte Offenbarungsbegriff selbst nicht ganz durchgeklärt wird.24 Die Argumente sollen hier nicht im Einzelnen wiederholt werden. Aber die Tatsache, dass bei Zippert nicht deutlich wird, inwiefern der gesamten Schöpfung bei Herder Offenbarungsqualität zukommt, inwiefern aber auch das Ineinander von Erkenntnistheorie und Ontologie bei Herder gedacht wird, macht auf ein grundlegenderes Problem in der Herderforschung aufmerksam. Denn es fällt bei der Durchsicht der Literatur zu Herder auf, dass die christentumstheoretische Dimension in seinem Werk und seine spinozanisch inspirierte Metaphysik nahezu immer unverbunden nebeneinander stehen. Während dort, wo Herder als christlicher Theologe rekonstruiert wird, sein Spinozismus mehr oder weniger übergangen wird, entsteht in der umgekehrten Perspektive der Eindruck, als sei Herder ›eigentlich‹ Spinozist gewesen, der bloß der Form und seiner kirchlichen Stellung halber die christliche Rhetorik beibehalten habe. 25 Wie sich diese beiden Gedankenlinien in Herders Werk zueinander verhalten, wird bei alledem nicht deutlich. So ist es dann auch der monistische Systemansatz Herders, den Zippert in Bezug auf den Offenbarungsbegriff nicht hinreichend thematisiert hat. Die sachliche Aufgabe gegenüber diesen beiden sich wechselseitig ausschließenden Strategien muss m. E. darin liegen, die Einheit beider Denkfiguren zu rekonstruieren. Die Frage lautet, unter welcher Perspektive Herder Christentum und Spinozismus zusammen bringen kann, mithin wie ein christlicher Monismus zu denken ist. Dabei wird weder von einem starren Begriff des Spinozismus noch von einem dogmatisch festgelegten Begriff des Christentums auszugehen, sondern Herders Ineinanderdenken zu rekonstruieren sein. Es wird dabei deutlich werden, dass dies im Anschluss an Herders Auslegung 24

Vgl. C. Bultmann, Herderforschung 1985–2000, 49 f. Für den ›Christen‹ Herder vgl. U. F. Huss, Die Bedeutung des Christusglaubens für die Humanitätskonzeption Johann Gottfried Herders, Jena 1995, während der ›Spinozist‹ Herder bei H. Lindner, Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders, Weimar 1960, sowie E. Adler, Herder und die deutsche Aufklärung, Wien 1968, das Thema ist. Aber selbst in der neueren Herderforschung sind die beiden Aspekte noch relativ unverbunden. Vgl. die Beiträge in M. Kessler und V. Leppin (Hg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, Berlin/New York 2005. 25

2. Zu Methode und Verfahren der Untersuchung

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des Johannesevangeliums auf eine erfahrungstheoretische Reformulierung der alexandrinischen Logoschristologie hinausläuft. Denn die Logoschristologie weist die geeignete Struktur auf, um den spinozanischen Monismus mit dem christlichen Personalismus zu vereinigen. Der Logos in Christus ist gleichermaßen historische Person wie universales Prinzip. Von den Christlichen Schriften aus gelesen erweist sich somit Herders spinozanisch inspirierter Monismus in letzter Konsequenz als ein logoschristologischer Monismus. Humanität wird von Herder damit zugleich als eine christologische Kategorie bestimmt.

2. Zu Methode und Verfahren der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung versteht sich gleichermaßen als Beitrag zur Herderforschung wie zur Theologiegeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf Herders Schriften der Weimarer Zeit. Ausgehend von den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, der Spinozaschrift Gott. Einige Gespräche sowie seinem Alterswerk, den Christlichen Schriften, rekonstruiere ich den systematischen Zusammenhang von Christologie und Humanitätsideal im Werk Herders. Dabei werden gleichermaßen synchron weitere Schriften der Weimarer Zeit – wie die Briefe zu Beförderung der Humanität und die Adrastea – in die Untersuchung einbezogen sowie diachron Entwicklungslinien quer durch Herders gesamtes Werk verfolgt. Dieses Vorgehen wird Herders Denken und Arbeiten insofern gerecht, als dass er einerseits Zeit seines Lebens dieselben Themen in immer neuen Anläufen reflektierte und andererseits in aller Regel seine verschiedenen Werke parallel ausarbeitete, so dass thematische und sachliche Überschneidungen zu erwarten sind. Intertextualität ist damit ein wesentliches Moment in der Herderforschung. Die spezifische Herausforderung für jeden Herderinterpreten liegt in Herders Stil.26 Er hat an keiner Stelle sein Denken in einem System zusammengefasst und wollte das auch nicht. Er steht in aktuellen Debatten, auf die er jeweils individuell reagiert. Streckenweise assoziativ, mehr behauptend als argumentierend, fast immer polemisch vollzieht sich sein Denken. Das ›Schöne‹ und ›Bildhafte‹ seiner poetischen Formulierungen droht in ganzen Passagen den sachlichen Gehalt zu überdecken. Gleichwohl sind dieser sachliche Gehalt sowie dessen gedanklicher Begründungszusammenhang zu eruieren. Die Ästhetik überdeckt in Herders Werk vielleicht die Logik der Gedankenführung, aber sie hebt sie nicht auf. 26

Vgl. H. Adler, Herders Stil als Rezeptionsbarriere, 15–31.

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Einleitung

Ich werde im Folgenden in einer vertiefenden Interpretation in vier Kapiteln dem Zusammenhang von Christologie und Humanitätsidee nachgehen. 27 Vertiefend ist diese Interpretation insofern, als dass ich in jedem Kapitel den über es hinausführenden Gedanken suche. Daraus folgt, dass Themenstellungen und Probleme auf den jeweils verschiedenen argumentativen Ebenen in Variationen unter der sich vertiefenden Perspektive jeweils neu verhandelt werden müssen. Die Argumentation kann hier nicht im Einzelnen vorweggenommen werden, sondern nur der Gedankengang seiner Grundstruktur nach durchsichtig gemacht werden. So erwächst aus Herders Naturalisierung der Anthropologie und Geschichtsphilosophie vermittelt über die teleologische Struktur in Herders Humanitätsidee (Kapitel I) die Frage nach Herders Metaphysik (Kapitel II). Ich werde zeigen, wie Herder hier Spinozas Monismus der Substanz in einen Monismus des Geistes umformt, wodurch er für die Theorielage des deutschen Idealismus wegweisend wird. Das hat aber auch weitreichende Folgen für Herders religiöse Weltdeutung insgesamt, denen ich im Kapitel III nachgehe. Was als Naturalisierung angefangen hatte, erweist sich auf dieser Ebene als eine umfassende Theodizee. Auf dem Hintergrund der zeitgenössischen religionsphilosophischen Debattenlage skizziere ich dann das daraus für Herder folgende Verhältnis von Religion und Offenbarung. Der bis hierher vollzogene Gedankengang entwickelt Herders Humanitätsbegriff in der Dialektik von Anlage und Bestimmung. Innerhalb dieser Ausführungen Herders bleibt Humanität jedoch in seiner teleologischen Theoriedimension inhaltlich relativ unbestimmt, während er deren formale Struktur unter dem Sinnbild der Nemesis-Adrastea ausgiebig reflektiert. Der Menschheit ist nach Herder offensichtlich ein Ziel vorgegeben; worin es aber besteht und wie es aktiv intendiert werden kann, bleibt undurchsichtig. Das ändert sich erst in der christentumstheoretischen Perspektive (Kapitel IV). Herders Christologie wird dabei von mir ausgehend von seiner Interpretation des Johannesevangeliums im Sinne einer Logoschristologie gedeutet. Christus als die vollendete Humanität ist demnach nicht allein Vorbild, sondern vor allem und zuerst Urbild der Humanität. Von hier aus schließt sich der Kreis zum ersten Kapitel. Humanität als allgemein-anthropologische Kategorie steht für Herder letztlich in einem pointiert christologischen Begründungszusammenhang.

27 In dieser Arbeit werden die Hervorhebungen im Zitat in der Regel nicht übernommen. Sollten Hervorhebungen im Zitat sein, so mache ich kenntlich, ob sie im Original (H. i. O.) stehen oder von mir vorgenommen wurden (Hervorhebung C. C.). Aus den Briefen Herders wird unter Angabe der Bandnummer in römischen Ziffern, der Briefnummer sowie hochgestellt der Zeilenangabe zitiert (z. B. DA III 8737).

Kapitel I

Herders Anthropologie »The proper study of Mankind is Man« A. Pope

1. Das Problem einer Bestimmung des Humanitätsbegriffs Herders Es gehört in der Herderforschung zu den altbekannten Klagen, dass Herder begrifflich nicht distinkt arbeite, sondern die Gehalte seines Denkens intuitiv und assoziativ umreiße und solch ein divinierendes Sinnerfassen auch von seinen Leserinnen und Lesern erwarte. Das Urteil Theodosius Harnacks über Luther, er sei kein Systematiker1, kann mit demselben Recht über Herder gesprochen werden. Aber auch hier gilt es, den Vorbehalt Karl Holls geltend zu machen, den dieser in Bezug auf die Lutherforschung formulierte: Die Unsystematizität sollte nicht aus »Bequemlichkeit« vorgeschützt werden, »es ernsthaft mit dem Nachdenken über [. . .] verschieden klingende Aussagen zu versuchen«2 . Was in diesem Sinne von Herders gedanklicher Arbeit überhaupt gilt, trifft in gesteigertem Maße auf seinen Humanitätsbegriff zu. Besonders in Bezug auf Herders Verwendung des Terminus »Humanität« und seiner Äquivalente wurde immer wieder deren Unschärfe und scheinbar tautologische Verfasstheit bemängelt.3 Man wird wohl in der Tat nicht zu einer formalen Definition von Herders Humanitätsbegriff vordringen können.4 Herder selbst hat die Weite seines Verständnisses von Humanität gespürt: »Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich [. . .] über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe: denn der Mensch hat kein edleres Wort für

1

Vgl. T. Harnack, Luthers Theologie I, Vorrede IX sowie 4–14. K. Holl, Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 117. 3 Vgl. zur älteren Herderforschung W. Dobbek, Humanitätsidee, 7 f., und jüngst H. D. Irmscher, FA 7, 817. 4 So H. D. Irmscher, ebd. 2

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Kapitel I: Herders Anthropologie

seine Bestimmung als Er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde [. . .] abgedruckt lebet«5 . Die benannten Irritationen bezüglich Herders Gebrauchs des Humanitätsbegriffs lassen sich leicht anhand diverser Stellen aus seinem Œuvre exemplifizieren. Einmal ist ihm Humanität die wohlwollende Einstellung seines Lesers zu seiner Schrift 6 , dann ist sie das allgemeine »Mitgefühl«7 der Menschen untereinander. Des Weiteren ist ihm die griechische Kunst »eine Schule der Humanität«8 , indem sie die »Menschheit im Menschen«9 zur Darstellung bringt. Neben dieser anthropologisch-ästhetischen Konnotation des Humanitätsbegriffs findet sich auch ein politischer Gebrauch desselben. Dem »Kriegs- und Eroberungssystem«10 der europäischen Mächte wird ein der Humanität dienendes »Völker- und Menschenrecht«11 entgegengestellt. Schließlich kann Herder aber auch die Religion als »die höchste Humanität des Menschen«12 bezeichnen und Jesus als deren »echteste«13 Verkörperung, ja sogar als den eigentlichen »Stifter dieser Regel«14 der Humanität. Die Liste der verschiedenen thematischen Aspekte des Humanitätsbegriffs ließe sich unschwer ausweiten. Aber soviel lässt bereits dieses Florilegium erkennen: Herders Begriff von Humanität ist der integrale Ausdruck eines Wirklichkeitsverständnisses, das elementar anthropologische, geschichtlich-kulturelle, politische wie auch religiöse Aspekte in sich vereinigt. Unbeschadet der damit eingestandenen Weite seiner Humanitätskonzeption soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, Herders facettenreiches Humanitätsideal auf dessen Theoriedimensionen hin zu untersuchen. Dabei gilt es, diese Bedeutungsschichten in Herders Verwendung des Terminus der Humanität voneinander zu sondern und ihre Aufbaulogik zu eruieren. Dabei werde ich in der Rekonstruktion von den basalen Bestimmungen des Humanitätsbegriffs zu seinen komplexeren Formen aufsteigen. Das heißt für die Themenstellung dieser Arbeit, dass die spezifisch christliche Fassung des Humanitätsbegriffs erst dann erfolgen kann, wenn seine anthropologischen, geschichtsphilosophischen und kulturtheoretischen Bestimmungen untersucht worden sind. Erst wenn herauspräpariert wurde, wie Herder in diesem Sinne Humanität versteht, kann seine Interpretation der Person Jesu 5

FA 6, 154. AaO. 14. 7 FA 7, 149 8 AaO. 363. 9 AaO. 372. 10 AaO. 116. 11 AaO. 150. 12 FA 6, 160. 13 AaO. 708. 14 FA 9/1, 760. 6

2. Vom Universum zur Unsterblichkeit – die Zentralstellung der Anthropologie 15

sowie des aus ihm entlassenen geschichtlichen Deutungs- und Wirkzusammenhangs eine sachgemäße Würdigung erfahren. Daher soll es nun zunächst um Herders fundamentalanthropologische Aussagen zum Wesen des Menschen gehen, wie er sie im ersten und zweiten Teil der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sowie in den Briefen zu Beförderung der Humanität entfaltet hat.

2. Vom Universum zur Unsterblichkeit – die Zentralstellung der Anthropologie Wer Herders wirkungsgeschichtlich vielleicht bedeutsamstes Werk – die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit15 - zum ersten Mal zur Hand nimmt, wird in der Erwartung einen geschichtsphilosophischen Entwurf vorzufinden zunächst enttäuscht. Herder verlangt seinem Publikum vorerst ab, sich durch eine immense Menge naturgeschichtlich-physiologischen Materials hindurch zu arbeiten, welches einige Vorkenntnisse auf den jeweils besprochenen Feldern abverlangt. Herder war sich dieser Uneigentlichkeit in Bezug auf die geschichtsphilosophische Fragestellung im engeren Sinne bewusst. Er konstatiert dazu: Der erste Teil »enthält nur die Grundlage, teils im allgemeinen Überblick unsrer Wohnstätte, teils im Durchgange der Organisationen, die unter und mit uns die Sonne genießen«16 . Die Ideenschrift erweitert gegenüber Herders beiden berühmten Schriften der Bückeburger Zeit17 – der Preisschrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) sowie der ›kleinen‹ Geschichtsphilosophie Auch eine Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) – den gedanklichen Horizont in einer doppelten Weise. Zum einen wird die Geschichtsphilosophie in der Anthropologie fundiert, zum anderen wird diese wiederum in eine naturphilosophische Theorie des Organischen eingebettet. Diese vermittelnde Funktion der Anthropologie zwischen natürlicher Bedingtheit des Menschen und seiner geschichtlichen Entwicklung ist für Herders Denken schlechterdings fundamental. Sie verdeutlicht, was im Folgenden näher ausgeführt werden wird, dass Herder Kultur und Geschichte sich aus denselben Gesetzen wie denjenigen, die in der Natur herrschen, generierend denkt. Seine in den ersten drei Büchern der Ideen rezipierten kosmologischen, geographischen, klimatischen und vegetativen Theorien werden von ihm nicht als Selbstzweck dargeboten, sondern sie zielen auf die Anthropologie. Es geht Herder darum, die natür15

Vgl. zu Entstehung und Aufbau der Schrift W. Pross, H III/2, 64–68. FA 6, 16. 17 Vgl. zu den beiden Schriften M. F. Möller, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung, 59–90. 16

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Kapitel I: Herders Anthropologie

lichen Bedingungen menschlicher Existenz zu eruieren, aus denen sich der geschichtlich-kulturelle Bildungsprozess erhoben hat. Damit bringt Herder das Programm einer seiner frühesten Schriften – der Abhandlung Wie die Philosophie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann (1765) – zur Durchführung. Bereits dort hatte er betont: »Philosophie wird auf Anthropologie zurückgezogen«18 . Diese Zentralstellung der Anthropologie wird in den Ideen von Anfang an deutlich. So umreißt Herder den geschichtsphilosophischen Horizont seiner Schrift in der Vorrede mit der Frage: »Was ist Glückseligkeit der Menschen? und wie fern findet sie auf unsrer Erde statt?«19. Auch das erste Buch, das sich dem neuzeitlichen Bild des Kosmos zuwendet, setzt programmatisch ein: »Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt: so muß man sie zuförderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist«20 .

Diese beiden Zitate stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen Herder die grundsätzliche Wesensbestimmung des Menschen und damit auch seines Begriffs der Humanität vornimmt. Ausgehend von den naturgeschichtlich-physiologischen Daseinsbedingungen über die spezifisch menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten hin zu einer religiösen Telosbestimmung, die die irdische Humanität nur als »die Knospe zu einer zukünftigen Blume«21 begreift, entwirft Herder sein anthropologisches Grundkonzept im ersten Teil der Ideen. Es geht Herder also zunächst darum, den »Schauplatz«22 vorzustellen, auf dem sich die Menschheitsgeschichte abspielt. Kosmologie, Geographie, Biologie und Anthropologie bilden für Herder gleichsam das Apriori der geschichtlichen Entfaltung des Humanums. So hält er als Ergebnis der Untersuchung

18 FA 1, 103. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Problemlage dieser Themenstellung im 18. Jahrhundert vgl. W. Pross, H III/1, 845–856 sowie U. Gaier, FA 1, 813–832. Grundsätzlich zum Methodenproblem der zeitgenössischen anthropologischen Forschung sowie zu Herders früher Rezeption derselben vgl. R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 25–92. Zur außertheologischen Debatte um die Anthropologie vgl. M. Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1976. 19 FA 6, 12. 20 AaO. 21. 21 AaO. 187. 22 AaO. 49.

2. Vom Universum zur Unsterblichkeit – die Zentralstellung der Anthropologie 17

im ersten Teil fest, den Menschen der »Idee seiner Natur überhaupt«23 nach bestimmt zu haben. »Die Geschichte seiner Kultur«, betont Herder, »wird [. . .] einem großen Teil nach zoologisch und geographisch«24 . Es geht Herder dabei nicht bloß darum, deskriptiv die Voraussetzungen und Bedingungen menschlichen Lebens aufzuzeigen, sondern vielmehr darum, die genetische Abhängigkeit des Menschen von seinen Daseinsbedingungen aufzuweisen. In dieser Intention deutet sich Herders Stellung in den großen geistesgeschichtlichen Konstellationen des neuzeitlichen Rationalismus an. 25 Gegen den schroffen Dualismus eines Descartes mit der Trennung von res extensa und res cogitans setzt Herder eine monistische Konzeption, die die humane differentia specifica der Vernunftbegabtheit nicht a priori setzt, sondern aus ihrer naturbedingten Genese heraus verstehen will. Mit dieser These begibt Herder sich in die Nähe des englischen Empirismus und, wie wir noch sehen werden, auf prinzipiell gleichen Boden mit dem französischen Materialismus. In seiner Forderung, dass allein »Erfahrung und Analogie der Natur«26 die Untersuchung leiten sollen, weiß er sich in expliziter Tradition zu der von Francis Bacon in seinem Novum Organum27 (1620) grundgelegten wissenschaftstheoretischen Option. 28 Das Wesen des Menschen soll nicht axiomatisch gesetzt werden, sondern aus experience und observation abgeleitet werden, was auf einen sensualistischen Theorieansatz führt. Dies entspricht Herders Perspektive, wenn er die Geschichtsphilosophie in der Anthropologie, diese in einer naturphilosophischen Betrachtung der Stufen des Organischen und diese wiederum in der Kosmologie fundiert sein läßt. So kann Herder in einer an Baron d’Holbach erinnernden Weise schreiben, dass »Geist und Moralität auch Physik sind und denselben Gesetzen«29 dienen. Indem der Mensch aber auf diese Weise in den kausal determinierten Naturzusammenhang eingeordnet wird, stellt sich die Frage, ob und wie Herder Normativität und Freiheit 23

AaO. 209. AaO. 69. 25 Vgl. P. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 615–636. Vgl. zur Debattenlage außerdem F. W. Kantzenbach, Religionskritik der Neuzeit, 14–34. 26 FA 6, 16. 27 Herder war in Besitz dieses Werkes; vgl. BH 3522. 28 Vgl. W. Pross, H III/2, 37 f. und 42 f. 29 FA 6, 28. Vgl. auch FA 6, 664 f.: »Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in der Natur ist [. . .]. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten«. Holbach schreibt im Système de la nature: »L’homme est un être purement physique; l’homme moral n’est que cet être physique considéré sous un certain point des vue«. Zitiert nach W. Pross, H III/2, 82. Für Herder sind in Bezug auf den einheitlichen Zusammenhang von Natur und Geschichte aber sowohl Leibniz als auch Shaftesbury entscheidender als Holbach. Gerade die Betonung der Parallelität von Moral und Physik durch Leibniz hat Herder früh geprägt. 24

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Kapitel I: Herders Anthropologie

zu denken vermag. So viel sei vorweggenommen: Herder will beides denken und gerade der Humanitätsbegriff, der die Sonderstellung des Menschen im Kosmos thematisiert, hat eine hohe freiheitstheoretische Valenz.30 Der in dieser Konzeption angelegten Propädeutik zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit soll im Weiteren nachgegangen werden, da Herder hier seine Grundanschauung vom Menschen darlegt und damit zugleich sein Verständnis von Humanität sukzessive entfaltet.

3. Humanität als Gabe und Aufgabe 3.1 Herders Deutung der kopernikanischen Wende »Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen«31 – mit diesem seine Geschichtsphilosophie einleitenden Satz stellt sich Herder auf den Boden der durch Nikolaus Kopernikus (1473–1543) in seiner Schrift De revolutionibus orbium coelestium (1543) begründeten Wende von dem aristotelisch-ptolemäischen zum neuzeitlichen Weltbild. Durch den damit angezeigten Paradigmawechsel lief die schöpfungstheologisch ausgesagte Sonderstellung des Menschen Gefahr verloren zu gehen.32 Freilich hatte Kopernikus gleichsam nur den Anstoß zum Heraufziehen des neuen Weltbildes gegeben. Er selbst »verstand sein Werk vielmehr als vereinfachende mathematische Reform des ptolemäischen Systems«33. Zwar vertrat er einen Heliozentrismus, verband diesen aber mit der traditionellen Vorstellung von Himmelskreisen sowie einer Fixsternrinde, so dass sich der Mensch immer noch in einem geschlossenen Kosmos nach aristotelisch-ptolemäischem Vorbild vorfand. Insofern stellt seine Theorie nur eine Variation des alten Weltbildes mit festem Ort für Dies- und Jenseits dar. Hierin dürfte wohl auch der eigentliche Grund liegen, warum die Schrift eben gerade nicht unmittelbare Sprengkraft freisetzte, sondern sich erst zeitverzögert Geltung verschaffte.34 Erst indem Giordano Bruno (1548–1600) das heli30

Vgl. dazu in dieser Arbeit besonders II. 3.3.1. FA 6, 21. 32 Zur Wende des Weltbildes und der damit verbundenen Anthropologisierung vgl. die Ausführungen von G. Hummel, Aufklärerische Theologiekonzepte, 9 f. 33 H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2, Konfessionalismus, 61. 34 Vgl. hierzu W. Philipp, Das Werden der Aufklärung, 78–82; ders., Das Zeitalter der Aufklärung, XXIII f. sowie H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2, Konfessionalismus, 57 f., der deutlich macht, dass die ersten Angriffe gegen Kopernikus sich weniger gegen jene von Osiander in der Vorrede zu De revolutionibus so benannten »Hypothese« der Welterklärung richteten, sondern gegen die darin vorausgesetzte und als häretisch geltende neuplatonisch-hermetische Tradition. 31

3. Humanität als Gabe und Aufgabe

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ozentrische Weltbild mit der Vorstellung des unendlichen Universums35 und einer Pluralität der Welten verband, war der Boden bereitet, der im Übergang von Spätbarock zu Frühaufklärung36 den sog. »Kopernikanisch-Brunoische[n] Schock«37 nach sich zog. Literarischen Ausdruck 38 fand die sich aus der drohenden Marginalisierung und Relativierung der Stellung des Menschen und seiner Geschichte im Kosmos generierende Sinnkrise u. a. in dem Schrifttum des französischen Popularphilosophen Bernhard Le Bouvier de Fontenelle (1657–1757), dessen Schrift Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) als »astronomische[r] Bestseller der Aufklärungszeit«39 gelten kann. Während Fontenelle zynisch mit der Bedeutungslosigkeit des Menschen angesichts des neuen Weltbildes spielt, tritt bei Blaise Pascal (1623–1662) der Schauder erregende Affekt in den Vordergrund. So lässt er in den Pensées seinen Atheisten sagen: »Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums [. . .] und ich fi nde mich an eine Ecke dieses weiten Weltenraumes gefesselt, ohne daß ich wüßte, weshalb ich nun hier bin und nicht etwa dort bin [. . .]. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr«40 .

Und schließlich ruft er aus: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern«41. Ebenso mahnt William Derham in seiner Astrotheologie (1715): »Die aufmerksame Erwegung der entsetzlichen Grösse und Menge der himmlischen Körper [. . .] können uns lehren das Irdische nicht zu hoch zu achten, noch an demselbigen [. . .] allzu sehr zu hängen. Denn was ist unsere ganze Erdkugel anders, als ein Punct; ein nichts gegen das ganze Weltgebäude«42 . Und Jean Pauls toter Christus spricht: »Wie ist jeder so allein in 35 Bekanntlich hat der Begriff des Universums dann von hier aus bei Schleiermacher in den Reden wieder Konjunktur gehabt. 36 Zur Problematik der Epochenabgrenzung vgl. H.-G. Kemper, Gottebenbildlichkeit, Bd. 1, 3–5. 37 W. Philipp, Zeitalter der Aufklärung, XXVII. Zur Verwendung der Chiffre »Kopernikanische Wende« als einer metaphorischen Deutekategorie vgl. H. Blumenberg, Die kopernikanische Wende, 122–164 und den ganz in diesem Sinne gehaltenen Artikel von K. Dienst, Art. Kopernikanische Wende, 1094–1099. Zu der durchaus nicht einlinigen und verzögerten Wirkungsgeschichte dieses Topos vgl. H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2, Konfessionalismus, 57–65. 38 Vgl. hierzu insgesamt H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/ II, Frühaufklärung, 52–75. 39 K. S. Guthke, Der Mythos der Neuzeit, 202. 40 B. Pascal, Pensées, 102, Fragment 194. Vgl. BH 570 sowie 6610. 41 AaO. 115, Fragment 206. 42 Zitiert nach H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/II, Frühaufklärung, 56. Das angegebene Werk Derhams befand sich in Herders Bibliothek: BH 3610.

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Kapitel I: Herders Anthropologie

der weiten Leichengruft des Alls«43. In dieser Verunsicherung spiegelt sich die Konsequenz des cartesischen Dualismus wider, der die Sphäre der res extensa nur noch als einen mechanischen Apparat zu verstehen vermag. 44 Herder greift diese Stimmung auf, wenn er schreibt: »Wir begnügen uns meistens, die Erde als ein Staubkorn anzusehen, das in jenem großen Abgrunde schwimmt, wo Erden um die Sonne, wo diese Sonne mit tausend andern um ihren Mittelpunkt und vielleicht mehrere solche Sonnensysteme in zerstreuten Räumen des Himmels ihre Bahnen vollenden, bis endlich die Einbildungskraft sowohl als der Verstand in diesem Meer der Unermeßlichkeit und ewigen Größe sich verliert und nirgend Ausgang und Ende findet«45 .

Der sich in diesem Zitat ausdrückenden Verunsicherung des Menschen bezüglich seiner Stellung im Kosmos widerspricht Herder unter Hinweis auf die den gesamten Kosmos durchwirkende eine Kraft: »Es war nur Eine Kraft, die die glänzende Sonne schuf und mein Staubkorn an ihr erhält; nur Eine Kraft, die eine Milchstraße von Sonnen sich vielleicht um den Sirius bewegen läßt, und die in Gesetzen der Schwere auf meinem Erdkörper wirket«46 . Diese Aussicht auf die im Einzelnen wie im Ganzen gesetzmäßig wirkende Kraft stellt Herder dem sich im Kosmos zu verlieren drohenden Menschen entgegen. Der Mensch und sein Wohnort, die Erde, versinken nicht in der Unendlichkeit, sondern nehmen an den ewigen Gesetzen teil, die das Universum durchwalten. Genau in diesem Gedanken der Partizipation liegt das Argument Herders gegen die kosmologische Relativierung des Menschen durch das neue Weltbild. Aber inwiefern greift hier seine Argumentation? Handelt es sich nicht um eine bloße Duplikation, wenn der Unendlichkeit des Kosmos Gesetze beigesellt werden, »die im Unermeßlichen wirken«47? Plausibel wird diese These erst unter Rückgriff auf die darin vorausgesetzte spinozanische Alleinheitslehre, die Herder im Anschluss an die Theorie der Kräfte von Leibniz dynamisierend modifiziert48 : Entscheidend ist hier für Herder, dass er bereits in der Vorrede die im obigen Zitat benannte eine Kraft der Natur mit Gott identifiziert: »Die Natur ist kein selbstständiges Wesen; sondern Gott ist Alles in seinen Werken [. . .]. Wem der Name ›Natur‹ durch manche Schriften unsres 43 J. Paul, Siebenkäs, 274. Vgl. dazu G. Müller, Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«, 35–55. 44 Vgl. H. Timm, Geerdete Vernunft, 357–376. 45 FA 6, 22. 46 AaO. 22 f. 47 AaO. 23. 48 Die metaphysischen Voraussetzungen in Herders Werk werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit eingehend analysiert. Hier soll es zunächst nur darum gehen, den metaphysischen Verweishorizont von Anthropologie und Geschichtsphilosophie aufzuzeigen.

3. Humanität als Gabe und Aufgabe

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Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit«49. Von dieser so verstandenen Kraft sagt Herder nun, dass sie in jedem »Punkte des Raums und des Daseins [. . .] so ganz« wirkt, »als ob keine andre Punkte der Bildung, keine andre Weltatomen wären«50 . Die Pointe dieser Aussage geht darauf aus, dass in jedem einzelnen Teil die Totalität, also mit anderen Worten die Gottheit repräsentiert ist: »so schließe ich, so ungeteilt als ich kann, vom Ganzen aufs Einzelne, vom Einzelnen aufs Ganze«51. Der verlorenen kosmologischen Zentralstellung des Menschen im geozentrischen Weltbild begegnet Herder hier also mit der These der Partizipation des Menschen an der göttlichen Kraft, die den Kosmos ordnet. Diese metaphysisch unterlegte Sinnvermutung führt bei Herder zu zwei Folgen. Zum einen bewirkt sie eine Daseinsvergewisserung des Individuums. Indem sich das einzelne Ich in einen sinnhaften Weltzusammenhang eingeordnet findet, der jedem Individuum, in dessen raum-zeitlicher Bestimmtheit, einen absoluten Wert qua Partizipation an der Gottheit beimisst, wird es einem drohenden Relativismus und Nihilismus entnommen. Der Mensch weiß sich in seinem individuierten Dasein und Sosein in einer sinnhaften Totalität gegründet. Er ist zufrieden und freut sich auf der Erde »ins Harmoniereiche Chor zahlloser Wesen getreten«52 zu sein. All seine Sinne und Seelenkräfte sind »aus dieser und für diese Erdorganisation gebildet«53. Während der Mensch – wie Herder in der Adrastea gegen Pascal betont – durch das freie Vagabundieren am Abgrund der Unendlichkeit in tiefste Zweifel stürzt, findet er seinen Sinn, wenn er auf seine Stellung im Endlichen bedacht ist: »Als Mitwesen der Schöpfung hat sich der Mensch nicht mit dem Unendlichen, sondern mit der Endlichkeit zu berechnen, wo ihm dann in Allem sein Maß, sein Zweck, seine Bestimmung gnugsam vorliegen«54 . Aus dieser Selbstbesinnung als Endliches im Endlichen erhebt sich dann erst der Ewigkeitssinn. Nahezu hymnisch – in sachlichem Anschluss an Leibniz’ Monadologie – fasst Herder den Gedanken zusammen: »Der Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte, ein Wesen in der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes«55 . Das einzelne Ich weiß sich somit in seiner Endlichkeit im Ewigen gegründet. Und 49 50 51 52 53 54 55

FA 6, 17. AaO. 22. Ebd. Vgl. dazu Kap. II 3.2.1. AaO. 23. Ebd. FA 10, 222; H. i. O. FA 6, 24.

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Kapitel I: Herders Anthropologie

zwar so, dass der Einzelne darin nicht aufgehoben wird, sondern in seiner Individuiertheit allererst begründet wird.56 Soweit hat die metaphysische Einheitsspekulation ihren ersten Zweck erfüllt. Zufrieden und – um den paradigmatischen Begriff der Neologie zu verwenden – beruhigt kann sich der Mensch in einer sinnvollen Welt einrichten.57 Mit Dilthey könnte man also sagen, dass Herder der naturwissenschaftlichen Relativierung des Menschen eine »Weltanschauung« entgegenstellt, die einen einheitlichen Deutungszusammenhang der Welt entwirft, in dem der Mensch sich der »Verwandtschaft aller Teile des Universums mit dem göttlichen Grunde«58 inne wird. Der Mensch, der sich durch das heliozentrische Weltbild marginalisiert sah, weiß sich so wieder – allerdings jetzt unter expliziter Anerkennung eben dieses Weltbildes – in einen sinnhaften, weil die Gottheit repräsentierenden, Kosmos eingeordnet. Sympathetisch nimmt der Mensch an dieser Ordnung teil. Er kann überall und so auch in sich selbst die Gegenwart Gottes erspüren. Es ist erst die sich religiös verstehende Vernunft, die nach Herder zu einer Vollbestimmung des Endlichen vordringt, insofern sie im Rekurs auf letzte Bestimmtheit das Endliche als Endliches erst dann adäquat fasst, wenn dessen interner Ewigkeitssinn Berücksichtigung findet. Damit ist der integrale Sinn von Herders Vorsehungsglauben getroffen, der den ganzen humanen Selbstvollzug auf ein einheitliches dem Endlichen eingestiftetes Telos hin interpretiert. Semantisch wird diese teleologische Struktur von Herders Denken schon in der Vorrede der Ideen in der Verwendung von Begriffen wie »Plan« und »Vorsehung« deutlich.59 Aber Herder bleibt bei dem bloßen Postulat der einheitlichen Wirklichkeitskonstitution nicht stehen, sondern zieht daraus die Aufgabe, diese postulierte Einheit durch Natur und Geschichte hindurch zu verfolgen, um sie damit zugleich zu plausibilisieren: »so wird es die schönste Eigenschaft meiner Gott nachahmenden Vernunft sein, diesem Plan nachzugehen und mich der himmlischen Vernunft zu fügen«60 . Damit stehen Herders folgende naturphilosophische, anthropologische und geschichtsphilosophische Überlegungen von vornherein in einer religiös-metaphysischen Rahmentheorie. Die mensch-

56

Vgl. dazu ausführlich Kap. II 3.3.2. Vgl. in diesem Sinne J. J. Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. 58 W. Dilthey, Gesammelte Schriften VIII, 117. Dieser Weltdeutungstypus wird von Dilthey als »objektiver Idealismus« bezeichnet. Von dem Determinismus, der nach Dilthey diese Weltanschauung bestimmt, kann bei Herder, wie ich unter II 3.3.1 zeigen werde, nur bis zu einem gewissen Grade die Rede sein. 59 Vgl. FA 6, 12 und 15. Zu dem darin liegenden Problem des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit vgl. Kap. II 3.3.1. 60 FA 6, 23. 57

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liche Vernunft versucht der göttlichen Vernunft in der Welt »nachzusinnen«61. Dass sie dazu überhaupt befähigt ist, liegt in der identitätsphilosophisch begründeten Einheit der Reziprozität von menschlicher und göttlicher Vernunft: nur Gleiches kann Gleiches erkennen. 62

3.2 Stufengang der Organisationen – Der Mensch als Naturwesen Es soll im Folgenden nicht darum gehen, in extenso den Gedankengang Herders nachzuzeichnen und etwa seine Verarbeitung der naturgeschichtlichen Debattenlage, wie sie ihm durch Gatterer, Zimmermann, Buffon etc. vorgegeben war, im Einzelnen aufzuweisen. 63 Die Rezeption und Kombination von Argumentationsfiguren aus divergenten theoretischen Optionen verdankt sich Herders vereinigungstheoretischem Ansatz. Allein unter dieser Perspektive und dem sich daraus bestimmenden Humanitätsverständnis sollen Herders Ausführungen untersucht werden. Für Herder ist es kennzeichnend, dass er in seinem Bemühen, den Menschen in den Naturzusammenhang zu integrieren, immer wieder Formulierungen streift, die evolutionäre Vorstellungen nahe legen. Immanuel Kant hat in seiner Rezension des ersten Teils der Ideen es richtig bemerkt, dass Herder sich auf der Grenze zum evolutionären Denken bewegt, diese aber noch nicht überschreitet: »Nur eine Verwandtschaft unter ihnen [sc. den Gattungen], da entweder eine Gattung aus der anderen, und alle aus einer einzigen Originalgattung [. . .] entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt, dergleichen man unserem Verf., ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen darf« 64.

61

AaO. 18. Hierin deutet sich die Nähe von Herders Denken zur stoischen Tradition an, die sich seit dem Renaissance-Humanismus wieder verstärkt Geltung verschaffte. Ihre Attraktivität ist darin zu suchen, dass sie in einem Monismus eine logoshafte Natur zu denken versucht, die der Mensch mit seiner Vernunft zu erkennen und der er zu entsprechen vermag. Vgl. P. Kondylis, Aufklärung, 133 f. Dem begründungslogischen Zusammenhang dieser metaphysischen Tiefendimension in Herders Denken werde ich im Kap. II unter dem Fokus seiner Spinozarezeption detailliert nachgehen. 63 Vgl. hierzu insgesamt den umfassenden und für die Herderforschung einen Standart setzenden Kommentar von W. Pross, der auch auf die spezifischen Probleme einer Interpretation der Ideen als »Begleittext« (H III/2, 11) zu den ihm vorliegenden Texten hinweist. Vgl. auch summarisch die für Herders Naturphilosophie einschlägigen Autoren bei G. Arnold, Herders Verhältnis zu Leibniz, 178 f. 64 I. Kant, Recension von J. G. Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, AA VIII, 54; H. i. O. 62

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Kapitel I: Herders Anthropologie

In letzter Konsequenz vertritt Herder eine Immutabilität der Gattungen: »Kein Geschöpf, das wir kennen, ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich ihr zuwider eine andre bereitet«65 . Wenn nun das einheitsbildende Prinzip in der aufsteigenden Kette des Organischen nicht in einer Theorie der Deszendenz aufgesucht werden kann, so kann es nur aus der einen Gott-Natur begriffen werden. Und hier ließe sich dann im Sinne Herders auch mit Recht von einer Verwandtschaft des Organischen untereinander sprechen, insofern diese sich in immer höheren Stufen, welche aber untereinander nicht ableitbar sind, aus dem schöpferischen Urgrund erhebt. Jede Stufe wäre damit gleichursprünglich zu dem schöpferischen Grund. Die Verwandtschaft der Stufen untereinander verdankt sich also allein derselben Abkünftigkeit. Einheit wie Differenz der Arten und Gattungen finden nach Herder in der einen Gott-Natur ihren Grund. So schreibt Herder: »Die Masse wirkender Kräfte und Elemente, aus der die Erde ward, enthielt wahrscheinlich als Chaos alles, was auf ihr werden sollte und konnte«66 . Durch eine Vielzahl von »Entwickelungen und Revolutionen«, die über die Entstehung der Erde, der Pflanzen und Tiere verliefen, sollte endlich »die Krone der Organisation unsrer Erde, der Mensch«67 auftreten. In ihm erkennt Herder den teleologischen »Hauptzweck«68 der schaffenden, göttlichen Natur. Diese These läuft auf eine Reformulierung der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Genesis 1,26 f. hinaus. Bevor dieser Reformulierung im Rahmen seiner Anthropologie weiter nachgegangen wird, sollen zunächst die Aspekte näher beleuchtet werden, durch die der Mensch in seiner Umwelteingebundenheit und damit auch in seiner organischen Verwandtschaft mit den niederen Pflanzen- und Tierorganisationen ansichtig wird. Soviel sollte aber deutlich geworden sein: Wenn Emanuel Hirsch betont, Herder versuche als einer der ersten deutschen Denker, »ein den Naturalismus [. . .] in sich aufnehmendes evolutionistisches Weltsystem zu den65 FA 6, 115. Insofern ist Herder noch weit davon entfernt eine »Mutationsfähigkeit der Gattungen« – so W. Pross, H III/2, 29 – zu behaupten. Das von Proß beobachtete Schwanken Herders zwischen der Einordnung des Menschen in den Naturzusammenhang bei gleichzeitiger Betonung der Sonderstellung des Menschen im Reich der Schöpfung wird sich nicht anders als aus Herders metaphysischer Rahmentheorie ableiten lassen können. Vgl. auch Herders Formulierung im fünften Buch der Ideen: »Als die Tore der Schöpfung geschlossen wurden, standen die einmal erwählten Organisationen als bestimmte Wege und Pforten da [. . .]. Neue Gestalten erzeugeten sich nicht mehr« (FA 6, 176). Zur Debatte zwischen Herder und Kant um den Geschichtsbegriff vgl. H. D. Irmscher, Die geschichtsphilosophische Kontroverse zwischen Kant und Herder, 111–192; M. Heinz, Kulturtheorien der Aufklärung: Herder und Kant, 139–152. 66 FA 6, 31. 67 Ebd. 68 AaO. 107.

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ken«69, dann kann dies im Sinne Herders nicht von einer Entwicklung innerhalb der Welt verstanden werden, sondern nur als eine Entwicklung des Weltsystems selbst, das wieder nur auf der Basis eines metaphysischen Gedankens verstanden wird.70 Herder unterscheidet zwischen den äußeren und inneren Bedingungen, unter denen sich der Mensch in die Welt eingeordnet vorfindet. Zu den äußeren Bedingungen oder den sog. »causae secundae«, die der Mensch mit Flora und Fauna teilt, gehören Klima und Geographie. Wie diese auf die Pflanzen- und Tierwelt einwirken, so prägen sie auch den Menschen sowohl in seiner Physis wie auch in seinen spezifischen Fertigkeiten, die sich der jeweiligen geographischen Physiologie verdanken. Das hat für Herder nicht allein auf einer basalen anthropologischen Ebene Geltung, sondern reicht bis in den Geschichtsprozess selbst hinein. Bergketten und Flüsse sind ihm die Scheidelinien, die den Menschen in seiner geschichtlichen Selbstentfaltung leiten und begrenzen, so dass Herder in ihnen »gleichsam den rohen aber festen Grundriß aller Menschengeschichte«71 zu erkennen vermag. Zu den inneren Bedingungen gehören nach Herder eine Reihe von Strukturisomorphien, die der Mensch mit Tier und Pflanze aufgrund derselben Abkünftigkeit teilt. Wie diese folgt er in seinen vegetativen Funktionen den Gesetzen der Natur. So, wenn er in seiner Ontogenese im Mutterleib bis zu einem gewissen Grad die Phylogenese nachvollzieht72 , dann aber auch in seinen elementaren Trieben von Nahrungsaufnahme73 und Fortpflanzung. Gerade in Bezug auf den letzten Aspekt betont Herder, dass die Natur hier mit einer »Täuschung«74 arbeite. Dort, wo der Mensch in der Liebe ein höchst individuelles Gut erblickt, da dient er eigentlich der Erhaltung der Gattung: »Sobald sie [sc. die Natur] das Geschlecht gesichert hat, läßt sie allmählich das Individuum sinken«75 . Die in der Triebstruktur angelegte Selbsterhaltung dient somit der Arterhaltung. Die Natur verfolgt so einen höheren Zweck als den des Individuums.76

69

E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, 219. Diesem Gedanken wird in der Rekonstruktion seiner Spinozarezeption weiter nachgegangen werden. Vgl. Kap. II dieser Arbeit. 71 FA 6, 44. 72 Vgl. aaO. 59. 73 Vgl. aaO. 78: »Stolzer Mensch, blicke auf die erste notdürftige Anlage deiner Mitgeschöpfe zurück, du trägst sie noch mit dir; du bist ein Speisekanal, wie deine niedrigern Brüder«. 74 AaO. 62. 75 Ebd. 76 Ein Individuum im Vollsinne konstituiert sich nach Herder letztlich nur durch die Gotteserkenntnis; vgl. Kap. II 3.3.2. 70

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Kapitel I: Herders Anthropologie

Diese Form des Eingestelltseins des Menschen in den Naturzusammenhang wird von Herder mit dem oben bereits angesprochenen Gedanken einer Teleologie der Natur verbunden. Der Mensch kann allein aus der Natur verstanden werden. Diese selbst kann nicht als eine bloße Mannigfaltigkeit kontingenter Vereinzelungen begriffen werden. Herder versteht sie vielmehr als eine differenzierte Einheit, die sich auf ein einheitliches Telos hin bewegt: »Dieser Hauptzweck ist offenbar, sich der organischen Form zu nähern, in der die meiste Vereinigung klarer Begriffe, der vielartigste und freieste Gebrauch verschiedner Sinne und Glieder statt fände«77. Anhand der tabellarischen Übersichten über die quantitative Verteilung der Gattungen von Linné und Zimmermann kommt Herder zu dem Schluss, dass in den natürlichen Organisationen offenbar alles auf »Eine Hauptform« hin strebe. Die unendlich vielen Variationen dieses »Eine[n] Prototyp[s]«78 , der im Menschen anschaubar geworden ist, führen Herder zu der These, dass durch den Vergleich der Variationen mit dem Haupttypus der jeweilige Zweck des Geschöpfes zu eruieren sei.79 Mit der Methode der »vergleichenden Physiologie«80 bekommt »der Mensch natürlicher Weise an sich selbst einen Leitfaden, der ihn durchs große Labyrinth der lebendigen Schöpfung begleite und wenn man bei irgend einer Methode sagen kann, daß unser Geist dem durchdenkenden vielumfassenden Verstande Gottes nachzudenken wage, so ists bei dieser« 81.

Die physiologische Erscheinung der verschiedenen Gattungen führt auf deren artspezifische Bestimmung. Damit erhält der Mensch-Tier-Vergleich für Herder eine heuristische Funktion in der Bestimmung des Wesens des Menschen. Die hier im Einzelnen nicht nachzuzeichnenden Argumente führen Herder zu der These, der Mensch sei »Mikrokosmus«82 bzw. »Mittelgeschöpf unter den Tieren«83 , insofern sich in ihm die größte Pluralität und subtilste Ausbildung jener »Teile, Triebe, Sinnen, Fähigkeiten, Künste«84 vorfindet, die er mit den ihm in der Stufenleiter des Organischen nahestehenden Tieren teilt. Wenn Herder den Menschen als Mittelgeschöpf qualifiziert, so muss betont werden, dass damit nicht ein gleichsam objektives Optimum ausgesagt ist – so bleibt 77

FA 6, 107. AaO. 73. 79 Herder verwendet hier zwar die Formulierungen des französischen Naturforschers Jean Baptiste Robinet, teilt aber keineswegs, wie M. Bollacher, FA 6, 958, meint, dessen evolutionistische Position. Wie Buffon will auch Herder keinesfalls Übergänge vom Pflanzen- zum Tier- und schließlich zum Menschenreich sehen. 80 FA 6, 94. 81 AaO. 75; H. i. O. 82 AaO. 31. 83 AaO. 74. 84 Ebd. 78

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dem Menschen manches Tier etwa an Geruchssinn und Muskelkraft überlegen –, sondern ein wohl proportioniertes Kräfteverhältnis in der gesamten menschlichen Organisation, das Ausdruck seiner Bestimmung ist. Im Menschen sind nach Herder dieselben Kräfte wie in der ihn umgebenden Umwelt am Werke, nur in einer höheren Ordnung, wie er in Anschluss an Albrecht von Haller in seiner »physiologische Seelenlehre«85 erläutert. Demnach müssen die Verstandesfunktionen wie die Vernunftfähigkeit des Menschen aus der Empfindung und Sinnlichkeit des Menschen abgeleitet werden. Genauso, wie sich der Mensch in den Naturzusammenhang eingeordnet weiß, so weiß er seine höheren Geistesfunktionen in den basalen vorbewussten Prozessen seines Seelenlebens gegründet. Unter dieser Perspektive erscheint die menschliche Vernunft nicht als eine absolute, sondern als eine operationale bzw. funktionale Instanz, die sich je nach kontextueller Eingebundenheit ausdifferenziert und somit ihre Wahrheit eben zunächst allein in diesem Fungieren erhält. Diese These wird ihre Wirkkraft im Rahmen von Herders Betonung der Individualität in subjektivitätstheoretischer wie menschheitsgeschichtlicher Hinsicht entfalten. Inwiefern Herder dann aber auch den Allgemeinheitsanspruch der Vernunft formulieren kann, worauf – wie wir noch sehen werden – der Humanitätsbegriff hinausläuft, wird eigens zu eruieren sein. 86 Bis zu diesem Punkt wird jedenfalls deutlich, dass dort, wo Herder von dem Menschen als einem Mittelgeschöpf spricht, er diesen zwar in einer herausgehoben Position im Reich der Natur betrachtet, insofern sich um ihn die »Klassen und Radien«87 der Geschöpfe immer enger zusammenziehen. Aber gerade indem er den Menschen aus der Natur versteht, sieht er ihn in einer prinzipiellen Gleichartigkeit mit ihr. Herder stellt somit in den ersten drei Büchern der Ideen zunächst den Menschen als Naturwesen vor, um damit die natürlichen Ermöglichungsbedingungen von Geschichte zu eruieren. 88 Damit verfolgt er prinzipiell denselben Ansatz, den er bereits in seiner Sprachursprungsschrift verfolgt hat. Der berühmte Eingangssatz – »Schon als Tier hat der Mensch Sprache«89 – geht auf die vom Menschen mit den Tieren geteilte Organisation als eines Wesens aus, das in Lauten unmittelbar seinen Empfindungen Ausdruck verleiht. Aus dieser Perspektive auf den Menschen als einem Naturwesen führt allerdings nicht von selbst, wie Herder gegen Condillac betont, ein Weg zu der Sprache, die den Menschen überhaupt erst als 85

AaO. 86. Vgl. Kap. I 3.3.3 und 3.3.4. 87 FA 6, 76. 88 Vgl. M. Bollacher, FA 6, 969. Zu dem Begriff von Transzendentalität in einem natürlich-geschichtlichen Sinne vgl. R. Koselleck, Historik und Hermeneutik, 97–118. Zum Menschen als geschichtlichem Kulturwesen vgl. Kap. I 3.3. 89 FA 1, 697. 86

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Menschen qualifiziert. Dieser ergibt sich erst aus der spezifischen Physiognomie des Menschen, die den Menschen zu Reflexion und Kommunikation in Gleichursprünglichkeit bestimmt.90 Bereits dieser knappe Überblick macht die zentrale Intention von Herders Darlegungen deutlich. Es geht ihm weniger darum, sich auf diese oder jene naturwissenschaftliche Theorie festzulegen. So enthält er sich etwa eines Urteils in der zu seiner Zeit viel diskutierten Frage, ob es Leben auf anderen Planeten geben müsse und wie es beschaffen sei. Ebenso wenig legt er sich fest, welches Naturgesetz die Bildung der Gebirge im Einzelnen befördert habe. Seine gesamte Argumentation hebt vielmehr darauf ab zu zeigen, inwiefern diese Gegebenheiten nicht nur die Folie des Menschen und seiner Geschichte darstellen, sondern wie sie diese selbst präformieren, leiten und begrenzen. Die Pointe dieser Ausführungen besteht darin, dass er das Wesen des Menschen nicht abstrakt setzt, sondern aus seinen natürlichen Daseinsbedingungen abzuleiten versucht. Er betrachtet den Menschen insofern zunächst als ein Naturwesen oder – wie Herder sich ausdrückt – als »aller Erdorganisationen Bruder«91. Dieselben Strukturprinzipien, die die Natur in allen ihren Organisationen beherrschen, herrschen auch über den Menschen und seine Geschichte. Die verschiedenen kulturellen Ausprägungen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte ausgebildet hat, gehören insofern »so sehr zur natürlich-fortschreitenden Geschichte des Menschengeschlechts, als zur Naturgeschichte der Erde«92 . In dieser Perspektive erscheint der Mensch als ein »gehaltener Sklave«93 der Natur, der seiner natürlichen Umwelt völlig ausgeliefert ist: »Vorteile und Nachteile, Krankheiten und Übel, so wie neue Arten des Genusses, der Fülle, des Segens erwarten überall seiner und nachdem die Würfel dieser Umstände und Beschaffenheiten fallen; nachdem wird er werden«94 . Indem Herder den Menschen auf diese Weise in die »Stufenleiter«95 der Organisationen einordnet, intendiert er innerhalb der zeitgenössischen Theorielage eine doppelte Abgrenzung. Auf der einen Seite will er – wie schon angedeutet – einem cartesischen Dualismus wehren. Sofern der Mensch seinen unhintergehbaren Ort im Naturzusammenhang hat, kann die Vernunft nicht mehr apriorisch gesetzt werden, sondern muss naturgeschichtlich genetisiert werden. In diesem Zuge kommt es bei Herder gegenüber Christian Wolff zu 90 Zur Interpretation der Sprachursprungsschrift vgl. U. Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, 75–165. 91 FA 6, 38. 92 AaO. 45. 93 AaO. 35. 94 Ebd. 95 AaO. 34.

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einer Umkehrung in der Bewertung der klassischen Hierarchisierung der Seelenvermögen96 , insofern die sog. unteren Seelenvermögen gegenüber den sog. höheren Vermögen in ihrer diese begründenden Funktion wahrgenommen werden. Darin deutet sich schon der Konflikt mit Kant an, dessen Position Herder aus seiner Perspektive für eine Repristination eben des alten cartesischen Dualismus halten muss. Herders Ableitung der Vernunft und damit auch ihrer geschichtlich-kulturellen Selbstentfaltung aus der Natur intendiert demgegenüber einen Monismus. Von hieraus erhellt die zweite Abgrenzung, die Herder vollzieht. Sie wendet sich gegen den französischen Materialismus, der als ein mechanischer Monismus begriffen werden kann. Es dürfte deutlich sein, dass Herder angesichts seiner eigenen monistischen Konzeption an einer deutlichen Abhebung gelegen war.97 Vollends ersichtlich wird die Abgrenzung erst auf der Ebene von Herders expliziter Anthropologie, wo der Mensch als Kulturwesen vorstellig wird.98 Aber auch in dem bereits Ausgeführten finden sich einige Invektiven gegen den Materialismus.99 Es sind im Wesentlichen zwei in seiner metaphysischen Grundoption wurzelnde Argumente, mit denen Herder seine eigene Konzeption gegen ein mögliches materialistisches Missverständnis schützen will. Gegen ein rein mechanisch-physikalisches Verständnis von Naturabläufen jeder Art steht Herders Theorie der lebendigen Kräfte, die er in einer sich wechselseitig korrigierenden Weise zwischen Spinoza und Leibniz entfaltet.100 Demnach sind die in der Natur wirksamen Kräfte als Modifikationen der einen »Urkraft« der Gott-Natur zu begreifen. Die Stärke des dann später etwa von Hegel101 kritisierten Kraftbegriffs für den Gottesgedanken liegt für Her96

Vgl. hierzu bei C. Wolff, Deutsche Metaphysik (1751), §§ 892–895. Zum ideengeschichtlichen Zusammenhang, in dem Herders Aufwertung des Tastsinns steht vgl. die Habilitationsschrift von U. Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie, Tübingen 2000. Zur integralen Funktion, die der Seelenbegriff bei Herder erlangt, vgl. R. Barth, Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, 40–228. 97 Das von W. Pross, H III/2, 45, festgestellte, Herder und d’Holbach gleichsam betreffende Problem des Widerspruchs von methodischem Skeptizismus und All-Rationalität findet in diesem monistischen Konzept seinen Grund. Die Einführung des Gottesgedankens bringt dann aber – wie wir im Kapitel II sehen werden – für Herder die Sicherung des Gedankens der Humanität gegen den mechanischen Monismus der französischen Materialisten. 98 Vgl. Kap. I 3.3. 99 So betont Herder mehrfach, dass auch die animalische Existenz nicht als eine bloße Maschine zu verstehen ist. Vgl. pars pro toto FA 6, 103; 110. 100 Vgl. dazu ausführlich Kap. II 3.2. 101 G. W. F. Hegel, Werke 1, 353 f., setzt sich während seiner Jenenser Zeit mit der Gefühlsphilosophie Jacobis auseinander. In diesem Rahmen kommt er auch auf Herders Kraftbegriff zu sprechen. Während er Herders Kraftbegriff noch eine gewisse Objektivität gegenüber der bloß subjektiven Position Jacobis zubilligt, lautet aber auch hier seine

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der in einem Dreifachen: Zum einen ist er ihm Einheitsbegriff zur Aufhebung der Unterscheidung von cogitatio und extensio. Die Wirklichkeit als Ganze wird von Herder als ein Fluidum immer höher organisierter Kräfte verstanden. Zum anderen dient der Kraftbegriff einem dynamisierten Wirklichkeitsverständnis sowohl gegen Spinozas Substanzbegriff wie gegen Leibniz’ fensterlose Monaden. Als eine Kraft im Reich der Kräfte steht der Mensch und jedes Einzelne in einer lebendigen Relation zu den umgebenden Kräften und anderen Einzelnen, die ihm in diesem Wechselbedingungsverhältnis erst Bestimmtheit zukommen lassen. Schließlich muss sich Herder der Terminus Kraft noch aus einem anderen Grunde empfehlen. War die fraglose Plausibilität des Gottesgedankens durch die anhebenden Naturwissenschaften zunehmend in Frage gestellt, so legt sich der Kraftbegriff für Herder nahe, um den drohenden Hiatus von religiöser Selbstverständigung und naturwissenschaftlicher Welterklärung zu überbrücken. Herder intendiert damit einen Typus religiöser Selbst- und Weltdeutung, der sich in seiner Selbstverständigung nicht vom modernen Weltbild zu dispensieren versucht, sondern es zu integrieren vermag. Es ist bezeichnend, dass der Terminus ›Humanität‹ oder einer seiner Äquivalente innerhalb dieser Ausführungen nicht fällt, wo Herder vom Menschen als Naturwesen spricht. Das Spezifikum des Humanums ist damit noch nicht getroffen, sondern nur die sich selbst gleichen Daseinsbedingungen aller Kreatur umrissen. Erst in dem physischen Vorzug des Menschen – dem aufrechten Gang – wird der Mensch wirklich als Mensch begriffen.

3.3 Die Sonderstellung des Menschen – Der Mensch als Kulturwesen Zwei Aspekte sind nach dem Geschichtshistoriker Friedrich Meinecke für die Ausbildung des Historismus signifikant. Zum einen betont er die strikt individualisierende Betrachtung, welche die historischen Phänomene an ihrem jeweiligen historischen Ort verstehen und würdigen will. Zum anderen liege in dieser individualisierenden Perspektive eine Selbsthistorisierung der Vernunft vor, die in ihrem jeweiligen Gewordensein, mithin ihrer eigenen Relativität begriffen werde.102 Dieser positiv gefasste Historismusbegriff lässt dann auch ohne Zweifel Herder als einen maßgeblichen Protagonisten der »Befreiung der geschichtlichen Welt«103 erscheinen. Gegen die Aufklärungshistorie grundlegende Kritik, dass der Kraftbegriff als reiner »Reflexions-Begriff« (353) das Philosophieren dort abbricht, wo es eigentlich erst beginnen sollte. 102 Vgl. F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus I, 2 f. 103 Vgl. gleichnamigen Titel von T. Litt, Die Befreiung der geschichtlichen Welt durch J. G. Herder, 1942.

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wie gegen den von ihm sonst sehr verehrten Winckelmann und dessen Griechenlandbild vertritt Herder unnachgiebig das Recht der historischen Individualitäten bereits in seinem Bückeburger Pamphlet von 1774. Dieser Einsicht bleibt er bis an sein Lebensende ebenso treu wie seiner Erkenntnis, dass sich Geschichte immer erst der deutenden Rekonstruktion menschlichen Handelns verdankt. Es muss dennoch angefragt werden, ob Herders Denken unter der nicht unproblematischen Chiffre ›Historismus‹ hinlänglich gefasst ist. Wenn nämlich der Freund Meineckes, Ernst Troeltsch, unter modernitätstheoretischem Gesichtspunkt das Wesen der Gegenwartskultur als »Ausbildung einer restlos historischen Anschauung der menschlichen Dinge«104 fasst und vollends, wenn Karl Mannheim den Historismus als Ersatz von Metaphysik begreift105 , dann wird die unmittelbare Einordnung Herders in die Tradition des Historismus zumindest fraglich. Ich will im Folgenden zeigen, wie das, was herkömmlich unter ›Herders Historismus‹ rangiert und neuerdings auch der Naturalisierungsthese unterzogen wird, bei ihm überhaupt nur im Rahmen einer religiös-metaphysischen Theorie verstanden werden kann. Dies muss in der gegenwärtigen Forschungslandschaft wieder eigens betont werden. Konnte Martin Doerne dies 1927 noch als opinio communis in der Herder-Forschung voraussetzen106 , so neigen die neueren Arbeiten dazu, diese Aspekte in verschiedenen Hinsichten zu marginalisieren. So spricht etwa Josef Simon davon, dass es in Herders Denken zu einer »Negation der Vorstellung der Geschichte als umfassender Einheit«107 komme. Die Entdeckung des Individuellen dränge demnach schon bei Herder auf eine Desavouierung des Historischen im Sinne einer auf Einheit des Geschichtsverlaufs zielenden Kategorie überhaupt. Zu anders gelagerten Problemen kommt es, wenn Herders Arbeit ganz aus den naturgeschichtlichen Debattenlagen vornehmlich französischer Provenienz verstanden werden soll, wie es in der zweifellos epochalen Kommentierung der Ideen durch Wolfgang Proß geschieht.108 Der Materialreichtum und die Fülle der von Proß aufgemachten Bezüge und Perspektiven lässt die synthetisierende 104 E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, 112. Vgl. auch die Formulierung Troeltschs, Der Historismus und seine Probleme, 9, wo er von der »grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens« spricht. 105 Vgl. K. Mannheim, Art. Historismus, 53. 106 Vgl. M. Doerne, Die Religion in Herders Geschichtsphilosophie, 48 f. Vgl. auch W. Dobbek, Humanitätsidee, 18, der ebenso lapidar wie richtig schreibt: »Herders Humanismus war durch sein Weltbild bestimmt. Dies ist religiös.« 107 J. Simon, Herder und Kant. Sprache und »historischer Sinn«, 4. 108 G. Arnold, Eine neue Ausgabe, 4, bezeichnet den Kommentar zu Recht als »das bedeutendste Resultat der in den letzten Jahrzehnten intensivierten, philosophisch fundierten Herder-Philologie«.

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Einheit in Herders Denken unkenntlich werden, unter der Herder jene Rezeption allererst vornimmt. In noch stärkerem Maße trifft diese Kritik auf die durch »stupende Belesenheit«109 beeindruckende Arbeit Ralph Häfners zu. Unter der Perspektive »Modernisierung antiker Denkformen«110 will Häfner mittels einer quellengeschichtlichen Untersuchung die rationalisierende Umformung antiker Lehren und die damit eingeleitete Emanzipation von christlichen Deutungsmustern untersuchen. Bei Häfner klingt der religiös-metaphysische Grund in Herders Denken zwar an, aber er wird nicht in seiner Reichweite rekonstruiert. Gegenüber diesen Interpretationen werde ich im Folgenden versuchen, die impliziten religiös-metaphysischen Verweishorizonte aufzudecken, die Herders Anthropologie und Geschichtsphilosophie begründen. Aus der Darstellung seines Geschichtsverständnisses wie seiner Anthropologie selbst sollen die darin vorausgesetzten religiösen wie metaphysischen Theoreme kenntlich werden. Die Darstellung in dieser Weise auf Herders Metaphysik zuzuschneiden, mag befremden angesichts Herders eigenem antimetaphysischem Affekt. Betont er doch stets, nur aus Erfahrung und Beobachtung zu argumentieren. Es ist aber immer, wie ich zeigen will, metaphysisch gebundene Erfahrung. Oder genauer: eine Metaphysik, die aus den Erfahrungen des endlichen Subjekts erwächst. Ob deshalb Kant mit seinem Vorwurf Recht hat, es handle sich im ersten Teil der Ideen um eine »sehr dogmatische«111 Metaphysik, wird erst im Durchgang durch die Argumentation zu klären sein. 3.3.1 Die physiologische Fundierung der Humanität Die Einordnung des Menschen in den Naturzusammenhang mit ihrer doppelten Abgrenzung einerseits gegen alle Spielarten des cartesischen Dualismus sowie andererseits gegen den materialistischen Monismus evoziert die Frage, wie Herder in dieser Konstellation das Spezifikum des Menschen als Menschen vorstellig machen will. Dabei präsentiert sich der von Herder eingeschlagene Weg als der Versuch einer Vermittlung – und darin zugleich einer Überbietung – dieser beiden philosophiegeschichtlichen Grundoptionen. Er will mit dem Dualismus die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit in einem kausal determinierten Weltzusammenhang denken, allerdings nicht unter der Voraussetzung eines unhintergehbaren Hiatus zwischen Geist und Natur, der erst sekundär – etwa in der Form von Leibniz’ Lehre von der prästabilierten Harmonie – geschlossen werden muss. Entsprechend will Herder mit dem 109

So C. Bultmann, Herderforschung 1985–2000, 50. R. Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre, Hamburg 1995. 111 I. Kant, Recension von J. G. Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, AA VIII, 54. 110

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Materialismus die Einheit des Natur- und Geschichtszusammenhangs wahren, allerdings unter Umgehung der Konsequenz einer mechanisch-deterministischen Anthropologie, wie sie etwa Julien Offray de la Mettrie in seinem Werk L’homme machine (1747) niedergelegt hat.112 In dieser Aneignung wie Abstoßung vollzieht sich der nicht immer leicht zu entschlüsselnde Denkweg Herders in den Ideen.113 In wissenschaftstheoretischer Hinsicht stehen Herders Ideen damit für einen Entwurf, der den sich im 18. Jahrhundert öffnenden Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften noch nicht kennt, sondern diese in einer einheitlichen Weltschau zu integrieren sucht. Weder sind der Mensch und seine kulturellen Leistungen nach Herder im Sinne des Kausaldeterminismus zu begreifen, noch kann es intellektuell befriedigen, wenn der Zusammenhang von Natur und Geist völlig unverständlich bliebe. Im Übergang vom dritten zum vierten Buch der Ideen formuliert Herder den bis in die moderne Anthropologie wegweisenden Gedanken, dass dem in das Naturreich eingeordneten Menschen darin zugleich eine Sonderstellung zukomme. Diese These und ihre Entfaltung in den ersten beiden Teilen der Ideen gehört zu den wirkmächtigsten Gedanken Herders. Dieser Gedanke ist es auch, der Arnold Gehlen zu seinem vielzitierten Diktum bewogen hat: »Herder hat das geleistet, was jede philosophische Anthropologie, auch die, welche einen theologischen Begriff des Menschen voraussetzt, zu leisten verpfl ichtet ist: die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang seiner biologischen Situation, seiner Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bedürfnisstruktur zu sehen. [. . .] Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan [. . .]. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit«114.

Gehlen gewinnt diese Auffassung der fundamentalen Bedeutung Herders für die philosophische Anthropologie aus seiner Interpretation der 1772 veröffentlichten Abhandlung über den Ursprung der Sprache.115 Herder knüpft in 112 In dieser Fragestellung weiß Herder sich in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem vorkritischen Kant und mit Goethe. Vgl. M. Bollacher, FA 6, 923. Die Frage, die die Rekonstruktion dabei im Auge behalten muss, lautet, wie in einem monistischen Konzept Freiheit gedacht werden kann. Vgl. dazu Kap. II 3.3.1. 113 Zu Herders facettenreicher Rezeption und Umformung der von ihm verarbeiteten naturwissenschaftlichen, ethnographischen und philosophischen Literatur sei auf den Kommentar zu den Ideen von W. Pross verwiesen. 114 A. Gehlen, Der Mensch, 92 f. Wenn es auch fraglich ist, inwieweit Gehlen sich in seiner Anthropologie im Detail auf Herder berufen kann, so wird man Herder aber auch nicht ohne weiteres der Position M. Schelers zuschlagen können, wie es W. Pannenberg, Anthropologie, 40–43, nahelegt. Sachlich am nächsten zu Herder kommt H. Plessner mit seinem Konzept der Stufen des Organischen. Zu Gehlens eigenem Religionsbegriff vgl. die luzide werkgeschichtliche Untersuchung von F. Ley, Arnold Gehlens Begriff der Religion, Tübingen 2009. 115 Zur Geschichte der zeitgenössischen sprachtheoretischen Debatte vgl. die umfassende Arbeit von C. Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts, 2003,

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den Ideen an die Preisschrift an, modifiziert sie aber zugleich in bezeichnender Weise. Schon in dieser frühen Schrift will Herder den Menschen aus dem Naturzusammenhang heraus verstehen. Der gesamte erste Abschnitt des ersten Teils ist dieser Fragestellung gewidmet.116 Der Mensch nimmt als Naturwesen an der animalischen Organisation als ein »sympathetische[s] Geschöpf«117 teil. Wie bei jedem Tier so äußern sich auch beim Menschen die Affekte unmittelbar in unartikulierten Lauten, welche beim Artgenossen auf ebenso unreflektierte Resonanzen treffen: »Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache. Es giebt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist«118 . So sehr hier auf vorreflexiver Ebene ein Band der Verbindung unter den empfindenden Geschöpfen geknüpft wird und der Mensch damit in die Reihe des animalischen Lebens gestellt wird, so sehr widerspricht Herder Condillac119, Rousseau und Maupertius, dass aus dieser Naturschreitheorie jemals menschliche Sprache genetisiert hätte werden könne.120 Dem im Vergleich zum Tier instinktreduzierten Menschen komme demgegenüber »Besonnenheit«121 zu, die ihn qualitativ vom Tier unterscheide. Ist das Tier vermittels seines Instinktes in seiner Sphäre festgestellt, so kann der Mensch sich reflexiv zu seiner Welt verhalten. D. h. aber auch, dass er seine Stellung zur Welt allererst erwerben muss und nicht schon von Geburt mitsowie D. K. Kim, Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. Herder, Condillac und Süßmilch, 2002. 116 Vgl. FA 1, 697–715. Vgl. hierzu die Interpretation M. F. Möller, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung, 59–74. 117 FA 1, 707. 118 AaO. 698. 119 Zu der durchaus mehrdimensionalen, nicht nur negativen Rezeption Condillacs bei Herder vgl. J. Stückrath, Der junge Herder als Sprach-und Literaturtheoretiker – ein Erbe des französischen Aufklärers Condillac? 81–96. 120 Dies gilt es auch gegen U. Gaier, Herders Sprachphilosophie, 87–132, zu betonen. Gaier behauptet im ersten Teil sechs Sprachursprünge bei Herder ausmachen zu können, welche sich dann im zweiten Teil »als sprachliche Gesamtfähigkeit des Menschen in der Wechselwirkung mit seinen klimatisch-regionalen und sozialen Lebensbedingungen [. . .] manifestieren« (FA 1, 1280) und über den Globus ausdifferenzieren. So sehr ihm zuzustimmen ist, dass Herders Sprachentstehungsthese als ein komplexes Interdependenzverhältnis verschiedener Faktoren zu bestimmen ist, so muss doch gegen Gaier betont werden, dass die von ihm so bezeichneten ersten drei Sprachursprünge für Herder zum einen nur einer sind, nämlich die Naturschreitheorie und zum anderen, dass diesem Ursprung nach Herder eben gerade nicht für die Entstehung der menschlichen Sprache konstitutive Funktion zukommt. Diese konstitutive Funktion nimmt allein der von Gaier so bezeichnete vierte Sprachursprung ein, wonach vermittels von Reflexion mentale Merkmale (»Wort der Seele«) ausgebildet werden. Der sog. fünfte und sechste Sprachursprung bezeichnet dann die jeweilige Genese der Lautbildung, also die externe auf Kommunikation zielende Darstellung. 121 FA 1, 719.

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bringt. Dies zeigt sich nach Herder in der Differenz zwischen der »Sphäre«122 , die das Tier ausfüllt, und der »Welt«123 , die dem Menschen vorliegt. Das Tier ist durch seinen Instinkt in seiner Sphäre festgestellt. Mit seinen angeborenen »Kunstfähigkeiten und Kunsttrieben«124 ist es genau auf den ihm gegebenen Wirkungskreis eingegrenzt – wie Herder in Anschluss an Reimarus formuliert – und kann in ihm nicht fehlen, ihn aber auch nicht überschreiten: »Die Biene bauet in ihrer Kindheit so, wie im hohen Alter, und wird zu Ende der Welt so bauen, als im Beginn der Schöpfung«125 . Es gibt nach Herder ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen zu bearbeitender Sphäre des Tieres und ihren angeborenen Fertigkeiten: »je schärfer die Sinne der Tiere, und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk« und umgekehrt gilt dementsprechend »je größer und vielfältiger ihre Sphäre ist; desto mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen und schwächen«126 . In Analogie dazu ist die tierische Sprache organisiert: »Je kleiner also die Sphäre der Tiere ist: desto weniger haben sie Sprache nötig«127. Das Tier realisiert sein Wesen in seiner Sphäre immer schon von Natur aus. Im Vergleich dazu ist der Mensch, so Herder, ein Wesen mit »Lücken und Mängeln«: »bloß unter Tiere gestellet, ists [. . .] das verwaisetste Kind der Natur«128 . Und zu Beginn des zweiten Teils führt Herder weiter aus: »Da ist kein dunkler, angeborener Trieb, der ihn in sein Element, und in seinen Würkungskreis, zu seinem Unterhalt und an sein Geschäfte zeucht. Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hunger stille! Kein blinder, mechanischer Lehrmeister, der für ihn sein Nest baue! Schwach und unterliegend, dem Zwist der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller stärkern Tiere, einem tausendfachen Tode überlassen, stehet er da! einsam und einzeln! ohne den unmittelbaren Unterricht seiner Schöpferin; und ohne die sichere Leitung ihrer Hand, von allen Seiten also verloren«129.

Es ist hier für die Konzeption von Herders Theorie entscheidend zu sehen, dass diese von Gehlen unter dem Begriff des Mängelwesens rezipierte Bestimmung des Menschen für Herder selbst als ein rein heuristisches transitivum

122

AaO. 712. AaO. 713. Dieser Unterscheidung Herders folgt Gehlens Differenzierung von Welt und Umwelt. 124 FA 1, 711. Vgl. H. S. Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe, 2 Bde. (1760–73), Göttingen 1982. 125 FA 1, 772. 126 AaO. 712. 127 AaO. 713. 128 AaO. 715. 129 AaO. 769 f. 123

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fungiert.130 Der Betonung der Nichtfestgestelltheit des Menschen im Vergleich zum Tier kommt die Funktion zu, das proprium humanitatis zu exponieren. Dementsprechend formuliert Herder mit Emphase: »Lücken und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein«131. Die Kehrseite dessen, dass der Mensch nicht auf dem Fleck liegenbleibt, wohin ihn die Natur geworfen hat, erkennt Herder in den dem Menschen eignenden ausdifferenzierten Sinnesvermögen. Vermittels seiner Sinne ist der Mensch nicht auf eine Sphäre festgelegt, sondern »eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn«132 . Die Plastizität des menschlichen Sinnesapparates gibt dem Menschen den »Vorzug der Freiheit«133. Dadurch wird ihm nicht nur die Welt, sondern auch er sich selbst zum Gegenstand der Bearbeitung. Der Mensch ist sonach von Natur aus ein sich selbst wie die Welt transzendierendes Wesen. Er schafft sich eine Welt, in der er »sich in sich bespiegeln«134 kann. Diese ganze Disposition seiner Seelennatur fasst Herder unter dem Terminus der »Besonnenheit«135 , die »einen ganz eigenen Charakter der Menschheit«136 ausmacht. Die natürliche Reflexivität des Menschen ermöglicht ihm, a) seine Aufmerksamkeit gezielt auf Gegenstände zu richten, b) ein Abstraktionsvermögen auszubilden und c) einen Verhaltensspielraum zu seinen Affekten zu kultivieren. Entscheidendes Gewicht legt Herder in diesem Zusammenhang auf zwei Aspekte. Zum einen insistiert Herder darauf, dass es keinen Zeitpunkt gegeben haben kann, in dem dem Menschen dieser besonnene Charakter nicht zugekommen ist – und sei es nur in rudimentärer 130 Die These vom Menschen als einem Mängelwesen taucht bereits in seinem unveröffentlichten Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst auf, wo ihm darum zu tun ist, die hohen Formen der Dichtkunst als späte Produkte der menschlichen Einbildungskraft vorzustellen und damit die These, dass ihre Vollkommenheit Ausdruck ihrer Göttlichkeit sei, abzuweisen: »Des Menschen natürlichster Zustand ist Schwachheit und Bedürfnis; aus Irrtum durch viele Falltritte ist Wahrheit, aus abergläubischer Furcht bewundernswürdige Schönheit; aus sinnlichen Schwachheiten und Lastern Tugendregeln entstanden« (H I, 27). Zur umstritten Datierung dieses Textes, ob er 1764 oder aber in der vorliegenden Fassung um 1766/76 entstanden ist, vgl. W. Pross, H I, 696. 131 FA 1, 715. Schon Shaftesbury betont 1709 in The Moralists, Part. II, Sect. IV, 196, den kompensativen Charakter der Vernunft gegenüber dem Mangel der Instinktreduktion, der den Menschen von Natur aus zu einem sozialen Wesen bestimmt: »The Young of most other Kinds [. . .] are instantly helpful to themselves, sensibile, vigorous, know to shun Danger, and seek their Good: A human Infant is of all the most helpless, weak, infirm. And wherefore shou’d it not have been thus order’d? Where is the loss in such a Species? Or what is Man the worse for this Defect, amidst such large Supplys? Does not this Defect engage him the more strongly to Society [. . .]?« (H. i. O.). 132 FA 1, 713. 133 AaO. 716. 134 AaO. 717. 135 AaO. 719. 136 AaO. 717.

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Weise.137 Ist Besonnenheit das vom Tier scheidende Wesen des Menschen, dann muss es selbst in den frühesten und unausgebildetsten Formen des menschlichen Seelenlebens als vorhanden gelten. Einen Anfang des Geistes gibt es nicht. Zum anderen betont er, dass sich dieser transzendierende Charakter des Menschen in einem wissenden Selbstverhältnis vollzieht, mit anderen Worten als Selbstbewusstsein.138 Beide Aspekte werden von Herder eigens hervorgehoben, um den definitiven Schnitt zwischen höherstufig organisierten Tieren und dem Menschen zu betonen, den er als Differenz der »Art«139 begreift. Der Mensch als dieses multidimensionale Wesen benötigt dementsprechend eine Sprache, die dieser komplexen Wirklichkeitswahrnehmung korrespondiert. So offen wie der Weltbezug des Menschen ist, so offen ist auch seine Sprache vermittelst der er schließlich den Weltbezug erst zu realisieren vermag. Reflexion und Kommunikation sind für Herder gleichursprünglich. Mit diesen Ausführungen in der Sprachursprungsschrift legt Herder seine anthropologische Konzeption Grund, wonach er das Sprachwesen ›Mensch‹ als ein »transitorisches«140 bzw. progressives Wesen expliziert. Damit bekommt auch der bereits oben zitierte Eingangssatz der Sprachursprungsschrift – »Schon als Tier hat der Mensch Sprache«141 – einen zweifachen Sinn. Liest man ihn allein als Eingangssatz zur Theorie der affektiven Vermittlung von Empfindung, so indiziert dieser Satz das die menschliche Natur mit aller animalischen Natur verbindende Moment. Interpretiert man diesen Satz aber von Herders Lösung des Sprachproblems her, so bekommt er dialektischen Gehalt. Dem Tier ›Mensch‹ kommt demnach durch das Vermögen zur Reflexivität ein spezifischer Charakter seiner Art zu, der funktional äquivalent zum tierischen Instinkt steht. So ist der Mensch als Naturwesen zugleich kategorial von seinen Mitgeschöpfen geschieden.142 Aus dieser Perspektive ließe sich der Eingangssatz der Preisschrift wie folgt deuten: Es ist die 137

Vgl. ebd. Vgl. aaO. 719. Es ist zu beachten, dass der Terminus des Selbstbewusstseins in seiner Distinktion vom Begriff des Bewusstseins bei Herder noch keine Rolle spielt. Hierbei handelt es sich um eine Unterscheidung, die erst im deutschen Idealismus vorgenommen wurde. Dass aber Herder hier sachlich das nachmalig so titulierte Phänomen des Selbstbewusstseins vor Augen hat, dürfte schwerlich zu übersehen sein. Ich verwende im Folgenden vornehmlich den Terminus des Selbstverhältnisses als Interpretationsbegriff. Vgl. hierzu W. Jaeschke, Art. Selbstbewusstsein, 350–371. 139 FA 1, 716 sowie 770. 140 U. Gaier, FA 1, 1277. 141 FA 1, 697. 142 In diesem Zusammenhang gestaltet sich besonders die Abgrenzung zu Rousseaus Discours sur l’inégalité als sehr interessant. Während für Rousseau alle Kultur ein Depravationsphänomen darstellt, verwirklicht bei Herder sich in ihr erst das Wesen des Menschen, wie seine Invektiven gegen den Naturmenschen Rousseaus zeigen. 138

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Natur des Menschen seine Natur zu transzendieren.143 Dem Menschen eignet somit in Differenz zum Tier von Natur aus konstitutionell ein vermitteltes Selbstverhältnis, welches immer schon über sich hinausweist.144 Es muss allerdings auffallen, dass Herder die durch die Besonnenheit bedingte spezifische Konstitution des Menschen als eines Sprachgeschöpfs selbst nicht mehr in den Naturzusammenhang zurückzubinden vermag, sondern als ein Faktum aufstellt und insofern – entgegen seiner Intention – selbst einem Geist-Natur-Dualismus anheimzufallen droht.145 Denn die funktionale Äquivalenz zur Instinktgerichtetheit des Tieres, die der menschlichen Vernunft zukommt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Fähigkeit zur Reflexion eine Größe im Reich der Natur auftritt, die sich der Natur zugleich überhebt. Dass sich hierin in der Tat der Dualismus zu reproduzieren droht, wird schlagartig evident, wenn man sich klar macht, dass Herder den Hinweis auf die Besonnenheit als differentia specifica der conditio humana von Leibniz her gewonnen hat146 , dessen Epistemologie bekanntlich in dezidiertem Widerspruch zu John Lockes Empirismus Entfaltung findet. Herder selbst hat dieses Problem gesehen und in den Ideen mittels der Physiologie bearbeitet. Hatte er in der Sprachschrift noch Zweifel an der Reichweite der physiologischen Erklärung, so revidiert er seine Meinung angesichts einer neuen Studie des holländischen Anatoms und Naturforschers Pieter Camper.147 Die Physiologie wird damit das Theorieelement, mittels dessen 143

Wir werden fernerhin sehen, inwiefern dieses Transzendieren für Herder auch allererst Religion ermöglicht, so dass auch von Stufen der Transzendenz gesprochen werden kann. In der Debatte zwischen R. Koselleck und H. G. Gadamer, ob der Historik oder der Hermeneutik der Vorrang zuzumessen sei, ist von Herder her also Gadamer zuzustimmen, wenn dieser betont, dass die natürlichen Bedingungen der Geschichte vom Menschen gar nicht anders als sprachlich verarbeitet werden, was sie aber eben über die bloße Natürlichkeit kategorial erhebt. Vgl. zur Diskussion R. Koselleck, Historik und Hermeneutik, 97–118, sowie H. G. Gadamer, Historik und Sprache, 119–127. 144 Vgl. hierzu B. Suphan, SWS 14, 666: »Immer bleibt sich Herder hierin gleich: nur ein urmenschlicher Ausgangspunkt ist ihm annehmbar für unser Geschlecht, nicht ein uräffi scher. Der Mensch ist in seinem Ursprunge, als ›Menschenthier‹, eine besondere Gattung für sich neben ›seinen Brüdern, den Erdenthieren‹« (H. i. O.). 145 Hierin liegt die von W. Pannenberg, Anthropologie, 40 f., zurecht festgestellte Differenz zwischen Herder und Gehlen begründet. Vgl. hierzu auch Herders mehrfache Betonung, dass es sich zwischen Tier und Mensch nicht um eine graduelle Differenz handle, sondern um eine Differenz der Art. Vgl. FA 1, 716 f. und 770–773. 146 Vgl. G. W. Leibniz, Nouveaux Essais, Bd. 2, 4, der neben den Sprachwerkzeugen »quelque chose d’invisible« sucht, das den Menschen vom Tier trennt und es in seiner Fähigkeit zu überlegen (»raisonner«) findet, was von Herder mit dem Terminus Besonnenheit übersetzt wird. 147 Vgl. W. Pross, H III/2, 236. Es muss allerdings über Proß’ Deutung hinausgehend betont werden, dass es Herder an besagter Stelle nicht nur um die Frage der physiologischen Ableitung der conditio humana geht, sondern um die Leistungskraft der physi-

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Herder die Lücke zwischen dem Naturwesen Mensch und dem Sprachgeschöpf Mensch schließt. Erst wenn diese theoretische Leerstelle geschlossen ist, kann Herders dialektische Anschauung vom Menschen als eines Naturwesens, das in sich die Natur transzendiert, in ihrer ganzen Reichweite begriffen werden. Diese Dialektik hat Herder vor Augen, wenn er in einem handschriftlichen Entwurf zu den Ideen wie folgt formuliert: Der Mensch ist »ein Thier der Erde«, aber »daß der Mensch ein einziges Thier seiner Art sei, ist ebenso unläugbar«148 . Mit der physiologischen Fundierung wird die Reflexivität in ihrer den Menschen vom Tier distinktivierenden Funktion keinesfalls marginalisiert, sondern ihr wird allererst ein fundamentum in re gegeben.149 3.3.2 Der erste Freigelassene der Schöpfung – Bestimmung zur Selbstbestimmung Herder will auf dem Wege der komparatistischen Anatomie zu der unterscheidenden Wesensbestimmung des Menschen im regnum animale vordringen. Die von Herder verfolgte Methode wird von ihm durch die Termini »Physiologie und Erfahrung«150 indiziert, womit er sich ausdrücklich von einer apriorischen Bestimmung des Menschen abheben möchte151 und sich in die Tradition eines sensualistisch-empiristischen Theorieansatzes stellt. Es soll hier nicht in extenso auf Herders physiologischen Vergleich des Menschen mit dem Orang-Utan152 sowie die wechselseitige Befruchtung mit Goeologischen Methode überhaupt. Vgl. zur Bedeutung Campers für Herder R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 262–264. 148 SWS 13, 447. 149 Damit wird deutlich, dass entgegen M. Doernes, Religion, 134–143, pejorativer Deutung von Herders Naturalisierung des Menschen und der Geschichte im Spätwerk diese gerade als Entfaltung von Herders Grundanliegen bereits vor der Bückeburger Zeit zu gelten hat, welches er dort aber noch nicht voll zur Anschauung zu bringen vermochte. 150 FA 6, 111. Herder überträgt hiermit Bonnets naturwissenschaftliche Methode auf die Anthropologie; vgl. R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 48. 151 R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 178 f., weist darauf hin, dass Herder hier in der Tradition des römischen Jesuiten Agostino Mascardi steht, der in seiner Schrift Dell’arte historica trattati cinque von 1636 gegen Patrizi eine antimetaphysische Geschichtsmethodologie einfordert. Herder war in Besitz der Erstausgabe von Mascardis Schrift; vgl. BH 6918. Es wird im Kap. II deutlich werden, dass und inwiefern Herder dann aber einen eigenen Typus von Metaphysik aus der Erfahrung des endlichen Bewusstseins entwirft. 152 Vgl. hierzu H. Sunnus, Wurzeln des modernen Menschenbildes, 83–86. Es leuchtet allerdings nicht ein, wenn Sunnus, aaO. 85, schreibt, der Affe hätte die »physiologischen Voraussetzungen« zur Sprache. Dies ist der Standpunkt der Sprachursprungsschrift, aber nicht mehr der Ideen, die gerade über die vergleichende Physiologie die Sonderstellung des Menschen genetisieren wollen. Vgl. zu der Herder vorgegebenen

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the eingegangen werden, sondern nur auf den Hauptgesichtspunkt. Das Spezifikum des Menschen, das ihn von jedem anderen Tier und selbst von dem an ihn grenzenden Affen unterscheidet, ist nach Herder der »aufrechte Gang«153 : »Beim Menschen ist auf die Gestalt, die er jetzt hat, alles eingerichtet; aus ihr ist in seiner Geschichte Alles, ohne sie nichts erklärlich«154 . Entscheidend ist an dieser These, dass Herder Menschsein nicht an diesem oder jenem Detail festmacht155 – etwa allein an den Sprachwerkzeugen oder allein an dem Gehirn –, sondern an der Gesamtorganisation des Menschen156 , die sich als funktionale Einheit von Knochenbau, Schädelform, Sprachwerkzeugen, Gehirnbildung etc. präsentiert. Diese harmonische Ganzheit in ihrer organologischen Komplexität ist nach Herder allererst die Bedingung der Möglichkeit von »Freiheit und Vernunft«157. Mit der höheren genetischen Komplexion tritt in einem Nu Reflexivität auf, insofern der Mensch in toto zur Sprache gebildet ist. Das distinktive Merkmal des Menschen als eines animal rationale158 oder – wie Herder formuliert – das »inner[e] Leben eines Selbst«159 erscheint damit nicht mehr als ein unableitbares Prinzip, das neben der Naturkausalität eine zweite geistmetaphysische Kausalität einführt. Die freie Vernunfttätigkeit des zeitgenössischen Debattenlage W. Pross, H III/2, 235–250, sowie zu dem wissenschaftsgeschichtlichen Vergleich von Affe und Mensch R. Wokler, The Ape Debates in Enlightenment Anthropology, 1164–1175. 153 FA 6, 114. 154 AaO. 115. 155 Vgl. H. D. Irmscher, Herder, 132. 156 Vgl. FA 6, 127: »Und so kommen wir auf den Vorzug des Menschen in seiner Gehirnbildung; wovon hängt er ab? offenbar von seiner vollkommnern Organisation im Ganzen und zuletzt von seiner aufrechten Stellung.« Mit diesem Verfahren einer auf die Gesamtproportioniertheit der Lebewesen reflektierenden Physiognomik will Herder sich von J. C. Lavaters Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntniß und der Menschenliebe (1775–1778) distanzieren, die ihm in ihrem Rekurs auf Einzelmerkmale und ihre moralische Qualifizierung als eine »bloß erratende Physiognomik« (FA 6, 129) erscheinen. 157 FA 6, 129. 158 Das Urteil R. Häfners, Kulturentstehungslehre, 149, ist überspitzt, wenn er schreibt, dass für Herder die Bestimmung des Menschen als eines animal rationale ihren Sinn verliert. Herder bestreitet ja keinesfalls die Rationalität des Menschen als dessen distinktives Merkmal, sondern er widerstreitet allein einem bloß additiven Verständnis derselben. Es ist insofern treffender, von einer Neuinterpretation dieses Terminus durch Herder auszugehen, indem er die Rationalität aus der psychophysischen Gesamtkonstitution des Menschen versteht. U. Barth, Kreativität und Kreatürlichkeit. Vernunfttheoretische Motive in Herders Kulturtheorie, 186, fasst zusammen: »Die Vernunft des Menschen ist zutiefst eingesenkt in dessen leibliche Sphäre. Es gibt keine spezifisch menschlichen Sinnesregungen oder Reizerlebnisse, die nicht schon von der Kraft der Reflexion berührt oder von ihr durchdrungen wären« und – wie zu ergänzen ist – umgekehrt. 159 FA 6, 186.

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Menschen wird vielmehr als die Konsequenz einer höheren genetischen Komplexion der Organisation der Natur selbst begriffen.160 Durch den aufrechten Gang des Menschen wird die Natur in sich selbst reflexiv. Das heißt aber, dass mit dem Auftreten des Menschen sich auch in der Natur selbst etwas verändert. Am klarsten fast Herder den hier anvisierten Gedanken im 63. Brief der Briefe zu Beförderung der Humanität: »Die ganze Natur erkennet sich in ihm, wie in einem lebendigen Spiegel; sie siehet durch sein Auge, denkt hinter seiner Stirn, fühlet in seiner Brust, und wirkt und schaffet mit seinen Händen«161. Mit dem Ausgeführten ist zugleich Entscheidendes zu Herders Freiheitsbegriff gesagt.162 Freiheit ist nach Herder in naturphilosophischer Hinsicht kein Terminus, der eine schlechthinnige Scheidelinie zwischen der animalischen und humanen Natur markiert, sondern kann nach dem Gesagten nur eine graduelle – wenn auch spezifische – Differenz bezeichnen. Auf diese Weise reformuliert Herder den Gedanken Lockes, dass auch Tiere partiell am Intelligiblen teilhaben.163 So hat schon der Affe nach Herder »keinen determinierten Instinkt mehr: seine Denkungskraft steht dicht am Rande der Vernunft; am armen Rande der Nachahmung«164 . Im ganzen Reich der Natur sieht Herder mit der zeitgenössischen Naturforschung eine »Reihe aufsteigender Formen und Kräfte«165 , die in der organischen Verfasstheit des Menschen kulminiert. Die Freiheit des Menschen und damit seine – um mit Plessner zu sprechen – exzentrische Weltstellung ergeben sich nach Herder im »Stufengange von Organisationen«166 durch das organologische Wechselverhältnis von Komplexitätssteigerung, Ausdifferenzierung und Konzentrationszuwachs, welches sich physiologisch im aufrechten Gang mit der daraus resultierenden Stellung des Hauptes niederschlägt. Herder zieht die Summe seiner Überlegungen: »Der Mensch ist zur Vernunftfähigkeit organisieret«167. Demnach ist die Vernunft also zweierlei nicht: Wie gesehen, ist sie nicht etwas, das dem Menschen ab extra zu seiner Naturausstattung hinzukommt, sondern sie ist seine organisch bedingte Natur. Zugleich ist sie aber auch nicht 160 In diesem Sinne feiert Goethe am 27. März 1784 auch seine Entdeckung des os intermaxillare, womit sich die Konsequenz des osteologischen Typus bestätigte. Vgl. R. Haym, Herder II, 233 f., M. Bollacher, FA 6, 904, sowie H. D. Irmscher, Herder, 132. 161 FA 7, 363. Vgl. dazu H. D. Irmscher, aaO. 826. 162 Vgl. zu Herders Freiheitsbegriff unter letztbegründungstheoretischer Hinsicht Kap. II 3.3.1. 163 Vgl R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 150 f. 164 FA 6, 116. 165 AaO. 166. 166 AaO. 123. 167 AaO. 116.

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ein bloßer Mechanismus. Dafür steht das andere Moment in Herders Verwendung des Gedankens des Organischen. Zeichnet sich der Materialismus gerade dadurch aus, dass er den Organismusgedanken der Renaissance durch den der Mechanik ersetzen will, so kann Herders Rückgriff auf diesen Terminus als eine gezielte Spitze gegen das materialistische Denken begriffen werden. Wenn für Herder schon Tiere »als Maschinen betrachten zu wollen, [. . .] eine Sünde wider die Natur«168 ist, dann gilt dies umso mehr von der menschlichen Organisation. Damit fällt auf naturphilosophischer Ebene der Kategorie des Organismus in ihrer gleichermaßen anticartesischen wie antimaterialistischen Stellung die oben gesuchte Funktion zu, zwischen den beiden konträren philosophiegeschichtlichen Optionen zu vermitteln.169 Mit dem aufrechten Gang nimmt also eine »neue Organisation von Kräften«170 ihren Anfang. Das grundlegende Wesensmerkmal, welches den Menschen vom instinktgeleiteten Tier scheidet, ist seine konstitutionelle Bestimmtheit zur Selbstbestimmung171 in individueller wie sozialer Hinsicht. Im 29. Brief der Briefe zu Beförderung der Humanität schreibt Herder dementsprechend: »Er konstituieret sich selbst; er konstituiert mit andern [. . .] eine Gesellschaft«172 . Es fällt an dieser Stelle in den Ideen auf, dass Herder unmittelbar auf die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen zu sprechen kommt, ohne noch ausführlich – wie in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache geschehen – auf die These des Mängelwesens Mensch einzugehen. Darin liegt aber kein Widerspruch, da Herder schon 1772 das Bild des im Vergleich zum Tier instinktlosen Menschen nur gezeichnet hat, um die 168

AaO. 110. Vgl. zum Organismusbegriff T. Cheung, Die Ordnung des Organischen. Zur Begriffsgeschichte organischer Einheit bei Charles Bonnet, Spinoza und Leibniz, 87–108. 170 FA 6, 115. Das unableitbare Auftreten dieser neuen Organisation weist auf Herders Metaphysik der Natur hin, die im zweiten Teil dieser Arbeit unter der Perspektive seiner Spinozarezeption behandelt werden soll. Formulierungen wie »Zweck der Natur« (aaO. 107), »Diadem unsrer Erwählung« (aaO. 115) sowie die die Ideen durchziehende Vorsehungsmetaphorik im Zusammenhang mit dem Gedanken einer Teleologie weisen jedenfalls darauf hin, dass Herder Spinoza nicht im Sinne eines reinen Immanentismus deutet, insofern logisch zwischen Zweck und Zwecksetzendem, Vorsehung und Vorsehendem etc. unterschieden werden muss. Innerhalb der Ideen verdienen diesbezüglich die Bücher 5 und 15 eine hervorgehobene Beachtung. 171 Ich wähle diese Formulierung in bewusster Differenz zu M. Bollacher, FA 6, 982, der von einer »konstitutionellen Unbestimmtheit« spricht. Das halte ich aber für überzeichnet, da der Mensch nach Herder in seiner Gestalt durchaus im stoischen Sinne naturgesetzlich bestimmt ist, wenn er seine Bestimmung auch in der geschichtlich-kulturellen Sphäre selbst auslegen muss. Herder vertritt gerade keine schlechthinnige Autoproduktivität des Menschen wie auch gegen H. D. Irmscher, FA 7, 817 f., betont werden muss. Dies zeigt sich auch in Herders Begriff der Selbsterhaltung, wie unter I 3.3.4 gezeigt wird. 172 FA 7, 153 f. 169

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spezifische schöpfungsgemäße Artdifferenz herauszustellen. Mit der dezidierten Abweisung der These von der gänzlichen Instinktlosigkeit des Menschen in den Ideen173 wendet sich Herder ebenso wie in der Preisschrift gegen die antike Tradition der natura noverca, die bis in die zeitgenössischen Naturrechtslehren Eingang gefunden hatte.174 Dem setzt er in Anschluss an Shaftesbury175 das sich ebenfalls aus antiker Tradition speisende Prometheus-Ideal in der für Herders Denken typischen Verbindung mit der biblischen Gottebenbildlichkeitsaussage entgegen: »Als die bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen erschöpft hatte [. . .] stand sie still und übersann ihre Werke; und als sie sah, daß bei ihnen allen der Erde noch ihre vornehmste Zierde, ihr Regent und zweiter Schöpfer fehlte: siehe da ging sie mit sich zu Rat, drängte die Gestalten zusammen und formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menschliche Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlerischen Geschöpf die Hand und sprach: ›steh auf von der Erde! Dir selbst überlassen, wärest du Tier wie andre Tiere; aber durch meine besondre Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Tiere‹«176 .

Diese Formulierung stellt für Herder nicht bloß eine poetische Reminiszenz dar, sondern in dem unableitbaren Auftreten des Menschen als eines reflexiv organisierten Geschöpfes deutet sich bereits der religiös-metaphysische Grund seiner Weltanschauung an. Aus dieser dem Menschen wesentlich aufrechten Stellung – wie Herder gegen Rousseau betont – erwächst dem Menschen eine Welt, die er zu bearbeiten hat. Während das Tier qua seiner Instinktgerichtetheit in seiner Sphäre festgestellt ist, hat sich der Mensch mittels seiner Vernunft eine soziokulturelle Welt zu erschaffen. Entscheidendes Mittel zum Aufbau von Kultur sind nach Herder – hierin Adam Ferguson folgend – die durch den aufrechten Gang frei gewordenen »künstliche[n] Hände«177, die es ihm ermöglichen unter Zuhilfenahme von Werkzeug Artefakte herzustellen. Damit kommt Herder nach der Bestimmung des Menschen als eines Vernunftgeschöpfs zu seiner zweiten zentralen Bestimmung: »Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf«178 . Die Entwicklung von Kunsttechniken ist für die Selbsterhaltung von Individuum wie Gattung die schlechterdings unabding173 Vgl. FA 6, 142 f.: »Also sind dem Menschen die Triebe nicht sowohl geraubt als bei ihm unterdrückt und unter die Herrschaft der Nerven und feinern Sinne geordnet«. 174 Vgl. W. Pross, H III/2, 283. 175 Vgl. Shaftesbury, Characteristics of Men, Bd. 1, 136, der Prometheus »a second maker [. . .] under Jove« nennt. 176 FA 6, 115, H. i. O. Das andere in Anschluss an Platon und Ovid durch Giannozzo Manetti vermittelte Bild Herders ist das vom ἄνθρωος als eines aufwärtsblickenden und zusammenschauenden Wesens; vgl. M. Bollacher, aaO. 969 f. 177 AaO. 137. 178 AaO. 136 f.

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bare Voraussetzung. Während das Tier seine Selbsterhaltung instinktiv verfolgt, muss der Mensch sie sich intentional zu seiner kulturellen Bildungsaufgabe machen, wenn er seine physischen und geistigen Bedürfnisse befriedigen will. Das entscheidende Medium zum Aufbau von Kultur ist dabei nach Herder »das göttliche Geschenk der Rede«179. Allein durch die Sprache, zu der der Mensch durch den aufrechten Gang organisiert ist, wird in dem Menschen die Vernunft- und Kunstfähigkeit in Vollzug gesetzt. Als das Wesen, das nicht nur seine Welt, sondern auch sich selbst konstitutionell vermittelst sprachlicher Zeichen symbolisch verfügbar macht, ist der Mensch nach Herder wesentlich Sprachgeschöpf. Selbst- und Weltverhältnis sind nach Herder unhintergehbar durch sprachliche Zeichen vermittelt. In der Sprache allein ist damit dem menschlichen Bewusstsein die Selbst- und Weltstellung des Individuums für die kulturelle Bearbeitung eröffnet. Mit Heidegger lässt sich für Herder sagen: Der Mensch hat nicht bloß Sprache, sondern die »Sprache ist das Haus des Seins«180 . Denn anders als in symbolischer Repräsentation – Herder nennt dies »göttliche Ideenkunst«181 – wird der Mensch weder sich noch der Welt vorstellig. So wird in Anschluss an Genesis 2,19 f. die Sprachbegabung des Menschen in hervorgehobener Weise im Sinne des dominium terrae gedeutet. Als solch ein Wesen, das sich selbst und seine Welt mittels Vernunft, Kunst und Sprache zur Aufgabe macht, ist der Mensch nach Herder »der erste Freigelassene der Schöpfung«182 . Die Kultur in diesem umfassenden Sinne als symbolisch-zeichenhaft vermittelte Wirklichkeit sowie als die dadurch ermöglichte artifizielle Beherrschung der Welt wird dem Menschen »zweite Natur«183. So ist der Mensch nach Herder dadurch qualifiziert, »ganz Kunst«184 zu sein. Insofern kann Herders Deutung des Menschen treffend in den Worten Gehlens ausgedrückt werden, wonach der Mensch als ein Kulturwesen von Natur aus qualifiziert wird.185

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AaO. 138. M. Heidegger, Brief über den Humanismus, 313. 181 FA 6, 142. 182 AaO. 145 f. Wenn E. Jüngel, Geheimnis, 536, dieses berühmte Diktum Herders im Sinne einer christologisch fundierten Freiheit als Freiheit von der Selbstzentrierung des Menschen interpretiert, dann geht er damit an Herders grundsätzlich positiver Einschätzung der schöpfungstheologisch fundierten allgemein-menschlichen Freiheit vorbei. 183 FA 6, 149. 184 AaO. 137. 185 Die deutlichste sachliche Differenz von Herder gegenüber Gehlen wird man wohl mit H. Sunnus, Wurzel des modernen Menschenbildes, 97, in Herders Primat der Sprache gegenüber jeglichem Handeln in der Welt sehen dürfen. 180

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3.3.3 Erlernte Vernunft – Vermittelte Selbstbestimmung Herders obige Formulierung von der Sprache als einem göttlichen Geschenk hat ihm den Vorwurf zugezogen, in den Ideen hinter die Einsichten der Sprachursprungsschrift zurückzufallen186 , wo er ja gerade in bisweilen bissigironischem Ton Süssmilchs These vom göttlichen Ursprung der Sprache scharfsinnig widerlegt hatte.187 So wird diese Differenz vielfach als Reaktion Herders auf den Widerspruch seines Freundes Johann Georg Hamann gelesen, der zu einer Revozierung seiner Position in den Ideen geführt habe. Bei näherem Hinsehen ist aber auch hier kein sachlicher Bruch in Herders Werk zu konstatieren. Schon die Abhandlung über den Ursprung der Sprache endet damit, dass nur der wahrhaft menschliche Ursprung der Sprache im eigentlichen Sinne göttlich sei, insofern sich in ihm die Sonderstellung des Menschen im Reich der Schöpfung manifestiere: »Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, so fern er menschlich ist«188 . Diese Sonderstellung selbst, die den Menschen zum Sprachgeschöpf bestimmt, bleibt dabei unableitbares Faktum. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Herder von Hamanns Reaktion konsterniert war, da dieser den metaphysischen Grund von Herders Sprachentstehungsthese nicht anerkennen wollte.189 Die Ideen behalten diese Position bei, wobei jetzt – wie gerade dargestellt – die Sprachbegabung nochmals physiologisch zurückgebunden wird. Die Sprache wird sonach von Herder in einem doppelten Sinne als ›göttlich‹ apostrophiert. Zum einen insofern sie auf ihren nicht weiter abzuleitenden konstituierenden physiologischen Grund des aufrechten Ganges verweist und zum anderen insofern nur in ihr der Mensch zur Selbst- und Weltbeherrschung bestallt ist. In der sprachlich vermittelten Symbolwelt wird die menschliche Vernunft nicht nur befähigt, »der schaffenden, erhaltenden Gottheit [. . .] nachzuspähen, sondern auch ordnend nachzufolgen«190 . Im sich allein sprachlich vermittelnden Kulturaufbau wird sich der Mensch sonach seiner »Ähnlichkeit mit ihm selbst [sc. Gott]«191 inne, wie sich Herder in einem Changieren zwischen biblischen Schöpfungsbericht (Genesis 1,27) und Homoiosis-Lehre ausdrückt. In diesen 186 M. Bollacher, FA 6, 981, sieht etwa dem »Buchstaben nach« eine Widerrufung der früheren Position, ohne auf das Verhältnis weiter einzugehen. 187 Vgl. hierzu J. P. Süssmilchs Schrift Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe (1766). 188 FA 1, 809. 189 Zur Debatte zwischen Herder und Hamann vgl. von J. G. Hamann, Zwo Recensionen (1772) sowie die Schrift mit dem launigen Titel Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache (1772), in: N III, 15–33. Herders Antwort vom August 1772 findet sich in DA III 101. 190 FA 6, 147. 191 AaO. 148.

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»Kraftvollsten Bestrebungen der Selbstbestimmung«192 legt sich für Herder die humane Bestimmung zu Gottes Ebenbild aus. Diese ist es auch, die Herders basalen Begriff der Humanität als einer gegebenen Bestimmtheit prägt: »denn der Mensch«, so Herder, »hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als Er selbst ist«193 . Die anthropologisch bestimmte Welt- und Selbststellung des Menschen wird von Herder also von vornherein in religiöser Metaphorik ausgelegt. Es ist nun für Herders Denken signifikant, dass er bei dieser hochgestimmten Emphase für die Reichweite der menschlichen Vernunft im Unterschied zum aufklärerischen Optimismus nicht ungebrochen stehen bleibt. Werner Schneiders spricht dementsprechend treffend von einer Selbstreflexion der Aufklärung194 , die freilich nicht als eine plane Aufklärungskritik verstanden werden kann, sondern mit Emanuel Hirsch als eine Vertiefung ihrer genuinen Ziele: »Der Verstandesaufklärung tritt eine auch Gefühl und Empfindung ergreifende Erhebung des Sinns adelnd und aufweckend zur Seite, ohne daß deshalb die Richtung des Zeitalters auf neue, von Vorurteilen freie, in sich selbst gebildete Menschlichkeit in Frage gestellt wäre.«195 Die Relativierung der Vernunft verläuft in Herders Denken auf mehreren ineinander greifenden Ebenen. Wir sahen bereits, dass sie physiologisch fundiert und in Umwertung der klassischen Hierarchisierung der Seelenvermögen als aus den basalen sinnlich-affektiven Triebkräften erwachsend vorgestellt wird, damit aber zugleich von ihnen abhängig bleibt. Die damit vollzogene Aufwertung der sog. niederen Seelenvermögen wurde vor allem für die ästhetische Theorielage und die damit einhergehende Irrationalitätsthematik der Romantiker wegweisend.196 Der entwicklungsgeschichtlichen korreliert eine sozial- bzw. kulturgeschichtliche Genetisierung der Vernunft. Auf diesem Aspekt liegt in den Ideen das Gewicht. Konnte Leibniz die Vernunft noch als die »Region der ewigen Wahrheiten«197 preisen, so betont Herder in argumentativer Gegenwendung auf den etymologischen Sinn rekurrierend: »Theoretisch und praktisch ist Vernunft nichts als etwas Vernommenes«198 . Diese These ist für Herders Denken zentral und bringt ihn in diametralem Gegensatz zu seinem 192

AaO. 149. AaO. 154, Hervorhebung C. C. 194 Vgl. W. Schneiders, Aufklärung, 18, der betont, dass in der Spätaufklärung die »Aufklärung der Aufklärung konstitutiv zur Aufklärung gehört«. Vgl. auch A. Voigt, Herder und die Humanität, 15, der in Herders Werk »zum ersten Male die Krisis der modernen Kultur mit staunenerregender Hellsichtigkeit [. . .] erfaßt« sieht. 195 E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, 207 f. 196 Vgl. zu diesem Themenkomplex A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts (1923), Darmstadt 1981. 197 Leibniz, Monadologie, 43. 198 FA 6, 144, H. i. O. 193

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Königsberger Lehrer Immanuel Kant. Die Vernunft ist nicht, wie er wohl bereits hier im ersten Teil der Ideen gegen Kant polemisiert, ein »angeborene[r] Automat«199, sondern die Vernunft ist immer schon ontogenetisch wie kulturgeschichtlich bedingt. Besonders die letztere These ist für Herders Humanitätsbegriff, der nicht der Idee einer eurozentristischen Vernunftkultur huldigen will, sondern Humanität in kultureller Differenz zu denken versucht, von entscheidender Bedeutung. Der Mensch muss die Vernunft in ihrem zwischen Selbst- und Weltverhältnis vermittelnden Fungieren 200 , welches durch jeweils kulturelle Differenz bestimmt ist, individualgeschichtlich allererst erlernen. Die Vernunft ist für Herder somit in ihrer genetischen Ausbildung essentiell fremdkonstituiert und keinesfalls voraussetzungslos. Dieser depotenzierte Vernunftbegriff hängt wesentlich mit dem oben skizzierten Gedanken von der exzentrischen Weltstellung des Menschen im Vergleich zum instinktsicheren Tier zusammen. Käme der Mensch mit einer ausgebildeten Vernunft auf die Welt, so würde er sie so instinktmäßig verfolgen, wie das Tier in seiner Sphäre lebt. Das Wesen des Menschen ist aber nach Herder vermittelte Selbstbildung, wovon auch die Vernunft nicht ausgenommen bleiben kann: »Entweder mußte ihm also die Vernunft, als Instinkt angeboren werden [. . .] oder er mußte, wie es jetzt ist, schwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen«201. Damit ist Herders Erziehungs- bzw. Bildungsgedanke avisiert, den er vor allem im dritten und vierten Teil der Ideen konzipiert hat.202 Wenn man – wie Herder es in diesem Zusammenhang tut – das Kriterium der Menschheit im Bildungsgedanken oder – um bei dem originären Sinn des Wortes Kultur zu bleiben – im Pflegegedanken ansetzt, dann ist damit Entscheidendes über das Menschsein des Menschen gesagt. Dieses beginnt für Herder nicht erst auf der Ebene einer ausgebildeten Vernunftkultur welcher soziokulturellen Provenienz auch immer, sondern ist bereits dort zu lozieren, wo ein Wesen zum aufrechten Gang mit all seinen Implikationen bestimmt ist, unabhängig von der konkreten Form der Realisierung. Die ausgebildete Vernunft ist für Herder nur die Spitze eines Kultivierungsprozesses, von dem sie abhängig bleibt. Sieht Herder die Abkünftigkeit der Vernunft also in phylo- wie ontogenetischer Hinsicht bestätigt, so spitzt er sie durch seine sprachphilosophischen

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Ebd. Der Terminus des Fungierens ist D. Henrich, Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen, 108, entlehnt. 201 FA 6, 143, H. i. O. Diesen Gedanken verfolgt Herder schon in der Abhandlung Vom Erkennen und Empfi nden der menschlichen Seele (1778). 202 Vgl. zum Zusammenhang von Herders Anthropologie und seinem Bildungsgedanken N. Welter, Herders Bildungsphilosophie, 2003. 200

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Erkenntnisse nochmals zu.203 Wie gerade deutlich gemacht, sieht Herder jegliches Selbst- und Weltverhältnis konstitutiv durch sprachliche Zeichen vermittelt. Will der Mensch sich selbst und die Welt verstehen, ist er unhintergehbar auf das zeichenhaft-symbolische Deutungssystem der Sprache angewiesen. Menschliches Sein ist immer schon sprachliches Sein. Dieser Gedanke zeitigt nun aber unmittelbare Relevanz für Herders Begriff der Vernunft. Auch die Vernunft kann sich nicht anders als in Sprache auslegen. Im neunten Buch der Ideen formuliert Herder in erkennbarer Polemik gegen Kant: »eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land«204 . Damit gibt Herder indirekt einen Hinweis auf die gattungsmäßige Soziabilität des Menschen. Das menschliche Leben ist im Vergleich zum Tier durch eine überdurchschnittlich lange Phase der elterlichen Pflege und Erziehung geprägt, die ihn von Natur aus zu einem geselligen Wesen macht.205 Gegen jegliches solipsistische Konzept vom Menschen betont Herder: »Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft«206 . Die Erziehung vollzieht sich vom ersten Moment an in sprachlicher Vermittlung. Die sich ausbildende Vernunft tritt immer schon in einen gedeuteten Selbst- und Weltauslegungszusammenhang hinein, der ihr selbst irreduzibel voraus liegt. Mit einer Formulierung Karl-Otto Apels ließe sich mit sachlichem Recht bei Herder von einem »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«207 sprechen: »Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition«208 . Sprache ist aber immer ein konkretes, kulturell gewachsenes Zeichensystem. Das bedeutet für die Vernunft, dass sie sich selbst stets nur in historisch bedingter, d. h. kulturell differenter Symbolisierung vorstellig werden kann. Herder fordert 203 Zur Genese von Herders Sprachphilosophie als einer »negativen Wissenschaft« vgl. R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 70–92. 204 FA 6, 347. 205 Damit widerspricht Herder der Naturstandslehre sowohl wie sie von Hobbes im Leviathan (1651) als bellum omnium contra omnes vorgetragen wurde als auch ihrer Fassung bei Rousseau im Discours sur l’inégalité (1755), wonach der Mensch sich nur sekundär zur Gemeinschaft bestimmt. Mit der These von dem Menschen als einem Gemeinschaftswesen von Natur aus greift Herder auf die Tradition des Cambridger Platonismus zurück, wie sie ihm durch Shaftesbury vermittelt wurde. So konnte Herder bei Shaftesbury, Moralists, Sect. IV, über den Menschen lesen: »it follows that society must be also natural to him and that out of society and community he never did, nor ever can, subsist«. Zur philosophiegeschichtlichen Einordnung sowohl der Cambridger Schule als auch Shaftesburys vgl. F. Jodl, Geschichte der Ethik, Bd. 1, 221–233.272–287. 206 FA 6, 362. 207 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz K.-O. Apels, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, 358 ff. 208 FA 6, 352. H.-G. Gadamer, Anfang der Philosophie, 36, spricht in diesem Sinne von dem »Vorurteilszusammenhang«, in den jeder Mensch mit der Geburt eintritt. Für Herder bringt das M. Kumlehn, Gott zur Sprache bringen, 91, das auf den Begriff des »Sinnapriori der Sprache«.

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konsequent – und darin für die moderne sprachphilosophische Theorielage wegweisend – eine »philosophische Vergleichung der Sprachen: denn in jede derselben ist der Verstand eines Volks [. . .] gepräget«209. Grammatik, Semantik und Syntax sind nach Herder die Interpretamente der kulturellen Vernunft. Die Vernunft trägt sonach in der Sprache ihre Geschichte immer an sich und vermag sich ihrer nicht zu überheben. Vernunft ist an sich selbst historisches Bewusstsein. Ist sie damit wesentlich durch kulturelle Differenz gekennzeichnet, so liegt ihre kulturübergreifende Einheit, die jeder interkulturelle Vergleich voraussetzt, allein in ihrer Operationalität des funktional zu beschreibenden Selbst- und Weltverhältnisses. Es ist dieser Ton in Herders Denken, der ihn stets von einem planen Vernunftoptimismus der Aufklärung trennt. Dem für sein Humanitätskonzept grundlegenden Gedanken der Bestimmung des Menschen zur Selbstbestimmung tritt hiermit als Gegengewicht der Gedanke der unhintergehbaren Fremdkonstituiertheit menschlichen Selbstvollzuges entgegen. Nicht vollmächtige, sondern genetisch und historisch gebundene Selbsttätigkeit ist Herders Wahlspruch: »So wenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich entspringt: so wenig ist er im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborner«210 . Der gesamte Geschichtsprozess, der sich aus dem nicht festgestellten Wesen des Menschen generiert, wird in seinen Ambivalenzen, in »Perfektibilität [wie] Korruptibilität«211, nur durch diese Spannung von Sich-Setzen und Gesetzt-Sein möglich. Hierin zeigt sich wieder ein Moment, das Herders gesamtes Lebenswerk durchzieht. Bereits in seinem Bückeburger Pamphlet von 1774 Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit weist Herder den Gedanken einer schlichten Perfektibilität von sich, indem er den Entwicklungsbegriff dem Fortschrittsbegriff vorzieht und so Aufstieg wie Abstieg in sein Geschichtsbild zu integrieren vermag. 212 Und noch fast zwanzig Jahre später kann er die fiktive Korrespondenz über die Humanität mit dem Hinweis auf ihre nur gebrochene Realisierung eröffnen: 209 FA 6, 353. In Analogie hierzu formuliert J. G. Sulzer 1767 in seinen Anmerkungen über den gegenseitigen Einfl uß der Vernunft in der Sprache und der Sprache in die Vernunft, 189, »daß die etymologische Geschichte der Sprachen unstreitig die beste Geschichte des Fortganges des menschlichen Geistes sei.« Die von Herder bemerkte kulturelle Differenz wird von Sulzer allerdings noch nicht gesehen. 210 FA 6, 336. 211 AaO. 337. 212 A. Tumarkin, Herder und Kant, 60, sieht im »Grundgedanken des Werdens, der Entwicklung« den entscheidenden bleibenden Gedanken Herders, während sie seine Metaphysik nach Kant für überholt hält. Es wird im Kap. II deutlich werden, dass Herders prozessuale Natur- und Kulturtheorie selbst auf metaphysischem Grund ruht und von diesem nicht getrennt werden kann. Es muss darüber hinaus überhaupt als fraglich gelten, ob ein luzider Begriff von Geschichte ohne Metaphysik gebildet werden kann.

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»Mit Freude und Zustimmung, m. Fr., ist Ihr Vorschlag zu einem Briefwechsel über die Fort- oder Rückschritte der Humanität [. . .] aufgenommen und bewillkommet worden«213. Die oben angesprochene Deutung des Menschen in der imago Dei-Tradition des Renaissance-Humanismus, wie sie exemplarisch durch Giannozzo Manetti 214 und Pico della Mirandola 215 vorgebildet ist, wird von Herder also im Sinne einer relativen schöpferischen Selbstbestimmung interpretiert. Diese relative Freiheit ist es, die trotz ihres vorgängigen Eingestelltseins in ein Bedingungsgefüge den Menschen qualitativ vom Tier scheidet und ihn zu einem Lebewesen der Wahl und des Gebietens macht unabhängig davon, wie er seine Freiheit realisiert. So betont Herder, dass der Mensch »seiner Freiheit nach, und selbst im ärgsten Mißbrauch derselben ein König«216 ist. Diese Freiheit, die allein dem Menschen aufgrund seiner Stellung im Naturzusammenhang zukommt, ist die unverlierbare Würde des Menschen. Eine Würde, die selbst in ihren Verirrungen zur Darstellung kommt: »Mit allem, was der Mensch denkt, ahmet er der ordnenden, mit allem, was er will und tut, der schaffenden Gottheit nach [. . .]. Die Ähnlichkeit liegt in der Sache selbst: sie ist im Wesen seiner Seele gegründet«217. Die in der menschlichen Freiheit sich manifestierende »Gottähnliche Kraft«218 der Weltgestaltung, worin sich der Mensch zugleich zu sich selbst verhält, verweist auf die von Spinoza vorgenommene Unterscheidung zwischen natura naturans und natura naturata. 219 Der Mensch als natura naturata partizipiert an der natura naturans qua seiner Freiheit, unterscheidet sich aber von ihr dadurch, dass sich seine Freiheit nicht als schlechthinnige Freiheit (causa libera) vollzieht, sondern nur als bedingte Freiheit gedacht werden kann, die weder sich selbst hervorbringt noch den Gegenstand ihrer Freiheit erzeugt. Das Gegebensein der Humanität realisiert sich also als relative schöpferische Selbsttätigkeit, worin ihr Aufgegebensein zugleich mitgesetzt ist. Humanität in Herders Sinne verstanden ist nie als bloße Potentialität zu begreifen, sondern immer schon als actuositas qualifiziert. Die Vorstellung einer in sich bleibenden Humanität wäre für Herder eine contradictio in adjecto. Auf diese Weise will Herder aus seiner Anthropologie heraus phänomenologisch den Verweisungszusammenhang auf den Gottesgedanken eröffnen. 213

FA 7, 13. Vgl. G. Manetti, De dignitate et excellentia hominis (1452). 215 Vgl. P. della Mirandola, Oratio de hominis dignitate (1486). 216 FA 6, 146. 217 AaO. 170. 218 AaO. 148. 219 Vgl. B. d. Spinoza, Eth. I, prop. 29, schol. Vgl. zu Herders Freiheitsbegriff in Anschluss an Spinoza Kap. II 3.3.1. 214

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3.3.4 Humanität als Deutekategorie der Kulturgeschichte Herders Konzeption von der vermittelten Selbstbestimmung bzw. der relativen schöpferischen Selbsttätigkeit stellt seine fundamentalanthropologische Bestimmung des menschlichen Wesens dar. Wo der Mensch auftritt, da vollzieht er sich stets in der Spannung zwischen Bestimmtheit und Selbstbestimmung. Der Kulturprozess erscheint somit als eine geschichtliche Entfaltung des Humanums selbst, insofern sich das duplizitäre Wesen des Menschen in der Geschichte stets selbst neu auslegt. Dieser geschichtlichen Selbstentfaltung der Humanität geht Herder unter dem Aspekt ihrer kulturellen Modifikationen in den Ideen nach. Eingangs zum zweiten Teil hält Herder fest: »Lasset uns jetzt, nachdem wir die Idee seiner [sc. des Menschen] Natur überhaupt festgestellet haben, die verschiednen Erscheinungen betrachten, in denen er sich auf diesem runden Schauplatz zeiget«220 . Auch hier kann es der Rekonstruktion nicht darum gehen, sämtlichen Aspekten und Fingerzeigen Herders genüge zu tun, sondern die Darstellung muss sich auf die für die Humanitätsidee systematisch relevanten Bezüge beschränken. Das heißt konkret, dass drei Problemkreise Beachtung finden müssen: a) Wie verhalten sich in Herders Konzept der Humanität die allgemein-anthropologischen Implemente zu der These von der immer nur kulturell-individuellen Ausformung der Humanität? b) Inwiefern kann Herder Humanität unter der Kategorie der Selbsterhaltung verstehen? c) Ist Herders Humanitätsbegriff deskriptiv oder normativ verfasst? a) Humanität in der Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit Wenn sich Herder nach seiner anthropologischen Wesensbestimmung dem Menschengeschlecht in seiner »Diversität«221 zuwendet, so liegt dies in der Konsequenz seines Ansatzes: ist der Mensch vom ersten Augenblick seines Auftretens an Mensch, dann muss er in seiner Geschichte, d. h. in der Pluralität seines tatsächlichen historisch-kulturellen Vorkommens betrachtet werden, um zu eruieren, wie sich darin seine Humanität ausbildet. Genauer steht zur Disposition, wie sich der Mensch mit seinen kulturellen Mitteln unter variierenden Bedingungen selbst erhält. Die Humanität des Menschen zeigt sich darin, wie er die Umweltbedingungen, in die er gestellt ist, bearbeitet. Die kulturelle Varianz der sich qua ihrer Weltoffenheit über den ganzen Erdball ausbreitenden Menschheit erläutert Herder unter Rekurs auf die zeitgenössische Klimatheorie.222 Herders Rezeption der Klimatheorie, die sich 220

FA 6, 209. AaO. 250. 222 Vgl. zu dem geschichtlichen Ursprung der Klimatheorie in der Antike, zu ihrer Fortbildung im italienischen Humanismus sowie zu ihrer hegemonialen Interpretation 221

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Kapitel I: Herders Anthropologie

von den Anfängen seines Werkes bis zu seinen späten Veröffentlichungen verfolgen lässt 223 , differiert in zwei entscheidenden Momenten von den ihm vorgegebenen Konzeptionen. Zum einen widerspricht Herder der französischen Tradition im Gefolge von Abbé Dubos224 und Montesquieu 225 , wonach dem Klima auf die physische wie geistige Konstitution des Menschen ein determinierender Einfluss zukomme. Zum anderen wendet er sich gegen die durch Buffon 226 und Kant 227 vorgetragenen Rassenlehren, die den Gedanken von der Einheit des Menschengeschlechts und damit ihres monogenetischen Ursprungs in Gefahr bringen. Zugleich setzt die Klimatheorie den Ansatz Herders fort, den Menschen – nun in seiner geschichtlichen Entfaltung – im Naturzusammenhang zu betrachten. Wenn Herder auch die traditionelle Typologie der drei Klimazonen übernimmt, wonach »der Strich der wohlgebildetsten Völker ein Mittelstrich der Erde sei«228 , der zwischen den kalten und heißen Extremen liegt, so verbindet er damit aber nicht den chauvinistischen Eurozentrismus, wonach allein die Völker des Mittelstrichs in der Lage seien Kultur und Humanität auszubilden. Unter Humanität – und das ist eine weitere zentrale Bestimmung dieses Begriffs – wird von Herder deskriptiv-funktional der spezifische Modus menschlicher Selbsterhaltung verstanden. Die dabei vorausgesetzten divergierenden klimatischen Umweltbedingungen setzen demnach verschiedene Selbsterhaltungsstrategien aus sich heraus. Die phänotypische Pluralität der Erscheinungen des Menschen auf der Erde wird von Herder als das Resultat der Anpassung an die natürlichen Existenzbedingungen verstanden. Humanität wird in diesem Zusammenhang von Herder zunächst rein funktional als eine geglückte Selbsterhaltung begriffen, insofern ein Einzelner oder eine in Frankreich G. L. Fink, Die deutsche Klimatheorie, 156–176, sowie zum Folgenden vor allem W. Pross H III/2, 398–415. 223 Vgl. dazu G. L. Fink, Die deutsche Klimatheorie, 169–176, sowie R. Baasner, Geographische Grundlagen von Herders Geschichtsphilosophie, 111–120. Vgl. zu dem Thema den Eingang zu Herders Schulrede von 1764 Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen. U. Gaier, FA 1, 871, sieht hier bereits den ersten Ansatz zu Herders späterem Humanitätsprogramm gegeben. 224 Vgl. J.-B. Dubos, Réfl exions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719). 225 Montesquieu verbindet die Klimatheorie in seinem Werk L’Esprit des loix (1748) mit seiner Theorie des Politischen. Insbesondere das vierzehnte Buch verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. 226 Buffon legt seine Rassentheorie in seinem umfassenden – von Herder ausführlich studiertem – Werk über die Naturgeschichte Histoire naturelle de l’homme (1749) dar. 227 Herder hatte während seiner Studienzeit in Königsberg bereits Kants Vorlesungen über die physische Geographie gehört. Vielleicht ist er bereits dort mit Kants Theorie der Rassen in Berührung gekommen, spätestens aber als Kant 1775 seinen Aufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen veröffentlichte. 228 FA 6, 226.

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Gruppe die vorgegebenen natürlichen Lebensbedingungen optimal bearbeitet. Humanität realisiert sich sonach in differierenden Erscheinungsformen, die sich der zu kultivierenden natürlichen Umwelt verdanken. Diesem gestaltungsoffenen Humanitätsbegriff entspricht der Gedanke der Kompensation, wonach den Bewohnern der jeweiligen Klimazonen unterschiedliche Fähigkeiten zukommen, je nach den Rahmenbedingungen ihrer Existenz. Entscheidend ist hierbei nur, dass die jeweilige Organisation in einem harmonischen Verhältnis zu seiner Umwelt steht. Damit distanziert sich Herder von einem am Maßstab der europäischen Aufklärung gewonnenen normativen Begriff der Humanität. Was unter welchen jeweiligen Bedingungen human ist, kann nur eine gründliche ethnographische Erforschung der Völker sichern. In einem sprachlichen Changieren zwischen einem normativen und dem deskriptiven, auf Selbsterhaltung zielenden Begriff der Humanität formuliert Herder: »denn auch in Zügen der scheinbar größesten Inhumanität dieser Völker ist, wenn man sie näher erwägt, Humanität sichtbar«229. Human ist in diesem Sinne das, was der sozialen Gruppe zum Überleben dienlich ist. Ist es das Grundgesetz alles Lebendigen überhaupt, sich selbst zu erhalten, woran der Mensch als Naturwesen teilnimmt 230 , so bezeichnet der Terminus der Humanität bei Herder zunächst die artspezifische conservatio sui mittels sprachlich-symbolischer und technisch-artifizieller Kulturgüter. Aus dieser Bearbeitung der Welt erwachsen nach Herder die jeweiligen Nationalcharaktere. Herder führt diesen Gedanken – wie es typisch für ihn ist – nirgendwo begrifflich distinkt aus. Aber der erste Überblick über die sich auf dem Globus ausbreitende Menschheit im sechsten Buch der Ideen sowie die ausführlichen Völkerbeschreibungen in dessen dritten und vierten Teil lassen keinen anderen Schluss zu. Die Modifikationen des Menschengeschlechts in Physiognomie, Tradition, Kultur und Sitte verdanken sich wesentlich den klimatischen Unterschieden der Erdstriche. Klima wird dabei von Herder in einem umfassenden Sinne verstanden, indem er darunter die geologischen und atmosphärischen Konditionen sowie die vegetativen und animalischen Grundlagen der Nahrung versteht. Könnte dies zunächst im Sinne der oben angesprochenen Determination von Völkern durch Natureinflüsse gedeutet werden, so widerspricht Herder dieser Konsequenz in doppelter Hinsicht. Herder erscheinen schon die Einflussfaktoren des Klimas in ihren Wechselwirkungen auf den Menschen von derart hoher Komplexität, dass sich monokausale Ableitungsmodelle einer Kultur aus den Faktoren des Klimas verbieten. 231 Gilt dieser Vorbehalt bereits 229

AaO. 213 Vgl. Kap. I 3.2. 231 Je allgemeiner die Folgerungen sind, »die man aus Einem solchen Principium« zieht, »desto gewagter sind sie« (FA 6, 265). 230

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Kapitel I: Herders Anthropologie

für »eine Klimatologie nur des menschlichen Baues«232 , so erst recht für »eine Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte«233 . Damit spricht Herder das zweite anitdeterministische Argument an. Kann die Physis des Menschen noch in Grundzügen aus den klimatischen Bedingungen abgeleitet werden, so kann schon das humane Geistes- und Seelenleben nicht mehr in der schlichten Logik einer bloß externen Einwirkung, wie komplex diese auch zu denken ist, begriffen werden. Denn der Mensch verhält sich gemäß der oben vorgenommenen Bestimmung als eines relativ schöpferischen Wesens niemals bloß rezeptiv gegenüber seinen Umweltbedingungen, sondern wirkt auch umgekehrt auf sie ein und verarbeitet sie produktiv: »Es ist viel zu wenig, wenn man ihn dem saugenden Schwamm, dem glimmenden Zunder vergleicht; [. . .] ein lebendiges Selbst ist er«234 . In Differenz zum Tier, das sich zu dem Klima, in das es gestellt ist, nicht zu verhalten vermag, ist »der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt [. . .], daß er es durch Kunst ändre«235 . Für den humanen Selbstvollzug gilt: »das Klima zwinget nicht, sondern es neiget: es gibt die unmerkliche Disposition«236 . Wurde also wie gesehen das Wesen der Humanität von Herder als vermittelte Selbstbestimmung gefasst, so muss der konkrete Mensch in seiner tatsächlichen geschichtlich-kulturellen Pluriformität als die Realisation desselben gelten. Die Wesensbestimmung im ersten Teil der Ideen erscheint somit als Abstraktion der nur in unendlichen Modifikationen vorstellig werdenden Menschheit. Ist das Klima somit für Herder maßgeblich für die Diversität der Menschheit verantwortlich, so deutet sich in den Argumenten gegen den Determinismus bereits seine Betonung der Einheit des Menschengeschlechts an. Diese sieht er wesentlich durch die »genetische Lebenskraft«237 gewahrt, wie sie sich in und durch die physiologische Organisation des Menschen zum aufrechten Gang darstellt. Die geschichtlich evozierte »Abstammung und Verartung unsres Geschlechts nach Klimaten und Zeiten«238 darf nach Herder keinesfalls im Sinne einer Mutabilität der Gattung interpretiert werden. Neigt eine starke Klimatheorie von sich aus dazu, den Gedanken von Rassen nahezulegen, so ist Herders Beharren auf der Immutabilität zugleich als eine These gegen die Rassentheorien von Buffon und Kant zu lesen. Die klimatische Differenz ist also nach Herder für die kulturellen Modifikationen wie für die 232

AaO. 264. AaO. 266. 234 AaO. 252. Diese Einsicht formuliert Herder schon in seiner 1778 erschienen Abhandlung Vom Erkennen und Empfi nden der menschlichen Seele. Vgl. R. Häfner, Kulturenstehungslehre, 209 f. 235 FA 6, 269. 236 AaO. 270. 237 AaO. 272. 238 AaO. 281. 233

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verschiedenen nationalen Charaktere der Völker als einer jeweils »klimatische[n] Gemeinschaft«239 wesentlich verantwortlich. Aber von einer die Einheit des Menschengeschlechts auflösenden Prägekraft des Klimas zu sprechen, ginge zu weit: »im Ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemäldes«240 . Somit wird von Herder einer Ranghierarchie der Rassen gewehrt.241 Nur unter der Bedingung der Einheit der Menschheit kann Allgemeinheit wie Besonderheit der Humanität begründet zugleich ausgesagt werden.242 Würde Herder seinen Begriff der Menschheit nur über den Gedanken der natürlichen und kulturellen Diversität entwerfen, so könnte er diese nur in ihrem relativistischen, unverbundenen Nebeneinander betrachten. Streng genommen würde der Begriff der Menschheit, der immer einen Einheitshorizont voraussetzt, hinfällig. Ebenso kann die von Herder verfolgte Idee kultureller Individualität in Unterschiedenheit zu anderen Individualitäten nur dann sinnvoll sein, wenn diese sich zugleich auf den Einheitshorizont eines logischen Dritten beziehen lassen, welcher das Individuelle überhaupt erst als Individuelles verstehen lässt. Damit wird deutlich, dass Herders Interesse an der Einheit der Menschheit – bei all der für ihn typischen Betonung ihrer kulturellen Ausdifferenzierung – mehr als der bloße Versuch ist, ihren monogenetischen gegen den polygenetischen Ursprung zu verteidigen. Sondern es ist vielmehr umgekehrt so, dass allein die These des monogenetischen Ursprungs dem systematisch notwendigen Gedanken der Einheit des Menschengeschlechts entspricht. Die Vorstellung eines polygenetischen Ursprungs der Menschheit je nach Klima ist demgegenüber ein Widerspruch in sich. Nicht also eine bloße Anhänglichkeit an den biblischen Schöpfungsbericht bestimmt hier Herders positionelle Bestimmung, sondern er sieht in der Genesiserzählung den geeigneten Ausdruck, um das systematische Problem der Dialektik von Allgemeinheit und Besonderheit vom Ursprung der Menschheit her zu bearbeiten.

239

AaO. 267. AaO. 256. 241 Herder folgt hier der Kritik des Braunschweiger Naturforschers E. A. W. Zimmermann an Kant. Schon Zimmermann sieht, dass Kants Rassenlehre auf einem Unverständnis für die Natureinflüsse auf den Menschen ruht; vgl. W. Pross, H III/2, 374.420 f., und M. Bollacher, FA 6, 1008 f. 242 Dies gilt es zu beachten, wenn Herder seine Äußerungen über Afrikaner und Asiaten formuliert. So sehr seine Formulierungen noch seine europäische Standpunktverhaftetheit dokumentieren, so sehr geht seine ganze Intention darauf aus, diese Zentrierung als Bewertungsmaßstab zu überwinden, wie eben auch seine Verwendung des Humanitätsbegriffs unterstreicht. Vgl. dazu in diesem Sinne auch W. Pross H III/2, 363–366, sowie M. Bollacher, FA 6, 1002 f. 240

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Kapitel I: Herders Anthropologie

Der Humanitätsbegriff in seinen geschichtlichen Realisationsformen muss nach dem Gesagten an dieser doppelten Bestimmtheit partizipieren. Ist Humanität das Wesen des Menschen, so muss sich in ihr die im Gedanken der Menschheit in ihren Modifikationen angelegte Dialektik reduplizieren. In diesem Sinne wird der Humanitätsbegriff von Herder in der Tat einer doppelten Betrachtung unterworfen. Zum einen wird sie von ihm in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung in toto und zwar unter dem Aspekt der Teleologie gedacht, zum anderen betont Herder ihre strikt individuelle Verwirklichung unter Rekurs auf den seit der frühen Neuzeit einer Rehabilitation unterzogenen Glücksbegriff.243 Es kann also gegenüber den wirkungsgeschichtlich prominenteren Entwürfen Kants und Schleiermachers geradezu als das Spezifikum der Herderschen Konzeption angesehen werden, dass er es vermag, die Balance zwischen Individuum und Gattung bzw. Besonderem und Allgemeinem zu wahren. Droht es bei Kant zu einer Überbetonung der Gattung zu kommen, so droht bei Schleiermacher ein Übergewicht des Individuellen. b) Humanität und Selbsterhaltung Herder unterscheidet zwei Arten der Verwendung des Terminus der Individualität. Hier ist zum einen der in den Ideen aufgrund seiner geschichtsphilosophischen Gesamtintention überwiegende Begriff der Völkerindividualitäten zu nennen. Daneben rangiert zum anderen der Begriff der Individualität des einzelnen Menschen. Letzterer stellt aber – so sehr man die verstreuten Belege dafür im Text auch gezielt aufsuchen muss – keinesfalls ein ephemeres Phänomen von Herders Geschichtsschau da. Denn bereits die kosmologische Verunsicherung des Menschen angesichts seiner Dezentralisierung durch die kopernikanische Wende244 führt auf die Frage, wie Glückseligkeit für die Menschen auf der Erde möglich sein könnte 245 . In der Applikation auf das Individuum wird man daher die eigentliche Intention Herders erkennen dürfen. Die für unsere Fragestellung relevanten Äußerungen Herders befinden sich im achten Buch der Ideen. Werkgeschichtlich betrachtet können die hier gemachten Ausführungen als eine Fortsetzung der sinnespsychologischen Darlegungen des Vierten Kritischen Wäldchen von 1769 gelten. Was er dort 243

Vgl. zur Debatte um den Glücksbegriff in der Aufklärung F. Grunert, Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung, 351–368. 244 Vgl. Kap. I 3.1 dieser Arbeit. 245 Schon in der Vorrede zu den Ideen fragt Herder, FA 6, 12: »Was ist Glückseligkeit der Menschen? und wie fern findet sie auf unsrer Erde statt?«

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hinsichtlich der Ontogenese zur Ausführung brachte, wird nun unter phylogenetischem Aspekt fortgeführt. 246 Indem sich Herder jetzt der Geschichte des menschlichen Geistes in seiner Prägung durch das Wechselspiel von Natur und Tradition zuwendet, kommt er zu der »Geschichte der Kultur«247 im eigentlichen Sinne. Dabei verfolgt er gemäß seiner fundamentalanthropologischen Ausführungen eine doppelte Intention. Ist für Rousseau in seinem Discours sur l’inégalité die humane Weltstellung in ihren kulturellen Funktionen nur durch einen radikalen Bruch mit dem Naturzusammenhang denkbar, so betont Herder in argumentativer Gegenwendung, dass die geschichtlich-kulturelle Selbstbildung und Weltgestaltung in ihrer Variabilität nur aus den vorfindlichen natürlichen Daseinsbedingungen verstanden werden kann. Der Geschichtszusammenhang wird von Herder insofern als die organische Entfaltung des Naturzusammenhangs verstanden. Dass dies aber wiederum nicht im Sinne eines Determinismus verstanden wird, dafür steht nach Herder die Tradition ein, die zu einer produktiven Verarbeitung der Umweltbedingungen anleitet. Damit bringt Herder seine anthropologische Wesensbestimmung als relativer schöpferischer Selbsttätigkeit auf geschichtsphilosophischer Ebene konsequent zur Anwendung.248 Der anthropologische Zentralgedanke einer unauflöslichen Dialektik von Selbst- und Fremdkonstituiertheit führt von sich aus, sofern das konkrete Fremde als differenziert Anderes begriffen wird, zu einem geschichtshermeneutisch ausdifferenzierten Begriff der Humanität. Deutet Herder die anthropologische Dialektik im Sinne eines formalen Begriffs der Humanität, so kann die Humanität in ihrer geschichtlichen Realisierung letztlich nur in unendlichen Modifikationen zur Darstellung gelangen. Bedingungslogisch gesprochen wird die humane Allgemeinheit stets nur im konkret Individuellen vorstellig, welches seine Individualität nur in der je einmaligen Bezogenheit und Unterschiedenheit auf Anderes erlangt. Da die Humanität – wie oben gesehen – nach Herder nie reine Potenz bleibt, sondern immer schon als sich realisierend gedacht werden muss, bestimmt sie sich zugleich auch allererst in ihren Realisierungsgestalten, d. h. in einer unendlichen Pluralität qua ihrer Relationiertheit in einem unendlichen Verweisungszuammenhang von Wechselbedingungsverhältnissen. 246

Vgl. W. Pross, H III/2, 358, sowie R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 117–148. FA 6, 343. 248 Da es auf geschichtsphilosophischer Ebene zu einer Reduplikation der anthropologischen Fundamentalstruktur kommt, wird man kaum wie W. Pross, H III/2, 446, sagen können, dass die komplexere staatliche Organisation dem Menschen generell »als wesensfremd gegenüber tritt«. Es ist nach Herder vielmehr zwischen solchen Staatssystemen zu unterscheiden, die das Wesen des Humanum treffen und solchen, die es verfehlen. 247

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Kapitel I: Herders Anthropologie

Diese im Konkreten klimatisch bedingte Variabilität der Humanität führt Herder unter den Aspekten der Psychologie der Sinne, der Einbildungskraft, des praktischen Verstandes und der gesellschaftlichen Sozialfunktionen vor, um schließlich nach der Glückseligkeit des Menschen zu fragen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das der Selbsterhaltung dienende jeweils klimatisch differierende Entsprechungsverhältnis zwischen Klima und menschlicher Gestaltung. Auf sinnespsychologischer Ebene stellt sich diese Entsprechung als der Umwelt gemäße Proportioniertheit von Gefühl sowie Gehörund Gesichtssinn dar. Ebenso sind die Phantasie, die technisch-artifizielle Naturbeherrschung249 und die Geschlechterbeziehung als die basale Form der sozialen Gemeinschaft wesentlich durch jenes Wechselspiel geprägt. Für den Geschichtsphilosophen werden diese Entsprechungen in den Artefakten und Sozialformen sowie vor allem in den Mythen und Liedern der Völker erforschbar, die als kulturelles Gedächtnis fungieren und so Welt- und Selbstdeutungsschemata bereitstellen. 250 Aber auch hier betont Herder, dass nicht mechanisch geschlossen werden dürfte, da selbst gleiches Klima durchaus differente Lebensweisen aus sich herauszusetzen vermag. Gegen zu schlichte Schematisierungen, wie Herder sie etwa bei Adam Smith The Wealth of Nations (1776) vorfinden konnte, nimmt er – darin der ethnographischen Forschung vorarbeitend – als methodische Maxime zur Untersuchung der verschiedenen Völker, dass man zunächst mit »scharfsehende[r] Einfalt einzelne Gegenden klimatisch bemerke und sodann langsam, langsam allgemeine Schlüsse folgere«251. Bezieht sich der Humanitätsbegriff stärker auf die soziale Konstitution der Gruppe als nationaler Individualität, so thematisiert Herder unter dem Terminus der Glückseligkeit die Humanität des einzelnen Menschen und zwar unter dem Aspekt ihrer mentalen Repräsentation.252 Das sich human vollziehende Wesen ist glücklich. Programmatisch überschreibt er den betreffenden 249 Herder erkennt in zwei Errungenschaften des praktischen Verstandes wesentliche Kulturschwellen: zum einen in der Domestizierung von Tieren und zum anderen im Seßhaftwerden. In diesen archaischen Errungenschaften der Menschheit sieht er bedeutendere Kulturgüter als in der europäischen Vernunftkultur. Die Gesamtintention geht auch hier wieder darauf aus, »auch andern Lebensarten Gerechtigkeit widerfahren« (FA 6, 312) zu lassen als allein der bürgerlichen Gesellschaft. 250 Vgl. zu Herders Deutung des Mythos Kap. III. 3. 251 FA 6, 267. 252 Man wird das Verhältnis der Begriffe Humanität und Glückseligkeit nicht im Sinne einer »Konkurrenz« deuten können, wie es M. Bollacher, aaO. 1023, tut. Der Glückseligkeitsbegriff ist zwar weitestgehend für das Individuum reserviert, aber es ist Herder auch möglich von »glücklichsten Staaten« (aaO. 651) und »Glückseligkeit des Menschengeschlechts« (aaO. 661) zu sprechen, so dass ihnen weitgehend synonyme Bedeutung zukommt. Diese eudämonistische Komponente seines Humanitätsbegriffs ist zu beachten.

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Abschnitt: »Die Glückseligkeit der Menschen ist allenthalben ein individuelles Gut«253. In der Fassung seines Glücksbegriffs steht Herder in der Tradition der französischen und englischen Aufklärung. Zwar kann Herder in Anschluss an Leibniz betonen, dass der Grad und die Art der Glücksfähigkeit individuell variieren 254 , aber er teilt nicht mehr die von Leibniz mit der deutschen Aufklärungsphilosophie angenommene Unterscheidung einer beatitudo subjectiva und einer beatitudo objectiva, wobei letztere als summum bonum gedacht wird. Demgegenüber betont Herder, dass Glückseligkeit im strikt individuellem Sinne ein Zuständlichkeitsbewusstsein sei: »Da Glückseligkeit ein innerer Zustand ist: so liegt das Maß und die Bestimmung derselben nicht außer, sondern in der Brust eines jeden einzelnen Wesens; ein andres hat so wenig Recht, mich zu seinem Gefühl zu zwingen, als es ja keine Macht hat, mir seine Empfindungsart zu geben und das Meine in Sein Dasein zu verwandeln«255 .

Wie bei Hume und wie in dem Bayle folgenden Artikel Bonheur aus dem Jahre 1751 in der Encyclopédie von Jean Pestré256 wird damit auch von Herder der Konnex von Glückseligkeit mit Wahrheit, Tugend und Moral wenn nicht negiert, so doch zunächst zurückgestellt. Die Frage nach dem Glück des Menschen ist für Herder nicht in erster Linie von moralphilosophischer Natur, sondern betrifft den ganzen Menschen in seiner Selbst- und Weltstellung. Vor diesem Hintergrund ist es von vornherein klar, dass etwa Kants Frage nach der Glückswürdigkeit ausgeblendet bleiben muss. Glück wird von Herder vielmehr als relativ auf den jeweiligen durch Klima und Tradition geprägten Charakter bezogen verstanden, dem schon qua seiner Organisation jeweils unterschiedslos »dasselbe Recht zum Genuß des irdischen Lebens«257 zukommt. Drei Aspekte von Herders Glücksbegriff als einem Zuständlichkeitsbewusstsein werden von ihm in gesonderter Weise hervorgehoben. Entsprechend seines physiologischen Ansatzes betont Herder in Anschluss an Spinoza 258 zunächst die Bedeutung der körperlichen Gesundheit als »Grund aller

253

AaO. 327. Vgl. ebd. 255 Ebd. 256 Vgl. Encyclopédie 2, 322, wo J. Pestré der Gegenstand des Glücks nur noch als »cause efficiente« erscheint. 257 FA 6, 327. 258 Vgl. B. d. Spinoza, Tractatus de Intellectus Emendatione, § 15, wo er zur Erreichung des höchsten Gutes festhält: »et, quia Valetudo non parvum est medium ad hunc finem assequendum, concinnanda est integra Medicina«. Herder zitiert die Einleitung dieses Traktates in seiner Spinozaschrift Gott. Einige Gespräche (1787); vgl. FA 4, 691– 696. Zu Herders individualitätstheoretischer Vertiefung des Glücksbegriffs vermittelst des Gottesgedankens vgl. Kap. II. 3.3.2. 254

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unsrer physischen Glückseligkeit«259. Herder bringt in diesem Zusammenhang das antike Ataraxie-Ideal mit der neuzeitlichen Aufwertung des Arbeitsethos ins Einvernehmen. Das dem Menschen aufgrund seiner Konstitution als eines weltoffenen Wesens eigentümliche Streben ist zwar intentional auf das Erreichen der »erquickenden Ruhe« 260 ausgerichtet, aber es ist allererst das sich in Arbeit realisierende Streben selbst 261, welches das physische »Wohlsein«262 ermöglicht. 263 Sodann prägt im Gefolge der Umkehr der Hierarchisierung der Seelenvermögen ein antiintellektualistischer Zug Herders Begriff der Glückseligkeit. In sachlicher Bezugnahme auf die Spalding-MendelssohnDebatte über das Verhältnis von höheren und niederen Seelenvermögen betont Herder, dass Glückseligkeit weder in »Spekulation« noch in »maßlose[r] Verfeinerung und Ausbildung«264 des Vernunftvermögens liegen kann. Werden diese Phänomene von ihm als vorübergehendes und entkräftendes Vergnügen der europäischen Vernunftkultur eingestuft, so zielt sein Begriff der Glückseligkeit auf die sich in den jeweiligen Kulturkreisen variierend darstellenden Phänomene von Lebensklugheit und Geistesgegenwart. Nicht allein der Vernunftgebrauch garantiert das Glücksgefühl, sondern erst der »Gebrauch der ganzen Seele«265 , indem die verschiedenen Seelenvermögen ausgehend von der Triebschicht über das Sinnes- und Einbildungsvermögen bis hin zum praktischen Verstand in einem harmonischen, der jeweiligen natürlichen wie sozialen Umwelt adäquaten Verhältnis miteinander fungieren. Noch deutlicher wird Herders Ferne von jeglichem moralinem Verständnis der Glückseligkeit im letzten hier zu nennenden Punkt: die in der Selbsterhaltung jedes Individuums vorausgesetzte Selbstzwecklichkeit des eigenen Daseins. Glückseligkeit im Sinne eines »innern Genuß unseres Dasein«266 wird damit zur allgemeinen Grundlage alles menschlichen Seins ungeachtet der jeweiligen kulturellen Differenzen, in denen es sich realisiert. Hatte sich Herder in der Auseinandersetzung mit Mendelssohn gegen eine unendliche Differenzierung der Seelenvermögen ausgesprochen, so wendet er sich damit zugleich 259

FA 6, 329. AaO. 328. 261 In diesem Sinne formuliert Herder bereits in der Sprachursprungsschrift, FA 1, 773: »Das Wesentliche unsers Lebens ist nie Genuß sondern immer Progression, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir – zu Ende gelebt haben«. 262 FA 6, 328. 263 Vgl. hierzu auch den Artikel Travail in Encyclopédie 16, 567, der die Arbeit folgendermaßen bestimmt: »occupation journaliere à laquelle l’homme est condamné par son besoin, & à laquelle il doit en même tems sa santé, sa substistance, sa férénité, son bon sens & sa vertu peutêtre«. 264 FA 6, 329. 265 AaO. 330. 266 AaO. 332. 260

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gegen Kants und Hobbes Auffassung, dass der »Mensch also für den Staat gemacht sein soll, daß aus dessen Einrichtung notwendig seine erste wahre Glückseligkeit keime«267. Beide Fronten, gegen die Herder hier argumentiert, koinzidieren seines Erachtens darin, dass sie die früheren Geschlechter zu bloßen Vorläufern und Durchgangsstufen der aufgeklärten europäischen Kultur machen – eine Position, gegen die er schon in seinem Pamphlet von 1774 mit dem berühmten Diktum polemisierte, dass jede Nation »ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich« habe »wie jede Kugel ihren Schwerpunkt«268 . Auch in den Ideen findet Herder klare Worte gegen diese Fassung des Glücksbegriffs: »Ihr Menschen aller Weltteile, die ihr seit Äonen dahingingt, ihr hättet also nicht gelebt und etwa nur mit eurer Asche die Erde gedüngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch Europäische Kultur glücklich würden; was fehlet einem stolzen Gedanken dieser Art, daß er nicht Beleidigung der Natur-Majestät heiße?«269.

Der Rekurs auf die Majestät der ›Gott‹-Natur korrespondiert mit dem die Natur- und Kulturgeschichte verbindenden Glied des humanen Selbsterhaltungsstrebens. Das Streben nach individueller Glückseligkeit ist sonach im Rahmen der genannten Bestimmungen von Humanität als Funktion der Selbsterhaltung zu verstehen und zwar sowohl in Bezug auf das Individuum direkt, wie vermittelt auch auf die Sphäre des Sozialen. Conservatio sui ist damit nach Herder kein anonymer, rein triebhafter Prozess, sondern durch die Intentionalität des Individuums auf Glückseligkeit als einer selbstreferenziellen Bezogenheit im Modus der Zufriedenheit wird sie zu einer Angelegenheit von eminent subjektivem Interesse, worin sich die für die Neuzeit signifikante Abkehr vom scholastischen Konzept der Kontingenz manifestiert. 270 Das individuelle 267

AaO. 333. FA 4, 39, H. i. O. In seiner Auseinandersetzung um die Funktion der Fortschrittskategorie in der Geschichtsschreibung schließt Leopold von Ranke in seinen Berchtesgadener Vorträgen Über die Epochen der neueren Geschichte von 1854 an Herders Betonung der historischen Individualitäten an. Gegen die Vorstellung einer mediatisierten Generation, der gleichsam nur insofern eine Bedeutung zukäme als sie eine Vehikelfunktion für die letzte Generation einnimmt, formuliert Ranke, 59 f., sein berühmt gewordenes Diktum: »jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst.« Zu der damit intendierten Abgrenzung von einer hegelisch inspirierten Geschichtsschau vgl. den Abschnitt »Was von der sogenannten leitenden Idee in der Geschichte zu halten sei«; aaO. 63–76. Wir werden späterhin sehen, dass die damit angesprochene Spannung zwischen historischer Individualität und Fortschrittskategorie bereits in Herders Werk selbst auftritt. 269 FA 6, 335. 270 Vgl. hierzu H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, 166, der das Spezifische der neuzeitlichen Verwendung des Terminus der Selbsterhaltung in ihrer Opposi268

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Kapitel I: Herders Anthropologie

Glückseligkeitsstreben steht darin aber auch zugleich in funktionalem Verweisungszusammenhang der Erhaltung der Gattung. Das Ziel ist das Leben selbst. Das summum bonum liegt nicht mehr jenseits des Existenzvollzuges, sondern ist die Sicherstellung desselben. R. Spaemann hat in seiner Untersuchung über Fénelon in diesem Sinne von einer »Inversion der Teleologie«271 gesprochen. Herders Denken scheint in dieselbe Richtung zu weisen, wenn er schreibt: »Selbsterhaltung ist das erste, wozu ein Wesen da ist: vom Staubkorn bis zur Sonne strebt jedes Ding, was es ist, zu bleiben; dazu ist den Tieren Instinkt eingeprägt: dazu ist dem Menschen sein Analogon des Instinkts oder der Vernunft gegeben«272 . Spiegelt sich nun in Herders Verwendung des Terminus der Selbsterhaltung dessen für die Moderne typische »polemische Note« entgegen einer »teleologischen Deutung der menschlichen Natur in einem Universum, das als Zwecksystem aufgefaßt ist«273 ? Würde dies zutreffen, hätte das unmittelbare Folgen für Herders Verständnis von Humanität und zwar hinsichtlich des Verhältnisses von deskriptiver und normativer Dimension. Kommt es bei Herder zu einer Eskamotierung des normativen Verständnisses von Humanität zugunsten einer Deutung im Sinne des natürlichen humanen Selbsterhaltungsstrebens? Aus dem bisher Dargestellten wurde in der Tat folgendes deutlich: Herder deutet Humanität sowohl auf der Ebene der Völkerindividualitäten wie auch auf der Ebene des einzelnen Menschen im Rahmen der Selbsterhaltungsthematik. Dabei wurden die artifiziell-technischen wie die symbolisch-zeichenhaften Kulturbildungen strikt als funktional angepasste Bearbeitungsmodi der natürlichen Umwelt begriffen. Ein Bedeutungsüberschuss gegenüber der damit angestrebten Erhaltung der Gruppe ist hier zunächst nicht auszumachen. Die gesellschaftlichen Funktionen und Institutionen finden in der Erhaltung des jeweiligen kulturellen Verbandes ihr Ziel. Die Vorstellung eines die kulturelle Pluralität in Werten, Normen und Institutionen übergreifenden moralisch-rechtlichen Einheitshorizontes, der als Norm der Normen fungieren könnte, scheint damit obsolet. Geschichtsphilosophie unter der Perspektive von Selbsterhaltung kommt so scheinbar nicht über eine rein deskriptive Beschreibung des Weltverhältnisses hinaus. Verschärft wird dieses antinormative und antiteleologische Implement des Theorems der tion zum mittelalterlichen »Grundsatz der Fremderhaltung der Welt« erkennt, dem wiederum ein Verständnis von Selbsterhaltung im strikten Sinne als causa sui entspricht, was exklusiv nur für Gott zu beanspruchen ist. 271 R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 54. G. Arnold, DA X 157, weist darauf hin, dass Fénelon »eine Quelle für Herders Humanitätsbegriff« ist. 272 FA 6, 313. 273 D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, 85. Vgl. auch H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, 155, der feststellt, »daß Erhaltung im endogenen Sinn als Gegenkonzeption zu Erhaltung im exogenen Sinne« konzipiert ist.

3. Humanität als Gabe und Aufgabe

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Selbsterhaltung noch durch die Glückstheorie, insofern diese ›Glück‹ als ein individualistisch gefasstes Zuständlichkeitsbewusstsein begreift. Das sich in seinem Dasein wohlbefindliche Individuum scheint angesichts gelungener Beharrung im Sein von jeglichen moralphilosophischen Belangen unangefragt. Humanität ist in dieser Perspektive kaleidoskopartig in eine Mannigfaltigkeit unzähliger Erscheinungsformen gebrochen, die abgesehen von ihrer Funktionalität nicht mehr auf Einheit zu reduzieren sind. 274 Es stellt sich die Frage, ob Herder in dieser die Normativität negierenden Konsequenz der naturalisierenden Selbstkonstitution des Menschen sein Widerspruch gegen den cartesischen Dualismus letztendlich wieder einholt. Auf geschichtsphilosophischer Ebene stellt sich dementsprechend die Frage, ob es für Herder noch einen Sinn der Geschichte jenseits des jeweiligen kulturellen Partialsinns als eines Modus von Selbsterhaltung geben kann. Der transzendentalphilosophische Weg Kants ist Herder ebenso verwehrt wie die ästhetische Freiheit Schillers und die Glaubensphilosophie eines Jacobi. Aus Herders Perspektive können diese drei Wege bei aller internen Differenz275 nur als Spielarten bzw. Repristinationen des cartesischen Dualismus gelten, die Normativität nur im Gegensatz zur Natur auszusagen vermögen. 276 Der spezifische Weg Herders liegt demgegenüber im Rekurs auf die stoische οἰκείωσιςLehre in Verbindung mit der spinozanischen These der einheitlichen GottNatur. c) Humanität als Norm und Telos An Herder als einen Denker des Widerspruchs müssen diese Anfragen nicht erst künstlich heran getragen werden. Dem Geiste der barocken Vanitas-Klage nachempfunden formuliert er selbst sie explizit im Proömium zum 15. Buch der Ideen. Geschichte eignet unter dem Aspekt der Selbsterhaltung betrachtet kein transzendierender Sinn. In der Immanenz iterieren sich die Systeme der kulturellen Selbsterhaltung und lösen einander ab. In der Bildanalogie der 274 In diesem Sinne interpretiert W. Pross, H III/2, 456, die Position Herders, die darauf zulaufe, dass es kein Ziel gibt außer »die Erhaltung seiner selbst und die größtmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten in der Übung seiner Kräfte und Fähigkeiten, seiner Wahrnehmung und der Gefühle«. Vgl. dort auch 732 f. 275 So erscheinen etwa aus der Perspektive von Jacobis Glaubensphilosophie der Spinozismus, Kants Transzendentalphilosophie sowie Fichtes Ich-Philosophie als Spielarten eines in letzter Konsequenz nihilistischen Wirklichkeitsverständnisses, da hier auf die transmondane Realität des Schöpfergottes Verzicht geleistet wird. Jacobi betont in der zweiten Auflage Über die Lehre des Spinoza, 157, dass er durchaus »kein Cartesianer« sei, insofern sein Denken »von der dritten, nicht von der ersten Person« ausgehe. Vgl. hierzu U. Barth, Von der Ethikotheologie zum System religiöser Deutungswelten, 285–293. 276 Vgl. ebenfalls W. Pross, H III/2, 454.

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Kapitel I: Herders Anthropologie

zyklischen Lebensalter von »Entstehen, Sein und Vergehen«277 betont Herder die sich stets erneuernden Bearbeitungen der Daseinsbedingungen, die unter den jeweils gegebenen und sich verändernden Umständen von Raum und Zeit immer wieder von vorne anfangen müssen. Sieht Herder in den Griechen ein Volk, das »in allen Künsten des Lebens vom Notwendigen zum Schönen und Wohlgefälligen«278 aufstieg, so ist ihm die diese ablösende römische Geschichte wesentlich »eine Tyrannen- und Mördergrube des Menschengeschlechts«279. Das Verhältnis dieser beiden Epochen der Menschheitsgeschichte ist weniger durch Kontinuität als durch Abbruch bestimmt. Herder fasst das Dilemma zusammen: »Die Kultur rückt fort; sie wird aber damit nicht vollkommener«280 . Damit scheint Herders Position auf einen Pluralismus und Relativismus der divergierenden kulturellen Systeme hinauszulaufen, in der das Faktische – insofern sich darin immer die der Umwelt angepasste Bearbeitung derselben manifestiert – zugleich das Normative ist. Eine Kritik gegenüber gegebenen Realisationsgestalten der Humanität scheint so unmöglich zu werden. In diesem Sinne wird Herder nun auch tatsächlich von Wolfgang Proß interpretiert. In Herders Anschluss an Spinoza, so Proß, »löst sich jeder Gegensatz zwischen Norm und Kontingenz, Notwendigkeit und Arbitrarität im Naturgeschehen und im menschlichen Handeln auf«281. Herders auf der »Identität von Norm und Kontingenz«282 ruhende Konzeption »verbietet [. . .] jegliche Anwendung einer Norm, Geschehenes zu beurteilen«283. Gegenüber dieser die Herder-Deutung von Proß leitenden These, ist m. E. zweierlei einzuwenden. Zum einen kann sie die das Werk Herders durchziehenden Beurteilungen und Bewertungen der historischen Erscheinungen nicht erklären. Sowohl Lob einer gelungenen Realisierung der Humanität wie Tadel ihrer Entartungen sind allein dann sinnvoll, wenn Verhaltensspielräume individueller wie gesellschaftlicher Gestaltung vorausgesetzt werden, die wenigstens potentiell an einer Norm ausgerichtet werden können müssen. Herders Anthropologie in der Dialektik von Selbst- und Fremdkonstituiertheit wäre ad absurdum geführt, wollte man allein der Norm des Faktischen das Wort reden. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Selbsterhaltung nur die erste basale Explikationsebene von Herders Humanitätsverständnis 277

FA 6, 627. AaO. 529. 279 AaO. 620. 280 AaO. 628. 281 W. Pross, H III/2, 456. 282 Ebd. 283 AaO. 736 f. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, 254– 258, diagnostiziert diesen von Proß gegen Herder vorgebrachten Vorbehalt gegenüber Goethes Pantheismus, wobei er allerdings die Bedeutung Spinozas für Goethe unterschätzt. 278

3. Humanität als Gabe und Aufgabe

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bildet. Die normativen Dimensionen in moralischer wie religiöser Hinsicht werden, soweit ich sehe, von Proß nicht berücksichtigt. Welchen Sinn kann es aber haben, wenn Herder unterscheidet zwischen dem, was »in der Geschichte je Gutes getan ward, [das] für die Humanität« getan worden ist, und dem Schlechten, das »gegen die Humanität verübet«284 wurde? Auf formal-funktionaler Ebene wird auch das moralisch Verwerfliche als ein Modus von Humanität begriffen werden müssen. Von diesem aus der Notwendigkeit zur Selbsterhaltung sich verstehenden Humanitätsbegriff unterscheidet Herder aber eine »feiner[e] Ausbildung der Menschheit«285 , die sich »die beste Form der Humanität [. . .] zum Ziel setzt«286 . Allein über die Stufung des Humanitätsbegriffs in eine deskriptive und eine normative Dimension ist also überhaupt erst der teleologische Zug in Herders Geschichtsdenken einzuholen. Nur in diesem Verständnis ist auch Herders These, dass der Mensch täglich werden muss, was er ist, ein anspruchsvoller Sinn abzugewinnen, soll der Satz nicht tautologisch werden. Wie verhält sich also der in eine kulturelle Pluralität ausdifferenzierte Begriff der Humanität zu seiner auf Normativität und Teleologie gerichteten Intention und zwar unter gleichzeitiger Wahrung des prinzipiellen Rechts von Pluralität wie Individualität? Wie oben schon angedeutet sucht Herder die Antwort in einer Verschränkung von Stoizismus und Spinozismus. Herders Betonung, dass der Gott, den er in der Geschichte sucht, derselbe sein muss, den er in der Natur gefunden hat, rekurriert gleichermaßen auf den Gedanken der einen Gott-Natur bei Spinoza wie dem stoischen Konzept der Einheit von φύσις und λόγος. Herder interpretiert diese Einheit dahingehend, dass dieselben Gesetze, die in der Natur herrschen, auch auf die Geschichte Anwendung finden müssen – anderenfalls wäre die besagte Einheit aufgehoben. Gleichzeitig – und dieser Aspekt wird m. E. von Proß nicht hinreichend gewürdigt – kann aber der Begriff des Naturgesetzes auf den Menschen als dem ersten Freigelassenen der Schöpfung nicht in derselben Weise wie in den ihm vorangehenden Stufen des Organischen determinierend in Anschlag gebracht werden. Herder betont die Aufgabe der Selbstausbildung: »Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein [sc. des Menschen] eigenes Schicksal in die Hände gegeben«287. Damit ist einer schlichten determinierenden und naturalisierenden Deutung von Herders Position der Boden entzogen. Auf humaner Ebene kann das Naturgesetz nur als Regulativ begriffen werden, dass den Gesamtprozess steuert, im Einzelnen aber Freiheit unter den Bedingungen des Möglichen erlaubt. Die Norm, die diesen Prozess 284 285 286 287

FA 6, 632. AaO. 634. Ebd. AaO. 630.

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Kapitel I: Herders Anthropologie

teleologisch ausrichtet, liegt dabei nicht in menschlicher Verfügungsgewalt, sondern wird von Herder in der schöpfungsgemäßen Einheit von physis und logos gesehen, dessen humanes Spezifikum gerade in der freiwilligen Übereinstimmung liegt. Humanität im Vollsinn des Wortes meint genau diese Koinzidenz. Sie fungiert bei Herder als Norm der Normen.288 Interpretament für den Gesamtprozess auf dieses Telos als einem Gemeinmenschheitlichen ist der Gedanke, den die dogmatische Tradition unter dem Vorstellungskreis der providentia ordinaria fasst, der damit die Rahmentheorie für Herders Geschichtsverständnis abgibt.289

288 A. Löchte, Kulturtheorie und Humanitätsidee, 65–74 sowie 222 f., bemerkt die normative Dimension von Herders Humanitätsbegriff treffend, steht dann aber etwas ratlos vor seiner Betonung des Eigenwerts einer jeden kulturellen Formation. Diese Spannung lässt sich – wie ich im Folgenden zeigen werde – nur von Herders logoschristologisch vertieftem Monismus des Geistes her verstehen. 289 Vgl. in diesem Sinne auch W. Pannenberg, Anthropologie, 43. Zu den möglicherweise hier von Herder verwendeten Quellen vgl. R. Häfner, Kulturentstehungslehre, 156–159.

Kapitel II

Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie »Spinoza ist der Hauptpunkt der modernen Philosophie: entweder Spinozismus oder keine Philosophie« G. W. F. Hegel

1. Das Bekenntnis zu Spinoza »Ich bin ein Spinosist«1 bekennt Herder am 17. Februar 1786 gegenüber dem Lyriker Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der zentralen Figur des Halberstädter Dichterkreises. Im darauf folgenden Jahr schreibt er ihm: »Hier ist mein Gott«2 . Zusammen mit diesem Brief übersendet Herder seinem alten Freund Gleim seine metaphysische Hauptschrift mit dem »lakonischen Titel«3 Gott. Einige Gespräche. Mit dieser Schrift gibt Herder seine Antwort auf den 1785 durch Jacobis Büchlein Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn entfachten Spinozismus- bzw. Pantheismusstreit. 4 Der systema1

DA V 14844. AaO. 2165. 3 So J. W. v. Goethe, Italienische Reise, 405. 4 Die Geschichte und der Verlauf des Pantheismusstreits werden als bekannt vorausgesetzt. Vgl. dazu H. Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916, XI–CXXVIII; H. Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt a. M. 1974; P. Clayton, Das Gottesproblem. Bd. 1: Gott und Unendlichkeit in der neuzeitlichen Philosophie, Paderborn u. a. 1996, 364–390; K. Christ, Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988; F. C. Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge/London 1987. Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Spinozismus in Deutschland vgl. den von E. Schürmann, N. Waszek und F. Weinreich herausgegebenen Sammelband »Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts«, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; R. Otto, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1994 sowie D. Bell, Spinoza in Germany from 1670 to the Age of Goethe, London 1984. Zur Bedeutung von Lexika im Spinozabild vgl. M. Lauermann/M.-B. Schröder, Textgrundlagen der deutschen Spinoza-Rezeption im 18. Jahrhundert, 57 f. Aus der 2

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

tische Stellenwert dieser Schrift für Herders eigenes Denken geht jedoch weit über den konkreten Anlass hinaus. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, dass Herder sich in ihr der metaphysischen Voraussetzungen für seine Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Sprachphilosophie, Kulturtheorie wie Ästhetik maßgeblich selbst versichert oder doch wenigstens diese dem Publikum durchsichtig macht. Themen, die nahezu sein gesamtes Werk durchdringen – wie das Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem, das Verhältnis von Natur und Geist und nicht zuletzt die Frage, wie Herder den Gottesgedanken in der Bezogenheit zum Weltgedanken denkt – werden hier in konzentrierter Weise bearbeitet.5 Insofern kann diese Schrift bei aller ihr eignenden Sprödigkeit als eine der bedeutendsten in Herders Werk gelten, will man Herder als Denker – und das heißt die Einheit seines Werkes – begreifen. Gott bietet gleichsam das systematische Gerüst von Herders Selbst- und Weltverstehen, das sonst unter der Materialfülle der verarbeiteten Stoffe nur zu erahnen ist. Damit ist zugleich angedeutet, was in der Analyse der Schrift näher ausgeführt werden wird, dass Herders Bekenntnis zu Spinoza nicht mit einer völligen Identifikation mit dem System des Spinoza zu verwechseln ist. 6 Bei Herälteren Herderforschung sind zu beachten: A. Tumarkin, Herder und Kant, Bern 1896; W. Vollrath, Die Auseinandersetzung Herders mit Spinoza, Darmstadt 1911; I. Hoffart, Herders »Gott«, Halle 1918; E. J. Schaede, Herders Schrift »Gott« und ihre Aufnahme bei Goethe, Berlin 1934. 5 Daher betont M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, XV, zu Recht, dass Lessing im Spinozismusstreit allein eine auslösende Funktion zukam. Herders Werk zeigt von Anbeginn an, dass er um einen monistischen Theorieansatz ringt. Auf die Phasen der Spinozarezeption Herders muss hier nicht noch einmal eigens eingegangen werden. Vgl. dazu R. Otto, Herder auf dem Wege zu Spinoza, 165–177, sowie die Untersuchung von D. Bell, Spinoza in Germany, 38–70 (Herder and Spinoza 1765–1783) und 97–146 (Herder and Spinoza 1783–1803). Entgegen der älteren Herderforschung hat D. Bell deutlich gemacht, dass Herder schon 1769 Spinoza aus Eigenlektüre kennt und sich somit in diesen parallel zu Leibniz einarbeitet. Vor ihm hatte bereits W. Vollrath, Die Auseinandersetzung Herders mit Spinoza, 1–19, diese Frühdatierung vertreten, nachdem er sich in seiner theologischen Lizentiatenarbeit noch R. Haym, Herder I, 669, mit der Spätdatierung von 1775 angeschlossen hatte; vgl. W. Vollrath, Die Frage nach der Herkunft des Prinzips der Anschauung in der Theologie Herders, 56. Vgl. hierzu auch W. Pross, H II, 1033–1044. Die Bedeutung, die Spinoza in Herders Denken erlangt, wird exemplarisch auch anhand der Vielzahl von Titeln zu Spinoza, die in dem Auktionskatalog seiner Bibliothek von 1804 aufgeführt sind, deutlich. H. Stolpe, Aufklärung, Fortschritt, Humanität, 484, hält hierzu fest: »Spinoza ist besonders stark vertreten, und zwar seine eigenen Werke mit den Nummern 2983, 3079, 3494, 3495–3496, 3498 und 3505 und die Schriften über und gegen ihn mit den Nummern 2994, 3456, 3493, 3499, 3500 und 3501«. 6 In diesem Sinne versteht auch E. Schürmann, »Ein System der Freiheit und der Freude«, 359, Herders ambivalente Anknüpfung an Spinoza: »Versteht man Herders Schrift [. . .] als Prozeß der Annäherung und Verabschiedung, so werden Schwankungen im Verstehen und Mißverstehen, die Gleichzeitigkeit von zustimmender Nähe und kri-

1. Das Bekenntnis zu Spinoza

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ders Spinozarezeption handelt es sich vielmehr um eine produktive Umdeutung, wobei er u. a. spinozanische und von Leibniz herstammende Theoreme miteinander verschränkt und sich wechselseitig korrigieren lässt.7 Als solche ist sein Gott keine bloße Gelegenheitsschrift, sondern Herder bündelt hier Debattenlagen, die ihn auf den diversen Feldern seines gesamten Schaffens begleitet haben. Auf diese gedankliche wie biographische Weite weist Herder in der Vorrede zu Gott selbst hin, wenn er betont, diese Schrift sei nicht hinreichend verstanden, sollte man sie »bloß für eine Ehrenrettung des Spinoza«8 halten. Spinoza diene – abgesehen von den dazu nötigenden Zeitumständen – vielmehr als »Handhabe eines Opfergefäßes [. . .], aus welchem ich einige Tropfen dem Altar meiner Jugend darbringen wollte«9. Der Rekurs auf seine Jugendzeit unterstreicht die Bedeutung der Gespräche in ihrem werkgeschichtlich integralen Charakter für Herder. In diesem Sinne handelt es sich wirklich – mit der obigen Formulierung an Gleim – um ›Herders Gott‹ und nicht um eine interesselose Spinoza-Interpretation.10 Ursprünglich plante Herder seit etwa Mitte der 70er Jahre11 eine Schrift »mit einer Parallele der Dreimänner Spinoza, Shaftesburi, Leibniz«12 . Dass Herder diesen ursprünglichen Plan fallen lässt und sich nun primär dem Thema Spinoza zuwendet, ist freilich der Aktualität der durch Jacobi heraufbeschworenen literarischen Debatte um Lessings Pan-

tischem Abstand plausibilisierbar«. Vgl. auch J. Rohls, Herders ›Gott‹, 271–291. Demgegenüber scheint mir die Interpretationsperspektive von H. Lange, »Ich bin (k)ein Spinozist«, 255, unterbestimmt zu sein, wenn er fragt, »inwiefern Herder mit seinen Gedanken sich wirklich auf Spinoza berufen darf«. Es ist m. E. vielmehr zu fragen, inwiefern geschieht die Berufung Herders auf Spinoza auch und gerade in Bezug auf die prima facie unvereinbar erscheinenden Aspekte. Die Deutung von Lange läuft daraus hinaus, dass er nur denjenigen als einen Spinozisten begreifen will, der das System des Spinoza eins zu eins übernimmt. In diesem Sinne wäre wohl nur Spinoza Spinozist, Kant Kantianer etc. 7 So bereits R. Haym, Herder II, 321. G. Arnold, Herders Verhältnis zu Leibniz, 161–185, hat jüngst zu Recht auf die grundlegende Bedeutung von Leibniz für Herders Denken hingewiesen. 8 FA 4, 681. 9 Ebd. F. Schleiermachers Formulierung in den Reden, 54, klingt an: »Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza«. 10 Vgl. auch Herders Äußerung gegenüber Johann Georg Müller ebenfalls bei Übersendung seiner Schrift: »Hier ist Gott. Es ist der Meine [. . .]. Ich habe daran mit sonderbar-innerer Ueberzeugung geschrieben« (DA V 22123 f.). 11 So die identischen Angaben in der Vorrede zu Gott (vgl. FA 4, 681) sowie in einem Brief an Jacobi vom 6. Februar 1784 (vgl. DA V 1739 f.). 12 DA V 1739 f..

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

theismus geschuldet.13 Neben Hamann14 ist vor allem Herder bereits in die Entstehung von Jacobis Spinozabuch involviert, welches ihm also in statu nascendi bekannt wurde. Jacobi schickt Herder Entwürfe seiner Schrift mit Bitte um Korrekturen und Hinweise. Die Antwortbriefe Herders sind abgesehen von seinen Spinozaexzerpten die ersten schriftlichen Zeugnisse seiner produktiven Verarbeitung des spinozanischen Systems.15 Sie geben also auch eine erste Antwort darauf, was Herder eigentlich meint, wenn er sich selbst als einen Spinozisten tituliert. Herders Freude, in Lessing so unvermutet »einen Glaubensgenoßen« seines »philosophischen Credo gefunden«16 zu haben, wird von ihm selbst jedoch nicht als eine gänzliche Identifikation mit der spinozanischen Philosophie begriffen. Herder betont: »Nicht, als ob ich ihr völlig beipflichtete: denn auch Spinoza hat in alle dem, wie mich dünkt, unentwickelte Begriffe, wo DesKartes ihm zu nahe stand, nach dem er sich ganz gebildet hatte. Ich würde also auch mein System nie Spinozismus nennen«17. Hierin deutet sich eine differenzierende Wahrnehmung an, die zwischen dem, was Spinoza ›eigentlich‹ wollte, und demjenigen, wie er seine Intention ausführte, unterscheidet. Herder wird auch noch in seinem Gott den philosophiegeschichtlich schlechten Leumund Spinozas mit dessen Nähe zu der cartesischen Systematik und Begriffslogik erklären, welche seines Erachtens ein echtes Verständnis Spinozas verstellen. So auch, wenn er von Jacobi fordert: »Stoße Dich nicht an die Kartesische Einkleidung, die ja immer nur Wort ist; sondern denke, was er auch in einer anstößigen Redart will«18 . Die Frage nach Spinozas eigentlicher Intention hinter der ungenügenden Begriffsbildung macht deutlich, unter welcher hermeneutischen Perspektive Herder sich selbst den »göttlichen Spi-

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Die zweite Auflage der Gespräche von 1800 ergänzt den Titel dementsprechend: Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System; vgl. W. Pross, H II, 1044. H. Clairmont, Gnoseologie, 335 f., weist treffend darauf hin, dass neben Herders sachlichem Interesse für Spinoza Kants transzendentalphilosophisch inspirierte Kritik an Herders Ideen ein maßgeblicher Grund für die Publikation seiner Schrift gewesen ist. Vgl. auch M. Bollacher, Herders Spinoza-Aristeia, 232. 14 Vgl. zur Bedeutung und Stellung von Hamann in diesem Streit K. Hammacher, Der persönliche Gott im Dialog? J. G. Hamanns Auseinandersetzung mit F. H. Jacobis Spinozabriefen, 194–210, sowie O. Bayer, Spinoza im Gespräch zwischen Hamann und Jacobi, 319–325. 15 Vgl. die Briefe aus dem Jahre 1784 vom 6. Februar (DA V 17), 2. November (DA V 62), 20. Dezember (DA V 73) sowie vom 6. Juni und 16. September 1785 (DA V 114 und 126). Vgl. hierzu die umfassende Kommentierung durch G. Arnold, DA XII, Weimar 2005. 16 DA V 1718. 17 AaO. 1723–25. 18 AaO. 7377–79.

1. Das Bekenntnis zu Spinoza

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noza«19 auf die Fahne schreiben kann: Er nimmt faktisch eine Bestimmung des Geistes des Spinozismus vor, welche sich zugleich als Kritik an der cartesisch inspirierten spinozanischen Begriffsbildung vollzieht. 20 Das Wesen des Spinozismus ist nach Herder von seiner begrifflichen Fassung bei Spinoza zu unterscheiden oder noch schärfer: Das cartesische Gerüst der Philosophie des Spinoza drohe gar, die spinozanische Grundeinsicht zu verdunkeln. Diese ambivalente Einschätzung des Spinoza spiegelt sich bei Herder noch 1798 als er seinem Bergbau studierenden Sohn, Siegmund August Wolfgang, von einer Lektüre Spinozas zu Gunsten von Shaftesbury und Pope abrät: »Nur Spinoza ist für Dich nichts; es ist ein Edelgestein, der tief in schlechtem Gestein liegt, das Du unmöglich bezwingen kannst. Dagegen sind Shaftesburi Schriften das beste Buch, das ich Dir anrathen könnte. Seine Rhapsodie oder Theocles enthält die Spinosisch-Leibnitzische Philosophie im schönsten u. erlesensten Auszuge. [. . .] Dann lies auch Pope’s essay on Man; auch in ihm ist die Spinosisch-Leibnitzische Philosophie kurz u. energisch«21.

Ist also der Geist des Spinozismus von seiner Darstellung in der Ethica Ordine Geometrico demonstrata zu trennen, so stellt sich die Frage, worin dieser Geist nach Herder näherhin besteht. Mit anderen Worten geht es für Herder um eine Wesensbestimmung des Spinozismus.22 Die grundlegende Bedeutung des Spinozismus erblickt Herder in der im Begriff der Substanz intendierten strikten Fassung des Gottesgedankens, der 19

AaO. 736. Herder gibt damit seine eigene Antwort auf die von Lessing an Jacobi gestellte Frage, »was Sie für den Geist des Spinozismus halten; ich meine den, der in Spinoza selbst gefahren war«; Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 18. In Herders eigenem Spinozabuch wird dann die Wendung explizit aufgenommen; vgl. FA 4, 740. Vgl. hierzu knapp M. Bollacher, FA 4, 1354–1356. Auch in der zweiten Auflage seiner Gespräche betont Herder, dass ihr Zweck nicht gewesen sei, »Spinoza’s System in jedem gebrauchten Ausdruck zu retten oder gar es zu apotheosieren; wohl aber, es verständlich zu machen, [. . .] wohin Spinoza wollte« (W. Pross, H II, 1045). 21 DA VII 3766–15. Herders frühe Kenntnis und Rezeption vor allem Shaftesburys ließe sich in der Bedeutung für Herder selbst als ein Spinozismus vor Spinoza charakterisieren. Spinoza bringt die systematische Durchführung einer intuitiven Einsicht, die Herder durch Shaftesbury empfi ng. Vgl. Herders frühe Bemerkungen zu Shaftesbury in seiner unveröffentlichten Schrift von 1765 Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann (FA 1, 108) sowie dessen mehrfache Erwähnung in der Sammlung Über die neuere deutsche Literatur von 1767 (FA 1, 319–323 u. ö.). Im 33. Brief aus den Briefen zu Beförderung der Humanität setzt Herder Shaftesbury sein Denkmal, wenn er ihn dort als »Virtuoso der Humanität« feiert; vgl. FA 7, 169. 22 Es wird sich zeigen, dass das von E. Troeltsch formulierte Diktum – »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung« – sich auch an Herders Verständnis vom Spinozismus bewährt. Denn die gestaltende Wesensbestimmung vollzieht ihr Werk immer auch als Kritik an den Formen, d. h. in diesem Fall an ihrer systematischen und begriffslogischen Fassung. 20

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

seines Erachtens der Gottheit Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit allein gerecht wird.23 Es fallen in seinem Brief an Jacobi vom 6. Februar 1784 eine Reihe von Begriffen, die die Richtung angeben, in welchem Sinne er diesen Gottesgedanken verstanden haben will: Gott ist ihm das »Ens entium«, die »ewig wirkende Ursache«, »das aller reellste, thätigste Eins«, »das höchste lebendigste thätigste Eins« oder als das »höchste Daseyn« schlicht die »Liebe«24 im Johanneischen Sinne. Diese Übersicht macht bereits deutlich, dass Herder eine Dynamisierung der spinozanischen Substanzkategorie vornimmt, wie in der Forschung schon mehrfach bemerkt wurde. 25 Er sieht in Jacobis Spinozainterpretation das »ρωτον ψσευδος«26 darin, dass dieser Spinozas Gott zu einer bloß begrifflichen Abstraktion mache, während Gott nach Spinozas ursprünglicher Intention der Inbegriff und Grund des lebendigen und tätigen Seins ist. Wir werden sehen, dass sich diese Deutung der spinozanischen Substanz einer produktiven relecture unter dem Eindruck von Leibnizens monadologischer Theorie der Kräfte verdankt. Die Konzeption eines in der Welt erfahrbaren Gottes, wie er sie in seiner Spinozaschrift ausführen wird, deutet sich in basalen Zügen also bereits hier in der Korrespondenz mit Jacobi an. Zusammenfassend sind es drei Aspekte, die dann in Gott eine nähere Ausführung erfahren: a) Gegen Jacobis Vorstellung einer extramundanen Gottheit protestiert Herder mittels einer Kritik der Kategorien von Raum und Zeit, wonach ein Außer-der-Welt-Sein eine Verendlichung des Gottesgedankens bedeuten würde. Spinozas »Begrif des Seyns« hebe den Gottesgedanken »mit Recht über alle Vorstellungs- u. Denkarten einzelner Erscheinungen sowohl, als über eingeschränkte Arten der Exsistenz im Raum [. . .]. Was Ihr, lieben Leute, mit dem: außer der Welt exsistiren wollt, begreife ich nicht«27. b) Die Dynamisierung des spinozanischen Substanzbegriffs intendiert bei Herder näher eine Vergeistigung des Weltbegriffs aus dem Gottesbegriff. In Kritik des Bildes von Gott als der Weltseele formuliert Herder, dass für Gott »die Welt nicht Körper, sondern ganz Seele«28 sei. c) Und schließlich deutet sich noch Herders systematisch weitestgehendes Argument an: Gott als die »Ur-

23

Vgl. B. d. Spinoza, Eth. I, prop. 14 und prop. 15. Alle Belege DA V 1765–110. 25 In Anschluss an G. Schneege, Zu Goethes Spinozismus, 16, wurde Herders krafttheoretische Deutung der Substanzkategorie immer wieder mit dem Terminus »Dynamisierung« belegt; vgl. etwa E. Adler, Herder und die deutsche Aufklärung, 280, und zuletzt wieder M. Heinz, Die Kontroverse zwischen Herder und Jacobi über Spinoza, 77. 26 DA V 1769. 27 DA V 1778–81; H. i. O. Vgl. weiter dazu Kap. II 3.1.2. 28 DA V 1792 f.. 24

1. Das Bekenntnis zu Spinoza

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kraft des Denkens«29 ist die Voraussetzung dafür, dass Endliches als Endliches überhaupt gedacht werden kann. Jede endliche Existenz hat dies reellste Sein immer schon als Bedingung seiner Möglichkeit: »Seine [sc. Spinozas] einzige Substanz ist das ens realissimum, in dem sich Alles, was Wahrheit, inniges Leben u. Daseyn ist, intus u. radicaliter vereinigt; ja durch welches es nur gedacht werden kann u. es werden in allen Erscheinungen einzelner Dinge [. . .] diese Attribute nur denkbar, so fern jene seiner Natur sind u. der einzig Daseyende bleibend in ihnen wohnet«30 . Die Denkbarkeit und Realität des Endlichen – so deutet sich hier bereits an – gründet in der Ontologie der Substanz. In den Briefen an Jacobi entfaltet Herder diese Momente seines positiven Gottesbegriffs nur rudimentär, dafür wird aber die polemische Richtung seiner Argumentation umso deutlicher. Wird Gott als der Inbegriff und Grund des Seins gedacht, so liegt darin vor allem die Ablehnung der für eine kohärente Fassung des Gottesgedankens seines Erachtens inadäquaten Vorstellung einer extramundanen Gottheit, die Gott in Analogie zum Menschen als ein personales Wesen mit Neigungen, Willensregungen und Vorstellungsweisen anthropomorphisiere.31 Diese Kritik an der Anthropomorphisierung Gottes ist von werkgeschichtlichem Interesse. Es ist nämlich nicht so, dass Herder sie insgesamt pejorativ bewerten würde. Ihr kommt in der Kulturentwicklung der Menschheit vielmehr schon in Herders ersten Äußerungen diesbezüglich eine produktive Funktion zu, wie er etwa in seinem frühen, unveröffentlichten Versuch einer lyrischen Dichtkunst vorführt. Die Ausbildung des Gottesgedankens selbst verdankt sich demnach in seinem Anfange tremendärer Erfahrungen von Weltbegebenheiten, welche auf ein personales Wesen, einen Dämon oder einen Gott zurückgeführt werden.32 Diese Theorie eines genetischen Ursprungs des Gottesgedankens aus der Furcht behält Herder bis in sein Spätwerk bei.33 Den religionskritischen Aspekt dieser These – wie er etwa in David Humes Schrift The Natural History of Religion (1757) formuliert ist 34 – deutet Herder aber als den humanen Entdeckungszusammenhang von Transzendenz um. Liegt dann aber in der schroffen Ablehnung der extramundanen personalen Gottheit nicht ein Selbstwiderspruch vor zu dieser positiven Würdigung der Funktion der Anthropomorphisierung in der Genese 29

DA V 11480. DA V 7341–46. Wie ich unter Kap. II 3.3.1 ausführen werde, steht hier für Herder Kants Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes von 1763 im Hintergrund. 31 Vgl. DA V 1777–97; 7379–81. 32 Vgl. H I, 28 f. 33 Vgl. etwa in den Ideen FA 6, 161. 34 Vgl. hierzu Herders Notizen daraus aus dem Jahre 1766; SWS 32, 193–197. 30

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

des Gottesgedankens? Diese Anfrage lässt sich nur von Herders genetischer Kulturtheorie her beantworten. Die anthropomorphe Deutung Gottes als eines Handelnden oder Zürnenden hat nach Herder ihre kulturgeschichtliche Relevanz und uneinholbare Bedeutung für ein bestimmtes Zeitalter gehabt – sowohl in spezifisch religiöser wie auch dichtungstheoretischer Hinsicht. Daraus folgt aber nicht, dass das religiöse Bewusstsein den Gottesgedanken auf allen kulturellen Stufen auch auf diese Art und Weise symbolisieren müsse. Dem durch die Aufklärung geläuterten Zeitalter ist diese Form der Symbolisierung des Absoluten nicht mehr ohne weiteres adäquat.35 Gemäß seinem Individualitätsaxiom 36 müssen historische Konstellationen in ihrem zeitgeschichtlichen Eigenrecht begriffen werden, so dass weder das gegenwärtige kulturelle Bewusstsein das Recht hat, sich über vergangene Gestaltungen desselben zu erheben, noch ein vergangenes Bewusstsein zur Norm gegenwärtiger Verhältnisse idealisiert werden darf. Die Ausführungen zum Eigenwert einer jeden Epoche in seinem geschichtsphilosophischen Pamphlet von 1774 bleiben für Herder bis in sein Alter von uneingeschränkter Gültigkeit, 37 wenn er sie auch nicht mehr mit so viel stürmerischer und drängerischer Verve vorträgt. Herder formuliert seine Kritik an Jacobis Gottesbegriff also vor dem Hintergrund seiner kultur- und damit zugleich religionsgeschichtlichen Einschätzung der geistigen Gesamtlage seiner Zeit. Spricht er Jacobi anfänglich noch gut gelaunt in ironischem Tone als »lieber bester extramundaner Personalist«38 an, so ist ihm, nachdem Jacobi ihm schlussendlich die Publikation zuschickt, die Enttäuschung deutlich abzuspüren, dass seine Einwände und sein Werben für Spinoza nicht auf fruchtbareren Boden gefallen sind: »Das Ärgerniß des Spinozismus ist jetzt gegeben; laß sehen, wie Mendelssohn ihm steuret. Du bist bei dem allen ein wahrer orthodoxer Christ; denn Du hast einen extramundanen Gott, comme il faut u. hast Deine Seele errettet«39. So der Generalsuperintendent des Herzogtums Sachsen-Weimar. 35 Vgl. in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) die differenten Einschätzungen des Deismus, je nachdem, ob dieser in der Kindheit der Menschheit, dem Patriarchenzeitalter, angesiedelt werden soll (FA 4, 19) oder ob er als relativ spätes Produkt eines kultureller Entwicklung sich verdankenden Universalismus betrachtet wird. Allein letzteres bezeichnet Herder als den »menschenliebenste[n] Deismus« (FA 4, 47). Zu Herders Deutung des Deismus vgl. Kap. III 2. 36 Vgl. dazu Kap. I 3.3.4 a). 37 Vgl. hierzu in seinem Pamphlet grundsätzlich die dreiteilige Methodenreflexion zur Hermeneutik von Geschichte FA 4, 32–42. 38 DA V 1765. 39 DA V 1269–11; H. i. O. Vgl. auch den Brief an Hamann: »Unsres Jacobi Spinozismus oder Anti-Spinozismus werden Sie hoffentlich empfangen haben; wahrscheinlich wird er weder Spinozisten noch Antispinozisten befriedigen u. im Grunde muß ich wie Men-

1. Das Bekenntnis zu Spinoza

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Herders Bekenntnis zu Spinoza ist also – wie sich jetzt zusammenfassen lässt – zunächst primär als eine polemische Programmformel gegen die Vorstellung einer extramundanen Gottheit, also einer im engeren Sinne theistisch-personalen Theologiekonzeption, zu begreifen wie auch zugleich, jedoch mehr im Subtext, gegen die – um mit Max Weber zu sprechen – »Entzauberung der Welt« durch den mechanischen Monismus französischer Provenienz. Die genannten Momente der positiven Entfaltung des Gottesbegriffs weisen die Richtung, in der Herder den Geist des Spinozismus versteht und wie er ihn in seiner Schrift Gott. Einige Gespräche entfalten wird. Das von Jacobi über Spinoza verhängte Verdikt des Atheismus gibt Herder an Jacobi mit Anspielung auf Exodus 3,14 zurück: »Machst Du mir diesen innigsten, höchsten, Alles in Eins faßenden Begrif zum leeren Namen [sc. Substanz]: so bist Du ein Atheus u. nicht Spinoza. Nach ihm ist er das Wesen der Wesen, Jehovah. Siehe da bist Du abermals ein Ketzer u. das ist, was ich wollte«.40 Und Goethe stimmt ein halbes Jahr später in seinem Brief an Jacobi vom 9. Juni 1785 mit ein: »Er [sc. Spinoza] beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so mögte ich ihn theissimum ia christianissimum nennen und preisen«.41 Meines Erachtens liegt das Spezifikum der Spinozarezeption Herders darin – wie ich im Folgenden zeigen werde –, dass Herder den Gottesgedanken im Unterschied sowohl zu Jacobi als auch zu Goethe über die unfruchtbare Alternative einer theistisch-dualistischen oder einer pantheistischen Theoriekonzeption zu erheben versucht.42 Die kategoriale Differenz eines strikten Gottesgedankens gegenüber dem Weltgedanken, auf die Herder hier hinaus will, lässt weder eine schlichte Identifikation von Gott und Welt zu, noch erlaubt sie die Depotenzierung Gottes zu einem bloßen Analogon der Welt neben der Welt, der entweder unableitbar in den Weltzusammenhang eingreift oder aber wie der sog. Uhrmachergott der Welt beziehungslos gegenüber steht. Der Weltzu-

delssohn sagen, daß je mehr er erklären will, sich desto mehr die Sache von mir entferne« (DA V 12775–78). 40 DA V 7371–75. 41 Goethe, Brief an F. H. Jacobi vom 9. Juni 1785, in: Werke, IV. Abt., Bd. 7, 62. Zum wechselhaften Verhältnis von Herder und Goethe vgl. jüngst wieder H. D. Irmscher, Goethe und Herder – eine schwierige Freundschaft, 233–270, und zur gemeinsamen Spinozarezeption hier insbesondere 246–257. 42 Hiermit erweist sich Herder einmal mehr als Vorläufer Hegels, dessen Satz des Bewusstseins gerade die Überwindung jener Alternative intendiert; vgl. zum Satz des Bewusstseins G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 76. Insofern ist die von E. Hoffart, Herders »Gott«, 32, bemerkte »Zwiespältigkeit des Herderschen Gedankengebäudes« zwischen Theismus und Pantheismus weniger Ausdruck eben eines Zwiespalts als vielmehr Herders Versuch eines dritten Wegs.

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

sammenhang soll demgegenüber zugleich in differenzierter Einheit wie Unterschiedenheit aus Gott begriffen werden.

2. Der Dialog als Vorurteilskritik Herder greift in Gott. Einige Gespräche auf die literarische Kunstform des platonischen Dialogs zurück, welche ihm auch in prominenten Schriften seiner Zeit begegnet ist. Hier ist etwa an Hemsterhuis’ Aristée und Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer zu denken.43 Wenn er seine Gesprächspartner mit den Namen Philolaus und Theophron versieht, dann klingt darin der Verweis sowohl auf Leibniz wie auch auf Shaftesbury an. So hatte etwa Leibniz die Dialogpartner seiner kritischen Auseinandersetzung mit Locke, den Nouveaux Essais sur l’entendement Humain (1704), Philalethes und Theophilus genannt, während die Protagonisten in Shaftesburys Moralists Theokles und Philokles heißen. Für Herder ist die Form des Dialogs also nicht bloß eine Äußerlichkeit. Dementsprechend werden die rahmenden Umstände des Gesprächs nur andeutend skizziert. So setzt die Unterhaltung etwa mit dem metaphorisch aufgeladenen Klopstockmotiv eines abgeklungenen Gewitters44 an, oder Theophron unterbricht wegen nicht näher erläuterten Geschäften das Gespräch45 , und im fünften Buch tritt überraschend in Theano eine weibliche Stimme den Dialogpartnern hinzu, die bisher nur »unsichtbar«46 das Gespräch verfolgt hat. Es geht Herder nicht darum, szenisch zu inszenieren, sondern die ganze Konzentration wird auf den Dialog als solchen gerichtet, dem Herder im Sinne der platonischen Mäeutik eine eigene Erkenntnis erzeugende Dignität zumisst. »Gespräche sind keine Entscheidungen«, so Herder, »noch minder wollen sie Zank erregen«47. Durch die Offenheit des Dialogs mit seinen Argumenten für und wider will Herder zu einer eigenständigen Auseinandersetzung mit Spinoza anlei43

Vgl. M. Bollacher, FA 4, 1364 f. Vgl. FA 4, 682. Vgl. auch die berühmte Anspielung an Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier (1759) in Goethes Werther, 25 f.: »Wir traten an’s Fenster, es donnerte abseitwärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickenste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihrem Ellenbogen gestützt und ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihre Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock!« 45 Vgl. FA 4, 688. 46 AaO. 764. 47 AaO. 681. Vgl. zu der »musterhaften Kunstform des philosophisch-agonalen Diskurses« M. Bollacher, Herders Spinoza-Aristeia, 232 f. Schon A. Werner, Herder als Theologe, 97, sieht in der Anregung zum Selbstdenken ein Grundmotiv der Schriftstellerei Herders. Vgl. dazu auch C. Bultmann, FA 9/1, 976–978. 44

2. Der Dialog als Vorurteilskritik

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ten, wobei Philolaus – der ›Volksfreund‹ – stellvertretend für die von Vorurteilen und von Unkenntnis geprägte Zeitgenossenschaft eingeführt wird, während der ›gottbegeisterte‹ Theophron an der Überwindung des antispinozistischen Generalverdachtes arbeitet. Mit Hilfe der von Colerus verfertigten Lebensbeschreibung48 des Spinoza will Herder den Leser zu einer selbstständigen Lektüre von Spinozas Schriften anleiten. Das geeignete Mittel zur Bekämpfung der verbreiteten Ansichten über Spinoza und seine Philosophie sieht Herder in dem Abbau der Unkenntnis von dessen Schriften. Diese zeugen am besten für Spinozas Lauterkeit. So lässt er seinen Philolaus nach der Lektüre des Colerus sagen: »Ich will seine Schriften selbst ansehen«49, woraufhin er einen längeren Auszug aus Spinozas Tractatus de intellectus emendatione in deutscher Übersetzung folgen lässt.50 Das gesamte erste Gespräch dient in diesem Sinne dem Abbau von Vorurteilen 51 gegenüber Spinoza und will eine Anleitung zur Eigenlektüre geben, die schließlich zum Selbstdenken führen soll, wie am Ende des fünften Buches betont wird. Die Form des Dialoges schützt auch davor – wie Herder gegen die Adepten Kants ausführt – philosophische Lehrsätze bloß zu repetieren, ohne ihren Sinngehalt begriffen 48 Vgl. J. Colerus, Kurze, aber wahrhaftige Lebensbeschreibung von Benedictus de Spinoza (1705), 73–124. 49 FA 4, 691; Hervorhebung C. C. Es weist E. Herms, »Gott«. Herders Philosophie des Geistes, 58, zu Recht darauf hin, dass die biographische Charakterisierung des Spinoza nur dann sinnvoll ist, wenn darin ein korrelatives Verhältnis zwischen Leben und Denken vorausgesetzt ist. Der besonnene Lebensstil soll den besonnen Denker verbürgen. Es sei hier noch eigens darauf hingewiesen, dass in dieser Korrelation wohl auch ein bewusster Kontrapunkt zu P. Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch, Art. Spinoza, 367–439, gesetzt werden soll, der zwar auch betont, dass Spinoza ein »umgänglicher, leutseliger, ehrlicher, zuvorkommender und moralisch gefestigter Mann gewesen ist« und doch, was sein System betrifft, ein »gottloser Mensch« (370) war. Für M. Mendelssohn, Philosophische Gespräche, 15, ist Spinoza eine tragische Figur, die mit ihren Irrtümern in den »ungeheuren Abgrund« des Übergangs zwischen Descartes und Leibniz gefallen ist, ohne dessen Denken aber »die Weltweisheit ihre Grenzen nimmermehr so weit ausdehnen« hätte können. 50 Vgl. FA 4, 691–696. Es werden die §§ 1–17 wiedergegeben, wobei sich Herder an die von S. H. Ewald 1785 veröffentlichte deutsche Übersetzung dieser Schrift hält, ihr aber doch, wie M. Bollacher, FA 4, 1377, betont, »deutlich seinen eigenen Duktus ein[prägt]«. 51 Herder kann dem Vorurteil in der Entwicklung des Menschen wie der Menschheit, also in onto- wie phylogenetischer Hinsicht, eine durchaus positive, ja notwendige Funktion zubilligen (vgl. Kap. I 3.3.3). Vgl. dazu in dem geschichtsphilosophischen Pamphlet Auch eine Philosophie der Geschichte seine Schilderung des Orients, der Kindheit des Menschengeschlechts, im Sinne einer Autoritätskultur, für die er das Eingestelltsein dieser Entwicklungsstufe in Vorurteile für unabdingbar hält; FA 4, 15–19. Zu Vorurteil wie Vorurteilskritik im Zeitalter der Aufklärung vgl. die Habilitationsschrift von W. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983.

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

zu haben. Theano, die das Unabgeschlossene der dialogischen Form beklagt, wird von Theophron entgegengehalten: »So kehre man zurück, Theano, bis das Gespräch uns gleichsam selbst aus der Seele fließt. Bei manchen seiner Nachteile hat es doch das Gute, daß es uns vor dem Auswendiglernen bewahrt und wahre Philosophie muß nie auswendig gelernt werden«52 . Unabgeschlossenheit und Offenheit des Dialogs sollen den Leser also zum eigenständigen Denken und Urteilen anleiten, welches sich aber seine Unabgeschlossenheit bewahren, also selbst ›Gespräch‹ bleiben soll. In dieser Haltung wird zugleich Herders Stellung zum Phänomen ›Aufklärung‹ schlaglichtartig deutlich. Er teilt mit dem Zeitalter der Aufklärung die Maximen der Parteilosigkeit und Vorurteilsfreiheit. Mehr noch, seine Überlegungen zu den Vorteilen des philosophisch-mäeutischen Dialogs gegenüber der Form eines Traktates oder der Darstellung in einem abgeschlossen System können geradezu als eine Auslegung des kantischen »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«53 verstanden werden. Gleichzeitig will Herder aber mit seinem Axiom der diskursiven Offenheit vermeiden, dass die Vernunft hypostasiert wird. Herder betrachtet die Vernunft weder wie Leibniz als die Sphäre der ewigen Wahrheiten noch wie Kant als apriorisch verfahrende Instanz. Sie lässt sich vielmehr allein in ihrem unhintergehbaren Fungieren im Selbst- und Weltverhältnis beobachten, d. h. unter den Bedingungen raum-zeitlicher Bestimmtheit. Jenseits dieses Fungierens ist sie nach Herder dem endlichen Bewusstsein, das sich eben immer schon in Bestimmtheit vollzieht, nicht zugänglich. Da die Erfahrung der Vernunft mit sich selbst sich nur als Erfahrung der Welt vollziehen kann, sind Selbst- und Welterfahrung nach Herder als gleichursprünglich und sich wechselseitig auslegend zu betrachten. Thema von Gott ist es nun, wie vermittelst des irreduziblen Auslegungszusammenhangs von Welt und Selbst der Gottesgedanke als Erfahrung des endlichen Bewusstseins vorstellig wird. Mit einer Formulierung D. Henrichs gesprochen entwirft Herder in seinen Gesprächen eine »Metaphysik des Endlichen«54 . Es ist nämlich für Herder zu beachten, dass seine grundlegende Metaphysikkritik sich allein auf eine apriorisch verfahrende Metaphysik bezieht.55 Faktisch entwirft Herder eine Metaphysik aus der Erfahrung des endlichen Bewusstseins. Die Erfahrung des endlichen Bewusstseins wirft an sich 52

FA 4, 793. I. Kant, Was ist Aufklärung?, A 481. 54 Vgl. D. Henrich, Ding an sich. Ein Prolegomenon zur Metaphysik des Endlichen, 42 sowie 78. 55 Vgl. hierzu vor allem Herders Brief an den Epiker und Herausgeber des Teutschen Merkurs C. M. Wieland von 1785 (DA V 93), nachdem dieser ihm die Gegenrezension zu Kants Beurteilung der Ideen von K. L. Reinhold zugesandt hatte. 53

3. Der Geist des Spinozismus

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selbst die Frage nach einem absoluten Grund auf. Herders umformende Spinozarezeption – so meine These – bekommt erst in dieser Deutungsperspektive ihre letzte Zuspitzung und seine Natur- und Kulturtheorie ihr metaphysisches Fundament. In diesem Sinne ist die in der Forschung übliche Deutung von Herders durch Leibniz gebrochene Spinozarezeption unter dem Terminus ›Dynamisierung‹ noch deutlich unterbestimmt bzw. in ihrer systematischen Reichweite als das den einheitlichen Natur- und Kulturzusammenhang wie das korrelative Welt- und Selbstverhältnis begründende Integral noch nicht hinreichend begriffen. Es wird sich vielmehr zeigen, dass die Auflösung der spinozanischen Attributenlehre durch Herder systematische Konsequenzen für den Gottes- wie Weltbegriff nach sich zieht, die über den Aspekt der Dynamisierung der Substanzkategorie weit hinausweisen.

3. Der Geist des Spinozismus Wie gerade dargestellt, will Herder seine Leser von den gängigen Vorurteilen gegen Spinoza und dessen System wegführen. Philolaus, auf die Frage antwortend, ob er denn den Spinoza selbst gelesen habe, gibt einen kurzen Abriss der gängigen antispinozistischen Tiraden: »Gelesen habe ich ihn nicht; wer wollte auch jedes dunkle Buch eines Unsinnigen lesen? Aber das habe ich aus dem Munde vieler, die ihn gelesen haben, daß er ein Atheist und Pantheist, ein Lehrer der blinden Notwendigkeit, ein Feind der Offenbarung, ein Spötter der Religion, mithin ein Verwüster der Staaten und aller bürgerlichen Gesellschaft, kurz ein Feind des menschlichen Geschlechts gewesen und als ein solcher gestorben sei. Er verdient also den Haß und Abscheu aller Menschenfreunde und wahren Philosophen«56 .

Als den Hauptschuldigen für dieses Konglomerat an Vorwürfen macht Herder den Autor des Dictionnaire historique et critique von 1696 P. Bayle aus, der in seinem Artikel über Spinoza57 dem exkommunizierten Juden ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Bayle verdankt sich insbesondere die Formulierung Spinoza sei ein »Athée de Système«. Bei näherem Betracht wird deutlich, dass Herder sich von Anfang an mit Jacobis Spinozadeutung auseinandersetzt, auch wenn er sich ihr explizit erst im vierten Gespräch zuwendet. Hatte er schon in der Vorrede auf seinen Brief an Jacobi vom 20. Dezember 178458 angespielt, wenn er die Hoffnung ausspricht, seine Schrift möge »hie und da 56

FA 4, 682. Vgl. P. Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch, 367–439. 58 Vgl. DA V 7338 f., wo Herder an Jacobi schreibt: »Bester, nicht ich sondern Du irrest Dich an dem, was Spinoza will«. 57

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

einem Irrenden den Weg zeige[n]«59, so fassen die sachlichen Vorwürfe im Kern auch den Vorbehalt Jacobis gegenüber Spinoza zusammen. Jacobis Auseinandersetzung mit Spinoza unterscheidet sich in einem entscheidenden Punkt von der älteren antispinozistischen Literatur, wie sie sich etwa summarisch in J. G. Walchs Werk Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten außer der Evangelisch-Lutherischen Kirche (1733–1736) niedergeschlagen hatte. Spinozas System wird hier im siebten Kapitel unter der Überschrift »Von den Religions-Streitigkeiten mit den Atheisten, Naturalisten und Indifferentisten« 60 verhandelt. Es geht Walch weniger um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem spinozanischen System als vielmehr um dessen Diskreditierung. So habe die Ethica Spinoza nur dazu gedient sein »atheistisches Gift«61 auszustreuen, und er sei insgesamt »von Betrug und List gantz zusammen gesetzt«62 gewesen. Abqualifikation von Werk und Autor laufen Hand in Hand. Fast zeitgleich zu dieser Schrift Walchs entsteht eine Schrift, die mit einigem Recht als die erste wertfreie und rein sachliche Auseinandersetzung mit Spinoza gelten kann und den Weg zu Jacobis Spinozadeutung insofern bahnt, als dass Jacobi hierüber auch seine ersten Kenntnisse des spinozanischen Systems vermittelt wurden. 63 Es ist die Kritik des Spinozismus von Christian Wolff, die sich im zweiten Teil seiner Theologia Naturalis (§§ 671–716) von 1737 befindet. Wolff sieht von einer Verunglimpfung und Verketzerung Spinozas ganz ab. Er versucht stattdessen die seines Erachtens vorliegenden Schwächen und Widersprüche der spinozanischen Begriffsbildung aufzudecken und Spinoza insofern rein sachlich zu widerlegen, 64 in welchem Vorgehen Mendelssohn ihm dann folgt. 65 Jacobi geht nun in der Rehabilitation Spinozas noch ein Stück weiter. Zwar etikettiert er das System des Spinoza auch als Pantheismus, Determinismus

59

FA 4, 682. J. G. Walch, Historische und Theologische Einleitung, 3. 61 AaO. 150. 62 AaO. 231. 63 Vgl. hierzu H. Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit, XLII f. Daneben ist natürlich auch an G. Arnolds Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie von 1699/1700 zu erinnern. Unter der Überschrift »Von denen Atheisten, wie auch denen so genannten Naturalisten, Deisten und Latitudinariis in diesem seculo« nimmt er eine relativ neutrale Darstellung von Person und Werk Spinozas vor. 64 Vgl. dazu K. Cramer, Christian Wolff über den Zusammenhang der Definitionen von Attribut, Modus und Substanz und ihr Verhältnis zu den beiden ersten Axiomen von Spinozas Ethik, 67–106. 65 Vgl. das Lob M. Mendelssohns, Philosophische Gespräche (1755), 16, auf Wolff: »Dieser große Weltweise setzt dem Spinozismus, bevor er ihn widerlegt, in sein gehöriges Licht. Er zeigt ihn von seiner stärksten Seite, und eben dadurch hat er seine Schwäche am besten entdeckt«. 60

3. Der Geist des Spinozismus

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und Fatalismus 66 , aber entgegen der älteren antispinozistischen Literatur sieht er darin die einzige Form philosophischen Denkens, die nicht mit sich selbst in Widerspruch gerät. Die von Lessing im Gespräch und Mendelssohn in den Morgenstunden vorgeschlagene Lesart eines »geläuterten Spinozismus«67 ist demgegenüber für Jacobi nur eine Verwässerung. Das spinozanische System wird von Jacobi so durchschlagend rekonstruiert, dass Mendelssohn Jacobi zeitweise für einen Spinozisten hält. Auf rationalem Wege sieht Jacobi keine Möglichkeit, wie der Spinozismus widerlegt werden könnte. Noch im Vorbericht zu der dritten Auflage seiner Spinozaschrift betont er, die Intention seiner Schrift sei es gewesen, »die Unüberwindlichkeit des Spinozismus von Seiten des logischen Verstandesgebrauches darzutun« 68 . Dies ist zugleich der Ansatzpunkt für seinen berühmten »Salto mortale«69. Ein System, welches in sich konsistent konstruiert ist und nicht aus den systeminternen Axiomen zu widerlegen ist, kann nach Jacobi – in diesem Punkt ist er mit seinem Kontrahenten Mendelssohn durchaus einig 70 – nur durch eine Gegenthese bestritten werden. Für diese Gegenthese rekurriert er auf die Erfahrung ethisch-moralischer Subjektivität, der ein personaler extramundaner Schöpfergott korrespondiert. Ethisch-moralische Subjektivität und personaler extramundaner Schöpfergott sind für Jacobi sich wechselseitig explizierende Bestimmungen, insofern in einem »System der Endursachen«71 allein Gott das Zusammenstimmen der endlichen Zwecksetzungen zum letzten Zweck real72 garantieren kann bzw. der Zweckbegriff überhaupt erst sinnvolle Verwendung finden kann. In diesem Sinne gibt es für Jacobi nur die strikte Alternative zwischen einem ›deterministischen Pantheismus‹ auf der einen Seite, dem nach Jacobi letztlich alle konsequent rationalistisch verfahrenden Systeme angehören – 66

Vgl. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 17 f. Vgl. zu dieser Wendung M. Mendelssohn, Morgenstunden, 412, sowie An die Freunde Lessings, 467, wo er seine These vom geläuterten Spinozismus bekräftigt. Zu Mendelssohns Position im Spinozismusstreit vgl. K. Christ, Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988, sowie J. H. Schoeps, Moses Mendelssohn, 150–163. 68 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 347. 69 AaO. 20. 70 M. Mendelssohn schreibt in seinen Morgenstunden, 395: »Gebt ihm [sc. Spinoza] diese Grundideen zu, so steht sein Gebäude unerschüttert da, und ihr könnt nicht den kleinsten Stein aus seinem Zusammenhange rücken. Wir haben also bloß diese Grundideen zu untersuchen«. 71 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 228. 72 Der Realitätsgehalt des Gottesgedankens Jacobis macht auch bei aller Nähe die Differenz zu Kant aus, der dem Dasein Gottes als Postulat der menschlichen Vernunft den Status einer – wenn auch notwendigen – Als-ob-Konstruktion gibt. Der Realitätsgehalt kommt bei Kant durch das Ding-an-sich durch die Hintertür wieder herein, wie Jacobi in seiner Schrift Über den transzendentalen Idealism, 304 f., festhält. 67

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

also etwa auch die Entwürfe von Leibniz und Wolff – und einem ›Theismus der Freiheit‹ auf der anderen Seite, der in seiner Philosophie des Glaubens paradigmatisch vorliege. Jacobis Kritik am Spinozismus ist also in letzter Konsequenz eine Kritik am Rationalismus, wie auch die Ablösung des Pantheismusstreits durch den Atheismusstreit zeigt. Zentrale Argumente, die Jacobi gegen Spinoza und seine Verteidiger anführt, kehren in leicht variierter Gestalt in seiner Auseinandersetzung mit Fichte zurück.73 Es gehört zu den Ironien geistesgeschichtlicher Entwicklung, dass ausgerechnet Jacobis Bestreitung des Spinozismus und sein Versuch, seine Zeitgenossen in die Alternative von rationalem Pantheismus oder gläubigem Theismus hineinzuzwingen erst zu einer regelrechten Spinozarenaissance geführt hat.74 Jacobi gibt also damit ungewollt den Anstoß zur Neuentdeckung und Würdigung Spinozas. Die berühmteste Spinozarezeption findet sich wohl beim jungen Schleiermacher in den Reden über die Religion von 1799, die bekanntlich über Jacobis Spinozabuch vermittelt wurde. 75 Es bleibt allerdings zu fragen, ob Schleiermacher nicht auch Herders Gott kannte, denn bis in die Begrifflichkeit und die Argumentation hinein finden sich Übereinstimmungen, die schwerlich dem Zufall entsprungen sein können.76 Herder seinerseits ist in der dargestellten Weise ebenso auf Jacobi bezogen, wie er zugleich in Spinoza mehr als nur einen Gegenstand der Debatte sieht. So besteht Herders selbst gestellte Aufgabe nun darin, die ihm vorschwebende Fassung des Gottesgedankens aus der Erfahrung des endlichen Bewusstseins gegen Jacobi zu bewähren. Dazu verwendet er eine doppelte, ineinander laufende Strategie. Zum einen deckt er die Aspekte auf, die seines Erachtens von Jacobi kurzschlüssig oder falsch interpretiert worden sind, zum anderen schenkt er den mystisch-idealistischen Theorieelementen Beachtung, die von Jacobi schlicht übergangen wurden, ohne die aber die letzte Intention des spi73 Vgl. hierzu U. Barth, Von der Ethikotheologie zum System religiöser Deutungswelten. Pantheismusstreit, Atheismusstreit und Fichtes Konsequenzen, 285–311. 74 Neben Jacobis Spinozaschrift verschaffen die Übersetzungen von S. H. Ewald die Möglichkeit einer eigenständigen Lektüre Spinozas; vgl. hierzu M. Lauermann/M.-B. Schröder, Textgrundlagen der deutschen Spinoza-Rezeption im 18. Jahrhundert, 38– 42. 75 Vgl. hierzu G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/New York 1988, sowie ders., Schleiermachers frühe Spinoza-Studien, 441–457, und C. Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006. 76 Dem Verhältnis von Schleiermacher und Herder kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher nachgegangen werden und muss einem anderen Orte vorbehalten bleiben. Vgl. dazu bisher L. Goebel, Herder und Schleiermachers Reden über die Religion, Gotha 1904, sowie M. Ohst, Schleiermacher und Herder, 311–327.

3. Der Geist des Spinozismus

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nozanischen Systems nicht begriffen werden kann. Herders Rekonstruktion des Systems des Spinoza aus dem Geist des Spinozismus erfolgt dabei in drei Schritten: 1. Die Widerlegung des Atheismus- bzw. Pantheismusvorwurfs; 2. Die Auflösung der spinozanischen Attributenlehre; 3. Die Grundlegung der Freiheits- und Individualitätstheorie. Unter diesen drei Frageperspektiven nimmt Herder zugleich eine sich vertiefende Deutung des Gottesgedankens vor. Ausgehend von der spinozanischen Substanzkategorie als Durchsichselbstsein (3.1), nimmt er ihre krafttheoretische Umformung vor (3.2), die schließlich in einen geisttheoretischen Gottesbegriff einmündet (3.3). Herder gelingt es hier »auf unorthodoxe Weise den Anspruch der orthodoxen Theologie«77 einzulösen, den gesamten Weltzusammenhang und in diesem die Anthropologie in dem Gottesbegriff zu fundieren.

3.1 Gott als Substanz 3.1.1 Substanz als Durchsichselbstsein Die inhaltliche Auseinandersetzung beginnt Herder mit der Widerlegung des Atheismus- bzw. Pantheismusvorwurfs. Es mag überraschen, diese beiden Vorwürfe in einem Atemzug genannt zu bekommen. Aber es war in der antispinozistischen Literatur üblich, Spinoza sowohl als Atheisten wie auch als Pantheisten zu titulieren. Entweder Atheismus oder Pantheismus, so würde man gewöhnlich urteilen. Und auch Herder argumentiert zunächst auf der rein begrifflichen Ebene, wenn er festhält: »Aber wie sind beide in Einem und demselben System möglich? Der Pantheist hat doch immer einen Gott, ob er sich gleich in der Natur Gottes irret; der Atheist hingegen, der Gott schlechterdings leugnet, kann weder ein Pantheist, noch ein Polytheist sein, wenn man nicht mit den Namen spielet«78 .

Herder weiß wohl, dass Jacobis Kritik an diesem Punkte tiefer geht und ein unmittelbares Resultat seiner Glaubensphilosophie darstellt. Der von Jacobi für Spinoza rekonstruierte naturalistische Gottesbegriff als ein deterministischer Fatalismus lässt weder einen denkenden und handelnden Gott zu noch einen Menschen, der sich zu sich, der Welt und Gott verhält. So lautet seine Formel kurz und bündig: »Spinozismus ist Atheismus«79. Die Identifikation von Atheismus und Pantheismus ist also Ausdruck seiner glaubensphiloso77

So treffend T. Zippert, FA 9/1, 873. FA 4, 686. 79 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 120. Damit folgt Jacobi sachlich den Ausführungen von Wolffs Auseinandersetzung mit Spinoza in § 716 seiner Widerlegung. 78

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phischen Grundentscheidung: entweder personaler Theismus oder gar keine Religion. Hierin liegt auch der Grund, warum Jacobi gegen begriffliche Zwischenlösungen opponiert wie die von Lamoignon de Malesherbes, der Plinius als einen »Cosmo-Théiste« bezeichnete, oder die kantische Einführung des Begriffs Deismus, um zwischen Theismus und Atheismus eine Zwischenform zu beschreiben. 80 So bleibt auch Herders Erwiderung auf diesen Doppelvorwurf nicht bei dem darin liegenden rein begriffslogischen Widerspruch stehen, sondern er versucht ihn mittels einer Analyse der spinozanischen Systembegriffe ›Substanz‹, ›Attribut‹ und ›Modus‹ zu entkräften. Diese im zweiten Gespräch vorgenommenen begrifflichen Klärungen sind für die weitere Systementfaltung von fundamentaler Natur. Am Ende dieses Gesprächsgangs lässt Herder Philolaus resümieren: »Deutlich sehe ich jetzt, daß man unserm Philosophen den Pantheismus eben so unrecht Schuld gegeben habe, als den Atheismus«81. Wie kommt Herder zu diesem Fazit, das er dem überwundenen Spinozaverächter in den Mund legt? Zunächst wendet sich Herder einer Klärung des Substanzbegriffes zu, der mit dem Gottesbegriff identifiziert wird. Er hält fest: Substanz ist ein »Ding, das für sich besteht, das die Ursache seines Daseins in sich selbst hat« 82 . Damit paraphrasiert er Spinozas Definitionen 1 und 3, die das erste Buch der Ethica eröffnen, sowie den Beweis zur 7. Propositio. 83 Die Prädikate ›in se esse‹ und ›causa sui‹ fordern sich dabei wechselseitig. Denn nur für den Gegenstand, der die Ursache seiner selbst ist, gilt, dass er im strikten Sinne für sich besteht und allein aus sich begriffen werden kann, insofern sein Dasein keines anderen bedarf, um daraus abgeleitet zu werden. Und in dieser »reine[n] Wortbedeutung«84 – so Herder in Anschluss an Mendelssohn85 – haftet dem Substanzbegriff als Interpretament des Gottesgedankens als dem Absoluten nichts Anstößiges an, sondern dieser bringt das Anliegen eines strikten Gottesbegriffs angemessen zur Geltung. Denn es widerspräche der gedanklichen Fassung des Absoluten, wäre es nicht als Selbstursächlichkeit und Selbstständigkeit konzipiert. Diese sind nach Herder mit Spinoza als reine Gottesprädikate zu begreifen in Unterschiedenheit zur endlichen Sphäre. So sehr sich der Mensch 80

Vgl. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 121. FA 4, 713. 82 AaO. 703. 83 Vgl. B. d. Spinoza, Eth. I, def. 1: »Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentiam; sive id, cujus natura non potest concipi, nisi existens.« Eth. I, def. 3: »Per substantiam intelligo id, quod in se est, et per se concipitur: hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat.« 84 FA 4, 703. 85 Vgl. M. Mendelssohn, Morgenstunden, 395, der dann aber in Anschluss an Leibniz einen gestuften Substanzbegriff einführen will, der auch endliche Substanzen außerhalb von der göttlichen Substanz ermöglichen soll. 81

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in gewissem Sinne für selbstständig halten kann, so sehr gilt doch, wie Herder Leibnizens Monadologie von Spinoza aus korrigiert, dass »kein Ding der Welt eine Substanz [ist], weil alles von einander und zuletzt alles von Gott abhängt«86 . Der anstößige Begriff des ›Modus‹ oder der ›Modifikation‹ zur Bezeichnung bloß relativer Selbstständigkeit endlicher Entitäten ist demnach Spiegel der konsequenten Fassung von Spinozas Substanzbegriff. In diesem exakten Sinne ist auch Herders Konzeption im Anschluss an Spinoza als ›Monismus‹ zu bezeichnen und nicht etwa als ›Holismus‹ 87. Als Monismus soll diejenige philosophische Position bezeichnet werden, »die nur ein einziges durchaus selbständiges Wirkliches zulassen will«88 . Genau diese Position wird von Herder mit der Rechtfertigung des spinozanischen Substanzbegriffs eingefordert. Modifikation bezeichnet dementsprechend ein Endliches, das nur in und durch Beziehung auf das aus sich selbst Selbstständige besteht. Während also Gott in keiner Weise extern verursacht ist, ist es die endliche Sphäre in einer doppelten Weise. 89 Zum einen steht das Endliche in einem Wechselwirkungszusammenhang, der das Endliche überhaupt erst als Endliches qualifiziert, insofern sich die Relate in ihrer Bezogenheit begrenzen, was aus der zweiten Definition des ersten Teils der Ethica folgt: »Dasjenige heisst in seiner Art endlich, was durch ein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann«90 . Im Unterschied zu Gott, dessen Wesen notwendig Existenz einschließt, eignet dem Endlichen keine notwendige Existenz. Zum anderen wird der gesamte so bestimmte Weltzusammenhang komplexer Interdependenzen von Spinoza in seiner Totalität als abhängig von Gott begriffen. Die Welt in ihrem unendlichen Relationengefüge wird in ihrer Ganzheit und Wesenheit als bedingt von der einen Substanz verstanden. Die causa sui muss nach Spinoza sonach zugleich als causa omnium rerum91 gedacht werden, ohne selbst von der Welt rückbedingt zu sein, also ohne in den Wechselbedingungszusammenhang einzutreten. Herder knüpft an diese prinzipientheoretische Funktion des Gottesgedankens unter dem Substanzbegriff bei Spinoza vorbehaltlos an. Der spinozanische Substanzbegriff fasst den Gottesbegriff insofern adäquat, als dass in 86

FA 4, 703. Der Begriff der hole ermöglicht immer noch die Vorstellung differenter Ganzheiten, die aufeinander wirken. 88 So D. Henrich, Andersheit und Absolutheit des Geistes, 144. Vgl. auch H. Hillermann, Zur Begriffsgeschichte von »Monismus«, 214–235. 89 Zur doppelten Kausalität bei Spinoza vgl. W. Bartuschat, Spinoza, 80 f., und ihm hierin folgend C. Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, 22– 25. 90 Eth. I, def. 2: »Ea res dicitur in suo genere finita, quae alia ejusdem naturae terminari potest«. 91 Vgl. Eth. I, prop. 25, schol.; prop. 34, dem. 87

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ihm der Beziehungs- und Unterscheidungsgrund von Gott und Welt zugleich gegeben ist.92 Herder begreift in Anschluss an Spinoza das Absolute also einerseits als in einer strikten Unterscheidung zu dem Wechselbedingungszusammenhang der Welt in seiner Totalität, worin alle einzelnen Entitäten in einem unendlichen Bedingungsgefüge stehen, ohne dass das Absolute selbst Moment dieses Gefüges oder eines anderen Gefüges wäre. Denn es gilt Propositio 14: »Außer Gott kann es keine Substanz geben und lässt sich keine begreifen«93. Andererseits wird die absolute Substanz in ihrer kategorialen Unterschiedenheit von der Welt als auf die Welt in konstitutiver Weise bezogen gedacht, insofern der Weltzusammenhang als ganzer in Abhängigkeit von Gott gedacht wird. Herder resümiert seinen Gedankengang: »Daß indessen alles von Einem selbstständigen Wesen sowohl in seinem Dasein als in seiner Verbindung, mithin auch in jeder Äußerung seiner Kräfte abhangen müsse; daran kann kein konsequenter Geist zweifeln«94 . Mit dem hier Ausgeführten ist von Herder freilich ein doppelter Begriff von Abhängigkeit statuiert, der dem doppelten Causa-Begriff bei Spinoza entspricht. Die wechselseitige Abhängigkeit der Weltgegenstände untereinander muss in einer kategorialen Differenz zu der Abhängigkeit der Totalität der Welt von der absoluten Substanz gedacht werden. Diesen Sachverhalt kann man sich an dem bedingungslogischen Argument leicht klar machen, dass jedwedes Bedingungsverhältnis stets als ein reziprokes beschreibbar ist. Symmetrische Reziprozität darf allerdings in Bezug auf das Gott-Welt-Verhältnis nicht ausgesagt werden, da damit die im Begriff des Absoluten liegende Bestimmung als causa sui aufgehoben wäre und das Absolute als Bedingungsgrund zugleich selbst bedingt, somit in seiner Gründungsfunktion eskamotiert wäre.95 Gott und Welt wären in einem symmetrischen Wechselbedingungsverhältnis und kategorial nicht zu scheiden. Herder sieht – gegen eine bis in die Gegenwart fortdauernde antispinozistische Auslegungstradition – richtig, dass die unterschiedslose Einheit von Gott 92 Der Gedankengang Spinozas, wie er von der selbstursächlichen Substanz zur einzigen Substanz und sodann zum Gottesgedanken kommt, muss hier nicht en detail nachgezeichnet werden, da diese Überlegungen für Herder keine Rolle spielen. Ihm ist Substanz immer die eine Substanz oder Gott. Vgl. dazu C. Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, 29–37, bes. 30 f. 93 Eth. I, prop 14.: »Praeter Deum nulla dari, neque concipi potest substantia«. 94 FA 4, 704. 95 Vgl. auch C. Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, § 938, der zwar die Abhängigkeit der Welt von Gott statuiert, insofern die Welt ihren Grund nicht in sich selbst hat, diese aber umgekehrt Gott nicht rückbedingt. Gott ist vielmehr »voellig von allen Dingen independent«, da er »durch seine eigene Kraft ist, und also seine Wuerklichkeit von sich, nicht von einem anderen hat«.

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und Welt bzw. Natur nicht Spinozas genuine Intention trifft.96 Der starke Substanzbegriff will vielmehr Bezogenheit wie Unterschiedenheit zugleich aussagen. In diesem Sinne paraphrasiert Herder nun auch den spinozanischen Begriff Gottes als causa immanens: Gott ist demnach nicht eine vorübergehende, »sondern die bleibende immanente Ursache aller Dinge«97. Würde Gott nach dem Schema einer causa transiens gefasst, würde er wieder in der Logik der Endlichkeit begriffen werden, da der Gedanke einer vorübergehenden Ursache sowohl die Vorstellung einer raum-zeitlichen Veränderung wie eine Veränderung in Gott selbst insinuiert.98 Der Gedanke Gottes als immanente Ursache der Welt will also nicht die Identität von Gott und Welt behaupten, sondern die kategoriale Differenz der Arten von Bedingungsverhältnissen einholen. Die abbreviative Fassung von Spinozas Programm unter der Formel »Deus sive Natura« verleitet also gerade dazu, das differenzierte Vermittlungsverhältnis von Gottes- und Weltgedanken auf eine schlichte Identifikation der Relate zu verkürzen.99 Dass Herder sich mit der Intention Spinozas in Einklang weiß, verdeutlicht sein Hinweis aus der 2. Auflage, wo er Spinozas Brief vom Winter 1675 an Heinrich Oldenburg zitiert: »In Gott, sage ich mit Paulus, [. . .] webt und ist alles. Glauben aber Einige, dies gehe darauf hinaus, daß Gott und die Natur [. . .] Eins und dasselbe sei, so verfehlen sie ganz des Weges«100 .

96 W. Bartuschat, Spinoza, 59 f. und 67 f., hat darauf hingewiesen, dass für Spinoza Gott und Welt nicht unterschiedslos ineinander fallen. Und schon C. Wolff, Widerlegung, § 671 Erl., fordert es der Redlichkeit der Spinozagegner ab zuzugeben, dass sie ihm diesen Vorwurf zu Unrecht geben. Ganz in diesem Sinne betont Herder im vierten Gespräch, dass Lessing »gewiß keine rohe All-Einheit, dergleichen auch das System des Spinoza nicht ist« (FA 4, 741), vertreten habe. 97 FA 4, 705. Vgl. Eth. I, prop. 18: »Deus est omnium rerum causa immanens; non vero transiens«. 98 Zur Vorgeschichte des Begriffspaars causa immanens und causa transiens als Näherbestimmungen der causa efficiens in der Schulmetaphysik des 17. Jh. vgl. C. Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, 15–18. 99 Vgl. Eth. IV, preaf. sowie prop. 4, dem. Auch W. Bartuschat, Spinoza, 68, betont, dass diese Wendung »nicht als eine These der Identität von Gott und Welt verstanden werden« darf. Spinoza reflektiert die Differenz vielmehr in dem Begriffspaar »natura naturans« und »natura naturata« (Eth. I, prop. 29, schol.). So vermag auch die materialistische Herderdeutung E. Adlers, Herder und die deutsche Aufklärung, 277, nicht zu überzeugen, wonach Herder Gott »das selbständige Sein entzieht«. Wie gesehen, wird die Komplexität gerade dadurch erzeugt, dass Herder Gott im eigentlichen Sinne als »Selbstständigkeit« zu denken versucht. 100 H II, 1056. Nach der Zählung von C. Gebhardt handelt es sich um den 73. Brief. Der Gefahr dieser verkürzenden Lesart verfällt auch E. Schürmann, »Ein System der Freiheit und der Freude«, 357–376.

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3.1.2 Zeit und Ewigkeit Am deutlichsten sieht Herder den Gedanken der Nichtidentität von Gott und Welt in Spinozas Fassung des Ewigkeitsbegriffs101 ausgedrückt, der zum Abweis der Vorstellung eines extramundanen Gottes führt. Die Ewigkeit Gottes muss demnach strikt als Zeitenthobenheit und als solche als der zeitlose Grund von Zeit überhaupt gedacht werden. Die Ewigkeit der Welt, die das logische Korrelat der ewigen Wirksamkeit Gottes darstellt, ist demgegenüber immer bloß Endlosigkeit der Zeit und der in ihr vorgehenden Veränderungen. Diese Differenz hat Herder »nicht erst aus Spinoza gelernt«102 . Bereits zwischen 1762 und 1764 notiert Herder in seiner Mitschrift zum kantschen Kolleg: »Alles Maas einer Dauer ist Zeit, die Zeit kann durch Zahlen ausgedrückt werden. Eine Dauer die nicht durch Zahlen kann ausgedrückt werden, die also größer ist als alle Zeit, ist Ewigkeit: der Terminus der Zeit ist Anfang und Ende: folglich eine Dauer ohne Anfang und Ende ist Ewigkeit. Aevitas et sempiternitas. e. mundus sie ist zu aller Zeit gewesen: d. i. wo eine Zeit war, war auch die Welt«103.

Herder rekurriert damit auf die für eine religiös valente Theorie der Zeit grundlegende Unterscheidung von aeternitas und sempiternitas. Um diese Differenz zu verstehen, sei kurz auf ihren ideengeschichtlichen Hintergrund eingegangen. Sie resultiert aus Plotins terminologischer Distinktion der Begriffe αἰών und χρόνος.104 Die Unterscheidung von endloser Zeit und Zeitenthobenheit als immerwährende Gegenwärtigkeit zu allen Zeiten hat ihren klassischen Ausdruck in zwei Schriften der ausgehenden Antike gefunden, von wo sie in die abendländische Metaphysik eingegangen sind: dem elften Buch der von Augustinus verfassten Confessiones sowie dem fünften Buch der 101 Vgl. Eth. I, def. 8 ex., wo Spinoza betont, dass aeternitas nicht »per durationem, aut tempus« erklärt werden kann. Insofern geht der von C. Wolff, Widerlegung § 706 erhobene Vorwurf, Spinoza habe den numerischen mit dem qualitativen Begriff der Unendlichkeit verwechselt, an der spinozanischen Intention vorbei. 102 FA 4, 706. 103 AA 28,1, 36. Wie dieser Auszug schon andeutet, hat Baumgarten – dessen Metaphysica der Vorlesung Kants zugrunde lag – trotz der Negation der Zeitkategorie in Bezug auf den Gottesgedanken nicht Wolffs kritische Reserve gegenüber dem Terminus duratio geteilt. Der § 302 seiner Metaphysica lautet: »Aeternitas [. . .] est duratio sine initio & fine. Duratio sine fine tantum est Aeviternitas, & omni tempori simultanea Sempiternitas« (H. i. O.). 104 Vgl. Plotin, Enn. III, 7. Plotin rekurriert damit auf Platons, Tim. 37d, Begriff von Aion als der Ewigkeit im Unterschied zu ihrem beweglichen Abbild der Zeit. Zu den philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen vgl. K. Gloy, Art. Zeit I, TRE 36, 506; H. Echternach, Art. Ewigkeit, HWP 2, 838–844; H. Schnarr, Art. Nunc stans, HWP 6, 989–991; M. Theunissen, Griechische Zeitbegriffe vor Platon, 7–23.

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Consolatio Philosophiae105 des Boethius. Augustinus betont, dass Gott als »omnium saeculorum auctor et conditor« bzw. »operator omnium temporum«106 jenseits der Zeit steht, die er erst mit der Welt geschaffen hat.107 In diesem Sinne kann es schon für Augustinus kein Tun Gottes vor der Schöpfung geben: »Du gehst auch nicht zeitlich den Zeiten vorauf, sonst würdest du nicht allen Zeiten voraufgehen. Sondern du gehst allem Vergangenen vorauf in Erhabenheit der immer gegenwärtigen Ewigkeit und überragst auch alles Zukünftige«108 . Boethius knüpft in seiner Consolatio im Rahmen seiner Reflexionen über das Verhältnis vom liberum arbitrium zur providentia Dei an diese Differenz im Zeitbegriff an, indem er die infinitas temporis bzw. perpetuitas strikt von der aeternitas Dei unterscheidet. Mittels dieser Perspektivendifferenz versucht er das Determinismusproblem zu bearbeiten.109 Klassisch geworden ist seine Definition der Ewigkeit als »interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio«110 . In der Consolatio fällt der Terminus sempiternitas selbst nicht. Dass er aber diese Differenz im Zeitbegriff durchaus unter das Begriffspaar aeternitas/sempiternitas bringen kann, zeigt ein Blick auf sein Werk De Trinitate: »Nostrum nunc quasi currens tempus facit et sempiternitatem, divinum vero nunc permanens, neque movens sese atque consistens aeternitatem facit«111. Beide Aspekte des Ewigkeitsbegriffs – der Gedanke der 105

Herder besaß drei Exemplare der Enneaden; vgl. BH 2247–2249. Augustinus, Confessiones, 11. Buch, XIII, 15. Zur identitätstheoretischen Valenz von Augustins Zeittheorie vgl. J. Ringleben, Interior intimo meo. Die Nähe Gottes nach den Konfessionen Augustins, insb. 9 f. 107 Vgl. hierzu den Kommentar zum 11. Buch der Confessiones von E. P. Meijering, Augustin über Schöpfung, Ewigkeit und Zeit, 44–57. Vgl. auch insgesamt die Studie von K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones, Frankfurt a. M. 1993, der Augustins Zeittheorie traditions- und wirkungsgeschichtlich von Antike über Mittelalter bis zu modernen Umformungen umfassend bearbeitet hat. 108 Augustinus, Confessiones, 11. Buch, XIII, 16: »nec tu tempore tempora praecedis: alioquin non omnia tempora praecederes. Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura« (Übersetzung nach W. Thimme). 109 Vgl. hierzu K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 54–85; E. Gegenschatz, Die Freiheit der Entscheidung in der Consolatio Philosophiae des Boethius, 323–349; P. Huber, Die Vereinbarkeit von göttlicher Vorsehung mit menschlicher Freiheit in der Consolatio Philosophiae des Boethius, Zürich 1976, sowie F. Regen, Praescientia. Vorauswissen Gottes und Willensfreiheit des Menschen in der Consolatio Philosophiae des Boethius, Göttingen 2001. 110 Boethius, Consolatio Philosophiae V, 6, 4. Diese Definition der Ewigkeit wird im Kontext der Lehre von den Attributen Gottes immer wieder zitiert. Vgl. etwa Thomas v. Aquin, S. theol. I, 10,1; J. Gerhard, Loci Theologici, Tom. I, Loc. III, Cap. XI, §LXXXVIII, 121; J. A. Quenstedt, Systema Theologicum, Pars I, Cap. VIII, Quaest. VI, Bebaiosis, 312; J. F. Buddeus, Institutiones Theologiae Dogmaticae, Lib. II, Cap. I, §XLII, 339. 111 Zitiert nach H. Schnarr, Art. Nunc stans, 989. 106

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Seins- bzw. der Lebensfülle sowie der Zeitenthobenheit – sind auch für Herders Gottesbegriff virulent. Die hier bei Augustinus und Boethius formulierte Distinktion zwischen endloser Zeit und Ewigkeit gehört seitdem zum Bestand der abendländischen Metaphysik bis in die Schulphilosophie der deutschen Aufklärung hinein. Christian Wolff etwa arbeitet in seiner Theologia naturalis (1739–41) die Differenz wie Beziehung beider Größen von und zu einander heraus. Für ihn gelten zunächst beide Sätze: »Deus est aeternus«112 wie auch »Deus sempiternus est«113. Beiden Attributen Gottes kommt nach Wolff aber nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, derselbe ontologische Status zu. Die sempiternitas hängt vielmehr von der aeternitas ab und hat diese zur Voraussetzung. Insofern nämlich Gott ewig ist, kann auch keine Zeit gedacht werden, zu der er nicht gewesen ist oder sein wird.114 Damit wird deutlich, dass die sempiternitas Dei bei Wolff nur in der Funktion steht, die aeternitas Dei respektiv auf die Zeit zu thematisieren. Weil es angesichts von Gottes Ewigkeit keine Zeit geben kann, der er nicht gegenwärtig ist, da er »nec initium, nec finem«115 hat und es insofern auch keine Zeit gibt, die ihn ausmessen könnte116 , kann ihm das Prädikat der sempiternitas zugesprochen werden. In diesem Sinne fasst Wolff zusammen: »sempiternitas fluit ex aeternitate«117. Die sempiternitas ist demnach das logische Korrelat zur ontologischen aeternitas, durch das die Verhältnisbestimmung der Ewigkeit zur Zeit reflektiert wird. Wenn von sempiternitas Dei gesprochen wird, will Wolff damit keinesfalls Gott unter das Prädikat der Zeit bringen. Er betont vielmehr: »Deus non est in tempore«118 sowie »Aeternitas Dei & tempus infinitum differunt«119 bzw. »Aeternitas Dei non est tempus infinitum«120 , womit er die kategoriale Differenz von Gottes- und Weltbegriff festhält. Denn die Welt ist demgegenüber als ein interdependenter Konnex nach- und nebengeordneter veränderlicher Dinge in einer zusammenhängenden Reihe (in continua serie) zu verstehen, wodurch 112

C. Wolff, Theologia Naturalis, Pars I, § 74. AaO. Pars II, § 34. 114 Vgl. aaO. Pars I, § 75. 115 AaO. Pars I, § 39. In diesem Paragraphen nimmt Wolff eine Kritik an der Vorstellung der Ewigkeit als einer unendlichen Dauer (duratio interminabilis) vor. Da aber der Begriff der Dauer – und sei sie auch unendlich – immer Veränderung (mutatio) sowie Folge (successio) impliziere, kann Dauer keine adäquate Fassung der Ewigkeit Gottes sein; vgl. auch Pars I, § 1014. Die Ewigkeit als unendliche Zeit vorzustellen, hat nur für den philosophisch Ungebildeten die Funktion, sich von der Ewigkeit ein Bild zu machen; vgl. Pars I, §§ 42 f. 116 Vgl. aaO. Pars I, § 40 117 AaO. Pars I, § 75. 118 AaO. Pars I, § 1014. 119 AaO. Pars I, § 1016. 120 AaO. Pars II, § 50. 113

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Zeit allererst gegeben ist. So gilt: »Mundus & omne ens finitum in tempore est«121. Der Wolffschüler Alexander G. Baumgarten nimmt die Distinktion seines Lehrers in seiner Metaphysica (71779) auf. Auch er betont: »In Deo non sunt successiva, [. . .] Ergo nec est in deo tempus, [. . .] hinc aeternus est [. . .] & omni tempori coëxsistens sempiternus«122 . Vermittelt über Baumgartens Metaphysik, die der Vorlesung Kants zugrunde lag, wird auch Herder bei der Besprechung des § 302 spätestens die Unterscheidung von aeternitas und sempiternitas kennen gelernt haben. Die Gottesvorstellung, so Herder, die demgegenüber mit einem extramundanen Gott operiert, der mit Willen und Verstand in die Welt eingreift, verwische diese kategoriale Differenz zwischen dem Bedingungsgrund von Zeit und Veränderung einerseits und eben der – wenn auch endlosen – Zeit und Veränderung selbst. Mit anderen Worten: Ein Außerhalb der Welt könnte immer wieder nur Welt sein, wie eine Ewigkeit vor der Zeit immer wieder nur Zeit wäre.123 Raum und Zeit sind reine Weltbegriffe und so hält Herder fest: »Das Ewige kann so wenig zur Zeit, als die Zeit zur Ewigkeit oder das Endliche zum Unendlichen werden«124 . Wo diese Differenz übergangen wird, wird der Gottesgedanke im raum-zeitlichen Endlichkeitsschema nur unterbestimmt begriffen. Im vierten Gespräch lässt Herder Philolaus diesen Einwand gegenüber Jacobi noch einmal resümieren: »[Ich muss] aufrichtig bekennen, Theophron, daß ich mit seiner ›persönlichen, supraund extramundanen Gottheit‹ so wenig fortkomme, als Leßing. Gott ist nicht Welt und Welt ist nicht Gott: das bleibt gewiß; aber mit dem extra und supra ist, dünkt mich, auch noch nicht viel ausgerichtet. Wenn man von Gott redet, muß man sich alle Idole des Raums und der Zeit vergessen oder unsre beste Mühe ist vergeblich«.125

Herders Widerlegung des Atheismus- und Pantheismusvorwurfes bündelt sich also in der Rekonstruktion des spinozanischen Substanzgedankens als ein Beziehungs- und Unterscheidungsgrund, der kategorial different zu endlichen Beziehungs- und Unterscheidungsgründen gedacht werden muss, nämlich näherhin als diese selbst bedingend, ohne von diesen rückbedingt zu werden.126 Zu dem die antispinozistische Auslegungstradition prägenden pan121

AaO. Pars I, § 1015. A. G. Baumgarten, Metaphysica § 849. 123 Vgl. hierzu die analogen Überlegungen F. Wagners, Theo-Logik. Ein Beitrag zur theologischen Interpretation von Hegels »Wissenschaft der Logik«, 209 f., über das »verendlichte Nichtendliche«. 124 FA 4, 706. 125 AaO. 747, H. i. O. 126 Demnach wird man Herders Schrift Gott kaum – wie von B. M. Dreike, Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz’ Philosophie, 72, vorgeschlagen – im schlichten Sinne als eine »Verteidigung von Spinozas Pantheismus« lesen können, zumal selbst für Spinoza die Identifikation von Gott und Welt nicht zutrifft. 122

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theistischen Missverständnis kommt es, wenn einerseits die Nichtidentität von Gott und Welt im Substanzbegriff übergangen wird und wenn andererseits die kategoriale Differenz von endlichen zu unendlichen Bedingungsverhältnissen keine Beachtung findet. Damit fällt aber im obigen Sinne auch der Atheismusvorwurf dahin, der nur als Folge des Jacobischen Entweder-Oder zu begreifen war. Wir sehen Herder demgegenüber auf dem Weg zu einem – um mit dem Schleiermacher der Reden zu sprechen – »höhern Realismus«127, in dem sich Endliches und Unendliches vermitteln lassen. Gerade indem er mit Spinoza die prinzipielle Differenz wie konstitutive Bezogenheit zwischen Gottes- und Weltgedanken einschärft, wird es ihm möglich, die Transzendenz in der Immanenz zu entdecken, ohne dass die Transzendenz in der Immanenz aufgeht. Es handelt sich also keinesfalls, wie Martin Bollacher will, um »das Prinzip einer transzendenzlosen, das Diesseits rehabilitierenden Welt- und Naturverherrlichung«128 , sondern um die Erfahrung des Absoluten im Endlichen, die das Endliche in seiner Endlichkeit auf dessen Grund hin transzendiert und insofern erst verherrlicht.129 Die Erfahrung des Absoluten in der Zeit ist – um eine Formulierung Paul Tillichs aufzugreifen – die Negation der Idee einer »in sich geschlossenen Endlichkeit«. Es wird ja gerade nicht nur Endliches erfahren, sondern das Absolute im Endlichen! Die Annahme, Herders Spinozarezeption – und mit ihm die Goethes – führe zu der Vorstellung einer transzendenzlosen Welt, schließt den Begriff der Transzendenz mit dem des Extramundanen kurz. Das Begriffspaar der Immanenz und Transzendenz ist aber nicht parallel zum Begriffspaar des Intra- und Extramundanen zu verstehen, sondern Immanenz und Transzendenz sind vielmehr different-bezogene Perspektiven auf die Totalität des Weltzusammenhanges selbst.130 Nur so wird es überhaupt verständlich, dass für Herder die These der Nichtidentität von Gott und Welt nicht zu der These eines extramundanen Gottes führt, sondern vielmehr zur dialektischen Erfahrung der Transzendenz in der Immanenz. Dass streng genom127 F. Schleiermacher, Reden, 54. Während sich Schleiermachers »Realismus« unter Einschluss der Kritiken Kants ausbildet, vollzieht sich Herders ›Realismus‹ als ein Alternativkonzept zu Kant. 128 M. Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza, 137. 129 Dementsprechend ist es auch noch verkürzt, wenn man wie E. Schürmann, »Ein System der Freiheit und der Freude«, 365, von der Immanenz Gottes auf »die Göttlichkeit der Welt« schließt, da so die besagte Differenz zwischen Gottes- und Weltgedanken kassiert wird. Ebenso vertritt weder Spinoza noch Herder »das Ineinsfallen von deus und natura« (ebd.). Die Funktion einem sich religiös-metaphysisch entleerenden Weltbild mittels Spinoza zu begegnen, wird von Schürmann allerdings treffend benannt. Zur Differenz von Gottes- und Weltgedanken in Spinozas System vgl. W. Bartuschat, Spinoza, 64–69. 130 Zu Spinozas Immanenzbegriff vgl. C. Ellsiepen, Immanenz und Freiheit, 3–15.

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men für Herder die Unterscheidung von intra- und extramundan überhaupt sinnlos ist, weil so das Extramundane immer schon in der Logik des Intramundanen begriffen wird, dürfte nach dem Ausgeführten deutlich geworden sein. Herders Theorie der Erfahrung von Transzendenz in der Immanenz, wobei das Absolute als Beziehungs- wie Unterscheidungsgrund zur Welt thematisch wird, weist einen Weg jenseits der durch Jacobi vermeintlich erzwungenen Alternative zwischen theistischem Personalismus und pantheistischem Fatalismus. Das Endliche rückt sub specie aeternitatis in eine andere Perspektive, die es über reine Endlichkeitserfahrung hinaushebt und auf seinen unendlichen Grund hin durchsichtig macht. Damit wird Herder für die religiösästhetischen Theorielagen der Romantik wegweisend werden und bildet eine echte Alternative zu der religiös-ethischen Konzeption Kants. Wird man in Herder in der Widerlegung des Atheismus- bzw. Pantheismusvorwurfs den im Vergleich zu seinen Zeitgenossen die Intention Spinozas besser treffenden Interpreten sehen, so kommt es aber in Bezug auf die in Spinozas Gottesgedanken integrierte Differenz von extensio und cogitatio zu einer grundlegenden prinzipientheoretischen Umbildung.

3.2 Gott als Kraft 3.2.1 Die krafttheoretische Fundierung Nachdem Herder Spinozas Interesse an Gott als dem Absoluten im Sinne von schlechthinniger Selbstständigkeit verteidigt hat131, nimmt er im zweiten Gespräch der ersten Auflage von 1787 eine grundlegende Umformung der spinozanischen Attributenlehre vor, die in letzter Konsequenz auf ihre Verabschiedung hinausläuft. Spinozas Philosophie beruht auf dem dreistelligen Prinzipiengefüge der einen Substanz und ihren beiden Attributen von extensio und cogitatio, das somit – zumindest für das endliche Bewusstsein – ein nicht hintergehbares Gefüge darstellt, dessen Prinzipien insofern auch nicht aufeinander reduzierbar sind. Dies gilt nach Spinoza in einer doppelten Hinsicht: einmal in Bezug auf das Verhältnis der einen Substanz zu ihren Attributen und sodann auch für das Verhältnis der Attribute zueinander. Was zunächst das Verhältnis der Substanz zu ihren Attributen betrifft, so ist zu beachten, dass es sich hier nicht um eine externe Relationiertheit handeln kann, was aus dem oben zum Substanzbegriff Ausgeführten folgt. Ex131 Es wird in diesem Kapitel unter 3.3.2 a) deutlich werden, dass Herder die Selbstständigkeit Gottes als eine begreift, die wesentlich relative Selbstständigkeit endlicher Entitäten setzt.

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ternalität und Alternität wären nach Spinoza in Bezug auf die eine Substanz eine contradictio in adiecto. Insofern muss das Verhältnis von der Substanz zu ihren Attributen als ein internes Verhältnis der Substanz selbst begriffen werden. Zum Verständnis dieses Verhältnisses muss eigens kurz an Spinozas Verhältnisbestimmung von Attribut und Substanz erinnert werden. Die grundlegende Definition eines Attributs lautet: »Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit, tanquam ejusdem essentiam constituens.«132 Dem Attribut kommt also gegenüber dem Wesen der Substanz eine Konstitutionsfunktion zu, wonach die Substanz allein in ihren Attributen existiert. Die Substanz ist insofern nur da als eine in sich gegliederte attributive Größe133 , deren Attribute die Substanz in Gänze ausdrücken (»exprimere« Eth. I, prop. 25 coroll.). Diese Bestimmung der Substanz als einer realen in sich gegliederten Einheit wird noch deutlicher, wenn man die Verhältnisbestimmung der differenten Attribute zueinander nach Spinoza rekonstruiert. Grundlegend für Spinozas Konzeption ist die Annahme, dass die Attribute nicht nur – wie gerade gesagt – die Substanz ausdrücken, sondern jeweils ganz ausdrücken. Damit distanziert sich Spinoza von einem additiven Modell, wonach die Substanz die Summe ihrer attributiven Teile wäre.134 Demgegenüber besagt Spinozas Attributenlehre ein Doppeltes: Zum einen betont er, dass, indem jedes Attribut jeweils »infinitam essentiam exprimit«135 , diesem selbst substanzieller Charakter zukommt. Daraus folgt, »daß wir für die Erkenntnis der Substanz nur ein einziges ihrer Attribute zu erkennen brauchen, weil sie sich in jedem von ihnen ungeteilt und folglich unverkürzt manifestiert«.136 Andernfalls – da aus der Substanz »infinita infinitis modis«137 folgt – hätten wir gar keine Erkenntnismöglichkeit der Substanz, da der Mensch nur eine begrenzte Anzahl von den unendlichen Attributen zu erkennen vermag. Zum anderen ist es für Spinoza grundlegend, dass die Attribute nicht aufeinander zurückführbar sind. Die Attribute bringen in essentiell differenten Weisen, die nicht aufeinander reduzibel sind, die eine Substanz jeweils ganz zum Ausdruck. Es 132

Eth. I, def. 4. So betont auch W. Bartuschat, Spinoza, 70, dass »die Substanz nicht eine den Attributen vorangehende Einheit ist, sondern eine Einheit in ihnen«. 134 Vgl. Eth. I, prop. 12 und 13. In diesem Sinne missversteht M. Mendelssohn, Morgenstunden, 395, Spinoza, wenn er ihm vorwirft, er würde »das Unendliche der Kraft nach« mit dem »Unendlichen der Ausbreitung, der Menge nach« verwechseln: »Aus unendlich vielen endlichen Gedanken setzt er das an Gedanken Unendliche zusammen«. 135 Eth. I, prop. 11. Vgl. auch Eth. I, def 6. 136 W. Bartuschat, Spinoza, 70. 137 Eth. I, prop. 16. Es ist der doppelte Modus-Begriff von Spinoza zu beachten. Hier geht es um die unendlich vielen Weisen, in denen die Substanz aktiv ist, während Modus sonst die Produkte jener Aktivität bezeichnet. 133

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ist an dieser Stelle entscheidend zu erinnern, wie Spinoza zu dieser These kommt, da Herders Umformung des spinozanischen Systems an diesem Punkte ansetzt. Dass es überhaupt eine Pluralität von Attributen der einen Substanz gibt, wird von Spinoza nicht aus dem Begriff der Substanz selbst abgeleitet, sondern verdankt sich einer phänomenologischen Betrachtung der Welt. Wäre die Welt essentiell einheitlich gegliedert, so bedürfte es nur eines einzigen Attributes, um daraus die unendliche Vielheit der endlichen Dinge verursacht vorzustellen. Spinoza folgt an diesem Punkte Descartes, wonach sich die Welt in die zwei nicht weiter aufeinander reduziblen Größen des Geistigen und Körperlichen gliedert. Die Differenz zu Descartes besteht darin, dass dieser res cogitans wie res extensa als zwei Substanzen betrachtet, die er in ihrer Dualität in die unbegreifliche Einheit Gottes setzt, während Spinoza zum einen herausarbeitet, dass die Attribute als Attribute selbst keine Substanzen sind, sondern die Substanz ausdrücken, und zum anderen, dass sie in ihrer Differenz als Einheit aus der Substanz begriffen werden können. Während also Descartes das Zusammenstimmen der Dualität von extensio und cogitatio vermittelst des Gedankens der Allmacht und Wahrhaftigkeit Gottes postuliert, will Spinoza die in sich differenzierte Einheit der Substanz in den beiden Attributen Denken und Ausdehnung aus dem Gottesbegriff selbst verständlich machen. Dass es sich dabei nur um diese beiden Attribute handelt, verdankt sich allein der so bestimmten essentiell gegliederten Selbst- und Welterfahrung. Die Betonung der für die weitere Betrachtung irrelevanten These einer unendlichen Anzahl von Attributen steht in der Funktion, den Gottesgedanken nicht zu anthropomorphisieren, indem man ihn auf die für uns Menschen zugänglichen Attribute reduziert. Wie bestimmt Spinoza nun die Einheit und Diversität der Attribute, wenn er sie weder als Substanzen noch im unerforschlichen Willen Gottes gegründet denkt? Einheit wie Diversität der Attribute folgen aus seiner Theorie des von Leibniz so benannten ›Parallelismus‹ der göttlichen Attribute. Demnach ist die Substanz in sich gegliedert tätig, aber so, dass sie in den jeweiligen Attributen auf identische Weise gleichursprünglich tätig ist. Spinozas zentrale Formulierung lautet: »Die Ordnung und Verknüpfung der Vorstellungen ist dieselbe, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge«138 . Und im Scholium dazu führt er aus: »Wir mögen demnach die Natur unter dem Attribute der Ausdehnung oder unter dem Attribute des Denkens [. . .] begreifen, so werden wir ein und dieselbe Ordnung oder ein und dieselbe Verknüpfung von Ursachen d. h. dieselben Dinge aufeinanderfolgend finden«139. Die Einheit von extensio 138 139

Eth. II, prop. 7. Eth. II, prop. 7, schol.

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und cogitatio verdankt sich also ihrer Identität in ordo et connexio aus der einen Substanz. Die Substanz ist in ihnen auf identische Weise kausal tätig. Die kausale Ordnung und Verknüpfung ist in der reellen wie ideellen Sphäre dieselbe, insofern sich dasselbe Kausalitätsschema der einen Substanz in allen Attributen auf identische Weise vollzieht. Somit liegt die Einheit der Attribute in der Kausalität Gottes, die sich in den jeweiligen Attributen auf dieselbe Weise darstellt. Insofern kann man von einer ursprünglichen kausalen Einheit von Körper und Geist bei Spinoza sprechen und muss nicht – wie bei Descartes – den Zusammenhang von Körper und Geist sekundär im Gottesgedanken postulieren. Mit dieser Theorie einer ursprünglichen kausalen Einheit von extensio und cogitatio versucht Spinoza, das cartesische Dualismusproblem zu unterlaufen. Die Einheit wird von Spinoza also als identisches Verursachtsein begriffen. Darin ist aber zugleich angedeutet, dass, wenn von einem identischen Verursachtsein die Rede ist, dieses eine Identität differenter Größen ist. Extensio und cogitatio sind nach Spinoza unbeschadet der Selbigkeit ihrer Kausalordnung weder wechselseitig aufeinander reduzibel noch können sie sich in irgendeiner Weise beeinflussen, sondern sie sind essentiell geschiedene Größen, die allein qua identischer Kausiertheit parallel laufen. Die substantielle Einheit des Seins stellt sich nach Spinoza real allein in einer nicht ableitbaren attributiven Differenz dar. Mit der These der Gleichursprünglichkeit der Attribute behält Spinoza tatsächlich ein cartesisches Motiv bei, wenn er diese auch ihrer dort festgestellten Substantialität entkleidet. Die so von Spinoza vertretene Theorie »substantial-kausaler Einheit in attributiv-realer Diversität«140 wird von Herder nun genau mittels des Kraftbegriffs in Bezug auf die These der irreduziblen Diversität der Attribute in Frage gestellt. Herder deutet diese nicht aufhebbare attributive Diversität von extensio und cogitatio als einen sublimiert fortwirkenden Dualismus. Insofern sieht Herder Spinoza hier auf den Spuren des »Cartesischen Irrtum[s], von dem sich der Weltweise nicht losmachen konnte und der die Hälfte seines Systems verdunkelt«141. Treffend benennt Herder den Eingang zum zweiten Teil der Ethik als den Ort der axiomatischen Einführung der Körper-Geist-Differenz bei Spinoza.142 Herders Ziel ist es, unter Wahrung der genuinen Intention Spinozas, nämlich eines einheitlichen Körper-Geist-Konzepts, diese Reste cartesischer Dualität aus Spinozas System zu verabschieden, was er bei Spinoza selbst noch nicht hinreichend verwirklicht findet. Insofern versteht Herder sich selbst an diesem Punkte nicht als ein bloßer Erläuterer von Spinozas System, sondern er versucht das 140

C. Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, 54. FA 4, 707. 142 Vgl. Eth II, prop. 1: »Cogitatio attributum Dei est, sive Deus est res cogitans« und prop. 2: »Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa«. 141

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System, indem er über es hinausgeht, zu vollenden – freilich immer noch mit dem Anspruch, Spinozas eigentliche, aber nicht voll realisierte Intention besser zu treffen als Spinoza selbst. Herders Monita setzen bei Spinozas Begriff der extensio an. Sieht Herder in Spinozas Reflexionen über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit eine adäquate Verhältnisbestimmung von Welt- und Gottesgedanken vorgenommen, so sieht er diese in dem Attribut der Ausdehnung unterbestimmt. Genauso wie die Zeit dem Gottesgedanken völlig inkommensurabel ist, so ist es nach Herder auch die Ausdehnung. Dass Spinoza aber überhaupt extensio als Attribut Gottes auffasst, verdankt sich – wie wir sahen – einer Phänomenologie des Endlichen, wonach das Sein essentiell in materielle wie geistige Entitäten geschieden ist. Es ist nun entscheidend zu sehen, dass Herder in der Destruktion der Reste der cartesischen Dualität nicht primär über die Unhaltbarkeit der These eines ausgedehnten Gottes argumentiert, sondern über die begriffliche Neufassung des Materiebegriffs.143 Herder stellt es im Unterschied zu Mendelssohn144 bereits in Frage, ob die Materie überhaupt adäquat unter der Kategorie der Ausdehnung zu fassen ist. Insofern verfährt er formal analog zu Spinoza, der die Dualität der uns bekannten Attribute Gottes ja auch aus der Welterfahrung ableitet, wenngleich Herder dann auch zu anderen inhaltlichen Bestimmungen kommt. Dies ist zu beachten. Herder argumentiert also aus der Sphäre des Endlichen, was dann auch Folgen für seinen Gottesbegriff zeitigt. Nicht die in der Tat Spinoza verkürzende Lesart, wonach Gott »ein Extensum«145 sei, ist der Ausgangspunkt seiner Vermittlung der cartesischen Dualität, sondern eine gegenüber Descartes und Spinoza neue Interpretation des Materiebegriffs. So steht Materie für den denkenden Geist zwar unter den Kategorien von Raum und Zeit, aber bloß als »äußere Bedingungen ihres Da143

Herder greift damit auf die antidualistische Materiekonzeption zurück, die er in der Auseinandersetzung mit Kants Träume eines Geistersehers ausgebildet hat. Vgl. dazu M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, 30–42. 144 Nach M. Mendelssohn, Morgenstunden, 396 f., erschöpfe die Kategorie der Ausdehnung zwar noch den Begriff der Materie, sei aber schon für einen adäquaten Begriff vom Körper unterbestimmt, zu dem »auch noch die Form, d. i. die Bewegung sammt allen ihren Modificationen« gehört. 145 FA 4, 707. Der Satz »Deus est res extensa« will ja nicht sagen, dass Gott selbst ein ›ausgedehntes Ding‹ sei, sondern dass Gott als dem begründenden Grund aller ausgedehnten Dinge gerade nicht Ausdehnung zukommt. Herder, der diese Formulierung zunächst so missverstanden hatte, hat diese Fehlinterpretation in der 2. Aufl. der Schrift nach den Entgegnungen u. a. Jacobis korrigiert. Hier lässt er die fragwürdige Formulierung ganz aus (vgl. die von W. Pross, H II, 1057, angeführte Variante 117), und etwas später fügt Herder ein: »Nicht Gott nennet er ein Extensum, [. . .] sondern die Körperwelt [. . .] nannte er ›ein Attribut, das ein Unendliches seines Selbstbestehenden, wie die Gedankenwelt von Ihm ein andres Unendliches ausdrückt‹« (vgl. W. Pross, H II, 1058, Variante 126).

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Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie

seins«, die keinesfalls das »Wesen der Materie«146 ausmachen. Die Ausdehnung muss also als bloße Daseinsbedingung endlicher Entitäten in ihrem Nebeneinander aufgefasst werden, was sie aber ebenso wie die Kategorie der Zeit für den Gottesgedanken als völlig inadäquat erscheinen lässt. Es ist sonach für Herder nicht mehr die Frage, wie das Verhältnis von extensio und cogitatio zu bestimmen ist, sondern er modifiziert die Frage konsequent gemäß seiner Metaphysik des Endlichen dahingehend, wie sich Materie und Geist zueinander verhalten. Indem er diese Frage von der Physik und Naturkunde her zu beantworten vornimmt, bleibt er auch in Gott seinem Diktum aus den Ideen treu, dass alles andere zu einer metaphysischen Luftfahrt147 führen würde. Ziel von Herders Überlegungen ist es, über die Neufassung des Materiebegriffs eine organische Verbindung zum Geistbegriff herzustellen, welche beide Größen in ihrer substantiellen Einheit begreifen lässt, ohne die von Spinoza festgehaltene attributive Diversität beizubehalten. In diesem Sinne fragt Herder nach dem fehlenden »verbindende[n] Mittelbegriff«148 , der die Reste der cartesischen Dualität von Materie und Geist im spinozanischen System tilgen soll zugunsten eines Einheitsbegriffs. Der gesuchte Begriff muss sonach in einer doppelten Funktion stehen. Zum einen wird durch die Neubestimmung des Materiebegriffs die kategoriale Differenz zum Geistbegriff aufgehoben, unter der die attributive Differenz von Denken und Ausdehnung bei Spinoza noch steht. Zum anderen stellt sich bei dieser Umformung des spinozanischen Systems die Frage, wie Herder sich in seinem System Unendliches und Endliches vermittelt denkt. Von den »drei sinnreichen Hypothesen«149, die die Metaphysik Leibniz verdankt, – das Gesetz der Stetigkeit, das Gesetz der kleinsten Wirkung150 , sowie die Monadenlehre – hält Herder die letztere für die bedeutendste. Mit ihr knüpft er an Leibniz’ Bestimmung der Substanz als einer vis activa an und versucht damit den Hiatus zwischen Körper und Geist zu schließen. Den gesuchten Einheits- oder Mittelbegriff formuliert Herder in seiner Theorie der »organische[n] Kräfte«151 sonach in Anschluss an Leibniz’ Monadologie (1714) 152 , deren Grundbestimmungen hier kurz rekapituliert seien.

146

FA 4, 707. Vgl. FA 6, 16, sowie FA 4, 717. 148 FA 4, 707. 149 AaO. 709. 150 M. Bollacher, FA 4, 1385 nennt hier stattdessen die Lehre von der prästabilierten Harmonie, was aber angesichts Herders deutlicher Kritik an ihr eher unwahrscheinlich ist. So ist mit W. Pross, H II, 1121, stattdessen davon auszugehen, dass Herder hier das ›Gesetz der kleinsten Wirkung‹ vor Augen hat. 151 FA 4, 710. 152 Zu den Phasen und der Art von Herders Leibnizrezeption vgl. B. M. Dreike, Her147

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Der basalen positiven Bestimmung der Monade als einer »substance simple«153 korrespondieren vier negative Bestimmungen, von denen die letzten drei aus der ersten folgen: da sie »sans parties«154 ist, »il n’y a ny étendue, ny figure, ny divisibilité possible«155 . Als diese kleinsten bestehenden Elemente der Welt können sie innerhalb des Weltzusammenhangs weder entstehen noch vergehen.156 Entscheidend für Herders Anschluss an Leibniz’ Monadenkonzeption ist nun dessen Charakteristik der Monade als einer essentiell appetitiven und perzeptiven Entität.157 Dabei interessiert Herder zunächst nicht der für Leibniz zentrale individualtheoretische Aspekt158 , sondern die daraus folgende einheitliche Bestimmtheit der Welt als einer Ordnung gestuft komplexer Kraftzentren, von den unmerklichen Perzeptionen in der Materie bis hinauf zu Apperzeptionen als reflexive Kraftstrukturen der Seelenmonaden.159 Schon für Leibniz – so konnte Herder in dessen Systeme Nouveau von 1695 lesen – ist die Körperwelt unter dem Begriff einer »masse étendue« nicht hinreichend beschrieben, vielmehr muss bereits hier »la notion de la force«160 in Anwendung gebracht werden. Damit wird nach Herder durch Leibniz die kategoriale ontologische Differenz zwischen toter Materie und lebendigem Geist faktisch aufgehoben. Der Begriff einer toten Materie fällt für Herder überhaupt ganz dahin: »Sie ist nicht tot; sondern sie lebet«161. Indem Herder also an Leibniz’ Konzeption der substantiellen Kräfte unter einem einheitstheoretischen Aspekt anknüpft, nimmt er zugleich eine vom Geist des Spinozismus inspirierte Kritik an ihm vor. Auch bei Leibniz sieht er in der Durchführung der Monadologie die in ihr formulierte genuine Einsicht durch den nicht überwundenen cartesischen Dualismus verdunkelt. Denn auch für Leibniz bleibt die strikte Trennung zwischen Geist und Körper bestehen, was bei ihm eine unmittelbare Folge der Erhaltungssätze ist.162 Zwar führt die Selbstbeobachtung auf die Vorstellung einer psychophysischen Wechselwirkung, insofern einerseits psychische Regungen in der Körperwelt realisiert werden und andererseits physische Einwirkungen auf den Körper mental repräsentiert werden, aber dieser phänomenale Bestand ders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz’ Philosophie, Wiesbaden 1973. 153 G. W. Leibniz, Monadologie, § 1. 154 Ebd. 155 AaO. § 3. 156 Vgl. aaO. § 4 f. 157 Vgl. aaO. § 15. 158 Vgl. hierzu M.-T. Liske, Leibniz, 64–107. 159 Vgl. G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grace, fondés en raison, § 4 f. 160 G. W. Leibniz, System Nouveau, 2. 161 FA 4, 710. 162 Vgl. M.-T. Liske, Leibniz, 75–78.

100 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie der Selbsterfahrung muss nach Leibniz keinesfalls der ontologischen Verfasstheit der Realität entsprechen. Er unterscheidet drei mögliche Erklärungsmodelle des Verhältnisses von Körper und Geist163 : Das erste Modell ist die Theorie vom influxus physicus, wonach eine reale Interdependenz zwischen der geistigen und der materiellen Sphäre besteht. Diese Ansicht der »Philosophie vulgaire«164 wird von Leibniz zurückgewiesen, da die Gesetze des Geistes und die Gesetze der Natur jeweils autonom verfahren und nicht aufeinander einwirken oder zurückgeführt werden können. Ein Einfluss des psychischen Systems auf das physische System würde dessen kausale Ordnung durchbrechen und somit die Erhaltungssätze aufheben. Das zweite von Leibniz verworfene Modell ist mit den Namen Arnold Geulincx (1625–1669) und Nicolas Malebranche (1638–1715) verbunden: der sog. Okkasionalismus. Nach dem System der Gelegenheitsursachen kommt es zwischen Leib und Seele gar nicht mehr zu einer realen Wechselwirkung, sondern die scheinbaren Wirkungen aufeinander verdanken sich allein der gelegentlichen Einwirkung Gottes, der einem Willensentschluss eines Individuums den entsprechenden Wechsel in der Körperwelt folgen lässt sowie umgekehrt aus Anlass einer physischen Einwirkung eine korrespondierende mentale Repräsentation erzeugt. Das heißt für Leibniz, einen »Deum ex machina«165 in einen natürlichen Zusammenhang eingreifen zu lassen, mithin ist es nichts anderes als das Rekurrieren auf ein Wunder. Die Gesetzmäßigkeiten sowohl der Geistsphäre wie auch der Natursphäre werden hier also nicht durch ihren wechselseitigen Einfluss unterbrochen, sondern durch die die jeweiligen Zusammenhänge sprengende unableitbare Kausalität Gottes, was in Bezug auf die Körpersphäre wieder einer Durchbrechung der Erhaltungssätze gleich kommt. Leibniz muss sonach einen Zusammenhang von Körper und Geist suchen, der die Integrität der Gesetze des Geistes wie der Gesetze der Natur wahrt und dabei zugleich der erfahrbaren Entsprechung von körperlichen und mentalen Zuständen gerecht wird. Genau in diese Funktion rückt Leibniz seine Hypothese der »harmonie préétablie«166 ein. In dem bekannten Uhrengleichnis gesprochen: Gott hat die Pendel der beiden Uhren so kunstvoll geschaffen, dass sie, nachdem sie einmal angestoßen sind, in exakter Übereinstimmung arbeiten, ohne dass ein weiteres Eingreifen seitens des Schöpfers nötig ist. Mittels seiner Hypothese der prästabilierten Harmonie nimmt Leibniz also auf die Unverletzlichkeit von Natur- wie Geistsystem Rücksicht und setzt die erfahrene Wechselwirkung von beiden Systemen als eine bloße Erscheinung für den endlichen Geist ein, die aber tatsächlich als 163 164 165 166

Vgl. hierzu die G. W. Leibniz, Secound Éclaircssement du Nouveau Syteme, 239. AaO. 238. G. W. Leibniz, System Nouveau, 12 f. G. W. Leibniz, Dritte Erläuterung, 244.

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eine beziehungslose strikte Parallelität aus dem primären Schöpfungshandeln Gottes entspringt. In diesem Sinne ist von Leibniz der Begriff der Monade konzipiert, wenn er sie als ›fensterlos‹ apostrophiert.167 Zwischen den einzelnen Monaden findet keine reale Beziehung statt, sondern sie sind autonome, in sich geschlossene Kraftzentren, bei denen sich jegliche Veränderung allein ihrer inneren Strebestruktur wie Perzeptionen verdankt, da sie nicht extern kausiert werden können. So kann der wechselseitige Einfluss der Monaden aufeinander, sei es in Form eines lebendigen Organismus, sei es in Bezug auf den Weltzusammenhang in Gänze, nur als »influence ideale«168 vermittelt über den Gottesgedanken gedacht werden, in dem alle physischen und psychischen Bewegungen vorhergesehen und parallelisiert sind, d. h. als ein bloß scheinbares Interdependenzverhältnis. Herder kann sich dieser »so erzwungene[n] Hypothese der prästabilierten Harmonie«169 nicht anschließen. Der Hiatus von Geist und Körper bleibt mit diesem bloß ideellen Einfluss unvermindert bestehen. Der Okkasionalismus und die prästabilierte Harmonie treffen sich nach Herder darin, dass sie stets mit einer doppelten Kausalität in der phänomenalen und in der intelligiblen Welt rechnen müssen170 , deren Parallelität dann einer sekundären Erklärung bedarf – sei es in Form des je und je eingreifenden, sei es in Form des alles voraussehenden und vorausordnenden Schöpfergottes. Demgegenüber konzipiert Herder eine synthetisierende Weltauffassung, in der Körper und Geist als zwei Aspekte des einen Kräftesystems angesehen werden. Die Einführung des Kraftbegriffs in der Monadologie als des einheitlichen Prinzips in allen Arten von Substanzen wird nach Herders Dafürhalten gerade um seine Pointe gebracht, wenn diese individuellen Kraftzentren als abgeschlossene Entitäten nur vermittelst eines ideellen Einflusses aufeinander bezogen gedacht werden, während sie de facto in einer realen Differenz zueinander stehen. Wird die Welt als ein Gefüge gestuft-komplexer Kräfte aufgefasst, so kann auch die in ihr beobachtbare Parallelität zwischen Materie und Geist als reale Wechselwirkung zwischen höheren und niederen Kräften begriffen werden. In diesem krafttheoretischen, antimechanistischen Sinne hält Herder mit Leibniz (in Bezug auf die Kraftkonzeption) gegen Leibniz (in Bezug auf den bloß ideellen Einfluss) das Recht der influxus-Theorie fest: »also bestätigte sich der sogenannte physische Einfl uß, den uns allenthalben die Natur zeigt und gegen welche keine willkürliche Hypothese etwas vermag, ja eben aus seinem [sc. Leibniz’] System. Die ganze Welt Gottes wird ein Reich immaterieller Kräfte, deren

167 168 169 170

Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, § 7. AaO. § 51. FA 4, 715. Dieser Vorwurf bleibt nach Herder im Kern auch gegen Kant bestehen.

102 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie keine ohne Verbindung mit andern ist, weil eben nur aus dieser Verbindung und gegenseitigen Wirkung ihrer aller Erscheinungen und Veränderungen der Welt werden«171.

Nur vermöge des Mittelbegriffs der Kraft sieht Herder also einen einheitlichen Weltzusammenhang gewahrt, der dem beobachtbaren Nexus von Geist- und Körpersphäre gerecht wird. Für Herder ist es hier entscheidend, dass es sich um eine reale Interdependenz zwischen höheren und niederen Kräften handelt. Damit wird aber zugleich deutlich, dass er, wenn er die influxus-Theorie aufgreift, weit entfernt ist von dem cartesischen Modell, wonach die Zirbeldrüse zwischen Geist und Körper vermittelt. Dementsprechend kann auch die Charakterisierung der Kräfte als ›organische‹ nicht als ein durch die Hintertür sich einschleichender erneuter Dualismus gedeutet werden.172 Die Organe, die die Kräfte sich zubilden und in denen sie sich darstellen, sind nun nicht gleichsam wieder tote Materie, sondern selbst ein »System von Kräften, die in inniger Verbindung Einer herrschenden dienen«173. Indem so die Relate wie auch das Medium ihrer Verbindung als Kräfte in gestufter Potenz begriffen werden, ist nach Herders Dafürhalten jeglicher Dualismus – und sei er so sublim wie bei Spinoza – beseitigt zugunsten eines hierarchisch gegliederten Systems interagierender Kräfte. Indem Herder an Leibniz’ Kraftkonzept anknüpft, hebt er zugleich Spinozas Attributenlehre wie auch Leibniz’ Theorie der fensterlosen Monade auf, um so zu einem Einheitsbegriff von Welt als einem geschlossenen System sich organisierender Kräfte zu gelangen. Die Einheit der Welt wird durch einen wesensmäßigen »innern Zusammenhang«174 und nicht bloß durch ihre raumzeitliche Erscheinung garantiert. Damit erhält Herders Konzeption eine eigene Pointe gegenüber Spinozas System. Herder deutet in einem ersten Schritt die Diversität von extensio und cogitatio in die Dualität von Materie und Geist um, um dann diese Dualität in einen Kräftemonismus aufzulösen. Aus der spinozanischen Gleichursprünglichkeit und kausalen Strukturgleichheit der Attribute wird in Herders Umformung eine graduelle Differenz von höheren und niederen Kräften. 171

FA 4, 715; H. i. O. Zu der doppelten Abgrenzung mittels des Begriffs des Organischen gegen den cartesischen Dualismus wie den Materialismus vgl. Kap. I 3.3.2. 173 FA 4, 776. Herder verschränkt hier D. Humes skeptische These der Unerkennbarkeit des inneren Wesens der Kraft mit Leibniz’ Monadenlehre. Vgl. dazu M. Heinz, Existenz und Individualität, 161 f. Es ist damit auch eine Fortentwicklung gegenüber dem 5. Buch der Ideen festzustellen, wo Herder noch letzte Reste dualistischen Denkens vertrat, wenn er dort behauptet, dass »Kraft und Organ zwar innigst verbunden, nicht aber Eins und dasselbe sei. Die Materie unsres Körpers war da; aber Gestalt- und Leblos, ehe sie die organischen Kräfte bildeten und belebten« (FA 6, 173). 174 FA 4, 710. 172

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Diese krafttheoretische Dekonstruktion der spinozanischen Attributenlehre in Bezug auf den Weltbegriff wird von Herder unmittelbar für seinen Gottesbegriff fruchtbar gemacht. Hatte Spinoza gefolgert: »Ex necessitate divinae naturae, infinita infinitis modis [. . .] sequi debent«175 , und damit faktisch eine unendliche Anzahl von Attributen angenommen, deren zwei wir nur kennen, nämlich Denken und Ausdehnung, so sieht Herder das sich selbst gleiche Wesen Gottes sich in allen möglichen Darstellungsformen gleich ausdrücken: als Kraft, die sich in der phänomenalen Welt in Stufungen manifestiert.176 Herder formuliert in seinem Sinne um: »so haben wir nicht mehr zwo Eigenschaften des Denkens und der Ausdehnung zu setzen, die nichts mit einander gemein hätten: wir lassen das anstößige, unpassende Wort Eigenschaft (Attribut) überhaupt gar weg und setzen dafür, daß sich die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen offenbare«177,

und in der zweiten Auflage setzt er erläuternd hinzu: »d. i. organisch«178 . Der Reiz, den diese Theorie für Herder hat, ist offenkundig. Sie ermöglicht es ihm, die frühen Ergebnisse seiner Psychologie des Erkennens in einer metaphysischen Rahmentheorie gleichsam zu verobjektivieren. Ist sein Frühwerk dadurch gekennzeichnet, dass er von der Erfahrung des Subjekts aus in immer neuen Anläufen das entstehende und sich vergewissernde Selbst- und Weltverhältnis entwirft179, so wird nun die Psychologie des Erkennens als Darstellung der unendlichen Produktivität Gottes begriffen. Wirk-, Empfindungsund Denkkräfte sind je auf ihre Weise Manifestationen der einen »Urkraft«180 Gottes. Der gegen Spinoza in Vollzug gebrachte Mittelbegriff der Kraft steht sonach in der doppelten Funktion sowohl einen einheitlichen Weltbegriff zu garantieren, in dem die Dualität von extensio und cogitatio aufgehoben ist, als auch die Pluralität der Erscheinungen der Welt auf den Gottesbegriff beziehen zu können. Somit vermittelt der Kraftbegriff nach Herder nicht nur eine einheitliche Weltanschauung, sondern zugleich die Physik mit der Metaphysik. Die kategoriale Differenz der Bedingungsverhältnisse wird von Herder dabei eingehalten. Wie es schon bei Spinoza nicht zu einer schlichten Identifi175

B. d. Spinoza, Eth. I, prop. 16. Zu den Stufen der organischen Kräfte vgl. Kap. I 3.2. 177 FA 4, 709; H. i. O. 178 H II, 1060, Variante 131. 179 Vgl. hierzu M. Heinz, Sensualistischer Individualismus, Hamburg 1994. 180 FA 4, 710. Rein sachlich sind Herder und Kant an diesem Punkte nicht so weit voneinander entfernt, wie sie beide annahmen. Herders Urkraft, auf die alle einzelnen Kräfte zurückgeführt werden können müssen, entspricht Kants Theorie der Grundkraft als einer regulativen Idee, wie er in der Kritik der Urteilskraft § 65 dargelegt hat. Die Differenz besteht in dem bloß regulativen Charakter der Grundkraft für Kant, während Herder ihr eine Konstitutionsfunktion zumisst. 176

104 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie kation von Gott und Welt kommt, so beschreibt auch Herder das Verhältnis von der Urkraft zu den Kräften differenziert. Gemäß dem zum Substanzbegriff Ausgeführten wird von Herder auch der Gottesbegriff als Urkraft in seiner doppelten Bezogenheit als Beziehungsund Unterscheidungsgrund zur Welt der Kräfte exponiert. Die Welt wie alle in ihr befindlichen »beschränkten und zusammengesetzten System[e] der Kräfte«181 sind durch einen unendlichen Wechselwirkungszusammenhang gekennzeichnet. Innerhalb desselben gibt es differenzierte Grade an Vollkommenheit bzw. Komplexität der Kräfte von niederen bis zu höheren, wie es sich in den Stufen der »Salze, Pflanzen, Tiere und Menschen«182 ausdrückt. Indem Herder Gott als Urkraft bzw. die »Kraft aller Kräfte«183 fasst, so will er damit keine bloß quantitative Differenz in den Vollkommenheitsgraden zwischen den Kräften der Welt und der ewigen Urkraft aufmachen. Die Differenz ist vielmehr qualitativer Natur, wie er durch eine doppelte Abgrenzung verdeutlicht. So ist zum einen keine Kraft der Welt ein Teil der Urkraft Gottes, so als ob also die Urkraft gleichsam aus den unzähligen Kräften zusammengesetzt wäre: »kein Teil der Welt kann [. . .] ein Teil Gottes sein, weil das einfache höchste Wesen durchaus keine Teile hat«184 . Als der gründende Grund aller in der Welt wirkenden Kräfte kann die Urkraft aber zum anderen auch nicht – und sei es auch auf eminente Weise – auf derselben Ebene liegen wie diese Kräfte. Dementsprechend betont Herder: »Gott ist nicht ein Höchstes auf einer Stufenleiter von Seinesgleichen«185 . Würde Herder die Differenz zwischen den Kräften der Welt und der Urkraft wirklich »nur noch in unterschiedlichen Vollkommenheitsgraden«186 erblicken, so würde er damit den Gottesbegriff wieder auf den Weltbegriff reduzieren und somit seine prononcierte Deutung von Spinozas Substanzkategorie als Durchsichselbstsein im oben dargestellten Sinne konterkarieren. 181

FA 4, 722. AaO. 737. 183 AaO. 728. 184 AaO. 713. Im Hintergrund steht die Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Samuel Clarke über Newtons Deutung des Raumes als sensorium Dei. Clarke verteidigt Newton gegen den Vorwurf von Leibniz, dass diese Vorstellung vom Raum auf eine Teilbarkeit Gottes hinauslaufe. Der unendliche Raum gehe vielmehr aller Teilbarkeit voraus und sei als ein solcher gerade selbst nicht teilbar. Dass Herder dieser Streit bekannt war, belegt Herders Notiz in dem von G. Arnold aus dem Nachlass herausgegebenen Exzerpt; vgl. G. Arnold, Zur Leibniz-Rezeption Herders: das biographische Exzerpt HN XXVIII, 17, 1–7r, 321.334. Zur Debatte zwischen Leibniz und Clarke vgl. A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 211–245, sowie W. Pannenberg, Theologie der Schöpfung und Naturwissenschaft, 36–39. 185 FA 4, 771. 186 So E. Herms, »Gott«. Herders Philosophie des Geistes, 65. 182

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Die Urkraft als die Kraft in allen Kräften wird in ihrer Unterschiedenheit zu den Kräften in ihrer Pluralität bestimmt. Als solche ist sie reine Aktuosität. Gott als der »wesentlich-Wirksame«187 ist im Unterschied zu den Kräften der Welt unbedingt und keinen raumzeitlichen Grenzen unterworfen. Von der höchsten Ursache, die selbst keinem Wechselwirkungszusammenhang unterliegt, kann nur gesagt werden »sie ist, sie wirket; aber mit diesem Worte sagen wir alles«188 . Damit wird der Gottesgedanke im Unterschied zum Weltbegriff in folgender Weise von Herder verortet: Während die Welt eine Totalität der miteinander interagierenden und einander widerstrebenden Kräfte darstellt, ist Gott als die Urkraft in seinem reellen Sein, insofern er also gründender Grund der Kräfte ist, die Einheit, in der jene widerstrebenden Kräfte aufgehoben sind.189 Die im Weltbegriff liegende Pluralität und Widersprüchlichkeit kann nach Herder nur im Gottesbegriff als letzter Einheit aufgehoben gedacht werden. Wie zuvor nur Gott als Substanz bezeichnet werden kann, so ist im Vollsinne auch nur von Gott zu sagen, dass er Kraft ist.190 Wie ist dann aber der doppelte Unendlichkeitsbegriff zu verstehen, wonach Gott sich »in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen offenbare«191? In dem Begriff der Unendlichkeit der Kräfte verschränkt Herder Spinozas Theorie von der anfangslosen immanenten Kausalität Gottes mit Leibniz Theorie von der Unzerstörbarkeit der Monade192 . Demnach kann keine Kraft in der Natur jemals vergehen, und sie ist insofern endlos. Die unendlichen Weisen spielen demgegenüber auf die unendlich differenzierten Erscheinungen der Kräfte in der Welt an – von dem Mineral bis zum sich selbst bewussten Leben. Diese doppelte Unendlichkeit steht aber unter raum-zeitlichen Bedingungen, also unter Bedingungen der Endlichkeit, die von der Ewigkeit Gottes, die diese Unendlichkeit bedingt, unterschieden werden muss. Wenn Herder diese kategoriale Differenz wie beschrieben einschärft, stellt sich die Frage, wie er andererseits die auszusagende Bezogenheit von unbedingter Urkraft und bedingten Kräften zur Darstellung bringt. Indem Herder die Attribute in den Kraftbegriff auflöst, stellt sich ihm die Vermittlung 187

FA 4, 734. Ebd. H. i. O. 189 Vgl. dazu E. Erdmann, Herder als Religions-Philosoph, 94: »Gott und Welt sind eine Totalität; diese Totalität in Form realer Vielheit gesetzt, ist die Welt; dieselbe in Form der Einheit betrachtet, ist Gott«. Diese Gedankenfigur wird von F. Schleiermacher in seiner Vorlesung über Dialektik, 303, von 1822 so auf den Begriff gebracht, dass die Idee der Welt die »Einheit mit Einschluß aller Gegensätze« darstellt, während die Idee Gottes als »Einheit mit Ausschluß aller Gegensätze« gedacht werden müsse. 190 Vgl. FA 4, 710. 191 AaO. 709. 192 Vgl. G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grace § 2, sowie Monadologie §§ 3 f. 188

106 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie von Endlichem und Unendlichem unter krafttheoretischer Perspektive erneut. Dabei gilt für Herder dasselbe, was oben für Spinoza festgehalten worden ist: Herder geht es nicht darum, das Endliche aus dem Unendlichen abzuleiten. Das Endliche als Endliches ist ihm Faktum. In diesem Sinne ist auch die von ihm selbst vorgenommene Einschränkung der explikativen Weite des Kraftbegriffs zu verstehen, die in hermeneutischer Perspektive wieder entschränkt wird193 : Herder will mittels des Kraftbegriffs nicht erklären, »wie die göttliche Kraft etwas hervorgebracht habe und sich jedem Dinge nach seiner Weise mitteile«194 , sondern wie unter dem Faktum des Endlichen die Immanenz des Unendlichen zu verstehen ist. Dem entspricht die sonst in Herders Schriften kaum zu findende Hochschätzung des reinen Begriffs.195 Wo der Mensch sich verstehend in der Welt orientiert, da muss er nach Herder die Immanenz auf den Gottesgedanken hin transzendieren. Der Überstieg von den »Bildern der Einbildungskraft zu dem reinen Begriff, der alles Raum- und Zeitenmaß ausschließt«196 , ist für Herder überhaupt die Möglichkeitsbedingung, einen dem intendierten Gehalt nach adäquaten Gottesgedanken, d. h. unter Einschluss von dessen Verhältnis zum Weltbegriff, auszubilden. »Verstandne Begriffe«, hält Herder in Anschluss an Spinoza fest, sind »das Wesenhafte, Lebendige, Wahre«197. Der Kraftbegriff ist nach Herder so ein verstandener Begriff. Wie vermitteln sich in ihm nun Endliches und Unendliches? Herder unterscheidet zwischen einer weltlichen und einer wesensmäßigen, essentiellen Unendlichkeit, womit er sachlich auf Spinozas Theorie der immanenten Kausalität rekurriert. Gott als causa sui muss, wie oben dargelegt, zugleich als causa omnium rerum gedacht werden. Das Endliche ist demnach als Endliches in einer doppelten Weise kausiert. Einmal durch Gott, sodann aber auch durch anderes Endliches. Als dieses Endliche steht es in einem unendlichen raum-zeitlichen Verweisungszusammenhang, da, so Herder, »nach Ort und Zeit keine zwei Erscheinungen Dieselben sein können«198 . Die raum-zeitliche Stellenbestimmtheit zweier Entitäten führt schon an sich qua ihrer Relationiertheit zu einer Differenz, die sich im Weltgefüge durch die Bezogenheit auf andere Entitäten unendlich iteriert. In diesem Sinne ist die Welt als solche in ihrer Dauer, wie aus der anfangslosen Tätigkeit Gottes folgt, ein »symbolisches Bild der Ewigkeit«199. 193

Vgl. FA 4, 716, 23 f.; 757, 5 f. AaO. 704, 10. 195 Vgl. pars pro toto aaO. 713, 21; 722, 3; 746, 2. 196 AaO. 713. 197 H II, 1105; H. i. O. Zu der hierin liegenden Korrespondenz von Ontologie und Epistemologie vgl. Kap. II 3.3.2. 198 FA 4, 711. 199 AaO. 713. 194

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Von dieser uneigentlichen Ewigkeit, in der Endliches in Bezogenheit auf Endliches in einem unendlichen Verweisungszusammenhang steht, bzw. von der Endlosigkeit von Raum und Zeit als notwendige Folgen Gottes, unterscheidet Herder also die eigentliche, essentielle Ewigkeit, die das Wesen einer jeden endlichen Kraft ausmacht unbezüglich auf ihr Verhältnis zu anderen Kräften. Hatte ich oben deutlich gemacht, wie Herder im Substanzbegriff die unveräußerliche Differenz von Gottes- und Weltbegriff mit Spinoza festhalten will 200 , so wird nun das Theorem der immanenten Kausalität für die Erfahrung des Unendlichen im Endlichen, mithin der Bezug auf ihre Identität, der sich in der abbreviativen Formel ›Deus sive Natura‹ niederschlägt, von Herder fruchtbar gemacht. Wie gesehen unterliegt jedes Ding nach Spinoza einer doppelten Kausalität. In ihrer endlichen Bestimmtheit unterliegt es dem Kausalnexus der endlichen Sphäre. Insofern Gott aber nicht nur die »causa efficiens rerum existentiae« ist, »sed etiam essentiae«201, sind die Dinge wesentlich durch die ewige Aktuosität und Wirksamkeit Gottes am Orte des Endlichen bestimmt. Dass jeder endliche Modus essentiell auch Ursache ist, verdankt sich nicht den anderen endlichen Modi, sondern »der Kausalität Gottes, als dessen Modifikation er eine ewige Essenz ist«202 . Die Unterschiedenheit von endlicher und ewiger Sphäre hält Spinoza dabei so aufrecht, dass das Endliche auch in seinem essentiell ewigen Charakter qua seiner doppelten Relationiertheit niemals causa sui sein kann, welche Bestimmung dem Gottesgedanken vorbehalten bleibt. An diesen essentiell ewigen Charakter jedes Endlichen knüpft Herder an, wenn er nach dem Unendlichen fragt, das »in jeder Naturkraft selbst«203 liegt. Jedes Wesen richtet seine Wirksamkeit wesentlich darauf aus, sich »erhalten und fortpflanzen«204 zu wollen. Gerade in dem Phänomen der Generation erblickt Herder »das Wunder einer eingepflanzten, einwohnenden Macht der Gottheit, die sich [. . .] in das Wesen jeder Organisation gleichsam selbst beschränkt hat«205 . Damit erweist sich rückblickend bereits Herders erste basale Bestimmung der Humanität als Selbst- und Arterhaltung als aus seiner Spinozainterpretation folgend.206 Die jedem Wesen inhärierende Strebestruktur – Spinozas Begriff ist hier der des conatus – geht zunächst primär darauf aus, »in suo esse perseverare«207. Humanität ist als die spezifische Selbsterhaltungsform des 200 201 202 203 204 205 206 207

Vgl. Kap. II 3.1.2. Eth. I prop. 25. W. Bartuschat, Spinoza, 81. FA 4, 712. Ebd. Ebd. Vgl. Kap. I 3.3.4 b). Eth. III, prop. 6.

108 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Menschen im Modus der Kultur der Ausdruck dieser universellen, sich der essentiellen Verbundenheit von Endlichem und Ewigem verdankenden conatus-Struktur. Der Mensch, sofern er sich strebend in seinem Dasein zu erhalten sucht, partizipiert an der ewigen Aktuosität Gottes unter endlichen Bedingungen. Selbsterhaltung und Fortpflanzung sind nach Herder die vitalistischen Darstellungsformen der unendlichen Produktivität Gottes. Damit wird von Herder die spinozanische conatus-Stuktur zugleich unter krafttheoretischem Aspekt mit der leibnizschen appetitiven Perzeptivitätsstruktur der Monade verschränkt. Sonach stehen die wirkenden Kräfte in einer Ausdrucksrelation zu Gott als der ewigen Urkraft: »Ohn’ ihn entstand keine derselben, ohn’ ihn wirkt keine derselben und alle im innigsten Zusammenhange drucken in jeder Beschränkung, Form und Erscheinung sein selbstständiges Wesen aus, durch welches auch sie bestehen und wirken.«208 Gott wird von Herder mithin als der bleibend wirksame Grund jeder Kraft begriffen bzw. alle endlichen Dinge sind ihrem Wesen – oder mit dem spinozanischen Ausdruck: ihrer Essenz – nach »Darstellungen«209 der der Welt immanenten göttlichen Urkraft unter endlichen Bedingungen.210 Insofern unter dieser Perspektive alles Endliche sub specie aeternitatis – nämlich in Bezug auf den der Endlichkeit essentiell inhärierenden Ewigkeitsbezug – betrachtet werden kann, kann Herder auch der Grundintention der Physikotheologien zustimmen.211 Das Unzureichende bestehe allein in der Partikularität ihrer Beobachtungen, die unmittelbar auf die Absichten Gottes bezogen werden. Damit ist ein weiterer zentraler Aspekt anvisiert, unter dem Herder die Immanenz Gottes in der Welt denkt. Die essentielle Anwesenheit Gottes in der 208

FA 4, 710. AaO. 725. 210 Herder nimmt Spinoza somit als Anwalt gegen die sich aus theologischen Bezügen ablösende mechanistische Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts im Gefolge von Newton und Laplace. Die Entdeckung des Trägheitsprinzips durch Descartes führte letztlich zu einer Weltdeutung, die eines Bezugs auf Gott zur Erklärung von Veränderung in der Welt nicht mehr bedurfte. Der Rekurs auf Spinoza ermöglicht es Herder, die Eigengesetzlichkeit der Welt als Ausdruck Gottes zu begreifen und sie so zusammenzuhalten. Analog dazu ist die Selbsterhaltung als Ausdruck der Aktuosität Gottes und in diesem spezifischen Sinne zugleich dialektisch als Fremderhaltung zu begreifen. Dass beides für Newton wie Laplace selbst noch nicht auseinander gefallen war, sah schon Herder, der sie deshalb in seiner Adrastea zustimmend erwähnt; vgl. FA 10, 490–497. Zu der Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes sowie seiner theologischen Bearbeitung vgl. W. Pannenberg, Gott und die Natur. Zur Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 11–29. Zu der Frage nach dem Verhältnis von Selbst- und Fremderhaltung in der Neuzeit vgl. die Debatte zwischen H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, 144–207, und D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, 84–108, sowie dessen Nachlese in »Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung«, 109–130. 211 Vgl. FA 4, 737 f. 209

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Wirksamkeit endlicher Entitäten realisiert sich in der Form von »ewigen Gesetzen«212 . Gerade die Gesetzmäßigkeit des Weltzusammenhangs im Ganzen wie im kleinsten Teil desselben trägt für Herder das Signum der Göttlichkeit. An diesem Punkt zeigt sich die tiefste und weitestreichende Konsequenz aus Herders Desavouierung der Attributenlehre Spinozas, nämlich in Bezug auf die Erkenntnistheorie. Denn die Auflösung der attributiven Differenz zwischen Körper- und Geistsphäre führt in der Konsequenz auch zu einer Auflösung der Differenz der beiden von Spinoza benannten Formen adäquater Erkenntnis: der rationalen und der intuitiven. Der beide Erkenntnisformen für Herder miteinander vermittelnde Begriff ist der der Notwendigkeit. Wie gestaltet sich dieser Zusammenhang im Einzelnen? Spinoza unterscheidet drei Formen der Erkenntnis. 213 Neben die beiden genannten Formen adäquater Erkenntnis tritt noch die inadäquate Erkenntnis der imaginatio. Die imaginatio wird von Spinoza insofern als inadäquat qualifiziert, als sie ihre Erkenntnisse aus den zufälligen Körperaffektionen ableitet. Der daraus sich generierende Weltbegriff verdankt sich so dem akzidentiellen Zusammenhang eigener Lebenserfahrung, versteht aber die Dinge nicht aus ihrer wahren Ursache. Da der Geist auf diese Weise in seinen Ideen, die er vermittelst der Affektionen bildet, von Äußerem – und das heißt von kontingenter Erfahrung – abhängig bleibt, ist die auf diesem Wege gewonnene Erkenntnis grundsätzlich inadäquat. 214 Die adäquate Erkenntnis emanzipiert sich demgegenüber von solchem kontingenten Erfahrungswissen, indem sie nach dem Gemeinsamen fragt, welches gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist.215 Dies vollzieht sie in zweifacher Hinsicht: einmal in Bezug auf die strukturelle Allgemeinheit und einmal in Bezug auf den essentiellen Charakter eines jeden Dings. Die Erkenntnis des Allgemeinen erfolgt durch die ratio, die die Dinge als Modi, d. h. in ihrer Partikularität als Teile der unendlichen Modi begreift.216 Als solche werden sie in der rationalen Erkenntnis zwar nicht in ihrer Individualität, aber in ihrer Allgemeinheit, d. h. im Unterschied zur inadäquaten Erkenntnis nicht in ihrer Zufälligkeit, sondern in ihrer Notwendigkeit begriffen. Dieser Rekurs auf die Allgemeinheit der Modi stellt sich gemäß der sich in den unendlichen Modi abbildenden attributiven Dualität von extensio und cogitatio auf verschiedene Weise dar. In der Körpersphäre 212

AaO. 712. Vgl. das Schema in Eth. II, prop. 40, schol. II. Zu Spinozas Epistemologie vgl. W. Bartuschat, Spinoza, 84–104. 214 Vgl. Eth. II, prop. 27. 215 Vgl. Eth. II, prop. 38: »Illa, quae omnibus communia, quaeque aeque in parte, ac in toto sunt, non possunt concipi, nisi adaequate.« 216 Vgl. zu Spinozas Theorie der unendlichen Modi Eth. I, prop. 21–23, sowie dazu W. Bartuschat, Spinoza, 74–79. 213

110 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie wird diese Allgemeinheit als eine aus Bewegung und Ruhe folgende Gesetzmäßigkeit begriffen 217, der in der Sphäre des Geistes die Bildung der »notiones communes«218 entspricht, die für die Menschen universal in Geltung stehen. 219 Die rationale Erkenntnis hat aber als Erkenntnis des Allgemeinen den Mangel an sich, dass in ihr nicht das Einzelne in seiner Individualität vorstellig wird. Dieser Mangel wird nach Spinoza allein von der scientia intuitiva als der dritten Art der Erkenntnis kompensiert. In ihr und nur in ihr wird das Einzelne als Einzelnes in seiner Essenz adäquat erkannt, nämlich insofern in ihr Gott als dessen Ursache begriffen wird. Die intuitive Erkenntnis hat also weder die zufällige Erkenntnis aus den Körperaffektionen noch die auf die unendlichen Modi bezogene adäquate Erkenntnis von Allgemeinbegriffen zum Gegenstand, sondern Gott als die Ursache eines singulären Gegenstandes in seiner Essenz. In ihr erkennt der menschliche Geist die endlichen Dinge als das, was sie ontologisch immer schon sind: als ewige Modi qua ihrer Essentialität. Im Unterschied zur rationalen Erkenntnis ist in ihr Gott nicht als Ursache von Allgemeinheit vorstellig, sondern als Ursache eines Einzelnen in seiner Individualität. Im menschlichen Geist realisiert sich dies in Form einer wissenden Selbstbeziehung. 220 Da Herder, wie gesehen, die attributive Differenz von extensionaler und cogitionaler Sphäre im Sinne einer strikt monistischen Konzeption zurücknimmt, ist zu vermuten, dass in der Folge davon auch Spinozas Theorie der unendlichen Modi für Herder hinfällig wird, was die weitere Folge nach sich ziehen müsste, dass für Herder die kategoriale Differenz der adäquaten Erkenntnisarten ihrer Grundlage entzogen wird. Diese Vermutung spiegelt sich in der Tat im Textbefund wider, ohne dass Herder selbst explizit auf diesen grundlegenden Eingriff in die Komposition der spinozanischen Systematik reflektieren würde. Folgendes Zitat mag diese Umformung belegen: Die Welt, die aus Gott als ihrer essentiellen »Ursache« begriffen wird, offenbart »in jedem Punkt, im Wesen jedes Dinges und seiner Eigenschaften, wenn ich so sagen darf, den ganzen Gott [. . .], wie er nämlich in dieser Hülle, in diesem Punkt des Raumes und der Zeit sichtbar und energisch werden konnte; [. . .] d. i. welche Kräfte der Natur und nach welchen Gesetzen sie in diesem oder jenem Organ wirken«221. 217 Die hier anschließbare Theorie physikalischer Gesetze wird von Spinoza unter seiner ethischen Leitperspektive nicht weiter ausgeführt. Wir werden sehen, wie Herder an dieser Stelle auf die Konkretion dieser Gesetze drängt, allerdings in einer Verschränkung von physikalischer und moralischer Sphäre. 218 Eth. II, prop. 40, schol. II. 219 Vgl. W. Bartuschat, Spinoza, 95. 220 Zu der hieraus folgenden Theorie des amor Dei intellectualis und Herders Anknüpfung daran vgl. Kap. II 3.3.2. 221 FA 4, 733; Hervorhebungen C. C. Vgl. im selben Sinne pars pro toto: FA 4, 712; 723; 736.

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Während der Gedanke von Gott als der Ursache des Wesens bzw. der Essenz eines jeden einzelnen Dings Spinozas intuitiver Erkenntnis folgt, knüpft der Rekurs auf die Gesetzmäßigkeit, der diese Immanenz des Ewigen im Endlichen erläutert, an Spinozas rationalen Erkenntnistypus an. Die Gesetzmäßigkeit, die sich bei Spinoza über die unendlichen Modi vermittelt, wird von Herder direkt auf Gott als die Ursache der Essenz der Dinge bezogen. Daraus folgt, dass die Essenz der Dinge selbst gesetzlich verfasst ist, weil diese aus den ewigen Gesetzen des Wesens Gottes folgt. Gott als die Urkraft ist in den Kräften der Welt nicht bloß gemäß ihrer Wirksamkeit präsent, sondern dem Vollbegriff nach erst in der Gesetzmäßigkeit jener Wirksamkeit: »Jedes seiner Gesetze ist das Wesen der Dinge selbst«222 . Die Wesenserkenntnis ist sonach die Erkenntnis des Wesens eines einzelnen Dings in seiner Gesetzmäßigkeit und darin zugleich Erkenntnis Gottes, insofern die Gesetze Darstellungen des göttlichen Wesens sind. Auf diese Weise kann Herder »in jedem Gegenstande und Punkt der Schöpfung den ganzen Gott« anschauen, »d. i. in jedem Dinge eine ihm wesentliche Wahrheit, Harmonie und Schönheit, [. . .] auf welche also seine Existenz mit innerer, zwar einer bedingten aber dennoch in ihrer Art eben so wesentlichen Notwendigkeit gegründet ist, als auf welcher unbedingt das Dasein Gottes ruhet. Eben die Abhängigkeit der Dinge von Gott macht ihre Wesen zu notwendigen Ebenbildern seiner Güte und Schönheit, wie sich diese nur in solcher und keiner andern Erscheinung offenbaren konnte«223.

Was dies für die Reichweite von Herders Individualitätskonzeption bedeutet, werden wir noch sehen 224 , aber soviel bis hierher: Individualität wird von Herder nicht als eine Exklusivitäts- bzw. Privationskategorie konzipiert, sondern wird als Realisation des Allgemeinen unter gegebenen Bedingungen begriffen. Individualität stellt das Absolute am Orte des Endlichen dar und zwar in seiner Notwendigkeit. Als solches ist jedes Ding »durch die vollkommenste Individualität bestimmt und mit ihr umschränket: weder im Ganzen der Welt, noch in ihrem kleinsten Teile ist also Zufall«225 . Von hier aus wird auch noch einmal deutlich, warum Herder die neue naturwissenschaftliche Forschung so hoch schätzt. Sie ist für ihn nicht der Inbegriff einer transzendenzlosen Weltanschauung, sondern gerade in ihrem Rekurs auf Gesetzlichkeit öffnet sie ihm die Fenster zur Ewigkeit Gottes. »Jedes gefundene wahre Naturgesetz«, so Herder, ist »eine gefundene Regel des ewigen göttlichen Verstandes, der nur Wahrheit sehen, nur Wirklichkeit wirken konnte«226 . Die Dinge sub

222 223 224 225 226

AaO. 735. AaO. 736 f.; H. i. O. Vgl. Kap. II 3.3.2. FA 4, 734. AaO. 738.

112 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie specie aeternitatis anzuschauen, heißt für Herder sie in ihrer Notwendigkeit anzuschauen. Damit kann zu Herders Bestimmung von Gott als Kraft zusammenfassend festgehalten werden: Gott wird von Herder als alles bestimmende Wirklichkeit begriffen. Alles bestimmend gerade insofern, als es keinen Gegenstand der Welt gibt, der aus der Notwendigkeit Gottes herausfallen könnte. Diese Notwendigkeit als Gesetzmäßigkeit begriffen eignet der Welt in ihrer Totalität wie auch in ihrem kleinsten Teile. In diesem Sinne deutet Herder auch den Topos der omnipotentia Dei: »wir sind mit Allmacht umgeben, wir schwimmen in einem Ozean der Allmacht, so daß jenes alte Gleichnis immer wahr bleibet: ›die Gottheit sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt allenthalben, dessen Umkreis nirgend ist‹«227. Wie Luther in der von Herder hoch geschätzten Schrift De servo arbitrio, versteht Herder die Allmacht Gottes also nicht nur als potentielles Sein, wonach Gott alles tun könnte, wenn er wollte, sondern als sich realisierendes aktuales Sein. 228 Die Kräfte in ihrer gesetzmäßigen Wirksamkeit sind Herder gerade in ihrer Gesetzmäßigkeit Ausdruck der Urkraft Gottes, die insofern wieder in ihnen angeschaut werden kann. Alles Endliche steht so qua seiner Gesetzlichkeit in Bezug auf das Unendliche in einem Verhältnis der Symbolisierung. 229 Indem Herder Gott als Kraft begreift, ist es ihm einerseits möglich, den Zusammenhang mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild herzustellen und dabei gleichzeitig dem Gottesgedanken als wesentliche Tätigkeit gerecht zu werden. Gott als Kraft zu denken besagt ja nichts anderes, als dass das Sein Gottes nicht in bloßer Potentialität liegt, sondern wesentlich semper actuositas ist. Bevor ich mich der weiteren Vertiefung des Gottesgedankens zum Geist hin zuwende, muss noch ein kurzer Blick auf die zweite Auflage von Herders Gott geworfen werden, da Herder die Schrift passagenweise umgearbeitet hat. Darin ist eine Reaktion auf die Kritik zu sehen, die er für die erste Auflage bekommen hat. Es steht zur Frage, ob Herder durch die Anfragen sein Verständnis von Spinoza in Hinsicht auf die krafttheoretische Fundierung grundlegend revidiert hat.

227

AaO. 712 f. Vgl. M. Luther, De servo arbitrio, 718 : »Omnipotentiam vero Dei voco, non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus, quo modo scriptura vocat eum omnipotentem«. Zur Bedeutung von Luther in Herders Werk vgl. G. Arnold, Luther im Schaffen Herders, 225–274. Zu Luthers Deutung der Alleinwirksamkeit Gottes und der sich daraus ergebenden Verhältnisbestimmung zur Philosophie Spinozas vgl. R. Malter, Das reformatorische Denken und die Philosophie, 189–200 sowie 238. 229 Dementsprechend sind die Naturgesetze nach Herder, FA 4, 762, die »ausdrückende[n] Symbole der höchsten Wirklichkeit«. 228

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3.2.2 Kritik am Mittelbegriff der Kraft? Ein Vergleich der beiden Auflagen der Spinozaschrift von 1787 und 1800 zeigt eine Reihe von Veränderungen auf. 230 Während der Großteil der Varianten rein kosmetischer Natur ist und den Text nur sprachlich verbessert, sind aber auch einige wenige, aber darum umso auffallendere inhaltliche Veränderungen zu verzeichnen. Nach dem zuletzt Ausgeführten muss besonders eine Veränderung ins Auge fallen, die – so weit ich sehe – in der Forschung bisher keine Beachtung gefunden hat. Wir sahen, dass Herder mit seiner Theorie wirkender Kräfte einen ›Mittelbegriff‹ seinem System zugrunde legt, der die attributive Dualität der spinozanischen Substanz in ihre letzte Einheit aufheben will. Hat in dieser Weise der Kraftbegriff als Mittelbegriff die Funktion, die monistische, antidualistische Konzeption metaphysisch zu fundieren, so muss die Frage gestellt werden, ob Herder diese Konzeption in der zweiten Auflage grundsätzlich in Frage stellt, wenn er alle vier Stellen, die explizit vom »Mittelbegriff« sprechen, eliminiert. 231 Sollte Herder gar, etwa bewogen durch die Kritik Kants, zu einer dualistischen Konzeption zurückkehren? Es ist anzunehmen, dass dieser Eingriff in den Textbestand der ersten Auflage durch Anfragen und Kritik an Herders Gott evoziert worden ist. Welche Kritik wurde also nach der Veröffentlichung seiner Stellungnahme zum Spinozastreit laut und wie verarbeitet Herder diese in der dreizehn Jahre später erscheinenden zweiten Auflage? Die erste genauere Überprüfung von Herders Gott nimmt Karl Heinrich Heydenreich in seiner 1789 veröffentlichen Abhandlung Natur und Gott nach Spinoza vor.232 Während Heydenreich Herders Rekonstruktion des spinozanischen Substanzbegriffs grundsätzlich zustimmt 233 , sieht er sowohl Herders These, bei Spinoza würden noch Reste des alten Dualismus nachwirken, wie auch seinen Lösungsvorschlag als verfehlt an. Wenn Herder glaube, so Heydenreich, »daß der Hauptfehler von Spinozas Systeme darinn bestehe, daß er dem Kartesianischen Dualismus treu geblieben sey, und demselben durch Einschiebung des Begriffes substantieller Kräfte abhelfen will, so glaube ich, daß er im ersten Falle Spinoza’n Unrecht thut, im zweyten ihm durch eine sehr unsichre Stütze zu Hülfe kommt«234. 230

W. Pross führt insgesamt 581 Varianten auf, vgl. H II, 1044–1116. Vgl. SWS 16, 447 f. Anm. 7; 451 Anm. 1; 453 Anm. 3; 459 Anm. 5 bzw. die entsprechenden Varianten nach W. Pross H II, 1058, Variante 121; H II, 1059, Variante 128; H II, 1060, Variante 139; H II, 1062, Variante 169. 232 Zu Heydenreich vgl. H. Timm, Gott und die Freiheit, 239–241, sowie H.-J. Gawoll, Karl Heinrich Heydenreich: Spinozismus als Metaphysik und Vernunftglaube, 407–428. 233 Vgl. K. H. Heydenreich, Natur und Gott nach Spinoza, 211. 234 AaO. 215 f. 231

114 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Mit anderen Worten: Heydenreich greift die Herdersche Grundkonzeption im Kern an. Er erkennt, dass Herders Argument maßgeblich über die begriffliche Neufassung des Materiebegriffs argumentiert und hält dagegen fest: »Die Materie ist [. . .] nach unserm Weltweisen keinesweges ein unthätiger Klumpen, nicht ein leeres todtes Vehikel, wozu noch Kraft hinzukommen muß, damit es wirke; sie ist unaufhörlich wirksam im Schaffen, Verwandeln und Erhalten«235 . Mit dem Terminus der Ausdehnung habe Spinoza nur den unterscheidenden Charakter vom Denken bezeichnen wollen, die beide aber essentiell dasselbe Wesen ausdrücken. Insofern sei der Dualismusvorwurf von Spinoza grundsätzlich fernzuhalten: »Spinoza war schlechterdings nicht Dualist; Materie und Gedanken waren bey ihm ein und dasselbe Wesen; so wie das unendliche Wesen sich in der Ausdehnung auf unendliche Weise entwickelt und ausdrückt, so verbreitet sich auch sein Selbstgefühl zugleich und in demselben Maaße«236 .

Insofern Materie und Gedanke Eigenschaften der Substanz sind, ist diese in ihren beiden Attributen immer schon unaufhörlich – und zwar identisch – tätig. D. h. nun aber, dass Spinoza im Gegensatz zu Herders Deutung »gar keinen Mittelbegrif, gar kein Prinzip weiter um die Wirkungen der Körper und Geister zu erklären«237 bedarf. Hier wird also die einheitliche Tätigkeit der Substanz in beiden Attributen als die Lösung der Frage nach Einheit im Sinne Spinozas angeführt, die eine Zusatzannahme wie die der Kraft als Prinzip der Synthese obsolet mache. Dass die Substanz in beiden Attributen auf dieselbe Weise kausal tätig ist, nimmt bei Spinoza selbst – so Heydenreich – exakt die Funktion ein, die Herder erst dem von ihm eingeführten Kraftbegriff zuspricht. Heydenreich erklärt Herders Mittelbegriff somit schlicht und ergreifend für überflüssig, da in Gottes tätigem Wesen jene Einheit nach Spinoza immer schon vorausgesetzt sei. Den von Herder gesuchten Einheitsbegriff erblickt Heydenreich in dem spinozanischen Begriff der Macht (potentia) bereits gegeben. Die Kritik, die Herder in der ersten Auflage gegenüber dem Macht-Begriff anführt, dass Spinoza in seiner konsequenten Anwendung von selbst auf den Begriff von Kräften hätte kommen müssen 238 , wird von Heydenreich zurückgewiesen. Ohne eine langwierige Diskussion hält er Herder im Rekurs auf Eth. II, prop. 3, schol. entgegen: »Dei potentia nihil est, nisi actuosa eius essentia«239. Die Macht als Wesenheit Gottes werde von Spinoza 235

AaO. 219. AaO. 220. 237 AaO. 221. 238 Vgl. FA 4, 728. 239 K. H. Heydenreich, Natur und Gott nach Spinoza, 224. In der von Heydenreich angeführten Stelle bezieht sich Spinoza auf Eth. I, prop. 34 zurück: »Dei potentia est ipsa ipsius essentia«. 236

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also gerade als reine Aktuosität gedacht und zwar auf identische Weise unter beiden Attributen. Jacobi setzt sich in den Beilagen IV und V in der zweiten Auflage seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza von 1789 mit Herders Gott und der darin von Herder an ihm geübten Kritik explizit auseinander. Hatte Herders langjähriger Freund Karl Ludwig von Knebel nach Erhalt der ersten Auflage noch an Herder geschrieben: »Ich glaube, daß auch Jacobi mit Ihnen zufrieden sein kann. Wenigstens haben Sie ihm durch den Wald Licht gehauen, worinnen er herumirrt«240 , so hatte sich diese – wohl eher als unrealistisch zu bezeichnende – Hoffnung Knebels mit Erscheinen von Jacobis Beilagen zu Herders Gott offenkundig zerschlagen. Jacobi bestreitet in ihnen, dass es möglich ist, das Konstrukt »eines Mittelsystems zwischen Theismus und Spinozismus«241 konsistent zu denken. In der V. Beilage greift er sodann die Kritik Heydenreichs auf. 242 Nachdem Jacobi auf dieselbe Passage wie Heydenreich rekurriert, in der Herder behauptet hatte, Spinoza hätte aus dem Machtbegriff folgerichtig sich den Begriff der Kräfte entwickeln müssen, stellt er ironisch die Frage, ob »denn wenigstens dieses richtig« sei, »daß Spinoza bei Spinoza auf halbem Wege stehen blieb, und den Knäuel Spinozistischer Ideen sich nicht ganz enntwirrte«243. Jacobi interessiert in diesem Zusammenhang zunächst freilich weniger Heydenreichs These, dass im Machtbegriff jene Einheit des spinozanischen Systems bereits gegeben sei. Vielmehr betont er hier noch einmal die Unvereinbarkeit von einem »System der Endursachen« mit einem »System der blos wirkenden Ursachen«244 , und dass Spinoza durchaus mit sich im Einklang allein letzteres vertrete. In den Beilagen VI und VII nimmt er dann aber den Faden Heydenreichs wieder auf. So betont Jacobi: »Kraft überhaupt ist, nach ihm [sc. Spinoza], das lebendige Wesen Gottes selbst«245 – was sowohl für das Denken als auch für die »ewige unendliche Aktuosität der Materie«246 selbst gelte. Es ist anzunehmen, dass Herder über diese Anknüpfung von Jacobi an Heydenreichs Kritik auf diese selbst aufmerksam geworden ist, da die grundlegenden Änderungen der zweiten Auflage vornehmlich die Kritik Heydenreichs verarbeiten, während etwa Jacobis Forderung eines strikten Entweder-Oder zwischen einem System der causae finales und einem der causae efficientes nahezu ohne Resonanz verhallt.247 240 Brief vom 18. März 1787 in: Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß; hg. v. H. Düntzer und F. G. v. Herder, Bd. 3, 27. 241 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 222. 242 Jacobi nennt Heydenreich zustimmend explizit aaO. 230. 243 AaO. 226. 244 AaO. 228. 245 AaO. 263. 246 AaO. 278. 247 Dies muss gegen K. Hammacher, Herders Stellung im Spinozastreit, 172 f., be-

116 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Wie bereits angemerkt, fällt es besonders auf, dass sämtliche Stellen der Auflage von 1787, in denen Herder explizit vom ›Mittelbegriff‹ spricht, überarbeitet wurden, so dass in der zweiten Auflage der Terminus ›Mittelbegriff‹ nicht mehr zu finden ist. Diese Beobachtung zusammen mit der Tatsache, dass Herder den Begriff der Macht in seiner systematischen Einheitsfunktion bei Spinoza jetzt zu würdigen weiß248 , spricht dafür, dass Herder den Hinweisen Heydenreichs folgend Spinoza einer neuen Lektüre unterzog und daraufhin seine frühere Ansicht modifizierte. Welcher Art ist die Modifikation? Der Streichung derjenigen Stellen, in denen Herder von dem bei Spinoza angeblich fehlenden Mittelbegriff spricht, korrespondiert eine Einfügung des Machtbegriffs an verschiedenen Stellen des Textes. 249 Ebenso werden jene Äußerungen von Herder zurückgenommen, in denen er behauptet, Spinoza habe sich selbst nicht ganz verstanden. 250 In einer Einfügung gegenüber der ersten Auflage unterstreicht Herder nun die systematische Einheitsfunktion des Macht-Begriffs in Spinozas System. Macht sei demnach der »Mittelpunkt des Spinozischen Lehrgebäudes«251. Und er fährt fort: »Macht ist ihm Wesenheit; alle Attribute und Modificationen derselben sind ihm ausgedrückt-dargestellte, wirkliche und wirksame Tätigkeiten«252 . Während Herder dementsprechend in der ersten Auflage noch konjunktivisch formuliert hatte, dass der Begriff tont werden, der in den Korrekturen Herders maßgeblich eine Reaktion auf Jacobis Kritik sehen will. Es wird im Folgenden deutlich werden, wieso Herder die zentralen Kritikpunkte Jacobis gerade nicht aufnahm. 248 So weit ich sehe, ist E. Schürmann in ihrem Aufsatz »,Ein System der Freiheit und der Freude? – Herder auf den Spuren von Spinoza. Die beiden Auflagen der Schrift Gott in ihrem Verhältnis zur Ethica«, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 357–376, das Verdienst zuzusprechen, dass sie die Verwendung des potentia-Begriffs Spinozas in der zweiten Auflage für Herder bemerkt hat. Es wird dann aber leider recht schnell deutlich, dass sie wenig Interesse an der Rekonstruktion der Bedeutung dieser Verwendung aufbringt. So fallen zunächst die handwerklichen Fehler auf: Das Zitat etwa mit dem Verweis auf SWS 16, 480 auf Seite 367 stellt eher eine freie Variation aus erster und zweiter Auflage dar, während der Hinweis, dass sich Herder in Gott nicht explizit auf Leibniz Theodicee bezöge, nach dem oben Ausgeführten schlicht als falsch gelten muss. Nicht nur, dass Herder sogar noch in der zweiten Auflage den Begriff der organischen Kräfte über den Rekurs auf Leibniz einführt (vgl. SWS 16, 450 f.), sondern die Theodizee wird auch im dritten Gespräch mehrfach genannt (vgl. FA 4, 724.729 f.). Wie Herder auf diese »bis heute neu und originell« (367) zu nennende Lesart gekommen ist, bleibt in Schürmanns Ausführungen ebenso unerwähnt wie eine Reflexion über die systematische Funktion des Kraft- bzw. Machtbegriffs bei Herder. 249 Vgl. SWS 16, 487 Anm. 8; 488 Anm. 1; 492 Anm. 1; 541 Anm. 6 bzw. die entsprechenden Stellen bei W. Pross, H II 1073 f. und 1091 die Varianten 273, 277, 292 sowie 451. 250 Vgl. W. Pross, H II, 1058, Variante 121; H II, 1062, Varianten 167 und 169; H II, 1068, Variante 222; H II, 1070, Variante 247. 251 H II, 1060, Variante 136 bzw. SWS 16, 452 Anm. 3. 252 Ebd.

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der Macht, wenn Spinoza ihn folgerichtig durchdacht hätte, ihn auf den Begriff von Kräften hätte führen müssen 253 , so wird jetzt der Sachverhalt indikativisch umformuliert. Da Spinoza Denken und Ausdehnung »als Eigenschaften Gottes, eines unteilbaren Wesens annahm und keine durch die andre zu erklären wagte: so mußte er ein Drittes annehmen, unter welches sich beide fügen und das war [. . .] Macht d. i. wirkliche Wirksamkeit, wirksames Dasein«254 . Es ist deutlich: Herder nimmt die Heydenreich-Jacobi’sche Kritik auf – allerdings ohne dass er dabei seine Spinoza-Deutung grundsätzlich in Frage stellt. Herder parallelisiert den ursprünglich von Leibniz gewonnenen Begriff der Kraft mit dem spinozanischen Begriff der Macht, so dass er die Einheit des Systems und die einheitliche Tätigkeit der Substanz in beiden Attributen anerkennen kann. Hatte er zunächst also primär die Irreduzibilität der Attribute aufeinander betont, so erkennt er jetzt an, dass nach Spinoza die Einheit der beiden Attribute in ihrem identischen Tätigsein liegt, wofür der Terminus der potentia als Wesenheit der Substanz steht. Die potentia Dei, die als reine Aktuosität begriffen wird, ist sonach in Materie wie Geist differenziert auf identische Weise tätig und ist als solche der Einheitsgrund von Spinozas Realitätsbegriff, der keiner sekundären Schließung durch einen an ihn herangetragenen Einheitsbegriff mehr bedarf. Wenn Herder in dieser Weise der an ihn gerichteten Kritik Rechnung trägt, stellt sich natürlich die Frage, ob er damit auch Spinozas These von der Irreduzibilität der Attribute aufeinander übernimmt, von der ich gerade gezeigt habe, dass sie den Ansatzpunkt für Herders Kritik an Spinoza bildete. Sollte er seine Kritik an diesem Punkte revidieren, hieße das, dass Herder in gewissem Sinne zu den von ihm angegriffenen Resten eines dualistischen Weltbildes zurückkehren würde, wenn er jetzt auch mit Spinoza qua identischer Kausalität in den Attributen ihre krafttheoretisch vermittelte substantielle Einheit annähme. Wenn ich recht sehe, gibt hierauf eine weitere große Einfügung der Ausgabe von 1800 Antwort. 255 In dieser Passage geht es im Rahmen des zweiten Gesprächs um die Debatte, ob und inwiefern Leibniz seine Hypothese der prästabilierten Harmonie bereits bei Spinoza vorgefunden hat und ihr insofern zu unrecht Novitätscharakter zumisst. In diesem Zusammenhang nimmt Herder eine grundsätzliche Differenzierung dessen vor, was Spinoza im Unterschied zu ihm selbst klären will. Dazu betont er zunächst noch einmal, dass für Spinoza jener irreduzible Charakter der Attribute uneingeschränkte Gültigkeit habe. Weder kann der Geist in die Materie, noch die Materie in den Geist überführt werden: 253 254 255

FA 4, 728. H II, 1070, Variante 248 bzw. SWS 16, 479 Anm. 7 und 480 Anm. 1. Vgl. H II, 1063–1065, Variante 183 bzw. SWS 16, 462 f. Anm. 2.

118 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie »Jene Regel: wenn Zwei in einem Dritten Eins sind, sind sie unter einander selbst Eins, soll hier also nicht stattfinden; oder beide Attribute fielen in einander, und würden, da sie Ein Wesen auf verschiedne Art ausdrücken, Eins. Die Materie würde Geist, der Geist Materie, nur in unsrer Vorstellungsart unterschieden; ein Einerlei, dem Spinoza stark entgegenredet«256 .

Die substantielle Einheit soll also die essentielle Differenz der Attribute nach Spinoza gerade nicht aufheben. Sonach darf die substantielle Einheit der Attribute nicht mit einer essentiellen Einheit verwechselt werden. Die Parallelität der essentiell geschiedenen Attribute wird von Spinoza in die Einheit der Substanz gesetzt, aber nicht weiter abgeleitet. Es ist nun entscheidend zu sehen, dass Herder hiermit allein das spinozanische System charakterisieren will und nicht seine eigene Position bezeichnet. Das macht der Fortgang des Zitats deutlich: »Sie sehen, hier will sein System nicht erklären; es setzt voraus und nimmt an, was wir eben erklärt wissen wollten, ›wie nämlich die ewige Monas sich in Attributen als eine Dyas, als eine innere Denk- und äußere Bewegkraft offenbare‹«257. Mit dem Innen und Außen spielt Herder wieder auf seine Theorie organischer Kräfte an, die – wie gesehen – besagt, dass es zwischen höheren und niederen Kräften zu einer realen Interdependenz kommt. 258 Wenn er im Zitat des Weiteren von einer ›Dyas‹ spricht, so heißt das nicht, dass er nun die Welt allein aus diesen beiden Prinzipien begreifen will. Sie bilden allein die beiden uns bekannten Pole im Reich der unendlich differenzierten Kräfte. Sachlich bleibt Herder in Anschluss an Leibniz dabei, dass Materie und Geist substantiell identisch sind und sich nur im Grad der Komplexität ihrer organischen Kräfte unterscheiden. Herder ändert also auch in der zweiten Auflage seine Ansicht nicht grundlegend. Er erkennt aber an, dass sein Kraftbegriff in der systematischen Funktion steht, die dem Machtbegriff nach Spinoza bereits genuin eigen ist. So bleibt er auch in der zweiten Auflage seiner Schrift – bei allen Zugeständnissen, die er der Kritik Heydenreichs macht – bei der Auflösung der Attributenlehre Spinozas. Herder deutet die substantielle Einheit in attributiver Differenz bei Spinoza im Sinne eines essentiellen Kräftemonismus um. Die Differenz zwischen Geist und Materie ist bei Herder keine irreduzible attributive Differenz mehr, sondern nunmehr eine Differenz der Komplexität von Kraftformationen. Dies muss als eine konsequente Folgerung aus Herders monistischer Konzeption angesehen werden. Wenn nämlich das Endliche als Ausdruck der einen Substanz angesehen wird, muss es als solches auch selbst 256

H II, 1064 bzw. SWS 16, 462; H. i. O. Ebd. Hervorhebung C. C. 258 Vgl. auch in der zweiten Auflage: »Mit dem Wort organische Kräfte bezeichnet man das Innen und Außen, das Geistige und Körperhafte zugleich: denn wie keine Kraft ohne Organ ist, so ist und wirkt kein Geist ohne Körper« SWS 16, 452, Anm. 3. 257

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substantiellen Charakter aufweisen. Herder nimmt in diesem Zusammenhang für das Verhältnis vom Einzelnen zu dem Einen stets den Leibnizschen Begriff des ›Spiegels des Universums‹ auf. Als solches repräsentiert es Ganzheit. Soll aber diese Einheitsprätention für jedes Einzelnes gelten – und dies muss es in einem monistischen System –, dann kann die Differenz dieser Einzelnen nicht mehr in einer irreduziblen attributiven, sondern allein in einer bezüglichen graduellen Hinsicht bestehen. 259 Insofern ist auch der von Heydenreich beanstandete Hinweis Herders auf den Fortgang der Naturwissenschaften seit Spinozas Zeiten für Herder selbst keine Nebensache260 , sondern gerade die Bestätigung seiner Theorie der real interdependierenden, allein in gradueller Hinsicht differenten Kräfte, die er auch in der zweiten Auflage von Gott nicht verabschiedet. Die Welt wird in dieser Perspektive als eine Totalität interagierender höherer und niederer Kräfte verstanden. Erst wenn in dieser Weise die Welt als einheitlicher Wirkzusammenhang begriffen ist, sieht Herder den »vollen Gebrauch«261 der dem Ansatz und der Intention nach antidualistischen Theorien von Spinoza wie Leibniz ausgeschöpft. Attributive Differenz in substantieller Einheit à la Spinoza sowie ein bloß idealer Einfluss autarker Entitäten à la Leibniz bleiben hinter dem eigentlichen Theoriepotential der jeweiligen Systeme nach Herder zurück.

3.3 Gott als Geist Die krafttheoretische Umformung des spinozanischen Systems bildet für Herder noch nicht die letzte Stufe seines metaphysischen Programms. Mit dem Begriff Gottes als Kraft zielt er letztlich auf den Begriff Gottes als Geist. Es gehört zu den Auffälligkeiten, dass Herder jene Gottesprädikate wieder einführt – wie Weisheit und Güte, aber auch die des Schöpfers und Vaters –, die einen mit Verstand und Willen begabten Gott voraussetzen, was von Spinoza explizit negiert wird. Diese Vermittlung von klassisch christlichen Gottesprädikaten mit dem Gott des Spinoza ist es, die den Publizisten Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792) in seinen Hyperboreischen Briefen gegen Herder aufbringt. Spinoza habe – so Wekhrlin in seinem sechsten Brief »Xantus an Hippias. Ueber Herder’s Gott«262 – mit dem »neuen Superintendenten-Spi-

259

Die von D. Henrich, Andersheit und Absolutheit des Geistes, 148 f., festgestellte Vermittlung von Einheit und Mannigfaltigkeit in der Philosophie Schellings fi ndet also hier in Herders kraftheoretischer Spinozarezeption ihre strukturelle Vorläuferschaft. 260 Vgl. K. H. Heydenreich, Natur und Gott nach Spinoza, 221 f., zu FA 4, 708 f. 261 H II, 1063, Variante 173. 262 W. L. Wekhrlin, Hyperboreische Briefe,. Bd. 1, 40–44.

120 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie nozism«263 nichts zu tun. Neben allerlei Beschimpfungen Herders etwa als »Zungendrescher« und »Flachkopf«264 fasst er die sachliche Kritik wie folgt zusammen: »Das System eines Philosophen, der Absichten, Wunder, uebernatuerliche Eingebung so deutlich als moeglich, laeugnet, mit den geheiligten Lehren der christlichen Offenbarung vereinbaren wollen – O, delirae hominum mentes!«265 . Das heißt für Wekhrlin nichts anderes als »Spinoza [zu] entspinozen«266 . Unter Abzug der polemischen Invektiven bleibt das sachliche Problem bestehen. Denn Spinozas Unterscheidung von natura naturans und natura naturata zielt ja in der Tat darauf – wie oben gesehen –, Gott als immanent tätige Ursache der Welt darzustellen. Und diesem seinem Wesen gemäß, d. h. in der Notwendigkeit seiner Natur wirkenden Gott will Spinoza »neque intellectum, neque voluntatem«267 zusprechen. Gottes Allmacht kann nach Spinoza weder als eine bloß potentielle Bestimmung noch im Sinne einer indifferenten, unbeschränkten Willensfreiheit begriffen werden, die sich willkürlich neu bestimmen könnte. Also fallen für Spinoza auch die Prädikationen Gottes als weise, gütig oder auch als Schöpfer weg, weil sie eine Differenz von Gott und seinem Willen in der Form eines sich zu sich Verhaltens implizieren. Dies widerspräche aber der Bestimmung von Gottes Vollkommenheit. 268 In ihr ist Gott als mit sich identisch gesetzt, der keinem Wandel unterworfen sein kann, da dies ein Wandel im Wesen Gottes zur Voraussetzung hätte, was wiederum dem Gottesbegriff widerspräche. In diesem Sinne begreift Spinoza die Welt als notwendiges Resultat der Wirksamkeit Gottes, was durch die Begriffe »folgen« (sequi; Eth. I, prop. 16.21–23), »ausdrücken« (exprimere Eth. I, prop. 25, coroll.) und »hervorbringen« (producere; Eth. I, prop. 24.28, schol.), die den Schöpfungs- wie den Offenbarungsbegriff verdrängen, angezeigt wird. Gott kommt sonach unter dem Attribut der cogitatio, also insofern er die Ursache von Gedanken ist, gerade kein bestimmter Verstand und einzelner Gedanke zu. Spinozas Gott denkt nicht, ist nicht schöpferisch und verfolgt auch keinen Plan, da er aus dem Wesen seiner Natur wirkt und keine von seinem Wesen unterschiedenen Finalursachen verfolgt. 269 Deshalb sind nach Spinoza Realität und Vollkommenheit identisch. 270 Für Jacobi ist dies – wie gesehen – der Einsatzpunkt für seine Spinozakritik, da er hier den Spontane263 264 265 266 267 268 269 270

AaO. 41. AaO. 43. AaO. 44. AaO. 40. Eth. I. prop. 17, schol. Vgl. Eth. I. prop. 33, schol. II. Vgl. Eth. I, app. Vgl. Eth. II, def. 6: »Per realitatem, et perfectionem idem intelligo«.

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itätscharakter des Geistes eskamotiert sieht. »Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur blos das Zusehen«271, so Jacobi schon gegen Lessing. Aber auch die direkte Kritik Jacobis an Herder in der V. Beilage 272 hat Herder nicht dazu bewogen, seine Ansicht an diesem Punkte zu revidieren. In der Tat zeigt sich m. E. an dieser Stelle der produktivste und weitestreichende Aspekt von Herders relecture Spinozas, den seine zeitgenössischen Kritiker nicht wahrnahmen. Herder bildet hier Spinozas Theorie des Absoluten als Substanz im Sinne einer Theorie des Absoluten als Geist um.273 Es war bekanntlich Hegel, der einforderte, das Absolute »nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«274 . Allein in dem Konzept des Monismus des Geistes sieht Hegel die endliche Individualität als das Andere des Absoluten aufgehoben, während in dem Absoluten als Substanz »das Selbstbewußtsein nur untergegangen, nicht erhalten ist«275 . Die Angst vor dem Verlust von Individualität und Selbstbewusstsein war es dann auch, die die evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts sich maßgeblich an Kant anschließen ließ, wo man die ethische Subjektivität gerade in ihrer Verstricktheit in das radikale Böse am besten gewahrt sah. 276 Die mit dem Odium des Spinozismus behafteten Theologien im Gefolge von Hegel und Schleiermacher taten sich demgegenüber schwerer. Entgegen dieser Rezeptionsge271

F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 20. Vgl. dazu C. Ellsiepen, Anschauung des Universums, 179–184. 272 Vgl. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 223–231. Die Rezension von Herders Gott durch J. G. Buhle in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen im 113. Stück vom 16. 7. 1787 trägt in der Sache nichts aus, da Buhle über eine paraphrasierende Zusammenfassung kaum hinauskommt. Herder war von der Rezension nicht begeistert, da er dem Rezensenten weder Urteilsvermögen in der Sache zutraute noch dessen verstohlene Warnung vor dem Umgang mit Spinoza am Ende der Rezension billigen konnte; vgl. DA V 22613–26. 273 Herder selbst spricht natürlich nicht von einer ›Theorie des Absoluten‹. Es handelt sich hier allein um meine Rekonstruktionsperspektive, die die systematische Reichweite und den Anspruch Herders, einen kohärenten Gottesgedanken zu formulieren, in die ideengeschichtliche Fluchtlinie des deutschen Idealismus stellt. 274 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 23. 275 Ebd. 276 Vgl. C. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 9 f., die deutlich macht, dass sich Tholuck der zentralen Bedeutung Jacobis und Kants für die Ausbildung des Ideenkomplexes von ethischer Subjektivität und persönlichem Gott bewusst war: »Um der Freiheit des Subjekts gegenüber einem das Individuum zum bloßen Schein herabsetzenden Absoluten willen besinnt sich die Theologie eines in der Tradition der Neologie und des Rationalismus freilich lange verschollenen und erst mit Kants Lehre vom ›radikalen Bösen‹ wieder aktuell gewordenen Themas: der Sünde. Denn in der Sünde des Menschen manifestiert sich dessen individuelle Freiheit, wenn auch im Modus radikaler Verselbständigung gegen Gott«. Vgl. zu diesem Problem auch die Ausführungen zu Julius Müller; aaO. 62–73.

122 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie schichte muss es aber als die theologiegeschichtliche Leistung Hegels und – wie ich zeigen werde – vor ihm schon Herders Leistung angesehen werden, dass hier ein Versuch vorliegt, einen konsequenten, d. h. einen monistischen Begriff des Absoluten zu denken, der zugleich die Individualität seines endlichen Gegenübers wahrt, d. h. in sich ›aufhebt‹. Es gehört zu den Unglücksfällen der Geistesgeschichte, dass ausgerechnet Hegels Rezension der beiden Auflagen von Herders Gott verschollen ist. 277 Ist es doch anzunehmen, dass sie – auch und gerade bei der mit Sicherheit anzunehmenden Kritik Hegels an Herder – eine entscheidende Etappe auf dem Weg von Spinozas Gott als Substanz zu Hegels Gott als Subjekt darstellt. 278 Nachdem Herder also zunächst den Atheismus- bzw. Pantheismusvorwurf widerlegt und den spinozanischen Begriff der Substanz unter Desavouierung der attributiven Differenz krafttheoretisch reformuliert hat, bleibt nun noch ein letzter »harter Knoten«279 zu durchschlagen. Es ist der gegen das spinozanische System erhobene Determinismusvorwurf, von dem es scheint, dass er durch Herders Betonung der gesetzmäßigen Wirksamkeit der Kräfte als Ausdruck der Notwendigkeit Gottes eher noch verstärkt als vermindert wird. Mit diesem Vorwurf geht ein zweiter einher, dass nämlich unter den Bedingungen eines mit Notwendigkeit aus Gott folgenden Weltzusammenhangs keine Individualität mehr zu denken ist bzw. diese als Durchgangspunkt im Weltprozess unterzugehen droht. Für Herder geht es angesichts dieser Vorwürfe darum, zu zeigen, in welcher Weise sinnvoll von Notwendigkeit, Freiheit und Individualität gesprochen werden kann, d. h. für Herder in einer Weise, die einem adäquaten Gottesbegriff und damit zugleich einer adäquaten Anthropologie gerecht wird. Dieser neu verstandene Gottesbegriff ermöglicht es Herder dann auch, klassisch theologische Terminologie wieder aufzugreifen und in seine Spinozarezeption zu integrieren. 3.3.1 Notwendigkeit und Freiheit Wie eingangs erwähnt, qualifiziert Jacobis eingeforderte glaubensphilosophische Entscheidung die Position Spinozas und damit die aller rationalen Philosophie und Theologie als Determinismus, der in letzter Konsequenz in 277 Vgl. W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 127 f. Ebenso unglücklich muss es im Rückblick erscheinen, dass die von Schleiermacher geplante Rezension der zweiten Auflage von Gott nicht zustande gekommen ist; vgl. KGA V/3, Brief 759, 57–61. 278 Spätestens in dieser Perspektive muss die in der Herder-Forschung immer noch herumgeisternde These eines »naturalistischen Pantheismus«, so etwa E. Adler, Herder und die deutsche Aufklärung, 278, ad acta gelegt werden; Vgl. kritisch dazu bereits F. W. Kantzenbach, ›Selbstheit‹ bei Herder. Anfragen zum Pantheismusverdacht, 14 f. 279 FA 4, 718.

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die Haltung des Fatalismus münden müsse. 280 In diesem Sinne grenzt er in seinem Brief an den Verfasser der Aristée, Hemsterhuis, die Systeme der »moralischen Nothwendigkeit« wie der »physischen Nothwendigkeit«, die abbreviativ für Leibniz und Spinoza stehen, von dem von ihm selbst intendierten »System der Indifferenz«281 ab. Welches System der Notwendigkeit man sich auch erwählt, sie führen nach Jacobi alle zu einer Elimination der Finalursachen, so dass dem denkenden Vermögen keine Spontaneität und somit auch keine Wirklichkeit gestaltende Kraft zukommt. Nicht nur die Körperwelt, sondern auch die Geisteswelt wird allein als aus Wirkursachen sich generierend gedacht. Die Wirklichkeit inklusive des denkenden Geistes wird so zu einer blinden Kausalreihe. Ironisch hält Jacobi das Resultat fest, auf das die spinozanische Philosophie seines Erachtens führt: »man braucht nicht mehr, um darzuthun, daß sich die Peterskirche zu Rom selbst gebauet hat; daß die Entdeckungen Newtons durch seinen Leib gemacht worden sind; und daß bey allem dem die Seele nur das Zusehen hat«282 . Demgegenüber muss die Erfahrung der eigenen Spontaneität als religiös-ethischer Subjektivität für Jacobi als Gegenthesis zu Spinozas konsistentem System in Vollzug gebracht werden. Jacobis Glaubensbekenntnis – »Ich glaube eine verständige persönliche Ursache der Welt«283 – muss dementsprechend als die metaphysische Versicherung endlicher Subjektivität in ihrer Spontaneität als freie Selbstbestimmung des Willens begriffen werden. Jacobi bestimmt daher den göttlichen wie menschlichen Willen durch das Merkmal der Indifferenzfreiheit. Demnach besteht der Wille nicht im reinen Akt des Wollens, sondern zeichnet sich dadurch aus, als ein unbestimmter sich selbst zu dem Gegenstand seines Wollens bestimmen zu können. Mithin geht es Jacobi nicht allein um Wahlfreiheit, sondern im eminenten Sinne um Willensfreiheit, in der sich der Wille von sich aus, d. h. spontan, zu seinem eigenen Wollen bestimmen kann. Indem Jacobi versucht, seine Zeitgenossen in diese strikte Alternative von einem System der Finalursachen und einem System der Wirkursachen hineinzuzwingen, muss ihm Herders Deutung Spinozas als der Ausdruck einer »dichterischen Philosophie« erscheinen, »welche zwischen Theismus und Spinozismus gern in der Mitte schweben möchte«284 . Ein Schweben, das sei280

Vgl. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 18. AaO. 75. Für Spinoza macht Jacobi noch deutlich, dass es sich bei dessen System keinesfalls um einen Materialismus etwa im Sinne von Holbach oder La Mettrie handle; vgl. aaO. 79. 282 AaO. 80. 283 AaO. 20. 284 AaO. 221. Schon diese Formulierung, wie auch die oben von Wekhrlin zitierte, lässt es fraglich erscheinen, ob, wie H. Timm, Gott und die Freiheit, 275, meint, Herder wirklich »den theistischen Vorstellungskomplex kurzerhand für null und nichtig« erklärt. Zumindest seine Zeitgenossen nahmen nicht primär daran Anstoß, dass der The281

124 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie nes Erachtens schlechterdings unmöglich ist. Final- und Wirkursachen sind in keinem System zu vereinigen. Der Differenzpunkt zu Herder kristallisiert sich für Jacobi in dessen Bestimmung Gottes als einer – wie Jacobi sich ausdrückt – »Intelligenz«285 heraus, der Herder aber keine Personalität zusprechen will. Wie diese beiden Größen aber zu trennen sind, ist für Jacobi unersichtlich. Wo Wille und Intelligenz sind, da ist auch »Einheit des Selbstbewußtseyns«286 , welche das Wesen der Personalität ausmacht. Jacobis Vorwurf gegen Herder geht also dahin, dass, wenn Herder Gott Geist zuspreche, er konsequenter Weise zu Jacobis Position kommen müsse. Gott aber im selben Zuge Personalität abzusprechen, sei nicht nur inkonsequent – im Unterschied zu Spinozas eigener stringenter Konzeption –, sondern damit verabschiede sich Herder überhaupt aus dem Kreis ernstzunehmender Philosophie: »Schlechterdings nichts kann ich darunter verstehen; [. . .] nicht einmal soviel als zu einem Hirngespinst erfordert wird; sondern nur ein Wort ohne Sinn, ein bloßer leerer Schall«287 bleibe übrig. Mit Blick auf Herders Theologenstand wirft er ihm eine »Vernunft- und Sprachverwirrende – Predigt«288 vor. Wie bereits angedeutet, findet sich in der zweiten Auflage von Herders Gott nicht der geringste Hinweis darauf, dass Herder sich durch diesen scharfen Angriff Jacobis zu Korrekturen befleißigt gesehen hätte. Im Gegenteil: Herder verstärkt seine Interpretation noch, indem er Passagen einfügt, die den Gottesgedanken im Sinne eines nichtpersonalen Geistes begreifen wollen. Bei Herder ist die Frage nach der Personalität von vornherein mit der Frage nach dem Determinismus verbunden, da sich beide Fragen in dem Freiheitsproblem bündeln. Dieser Ideenkomplex als solcher steht bei Herder wie schon die Abwehr des Pantheismusvorwurfs im Rahmen seines Streitens für einen adäquaten Gottesbegriff. Was ist Herders Intention an diesem Punkte der Diskussion und wie geht er vor? Eingangs des dritten Gesprächs führt Herder die Begriffe Weisheit, Gerechtigkeit und Güte quasi unter der Hand in die Diskussion ein, indem er auf die Göttin Nemesis rekurriert. Sie ist ihm das Sinnbild für die Prinzipien sowohl von individueller Lebensführung als auch der Menschheitsgeschichte in toto.289 Im Sinne der antiken μεσότης-Lehre teilt sie dem, der das Maß trifft, ismus negiert wird, sondern daran, dass sie bei ihm ein synkretistisches System zu erkennen meinten, welches eben nicht eindeutig als eine Verabschiedung des Theismus verstanden werden kann. 285 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 220. 286 Ebd. 287 AaO. 221; H. i. O. 288 AaO. 222; H. i. O. 289 Vgl. Herders 1786 in der zweiten Sammlung der Zerstreuten Blätter erschienene Schrift Nemesis. Ein lehrendes Sinnbild, FA 4, 549–578, und hier besonders die Seiten 573 ff. Vgl. zu dieser Schrift den Kommentar von J. Brummack, aaO. 1242–1258, sowie

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Glück und Wohlstand zu, während ihr Rad den Unmäßigen stürzt und verdirbt. Herder qualifiziert die Nemesis als einen »personifizierte[n] Begriff«290 , der die Funktion hat, Erfahrungserkenntnisse symbolisch zu repräsentieren und in ihrer Allgemeinheit vorstellig zu machen. Die Einführung der Nemesis steht hier in der textpragmatischen Funktion, auf die Theorie der Maxima des Philosophen, Physikers und Mathematikers Johann Heinrich Lambert (1728–1777) hinzuführen.291 Diese fasst Herder dahingehend zusammen, »daß der Beharrungsstand, mithin das Wesen jedes eingeschränkten Dinges allenthalben auf einem Maximum beruhe, bei welchem gegenseitige Regeln einander aufheben oder einschränken, mithin die Bestandheit der Dinge und ihre innere Wahrheit, nebst dem Ebenmaß, der Ordnung, Schönheit, Güte, die sie begleiten, auf eine Art innerer Notwendigkeit gegründet sei«292 .

Indem Herder auf diese Weise die Nemesisidee auf Lamberts mathematische Naturtheorie bezieht, wird sein Interesse ersichtlich, Natur- und Kulturzusammenhang in ihrer genetischen Einheit zu verstehen. Wie späterhin noch explizit gemacht werden wird, muss dieser Zusammenhang aber nicht einseitig als eine Naturalisierung der Geschichte begriffen werden 293 , sondern kann mit größerem Recht als die Tendenz zu einem geschichtlichen Verständnis der Natur interpretiert werden. Die Einheit wird von Herder metaphysisch vermittelt, insofern die Einheit des Gottesgedankens ein einheitliches Verstehen von Natur und Kultur fordert. Für die uns hier interessierende Fragestellung ist es entscheidend, dass Herder in seinem Rekurs auf Lamberts Naturtheorie die Welt als das »Reich der weisesten Notwendigkeit, einer in sich selbst festen Güte und Schönheit«294 charakterisiert. Dieses Reich der sich systemisch organisierenden Kräfte lässt sich unter wissenschaftstheoretischem Gesichtspunkt auf »allgemeine Gesetze«295 zurückführen und beschreiben. In der sich W. Düsing, Der Nemesisbegriff bei Herder und Schiller, 235–255. Vgl. auch U. Gaier, Nemesis und natürliche Ethik, 25–35, und W. Koepke, Die höhere Nemesis des Christentums, 211–220. 290 FA 4, 721. 291 Herder rekurriert hier auf J. H. Lamberts Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein, 2 Bde., Leipzig 1764, sowie die Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntiß, 2 Bde., Riga 1771; vgl. FA 4, 721. G. Arnold, FA 10, 975, weist zurecht darauf hin, dass Herder sich ebenso gut auf Leibniz selbst berufen könnte, von dem er diese Idee wohl ursprünglich hat. Zu Herders Anknüpfung an die Systematologie Lamberts vgl. U. Gaier, Philosophie der Systeme und Organisationen beim frühen und späten Herder, 33–44. 292 FA 4, 721. 293 So W. Düsing, Der Nemesisbegriff bei Herder und Schiller, 254, in Anschluss an H. B. Nisbet, Die Naturgeschichte der Nationen, 153–156. 294 FA 4, 723. 295 AaO. 722.

126 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie in den allgemeinen Gesetzen darstellenden Notwendigkeit ist ihm die Welt Ausdruck »der höchsten Weisheit«296 . Die Notwendigkeit – so die zunächst implizit gegen Jacobi vorgetragene These – ist somit nicht als ein blinder Determinismus zu verstehen, sondern als Ausdruck einer von Weisheit geordneten Welt zu interpretieren. In diesem Sinne will Herder Spinozas Gedanken der »innern Notwendigkeit der Natur Gottes«297 verstanden wissen. Nun bedurfte es nicht erst eines Jacobi, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass Spinoza selbst explizit jeden Verstand und Willen und damit auch ein Handeln nach Zwecken für Gott ausgeschlossen hat. 298 Herder kannte seinen Spinoza und lässt Philolaus selbst den Einwand führen: »aber, Theophron, der Knote ist noch nicht gelöset. Wie hart redet er [sc. Spinoza] gegen alle Absichten Gottes in der Schöpfung! Wie bestimmt spricht er Gott den Verstand und Willen ab, und leitet alles, was da ist, bloß und allein aus seiner unendlichen Macht ab, die er nicht nur über Verstand und Absichten setzt, sondern auch völlig von denselben trennet«299.

Solche Stellen müssen gegen den voreiligen Schluss, Herder habe Spinoza nicht verstanden, in der Interpretation ernst genommen werden. Herder hat hier sehr wohl verstanden, er hatte aber offenbar nicht die Absicht, bei einer bloß rekapitulierenden Deutung Spinozas stehen zu bleiben. Er bildet Spinozas System auch in diesem Punkt um und wird darin der Wegbereiter einer Spinozarenaissance in der Philosophie des deutschen Idealismus.300 Wenn Herder nun entgegen Spinozas Äußerungen Gott doch als Geist meint explizieren zu können und dabei zugleich der Auffassung ist, weiterhin Spinozas genuiner Intention gerecht zu werden, so wird dieser anspruchsvollen hermeneutischen Operation nur eine detaillierte Textrekonstruktion gerecht werden. Eine Aufgabe, die nicht mit dem Hinweis auf Herders angeblich bloß assoziative – also nicht rekonstruktionsfähige301 – Gedankenverknüpfung beiseite geschoben werden kann.

296

AaO. 724. Ebd. Herder paraphrasiert damit Eth. I, prop. 17: »Deus ex solis suae naturae legibus [. . .] agit«, was in der dazugehörigen Demonstratio als ein Handeln »ex sola divinae naturae necessitate« qualifiziert wird. 298 Vgl. dazu Eth. I, prop. 17, schol. sowie insbesondere Eth. I, app., wo Spinoza ausführlich seine abständige Haltung gegenüber diesen Theoremen expliziert. 299 FA 4, 724. 300 Vgl. zu diesem Konnex den von M. Heinz herausgegebenen Aufsatzband: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, Amsterdam/Atlanta 1997. 301 So etwa K. Hammacher, Herders Stellung im Spinozastreit, 167, dem es »schwer fällt, aus Herders jeder konstruktiven Begriffl ichkeit entbehrenden Gedankenführung ein philosophisch konsistentes Konzept herauszufinden«. 297

3. Der Geist des Spinozismus

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Herder liest Spinoza als einen »Eifrer für den würdigsten, höchsten Begriff Gottes«302 . Dieser Eifer lege sich dahingehend aus, dass Spinoza jeglichen Anthropomorphismus aus dem Gottesbegriff ausscheiden will. Wie schon der Briefwechsel von Herder und Jacobi deutlich gemacht hat, teilt Herder dieses Interesse mit Spinoza ausdrücklich.303 An Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer, der von 1785–1788 Kustos der Universitätsbibliothek in Göttingen war 304 , schreibt Herder Mitte September 1787 in diesem Sinne: »Die Leute wollen keinen Gott, als in ihrer Uniform, ein menschliches Fabelthier«305 . Solch ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft erblickt Herder auch in Jacobis Wunsch nach einem persönlichen Gott. Dass Herder mit Lessing Gott als Verstand begreift, ist für Herder kein Grund ihm auch Personalität zuzuschreiben. Im vierten Gespräch, das sich explizit mit Jacobis Spinozadeutung auseinander setzt, geht Herder auf diesen Konnex ein: »Leßing hört von einer verständigen, persönlichen Ursache der Welt und freuet sich dabei nach seiner Art, daß er jetzt etwas ganz neues zu hören bekommen werde. Am Verstande Gottes konnte Leßings Verstand nie zweifeln; seine Neugierde war also auf die persönliche Ursache der Welt gerichtet«306 .

Gegen diese Verschränkung von Personalität und Verstand durch Jacobi wendet Herder zwei Argumente ein, und zwar ein theologisches und ein philosophisches. In beiden Fällen argumentiert Herder ideen- und begriffsgeschichtlich und macht damit zugleich deutlich, dass es tatsächlich Jacobi ist, der der Neuerer ist, indem er ein personales Gottesverständnis entwirft.307 Den Novitätscharakter des Gedankens des persönlichen Gottes am Ende des 18. Jahrhunderts muss man im Blick behalten, wenn man Herders Antwort gerecht werden will. Zunächst gibt Herder eine dezidiert theologische Widerlegung von Jacobis Vorstellung von einem persönlichen Gott: »Der Ausdruck Person, selbst wenn ihn die Theologen gebrauchen, die ihn aber nicht einmal der Welt entgegen setzen, sondern nur als Unterschied im Wesen Gottes annehmen, ist, wie sie selbst sagen, bloß anthropopathisch«308 . Und in der zweiten Auflage setzt er erläuternd hinzu: »denn der Theolog sagt nicht: Gott ist eine Person, sondern in Gott sind Personen«309. Die trinitätstheolo302

FA 4, 725. Vgl. Kap. II 1. 304 Vgl. den Hinweis G. Arnolds in DA X 385. 305 DA V 22621 f.. 306 FA 4, 741. 307 Darauf weist K. Hammacher, Herders Stellung im Spinozastreit, 168 und 185, zu Recht hin. Vgl. zur wechselhaften Geschichte des Personbegriffs und der Frage nach der Persönlichkeit Gottes den luziden Aufsatz von J. Rohls, Subjekt, Trinität und Persönlichkeit Gottes, 40–71, sowie W. Pannenberg, Systematische Theologie I, 283–326. 308 FA 4, 741. 309 H II, 1076, Variante 320. 303

128 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie gische Unterscheidung der Personen von Vater, Sohn und Hl. Geist in der Einheit Gottes, die eben aber als solche selbst gerade nicht personalistisch begriffen werden darf, wird Herder zum kritischen Movens gegen Jacobis Anthropomorphismus. Gerade weil die Einheit Gottes nur in der Dreiheit der Personen besteht – so Herders Argument im Anschluss an die altkirchliche Trinitätstheologie – kann die Einheit selbst nicht als Person begriffen werden. Und selbst dort, wo die Kirchenväter den Personbegriff verwenden, tun sie dies in einer uneigentlichen Weise, die allein in der Funktion steht, Unterscheidung wie Bezogenheit in der Einheit Gottes zu denken. Herder sieht sich aber nicht nur zu diesem theologischen Widerspruch herausgefordert, sondern will deutlich machen, dass Jacobi auch philosophisch als Neuerer zu verstehen ist. Hatte Jacobi doch in der IV. Beilage für sich in Anspruch genommen, er würde die philosophische opinio communis repräsentieren, während Herder die Meinung eines Sonderlings vertrete: »Meines Wissens war vor Herdern niemand, der hierüber anders dachte, und es ist wirklich etwas ganz neues von seiner Seite, wenn er behauptet, Leßing hätte als auf etwas unerhörtes aufmerken müssen, da er von der Ersten Ursache der Dinge, als einem persönlichen Wesen reden hörte«310 .

Das sachliche Argument, das Herder Jacobi vorhält, war bereits in ihrem Briefwechsel angeklungen. In seinem Brief vom 20. Dezember 1784 hielt Herder Jacobi entgegen: »Du willst Gott in Menschengestalt, als einen Freund, der an Dich denket. Bedenke, daß er alsdenn auch menschlich, das ist eingeschränkt an Dich denken muß«311. Spinozas These »determinatio negatio est«312 klingt hier bereits an und wird von Herder in der zweiten Auflage von Gott auf die Begriffsgeschichte des Personbegriffs in Anwendung gebracht.313 Ausgehend vom antiken ρόσωον-Begriff zeichnet Herder die Linie über die Theater- und Gerichtssprache bis in den allgemeinen Sprachgebrauch nach. In jedem Fall beschreibt der Personbegriff nach Herder den unterscheidenden Charakter von anderen Charakteren bzw. einer Sache. Der Personbegriff führt so immer »auf etwas Eigentümliches an Gestalt, Bildung, Abzeich310

F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 221; H. i. O. DA V 7352–54. 312 Ep. 50, Opera, hg. v. C. Gebahrdt, Bd. 4, 240. 313 Auch wenn Herder ihn hier nicht nennt, dürfte er sich für seinen Abriss der Geschichte des Personbegriffs auf das einschlägige 16. Kapitel aus Hobbes, Leviathan, 147 f., beziehen, was bis in die Formulierungen hinein deutlich wird: »The word person is Latin: instead whereof the Greeks have ρόσωoν, which signifies the face, as persona in Latin signifies the disguise, or outward appearance of a man, counterfeited on the stage; and sometimes more particularly that part of it, which disguiseth the face, as a mask or vizard: and from the stage, hath been translated to any representer of speech and action, as well in tribunals, as theatres«. 311

3. Der Geist des Spinozismus

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nung von andern« und ist damit »vom reinen Begriff einer ganz unvergleichlichen Wesenheit und Wahrheit«314 , also von einem adäquaten Gottesbegriff, völlig geschieden. Wird der Personbegriff auf Gott angewendet, so geht darunter nach Herder gerade das Spezifische seines Wesens verloren, das der Verendlichung durch Bestimmtheit inkommensurabel ist. So hält Herder gegen Jacobis Vorstellung von der als Einheit begriffenen Personalität Gottes fest: »So wenig Gott die Person ansiehet, so wenig spielt er eine Person, so wenig affektiert er Persönlichkeiten, hat eine persönliche, mit andern abstechende, contrastierende Denkart, u.f. Er ist. Wie Er, ist niemand«315 . Dementsprechend kann er auch Jacobis These nicht zustimmen, dass die Einheit des Selbstbewusstseins Personalität impliziere. Er stellt dem seine Gegenthese der Nichtgleichursprünglichkeit von Personbegriff und Selbstbewusstseinsbegriff entgegen: »Das innigste Selbstbewußtsein vergißt die Apparenz der Person [. . .] so ganz, daß man es mit diesem Gerichtswort des persönlichen Erscheinens gleichsam aus sich selbst jaget«316 . Personalität hat also zwar die Einheit des Selbstbewusstseins zu ihrer Voraussetzung, die Einheit des Selbstbewusstseins impliziert aber keinesfalls per se Personalität, insofern Personalität immer nur einen Partialcharakter des Selbst betreffen kann. Das Selbst in seinem internen Totalzusammenhang kann sich also in seiner Einheit gerade nicht als Person vorstellig werden. Oder umgekehrt: Wo sich das Selbst als Person vorstellig wird, wird es sich gerade nicht als Einheit vorstellig, sondern in der Relativität seines unterscheidenden Charakters von anderem. 317 Dass Herder sich zur Bestätigung seiner These sowohl auf Leibniz wie auch auf Locke beruft, macht seinen Anspruch deutlich, sich hiermit nur auf geltende Lehre zu beziehen und zwar sowohl im empirischen wie auch im idealistischen Lager. Leibniz und Locke werden von Herder als die Statthalter für jede ernst zu nehmende Philosophie angeführt und damit steht – das ist die unausgesprochene Behauptung – Jacobi und nicht Herder außerhalb derselben.318 Indem Herder in dieser Weise die Vorstellung eines persönlichen Got314

H II, 1076, Variante 320. H II, 1076, Variante 320, H. i. O. 316 AaO. 1077. 317 Das Problem, das Herder am Personbegriff thematisiert, rangiert heute in der Soziologie unter dem Terminus der sozialen Rolle, während der Personbegriff hier gerade die Einheitsperspektive – also Herders Begriff von Selbstbewusstsein – in der Pluralität der Rollen thematisieren soll. 318 Der Sache nach ist Herders Rekurs auf Locke weniger eindeutig als er suggeriert. Wenn Locke, An Essay concerning Human Understanding II/27,9, ›Person‹ als »a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, can consider it self as it self« definiert, so scheint diese Definition der Position Jacobis näher zu stehen als der Herders. Zweierlei wird Herder aber wohl für seine Deutung in Anspruch genommen haben. Zum einen wird er die Locksche Differenz von Person als Einheit des Bewusstseins und der denkenden Substanz, die nach Locke gerade nicht miteinander identisch sein müs315

130 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie tes abweist, ist damit aber in der Sache noch nichts gegen Jacobis Vorwurf ausgerichtet, dass man Gott nicht zugleich als denkend – und das heißt für Jacobi immer ›frei‹ im Sinne von freier Selbstbestimmung – und als aus der Notwendigkeit seiner Natur handelnd begreifen kann. Der von Jacobi konstatierte Widerspruch in Herders Läuterung des Spinozismus wird von ihm in der V. Beilage spezifiziert. Jacobi kontrastiert hier des Näheren Aussagen Herders aus dem dritten Gespräch mit Aussagen aus dem vierten Gespräch.319 Im dritten Gespräch betont Herder, dass Gott eine wesentliche Denkkraft eignet, die die »vollkommenste, schlechterdings unendliche Macht« eben dadurch ist, dass sie »alles ist und hat, was zur unendlichen, in sich selbst gegründeten Macht gehöret«320 . Demnach werde das Denken als die höchste Kraft der Gottheit begriffen. Dem setzt Jacobi eine Äußerung Herders aus dem vierten Gespräch entgegen: »Das Dasein ist vortrefflicher als jede seiner Wirkungen: es gibt einen Genuß, der einzelne Begriffe nicht nur übersteigt, sondern mit ihnen auch gar nicht auszumessen ist: denn Vorstellungskraft ist nur Eine seiner Kräfte, der viele andre Kräfte gehorchen«321. Damit werde, so Jacobi, die im dritten Gespräch behauptete führende Stellung des Gedankens im Gottesbegriff eskamotiert. Herders Rede vom Dasein Gottes nehme genau die systematische Funktion ein, die Spinoza der Substanz zuspricht, so dass das Denken Gottes »nur Eine seiner Kräfte ist, und mit andern Kräften, aus einem Urgrunde der Wirklichkeit entspringt«322 . Damit kann sie aber unmöglich »leitende Kraft«323 sein. In die Terminologie Spinozas gewendet: Wenn das Denken Gottes nicht das Wesen Gottes ausmacht, also natura naturans ist, gehört es in die Sphäre der natura naturata, kann damit aber auch nicht als Selbstbestimmung Gottes begriffen werden, sondern nur als Folge seines vorgängigen Wesens, das so aber gerade selbst nicht denkt. Jacobi zieht sein Fazit: »Man hat ziemlich allgemein von den Gesprächen dieses geistreichen Mannes über Gott geurtheilt, daß darin nicht die Lehre des Spinoza, sondern eine andre, die Spinoza hätte sen, im Sinne seiner These des unterscheidenden Charakters der Person gelesen haben. Ebenso wird sich Herder zum anderen für seine Deutung auf Lockes Äußerung bezogen haben, dass ›Person‹ unter der Perspektive von Zurechenbarkeit ein »Forensick Term« (II/27,28) ist. Vgl. hierzu W. H. Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, 24–26. Wenn Leibniz Nouveaux Essais II/27,9, die persönliche Identität gerade an der »apparence du soy« und nicht am Selbstbewusstsein festmacht, so kann sich Herder hier unmittelbar auf ihn beziehen. Vgl. Herders Belege in der zweiten Auflage H II, 1077, Variante 320. 319 Vgl. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 226–228. 320 FA 4, 728. 321 AaO. 743 f. 322 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 247. 323 Ebd.

3. Der Geist des Spinozismus

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haben sollen, von dem Vorwurfe des Atheismus gerettet werde. Aber denn müßte die Zusammensetzung des Herderischen, und Läuterung des Spinozistischen Gottes wenigstens eine mögliche Zusammensetzung und Läuterung seyn, welches sie mir nicht zu seyn scheint«324.

Ist dieser radikale Einwand von Jacobi gegen Herders Deutung Spinozas gerechtfertigt? Zunächst wird man schlicht feststellen müssen, dass der Widerspruch, den Jacobi bei Herder festzustellen meint, ein von Jacobi selbst konstruierter Widerspruch ist, wenn er behauptet, Herder wolle im dritten Gespräch dem Denken in dem Sinne eine leitende Stellung zusprechen, dass Gott sich in dem Denken selbst bestimme. Er schiebt hier Herder quasi seinen eigenen Begriff vom Denken und damit auch seinen Freiheitsbegriff unter und behauptet dann, Herder würde mit sich in Widerspruch geraten. Tatsächlich ist es aber so, dass das vierte Gespräch nur eine dem dritten Gespräch inhärierende Voraussetzung explizit macht, die von Herder auch selbst ausdrücklich reflektiert wird. Jacobis Missverständnis macht aber zugleich deutlich, worum die Debatte zwischen ihm und Herder im Kern geht: es ist in letzter Konsequenz ein Streit um den Freiheitsbegriff. So muss es etwa schon auffallen, dass Herder Gott zwar nicht als Person, aber doch als ein Selbst mit einem Bewusstsein seiner Selbst begreifen will – er also die Jacobische Einheit des Selbstbewusstseins durchaus anerkennt. So weit scheinen die beiden Positionen also nicht auseinander zu liegen. Wenn sie sich aber dennoch unversöhnlich gegenüberstehen, so muss dies einen tieferen Grund haben als allein die differente Bestimmung des Personbegriffs. Und dieser liegt in der Frage, was unter Freiheit zu begreifen ist. Herder verschränkt zur Entfaltung seiner Position drei Argumentationslinien miteinander: Er rekurriert auf Spinozas Freiheitsbegriff, Kants Lehre vom Realgrund aller Möglichkeit und auf seine eigene Auflösung der Attributenlehre. Herder bestreitet es Jacobi zunächst »völlig, daß Spinoza Gott zu einem Gedankenlosen Wesen dichte«325 . Zum Beleg seiner These verweist Herder auf die Passagen Spinozas, wo dieser die Eigenschaft eines »unendlichen Denkens«326 in Gott thematisiert. Nun liegt es auf der Hand, dass Jacobi sich von dieser Behauptung nicht überwunden fühlen kann, da jenes unendliche Denken ja gerade in Spinozas Theorie der unendlichen Modi zu verorten ist, die ihrerseits in der Funktion steht, die Attribute mit den endlichen Modi zu vermitteln.327 Mit anderen Worten: das unendliche Denken ist nach Spinoza gerade kein Prädikat, das der Substanz selbst zukommt, wie Jacobi Herder treffend entgegenhält. Tatsächlich wird Herders Argument erst dann verständ324 325 326 327

AaO. 248 FA 4, 725. Ebd. Vgl. W. Bartuschat, Spinoza, 69–84.

132 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie lich, wenn man erkennt, dass er an dieser Stelle aus seiner Auflösung der Attributenlehre seine letzte Folgerung zieht. Dadurch dass Herder die attributive Differenz von extensio und cogitatio zugunsten eines Kräftemonismus auflöst, wird es ihm möglich, die Kraft des Denkens unmittelbar mit Gott als der Urkraft zu identifizieren. Indem Herder Gott als die »unendliche, ursprüngliche Denkkraft«328 charakterisiert, begreift er Gott als Geist. Wenn Herder durch die Auflösung der Attribute den Weg frei macht, die spinozanische Substanz in ihrem Wesen als Geist zu verstehen, so ist damit noch nicht gesagt, wieso Herder Gott überhaupt als Geist begreifen will – Spinoza hatte dieses Bedürfnis offenbar nicht. Es ist ironischer Weise strukturell ein ähnliches Argument zu dem, warum Jacobi Gott als Person denken möchte. Wie gesagt, führt Jacobis Selbsterfahrung als einer religiös-ethischen Subjektivität zu der Forderung, dass auch Gott als ein personales Gegenüber begriffen werden muss, wenn jene Selbsterfahrung nicht auf bloßem Schein beruhen soll. Herder argumentiert ganz analog aus der Vorfindlichkeit des endlichen Denkvermögens: »Das Wesen Gottes ist bei ihm durchaus Wirklichkeit und Spinoza war selbst zu sehr ein Denker um nicht die Realität auch dieser Vollkommenheit, der höchsten, die wir kennen, innig zu schätzen und zu fühlen. Sein höchstes Wesen also, das alle Vollkommenheit auf die vollkommenste Weise besitzet, kann der vorzüglichsten derselben, des Denkens, nicht ermangeln: denn wie wären sonst Gedanken und Vorstellungsarten in eingeschränkten, denkenden Geschöpfen? die, nach Spinoza’s System allesamt ja nur Darstellungen und reale Folgen jenes höchstrealen Daseins sind«329.

Während also Jacobi von seiner Personalität auf die Personalität Gottes schließt, schließt Herder vom endlichen Denken auf das Vorhandensein des göttlichen Denkens. Sachlich folgt er damit einer Argumentationsfigur aus Kants Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von 1763, die er schon aus Studienzeiten kannte und der auch seine erste philosophische Schrift Versuch über das Sein von 1764 galt. Kant hält dort fest: »Weil nun die Folge den Grund nicht übertreffen kann, so müssen Verstand und Wille der notwendigen einfachen Substanz als Eigenschaften beiwohnen, das ist, sie ist ein Geist«330 . Nun rekurriert Jacobi auf die Anmerkung zu diesem Lehrstück, um darzutun, dass Herder Gott nicht zugleich als Geist und Dasein denken kann. Jacobi zitiert Kant: »Denn ohne eigene Erkenntniß und Entschließung würde es ein blindlings nothwendiger Grund anderer Dinge, und sogar anderer Geister seyn, und sich von dem ewigen Schicksale einiger Alten in nichts unterscheiden«331. Gott als Geist zu denken, 328 329 330 331

FA 4, 727. AaO. 725; H. i. O. Vgl. Eth. II, ax. 1 sowie prop. 1. I. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund, A 40. F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 229.

3. Der Geist des Spinozismus

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bedeutet für Jacobi demnach, dass Gott sich in seinem Dasein selbst bestimmen kann. Dann kann das Dasein Gottes aber auch nicht höher als alle seine Wirkungen, also hier als das Denken Gottes sein, sondern das Denken Gottes bestimmt vielmehr sein Sein. Tatsächlich ist es jedoch Herder und nicht Jacobi, der sich hier auf Kants Beweisgrund beziehen darf.332 Denn entgegen Jacobis Versicherung, dass Kants Beweisgrund die Herdersche Option verbieten würde, kann Herder Kant zu Recht so lesen, dass dieser die These von der logischen Vorgängigkeit des Dasein Gottes mit der These von Gott als Geist verbunden hat. Zentral ist für Herder zunächst die modaltheoretische Überlegung Kants, dass jede Möglichkeit eine Wirklichkeit zur Voraussetzung hat, so dass diese Wirklichkeit selbst als Voraussetzung ihrer Möglichkeit gedacht werden muss. Wo Gott nun als Geist gedacht wird, bezieht er sich auf sich als auf eine reale Folge aus seiner Wirklichkeit, so dass er erkennen kann, was in ihm ist und aus ihm notwendig folgt. In diesem Sinne ist das »Wesen Gottes mit seinem Willen in der größesten Zusammenstimmung«, allerdings nicht in dem Sinne »als wenn Gott durch seinen Willen der Grund der inneren Möglichkeit wäre«333 , sondern der innere Grund der Möglichkeit ist immer schon das Wollen der in seiner Wirklichkeit liegenden Möglichkeit. Die von Jacobi zitierte Passage muss demnach als ein notwendiges Erkennen und Entschließen Gottes verstanden werden, dem weder eine das Wesen formierende noch alternierende Funktion zukommt: »In diesem Sinn erkennet der höchste, d. i. primitive Verstand nur sich selbst, und in sich alles Mögliche als Folge«334 . Das heißt also, dass das Denken nicht dem Dasein vorausgeht, sondern das Denken ist Vollzug des Daseins selbst bzw. das Dasein ist immer schon denkendes Dasein. Die hiermit konstatierte Koinzidenz von ontologischer und logischer Struktur im Gottesgedanken macht Herder auch bei Spinoza aus. Nur im Sinne dieser Koinzidenz ist für Herder von Gott als absolutem Geist zu sprechen, d. h. in einer Weise, die den Gottesbegriff nicht wieder zu einer »schwachen Vergleichung mit einzelnen Erscheinungen der Schöpfung erniedrig[t]«335 – wofür Herder Jacobis Geist- und damit auch Freiheitsbegriff paradigmatisch vor Augen steht. Selbst Leibniz bleibt mit seiner »moralischen Notwendigkeit« für Herder hinter Spinozas Einsicht zurück, wenn jener sich den »Anthropopathien einer göttlichen Wahl nach Überlegung, ei332

Vgl. hierzu M. Heinz, Die Kontroverse zwischen Herder und Jacobi über Spinoza, 75–87, die die Bedeutung von Kants Beweisgrund als Subtext zu der strittigen Frage m. E. treffend herausarbeitet. 333 I. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund, A 48. 334 H II, 1076, Variante 320. 335 FA 4, 725.

134 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie ner Auswahl des Besseren unter vielem Schlechtern nach Konvenienzen«336 hingibt. »Sittengesetze von außen«, betont Herder dagegen, »kennet Gott nicht«337. Leibniz’ Theorie von der besten aller möglichen Welten, wird also von Herder abgelehnt, nicht weil er die Welt nicht für die beste hielte, sondern deshalb, weil diese Theorie faktisch mit einem rechnenden – und das heißt für Herder: endlichen – Verstand Gottes operiert, der sich erst mit sich selbst beratschlagen muss: »Vor Gott lagen keine Risse aufgeschlagen; er saß nicht wie ein grübelnder Künstler, der sich den Kopf zerbrach, entwarf, verglich, verwarf, wählte. Kein Reich des Möglichen ist ohne und außer Gott da: denn wenn Ers nicht schaffen wollte, nicht schaffen konnte: so war es nicht möglich«338 .

Nichtrealisierte Möglichkeit tritt nur unter der Perspektive der Endlichkeit, also der Zeitlichkeit auf. Sub specie aeternitatis, also aus der Perspektive Gottes, ist Möglichkeit immer schon verwirklichte Möglichkeit, mithin Realität. Wenn Herder schon diese Option Leibnizens einer moralischen Notwendigkeit, die nach Jacobi ebenso wie Spinozas System in den Determinismus führt, für einen adäquaten Gottesgedanken für unterbestimmt hält, um wie viel mehr muss ihm Jacobis Konzept einer Indifferenzfreiheit als der reinste Anthropomorphismus erscheinen. Dieser Anthropomorphismus führt es nach Herder mit sich, dass er auf die Vorstellung eines Willkür-Gottes führt. Dieses – man könnte sagen – soteriologische Argument ist für Herder zu beachten. Dem Gang der Vorsehung ist nach Herder nur dann zu vertrauen, wenn Gott seinem Wesen gemäß denkt und wirkt. Bestimmt das Denken das Wesen, dann ist immer auch ein Anderssein Gottes möglich und damit letztes Vertrauen unmöglich. Dementsprechend betont Herder: »Nach ewigen Gesetzen seines Wesens denkt, wirkt und ist Gott das Vollkommenste auf jede von ihm allein denkbare, d. i. die vollkommenste Weise«339. Für Herder ist demnach Gottes Freiheit seine Notwendigkeit und dies zeichnet seine Gottheit aus340 , die also gerade nicht als »Selbstbindung«341 im Sinne von Indifferenzfreiheit gedacht werden soll. Im Denken stellt Gott sich selbst in seiner Notwendigkeit vor. Wenn das Denken und somit der Geist in dieser Weise gefasst sind, dass sie sich in der Notwendigkeit des Wesen Gottes vollziehen, dann können sie nach Herder gefahrlos auf den Gottesbegriff angewendet 336

AaO. 745. AaO. 732. 338 AaO. 729. 339 AaO. 728. 340 Vgl. Eth. I, prop. 17, coroll. 2. 341 So E. Herms, »Gott«. Herders Philosophie des Geistes, 65, der hiermit gerade an der Pointe von Herders Geistbegriff vorbei geht und Herder damit unter der Hand zu Jacobi macht. 337

3. Der Geist des Spinozismus

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werden. Das Denken Gottes kann demnach entgegen Jacobi nicht der Grund des Daseins Gottes sein, weil er daseiend als Gedanke das Dasein als inneren Grund seiner Möglichkeit voraussetzt. Insofern findet sich das existierende Denken immer im Dasein und kann es folglich auch nicht erschöpfen. Dem Dasein kommt nach Herder so eine logische Vorgängigkeit zu, wenn dieses Dasein sich auch wesenhaft denkend realisiert und das heißt zugleich sich in seinem Dasein setzt.342 Das Dasein Gottes setzt sich denkend in seinem Dasein. Das Denken kann sich insofern sein eigenes Dasein nicht geben, sondern sich stets nur im Dasein denkend finden. Da Gott sich also nach Herder denkt und zwar in seiner Notwendigkeit denkt, ist allein Gott wahrhaft frei. Gott ist für Herder somit denkende Notwendigkeit bzw. notwendige Freiheit. Dementsprechend ist es die Natur dieses »ewigen unveränderlichen Geistes«343 , dass er Weisheit und Güte ist und nicht bloß weise Gedanken und gute Wirkungen hat: »Die Wirkung des höchsten Verstandes, der nach notwendigen innern Gesetzen seines Wesens, mithin der vollkommensten Güte und Weisheit wirket, ist nicht Zufall, so wenig der Verstand Gottes selbst zufälligweise, zufällig-gut ist«344 . Damit wird deutlich, dass sowohl Wekhrlins wie auch Jacobis Einwürfe jedenfalls dahingehend unzutreffend sind, als sie Herder ein widersprüchliches Gedankengebäude vorwerfen. Wenn Herder Gott als Geist denkt, so erweist sich ihm das Geistsein Gottes gerade in dessen Notwendigkeit, die als solche wahre Freiheit ist. Gottes Freiheit hingegen dahin auszulegen, dass sie sich gerade in der Durchbrechung der Notwendigkeit manifestiert – etwa in Form des Wunders – macht für Herder den Gottesbegriff unsicher. Ein Gott, dessen Wesen, Denken und Wirken nicht immer schon in Einheit stehen, droht zu einem wankelmütigen Gott zu werden. Herder widerspricht also gar nicht Jacobis Behauptung, dass der Spinozismus in einen Determinismus führt, sondern er wertet ihn grundsätzlich anders: »Es gibt ein blindes und sehendes, ein heidnisches, mahomedanisches und christliches Schicksal. Das letzte liegt im unabänderlichen Begriff der höchsten Macht, Weisheit und Güte; es kann also auch nicht anders als das Ziel jeder wahren Demonstration werden: denn Willkürlichkeiten lassen sich nie erweisen«345 .

Weisheit und Güte sind für Herder dementsprechend nicht mehr Äußerungen eines abwägenden Verstandes, sondern das Wesen Gottes selbst, der nur deshalb vertrauenswürdig ist. 342 Herder bringt damit seine frühe epistemologisch begründete Ansicht vom Dasein als einem unzergliederbaren Begriff für seine Ontologie konsequent zur Anwendung. 343 FA 4, 730. 344 AaO. 734. 345 AaO. 748.

136 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie 3.3.2 Das Absolute und die Individualität a) Gottes schöpferisches Dasein Hatte Herder in der ersten Auflage der Gespräche die Frage, wie in diesem spinozanischen System Individualität zu denken ist, an verschiedenen Stellen nur angerissen, so widmet sich dem in der zweiten Auflage ein umfangreicher Zusatz.346 Dieser Zusatz ist in einer zweifachen Hinsicht aufschlussreich. Zum einen zeigt Herder sich hier einmal mehr als ein im Vergleich mit der antispinozistischen Auslegungstradition scharfsinniger Spinozainterpret, wenn er Spinoza als einen Individualitätstheoretiker deutet.347 Zum anderen ist der Zusatz von werkgeschichtlichem Interesse, insofern er hier die am Ende seiner Preisschrift Über den Ursprung der Sprache offen gelassene Frage, inwiefern die Anthropologie theologisch fundiert ist, einer Antwort zuführt. Es wurde oben deutlich 348 , dass Herder den Menschen in seiner artspezifischen Differenz zwar aus der übrigen Kreatur hervorgehend versteht, ihn zugleich aber auch als über sie hinausgehend begreift. Dieser transzendierende Charakter stellt sich darin dar, dass der Mensch wesentlich ein Sprachgeschöpf ist. In dieser fundamentalanthropologischen These erkannten wir eine doppelte Abgrenzung: Einerseits wird damit von Herder die Theorie negiert, nach der sich der Mensch erst aus einem animalischen Zustand herausläutern müsse, und andererseits wird jene Theorie zurückgewiesen, wonach Gott dem Mensch die Sprache gleichsam ab extra eingestiftet habe. »Sprache«, so betont Herder, ist der »Unterscheidungscharakter unsrer Gattung von außen [. . .], wie es die Vernunft von innen ist«349. Dieser unterscheidende Charakter wird von Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache nicht weiter abgeleitet, sondern in seiner Faktizität bezüglich der ihm inhärierenden kulturtheoretischen Konsequenzen fruchtbar gemacht. Dass diese Anthropologie selbst aus einem metaphysischen Grund erwächst, wird von Herder abschließend nur angedeutet: »Der höhere Ursprung ist, so fromm er scheine, durchaus ungöttlich: Bei jedem Schritte verkleinert er Gott durch die niedrigsten, unvollkommensten Anthropomorphien. Der menschliche zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft, als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, so fern er menschlich ist«350 . 346

Vgl. H II, 1100–1103; Variante 581. Vgl. hierzu T. Kisser, Selbstbewußtsein und Interaktion. Spinozas Theorie der Individualität, Würzburg 1998. 348 Vgl. Kap. I 3.2 sowie 3.3. 349 FA 1, 732 f. 350 AaO. 809; H. i. O. 347

3. Der Geist des Spinozismus

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Wie das aber zu denken ist, dass der Mensch Bild Gottes und als solches in der Sprachschaffung schöpferisch tätig ist, wird – abgesehen von dem assoziativen Zusammenhang mit dem Gottebenbildlichkeitsgedanken nach Genesis 1,27 sowie der Homoiosis-Lehre – nicht weiter erläutert. Eine Letztbegründung nimmt Herder in diesem Zusammenhang und auch in den Ideen nicht vor. Man wird vielleicht sogar berechtigt sein, Herders Gott als Spätwirkung von Hamanns Kritik an ihm lesen zu dürfen.351 Herder macht hier deutlich, wie er die im Frühwerk mehr gefühlte Immanenz des Göttlichen im Menschen auch intellektuell bewältigen will. Der Ort der Vermittlung wird ihm jetzt die Theorie der Individualität.352 Nach dem bereits Ausgeführten muss Herders Theorie der Individualität drei Aspekte erfüllen: Erstens kann endliche Individualität nicht im Sinne von strikter Selbstständigkeit gedacht werden, da allein Gott das Prädikat zukommt, causa sui zu sein. Daraus folgt zweitens, dass ein adäquater Begriff von endlicher Individualität nicht aus einem Gegenüber zum Absoluten gewonnen werden kann, was einer Verabsolutierung des Individuums gleich käme, sondern vielmehr als im Absoluten gegründet und aufgehoben begriffen werden muss. Eine ausgebildete Theorie der Individualität kann unter diesen Bedingungen drittens nur in einer Fortführung von Spinozas Theorem der scientia intuitiva gesucht werden, insofern hier das Einzelne in seiner Individualität als durch Gott begründet verstanden werden soll. Schon in der ersten Auflage sucht Herder die Lösung zu einer Theorie der Individualität in der Verknüpfung dieser drei Momente. So formuliert er im zweiten Gespräch das Unbehagen, den Substanzbegriff allein für Gott zu reservieren und dem Menschen Substantialität ganz abzusprechen: 351 Eine Antwort freilich, die den ›Magnus in Norden‹ ebenfalls nicht beglückt haben wird. Bereits in seinem Brief an Jacobi vom 15. März 1786 hält Hamann fest: »Die ganze Lehre des Sp[inoza] ist in meinen Augen keiner Widerlegung werth« (Briefwechsel Bd. 6, 318). Und auch nachdem er Herders Gott gelesen hat, ist er nicht zu einer Revision seiner Auffassung gekommen, wie sein Schreiben vom 2. Juli 1787 an Herder bezeugt: »Sie und [. . .] Jacobi thun dem Spinoza zu viel Ehre, ich bin daher mit keinem von beyden recht zufrieden« (Briefwechsel Bd. 7, 243). Gegenüber Jacobi macht Hamann am 4. März 1788 deutlich, dass dasjenige, was seines Erachtens sowohl die Verteidigung wie auch die Widerlegung des spinozanischen Systems mehr oder weniger überflüssig erscheinen lässt, eine unmittelbare Folge seiner Hamartiologie darstellt: »Alle Lügensysteme sind natürl. Auswüchse unserer verdorbenen Grundlagen, die allen Menschen gemein sind. Ein Schlüßel für alle, Eine Sonne für den Tag, unzähliche für die Nacht« (aaO. 412). 352 H. Timm, Gott und die Freiheit, 282–306, zeichnet nach, wie sich über Herders frühe Schriften Über die dem Menschen angeborene Lüge, Verstand und Herz sowie Liebe und Selbstheit diese im Gottesgedanken gegründete Individualitätstheorie ausbildet. Während in Herders Phase des Sturms und Drangs, die Individualität noch in der Gottheit unterzugehen droht, wird sie schließlich in den Gesprächen als in Gott gegründet gedacht.

138 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie »Indessen hat dieser geometrische Begriff [sc. Substanz] in der Philosophie [. . .] keinen allgemeinen Gebrauch erhalten können, weil wir uns bei aller unsrer Abhängigkeit dennoch für selbstständig halten und auf gewisse Weise auch halten können, wie wir bald sehen werden«353.

Im fünften Gespräch greift er diesen Faden wieder auf: »Aller unsrer Abhängigkeit ohngeachtet sind oder dünken auch wir uns Substanzen und fühlen unser Dasein mit [. . .] inniger Gewißheit«354 . Die Evidenz der Selbsterfahrung als eines Individuums ist es also, die gemäß der Metaphysik des Endlichen gegen ein Aufgehen des Individuums in der Gottheit in Vollzug gebracht wird. Zu einer konzentrierten Bearbeitung des Individualitätsthemas kommt es aber in der ersten Auflage nicht mehr, wenn es auch an verschiedenen Stellen von Herder angeschnitten wird.355 Dabei hätte Herder es auch bewenden lassen, wenn Jacobi nicht in der zweiten Auflage seiner Spinozaschrift in der VI. Beilage noch einmal im Anschluss an Mendelssohn 356 das antispinozistische Standardargument betont vorgetragen hätte. Es lautet: »Der Spinozismus kann nur von der Seite seiner Individuationen mit Erfolg angegriffen werden«357. Jacobi beruft sich für diese These auf Leibniz, der dem Substanzmonismus Spinozas ja gerade sein Konzept der substantiellen Monaden entgegenstellt und so individuierte Kräfte gestufter Ordnung zur wahren Wirklichkeit der erscheinenden Welt macht, d. h. nicht zu bloßen Erscheinungen wie es Spinoza vorgeworfen wird.358 Durch diesen Widerspruch herausgefor353

FA 4, 703. AaO. 767. 355 Vgl. FA 4, 734; 771 f.; 779; 784. Sofern Herder die individualitätstheoretische Valenz seiner Spinozadeutung in der ersten Auflage reflektiert, so geschieht das bereits hier überwiegend in dem fünften Gespräch. Deshalb wird man kaum wie D. Bell, Spinoza in Germany, 136, und der sich ihm hierin anschließenden M. Heinz, Existenz und Individualität, 160, sagen können, Herders umformende Spinozarezeption sei mit dem vierten Gespräch abgeschlossen. 356 Vgl. M. Mendelssohn, Morgenstunden, 392 f. sowie 404–412. 357 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 234. An dieser Stelle schließt auch der frühe Schleiermacher gegen Jacobi seine konstruktive Deutung des Spinozismus als Individuationstheorie an; vgl. C. Ellsiepen, Anschauung des Universums, 140–227. Vielleicht hatte Herder auch noch den Brief von Dahlbergs vom 10. Januar 1777 vor Augen, wo dieser in seinen »Einwendungen gegen Spinoza« schrieb: »Das Gefühl der Individualität, daß ich nicht Du, daß Hans nicht Kunz ist, dieses Gefühl ist das gewisseste, bestimmteste in unserm ganzen Dasein« (Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß III, 250). 358 Vgl. zu Leibniz’ Individuenbegriff E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, 355–482, sowie M.-T. Liske, Leibniz, 64–107. Ob und inwiefern Leibniz mit seiner Konzeption nicht auch einen verdeckten Monismus vertritt, kann hier nicht diskutiert werden; vgl. dazu Liske, aaO. 122–127. Schon Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 239, betont, dass Leibniz nur »einen Schein von Dualismus« bewahrt. Die prästabilierte Harmonie ist, wie Jacobi treffend bemerkt, der Intention nach vielmehr »Wegräumung des Dualismus«. 354

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dert, sieht Herder sich veranlasst, in der zweiten Auflage dem Thema Individualität noch einmal konzentriert seine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In der ersten wie in der zweiten Auflage setzt Herders Problematisierung der Individualitätsthematik mit der von Mendelssohn aufgerufenen Frage an, ob wir denn »bloß Modificationen«359 der einen Substanz sind. Hatte sich in der ersten Auflage diese Frage an der auf Spinoza zurückgehenden rein semantischen Differenz von ›Substanz – Modifikation‹ gestellt, rekurriert Philolaus in der zweiten Auflage auf das erste »Naturgesetz der heiligen Notwendigkeit«360 : »Darf ich jetzt mit meinem Vorbehalt erscheinen, Theophron? Ihr erster Grundsatz hieß: ›Das höchste Dasein hat seinen Hervorbringungen das Höchste gegeben, Wirklichkeit, Dasein.‹ Gerade dies, sagt man, mangelt dem System unsres Philosophen, nach ihm gibt es kein Dasein; es ist nur Eine Substanz; wir sind bloß Modificationen«361.

Der entscheidende Terminus zur Rekonstruktion von Herders Theorie der Individualität ist hier der des Daseins. Unter dem Terminus ›Dasein‹ thematisiert Herder offenbar die Kategorie, unter der die unendliche Substanz und ihre endliche Modifikation gleichermaßen begriffen werden können. Inwiefern soll nun aber das endliche Dasein in seiner Individualität aus dem höchsten Dasein Gottes begriffen werden? In Bezug auf jene drei genannten für Herders Theorie der Individualität valenten Aspekte ist also konkret herauszuarbeiten, inwiefern Herder im Daseinsbegriff Endliches und Unendliches vermittelt denkt. Und zwar so vermittelt, dass darin einerseits deutlich werden muss, inwiefern Gottes Dasein vom endlichen Dasein qualitativ unterschieden ist und andererseits, inwiefern das endliche Dasein als ein relativ Selbstständiges nur aus dem ewigen Dasein Gottes verstanden werden kann. Mithin muss Differenz wie Identität von Gottes Dasein und endlichem Dasein deutlich werden. Und schließlich stellt sich noch die Frage nach dem epistemischen Ort und dem ontologischen Status dieser Vermittlung. Herder spitzt damit im fünften Gespräch seine Interpretation der Ethik Spinozas auf die Frage nach einer Theorie der Individualität zu. Anders als Leibniz, der eine Pluralität individueller Substanzen voraussetzt, verfolgt Spinoza laut Herder das anspruchsvollere Unternehmen, wie aus der Einheit der göttlichen Substanz eine Vielheit von Individualitäten begriffen werden kann. Dass Herder zur Bearbeitung der Individualitätsthematik auf den Daseinsbegriff zurückgreift, spricht abermals dafür, dass er Spinoza sehr genau gelesen 359

H II, 1100. Vgl. in der ersten Auflage FA 4, 703 in Anschluss an M. Mendelssohn, Morgenstunden, 393 und 397. 360 FA 4, 771. 361 H II, 1100.

140 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie hat. Denn schon Spinoza verwendet den Terminus existentia, der von Herder mit ›Dasein‹ übersetzt wird, sowohl für die unbedingte Substanz wie auch für die bedingten Modifikationen. Während Gott diejenige Existenz ist, der notwendig oder wesentlich Existenz zukommt 362 , ist der Mensch solch eine Existenz, in deren Begriff es nicht liegt, notwendig zu existieren 363. Oder anders gesagt: während Gottes Existenz eine solche ist, die aus sich existiert, ist die menschliche Existenz eine solche, die immer nur durch und mit anderem durch sich selbst sein kann. Eingedenk dieser Differenz werden Gott und Mensch von Spinoza aber gleichermaßen unter die Kategorie der Existenz gebracht.364 Abgesehen von dieser Verwendung des Existenzbegriffs sowohl für Gott wie für die endlichen Dinge, kann Herder sich für seine Interpretation auf unzählige Stellen bei Spinoza berufen, die faktisch mit dem Individualitätsgedanken operieren.365 Der Anspruch seiner Deutung geht jedoch über die bloße Feststellung dieser Faktizität hinaus, wenn er betont, dass es gerade das principium individuationis ist, welches er in der Ethica von der ersten bis zur letzten Seite entwickelt sieht.366 Herder kommt zu dieser weitreichenden These, indem er sowohl Spinozas Ontologie wie auch seine Erkenntnistheorie in diesem Punkt koinzidieren sieht. Denn die begriffliche Differenzierung Spinozas von Substanz, Attribut und Modus hat ja in der Tat keine andere Funktion, als die ontologische Vermittlung des Bedingten aus dem Unbedingten zu denken. Der Ontologie der Individualität im ersten Buch der Ethik korrespondiert die Epistemologie der Individualität in den Büchern zwei bis fünf. In ihnen geht Spinoza unter dem Fokus der Affektsteuerung der Frage nach, unter welchen Bedingungen sich die ontologische Individualität auch noetisch realisiert. Genau diese Korrespondenz von Ontologie der Individualität und Epistemologie der Individualität bei Spinoza wird von Herder unter dem Terminus ›Dasein‹ reflektiert. Der Begriff des Daseins hat für Herder zunächst die Funktion, Gott als Geist so zu denken, dass Gott sich in seinem Wesen als Möglichkeitsgrund seines Selbstbewusstseins selbst voraussetzt. Damit sieht Herder Spinozas Bestimmung Gottes als causa sui unter geisttheoretischem Aspekt eingeholt. Das ›Dass‹ dieses Vorausgesetztseins, gibt aber noch keine Auskunft darüber, ›wie‹ Gott sich selbst in seinem Dasein voraussetzt. Dies zu eruieren, ist für Herders Theorie der Individualität von entscheidendem Interesse, wenn das Bedingte Ausdruck des Unbedingten sein soll. Die Frage nach dem ›Wie‹ der 362 363 364 365 366

Eth. I, def.1. Eth. II, ax. 1. Vgl. zur Differenz Eth. II, prop. 45, schol. Vgl. hierzu E. Schürmann, »Ein System der Freiheit und der Freude«, 370–373. Vgl. H II, 1102.

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Selbsthabe Gottes ist sonach zugleich die Frage nach den Strukturisomorphien des Selbstseins Gottes und des Selbstseins unter den Bedingungen der Endlichkeit, die freilich qua ihrer Endlichkeit zugleich auf ihre Heteromorphien hin befragt werden müssen. Diese Doppelheit der Perspektiven ergibt sich notwendig aus dem Charakter der Welt als Selbstausdruck – alternativ spricht Herder auch von Offenbarung – Gottes, die aber nicht als schlechthin identischer Ausdruck gedacht werden kann, insofern dann Gott und Welt in der Tat entweder in eins fielen oder aber sich als zwei Götter bzw. zwei Welten gegenüber stünden. So hält Herder zwar fest: »In ihm konnte nichts schlummern und was er ausdrückte, war Er selbst«367. Dass das nicht als differenzlose Identität gedacht werden soll, macht Herder aber ebenso deutlich: »Dasein und Dasein, so einfach der Begriff ist, sind in ihrem Zustande sehr verschieden«368 . Das Dasein Gottes qualifiziert sich dadurch, dass sich in ihm Gott selbst voraussetzt. Das Sich-selbst-Voraussetzen Gottes, worin Gott sich in seiner Notwendigkeit als der, der er ist, erkennt, ist nach Herder die wahre und höchste Individualität. In diesem Sinne bietet er seine steile, Spinoza zum wahren Orthodoxen erklärende Deutung der Selbstvorstellungsformel Gottes nach Exodus 3,14: »Ihr Gott hieß Jehovah: d. i. ›ich bin der ich bin und werde sein, der ich sein werde.‹ Dieser Begriff schließt die höchste, völlig-unvergleichbare Existenz in sich [. . .]. Spinoza blieb diesem hohen, einzigen Begriff treu; deshalb er mir auch wert ist. Es gibt keinen absolutern, reineren, fruchtbareren Begriff in der menschlichen Vernunft: denn über das ewige, durch sich bestehende, vollkommenste Dasein, durch welches Alles gesetzt, in welchem Alles gegeben ist, läßt sich nicht steigen«369.

Entscheidend für das Verständnis des absoluten durch sich bestehenden Daseins ist, dass es sein Dasein genau darin hat, das endliche Dasein zu setzen. Die Wirklichkeit des absoluten Daseins muss also als die Einheit von Grund und Begründetem gedacht werden, wie auch das Theano in den Mund gelegte Gleichnis vom Lebensbaum verdeutlicht: »Sie haben uns zwar vor Bildern gewarnt, Theophron; aber ists wohl unerträglich zu denken, daß die Wurzel den Baum trage? Sie stürbe ab und wäre keine Wurzel, wenn sie die schöne Schöpfung des Stammes mit seinen Ästen, Zweigen, Blüten und Früchten nicht zu tragen hätte. So Gott, die ewige Wurzel vom unermeßlichen Baum des Lebens, der durch das Weltall verschlungen ist: Er die unendliche Quelle des Daseins, des größesten Geschenks, das nur Er mitteilen konnte«370 .

367 368 369 370

FA 4, 771 Ebd. AaO. 759. AaO. 770.

142 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Gott ist nach Herder das Dasein, das sein Dasein darin hat, Dasein zu geben. Demnach muss die für den Substanzbegriff formulierte strikte Selbstständigkeit des Absoluten371 als eine solche gedacht werden, deren Wesen es ist, relative Selbstständigkeit endlicher Entitäten zu konstituieren und somit sein reines Für-sich-Sein – das es demnach streng genommen nie gab – aufzuheben. Das Wesen der absoluten Selbstständigkeit Gottes besteht sonach genau darin, sich in relativen Selbstständigkeiten endlicher Entitäten zu realisieren. Indem Gott wesentlich Tat ist, existiert er in seiner Selbstständigkeit immer schon auf eine Welt in sich hin. Gottes Leben – so ließe sich für Herder sagen – legt sich wesentlich in sich selbst als Welt aus. Die Differenz der Bedingungsverhältnisse zwischen Gott und Welt bleibt dabei allerdings gewahrt. Die Welt bedingt Gott nur insofern zurück, wie das Wechselbedingungsverhältnis insgesamt durch Gott gestiftet und als solches Ausdruck seiner causa sui ist. Das Rückbedingen ist also ein solches, das selbst noch einmal durch Gottes Bedingen bedingt ist. Gottes Selbstsein bzw. seine Freiheit realisiert sich nach Herder wesentlich im Setzen einer Welt endlicher Entitäten. Erkannt wird diese ontologische Struktur aber nur am Orte des endlichen Subjekts. Und in dem Erkennen realisiert sich diese Struktur erst im Vollsinne. Die analogia entis ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und zugleich deckt die analogia rationis diese Ontologie der Wirklichkeit allererst auf. Gottes Dasein ist somit seinem Wesen nach schlechthin schöpferisch und nicht in einem bloß akzidentiellen Sinne. Das Dasein der Welt muss als sich notwendig realisierendes bzw. realisiertes Dasein Gottes verstanden werden – ›realisiert‹ sub specie aeternitatis, ›realisierend‹ sub specie progressus mundi. Das so verstandene Dasein Gottes ist nach Herder »der Urgrund aller Wirklichkeit, der Inbegriff aller Kräfte, ein Genuß, der über alle Begriffe geht«372 . Indem Herder in diesen drei Hinsichten das Wesen des Daseins Gottes bestimmt, bereitet er zugleich seinen Begriff der endlichen Individualität vor, insofern diese nämlich Ausdruck des Daseins Gottes ist: 1. Gott als der ›Urgrund aller Wirklichkeit‹ ist Grund gerade insofern, als sein Dasein wesentlich Grund für anderes ist. 2. Mit der Formulierung, dass Gottes Existenz der ›Inbegriff aller Kräfte‹ ist, rekurriert Herder auf seine oben dargelegte krafttheoretische Auflösung der spinozanischen Attributenlehre.373 Da alles, was ist, in Gott ist, »et nihil sine Deo esse, neque concipi potest«374 , kann unter krafttheoretischer Perspektive Gott als der Inbegriff aller Kräfte begriffen werden. Der volle Sinngehalt dieser Deutung Gottes als der Urkraft 371 372 373 374

Vgl. Kap. II 3.1.1. FA 4, 744. Vgl. Kap. II 3.2.1. Eth. I, prop. 15.

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aller Kräfte wird deutlich, wenn man sie nochmals auf das obige Bild vom Baum des Lebens zurück bezieht. Entscheidend an diesem Bild, welches für Herder diesbezüglich mehr als ein bloßes Bild ist, ist die organologische Deutung des Gott-Welt-Zusammenhangs. Die Welt ist in ihrem inneren Zusammenhang nach Herder der organische Selbstausdruck Gottes. Wie alle Kräfte sich nach Herder nur organisch, d. h. sich in ihren Wirkungen darstellend ausdrücken, so gilt dies auch für die Urkraft, die sich in der Welt der Kräfte notwendig die Sphäre ihrer Wirksamkeit bildet. 3. Schließlich ist für den hier zu behandelnden individualtheoretischen Zusammenhang noch die letzte Wendung von zentralem Interesse. Gottes Dasein ist wesentlich als ein solches zu begreifen, das einen ›Genuß, der über alle Begriffe geht‹, beinhaltet. Diese Formulierung ist deshalb zentral, weil ›Genuß‹ genau dasjenige Moment von Reflexivität in sich fasst, welches es Herder erst ermöglicht, Gottes Dasein im Vollsinne als Individualität, als Selbst zu begreifen, wenn auch nicht – wie wir oben sahen – als Persönlichkeit. Worauf kann sich Herder für diese These des Selbstgenusses Gottes bei Spinoza beziehen? Es kommt dafür eigentlich nur Eth. V, prop. 35 in Frage. Dort formuliert Spinoza: »Deus se ipsum Amore intellectuali infinito amat«. Diese geistige Selbstliebe Gottes ist aber, wie Spinoza fortfährt 375 , nur als sich realisierende geistige Liebe des Menschen zu Gott da, die also nach Spinoza gerade nicht als Individualität Gottes zu begreifen ist bzw. nur in einem metaphorischen Sinne als Selbstliebe. Nach Herder ist der Selbstgenuss Gottes zwar auch über die Totalität der Wirklichkeitsfülle vermittelt, aber durch seine Auflösung der Attributenlehre hat er den Boden bereitet, um von einem echten und nicht bloß metaphorisch Selbstgenuss Gottes zu sprechen. Gottes Selbstgenuss ist nach Herder ein solcher, in dem Gott sich vermittelst des Endlichen realiter selbst genießt. Für Herders Theorie der Individualität ist es nun entscheidend zu sehen, dass er mit dem hier eingeführten Begriff des Genusses keiner Gefühlsunmittelbarkeit das Wort redet – weder auf theologischer noch auf humaner Ebene.376 Der Selbstgenuss Gottes in seinem Dasein besteht eben darin, dass er sich erkennt und zwar vollständig erkennt. Dasein, Genuss und Selbsterkenntnis Gottes müssen für Gott als koinzidierend gedacht werden. Die Formulierung, wonach der Genuss »über alle Begriffe geht« – eine Aussage, die auf Lessing zurückgeht –, wird schon in der ersten Auflage relativiert, wenn Theophron kritisch nachfragt, ob dieser Genuss denn auch »außer allem Begriff liegt«377. Und in der zweiten Auflage fügt er betont an: »Diese Behaup375 376

Vgl. Eth. V, prop. 36. So aber die ansonsten luzide Deutung von M. Heinz, Existenz und Individualität,

171 f. 377

FA 4, 744.

144 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie tung liegt völlig außer meinem Begriff; d. i. ich kann mir dabei nichts denken. Die höchste Kraft muß sich selbst kennen; sonst ist sie eine blinde Macht, die sich selbst weder genießen noch gebrauchen kann, der die innigste wahrste Wahrheit fehlet«378 . Diese Präzisierung der zweiten Auflage macht unzweideutig klar, dass die Selbsterkenntnis Gottes die conditio sine qua non ist, damit Gott sich in seinem Dasein selbst genießen kann. Der Genuss Gottes muss dann als der subjektive Reflex auf die Selbsterkenntnis Gottes in seinem objektiven Dasein als Notwendigkeit verstanden werden, welches sich in der Einheit von Grund und Begründetem als Totalität der Wirklichkeitsfülle manifestiert. Demnach kann die Aussage, dass der Genuss über alle Begriffe geht, also nicht im Sinne einer Unmittelbarkeit der Selbstrepräsentation des Daseins Gottes im Genuss verstanden werden. Vielmehr vermittelt sich im Vollzug der Selbsterkenntnis die Selbstrepräsentation des Daseins Gottes im Genuss, von dem nun nur in dem Sinne gesagt werden kann, dass er über alle Begriffe geht, wie sein intentionales Korrelat, das Dasein Gottes, der Grund eines jeden Begriffs ist. Dementsprechend kann Herder Gott auch als den »Grund und Inbegriff alles Genusses«379 bezeichnen. Insofern also das Dasein als der vorbegriffliche Grund aller Begriffe im Denken Gottes begriffen wird, erzeugt dies eodem actu einen Genuss, der intentional über alle Begriffe geht, da in ihm das Dasein als dieser vorausgesetzte Urgrund aller Begriffe repräsentiert wird bzw. – wie wir für Gott sagen müssen – immer schon präsent ist. Was hier für Gott als in einem Nu gedacht werden muss, stellt sich im endlichen Subjekt nur in zeitlicher Differenz ein, wodurch es als ein geschichtliches Selbst konstituiert wird. In diesen drei Bestimmungen ist für Herder Gott das einzig echte Dasein und die vollkommene Individualität. Wie lässt sich unter diesen Bedingungen nach Herder endliche Individualität denken und welches ist ihr Charakter? In dem Zusatz der zweiten Auflage bearbeitet Herder diese Frage konzentriert, indem er Spinozas Theorie des amor Dei intellectualis mit Shaftesburys Begriff vom Selbst verschränkt.380 b) Zur Konstitution endlicher Individualität Wenn Herder Gottes Dasein als den Urgrund aller Wirklichkeit exponiert, so muss das endliche Dasein als Ausdruck dieses ursprünglichen Daseins begriffen werden. Diese Ausdrucksrelation ist auf ihre identischen wie ihre differenten Momente hin zu befragen. So gilt für den endlichen Geist wie für den 378 379 380

H II, 1078 f., Variante 335. FA 4, 767. Vgl. H II, 1100–1106, Variante 581.

3. Der Geist des Spinozismus

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unendlichen Geist gleichermaßen der Voraussetzungscharakter des Daseins gegenüber den cognitiven und voluntativen Kräften.381 Analog zum Unendlichen existiert das Endliche in seinen Vollzügen unvorgreiflich immer aus seinem Dasein heraus und auf dieses hingeordnet, ohne einen Ort jenseits seines Daseins finden zu können. Aber als Ausdruck Gottes bzw. als dessen Geschöpf setzt sich das endliche Dasein nicht selbst, sondern findet sich vor als sich vorausgesetzt. In diesem präzisen Sinne sind Individualitäten als »Weisen der Existenz«382 zu begreifen. Entscheidend für Herders Verständnis von Individualität ist an diesem Punkte, dass er Individualität zunächst nicht als Form der Selbstzuschreibung charakterisiert, sondern – in Anschluss an Shaftesbury – ontologisiert. Auf die Frage, was ihre Individualität ausmache, antwortet Theano, dass das principium individuationis weder in der eigenen Erscheinung noch in Formen der mentalen Repräsentation wie Phantasie, Geschmack, Erinnerung oder der Reflexion überhaupt gefunden werden könne. Gestalt und Reflexion ruhen, so Herder, vielmehr auf dem Prinzip der Individuation auf, welches in nichts anderem als dem Dasein als jeweiliger Weise der Existenz selbst liegt, also immer vorgängig ist gegenüber jeglicher Form seiner Repräsentation. Dieses Dasein, welches als der Grund aller Kräfte gedacht werden muss, wird von Herder als der »Mittelpunct der Selbstbestandheit« bzw. als »Selbst«383 begriffen. Damit bringt Herder seine Theorie von der logischen Vorgängigkeit des Daseins gegenüber seinen reflexiven Kräften konsequent für seinen Begriff des Endlichen in Anwendung. Sachlich knüpft er damit an Shaftesburys Begriff des Selbst an, wenn er auch nicht dessen Bestimmung des Selbst als einer Substanz übernimmt.384 Aber wie Shaftesbury wendet er sich gegen eine primär bewusstseinstheoretische Deutung des Individualitätsgedankens als Form der Selbstzuschreibung. Während Shaftesbury dies gegen Locke ausführt, sind Herders implizite Gegenpositionen Kant und Fichte.385 So betont Herder: »Also liegt die Überzeugung von unserm Selbst, das Principium uns381 Vgl. hierzu die Ausführungen von E. Herms, »Gott«. Herders Philosophie des Geistes, 69–71. 382 H II, 1101. Der Begriff ›Weise‹ ist dabei die übliche Übersetzung des spinozanischen Modusbegriffs. Vgl. hierzu Herders Fassung der fünften Defi nition des ersten Buchs der Ethik in seinem Exzerpt Grundsätze aus Spinoza, dessen Anfang bei W. Pross, H II, 1039, wiedergegeben ist: »Weise, die Beschaffenheit eines bestehenden Dinges, oder was in einem andern ist, durch welches in andern solches gedeutet«. 383 H II, 1101. 384 Shaftesbury, The Moralists, 258, teilt die übliche Reserve gegenüber dem spinozanischen Begriff der Modifikation, wenn er Theocles fragen lässt: »Or wou’d you rather be no Substance, but chuse to call your-self a Mode or Accident?« (H. i. O.). 385 1794 war J. G. Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre erschienen. Die Ausführungen zu Fichtes sich selbst sowie das Nicht-Ich setzenden Ich konnten Herder nur als Fortschreibung der seines Erachtens inhaltsleeren transzendentalen Ap-

146 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie rer Individuation tiefer, als wohin unser Verstand, unsre Vernunft, unsre Phantasie reichet. [. . .]; als Begriff und als Empfindung liegt es in dem Worte Selbst selbst«386 . Individualität muss in diesem Sinne strikt als Bewusstsein seines Selbst, das aber eben nicht durch dieses Bewusstsein erst konstituiert wird, verstanden werden. Alle emotiven wie kognitiven Kräfte werden für Herder überhaupt erst verständlich, wenn sie als aus solch einem Grund erwachsend vorgestellt werden. Im Denken bezieht sich das Selbst auf sich selbst als Selbst zurück – allerdings nicht in einer konstituierenden Funktion, sondern der Zweck des Denkens besteht darin, »Dasein zu enthüllen«387. Das Dasein meiner selbst wie der Welt ist als Gegebenes dem eigenen Denken immer vorgängig und bildet somit die wahre transzendentale Voraussetzung von Erkenntnis überhaupt. Jenseits des Vollzugs von Erkenntnis, also im Begreifen der Gegenstände, ist von Erkenntnis nach Herder gar nicht zu sprechen. Erkennen ist im strikten Sinne stets in actu, so dass ein Standpunkt jenseits dieses Vollzuges unmöglich ist. So erklärt Herder scharf gegen Kants Begriff vom a priori: »Jene menschliche Erkenntnis ohne und vor aller Erfahrung, jene sinnliche Anschauungen ohne und vor aller sinnlichen Empfindung eines Gegenstandes, nach eingepflanzten Formen der Denkkraft, die ihr von Niemandem eingepflanzt worden, waren ihm [sc. Mendelssohn] Undinge, wie sie es auch jedem vernünftigen Denker sein müssen«388 .

Der anstößige Begriff der Modifikation wird für Herder damit gerade der Schlüssel zu seiner Individualitätstheorie. Modifikation ist eben – und das muss für Herder mit Emphase gesagt werden – nie bloße Modifikation, sondern Modifikation Gottes. Der Mensch ist ein Selbst nur, weil er eine Weise des Selbstseins Gottes ist. Er kann sich selbst überhaupt nur als ein Selbst begreifen – wie Herder betont gegen Jacobi und Mendelssohn vorträgt –, wenn er sich als in Gott gegründet begreift und gerade nicht aus dem bloßen Gegenüber zu ihm. Die beiden antispinozistischen Argumente, wonach sich einerseits das bedingte Selbst nur im Gegenüber zum unbedingten Selbst konstituiert sowie andererseits jedes bedingte Selbst im Unbedingten unterzugehen droht, sind sonach für Herder Ausdruck eines unterbestimmten Gottesbegriffs. Die Vorstellung eines Selbst, das sich nur im Gegenüber zum unbedingten Selbst konstituiert, ist für Herder ein Unbegriff. Selbstsein jenseits und außer Gottes Selbstsein ist nicht denkbar, da das die Gottheit Gottes perzeption Kants erscheinen. Gleim gegenüber nennt Herder Fichte nicht ohne Spott nur das »Ich=NichtIch« (DA VIII 2360). 386 H II, 1102; H. i. O. 387 FA 4, 749; H. i. O. Diese hier an Jacobi anknüpfende Überlegung war Herder schon lange durch Hamann vertraut, ebenso wie die Deutung dieses Gegebenen als »Offenbarung Gottes« (ebd.). 388 FA 4, 750.

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eskamotieren würde. Aber ebenso unbegründet ist die Angst, die endliche Individualität könne in der unendlichen Individualität Gottes untergehen. Zwar gibt es keinen Bestand jenseits der Selbstständigkeit Gottes, aber da das Wesen von Gottes Selbstständigkeit darin besteht, unendlich produktiv zu sein, sind die endlichen Individuen gerade ihr notwendiger Ausdruck. Für Herder gibt es keinen Gott ohne endliche Individualität, die als notwendige Weise der Existenz gerade dem Untergang in die Existenz Gottes enthoben wird. Die relative Selbstständigkeit des Endlichen muss sonach als In-Existenz im schlechthin Selbstständigen verstanden werden, das seine Selbstständigkeit gerade im Setzen von relativer Selbstständigkeit realisiert. Herder kehrt damit das klassische antispinozistische Argument um. Nur wenn alles Modifikation Gottes ist, dann ist überhaupt endliche Individualität zu denken. Die In-Existenz der endlichen Individuen in Gott verschlingt diese nach Herder gerade nicht, sondern konstituiert sie allererst als Individuen. Herder entwirft damit einen Begriff vom Individuum, der in der Mitte zwischen den beiden denkbaren Polen einer Theorie der Individuation steht: Er will weder, dass der Einzelne in Gott hinein aufgelöst wird, noch den Einzelnen als ein starkes Gegenüber zu Gott haben. Der Einzelne ist vielmehr in seiner relativen Selbstständigkeit bleibend auf Gott bezogen und in Gott gegründet.389 Mit der Figur der In-Existenz der endlichen Selbstständigkeit in Gott steht Herder auf demselben Boden wie Lessing in seinem nachgelassenen Fragment Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott.390 Werden die Dinge außer Gott als »das Complement der Möglichkeit«391 begriffen, so hieße das, dass der Wirklichkeit außer ihm etwas über die bloße Möglichkeit der Dinge in ihm hinzukommen müsste, das nicht in seinem Begriff liegt. »Das ist:«, schließt Lessing, »in der Wirklichkeit außer ihm muß etwas seyn, wovon Gott keinen Begriff hat. Eine Ungereimtheit!«392 Wenn Gott aber von der Welt einen vollständigen Begriff hat – und den muss er haben, wenn er Gott ist – »so sind 389 Es ist deutlich, dass Herders Theorie der Individuation problematische Folgen für einen starken Sündenbegriff nach sich zieht. Das wird vor allem in der Debatte zwischen Herder und Hamann virulent; vgl. dazu Kap. IV 1. 390 Das Fragment wird von Herder in der zweiten Auflage von Gott mit abgedruckt; vgl. H II, 1106 f. 391 G. E. Lessing, Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott, 133. Nicht erst Kant, sondern bereits C. Wolff erkannte, dass aus der Analyse des Begriffs des Seins nicht die Existenz dieses Seins zu gewinnen ist. Die sich hier auftuende Lücke versuchte er in seiner Ontologie, § 174, in Anschluss an Leibniz modaltheoretisch zu schließen, indem er die Existenz als »Complementum possibilitatis« bestimmt. Lessing greift diesen Gedanken auf und wendet ihn in einem originellen Einfall so, dass der gedachte Überschuss in dem Komplementaritätsbegriff in Bezug auf das Gott-Welt-Verhältnis eskamotiert wird. Vgl. zum Konnex von Modal- und Erkenntnistheorie sowie Ontologie in der Aufklärungsphilosophie W. Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen, 18–31. 392 G. E. Lessing, Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott, 133.

148 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie beide Wirklichkeiten Eins, und alles, was außer Gott existieren soll, existiert in Gott«393. Dieses Konzept der In-Existenz der Welt in Gott und zwar einer Welt als notwendiger Selbstausdruck Gottes spiegelt sich auch in Herders Schöpfungs- und Offenbarungsbegriff wider. Schöpfung wird von Herder entgegen der theologischen Tradition nicht im Sinne eines Freiheitsaktes Gottes begriffen, sondern Gott schafft die Welt in sich aus seiner unendlichen Aktuosität mit Notwendigkeit und darin vollzieht sich seine Freiheit.394 Ebenso ist Offenbarung nicht als supranaturaler Einbruch in die natürlichgeschichtliche Welt zu verstehen, sondern als die Erfahrung der Allgegenwart des Unbedingten im Bedingten, das sich so als Ausdruck des Unbedingten begreift. Wenn aber, wie gerade gesagt, der Mensch sich im Denken nur als das Selbst enthüllt, das er schon ist, stellt sich die Frage, worin dieses Selbstsein, genauer der im Begriff des Selbst liegende reflexive Charakter des Selbst zu suchen ist. Für Gottes Selbstsein wurde diese Frage – wie gesehen – so beantwortet, dass er in seiner Unbedingtheit als die Einheit von Dasein, Erkenntnis und Genuss gedacht werden muss. Es handelt sich also um ein spezifisches Problem des bedingten Selbst im Unterschied zum unbedingten Selbst. Die Konzeption eines Selbst, das sich nicht erst der bewussten Reflexion verdankt, ermöglicht es Herder, unter dem Begriff des Selbst das principium individuationis aller endlichen Entitäten zu denken und nicht nur derjenigen, die mit Selbstbewusstsein begabt sind. Der Begriff des Selbst muss dabei so verfasst sein, dass aus ihm einerseits die allgemeine Struktur des Selbstseins verständlich wird, wie auch andererseits die differenten Erscheinungsformen des Selbst. Auf diese doppelte Bestimmung zielt Theophrons Frage: »Glauben Sie nun wohl, Theano, daß dies Principium der Individuation [. . .] bei allem, was da ist, in gleichem Grad wirksam und tätig sei? Theano. Gewiß nicht. Eine lebendige und diese gestickte Rose, der Rosenbusch und die Nachtigall, die auf ihm singet, der Schmetterling, der an der Rose hängt, können weder dieselbe Art noch denselben Grad des Selbstgefühls, des Selbstbewußtseins, mithin des Daseins haben«395 .

Das Identische aller Formen des Daseins als eines Selbst besteht in ihrem Dasein als organisch wirkende Kräfte. Wie die Welt der organische Ausdruck Gottes ist, so ist ein Körper der organische Ausdruck einer zentralen Kraft, die sich vermittelst ihr zugeordneter, auf sie bezüglicher Kräfte zu erhalten strebt. In dieser organologischen Struktur der Selbsterhaltung erblickt Herder die in jedem Dasein liegende Struktur der Reflexivität, die es ihm erlaubt, 393 394 395

Ebd. Vgl. zu Herders Schöpfungsbegriff FA 4, 706 sowie 757–759. H II, 1102.

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auch bei vorbewusstem Dasein von einem Selbst zu sprechen. Reflexivität wird also von Herder zunächst als eine organologische Struktur inverser Teleologie begriffen, die in der Funktion steht, Selbsterhaltung zu ermöglichen.396 Ein Selbst liegt dort vor, wo sich ein Wesen auf eine irgendwie gegebene Zentralität hin als Einheit realisiert. Und genau in dem Sinne, wie Gott als die Urkraft aller Kräfte das Zentrum bildet, aus dem und auf den hin alle Kräfte der Welt gebildet sind, so macht »die Abhängigkeit der Dinge von Gott« sie essentiell »zu notwendigen Ebenbildern seiner Güte und Schönheit«397. Somit wird die Welt im Ganzen wie in ihren Teilen als Ebenbild Gottes verstanden qua ihrer organologisch bedingten Zentralität. Als Ebenbilder sind sie aber eben auch von Gottes Dasein unterschieden. Sie sind zwar zentriert, aber darin nicht ewig und in ihrer Selbsterhaltung im Unterschied zu Gott, dem es allein zukommt causa sui zu sein, auf anderes angewiesen. In der Welt als einem System von Wechselbedingungsverhältnissen kann es darüber hinaus nicht fehlen, dass eine organische Kraft die andere überwindet und in sich integriert; das macht die Endlichkeit ihrer Erscheinung. Dass diese Formen der Zentralität sehr verschieden sein können, machen Herders Beispiele deutlich. Er rekurriert damit auf seine in den Ideen durchgeführte Theorie von den Stufen des Organischen. Die Stufung lässt sich jetzt präziser als Grad der Zentralisierung auf eine leitende Kraft hin verstehen, der die weiteren Kräfte funktional als Modi der Selbsterhaltung zugeordnet sind. Zentralität und die oben genannte Komplexitätssteigerung werden dabei von Herder als sich wechselseitig bedingend gedacht. Nur weil etwa der Mensch in der Weise ein Zentralorgan wie das Gehirn besitzt, woraufhin er auch im ganzen Körperbau organisiert ist, ist er auch in die Lage gesetzt, ein komplexes Weltverhältnis aufzubauen. Das Selbstsein der Weltgegenstände differiert dementsprechend in dem Maße, in dem die organologische Zentrierung und damit auch Reflexivität vonstatten gegangen ist. Es gibt also kein Ding der Welt, das nicht auch ein Selbst wäre, insofern jede Einheit eine organologisch bedingte Rückbezüglichkeit aufweist, aber der Grad des Selbstseins stuft sich nach dem Grad der Rückbezüglichkeit in einem Zentralorgan ab. 398 Mit diesem organologischen Begriff des Selbst gibt Herder zugleich die Be396 In diesem Sinne fragt auch Shaftesbury, The Moralists III/1, 251 f., nach der »One-ness or Same-ness in the Tree or any other Plant« und fi ndet diese in einer »real Relation within themselves«, die in einer »Sympathizing of Parts« zu »one common End« zusammenwirken, nämlich der Selbsterhaltung. Vgl. zur Struktur inverser Teleologie Kap. I 3.3.4 b). 397 FA 4, 737. 398 Von diesen Überlegungen aus ließe sich Max Schelers Konzeption kritisch hinterfragen, ob sein Begriff von ›Zentralität‹ und ›Rückmeldung‹ nicht zu sehr am Schema des Bewusstseins gewonnen ist, was es ihm letztlich unmöglich macht, die Pflanze als Einheit zu verstehen; vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 12–18.

150 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie dingung der Möglichkeit von Geist an. Geist ist die organologische Erscheinung des Selbstseins des Menschen. In ihm wird das Selbst in der Weise reflexiv, dass es um sich als Selbst weiß. Es handelt sich insofern um eine Refl exivität zweiter Ordnung, die das Selbstsein des Menschen nicht nur graduell, sondern der Art nach von jedem anderen Selbst unterscheidet. Ich habe oben gezeigt, dass es gerade die Sprache ist, die diesen qualitativen Sprung zum Ausdruck bringt. Während es nach den Ausführungen in den Ideen anzunehmen ist, dass sich die Grade des Selbstseins innerhalb einer Gattung der Naturwesen entsprechen, insofern diese ja von Natur aus ihr Wesen verwirklichen, so ist diese Identität von Faktizität und Norm für den Menschen als einem Kulturwesen nicht von vornherein vorauszusetzen. c) Gott ähnlich werden – das Telos humaner Existenz Damit wendet sich der Gedankengang dieser Untersuchung der eingangs dieses Kapitels gestellten Frage zu, inwiefern der Mensch als Kulturwesen Humanität im Modus der Selbsterhaltung als Bestimmtheit nicht nur immer schon realisiert, sondern inwiefern ihm diese immer auch als zu realisierende Bestimmung aufgegeben ist. Es geht mithin um die metaphysische Grundlegung des normativen Moments in Herders Humanitätsbegriff und damit auch um die Frage, in welchem Sinne es erlaubt ist, in Herders Anthropologie und Geschichtsphilosophie von einer Teleologie zu sprechen. So leitet Herder in einem weiteren Gedankenschritt von seiner Theorie der Stufen des Organischen zu der Frage über, ob auf humaner Ebene jenes Selbst bei allen Individuen der Gattung gleichermaßen realisiert ist: »Theophron. Also [gibt es] verschiedne ›Weisen der Exsistenz‹, mit verschiednen Arten und Graden des Selbstbewußtseins; Modificationen der Wirklichkeit tiefer und tiefer hinab, höher und höher hinan; und wir Menschen! Glauben Sie wohl, daß alle unsres Geschlechts ein gleich tiefes Selbstgefühl, ein gleich wirksames Selbstbewußtsein, mithin ein gleich inniges Dasein haben? Theano. Am wenigsten. Manche menschliche Organisation möchte man im Innern kaum der Individualität der Blume, des Vogels, ja manches wilden Tiers vergleichen. Theophron. Vergleichen; immer jedoch im Kreise menschlicher Gefühle: denn die Basis seines Geschlechts kann kein Individuum verleugnen«399.

Insofern der Mensch also ein Wesen der Reflexivität zweiter Ordnung ist, erzeugt dieses sich wissende Selbstverhältnis offenbar graduelle Differenzen innerhalb der Art, die aber den Charakter der Art nicht in Frage stellen. Mit der Formulierung, dass kein Mensch die Basis seines Geschlechts leugnen kann, rekurriert Herder auf seine fundamentalanthropologischen Ausführungen aus seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache wie aus seinen 399

H II, 1102, H. i. O.

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Ideen. Hatte er diesen Charakter der Art in der Sprachursprungsschrift unter dem Terminus ›Besonnenheit‹ gefasst, die ihren wesensgemäßen Ausdruck in der Sprachfähigkeit des Menschen findet, so arbeitet die späte Geschichtsphilosophie ihren Zusammenhang mit der kulturschaffenden Tätigkeit des Menschen zur Selbsterhaltung heraus. Humanität konnte so auf einer ersten Ebene als die spezifische Form menschlicher Selbsterhaltung gedeutet werden. 400 Humanität ist damit aber auch – wie wir jetzt sagen können – der organische Selbstausdruck Gottes im Menschen. Der Mensch, der sich in seinem Dasein zu erhalten strebt, ist Ebenbild Gottes. Damit erweist sich Spinoza, den Herder seit 1769 studierte, schon in der Preisschrift von 1774 Über den Ursprung der Sprache als der implizite Verweishorizont von Herders Überlegungen. Sprachfähigkeit und Kulturbildung sind die humanen Darstellungen der unendlichen Schöpferkraft unter endlichen Bedingungen. Tätigkeit, Schöpferkraft, Reflexivität sowie insbesondere das Wissen um diese Reflexivität macht die Menschen in einem eminenten Sinne zu »Ebenbildern seiner Vollkommenheit«401, die sie eben vermittelst dieses wissenden Selbstverhältnisses über die andere ebenbildliche Schöpfung hinaushebt. In dieser Duplizität der Refl exivität liegt es nach Herder begründet, dass sich der Mensch notwendig selbst zur Aufgabe wird. Darin liegt für den Menschen – und nur für den Menschen – zugleich die Gefahr, dass er sich als das Ebenbild Gottes, als das er sich als einziges Geschöpf weiß, selbst verfehlt. In den Vollzügen, in denen der Mensch der Pflanze oder dem Tier gleicht, erhält er zwar sein Selbst im Sein, aber sein Wesen ist damit offenbar noch nicht erfüllt.402 Der Mensch ist demnach das Wesen, das sein Selbst noch nicht von Natur aus festgestellt hat, sondern erst noch treffen bzw. ausbilden muss. Das Selbst, von dem der Mensch ausgeht, steht so zugleich in einem gewissen Sinne immer noch aus. Es ist diese im Begriff des Selbst liegende Differenz zwischen seinem deskriptiven und normativen Gehalt, die der Anthropologie wie der Geschichtsphilosophie Herders einen teleologischen Zug verleiht. Von Spinoza herkommend reflektiert er diese Differenz mittels dessen Lehre des amor Dei intellectualis. Die verstandesmäßige Liebe zu Gott ist nach Spinoza das Resultat der Erkenntnis der Dinge unter der Form der scientia intuitiva, d. h. – wie gesehen – sie so zu erkennen, dass in ihr die Dinge in ihrer Individualität durch Gott als Ursache erkannt werden.403 Die Dinge in dieser geistigen Weise als aus 400

Vgl. Kap. I. 3.3.4 b). FA 4, 772. 402 Vgl. zur Frage der Bestimmung des Menschen den von Herder gelesenen J. J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Spalding geht ebenfalls in einer sich vertiefenden Reflexion der Bestimmung des Menschen nach. 403 Vgl. Eth. V, prop. 33. 401

152 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Gott und das heißt in ihrer Notwendigkeit zu begreifen, gibt dem Geist die »summa [. . .] acquiescentia«404 , die es als ein geistiger Affekt ermöglicht, die niederen inadäquaten Affekte zu regulieren. Der amor Dei intellectualis, worin der Mensch die Dinge wie sich selbst in seiner aus Gott sich generierenden Notwendigkeit begreift, bezeichnet nach Spinoza denjenigen Punkt, in dem »nostra salus, seu beatitudo, seu Libertas consistit«405 . In welchem Sinne kann Herder aber die amor-Dei-Lehre teleologisch deuten? Hatte sich Spinoza doch auf das Bestimmteste gegen den Eintrag von Finalursachen in den Welt- wie Gottesbegriff ausgesprochen.406 Und auch Herder betont den antiteleologischen Impetus von Spinozas Ethik, wenn er die Vorstellung von »partikulare[n] Absichten Gottes«407 sowie »erdichtete[n] Endzwecken«408 von sich weist. Wo Gott seinem Wesen nach tätig ist, da kann kein Telos mehr jenseits und unabhängig von dieser Realisation sein. Wenn Herder dennoch aus dem Charakter der doppelten Reflexivität des Selbst eine Teleologie der humanen Kulturentwicklung in anthropologischer wie geschichtsphilosophischer Hinsicht entwerfen kann, dann deshalb, weil er das Telos nicht als ein akzidentielles, sondern vielmehr als ein im Wesensbegriff des Menschen liegendes begreift. Das Telos des individuellen Menschen wie der Menschheit in toto liegt im Wesen des Menschen begründet, das sich aber eben als ein solches erst enthüllen muss. Mit anderen Worten: Der von Jacobi behauptete Widerspruch von Final- und Kausalursachen ist nur ein scheinbarer. Die causa finalis liegt vielmehr in der causa efficiens beschlossen, da die Wirkursachen Ausdruck des zu realisierenden Wesens sind. Das heißt aber, dass die organologisch inversiv gerichtete Teleologie der Selbsterhaltung den Menschen noch nicht vollständig beschreibt. Der Mensch wird erst da ganz Mensch, wo er sich nochmals auf sich selbst als das Ziel seiner Bearbeitung bezieht. Wie beim Menschen so von einer gedoppelten Reflexivität gesprochen werden kann, so auch von einer Duplizität der Teleologie. Der Mensch, der sein Dasein erhält, erfüllt wohl – wie jede Pflanze und jedes Tier – sein organologisches Telos, aber keinesfalls das spezifische Telos seiner humanen Existenz. Auch für diesen speziell im Wesen des Menschen liegenden Telosbegriff kann sich Herder auf Spinoza berufen. Denn selbst Spinoza nimmt in der fortschreitenden Erkenntnis der Wirklichkeit unter der scientia intuitiva eine 404

Eth. V, prop. 32, dem. Eth. V, prop. 36, schol. 406 Vgl. Eth. I, app. 407 FA 4, 736. 408 AaO. 733. Vgl. auch die entsprechenden Passagen in den Ideen, in denen Herder sich von diesen Vorstellungen abgrenzt, da durch sie Gott »zum Poltergeist in der Ordnung der Dinge« (FA 6, 664) werde. 405

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Perfektibilität von Selbst- und Gotteserkenntnis an.409 Mit wachsender Selbstund Gotteserkenntnis wächst nach Spinoza zugleich die eigene Vollkommenheit und Glückseligkeit. Der Satz der Identität von Realität und Vollkommenheit im spinozanischen System darf also nicht so verstanden werden, als schlösse er unter endlichen Bedingungen Entwicklung und teleologische Strukturen aus. Die Teleologie ist vielmehr ein Moment dieser Reflexivität einschließenden Realität selbst. Damit geht Herder faktisch einen Mittelweg zwischen der teleologischen Ethik im Gefolge von Aristoteles und einem nichtteleologischen Verständnis von Natur und Mensch etwa bei Telesio und Fénelon.410 Er kann mit Aristoteles ζῆν und εὖ ζῆν unterscheiden. Er versteht dieses Ziel des guten Lebens aber weder als außerhalb der Selbsterhaltung liegend noch als einfach mit ihr zusammenfallend. Das Leben hat nach Herder vielmehr die Tendenz, das in ihm liegende Ideal anzustreben. Leben wird so als Lebenssteigerung begriffen, die zwar auf die Selbsterhaltung bezogen bleibt, aber darin zugleich über sie hinausgeht.411 Wie denkt sich Herder nun dieses spezifische Telos der humanen Existenz? Dies ist für Herder die Frage nach gelingender Individuation bzw. der vollkommenen Individualität, wie der letzte Gesprächsgang in Gott verdeutlicht, der mit einer Frage Theophrons eröffnet wird: »Welche meinen Sie nun, wäre die höchste, reinste, schönste Individuation? Theano. Kein Zweifel! Die Form aller Formen. Sie, die Alles umfaßt, deren Wirksamkeit sich durch alles verbreitet. Je mehr sie umfassen kann, je mehr sie mitzuteilen vermag, desto mehr muß sie haben, d. i. sein. Philolaus. Nicht mehr, meine Freunde; jedes fernere Wort wäre zuviel. Das einzige und ewige Principium der Individuation sehe ich im System unsres Philosophen an einem Faden entwickelt, der uns in unser innerstes Selbst leitet. Je mehr Leben und Wirklichkeit, d. i. je eine verständigere, mächtigere, vollkommnere Energie ein Wesen 409

Vgl. Eth. V, prop. 31, schol.: »Quo igitur unusquisque hoc cognitionis genere plus pollet, eo melius sui, et Dei conscius est, hoc est, eo est perfectior, et beatior« (Hervorhebung C. C.). 410 Vgl. hierzu R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 50–64, sowie zu Telesio die grundlegende Untersuchung von M. Mulsow, Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance, Tübingen 1998. 411 Von hier aus ließe sich anfragen, ob F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 27 f., wenn er Spinoza vorwirft, mit dem Selbsterhaltungstrieb bei »überflüssigen teleologischen Principien« zu bleiben, mit seinem im Willen zur Macht liegenden Konzept der Lebenssteigerung nicht selbst teleologischen Prinzipien unterliegt. Diesen teleologischen Zug in Herders Naturbegriff wie Lessings Vorsehungsbegriff hat E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, 254, vor Augen, wenn er diese als »geistig-ethisch bestimmte Deutungen der schaffenden Allmacht« qualifiziert. Hirsch sieht es richtig, dass die geistig-ethische Dimension für Herder eine höhere Valenz hat als für Goethe. Diese Differenz wird von H. Timm, Gott und die Freiheit, 275–339, aufgrund der gemeinsamen Frontstellung von Herder und Goethe gegen Jacobi nicht hinreichend beachtet.

154 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie zur Erhaltung eines Ganzen hat, [. . .] dem es sich innig und ganz mitteilet, desto mehr ist es Individuum, selbst. Hernach bestimmte Spinoza die Vorzüglichkeiten des menschlichen Körpers, die Fähigkeiten der menschlichen Seele, und führte Alles auf Den zurück, durch Den Alles lebt, in dem Wir leben und sagen dürfen: ›wir sind Seines Geschlechts durch Bewußtsein, durch die uns eigensten, mächtigsten Kräfte.‹ Theophron. Statt also mit Worten in der Luft zu fechten, lasset uns unser wahres Selbst aufwecken, und das Principium der Individuation in uns stärken. Je mehr Geist und Wahrheit, d. i. je mehr tätige Wirklichkeit, Erkenntnis und Liebe des Alls zum All in uns ist, desto mehr haben und genießen wir Gott, als wirksame Individuen, unsterblich, unzerteilbar. Nur der, in dem Alles ist, der Alles hält und träget, darf sagen: ›Ich bin das Selbst, außer mir ist Keiner.‹«412

Vollkommene, unbedingte Individualität – das machen Eingang wie Schluss des Zitats deutlich – kann nur Gott sein. Ihm allein kommt es zu – wie Herder mit Shaftesburys sagt – ›Form aller Formen‹ zu sein und als Allwirksamkeit begriffen zu werden, die sich als universale Selbstmitteilung realisiert. Außerhalb oder unter Absehung von der unbedingten Individualität Gottes kann es gar keine Individualität geben. Der Begriff der höchsten endlichen Individualität kann dementsprechend allein als ein Begriff der unendlichen Annäherung an diese ursprüngliche und ideale Individualität Gottes konzipiert werden. Das Telos der humanen Existenz besteht demnach darin – wie Herder die platonische Wendung aufgreifend sagen kann – »Gott ähnlich«413 zu werden. Das Gott-ähnlich-Werden bzw. der Prozess der Individuation wird von Herder nach drei Momenten entfaltet. Zunächst besteht die Voraussetzung dafür darin, Gott zu erkennen. Diese Gotteserkenntnis ist nur vermittelst der Erkenntnis der Dinge und der Selbsterkenntnis möglich. Nach dem oben Ausgeführten kann die Erkenntnis Gottes nur in der Erkenntnis der Notwendigkeit des individuellen Daseins in seinem Sosein liegen. In der Selbsterkenntnis wird sich der Mensch aber darüber hinaus bewusst, dass »das wesentliche Gesetz Gottes« in ihm selbst liegt und zwar nicht bloß faktisch, sondern so, dass ihm dieses Gesetz dazu dient, seine Welt »nach Ideen der Wahrheit und Güte zu ordnen, wie solches der Allmächtige seiner vollkommensten Natur nach selbst ausübet«414 . Streng genommen ist es auch erst diese Selbsterkenntnis, die die Dinge in ihrer Notwendigkeit aus Gott begreifen lehrt. Damit ist schon das zweite nun eigentlich praktisch-ethische Moment 412

H II, 1102 f.; H. i. O. FA 4, 787. Diese zirkuläre Struktur der Abkünftigkeit des endlichen Selbst vom unendlichen Selbst sowie das Ausgerichtetsein auf das Telos der Verähnlichung des endlichen Selbst zum Unendlichen war Herder in Shaftesburys, The Moralists III/1, 264, vorgegeben, wenn sich Theocles »of my own Being, and of this Self of mine« überzeugt zeigt und fortfährt »›That ’tis a real Self, drawn out, and copy’d from another principal and original Self (the Great-one of the World)‹ I endeavour to be really one with It, and conformable to It, as far as I am able« H. i. O. 414 FA 4, 772. 413

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avisiert. Derjenige, der in der Selbst- und Gotteserkenntnis am weitesten fortgeschritten ist, ist zugleich der, der sich selbst und seine Welt am stärksten zu bilden vermag. Der von Herder für diesen Sachverhalt der Korrespondenz von Vollkommenheit und Tätigkeit eingeführte Begriff ist der der Mitteilung. Der Gedanke, den Herder hier mit Spinoza verfolgt415 , ist folgender: Je weiter ein Mensch sich und die Dinge in der Notwendigkeit aus Gott begreift, desto weniger unterliegt er kontingenten Erfahrungen und damit Fehlurteilen. Erst wo er die Welt in ihrer Notwendigkeit begreift, ist er in der Lage, sie und sich selbst in ihr adäquat auszubilden. Vollendete humane Individualität kann unter diesen Bedingungen nur heißen, die Notwendigkeit Gottes zu erkennen und sich in sie einzustellen. Erst das Einstellen in die Notwendigkeit ermöglicht Moralität und wahre Weltgestaltung. Herder betont: »Dem Menschen ist kein geringeres Ziel der Freiheit vorgesetzt, als die Freiheit Gottes selbst, durch eine Art innerer Notwendigkeit d. i. durch vollständige Begriffe, die uns Erkenntnis und Liebe Gottes allein gewähren können, über unsre Leidenschaften, ja über das Schicksal selbst Herren zu werden« 416 .

Der Mensch realisiert sonach erst dann seine Freiheit, wenn er sich in die Notwendigkeit Gottes einstellt. Freiheit und Notwendigkeit sind für Herder auch auf humaner Ebene zwei sich wechselseitig explizierende Begriffe. Damit fallen für Herder die Begriffe wahrer Individualität und wahrer Freiheit ineinander. Das Individuum realisiert seine Freiheit gerade darin, dass es nicht bei sich bleibt, sondern sich anderen mitteilt. Wie Gott sich gemäß seiner unendlichen Aktuosität der Welt als Ganzer mitteilt, so auch das vollkommene endliche Individuum in seiner beschränkten Sphäre. Wie Gott sich selbst über die Welt vermittelt und sein Dasein nur als vermitteltes fürsich-Sein realisiert, so vermittelt sich auch das endliche Selbst über die Welt und andere Individuen. Damit wird menschliche Individualität von Herder grundsätzlich als eine soziale Größe bestimmt. Individualität vollzieht sich in einem wechselseitigen Mitteilungszusammenhang, wobei die qualitative Prägekraft derjenigen Individualität am höchsten ist, die sich vollständig in die Notwendigkeit Gottes eingestellt hat und somit erst ihre Wirksamkeit voll zu entfalten vermag.417 Schließlich geht Herder noch auf die mentale Repräsentation des amor Dei intellectualis ein. Diese erblickt er in dem Genuss Gottes. In ihm erhebt sich das Individuum über sein bloß organologisch bedingtes selbstreferentielles Daseinsgefühl. Von diesem schreibt Herder: »Jedes Wesen ist, was es ist [. . .]. 415

Vgl. Eth. V, prop. 40. FA 4, 741 f. 417 Diese Theorie der Individualität wird für Herders Christologie höchste Valenz erhalten; vgl. Kap. IV 3.3.2 c). 416

156 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Alle Vollkommenheit eines Dinges ist seine Wirklichkeit; das Gefühl dieser Wirklichkeit ist der einwohnende Lohn seines Daseins, seine innige Freude«.418 Dieses unmittelbare Daseinsgefühl wird in der Erkenntnis Gottes zum Genuss Gottes geläutert. Von echter Individualität kann nach Herder nur dort gesprochen werden, wo Gott und damit auch das Selbst nicht nur gefühlt, sondern auch erkannt wird.419 Der Gottes- und Selbstgenuss steigt in dem Maße, wie das bloße Daseinsgefühl über sich hinausgehoben wird und Einsicht in seinen Grund erhält. Individuation stellt demnach für Herder einen infiniten Progress der Läuterung aus der Opakheit des eigenen immer schon gegebenen Daseinsgrundes dar. Während Gott sich also als die vollkommene Individualität als die Einheit von Dasein, Erkenntnis und Genuss vollzieht, muss Individuation am Orte des Endlichen als Prozess, Dasein zu enthüllen, begriffen werden. Dieser Prozess ist die unabschließbare Aufgabe, die eigene Opakheit aufzuhellen, was unter endlichen Bedingungen nie schlechthin, sondern nur beziehungsweise gelingen kann. Das wahre Selbst ist so als Gegenstand der eigenen Bearbeitung stets im Werden. In diesem Sinne hält Herder in den Ideen fest, dass »wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden«420 . Demnach kann m. E. unmöglich von einer »Aufhebung der Individuation«421 als Telos der Menschheitsgeschichte bei Herder gesprochen werden. Zwar wird man in Herders Konzeption eine Tendenz zur Vermittlung der Individuationen ausmachen können. Aber dreierlei spricht gegen die These von einer Aufhebung der Individuationen in die Einheit. Zum ersten bleiben kulturtheoretisch argumentiert nach Herder die klimatischen Differenzen bestehen, die auch immer auf die konkreten Bildungen der Humanität Einfluss nehmen. Die raumzeitliche Stellenbestimmtheit führt stets zu differenten Darstellungen, die letztlich nicht aufhebbar sind. Zum zweiten folgt metaphysisch argumentiert aus Gottes unendlicher Produktivität, dass Gott sich notwendig in endlichen Individuen darstellt, diese mithin gleichsam metaphysisch notwendig sind. Und schließlich kann es geradezu als die Pointe von 418 FA 4, 779. Damit ist der tiefere Grund des in Kap. I 3.3.4 b) angeführten Glücksbegriffs bei Herder gegeben. 419 Von hier aus ergibt sich auch Herders Kritik an Shaftesburys Theorie des moral sense. Sofern Shaftesbury die Moral bloß im Gefühl gegründet sein lässt – so Herder in den Briefen zu Beförderung der Humanität – »dünkt mir sein System der Moral unzureichend« (FA 7, 169 f.). Pflicht und Vernunft, die in der Selbsterkenntnis gründen, sind demgegenüber das eigentliche Wesen der Moralität. Vgl. auch die Bemerkung in der Adrastea: »Wer das moralische Gefühl als ein von aller Vernunft [. . .] Verschiedenes, als einen sechsten Sinn [. . .] betrachtet, der [. . .] mißverstehet und mißdeutet« (FA 10, 140). 420 FA 6, 342. 421 So H. D. Irmscher, FA 7, 829, der in Herders Denken die gnostische Struktur von Einheit – Differenz – Einheit ausmachen möchte.

3. Der Geist des Spinozismus

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Herders geschichtsphilosophischem Telos angesehen werden, dass die in der Tat intendierte Einheit der Menschheit allein in einer Pluralität von gelungenen Individuationen bestehen kann, denn »das Ganze bestehet nur in einzelnen Gliedern«422 . Die Einheit der Menschheit realisiert sich nach Herder eben nicht in der Aufhebung der Individualität, sondern nur im Durchgang durch dieselbe. Nicht eine differenzlose, sondern eine differenzierte Einheit ist das Ziel des Entwicklungsprozesses, der in der dargestellten metaphysisch fundierten Theorie der Individualität gründet. Die Menschheit – so Herders grundlegende These – besteht nur in einer unendlichen Pluralität von Individuen, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Das Humanitätsideal – soviel lässt sich demnach jetzt sagen – ist der konsequente Ausdruck von Herders Interpretation des spinozanischen Systems im Sinne eines Monismus der internen Differenz. Die gelungene Individualität stellt sich in pluraler Differenz als ein Ausdruck der Gottheit selbst dar. Unter dem Begriff der aufgegebenen Humanität thematisiert Herder also die kulturellen Ausdrucksformen der monistisch fundierten Theorie der Individuation. Mit anderen Worten: Humanität ist ihrem Vollbegriff nach die differenzierte Darstellung der Gottheit im Menschen. Herders Humanitätsideal ist also unmittelbarer Ausdruck seines metaphysischen Monismus.423 Demnach kann Herders Betonung der kulturellen Individualität unmöglich im Sinne eines kulturellen Relativismus gelesen werden. Die Pluralität der Gestaltungen von Individualität fi ndet in den universalen Bildungsprinzipien von Humanität ihre Einheit.

4. Theoriedimensionen von Herders Spinozarezeption Viererlei scheint mir Herders umdeutende Spinozarezeption zu leisten: 1. Herder bietet in der vertiefenden Interpretation ausgehend von ›Gott als Substanz‹ über ›Gott als Kraft‹ hin zu ›Gott als Geist‹ eine Theorie des Absoluten, in der sich das Selbstsein Gottes im Endlichen auslegt. Das Endliche wird dabei als ein relatives Selbstsein begriffen. Damit entwirft Herder eine Theorie der Individualität, nach der sich das Individuum in seiner relativen Selbstständigkeit durch und in Gott konstituiert verstehen muss. Die bedingte Individualität ist Ausdruck der unbedingten Individualität Gottes. 2. Die von Herder betriebene Metaphysik des Endlichen drängt von sich aus auf eine Entfaltung ihrer selbst aus dem Gottesbegriff. Herder intendiert damit eine 422

FA 6, 667. Auf diesen Zusammenhang hat erstmals knapp E. Adler, Pantheismus – Humanität – Promethie, 86, hingewiesen, wenn er dann auch in der klassischen Frontstellung zwischen Pantheismus und Dualismus befangen bleibt, von der ich oben gezeigt habe, dass Herder sie in seiner Konzeption gerade zu überwinden trachtet. 423

158 Kapitel II: Die metaphysische Fundierung von Herders Natur- und Kulturtheorie Theorie des Absoluten, die auf dem Boden der Ontologie zwischen dem Ausgang vom Gottesbegriff und dem Ausgang vom Gottesbewusstsein den Ausgleich sucht und nicht eine von beiden Möglichkeiten einseitig favorisiert. 3. Der Realitätsgehalt des Gottesgedankens wird von Herder dabei für das religiöse Bewusstsein als wesentlich erachtet. In ihm reflektiert Herder die Fremdkonstituiertheit und die damit einhergehende letzte Nichtselbstdurchsichtigkeit endlicher Subjektivität, die auf einen sie gründenden Grund verweist. 4. Herder führt mit seiner Konzeption einen Begriff Gottes aus, der jenseits der Alternative einer theistisch-dualistischen und einer pantheistischen Theoriekonzeption liegt. Ich möchte diese Konzeption als einen Monismus der internen Differenz bezeichnen. In allen vier Punkten muss Herder als Vordenker des deutschen Idealismus gelten, dem er mit seiner Spinozadeutung mehr als nur eine Handreichung an Kants Kritizismus vorbei vermacht hat. Ohne diesen konstruktiven Spinozismus ist weder sein Geschichtsbegriff, noch seine Anthropologie vollends zu verstehen.424 Das vermeintlich abstrakte und statische System Spinozas wird in Herders Deutung das Fundament zu einer dynamischen Entfaltung der natürlich-geschichtlichen Welt auf ihr Telos hin.

424 So kann es nur verwundern, dass T. Zippert, Bildung durch Offenbarung, Marburg 1994, diesen spinozanischen Ton in Herders Offenbarungsbegriff an keiner Stelle seiner Arbeit bemerkt. Auch die Arbeit von C. Leuser, Theologie und Anthropologie. Die Erziehung des Menschengeschlechts bei Johann Gottfried Herder, Frankfurt am Main u. a. 1996, wendet sich Herders Spinozarezeption so gut wie gar nicht zu.

Kapitel III

Humanität und Religion »Religion, eine Angelegenheit des Menschen« J. J. Spalding

1. Geschichtsphilosophie als Theodizee Lessing hatte in seiner Erziehung des Menschengeschlechts (1780) im § 91 festgehalten: »Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen! – Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist«1.

Und seinen Nathan lässt er die Parabel von den drei Ringen wie folgt auflösen: »Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen«2 . Diese beiden Aspekte: das Vertrauen in die Vorsehung verbunden mit der Aufforderung das Ziel der Vorsehung selbst anzustreben, werden von Herder verschränkt und zum cantus firmus seiner Geschichtsphilosophie erhoben: »Die ganze Geschichte der Völker wird uns [. . .] eine Schule des Wettlaufs zu Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde«3. Nach dem bis hierher Ausgeführten dürfte deutlich geworden sein, dass damit das gesamte Feld menschlicher Kulturbildungen als potentieller Gegenstand für Herders Humanitätsideal in Frage kommt. Die vielfach beklagte inhaltliche Unübersichtlichkeit von Herders Humanitätsbegriff hat hierin ihren Grund. Mit Terenz kann Herder sagen: »Ich bin ein Mensch, nichts menschliches ist mir fremd«4 . So reich also die Menschheit in ihren geschichtlich-kulturellen Selbstauslegungen ist, so weit reicht auch die Sphäre der möglichen Gegenstände, die unter der Perspektive der Realisa1

G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 91. G. E. Lessing, Nathan der Weise (1779), III/7, 525–529. 3 FA 6, 635. Zum Bild des Wettlaufes vgl. auch 1. Kor 9, 24 f. 4 Vgl. das Motto des zweiten Teils der Ideen (FA 6, 203) sowie den ersten Humanitätsbrief (FA 7, 13). 2

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Kapitel III: Humanität und Religion

tion des Humanitätsideals betrachtet werden können. Sämtliche Kultursphären, ob Jurisprudenz, Politik, Ästhetik, Ökonomie oder Wissenschaften, werden von Herder unter der doppelten Perspektive jenes Wettlaufs und der darin wirkenden Vorsehung betrachtet. Herders Theorie der Kultur sowie seine Philosophie der Geschichte werden so in letzter Konsequenz zu einer umfassenden Theodizee. Den Gott, den er in der Natur bereits gefunden hat, auch in der Geschichte zu finden, ist das gemeinsame Thema seiner drei großen, an ein weites Publikum gerichteten Weimarer Werke: der Ideen, der Briefe zu Beförderung der Humanität sowie der Adrastea5 . Unter dem Begriff der Humanität thematisiert er dabei das Telos der Geschichte und ihrer kulturellen Bildungen. Das Aufdecken der Fortschritte der Humanität in allen kulturellen Sphären wird somit für Herder das Instrument zur Rechtfertigung Gottes in und aus der Geschichte. Für die Ideen wurde bereits die das Werk von vornherein prägende religiöse Semantik bemerkt. 6 Herders Rede vom »Plan der Vorsehung«7, dem er nachzusinnen trachtet, ist also keinesfalls bloß eine zu vernachlässigende Sprachangewohnheit seiner »geistlichen Falte«8 , sondern sie stellt das integrale Thema seiner Ideen dar. Geschichtsphilosophie wie Kulturtheorie stehen für Herder in der Funktion der Theodizee. Stellt Herders produktive Deutung Spinozas also den metaphysischen Rahmen der Theodizee bereit, so muss dieser sich an den Fakten der Geschichte bewähren.9 Dass die Kultursphäre der Geschichte der Menschheit ihrerseits streng auf die Sphäre der Natur bezogen und aus ihr erwachsend verstanden wird, wurde bereits deutlich. Die Rekonstruktion von Herders Spinozarezeption hat ebenfalls deutlich gemacht, dass Herder unter dem Terminus der Humanität keinesfalls eine bloß deskriptive Bestimmtheit des Menschen thematisiert, sondern zugleich dessen teleologisch qualifizierte Bestimmung reflektiert. Aus diesem Grunde ist es auch nicht 5 Das von Herder selbst noch zusammengestellte 10. Stück der Adrastea erschien erst posthum 1804 mit einer Nachschrift seines Sohnes Gottfried, der aus dem Nachlass im selben Jahr auch noch das 11. und 12. Stück veröffentlichte. Zur Textgeschichte vgl. G. Arnold, FA 10, 965–967. 6 Vgl. Kap. I 3.1. 7 FA 6, 12. 8 Vgl. Herders Brief an Nicolai vom Dezember/Januar 1768/69, DA I 5320 f. : »Und mein Gott, welcher Stand schlägt eher Falten u. Runzeln als der geistliche?« 9 Herders Werk versucht insofern die beiden von W. Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen, 7–10, unterschiedenen und als gegenläufig eingestuften Aufklärungsbegriffe in seinem Denken zu vereinigen. Einerseits vertritt er das Konzept einer metaphysisch fundierten teleologischen Geschichtsschau im Gefolge von Leibniz und er behauptet zugleich in Anschluss an die englische Aufklärung, dass sich diese auch an den Fakten aus Natur und Geschichte – in W. Schmidt-Biggemanns Formulierung: den Tatsachen – bewährt, wenn sie nur richtig interpretiert werden. Den Hiatus zwischen Theodizee und Tatsachen versucht Herder so hermeneutisch aufzuheben.

1. Geschichtsphilosophie als Theodizee

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hinreichend bei Herder von einer Humanitätsidee zu sprechen, sondern ausdrücklich von einem Humanitätsideal, dessen Realisierung immer im Progress befindlich ist und insofern als ein zu Realisierendes noch aussteht und menschheitsgeschichtlich nur in einer unendlichen Annäherung intendiert werden kann. Diese Humanität wird von Herder als das Ziel eines unendlichen Bildungsprozesses auf den diversen Feldern gesellschaftlicher und sozialer Wirklichkeit verfolgt und zur Darstellung gebracht. Herder will den aus der Natur erwachsenden Kulturprozess auf die in ihm wirksame Richtung auf die Entfaltung der Humanität hin durchsichtig machen. Dass er dabei keinesfalls als ein planer Fortschrittsoptimist zu verstehen ist, machen seine eigenen wiederkehrenden Reflexionen auf das Chaos der Geschichte wie ihre Inhumanitäten deutlich. Aber auch abgesehen von diesen expliziten Infragestellungen des Sinns der Geschichte müssen neben seinen Ideen – und diese in gewisser Weise abschließend – seine beiden Alterswerke, die Briefe zu Beförderung der Humanität sowie die Adrastea geradezu als Projekte angesehen werden, mittels derer Herder angesichts der augenscheinlichen Kontrafaktizität eines Fortschritts seinen Zeitgenossen die gleichsam im Verborgenen vorgehende Entwicklung zur Humanität erkennbar machen will, um damit zugleich dieser Entwicklung selbst Vorschub zu leisten.10 Dementsprechend hat etwa zum einen die Darstellung vom Auf- und Niedergang des Römischen Reiches in den Ideen nicht bloß einen historischen Wert, sondern zugleich einen die eigene Gegenwart lehrenden Charakter. Dass die Geschichte überhaupt einen lehrenden Charakter haben kann, liegt in der im letzten Kapitel ausgeführten Metaphysik begründet. Wäre die Geschichte bloß Ausdruck kontingenter Individualitäten, dann wäre jedes geschichtliche Ereignis Ausdruck absoluter Singularität. Als ein solches wäre es aber auch unvergleichlich und damit letztlich auch nicht verstehbar. Herders Metaphysik steht insofern in der Funktion, die allgemeinen Gesetze der Geschichte zu formulieren, die die Voraussetzung dafür sind, dass wir Geschichte – gerade in ihren Individualitäten – überhaupt verstehen und mittels der damit gegebenen Vergleichbarkeit auch aus ihr lernen können. Ohne diesen Impetus würde zum anderen auch Herders kulturelles Erziehungs- bzw. Bildungskonzept völlig unverständlich 10 Gerade der letzte Aspekt wird durch den Titel der Humanitätsbriefe deutlich. Hatte Karoline Herder noch im Brief vom 27. April 1792 an den Verleger Hartknoch den Titel der geplanten Sammlung mit »Briefe, die Fortschritte der Humanität betreffend« bezeichnet, welchen Titel auch das erste Manuskript Herders trägt (vgl. FA 7, 761–806), so wird durch den letztlich gewählten Titel der Charakter der Mitwirkung stärker betont. Vgl. den Kommentar zur Entstehung der Humanitätsbriefe von H. D. Irmscher, FA 7, 809–812. Zur Adrastea vgl. G. Arnold, Geschichte und Geschichtsphilosophie in Herders »Adrastea«, 224–261.

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Kapitel III: Humanität und Religion

werden. Wie schon in seinem Bückeburger geschichtsphilosophischen Pamphlet betont Herder, dass die Aufgabe des Geschichtsphilosophen nicht allein darin besteht Fakten anzuhäufen, sondern dass sich erst durch die gedankliche Rekonstruktion Geschichte in ihrer Sinnhaftigkeit erschließt.11 Das brutum factum der natürlichen und historischen Tatsachen bleibt stumm, wenn es nicht aus dem Ganzen der Geschichte verstanden wird. Das große Thema des Geschichtsphilosophen Herder – der »Sinn der Menschheit«12 – steht somit in der Funktion der Theodizee bzw. die Theodizee sichert den Sinn der Menschheit. Vorsehung ist dabei die religiöse Metapher für diesen Sinn der Geschichte, den Gott allein verbürgen kann. Die geschichtlichen Fakten können nur aus diesem Einheitsgrund verstanden werden und die Einheit umgekehrt nur in den Fakten.13 So ist Herders Geschichtsschau nie interesselos. Sein Ziel ist es vielmehr, die fortschreitende Humanität durch die Zeiten und Kulturen als den metaphysisch verbürgten Sinn der Geschichte aufzudecken. G. Arnold hält dementsprechend treffend fest, dass es verfehlt wäre, »an Herders historische Aufsätze vom Standpunkt der objektiven Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung heranzugehen, denn es handelt sich um ideengeschichtliche, kulturhistorische Essayistik mit ausgeprägt weltanschaulicher Tendenz«14 . Die Rezeption geschichtlicher Ereignisse ist für Herder daher nie bloß reproduktiver oder musealer Natur. Sondern die Einfühlung in historische Konstellationen wie in historische Persönlichkeiten hat nach Herder den Charakter einer produktiven Aneignung. Die Betrachtung der Geschichte führt zu fortwirkenden Resonanzen in der Seele des Betrachtenden: »Wie wenn eine Saite berührt wird, nicht nur alles was Ton hat, ihr zutönet, sondern auch bis ins Unvernehmbare hin alle ihre harmonischen Töne dem angeklungenen Laut nachtönen; so erfand, so schuf der menschliche Geist, wenn Eine harmonische Stelle seines Innern berührt ward. Sobald er auf Eine neue Zusammenstimmung traf, konnten in einer Schöpfung, wo alles zusammenhängt, nicht anders als zahlreiche neue Verbindungen ihr folgen«15 .

Diese Perspektive auf Geschichte wird sowohl im ersten der Briefe zu Beförderung der Humanität wie auch in der Vorrede zur Adrastea deutlich. So sti11 Vgl. Herders Ausruf: »Historische Fakta und Untersuchungen, Entdeckungen und Reisebeschreibungen liegen da: wer ist, der sie sondere und sichte?« (FA 4, 88). 12 FA 7, 735. 13 Dementsprechend wäre für Herder ein Geschichtskonzept, wie es sich im Titel von T. Lessings Buch »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« ausspricht, undenkbar. Die Geschichte kann für Herder nach dem Ausgeführten nur Enthüllung des gegebenen Sinns sein. 14 G. Arnold, FA 10, 975. Zu der daraus folgenden tendenziösen Deutung mancher seiner Quellen vgl. a.a.O. 977 f. 15 FA 6, 661.

1. Geschichtsphilosophie als Theodizee

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lisiert Herder den ersten Brief im Sinne einer Stiftungsurkunde, durch den sich ein »Bund der Humanität«16 konstituiert. In ihrem Briefwechsel wollen sich die Freunde im Sinne des platonischen λόγον διδόναι Rechenschaft darüber geben, welches Schicksal der Humanität im Laufe der Menschheitsgeschichte widerfahren ist. Durch die Lektüre und das Gespräch über historische Persönlichkeiten oder Ereignisse werden wir, so Herder, in »die Gedanken- oder Handlungssphäre andrer größerer Menschen gesetzt«, wodurch wir teilnehmen »an ihrem Geist: wir denken mit ihnen, auch wenn wir mit ihnen nicht wirken konnten, und freuen uns ihres Daseins«17. Diese – mit Gadamer gesprochen – Horizontverschmelzung geschieht nicht in ästhetischer Selbstzwecklichkeit, die folgenlos bliebe, sondern knüpft ein Zeiten wie Räume überbrückendes unsichtbares Band der Gemeinschaft zwischen Rezipierten und Rezipienten. Dabei geht es Herder sowohl um das Treffen wie Verfehlen der Humanität. Beides führt zu Resonanzen in der Seele. Die Beispiele gelungener Realisierung der Humanität sollen zu Nachahmung anregen, während die Verfehlungen zur Mahnung gereichen sollen. Wie in Gott die Form des Gesprächs den Leser zur eigenständigen Urteilsbildung führen soll, so dient auch die lockere Form seiner beiden Alterswerke dieser mäeutischen Intention. Entgegen der an der abwertenden Stellungnahme der Weimarer Klassik orientierten Einschätzung der älteren Herderforschung18 hat die jüngere Forschung auf das Recht und die innere Konsistenz der Herderschen Konzeption seiner Humanitätsbriefe wie der Adrastea hingewiesen.19 Die lose Form des Briefwechsels wie der abwechselnden Beiträge ermöglicht es Herder, scheinbar disparateste Stoffe aus allen Zeiten und Gebieten kultureller Bildung nebeneinander zu stellen und zu kontrastieren und gerade so eine spannungsvolle Einheit zu erzeugen, die den Leser zu einem sich selbst wissenden Teil in diesem Bildungsprozess macht. Die Form der Darstellung ist für Herder also auch in diesen Werken keinesfalls unwesentlich, sondern Ausdruck seines Bildungsprogramms selbst. W.-L. Federlin fasst den Zusammenhang von Form und Intention Herders für die Humanitätsbriefe treffend zusammen, was mit demselben Recht auch für die Adrastea gesagt werden könnte: »Das Problem der Bildung in den Humanitätsbriefen ist also das Problem der Form der Humanitätsbriefe und das Problem der Form ist das Problem der Bildung für Herder.«20 Herders Bildungs- bzw. Erziehungskonzept ist somit die aktive 16

FA 7, 14. AaO. 13. 18 Hier ist vor allem an die Urteile Suphans und Hayms zu denken. 19 Zu den Briefen zu Beförderung der Humanität vgl. H. D. Irmscher, FA 7, 813 f., sowie zur Adrastea G. Arnold, FA 10, 968–973. 20 W.-L. Federlin, Das Problem der Bildung in Herders Humanitätsbriefen, 139. 17

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Beförderung der teleologischen Bestimmung des Menschen. Theodizee ist demnach für Herder nicht bloß Legitimation des Faktischen, sondern Beförderung des Ausstehenden. Im Rekurs auf die Tatsachen der Geschichte antizipiert der Geschichtsphilosoph auf diese Weise in einem Vorgriff das Ziel der der Zukunft vorbehaltenen geschichtlichen Vollendung. Nach dem zu Herders metaphysischer Fundierung der Natur- und Kulturtheorie Ausgeführten kann Herders Theorie der Bildung näher begriffen werden als eine Theorie der Individuation. Die Individuation kommt dabei für Herder in einer doppelten Perspektive in Betracht: Einmal in Bezug auf das Einzelindividuum, das etwa dem Bund der Humanität beitritt, dann aber auch in Bezug auf das Kollektivindividuum der Menschheit. Beides hängt für Herder wesentlich zusammen. Die Menschheit besteht nur in Individuen, die sich wechselseitig fortbilden, und der einzelne Mensch existiert nur in der fortlaufenden Kette der Menschheit, die auf ihn einwirkt und innerhalb derer er weiterwirkt. Dementsprechend ist nach Herder nicht allein das wahre Selbst des einzelnen Menschen stets im Werden, sondern ebenso das der Menschheit. Die Menschheit ist nach Herder in einem Prozess der Individuation befangen, der sich aber nur mittels der Individuation ihrer Individuen realisieren kann. Wo Herder von Bildung spricht, da ist immer von Humanität in diesem anspruchsvollen Sinne die Rede. Die organologisch bedingte Reflexivität der Selbsterhaltung im Menschen wie in der Menschheit trifft diesen anspruchsvollen Sinn des Humanitätsbegriffs noch nicht. Durch die rein organologische conservatio sui findet auf humaner Ebene gerade nur in einem äußerst begrenzten Sinne so etwas wie Individuation statt. Humanität als Gabe bzw. – wie ich oben sagte21 – Humanität im Modus menschlicher Selbsterhaltung ist von dem Vollbegriff der Humanität im Sinne von teleologisch gerichteter Individuation zu unterscheiden. Humanität als Aufgabe des Menschen wie der Menschheit beinhaltet einen umfassenden Selbstbildungsauftrag. Die organologische Reflexivität, vermittelst der der Mensch sich überhaupt auf sich selbst als sich selbst, d. h. als Selbstbewusstsein, beziehen kann, ist zugleich aber auch der Grund der stärksten Infragestellung der teleologischen Geschichtskonzeption bzw. der innere Grund der Notwendigkeit einer Theodizee. Denn die organologische Struktur der Selbsterhaltung ist – wie Herder eingangs des 15. Buchs der Ideen betont vorträgt – der Grund dafür, dass sich das Leben einzelner Menschen wie ganzer Völker nur durch die zirkuläre Struktur von »Entstehen, Sein und Vergehen«22 vollzieht. Der Zirkel der Ge-

21 22

Vgl. Kap. I 3.3.4 b). FA 6, 627.

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schichte ist aber nach Herder die Verneinung eines letzten Sinns und Ziels des Menschen wie der Menschheit: »Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. Der kluggewordene Greis geht unter die Erde, damit sein Nachfolger ebenfalls wie ein Kind beginne, die Werke seines Vorgängers vielleicht als ein Tor zerstöre und dem Nachfolger dieselbe nichtige Mühe überlasse, mit der auch Er sein Leben verzehret«23.

Das heißt, die organologisch bedingte Reflexivität ist die Bedingung der Möglichkeit, dass der Mensch sich selbst zur Aufgabe wird und zugleich ist sie wegen ihrer Endlichkeit der Grund dafür, dass diese Bestimmung nie erfüllt wird. Auch der klug gewordene Greis stirbt, d. h. das Selbst, das er werden soll, wird abgebrochen, weil er sich nicht mehr erhalten kann. Die nicht auf Dauer zu stellende Selbsterhaltung konterkariert also das aufgegebene Telos, ein sich in seiner Notwendigkeit wissendes und darin wahrhaft freies Selbst zu werden. Wie kann der Mensch sich dann aber zu diesem göttlichen Selbst bilden, das er sein soll? Was kann er tun, um die in ihm verborgen liegende Humanität selbst zu befördern, so dass diese nicht mit dem eigenen Tod untergeht? An der Beantwortung dieser Frage hängt gleichermaßen der Sinn der Geschichte wie die Theodizee. Für den einzelnen Menschen wird hier unmittelbar die religiöse Ewigkeitshoffnung relevant. Menschheitsgeschichtlich rekurriert Herder, um diese Frage zu beantworten, auf das bereits angesprochene Leibniz-Lambertsche Theorem des Maximums der Kräfte. 24 Dieses universale, die Natur- wie die Kulturwelt gleichermaßen prägende Gesetz ist als Ausdruck Gottes das eigentliche Movens des Geschichtsprozesses. Wenn Individuation nach Herder heißt, sich in die Notwendigkeit Gottes einzustellen und gerade darin ein freies Selbst zu werden, so ist es prominent dieses Gesetz, das Herder dabei vor Augen hat. Er reflektiert auf es ebenfalls im 15. Buch der Ideen, das bezeichnender Weise parallel zu seiner Spinozaschrift entstand. Dieses von Herder so bezeichnete »Gesetz der Wiedervergeltung«25 garantiert ihm den einheitlichen und teleologisch geordneten Zusammenhang von Natur und Kultur, insofern der »Gott, den ich in der Geschichte suche«, derselbe sein muss, »der er in der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen«26 . Die von Herder verfolgte Methode der Analogie ruht auf dieser These des einheitlichen Natur-Geist-Zusammenhangs. Demnach versucht jedes organische System der Kräfte in einem »Beharrungszustande« innerer 23 24 25 26

AaO. 627 f. Vgl. Kap. II 3.3.1. FA 6, 601. AaO. 664.

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Vollkommenheit zu bleiben, wozu »ein Maximum oder Minimum erfordert werde, das aus der Wirkungsweise der Kräfte dieses Dinges folget«27. Die Gegensätze innerhalb eines solchen Systems streben nach diesem Beharrungszustand und dem Gleichgewicht in einer Harmonie aller Kräfte. Dementsprechend tendiert jedes System, das aus der Harmonie seiner Kräfte gebracht wurde, danach, dass es sich jenem vollkommenen Zustand »entweder in Schwingungen oder in einer Asymptote wieder nähere, weil außer diesem Zustande es keinen Bestand findet«28 . In »Beharrung« durch die Polarität von »Vereinigung« und »Scheidung« verwandter und entgegenstehender Kräfte sowie in einem daraus resultierenden unendlichen Prozess der »Verähnlichung« vollzieht sich nach Herder das Gesetz der Wiedervergeltung in der Natur wie in der Geschichte auf ihr Telos hin. 29 Oder mit einer Formulierung aus den Ideen: »Ein und dasselbe Gesetz [. . .] erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung: was alle Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur Eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung«30 . Da Herder das Kollektivindividuum Menschheit auch als solch ein System interagierender Subsysteme begreift, gilt dieses Gesetz auch in ihr. Den Abbrüchen und Katastrophen der Geschichte kommt nach Herder so eine konstitutive Funktion in der Entwicklung der Menschheit zu. Der scheinbare Schatten, der sich durch den Zirkel von Entstehen und Vergehen auf die Schöpfung legt, wird in die Teleologie des Gesamtsystems aufgehoben. Ein grundlegendes Signum von Herders Deutung des Natur- und Kulturprozesses ist hierbei, dass sich der Fortschritt zur Humanität allein durch diese Polaritäten und Antagonismen vollzieht. Herder betont, dass der Verständige auch am Schlechten nicht verzweifelt, weil er darauf vertraut, dass dieses eine positive Funktion im Weltprozess haben muss. Damit kommt der Negativität in Herders Denken eine konstitutive Funktion zu. Wie schon der Mangel an Instinktgebundenheit darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Sprache diesen Mangel kompensiert und den Menschen als Menschen vom Tier unterscheidet, so wird in den Ideen die Erfahrung von Negativität überhaupt zum Erziehungsmittel zur Humanität.31 An diesem Punkt wird die Nähe von Herders Denken zum Optimismus der Leibnizschen Theodicee am deutlichsten. In einer Welt, die in ihrer Totalität Ausdruck Gottes ist, muss die Negativität 27

AaO. 647. Vgl. auch die entsprechende Passage in Gott; FA 4, 721 f. FA 6, 648. 29 Vgl. FA 4, 779. 30 FA 6, 655 f. 31 Dass dies unmittelbare Folgen für den Sündenbegriff hat, liegt auf der Hand; vgl. dazu Kap. IV 1. sowie 3.2.1. Nach Herder ist es vor allem Hegel, der der Negativität eine grundsätzliche Funktion im Weltprozess zubilligte. 28

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selbst in der positiven Funktion stehen, das Ziel der Schöpfung zu befördern. Dementsprechend kann Herder in Voltaires Poëme sur le désastre de Lisbonne von 1756 nur »unphilosophisches Geschrei«32 finden. »In welchen Abweichungen und Winkeln aber auch der Strom der Menschenvernunft sich fortwinden und brechen möge«, hält Herder fest, »er entsprang aus dem ewigen Strome der Wahrheit und kann sich Kraft seiner Natur auf seinem Wege nie verlieren«33. Die Vernunft hat zur Ausbildung ihrer selbst im Individuum wie in der Gattung die Negativität als Vehikel nötig, da sie nur durch den »notwendigen Antagonismus«34 hindurch sich selbst auszubilden vermag. Glücklich ist der Mensch, der durch die Erfahrung von Negativität hindurch das »Ebenmaß seiner Kräfte« realisiert, »weil in solchem allein der volleste Genuß seines Daseins lieget«35 . Die Realisierung dieses Ebenmaßes wird umso schwieriger, je komplexer die Gesellschaft ist, zu der sich das Individuum vergemeinschaftet hat, da das Individuum nun sein Ebenmaß mit dem der Anderen ins Einvernehmen setzen muss. Jede Gesellschaft, betont Herder, ist »ein höheres Maximum zusammen-wirkender Kräfte«36 , die zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Die Menschheit ist dementsprechend das denkbar komplexeste Individuum interagierender Kräfte zu dem Zweck der Ausbildung von Humanität. Während aber der einzelne Mensch unmittelbar mittels seiner Vernunft den Genuss des Daseins anstreben kann, ist dies für jede Gesellschaft ungleich schwerer. Wie soll sie aus der Vergangenheit lernen? Hier sieht Herder die unmittelbare Bedeutung der Tradition. Sie ist das Organ der Vernunft.37 Die Tradition stellt der Menschheit im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses vergangene Erfahrungen bereit, so dass aus ihr für gegenwärtige Bildungen der Humanität gelernt werden kann, sei es durch positives oder abschreckendes Beispiel. Damit wird aber auch bereits deutlich, worin die Differenz der Wirksamkeit des Gesetzes der Wiedervergeltung auf naturhafter und humaner Ebene besteht. Während sich die organologisch bedingte Reflexivität erster Ordnung in strikter Notwendigkeit gemäß dieser Gesetzlichkeit vollzieht, ist es allein dem Menschen möglich, sich zu dieser Gesetzlichkeit in seinem Selbstvollzug zu verhalten, d. h. konkret, sie zu befördern oder zu hemmen. Während es sich also in der Natur strikt als Gesetz vollzieht, wirkt es auf humaner Ebene – kantisch formuliert – als regulatives Prinzip. Anders wäre auch – bei 32 FA 6, 32. Neben dem Poëme ist vor allem Voltaires Candide der kritischen Reflexion auf das optimistische Theorem der besten aller möglichen Welten gerichtet. 33 FA 6, 655. 34 Ebd. 35 AaO. 649. 36 Ebd. 37 Vgl. AaO. 667.

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aller Vorläufigkeit dieses Standpunktes – der Zweifel an dem Sinn der Geschichte, von dem Herder eingangs des 15. Buchs der Ideen eindrücklich Ausdruck gibt, nicht zu verstehen. Der Gott, der in der Natur gefunden wird, droht in dem scheinbaren Chaos der Geschichte wieder unterzugehen. Deshalb kann auch nur in einem begrenzten Sinne von einem Determinismus der Geschichte bei Herder gesprochen werden. Der Zweifel am Sinn der Geschichte ist das negative Argument der Erfahrung gegen den Determinismus. Zwar ist Herder der Auffassung, dass sich die Geschichte ihrem im Menschen selbst liegenden Telos immer mehr annähert – der Begriff der ›Asymptote‹ indiziert eine unendliche Annäherung.38 Aber genauso wenig, wie die Vorsehung auf partikulare Zwecke aus ist, wird der Weltverlauf auf humaner Ebene im Einzelnen determiniert. Diese dialektische Spannung von freier Selbstverwirklichung bei gleichzeitig metaphysisch vorgegebener Gesamtrichtung macht Herders Geschichtskonzeption aus. Diese Geschichtsdialektik ist es auch, die sich in der Überschrift zum ersten Kapitel des 15. Buchs der Ideen ausspricht: »Humanität ist der Zweck der Menschen – Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben«39. Der Zweck ist die dem Menschen metaphysisch vorgegebene Bestimmung, zu der der Mensch sich aber selbst bilden muss. O. Pfleiderer beschreibt diese Geschichtsdialektik treffend: »Hierin, in diesem Uebergreifen des inneren Prinzips der Vernunft und Ordnung über die Sonderstrebungen der Einzelnen, sieht Herder auch das geschichtliche Walten der göttlichen ›Vorsehung‹«40 . Werkgeschichtlich wird der entscheidende Fortschritt von Herders Ideen gegenüber seinem Bückeburger Pamphlet weniger in diesem Perfektibilitätscharakter des Geschichtsprozesses liegen. Hatte er doch bereits dort von der Geschichte als einem »Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden«41 gesprochen, die er als »Gang Gottes über die Nationen«42 deutete. Aber diese 38 Dies gilt für Herder auch dann, wenn der konkrete geschichtliche Verlauf nichts mit dem »ruhigen Gang einer Asymptote« zu tun hat. Realgeschichtlich »zeigt der ganze Gang der Kultur auf unsrer Erde mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den Sturz eines Waldwassers von den Gebürgen; dazu machen ihn insonderlich die Leidenschaften der Menschen« (FA 6, 655). Will man Herders Geschichtsverständnis in einem Bild ausdrücken, so wird man es weder als einen Zirkel noch als gerade Linie zeichnen, sondern am ehesten als eine Spirale, die sich je weiter sie ausgezogen wird, um so mehr ihrem Zentrum annähert. 39 AaO. 630. Es ist zu beachten, dass das Possessivpronomen ›sein‹ sich hier auf den Menschen und nicht auf Gott bezieht, wie der Kontext erhellt. 40 O. Pfl eiderer, Geschichte der Religionsphilosophie von Spinoza bis auf die Gegenwart, 208. 41 FA 4, 42. 42 AaO. 88.

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leitende Absicht war für Herder in ihrem Telos wesentlich undurchschaubar. Jetzt ist als das Ziel des Entwicklungsprozesses die Humanität angegeben. In ihr wird der Mensch auf sich selbst als das Ziel seiner Bearbeitung verwiesen. Innerhalb welcher anthropologischer Grundstrukturen das menschliche Geschlecht sein eigenes Schicksal in den Händen hält, habe ich oben gezeigt.43 Nun stellt sich des Näheren die Frage, wie sich die Nemesis-Idee in den humanen Selbstvollzug integriert und zwar so, dass der Mensch nicht bloß passives Moment im Weltprozess ist. Darin liegt m. E. das Spezifikum der umdeutenden Spinozainterpretation Herders: Gott verwirklicht sich nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch die Selbsttätigkeit des Menschen. In der Spannung von providentia und cooperatio formuliert Herder einen christlich transformierten Monismus. Der Beantwortung dieser Frage ist schon der Titel seiner Zeitschrift zur Jahrhundertwende gewidmet: Adrastea. Das kosmische Prinzip der Nemesis stellt sich für den Menschen in den beiden »Adrasteen, der Wahrheit und Gerechtigkeit«44 , dar. Ihren Ort haben sie »im Geist, in der Brust des Menschen. Da wohnen sie noch; da tönt ihre Stimme wieder«.45 Und zwar tönen sie im Menschen als »Vernunft und Billigkeit«46 wieder, wie Herder in den Ideen ausführt. Vernunft und Billigkeit sind die Regeln, an denen sich der Mensch orientieren soll, um seine Humanität auszubilden. Sie sind das in den Menschen eingesenkte Maß der Nemesis. Sie sind Ausdruck von Wahrheit und Gerechtigkeit und gleichzeitig auf sie ausgerichtet, um das in jedem Menschen liegende individuelle Ebenmaß auszubilden. Vernunft wird dabei von Herder in Anschluss an Christian Wolffs klassische Definition47 als das grundlegende Vermögen zur Synthetisierung begriffen. Unbeschadet aller kulturellen Differenzen sieht Herder in der Geschichte überall »Ein Principium wirken, nämlich eine Menschenvernunft, die aus Vielem Eins, aus der Unordnung Ordnung, aus einer Mannigfaltigkeit von Kräften und Absichten ein Ganzes mit Ebenmaß und daurender Schönheit hervorzubringen sich bestrebet«48 . Was so die Vernunft auf dem theoretischen Gebiet der Erkenntnis leistet, dem entspricht auf ethischer Seite die Billigkeit49. Sie ist »nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft«50 . Sie koordiniert die gesellschaftlich gegeneinander wirkenden Kräfte zu einem harmonischen Ganzen. Je besser das der 43

Vgl. Kap. I. 3.3. FA 10, 12. 45 Ebd. 46 FA 6, 651. 47 Vgl. C. Wolff, Deutsche Metaphysik § 277. 48 FA 6, 649 f. 49 Zum Problem der Billigkeit ausgehend von Ciceros Terminus ›aequitas‹ und dessen Reflexion bei Grotius vgl. W. Pross, H III/2, 301–304. 50 FA 6, 655. 44

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Vernunft in der praktischen wie theoretischen Sphäre gelingt, desto paradigmatischer sind die daraus hervorgehenden kulturellen Bildungen für alle Zeiten. In ihrer historisch-kontingenten Gestalt eignet ihnen eine universale Gültigkeit, insofern sie »ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten«51 anschaubar machen. Wohl gemerkt, nicht das Kontingente, sondern nur das in der Kontingenz zur Darstellung kommende Ewige macht ihren universalen Charakter. Diese Struktur ist es auch, die Herder etwa einerseits die griechische Poesie als einen Höhepunkt der menschlichen Dichtkunst preisen, andererseits aber ebenso bestimmt von einer Nachahmung Homers abraten lässt. Homer war ein Höhepunkt der Dichtkunst und behält dadurch ewig paradigmatischen Charakter, aber er erreicht dieses Paradigma eben in den Mitteln und Formen seiner Zeit. Jede Zeit muss ihre eigenen Formen finden, die ihr gemäß sind, so wie Homer sie für seine Zeit fand. Und genau darin erblickt Herder Homers Vorbildlichkeit.52 In demselben Sinne preist Herder auch Pindar als »Priester der Adrastea«53. Aber ihn nachdichten zu wollen, ist für Herder aussichtslos: »Rhythmischen Gang und Akzent fodert Pindar; dagegen aber nicht, daß man sich, dem Geist unsrer Sprache zuwider, seinen Strophen und Metern [. . .] sklavisch anschmiege«54 . Humanität muss sich immer unter ihren jeweils gegebenen Bedingungen realisieren und kann nicht einfach imitiert werden. Und genau indem die Vernunft dies leistet, das Ebenmaß in der theoretischen wie praktischen Sphäre zu erkennen und zu befördern, ist sie nach Herder »der göttliche Lichtpunkt«55 , was nach dem Ausgeführten mehr als bloß metaphorische Bedeutung für Herder hat. Göttlich ist diese Vernunft, weil sie Gottes Notwendigkeit erkennt und sich dahin bilden will, diese unter den jeweiligen Bedingungen konkret zu applizieren, um so selbst frei zu werden. Die Vernunft – so Herder in Anschluss an Hamann – »vernimmt die Sprache Gottes in der Schöpfung d. i. [sie] sucht die Regel der Ordnung, nach welcher die Dinge zusammenhangend auf ihr Wesen gegründet sind«56 . Genau in diesem Sinne ist der Mensch 51

AaO. 650. Aufgrund dieses abwägenden Verhältnisses zur Antike war für Herder die sog. ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ nur eine Scheinalternative. Vgl. Herders ausgewogene Darstellung der Anknüpfung an die klassischen Autoren in dem 91.-94. Brief der Briefe zu Beförderung der Humanität (FA 7, 511–525) sowie die unmittelbare Kontrastierung Homers und Lessings im 36. und 37. Brief (FA 7, 188–202). Zu der Geschichte der Querelle in Deutschland vgl. P. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981. 53 FA 10, 928. 54 AaO. 929. 55 AaO. 293. 56 FA 6, 665. Hamann interpretiert diese Sprache allerdings nicht im Sinne von Na52

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für Herder Ebenbild Gottes. Ausgehend von dem in ihm selbst liegenden Maß der Wahrheit und Gerechtigkeit denkt er den Gedanken des Schöpfers in Natur und Kultur nicht allein nach, sondern bildet diese sich an, um sich selbst zu vervollkommnen oder wie es oben hieß: um Gott ähnlich zu werden. In der Welt- und Selbsterkenntnis des Individuums kulminiert somit für Herder der ganze Naturprozess. Damit wird die Pointe meiner im Kapitel II herausgearbeiteten Spinozainterpretation Herders noch einmal deutlich: Herder entwirft mit seiner umformenden Spinoza-Deutung einen Monismus, der Selbsttätigkeit unter endlichen Bedingungen denken lässt. Auf der Ebene menschlichen Selbstvollzuges setzt sich Gott nach Herder nicht wie im Naturprozess unmittelbar durch, sondern nur vermittelt durch die selbsttätige Applikation der beiden Adrasteen auf die gegebene Situation. Die göttliche Vorsehung realisiert sich nach Herders Monismus nur unter der freiwilligen Mitwirkung der Menschheit, d. h. indem sie sich in die Notwendigkeit einstellt. Der in Gott gründende Naturprozess zielt so auf die freie Applikation im humanen Selbstvollzug. Deshalb kann aber nach dem Ausgeführten auch nur bedingt zugestimmt werden, wenn – wie es prominent W. Proß vornimmt 57 – Herders Geschichtsphilosophie in toto unter die Überschrift einer Naturalisierung und damit auch Säkularisierung der Geschichte gestellt wird. Zwar spricht Herder offensichtlich von Naturgesetzen der Geschichte und betont, wie deutlich geworden ist, den einheitlichen Natur-Kultur-Zusammenhang. Die vermeintliche ›Naturalisierung‹ wird aber in einer doppelten Weise konterkariert. Zum einen hat meine Rekonstruktion von Herders Spinozarezeption gezeigt, dass die Einheit von Natur und Kultur in einer Geistmetaphysik gründet. Die Natur wir somit von Herder als Ausdruck des – göttlichen – Geistes begriffen. Damit gründet die Natur in letzter Konsequenz im Geist. Der genetische Zusammenhang von Natur und Geist in den Ideen kehrt sich aus der Perspektive seiner Spinozaschrift somit in einen Konstitutionszusammenhang um, demzufolge die Natur Ausdruck des Geistes Gottes ist. Der Natur kommt so selbst ideeller Charakter zu. Nur durch diese Umkehrung des Konstitutionsverhältnisses wird auch Herders Rede vom Menschen als Ebenbild Gottes plausibel. Denn unter der Perspektive einer ›Naturalisierung‹ des Geistes müsste der Mensch aufgrund seiner mangelnden Instinktsicherheit in der Tat eher als Abfall denn als Aufstieg der Natur betrachtet werden. Ist also die plane Naturalisierungsthese aus Herders Metaphysik zu bestreiten, so muss man sie zum anderen auch aus der Perspektive seiner Episteturgesetzen. Gleichwohl kann dies als ein erneuter Ausgleichsversuch der alten Debatte zwischen Herder und Hamann gelesen werden. 57 Vgl. W. Pross, ›Natur‹ und ›Geschichte‹ in Herders Ideen zur Philosophie der Menschheit, 839–1041.

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mologie58 in Frage stellen. Denn nur durch die These der prinzipiellen Entsprechung von menschlichem und göttlichem Geist ist nach Herder Erkenntnis möglich. Schon in seiner frühen erkenntnistheoretischen Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele betont Herder: »Nur dadurch, daß die Schöpfung Geist ist wie ihr Schöpfer und sein Nachbild, unsere Seele: nur dadurch wird Erkenntniß möglich«59. Erkenntnis der Natur bildet sich sonach nur aus der Analogie zur Selbsterkenntnis, denn das menschliche Erkenntnissubjekt erfasst von jeglichem Gegenstand »nichts [. . .] als was ihrer Natur ist«60 . Also nur indem der Mensch die Natur erkennt, erkennt er sich selbst und darin die Natur in der Entsprechung zu sich selbst als Ausdruck des ewigen Geistes Gottes. So fasst Herder seine Ausführungen in den Briefen zu Beförderung der Humanität zusammen: »Die ganze Natur erkennet sich in ihm, wie in einem lebendigen Spiegel; sie siehet durch sein Auge, denkt hinter seiner Stirn, fühlet in seiner Brust, und wirkt und schaffet mit seinen Händen«61. Die Strukturen des Geistes sind die Strukturen der Natur, die Naturgesetze eigentlich Ausdruck des erkennenden Geistes, der erkennen kann, weil und insofern er im göttlichen Geist gründet. Dieser Dialektik von Natur und Geist gibt Herder in der Adrastea in Form eines Gedichtes Ausdruck: »Von Allem, was der Weltgeist regt und pflegt, Hat Er Bedeutung Dir ins Herz geprägt. Bedeutung ist der Geister Element, Ein lebend Wort, das keine Sprache nennt; Dein innres Wort, Dein Ahnen dieser Spur, Nennt Dich, o Mensch, Ausleger der Natur. Ausleger nur? Nein! Deiner Regung Kraft Enthüllt in Dir die höh’re Eigenschaft Das Triebwerk der Natur kannst Du allein, Ihr Meisterwerk, der Schöpfung Schöpfer sein. Voll Mitgefühl in Freuden wie im Schmerz Schlägt in Dir Ihr, der Schöpfung, großes Herz. 58 Vgl. zu Herders Erkenntnistheorie M. Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchung zu Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778), Hamburg 1994. 59 SWS 8, 292. Die hierin liegende Strukturisomorphie von Erkennendem und Erkenntnisgegenstand führt von Herder ausgehend zur Hermeneutik des klassischen Historismus bei Ranke, Droysen und Dilthey, die die Bedingung der Möglichkeit von geschichtlichem Verstehen in diesem Entsprechungsverhältnis sehen. Herder betont, dass dieses Entsprechungsdenken ohne metaphysische Begründung leer bleibt – sei es im Sinne einer Theorie des Geistes oder einer Ontologie. 60 AaO. 292 f. Vgl. hierzu E. Ruprecht, Humanität als Gesetz der Geschichte, 1–16. 61 FA 7, 363.

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Erkenne Dich! Auf Deiner weiten Flur Ward Deine Brust der Pulsschlag der Natur. Erfüllen sollst Du, was sie laut verhieß, Einholen, was sie Dir zu tun verließ, In Geist und Liebe nur vollendet sie Sich selbst, der Wesen Einklang, Harmonie.« 62

Herder bleibt so auch in seinem Alterswerk bei dieser »Einziehung der Philosophie auf Anthropologie«63 , die er als »Philosoph auf dem Schiffe«64 genialisch weiter entwirft. Der gedankliche und systematische Fortschritt seiner Alterswerke und insbesondere seiner Gespräche über Gott ist vor allem darin zu sehen, dass Herder die impliziten metaphysischen Voraussetzungen seines Denkens explizit macht. Von ›Naturalisierung‹ der Geschichte kann bei Herder also nur dort mit Recht gesprochen werden, wo der von mir herausgearbeiteten geistmetaphysischen Einbettung seines Naturbegriffs sowie der erkenntnistheoretischen Ableitung der Naturgesetze aus der Selbsterkenntnis der Gesetze des Geistes Rechnung getragen wird. Natur ist für Herder immer verstandene Natur und das heißt, dass die Natur gar nicht anders als eine geistig-kulturell überformte Größe vorstellig wird. Auch Natur, insofern sie verstanden wird, ist Kultur. Darum wird man die eigentliche Intention Herders nicht als ›Naturalisierung‹ der Geschichte begreifen können, sondern geradezu umgekehrt als eine Vergeschichtlichung der Natur, insofern schon der Naturprozess als auf das Telos humaner Existenz gerichtet, und das heißt geschichtlich, verstanden wird. Schon die Geschichte der Natur ist das Medium des Geistes. In diesem Sinne gilt der folgende Satz gleichermaßen für die Natur- wie die Kulturgeschichte: »Wohin unser Verstand im weiten Felde der Geschichte schweift, suchet er nur sich und findet sich selbst wieder«65 . Verstandene Weltauslegung realisiert sich nur als Selbstauslegung des menschlichen Geistes. Für Herder kann dementsprechend zusammenfassend gesagt werden: Wie die Kultur die zweite Natur des Menschen ist, so ist die Natur die erste Geschichte des Menschen. Diese erste Geschichte hat ihr Ziel in der zweiten Geschichte der Kultur und diese wiederum darin, wie es oben hieß, Dasein zu enthüllen, d. h. ein humanes Selbst bzw. eine humane Gesellschaft zu bilden. 66

62

FA 10, 291; H. i. O. FA 1,132. 64 FA 9/2, 16. 65 FA 6, 652. 66 Diese Teleologie der Natur auf Geist hin findet sich vermittelt durch Schellings Natur- und Identitätsphilosophie unter den modernen Theologen durchgeführt bei P. Tillich wieder. Die Struktur der ›Sinnerfüllung‹ ist analog zu Herders Theorem der Enthüllung des Daseins gedacht. 63

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Vernunft und Billigkeit als die individuellen Repräsentationen der beiden universalen Adrasteen von Wahrheit und Gerechtigkeit bilden hierbei den inneren Sinn, um das universale Telos der Humanität selbsttätig zu verfolgen. Sie sind als das von Gott dem Menschen vermachte »Principium eigner Wirksamkeit«67 der Maßstab, den Herder an die kulturellen Selbstauslegungen des Menschen in seiner Geschichte anlegt. Die ganze Kultursphäre wird damit Gegenstand einer möglichen Beurteilung, ob in ihr der Sinn des Menschengeschlechts eher befördert oder eher gehemmt wurde. Damit wird die Geschichte der Kultur zu einer umfassenden Theodizee, weil und insofern sie die Vorsehung Gottes über die Menschheit unter dem Einschluss von Negativität verstehen und den Menschen sich in ihren Sinn einzustellen lehrt. Eine der zentralen Kultursphären besteht für Herder in der Politik. Politik als die Sphäre, die die Individuen innerhalb einer Nation sowie die Völker untereinander reguliert, muss notwendig in den Gedankenkreis Herders treten. Vor welche Probleme er sich bei seiner republikanischen Gesinnung bei diesem Thema gestellt sieht, verdeutlicht das auf Veranlassung von Goethe vierfach überarbeitete Kapitel in den Ideen über die Regierungen. 68 Es ist auffallend, dass Herder gegenüber dem staatstheoretischen Denken im eigentlichen Sinne immer etwas spröde bleibt. Er kommt zu keinem institutionentheoretisch reflektieren Begriff vom Staate, sondern es ist eigentümlich für ihn, seinen Staatsbegriff in Anschluss an Rousseau aus dem »Naturstand des Menschen«69 abzuleiten. Ja, man wird in Herders Staatsverständnis einen bewussten Gegenentwurf zu den funktionalen Staatstheorien eines Hobbes, eines Machiavelli aber auch eines Kant sehen können.70 Wie schon von dem Humanitätsideal Herders im Allgemeinen gesagt wurde, dass es eine innere Affinität zu seinem Monismus aufweist, so gilt dies auch für seine republikanische Gesinnung. Und zwar in dem spezifischen Verständnis von Monismus, das ich oben für Herder herausgearbeitet habe: nämlich nicht als eine Gleichschaltung von den Individuen, die letztlich zu einer Auflösung des Individuums tendiert, sondern in dem Sinne einer Stärkung des Individuums als einem individuellen Ausdruck der Gottheit. Wo jedes Individuum als Ausdruck der Gottheit angesehen werden kann, da erfolgt von sich aus eine Egalisierung der Gesellschaft bezüglich der Würde eines jeden Individuums.71 Urbild der Regierung ist Herder dabei die natürlich gewachsene Familie. Die »Erbregierungen«72 , die allein auf dem Rechte des Stärkeren aufbauen, werden demgegenüber von Herder – trotz des seit 1791 verschärften Wöllnerschen Zensur-Edikts – als 67

FA 6, 633. Vgl. FA 6, 362–372. 69 FA 6, 362. 70 Die Abgrenzungen Herders können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden; vgl. dazu W. Pross, H III/2, 503–544. Vgl. zu Herders Staatsverständnis W. Koepke, Der Staat – die störende und unvermeidliche Maschine, 227–238. 71 Diese Egalisierung wird man nicht per se als einen Gegensatz von Monismus und Theismus deuten dürfen. Zwar wurden gesellschaftliche Ungleichheiten vielfach durch die Theologie in Form von Ordnungsdenken legitimiert, aber ebenso haben sich die Freiheitsrechte vermittelst der theistischen Vorstellung der Geschöpflichkeit durchgesetzt. 72 FA 6, 363. 68

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der Grund aller Despotien getadelt. So verwundert es nicht, dass im Hause Herder 1789 die französische Revolution bejubelt wird. Ebenso groß ist dann die Enttäuschung, als die Nachrichten über die Gräueltaten der Jakobinerherrschaft unter Robespierre Deutschland erreichen. Herder fasst sein eigenes politisches Ideal in dem unveröffentlichten Entwurf zu den Humanitätsbriefen von 1792 unter dem Begriff der »Aristodemokraten«73 zusammen. Die Unterschiede in Rang und Stellung einer Gesellschaft werden nicht aufgrund von Herkunft, sondern im Sinne einer Ausdifferenzierung nach Bedürfnis der Gruppe und Fähigkeiten der Individuen vorgenommen. Dementsprechend fordert Herder in Anschluss an Luthers Berufsgedanken: »Nur Ein Stand exsistiert im Staate, Volk (nicht Pöbel;) zu ihm gehört der König sowohl als der Bauer; jeder auf seiner Stelle, in dem ihm bestimmten Kreise«74. In Anschluss an seine 1780er Preisschrift Vom Einfl uß der Regierung auf die Wissenschaften, und der Wissenschaften auf die Regierung 75 formuliert Herder unter der Überschrift »Atlantis«76 in der Adrastea zum letzten Mal ein politisches Reformprogramm. Dem Staat soll demnach die Aufgabe einer umfänglichen Förderung der Humanität zukommen, indem in den Schulen 77 und Universitäten das Schriftenwesen so wie die Sitten gefördert werden. Diese Förderung kann, so ist sich Herder nach den Erfahrungen der französischen Revolution sicher, nur auf dem Wege einer Reformation, nicht aber einer Revolution verwirklicht werden: »Milden erquickenden Regen wünschet die keimende Saat der Humanität in Europa; keine Stürme«78 . Ausgehend von einem »Völker- und Menschenrecht«79 entwirft Herder die Idee einer »Europäischen Republik« 80 . Was für den Staat gilt, gilt für Herders Verständnis von Völkern überhaupt. Ihre Individualität und Integrität wird nur solange gewahrt, wie sie aus ihrer organischen Genese begriffen werden. Kolonialisierung und Sklaverei als im Widerspruch mit dem Telos der Humanität stehend finden von hier aus in Herder ihren stärksten Kritiker. Unter dem Einfluss der Lektüre von Adam Smith’ Werk The Wealth of Nations misst Herder dem Handel als Band der Völker zur Realisation dieser Idee eine grundlegende Funktion zu. Durch den Handel müssen sich die Völker zueinander gesellen und miteinander den Ausgleich suchen.

Es kann hier nicht darum gehen, alle Kultursphären auf die Gestaltungen von Humanität hin durchzugehen. Wie eingangs dieser Untersuchung festgestellt, lässt Herders Humanitätsbegriff eine vollständige materiale Erfassung kaum zu. So ist es kein Zufall, dass sämtliche Arbeiten zu Herders Humanitätsideal andere materiale Bestimmungen desselben in ihr Zentrum stellen. Aber selbst dieser kurze Überblick macht deutlich, dass die normativen und teleolo73

FA 7, 768. AaO. 767 f.; H. i. O. 75 Vgl. FA 9/2, 294–391. 76 FA 10, 706. 77 Die Schule lag Herder im besonderen Maß als Anstalt zur Humanität am Herzen. In ihr konnte Herder neben seiner kirchenleitenden Tätigkeit am stärksten seine Reformpläne verfolgen. Vgl. hierzu R. Wisbert, FA 9/2, 837–853. 78 FA 7, 75. 79 AaO. 150, hier im Zusammenhang ihrer allgemein-anthropologischen Grundlagen. 80 FA 6, 678. Inwiefern diese Idee für Herder christlich fundiert ist, zeigt F. W. Kantzenbach, Herder und die christliche Europaidee der Neuzeit, 417–457. 74

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gischen Aussagen Herders nur von seiner religiös-metaphysischen Begründung des Natur- und Kulturzusammenhangs her verständlich werden. Selbst die vermeintlich säkularen Bestimmungen von Herders Humanitätsverständnis stehen so in der Funktion einer Theodizee. Der Geschichtsphilosoph Herder ist der Hermeneut Gottes, der seinen Zeitgenossen den Sinn der Geschichte aufzuschließen und sie zu diesem hin zu bilden trachtet. Sein gesamtes Schaffen ist dadurch als ein religiöses bestimmt. Nahezu jeder der Gedanken zum Verstehen des Sinns der Geschichte, den Herder in diesem Zusammenhang anspricht, hat eine breite wirkungsgeschichtliche Rezeption innerhalb der geschichtshermeneutischen Debatte bis in die Gegenwart nach sich gezogen. 81 Angefangen mit dem Verständnis von Geschichte als Rekonstruktion (Droysen), über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (Habermas), die Bedeutung von Negativität (Hegel), die existentielle Gegenwartsrelevanz historischen Verstehens (Gadamer), den Vorgriffscharakter historischen Verstehens (Heidegger) und den Zusammenhang von Natur und Geist (Plessner, Gehlen) bis hin zu der Frage nach den Gesetzen der Geschichte (Koselleck) wurde die Geschichtsphilosophie von den Fragen Herders nicht mehr losgelassen. Es ist anzunehmen und wird im Folgenden aufzuweisen sein, dass und inwiefern diese religiös-metaphysisch gefärbte Geschichts- und Kulturtheorie in Herders Religionsbegriff ihren paradigmatischen Ausdruck findet. Religion ist als die »höchste Humanität« 82 nach Herder die exponierte Sphäre, die alle anderen Kultursphären aus sich herausgesetzt hat.

2. Anknüpfung an den Deismus So griffig die Formulierung ist, dass Religion die höchste Humanität des Menschen ist, so differenziert ist die Debattenlage zum Religionsbegriff der frühen Neuzeit, die Herder damit aufgreift. 83 Es fällt auf, dass Herder sich dort in seinem Spätwerk, wo er seinen Religionsbegriff näher bestimmt, stets auf die durch den so genannten Deismus evozierte Debattenlage bezieht. Was schon meine Rekonstruktion von Herders Spinozarezeption gezeigt hat, gilt auch hier: Herder will einerseits das Wahrheitsmoment des Deismus gegen die 81 Vgl. zur Debatte um die Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 158–224. 82 FA 6, 160. 83 Vgl. hierzu E. Feil, Religio. Bd. 3. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 2001; F. Wagner, Was ist Religion? 27–54; G. Hornig, Lehre und Bekenntnis im Protestantismus. Von der Frühorthodoxie bis zur Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts, 71–146, und F. W. Kantzenbach, Religionskritik der Neuzeit, München 1972.

2. Anknüpfung an den Deismus

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antideistischen Polemiken stark machen, stimmt ihm darum aber keineswegs in toto zu, sondern formt ihn zugleich in seinem Sinne um. D. h. für den Religionsbegriff konkret, dass Herder das Konzept einer natürlichen Religion insoweit teilt, wie er Religion und das Gottesbewusstsein einer anthropologischen Begründung zuführt. Aber im Gegensatz zum Deismus führt er diese natürliche Religion auf Offenbarung zurück, wodurch sie selbst den Charakter positiver Religion bekommt. Bekanntlich verdankt sich der programmatische Entwurf einer Theorie der natürlichen Religion der Reflexion auf die Erfahrung der sich wechselseitig widersprechenden Absolutheitsansprüche der drei großen Konfessionen. 84 Überhaupt kann in diesem Sinne die Erfahrung des dreißigjährigen Kriegs als Freisetzung des Rechts der Vernunft gegen unhinterfragte Autoritäten verstanden werden. Staatliche Ordnung wie wissenschaftliche Selbstverständigung wollten sich nicht länger heteronomer und dann auch noch sich konfessionell widersprechender Zwecke klerikaler Provenienz unterwerfen. Die sich selbst als vorurteilsfrei verstehende Vernunft wird das Medium der Intellektuellen. ›Sapere aude‹ wird so nicht erst von Kant zum Leitspruch erhoben, sondern ziert bereits als Motto jedes der acht Stücke von August Friedrich Wilhelm Sacks Verteidigter Glaube der Christen (1748–1751). Der natürlichen Religion kommt dabei die Funktion zu, einen einheitlichen Grund religiöser Verständigung zu schaffen, der jenseits der konfessionellen Absolutheitsansprüche liegt. Die klassische Gestalt dieser Religionsphilosophie findet ihren exemplarischen Ausdruck im sogenannten Deismus. 85 Hatte Ernst Troeltsch den Deismus noch als »die Religionsphilosophie der Aufklärung« 86 schlechthin bezeichnet, so hat die neuere Forschung – darin Troeltschs eigentliche Intention durchaus treffend – betont, dass von Deismus im eigent84

Dieser Konnex wurde insbesondere von E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. I, 3–30, für die Entstehung der Moderne herausgearbeitet. Ihm folgt hierin U. Barth, Die Religionsphilosophie der westeuropäischen Aufklärung. Deismus in England und Frankreich, 127–144, und ders., Von der Theologia naturalis zur natürlichen Religion. Wolff – Reimarus – Spalding, 145–171. 85 Vgl. zum Deismus die nach wie vor unübertroffene Darstellung von G. V. Lechler, Geschichte des englischen Deismus (1841), ND Hildesheim 1965, sowie E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie I, 244–359. Vgl. auch die an Lechler orientierte Darstellung bei W. Gericke, Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung, 54–69. Es wird hier als bekannt vorausgesetzt, dass Deismus nichts mit seiner Karikatur zu tun hat, wie sie im Bilde des Uhrmachergottes zum Ausdruck kommt. Dieses Bild ist bereits eine bewusste Verzeichnung der Intention des Deismus durch seine Gegner. G. Gawlick, stellt in seinem Vorwort zu G. V. Lechlers Geschichte des englischen Deismus heraus, dass die Diffamierung und Verzeichnung der deistischen Intention »schon in dem Augenblick begann, als sie der Öffentlichkeit vorgestellt wurden« (XI). 86 E. Troeltsch, Deismus, 429.

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lichen Sinne nur in England und Frankreich gesprochen werden kann. Eine Ausnahme im deutschen Raum bildet die durch den Fragmentenstreit berühmt gewordene schillernde Figur des Hamburger Gymnasialdirektors Hermann Samuel Reimarus. 87 Abgesehen von ihm verstand sich die deutsche Aufklärung in Anschluss an Leibniz und Wolff immer als dezidiert christliche Aufklärung. Die drei zentralen Motive des Deismus – Entkonfessionalisierung des Religionsbegriffs, Emanzipation der Laien sowie der Entwurf eines vernünftigen Christentums – werden der Neologie vermittelt88 , die damit in einem kirchlich positiven, auf Synthese mit dem Christlichen bedachten Rahmen die genuinen Intentionen des Deismus in sich aufnimmt. 89 Herders Anknüpfung an diese neologische Tradition einer christlichen Aufklärung zeichnet sich dadurch aus, dass er jene deistischen Motive produktiv verarbeitet und insgesamt darum bemüht ist, die geschichtliche Stellung und Berechtigung des Deismus zu würdigen. Ähnlich wie in seiner Spinozarezeption ist Herder auch hier darauf aus, dem Deismus sein geschichtliches und für eine Theorie der Religion wie des Christentums unhintergehbares Recht zukommen zu lassen.90 Herder widmet sich der Leistung von Deismus und Neologie konzentriert in der Adrastea im programmatisch überschriebenen achten Stück: »Unternehmungen des vergangenen Jahrhunderts zu Beförderung eines geistigen

87

Zu Reimarus vgl. D. Klein, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk, Tübingen 2009. 88 Über den Rezeptionsvorgang des Deismus in Deutschland herrscht noch weitestgehend Unklarheit. C. Voigt, Der englische Deismus in Deutschland, Tübingen 2003, arbeitet heraus, dass sich die Rezeption wesentlich aus von einander abhängigen Rezensionsartikeln speist. Herder empfiehlt dem Studenten der Theologie als Orientierung über den Deismus die üblichen Standartwerke von Baumgarten, Leland und Lilienthal (vgl. FA 9/1, 410 f.). Über diese Beobachtungen hinaus müssten für eine Rezeptionsgeschichte aber auch die öffentlichen wie privaten Bibliotheken in Augenschein genommen werden. So lässt sich etwa für Herder spätestens ab 1796 von einer auf Eigenlektüre beruhenden Kenntnis des Deismus sprechen, wie der Katalog der Weimarer Bibliothek belegt. Im Januar 1796 leiht sich Herder Tolands Christianity not mysterious aus und im Mai 1797 Tindals Christianity as old as creation. Vgl. B. Schneider, Herders Entleihungen aus der Weimarer Bibliothek, unter den Nrn. 274 und 344. 89 Vgl. zu diesem Vorgang U. Barth, Mündige Religion – Selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive, 201–224. 90 In diesem Sinne lobt auch G. V. Lechler, Geschichte des englischen Deismus, 7, Herders »unparteiisches Urtheil« über die deistische Bewegung. Herders Würdigung des Deismus in seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend sowie in der Adrastea ist gegenüber seiner früheren Polemik gegen den Deismus als bloßem Rationalismus eine Fortentwicklung. In der Ältesten Urkunde, FA 5, 238, etwa nennt er die rationalistische Bibelkritik eines Michaelis nur »Deistische Wasserbrühe«. Zu Herders Anknüpfung an die Neologie vgl. K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, 134–137.

2. Anknüpfung an den Deismus

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Reiches«91. Die grundlegende Bedeutung des Deismus erblickt Herder in dem durch ihn erweckten »Geist der Prüfung«92 . Die freie Untersuchung sowohl von Bibel wie von Dogmen vorangetrieben zu haben, ist das eigentliche Verdienst der sogenannten Deisten und Freidenker. »Freidenker« kann dementsprechend auch kein Schimpfname sein, sondern »Freidenker«, betont Herder, »sollen wir alle sein, d. i. wir sollen dem Recht und der Wahrheit frei nachstreben, ihnen nacheifern, frei von allen Fesseln des Ansehens und Vorurteils, mit ungeteilter Seele«93. Weder staatliche noch kirchliche Macht darf dieses geistige Reich freier Untersuchung und eigenständigen Urteils gefährden: »Ein freier Geist ist der größeste Vorzug des Menschen; freies Denken, worüber es sei, kann und soll uns weder Lordschaft noch Priestertum rauben. Dies sind nicht Grundsätze der Whigs etwa allein, sondern Forderungen der Menschheit«94 . Damit zitiert Herder implizit Anthony Collins, der in seinem berühmten Discourse of Free-Thinking (1713) eben jenes »Menschenrecht freien Denkens«95 im politischen wie religiösen Bereich eingefordert hatte. Allerdings sind nicht alle als Deisten und Freidenker bezeichneten Personen nach Herder gleich bedeutend und vor allem seriös in Bezug auf die Beförderung jener Kultur der Prüfung. Hoch schätzt Herder die Bedeutung von Lord Herbert von Cherbury (1581–1648) ein. So betont Herder in Anschluss an diesen, dass der Zweifel und die Kritik an positiven kirchlichen Lehren keinesfalls mit Atheismus gleichzusetzen seien.96 Herder steht ganz auf Herberts Standpunkt, wenn er Atheismus nur als ein Selbstmissverständnis begreifen kann. Wenn Herbert schreiben kann »Religio ultima hominis differentia«97, so klingt dieser Gedanke in Herders Formel nach, dass Religion die höchste Humanität ist. Menschsein – darin treffen sich Herder und Herbert – hat seine differentia specifica in der Religion. Nach Spinoza bekommt so auch Herbert bei Herder seine Anerkennung, die beiden in Kortholts antideistischer Schrift De tribus impostoribus (1680) bestritten wurde. Besondere Würdigung durch Herder erhält der Verfasser von Christianity not mysterious von 1696, John Toland (1671–1722). Dass Toland als ein ernst zu nehmender Gesprächspartner anzusehen ist, hatten vor ihm schon Leibniz und Mosheim deutlich gemacht.98 Tolands Grundthese, dass das Evangelium klar und ohne Geheimnisse ist, wird von Herder ausdrücklich geteilt. Erst 91

FA 10, 649. Vgl. dazu auch aaO. 124–133. AaO. 652. 93 AaO. 132. 94 AaO. 133. 95 A. Collins, A Discourse of Free-Thinking, 5. 96 Vgl. FA 10, 657. 97 Zitiert nach G. V. Lechler, Geschichte des englischen Deismus, 41. 98 Vgl. zu Leibniz’ Annotatiunculae sowie Mosheims Commentatio de vita Tolandi G. V. Lechler, Geschichte des englischen Deismus, 194. 92

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Kapitel III: Humanität und Religion

durch das Eindringen der griechischen Philosophie mit ihren speziellen Lehren in das Christentum werde das einfache Evangelium Christi zu einem Geheimnis.99 Was vorher jedem verständlich war, werde jetzt nur noch von den Eingeweihten verstanden. Der Sache nach stimmt Herder Tolands Diagnose voll zu, auch wenn er diese Kritik stärker als Standpunkt des Christentums selbst vorgetragen sehen möchte: »Sein Buch Christianity not mysterious, ›daß das Christentum keine Geheimnisse enthalte,‹ hätte einen nicht nur unschädlichen, sondern wahren und schönen Gesichtskreis gewonnen, wenn er seinen Plan im Sinne des Christentums selbst verfolgt hätte. Denn sagt und behauptet dies nicht selbst, daß es ein enthülltes Geheimnis, Offenbarung eines bisher verborgen gewesenen göttlichen Rates sei? Saget sie nicht selbst, die Zeit der Geheimnisse, Typen und Embleme, die Rätselzeit sei vorüber?«100

Sachlich macht sich Herder mit dieser These die Position Tolands zu eigen, wonach im Rückgang von den sich philosophischer Spekulation verdankenden Dogmen auf das einfache Evangelium Jesu sich das wahre Christentum konstituiert. Schließlich sind aber auch Autoren wie Matthew Tindal, Thomas Chubb und Thomas Morgen, die Herder nicht so hoch einschätzt, keine Gefahr für die Religion, da selbst diese »durch die Schriften, die ihnen entgegengesetzt wurden, Gutes veranlaßt«101 haben. Ohne die Deisten und ihre kritische Sichtung der biblischen Berichte und dogmatischen Lehre, ohne »diese vielfachfreiere Ansicht der Dinge säßen wir vielleicht noch auf den Schulbänken der lateinischen alten Dogmatik«102 . So lassen sich die bedeutenden Vertreter der deutschen Neologie – Sack, Spalding, Jerusalem und Semler – nur verstehen in Fortführung der berechtigten Kritik wie zugleich in Korrektur der polemischen Überspitzungen des Deismus.103 In allem hat der Deismus aber zu

99 Die Einfachheit und Klarheit des Evangeliums Jesu in Abgrenzung zur hellenistischen Philosophie hat im neueren Protestantismus bekanntlich ihren prominentesten Fürsprecher in A. v. Harnack gefunden, der darin A. Ritschl folgt. 100 FA 10, 653 f.; H. i. O. 101 AaO. 656. Tindals entscheidende Schrift ist Christianity as old as creation (1730), in der er die Identität der natürlichen Religion mit dem Christentum aufzeigen will. Chubbs The true Gospel of Jesus Christ (1738) verhält sich dazu wie eine Ausschnittsvergrößerung, insofern er an der Person Jesu aufzeigen will, dass das Christentum nicht auf Lehre, sondern auf sittlicher Lebensführung beruht. Demgegenüber wendet sich Morgan in seinem Dialog The Moral Philosopher (1737–1740) der Stellung des Alten Testaments zu. Insbesondere Herders relativierende Einschätzung von Tindal überrascht, da dessen Programm, das die Identität von wahrer Religion und Christentum behauptet, gar nicht so fern von Herders eigener Religions- und Christentumstheorie angesiedelt ist. 102 FA 10, 656. 103 Vgl. ebd.

2. Anknüpfung an den Deismus

181

einer eigenständigen Prüfung in den Angelegenheiten die Religion betreffend geführt, was nach Herder per se zu würdigen ist. Wenn Herder in dieser Weise das deistische, von der Neologie weitergeführte Programm eines selbstdenkenden Christentums und einer mündigen Religion in seiner Legitimität vorstellt, so ist darin eine weitere zentrale These verborgen. Prüfung und Kritik der überkommenen Bestände sind nach Herder nicht Abfall vom Christentum und Anzeichen von Unglauben, sondern geradezu Ausdruck des protestantischen Prinzips. Das reformatorische Christentum, so Herder, »ist auf eigene Prüfung und Überzeugung gebauet [. . .]; die Reformatoren übten das freie Denken nach dem Maß ihrer Zeiten; nur mittelst seiner wurden sie Reformatoren«104 . Und was für Luthers Zeit gilt, das gilt auch für die eigene Zeit. Der »Geist des Protestantismus ist Überzeugung, mithin eigne Untersuchung und Prüfung«105 . Der Deismus erscheint damit in Herders Interpretation als eine legitime Auslegung protestantischer Freiheit. Unter den gewandelten Bedingungen eines entstehenden naturwissenschaftlichen Weltbildes sieht Herder in dem Deismus den Versuch, den Grundgehalt des christlichen Bewusstseins neu zu formulieren. Es wird noch deutlich werden, dass Herder damit keinesfalls in jedem Punkte mit den deistischen Lösungsversuchen übereinstimmt, aber er hält das methodische Prinzip des eigenständigen Urteils nicht nur aus gegenwartsanalytischen Gesichtspunkten für unhintergehbar, sondern – und das ist für Herder das weitaus gewichtigere Argument – vor allem aus christentumstheoretischen Gründen für unaufgebbar. Ebenso wird von Herder das Konzept einer natürlichen Religion weder einfach übernommen noch schlicht bestritten. Herder selbst versucht mittels eines allgemeinen Religionsbegriffs jenem Gedanken gerecht zu werden, einen Standpunkt jenseits der konfessionellen Differenzen und jenseits der Pluralität positiver Religionen zu beschreiben. Aber er bestreitet die These des Konzepts der natürlichen Religion, wonach diese zu irgendeinem Zeitpunkt geschichtlich-positive Realität war. Die geschichtliche Verhältnisbestimmung von der natürlichen Religion und den positiven Religionen verschiebt sich in seinem Denken zu der Frage nach dem logischen Verhältnis von allgemeinem Religionsbegriff zu den positiven Religionen. Dieses Programm seiner – wenn ich so sagen darf – Religionstheorie skizziert er im 28. der Briefe, das Studium der Theologie betreffend (11780–81; 21785–86) in einer Auseinandersetzung mit Rousseaus »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars« aus dem Émile (1762).

104 105

AaO. 658. AaO. 652.

182

Kapitel III: Humanität und Religion

Rousseau hatte dort methodisch von der Selbsterfahrung ausgehend seine drei Glaubensartikel formuliert, wonach erstens das Weltall und die Natur von einem Willen bewegt werden, zweitens dieser Wille einem zwecksetzenden Verstand folgt und der Mensch drittens von einer immateriellen Substanz beseelt ist, die ihn frei sein lässt von allen sinnlichen Leidenschaften des Körpers und die Hoffnung auf Unsterblichkeit jedenfalls nicht unvernünftig erscheinen lässt. Aus diesen drei Dogmen entwirft er sein System der natürlichen Religion, das keiner darüber hinausgehenden offenbarten Religion mehr bedarf. Der Vikar wird Rousseau so zum Vorbild für jene pädagogische Maxime, die er seinem Zögling angedeihen lassen will und die zugleich für das moderne Verhältnis zur Religion überhaupt bezeichnend geworden ist: »Wir aber, die wir das Joch der Religion in jeder Beziehung abschütteln wollen, die wir der Autorität nichts einräumen, die wir unserm Emil nichts lehren wollen, was er nicht in jedem Lande von selbst lernen kann, in welcher Religion wollen wir ihn erziehen? Welcher Sekte wollen wir den Menschen der Natur zuführen? Die Antwort scheint mir sehr einfach zu sein. Wir führen ihn weder der einen noch der andern zu, aber wir setzen ihn in den Stand, diejenige zu wählen, der der beste Gebrauch seiner Vernunft ihn zuführen muß«106 .

Gegenüber dem hierin vorausgesetzten Konzept einer natürlichen Religion betont Herder, dass die Theorie »des allgemeinen Naturlichts und der allgemeinen Natur-Religion, der Geschichte der Menschheit nach, nichts als ein glänzender Traum sein dörfte«107. Sie ist vielmehr allein aus »der Geschichte und den Lehren einer geoffenbarten Religion abstrahier[t]«108 . Die natürliche Religion, so Herder einmal mehr Schleiermacher vorausnehmend, ist gar nicht anders da als Abstraktion aus der positiven Religion. Sie gar historisch als die ursprüngliche Religion zu setzen, die dann – sei es durch Aberglaube, sei es durch Priesterbetrug – erst durch die offenbarte Religion verdunkelt wurde, ist für Herder Ausdruck eines ungeschichtlichen Denkens. So fragt Herder rhetorisch: »Wenn haben die Menschen solche natürliche Religion in aller Reinheit und Würde gehabt? welche Menschen? und seit wann? wie lange? [. . .] Alle solche Sachen in Rousseau, und seines gleichen muß man, ohne den Wert der Abstraktion selbst zu verkennen, wie Utopische Plane lesen«109.

Wenn also die natürliche Religion gar nicht anders da ist als in einer positiv offenbarten Religion, so macht der Schluss des Zitates doch auch deutlich, dass Herder der Theorie der natürlichen Religion eine positive Funktion zu106 107 108 109

J. J. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, 292. FA 9/1, 408. AaO. 411. AaO. 408 f.

2. Anknüpfung an den Deismus

183

zuweisen gedenkt. Sie stellt für ihn das Ziel der religionsgeschichtlichen Entwicklung da, insofern für ihn der Deismus nichts anderes als »der Glaube an Einen Gott«110 ist. Dieser Glaube spricht sich im Alten Testament aus, dieser Glaube ist es auch, aus dem Christus lebte und für den er starb: »War Christus nicht selbst, im reinsten Verstande des Worts, ein Deist? und wars nicht sein Zweck, die Seinen zu reinen, vollkommenen Deisten, d. i. zu Dienern und Kindern Gottes, vollkommen, wie der Vater im Himmel vollkommen ist, zu machen?«111. Die ungeschichtliche Abstraktion der natürlichen Religion wird also von Herder selbst als eine geschichtlich aus der positiven Religion erwachsene Idee verstanden. Als solche ist sie das Resultat der religionsgeschichtlichen Entwicklung und somit selbst geschichtlich, d. h. positiv. Damit kommt es gegenüber der deistischen Theoriebildung zu einer entscheidenden Verschiebung. Wie bei dieser hat Herders Begriff der natürlichen Religion einen gegenüber den konfessionellen Streitigkeiten integrierenden Charakter. Er erreicht diesen aber nicht mehr durch die anachronistische Konstruktion eines goldenen Zeitalters der natürlichen Religion, zu dem es zurück zu kehren gilt, sondern die natürliche Religion bekommt bei ihm programmatischen oder – wie eben gesagt – utopischen Charakter. Es wird im Folgenden deutlich werden, inwiefern gerade das Christentum als positive Menschheitsreligion jene Bestimmungen des Religionsbegriffs einholt und überbietet, die üblicherweise unter dem Terminus der natürlichen Religion firmieren.112 Gegenüber dem Deismus weitet Herder aber auch seine Perspektive noch einmal deutlich aus. Integriert der Religionsbegriff die konfessionellen Differenzen des Christentums sowie die Konkurrenz der positiven Religionen überhaupt, so weitet der Humanitätsbegriff die Perspektive nochmals aus, indem unter ihm die Einheit der sich ausdifferenzierenden Kultursphären thematisiert wird. Religion und Humanität sind so in Herders Denken Begriffe, die die Pluralität der religiös-kulturellen Welt in ihrer Einheit verstehen lehren wollen. Gerade die von Herder diagnostizierte Erfahrung von Pluralität und Ausdifferenzierung setzt das Bestreben frei, die Welt in ihrer Einheit zu beschreiben. Dementsprechend werden auch Religion und Humanität konstitutiv aufeinander bezogen. Wenn Herder Religion mit der höchsten Humanität identifiziert, so hat das eine zweifache Stoßrichtung: zum einen heißt das, die Religion als höchste kulturelle Leistung des Menschen zu würdigen, insofern sich das Menschsein des Menschen in der Religion vollendet. Zum anderen heißt das aber auch, dass keine Kultur zu denken ist, die nicht religiös 110 111 112

AaO. 411. Ebd. Vgl. Kap. IV 3.

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Kapitel III: Humanität und Religion

fundiert ist. Die für den Humanitätsbegriff festgestellte Struktur von Gabe und Aufgabe wiederholt sich konsequenter Weise auf der Ebene des Religionsbegriffs. Der Mensch ist nach Herder wesenhaft religiös. Dieser religiöse Grundzug des Menschen ist das Fundament aller Kultur und zugleich vollendet sich die humane Existenz nur in einer intentional religiösen Lebenshaltung. Damit muss die Religion für Herder in einer zweifachen Hinsicht betrachtet werden, einmal als Basis aller Kultur, dann aber auch in Bezug auf die Bestimmung des Individuums. Wie stellt sich dieser Zusammenhang nun aber im Einzelnen dar? Dafür bedarf es einer genaueren Analyse von Herders Religionsbegriff.

3. Mythos und Religion Herders Religionsbegriff ist in Entsprechung zu seinem Gottesbegriff konzipiert. Religion ist das praktische Innewerden wie die theoretische Erkenntnis der Immanenz Gottes in der Welt sowie die daraus resultierende Selbsteinordnung des Menschen in die göttliche Wirktätigkeit. Gemäß der von mir so bezeichneten Metaphysik des Endlichen versteht Herder seinen monistischen Gottesbegriff als aus der Welt- und Selbsterfahrung erwachsend. Der Glauben an Gott erwächst weder aus der »diskurrierenden Spekulation«, die Gott nur noch als Postulat der praktischen Vernunft kennt, wie Herder Kant in der fünften Sammlung der Christlichen Schriften: Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen (1798) entgegen hält, sondern nur aus dem lebendigen »Eindruck der gesamten Natur«113. Noch will Herder aus dem Gottesbegriff deduzieren, sondern induktiv aus der religiösen Welt- und Selbsterfahrung Gott als den unbedingten Grund eben jener Welt- und Selbsterfahrung vorstellig machen.114 Wie noch dargelegt werden wird115 , basiert das religiöse Erleben für Herder auf Offenbarung. Religiosität116 , so Herder in den Ideen, ist das Vermögen der Vernunft, »durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin durch die Vorstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren«117 zum Gottesgedanken zu gelangen, der darin zugleich als ihre eigene Voraussetzung erfahren 113

FA 9/1, 746. Zur modernitätstheoretischen Valenz der Verhältnisbestimmung von deduktiver und induktiver Methode vgl. P. L. Berger, Der Zwang zur Häresie, 80–108 und 139– 170. 115 Vgl. Kap. III 4. 116 Herder unterscheidet begriffl ich nicht zwischen der allgemeinmenschlichen Anlage zur Religion und der positiven Religion. Erstere möchte ich unter dem Begriff ›Religiosität‹ fassen, wenn sie nach Herder auch nicht anders als in positiver Religion vorstellig wird. 117 FA 6, 376. 114

3. Mythos und Religion

185

wird. Ohne dieses Vermögen des Menschen gäbe es nach Herder überhaupt keine Kultur: »Eine Art religiösen Gefühls unsichtbarer wirkender Kräfte im ganzen Chaos der Wesen, das ihn [sc. den Menschen] umgab, mußte also jeder ersten Bildung und Verknüpfung abgezogner Vernunftideen vorausgehn und zum Grunde liegen«118 . Die Erfahrung von unsichtbar wirkenden Kräften, die Entdeckung der in ihnen wirksamen Gesetz- und Regelmäßigkeit ist das Wesen aller Religion. Indem die Vernunft in dieser Weise nach dem Zusammenhang und der Einheit der wirkenden Kräfte fragt, ist es »unleugbar, daß nur Religion es gewesen sei, die den Völkern allenthalben die erste Kultur und Wissenschaft brachte, ja daß diese ursprünglich nichts als eine Art religiöser Tradition waren«119. Herder betont, dass noch heute unter den sog. primitiven Völkern alle Kultur wesentlich religiösen Charakter trägt. Um welche Praktiken es sich auch handelt – die Bewahrung der eigenen Sagen, die Zeitrechnung, die Astronomie, die Medizin oder die Totenehrung –, sie sind wesentlich in den Händen der Priester, die so zu den prominenten institutionalisierten Kulturträgern in allen Völkern werden. Es ist somit keine höhere Kultur denkbar, die sich nicht »der religiösen Tradition in Schrift und Sprache«120 verdanken würde. In dem Aufspüren der Einheit in der Vielheit, der Ahnung des Unsichtbaren im Sichtbaren erblickt Herder auch den Ursprung aller Mythologien.121 Mythologien sind der erste Ausdruck des religiösen Gefühls. Dieses Thema beschäftigt Herder von seinem ersten Schaffen an. Ursprungsdenken und Kulturentstehung sind für ihn konzentrische Kreise. In welches seiner frühen Werke man auch hineinschaut, etwa dem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst (1764), der Schrift Zum Sinn des Gefühls (1769) oder dem Journal meiner Reise im Jahr 1769, überall geht er dem Ursprung der mythologischen Denkart nach und führt sie auf das anthropologische fundamentale der sinnlichen Welterfahrung zurück. Der Grundgedanke, den Herder in den drei Fassungen seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der mensch-

118

Ebd. AaO. 374. 120 AaO. 375. 121 Vgl. zu Herders Mythostheorie U. Faust, Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder, Münster 1977; Y. Shichiji, Herders Mythologieauffassung und die »Älteste Urkunde«, 181–189, sowie H. Gockel, Herder und die Mythologie, 409–418. Zur Geschichte der Mythosdebatte sowie der Ausdifferenzierung des Mythos-, Sagen- und Märchenbegriffs vgl. C. Hartlich/W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, sowie im Anschluss daran W. Pannenberg, Christentum und Mythos, 13–65. Vgl. außerdem A. Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis, 362–368, sowie W. Schmidt-Biggemann, Elemente von Herders Nationalkonzept, 27–34. 119

186

Kapitel III: Humanität und Religion

lichen Seele122 , erkenntnistheoretisch klärt, ist in Kürze folgender: In Analogie zu seiner Selbsterfahrung deutet der Mensch die Erfahrungen von Attraktion und Repulsion als Handlungen der umgebenden Natur auf ihn. Die Natur und ihre Gegenstände werden ihm so zu einer belebten Sphäre. Als die beiden psychologischen Grundaffekte, die sich in Reaktion auf diese Naturerfahrung einstellen, benennt Herder »Furcht und Verwunderung«123. Diese Kontingenzerfahrungen werden vom Menschen poetisch verarbeitet. Religion bzw. Mythos und Poesie sind in diesem Sinne für Herder gleichursprünglich. Religion legt sich in poetischer Rede aus und ursprüngliche Poesie hat wesentlich Religion zu ihrem Thema. Entscheidend für das Verständnis von Mythologien ist dabei nach Herder, dass sie sich je nach dem bilden, wie die konkreten lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen verfasst sind. Mythos ist immer lokal und kulturell bedingt. Bereits im dem 1980 von G. Arnold in der Schaffhausener Stadtbibliothek wieder entdeckten Urmanuskript der Ältesten Urkunde, dem wohl um 1768/69124 entstandenen Text Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts, fasst Herder seine Einsicht programmatisch zusammen: »Der Denkart der Nationen bin ich nachgeschlichen, und was ich [. . .] herausgebracht, ist: daß jede sich Urkunden gebildet, nach der Religion ihres Landes, der Tradition ihrer Väter und den Begriffen der Nation: daß diese Urkunden in einer dichterischen Sprache, in dichterischen Einkleidungen und poetischen Rhythmus erschienen: also ›Mythologische Nationalgesänge vom Ursprunge ihrer ältesten Merkwürdigkeiten‹. Und solche Gesänge hat jede Nation des Altertums gehabt, die sich ohne fremde Beihülfe auf dem Pfade ihrer eignen Kultur [. . .] hinaufgebildet. [. . .] Die Edda der Celten [. . .], die Kosmogonien Theogonien und Heldengesänge der ältesten Griechen, und die gemeine Nachrichten von Spaniern, Galliern, Deutschen, und Allem was Barbar hieß, alles ist Eine gesamte Stimme, ein einziger Laut von solchen Poetischen Urkunden voriger Zeiten.«125

Poetische Mythologie ist erster Ausdruck der menschlichen Selbst- und Welterfahrung bzw. diese legt sich im poetischen Mythos selbst aus. Psychologie und historische Genese verweisen so nach Herder konstitutiv aufeinander. Die Psyche stellt sich im Mythos selbst dar, der so wiederum zum Mittel 122

Vgl. hierzu M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, 109–173. FA 9/1, 747. Es ist deutlich, dass an dieser Stelle schon R. Ottos Polarität von fascinans und tremendum vorgearbeitet ist. Religion wird schon hier im Ansatz als »Kontingenzbewältigungspraxis« verstanden; vgl. H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 249. 124 Zur Datierungsfrage vgl. R. Smend, FA 5, 1328–1331. Zum Verhältnis des Urmanuskripts zur Druckfassung vgl. G. Arnold, Das Schaffhauser Urmanuskript der »Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts« und sein Verhältnis zur Druckfassung, 50– 63. 125 FA 5, 15 f. Vgl. zum Zusammenhang von Poesie und Nationalcharakteren bei Herder H. D. Irmscher, Poesie, Nationalität und Humanität bei Herder, 35–47. 123

3. Mythos und Religion

187

wird die Psyche zu verstehen. In der Form des Mythos verdichtet sich in symbolischer Repräsentation das in der Gottheit sich gründende Welt- und Selbstverhältnis, allerdings ohne um seine Symbolhaftigkeit zu wissen. Diesen Einsichten seines Frühwerkes bleibt Herder bis zu seinem Lebensende treu. So nimmt er noch in der Adrastea in den Abschnitten über »Märchen und Fabel« sowie über »Bilder, Allegorien und Personifikationen« diese in seiner frühen Schaffensphase gewonnenen Erkenntnisse in Anspruch.126 Im achten Buch der Ideen erklärt Herder: »Kurz, die Mythologie jedes Volks ist ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur ansah [. . .]. Auch in den wildesten Strichen also und in den mißratensten Zügen ist sie ein philosophischer Versuch der menschlichen Seele«127. Schließt der Mythos als Ausdruck ursprünglicher Welterfahrung die menschliche Psyche auf, so bietet er dem Menschen als erzählende Wirklichkeitserschließung zugleich grundlegende Deutungsschemata des Verstehens und der Bewältigung von Welt. So wie der Mythos die Welt beschreibt, so wird sie auch gesehen. Damit entwirft Herder einen Mythosbegriff, der über dessen Charakteristik durch seinen Freund, den Göttinger Philologen C. G. Heyne (1729–1812), als primitiver Weltdeutungsversuch hinausgeht.128 So wie jeder Mensch aus seiner Kindheit herauswächst, so wächst er in eine Sprache hinein. Sprache ist immer der unmittelbarste Ausdruck, wie der Mensch die Welt sieht bzw. sehen muss. So betont Herder: »Jedes Volk hat seine Mythologie: denn es hat eine Sprache«129. In diesem Sinne hat jede Weltanschauung, und sei sie noch so sublim, für Herder auch mythologischen Charakter. Die Sprache stellt den Menschen immer schon in einen Deutungskosmos hinein, zu dem es kein Jenseits gibt. Dementsprechend können die modernen Wissenschaften auch nicht in einem schlichten Gegensatz zu den alten Mythologien stehen, sie sind vielmehr deren reflexive Fortbildungen auf einer höheren Stufe. Entspringt der Mythos aber aus der unmittelbaren Einheit des Selbst- und Weltverstehens, so sieht Herder das Problem der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften darin, dass sie aufgrund ihrer methodischen Abstraktionen die Selbst- und Weltauffassung des Menschen fragmentieren und daher nicht mehr nach dessen Ganzheit und Einheit fragen. Die Naturwissenschaften könnten so in Herders Sinne als negative Mythologien beschrieben werden. Herder selbst und nach ihm die Romantiker drängen demgegenüber auf eine neue Erzählung vom Menschen, die der positiven mythologischen Einheit 126

Vgl. FA 10, 255–259 und 290–305. FA 6, 301. 128 Zu Heynes Mythosbegriff sowie dessen Bedeutung für die Herausarbeitung einer Mythostheorie im 18. Jahrhundert vgl. U. Faust, Mythologien und Religionen, 39–53. 129 FA 10, 831. Vgl. hierzu auch Herders Abschnitt in der Adrastea zu den Nationalreligionen, aaO. 603–625. 127

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Kapitel III: Humanität und Religion

von Natur und Kultur, Leib und Seele gerecht wird, aber zugleich im Unterschied zum alten Mythos um den rein symbolischen Charakter seiner Deutungen weiß.130 Indem der Mythos diese Frage offen hält, ist er seiner Einheit ausdrückenden Funktion nach ein Wesenselement von Religion und gehört nach Herder keinem vergangenen Zeitalter an. Herders Deutung der Stellung des Menschen im Kosmos, die er abbreviativ in seinem Humanitätsbegriff zusammenfasst, hat somit den Charakter mythologischer Selbst- und Welterschließung im Medium der Sprache.

4. Religion und Offenbarung Woher aber Sprache? Mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache verbindet sich bei Herder die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Offenbarung. Es war bekanntlich Johann Georg Hamann, der Herder zu dessen Entsetzen nach Veröffentlichung seiner Preisschrift in zwei Rezensionen sowie in Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeinung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache hart anging.131 Dieser Konflikt zwischen den Freunden Hamann und Herder ist in einer zweifachen Hinsicht von Interesse.132 Zum einen – und darum wird es nun zunächst gehen – gibt Herder in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774–76) als Reaktion auf die Hamannsche Kritik seine Antwort auf Hamanns Angst, »daß ein Jüngling wie Herder schwach gnug seyn sollte den schönen Geistern seines Jahrhunderts und ihrem bon ton nachzuhuren«133. Er gibt diese Antwort in der Form, dass er seinen Offenbarungsbegriff klärt. Zum anderen macht diese Debatte die grundlegende Differenz der beiden Freunde in Bezug auf die Sündenthematik deutlich, wobei man den Eindruck hat, dass Herder diese Differenz nie so klar vor Augen bekommt wie Hamann. Aber dazu mehr im nächs130 Vgl. hierzu H. D. Irmscher, FA 7, 983 f. sowie Herders Fragment einer Abhandlung über die Mythologie, wovon die ersten vier Seiten bei W. Pross, H III/2, 560–562, wiedergegeben sind. 131 Vgl. N III, 17–33. 132 Im Folgenden muss ich mich auf die für Herder relevanten religions- und christentumstheoretischen Aspekte beschränken. Abgesehen von einzelnen Aufsätzen fehlt der Forschung nach wie vor eine grundlegende Arbeit, die das Verhältnis dieser beiden Autoren luzide herausarbeitet. Es gibt kaum einen Gedanken Herders, der sich nicht auch bei Hamann fände, aber ebenso bekommen die Gedanken bei Herder immer eine andere Färbung, eine andere, z. T. entgegengesetzte Richtung. 133 So Hamann in seinem Brief an Herder vom 6. Oktober 1772 (ZH III, 16 f.), in dem er beruhigt aufnimmt, dass Herder in seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache überhaupt nicht bestritten habe, dass »Gott durch Menschen, die Sprache würke« (DA II 10114 f.).

4. Religion und Offenbarung

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ten Kapitel. Hier soll es zunächst nur um Herders Entwicklung des Offenbarungsbegriffs gehen. Herder selbst sieht seine Ausführungen dazu in der Ältesten Urkunde ganz im Geiste Hamanns stehend. Er kündigt Hamann seine im Entstehen begriffene Schrift als deutliche Klärung seiner Auffassung über den Ursprung der Sprache an.134 Herder selbst versteht die Älteste Urkunde primär als Präzisierung der Preisschrift Über den Ursprung der Sprache und weniger als einen Widerspruch oder eine Revokation seiner dort niedergelegten Auffassung. Dies muss gegen alle Deutungen, die Herder hier eine Kurskorrektur aufgrund der Kritik Hamanns unterstellen, betont werden und bestätigt noch einmal meine These, dass es Herder in der Preisschrift gar nicht um metaphysische Letztbegründung ging, diese Stelle vielmehr aussparte, die jetzt in der Ältesten Urkunde offenbarungstheologisch reflektiert wird. Um das Problem zu verstehen, muss der Streitpunkt zwischen Herder und Hamann vergegenwärtigt werden. Herder hatte in seiner Preisschrift eine These verfolgt, die zwischen den beiden alternativen Konzeptionen eines tierischen und eines göttlichen Ursprungs der Sprache einen Mittelweg sucht. Tierisch – so erinnern wir uns – kann der Ursprung nicht sein, weil es bei dieser These völlig unersichtlich ist, wie sich ein präreflexiver Zustand135 von sich aus zu Reflexion erheben kann. Reflexion und Sprache verweisen immer schon an sich aufeinander zurück. Göttlich im Sinne von Süßmilch kann der Ursprung aber auch nicht sein, so Herder, da der göttliche Unterricht selbst Vernunft und Sprache zur Voraussetzung hat, sonst könnte der Mensch diesen Unterricht nicht verstehen. Außerdem trägt die Sprache in ihrer Morphologie die Geschichte ihrer Entstehung aus den menschlichen Empfindungen an sich. Mithin kommt Herder zu der These von einem menschlichen Ursprung der Sprache als einem dritten Weg zwischen den beiden genannten Alternativen. Das Komplizierte der Debatte zwischen Hamann und Herder besteht dabei darin, dass Herder zwischen seiner eigenen Position schon in der Sprachursprungsschrift und der Hamanns keinen Widerspruch sah, sondern sich schlicht missverstanden fühlte. Hamanns Kritik an Herder wiederum wäre nun missverstanden, würde man sie als eine Verteidigung der These Süßmilchs deuten. Sein Ziel »die Individualität, Authenticität, Majestät, Weisheit, Schönheit, Fruchtbarkeit und Überschwenglichkeit der höheren Hypothese zu rächen«136 ist auch für Hamann keinesfalls im Sinne eines schlichten 134

Vgl. DA II 101. Hier natürlich nicht im Sinne der im Kap. I 3.3.4 b) genannten organologischen Reflexivität der Selbsterhaltung, sondern in dem qualitativen Sinne eines bewussten Selbstverhältnisses. 136 N III, 19; H. i. O. 135

190

Kapitel III: Humanität und Religion

Supranaturalismus zu verstehen, wonach Gott die Sprache gleichsam Buchstabe für Buchstabe ab extra eingebe. In dem Abweis dieses Punktes treffen sich Hamann und Herder. Die Differenz liegt vielmehr in der theologischen Richtung des Denkens. Hamann ist ein Denker der Kondeszendenz, der Erniedrigung Gottes. Herder wird demgegenüber von Hamann treffend als Denker der »Apotheose«137 des Menschen bezeichnet, worin er bei Herder ein Nachwirken des aufklärerischen Optimismus zu erkennen meint. Der Glaube an den Menschen, der sich selbst Sprache erfindet, ist für Hamann der Inbegriff der Selbstüberhebung der Vernunft, die – wie sich in Anschluss an die Aesthetica in nuce (1762) – sagen lässt, im »hieroglyphische[n] Adam« gerade nicht mehr »die Historie des ganzen Geschlechts im symbolischen Rade«138 , d. h. unter postlapsarischen Bedingungen, sehen möchte. Diese grundlegende hamartiologisch bedingte Differenz der Richtungen des Denkens muss im Auge behalten werden, wenn ich nun Herders Anknüpfung an Hamanns Offenbarungsbegriff anhand der Ältesten Urkunde skizziere.139 Wie gerade gesagt, erhoffte Herder sich von dieser Schrift, dass Hamann ihn darin wieder als seinen Bruder im Geiste erkennen würde. Die in dieser Schrift niedergelegte Verhältnisbestimmung von Religion und Offenbarung ist insofern für Herder von hoher Relevanz, als er ihr bis in sein Spätwerk hinein treu bleibt. So fällt es auf, dass dieser Text, der rund 12 Jahre vor seiner expliziten Spinozainterpretation entstanden ist, durchgängig spinozistischen Geist atmet, diesen aber anhand eines anderen theologischen Paradigmas realisiert: nämlich der Sprachtheologie seines verehrten Freundes Hamanns. Das theologische Problem, vor das sich Herder am Ende seiner Sprachursprungsschrift gestellt sah, ist ein Doppeltes: Zum einen führte ihn seine These vom menschlichen Ursprung der Sprache zu der Aussage, dass sich Sprache und Reflexivität wesentlich in Sozialität ausbilden. Der Mensch wächst demnach immer in einen Kommunikationszusammenhang und einen Deutekosmos hinein. Dabei bleibt es aber unklar – wenn Sprache immer 137

AaO. 24. N II, 200. Die Differenz zu Hamann wurde schon in Herders kleiner Schrift Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose von 1765 deutlich. Dort hält Herder Hamann entgegen, dass er »zu sehr profanum vulgus« sei, »um deinen hieroglyphischen Adam zu entziffern, oder deine Dechiffrierkunst über ihn zu verstehen« (FA 1, 34). Vgl. zu Herders Parodie auf Hamanns Aesthetica A. Schöne, Herder als Hamann-Rezensent. Kommentar zur Dithyrambischen Rhapsodie, 195–201, sowie den Kommentar von U. Gaier, FA 1, 877–917. 139 Vgl. zur Gesamtinterpretation der Ältesten Urkunde die luziden Ausführungen von C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, Tübingen 1999, sowie zu Herders Religionsbegriff hier besonders die Seiten 151–160. Während Bultmann sich dabei auf Herders Verarbeitung von Humes Religionskritik konzentriert, geht es mir im Folgenden um Herders Verarbeitung der Impulse Hamanns. 138

4. Religion und Offenbarung

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schon das Medium menschlichen Selbst- und Weltumgangs ist – wie ein Anfang der Sprache gedacht werden kann. Im ersten Kapitel hatte ich schon darauf hingewiesen, dass unter endlichen Bedingungen kein Anfang des Geistes gedacht werden kann. Dieser Gedanke wird von Herder in der Ältesten Urkunde nun zu der religionstheoretischen These umgeformt, dass der Anfang des Geistes und damit auch die Genesis der Sprache nur aus einem offenbarungstheologischen Grund heraus verstanden werden kann. Damit steht er aber vor dem anderen Problem: wie lässt sich ein Offenbarungsbegriff formulieren, der nicht im Sinne eines Zwei-Welten-Schnitts mit supranaturalistischen Denkfiguren operiert? Meine Interpretation von Herders Spinozarezeption hat gezeigt, dass Herder unter Offenbarung keinen supranaturalen Eingriff Gottes in die Naturkausalität versteht, sondern das intuitive Aufgehen der Erkenntnis, dass die Welt der Kräfte in ihrer Totalität wie in ihren Individuen sich als Ausdrücke Gottes erschließt. Dieses Bemühen, die Kategorie der Offenbarung von supranaturalen Implementen frei zu halten, zeigt sich in Herders Werk durchgehend und so auch bereits hier in der Ältesten Urkunde. Die durch den Sprachgebrauch gegebene faktische Konnotation des Offenbarungsbegriffs mit dem Supranaturalen wird dann wohl auch zu der Zurückhaltung in der Verwendung des Offenbarungsterminus in der vierten Sammlung der Christlichen Schriften: Vom Geist des Christentums von 1798 geführt haben.140 Sachlich lässt sich für Herder aber eine Kontinuität in dieser Verwendung des Offenbarungsbegriffs von seinem Früh- bis in sein Spätwerk hinein verfolgen. Die Spinozarezeption in Gott hat wiederum nur die impliziten Theoriedimensionen seiner früheren Verwendung des Offenbarungsbegriffs aufgedeckt. In der Auslegung von Genesis 1 widmet sich Herder diesem Problemkomplex in Anschluss an Hamanns These von der Autorschaft Gottes.141 Diese Anknüpfung an Hamann ist durch Herders intensive Spinozabearbeitung nicht einfach überholt. Die sprachtheologische Deutung der Kategorie der 140 Herder, SWS 20, 131, schreibt dort, dass er den Begriff der Offenbarung lieber vermeiden als verwenden möchte, »da einmal so viel dumpfe Nebenbegriffe daran haften«, womit er eben den darin vorausgesetzten Supranaturalismus meint, der mit einer extramondanen Sphäre operiert. Es kann daher nicht befriedigen, wenn T. Zippert, der den Offenbarungsbegriff zu Herders Leitkategorie erheben will, an keiner Stelle die auch schon das Frühwerk prägende Umdeutung des Begriffs durch Herder reflektiert. Ebenso kann schon in der Ältesten Urkunde keine Rede davon sein, dass Herder sich hier als »supranaturalistischer Apologet« versteht, wie O. Pfleiderer, Die Entwicklung der protestantischen Theologie, 22 f., es sieht. 141 Vgl. zu Hamanns Theologie der Sprache die grundlegenden Aufsätze von J. Ringleben, Rede, dass ich dich sehe. Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken, 3–22, sowie Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos, 215–275. Vgl. außerdem G. v. Hofe, Schöpfung als Dichtung. Herders Deutung der Genesis als Beitrag zur Grundlegung einer theologischen Ästhetik, 65–87.

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Kapitel III: Humanität und Religion

Offenbarung macht vielmehr erst explizit, inwiefern Offenbarung immer Offenbarung für ein Selbstbewusstsein, d. h. verstandene Offenbarung ist. Insofern kann man sagen, dass die sprachtheologische Deutung der Offenbarung eine systematische Vertiefung des in der Spinozarezeption erarbeiteten geisttheoretischen Gottesgedanken ist. Werkgeschichtlich war der Weg für Herder freilich ein umgekehrter. In der geisttheoretischen Deutung des Gottesgedanken reflektiert er die Vorraussetzungen seines sprachtheologischen Offenbarungsbegriffs in der Ältesten Urkunde. Die fundamentalanthropologische Bestimmung des Menschen als ein Sprachwesen in der Preisschrift Über den Ursprung der Sprache findet auf diese Weise in der geisttheoretischen Fassung des Gottesgedankens ihre Entsprechung. Die Theologie der Sprache fungiert damit als Bindeglied zwischen lebensweltlicher Anthropologie und letztbegründender Metaphysik. Wie in dem gerade Ausgeführten zu Herders Anknüpfung an den Deismus angeklungen ist, sieht Herder in dessen Entgegensetzung von natürlicher und offenbarter Religion eine Scheinalternative.142 Es ist gerade die Frage nach dem Anfang des Geistes, die ihn über solch eine Konzeption einer natürlichen Religion hinaustreibt, nach der sich die Entstehung von Religion wie des Gottesgedankens allein der Reflexion auf Furchterfahrung verdanke. Herders These, die er mit der Interpretation von Genesis 1 untermauern will, ist vielmehr die Umgekehrte, wie er programmatisch formuliert: »Man kennet die ewigen Entgegensetzungen der natürlichen und geoffenbarten Religion, als ob sie in siebenfachem Betracht wesentlich unterschieden, jene Jahrtausende allein auf der Welt, hinreichend und wie man gar sagt, Patriarchisch; diese erst durch den Betrüger Moses zuerst das Licht gesehen u. dgl. Selbst in den besten Büchern wird auf so falsche Annehmungen gebaut, die jetzt, glaube ich, wegfallen können, wenn durch ein Faktum gezeigt wird, die positive ist so alt als die Welt, älter als die natürliche, diese nur durch jene entstanden«.143

Dieses Faktum ist bekanntlich Herders These, dass in Genesis 1 – eben der ältesten Urkunde der Menschheit – der erste Eindruck der Uroffenbarung in poetisch abgefasster Form fixiert vorliegt. Auch wenn der Fortgang der alttestamentlichen Wissenschaft diese These Herders grundsätzlich widerlegt hat, so behält sie unter religionstheoretischem Aspekt ihre Valenz. Herders ästhesiologische Deutung des Sonnenaufgangs verfolgt das systematische Interesse, den allgemeinen Religionsbegriff, wie er in der Debatte um die natürliche Religion entfaltet wurde, offenbarungstheologisch einzubinden und somit zugleich den Ursprung der Menschheitsentwicklung in Gott gründen zu las-

142 143

Vgl. J. A. Steiger, Von Riga nach Weimar, 320. FA 5, 246, H. i. O.

4. Religion und Offenbarung

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sen. Die ästhetische Erhabenheit des Textes verbürgt für Herder seine Wahrheit.144 Es hat dabei zunächst den Anschein, als würde Herder dafür auf einen supranaturalistischen Offenbarungsbegriff zurückfallen, wenn er die Offenbarung Gottes in der Natur von der Offenbarung Gottes in der Sprache als zwei verschiedene Akte Gottes trennt. In Abgrenzung vom Konzept der natürlichen Religion formuliert Herder: »Wenn ich indessen durch ein Faktum zeige, daß die Erste Offenbarung Gottes [. . .] nichts als die Offenbarung in der Natur war, und zwar im einfachsten, schönsten, faßlichsten, ordentlichsten, wiederkommendsten, eindrücklichsten Bilde, [. . .] – wenn ich zeige, daß zur Fassung und Erreichung dieses Bildes Eine Lehrmeisterstimme dazu gekommen, zu der im Anfange der Zeit Niemand als Gott da war [. . .] – welch ein Aufschluß!«145 .

In demselben Sinne unterscheidet Herder noch im 27. Brief der Briefe, das Studium der Theologie betreffend zwischen der Natur als Werk Gottes und der erst über sie Aufschluss gebenden »lehrende[n] Stimme«146 Gottes. Es ist hier zunächst zu beachten, dass Herder jeweils von einer ›Stimme‹ spricht, die lehrt. Diese ist nicht sofort mit der Bibel zu identifizieren. Die biblischen Schriften und hier näherhin Genesis 1 wird von Herder historisch verstanden als humaner Reflex auf die Eindrücke des Universums, die sich in poetischer Form dargestellen.147 Sodann stellt sich die Frage, wie Herder sich jenes ›Dazukommen‹ der Stimme denkt, wie er also das Verhältnis von Gottes Offenbarung in der Natur und Gottes Offenbarung in der Sprache bestimmt. Ich stelle meine These voran: Herder will hier – gegen den ersten Anschein – nicht die Offenbarung Gottes in der Sprache gleichsam als zweites Wunder neben die Offenbarung Gottes in der Natur stellen148 , sondern Gottes Offenbarung in der Natur ist Offenbarung in der Sprache für das sprachsinnliche 144 Herder betont, schon der griechische Rhetor Longin habe »die Erhabne Simplizität des Ausdrucks bewundert« (FA 5, 205). Diese Aussage bezieht sich auf die aus dem 3. Jh. n. Chr. stammende Schrift Pseudolongins ερὶ ὕψους IX 9. Herders Rezeption und Verwendung des Begriffs des Erhabenen wäre eine eigene Untersuchung, die einem anderen Ort vorbehalten bleiben muss. Zentral ist in diesem Zusammenhang Herders Auseinandersetzung mit Riedel im Vierten kritischen Wäldchen sowie seine Diskussion von Kants Ästhetik in der Kalligone. Zu Herders Begriff des Erhabenen vgl. R. Barth, Seele nach der Aufklärung, 192–228. 145 FA 5, 246 f., H. i. O. 146 FA 9/1, 397. 147 Zur hermeneutischen Perspektivierung der Interpretation von Gen 1 vgl. C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 133–139. 148 Diese Deutung scheint mir C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 154–158, zu verfolgen, wenn er neben die Offenbarung als »Tat« als zweiten Aspekt die Offenbarung als »Stimme« denkt. Der Zusammenhang der beiden Aspekte bleibt bei dieser Interpretation undeutlich. In demselben Sinne hat bereits E. Hirsch,

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Kapitel III: Humanität und Religion

Wesen Mensch, die auch nur deshalb in der Bibel zur Sprache und zur Schrift kommen kann. Herder knüpft damit an Hamanns Gedanken der »Autorhandlung«149 Gottes an. In der von Herder genauestens studierten Aesthetica in nuce entwirft Hamann seinen sprachtheologischen Schöpfungsbegriff.150 Schöpfung betont Hamann hier »geschah durchs Wort«151, was Gott in Anschluss an Psalm 33,9 als den »kräftigen Sprecher«152 qualifiziert. J. Ringleben fasst die Deutung Hamanns zusammen: »Denn daß Gott durch das Wort und nichts ohne das Wort schafft, bedeutet nicht, er rufe wie durch einen Zauberspruch etwas aus dem Nichts hervor, sondern daß Gott das Geschaffene als von ihm Gedachtes und Ausgesprochenes existieren läßt. Das Geschöpf hat sein Sein im Wort, als Rede Gottes«153 . In der Ältesten Urkunde eignet sich Herder die Theologie des schöpferischen Wortes seines Freundes an. Die aufgehende Morgenröte wird ihm zu der Uroffenbarung, aus der die Menschheitsgeschichte ihren Ausgang nimmt. Sie ist Ansprache an den Menschen, der sie verstehen kann, weil und insofern er selbst ein Geschöpf der Sprache ist. Es ist dabei zu beachten, dass Herder die Offenbarung Gottes in der Natur mit eben jener »aufgehenden Morgenröte« identifiziert. Sie ist die ausgezeichnete »Lehrmethode Gottes«154 . Die Schöpfung, wie sie am lichten Tage vorliegt, ist demgegenüber ein »Gewühl einzelner, abgesonderter [. . .]Geschöpfe«, ein »unordentlicher Haufe« und ein »Unendliches Chaos«155 , dem der abstrahierende Verstand Herr zu werden versucht. Die aufgehende Morgenröte bildet das Gegenbild dazu ab. In ihr ist dem ersten Menschen die ganze Schöpfung »ohne Blendung und Düsterung des Auges« in der »schonendsten Sukzession«156 gegeben. Dieser Blick auf den Schöpfungsmorgen wird von Herder in einer doppelten Weise gedeutet: zum einen religionsgeschichtlich in Hinblick auf die uni-

Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, 227–229, zwischen zwei Offenbarungsbegriffen bei Herder unterschieden. 149 N III, 366. 150 Herder hatte Hamanns Aesthetica so deutlich vor Augen, dass ihm immer wieder Formulierungen Hamanns in die Feder fließen. Vgl. hierzu S.-A. Jørgensen, Herder als Dolmetscher Hamanns, 98–107. 151 N II 200. 152 Ebd. 153 J. Ringleben, Gott als Schriftsteller, 226. Zur sprachtheologischen Deutung der Schöpfung vgl. auch O. Bayer, Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986. 154 FA 5, 248. 155 AaO. 247. 156 AaO. 248. Herder bleibt dieser Einsicht auch in seinen Ideen treu, wenn er schreibt, dass die Gliederung der Schöpfungstage »nicht physisch, sondern nur symbolisch« (FA 6, 405) erfolgt.

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verselle Verbreitung der Offenbarung und zum anderen religionstheoretisch bezüglich ihrer gegenwärtigen Erfahrbarkeit und zeitlosen Wahrheit. Herders religionsgeschichtliche These ist, dass in Genesis 1 – wie der Titel seiner Schrift lautet – die älteste Urkunde des Menschengeschlechts vorliegt. In diesem Sinne haben der zweite und dritte Teil der Ältesten Urkunde über Ägypten und Asien auch keine andere Funktion als zu zeigen, wie sich die ursprüngliche Offenbarung auch in diesen Traditionen abschattet.157 Damit ist keine geringere Auffassung verbunden, als dass sich alle Kulturen auf diese erste Offenbarung für das Menschengeschlecht beziehen und auf ihr gründen. Sachlich knüpft Herder damit an die altkirchliche Lehre vom logos spermatikos an. Das Bild der aufgehenden Morgenröte ist ihm in diesem Sinne »Same der Unsterblichkeit«158 , aus dem sich alle Kultur historisch-genetisch auswickelt.159 In der zeitgeschichtlichen Debattenlage wird das Spezifikum von Herders Deutung im Vergleich zu den Positionen von Johann F. W. Jerusalem in seinen Briefen über die Mosaischen Schriften und Philosophie von 1762 (21772) und von Lessing deutlich. Schon der Abt aus Braunschweig hatte versucht, eine theologische Konzeption zu entwerfen, in der Vernunft und Offenbarung nicht in einem Gegensatz zu stehen kommen, sondern die Vernunft vielmehr in der Offenbarung gründet. K. Aner bringt es auf folgende Formel: »Jerusalems erleuchtete Vernunft steht nicht bloß [. . .] neben der Offenbarung, sie umfaßt auch den Inhalt der Offenbarung. Aber nur die von der Offenbarung erleuchtete Vernunft«160 . In dem Gedanken, dass die Vernunft ohne Offenbarung nichts ist, trifft sich die Intention Herders mit der Jerusalems. Für den hier zu betrachtenden Zusammenhang ist es noch interessanter zu sehen, inwiefern Herder durch Jerusalem auf die Spur zu seiner Deutung von Genesis 1 gekommen sein könnte. So nimmt Jerusalem für sich in Anspruch, der erste zu sein, der in Anschluss an Longins Beobachtungen zum Erhabenen die These wagt, dass die ersten Kapitel der Genesis im eigentlichen Sinne Gedichte, also Poesie sind: »Ich bin, soviel ich weiß, der erste, der diese Mutmaßung wagt; ich glaube aber soviel Grund dazu gefunden zu haben, daß es mich wundert, daß so wenig Herr Lowth [. . .] auf diesen Gedanken gekommen«161 ist. Als solcher 157 FA 5, 303–400 sowie 401–476. Vgl. zur Tradition wie Problematik dieses Vorgehens C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 165–169. 158 FA 5, 312. 159 Vgl. zu dem hier von Herder rezipierten Konzept einer prisca theologia H. B. Nisbet, Die naturphilosophische Bedeutung von Herders »Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts«, 210–226. 160 K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, 194. Zu Jerusalem vgl. A. U. Sommer, Neologische Geschichtsphilosophie. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems ›Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion‹, 170–217. 161 J. F. W. Jerusalem, Briefe über die Mosaischen Schriften und Philosophie, 157.

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Kapitel III: Humanität und Religion

liegt Genesis 1 eine ältere Tradition zugrunde, die in ihrem Originalbestand durch Moses wieder veröffentlicht wurde, aber auch sonst im Orient – wenn auch verdunkelt – verbreitet ist. Herders Deutung der Genesis in der Ältesten Urkunde präludierend formuliert Jerusalem in seinen Briefen: »Es bleibt hier also nichts anderes übrig, als daß die Ägypter und Phönizier mit Mose eine gemeinschaftliche Quelle, nämlich eine ältere Tradition gehabt haben müssen; welche bei den Ägyptern durch die symbolischen Abbildungen [. . .] der wahren Theorie immer unähnlicher geworden; die aber Moses zur Erhaltung jener wichtigen Wahrheiten durch die Gemeinmachung und Bestätigung dieser echten Originalurkunden [. . .] wieder ans Licht gebracht«162 .

Die religionsgeschichtliche These dieser Aussage, die Herder mit Jerusalem teilt, ist darin zu sehen, dass die Schöpfungserzählung so nicht mehr als eine bloß partikulare Volkserzählung begriffen wird, sondern als universalgeschichtliche Tradition in einer Bedeutung für die gesamte Menschheit. Als älteste Urkunde steht sie als Reflex auf die ursprüngliche Offenbarung am Anfang aller Tradition und hat als solche menschheitsgeschichtlich universale Geltung. Damit wird zugleich deutlich, dass Herder dem Diktum Lessings in dessen Erziehung des Menschengeschlechts von 1777 wohl kaum zugestimmt hätte. Lessing hatte dort in der Parallelisierung von Erziehung und Offenbarung unter dem § 4 statuiert: »Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte [. . .]. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten Dinge nur früher«163.

Offenbarung hat für Lessing demnach alleine eine Katalysatorfunktion für die Vernunft. Für Herder – und darin ist er mit Jerusalem einig – ist ohne Offenbarung gar keine Vernunft denkbar. Vernunft wird durch Offenbarung letztinstanzlich überhaupt erst in den Vollzug gesetzt. Die auf sich selbst geworfene Vernunft bliebe notwendig leer. In Bezug auf die von ihm in seiner Preisschrift formulierte These vom Menschen als Mängelwesen formuliert er in der Ältesten Urkunde: »Ein Unmündiger, verwaiseter Dahingeworfener! ohne Gott und Mutterbrust im Chaos der Natur umherirrend! verloren!«164 . Herder bleibt bei dieser religionsgeschichtlichen These nicht stehen. Seine Deutung der aufgehenden Morgenröte wie der darin verborgenen Schöp162

AaO. 172. Zur Deutung der Genesis in der frühen Hebraistik vgl. C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 49–85. 163 G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 4. Diese Stelle dürfte für Herder, wie er in seinem Nekrolog zu Lessing festhält, zu den »überspannten Hypothesen« (FA 2, 706) dieser von ihm ansonsten geschätzten Schrift gehören. 164 FA 5, 286.

4. Religion und Offenbarung

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fungshieroglyphe165 geht über die bloß museale Betrachtung einer am Anfang der Menschheitsgeschichte liegenden Offenbarung Gottes hinaus. Die weitreichende, auf Herders explizite Spinozarezeption hinführende religionstheoretische These lautet, dass diese anfängliche Offenbarung Gottes in der Natur noch gegenwärtig erfahrbar ist. Dementsprechend steht am Anfang seiner offenbarungstheologischen Deutung des Schöpfungsmorgens auch nicht dessen theoretische Verifizierung durch den religionsgeschichtlichen Beweis, sondern der Rekurs auf die gegenwärtig erfahrbare Wahrheit der aufgehenden Morgenröte. Herder versetzt sich zusammen mit seinem Leser virtuell an den allgegenwärtigen Anfang der Schöpfung: »Komm’ hinaus, Jüngling, aufs freie Feld und merke. Die urälteste herrlichste Offenbarung Gottes erscheint dir jeden Morgen als Tatsache, großes Werk Gottes in der Natur«166 . Indem Herder in seiner Interpretation Genesis 1 als das »Gemälde der Morgenröte, Bild des werdenden Tages« auslegt, das bis auf den heutigen Tag allmorgendlich zu erleben ist, will er diesem Text seinen ursprünglichen Sinn zurückgeben als »eine Jahrtausende her verdunkelte und verunzierte Offenbarung Gottes«167. Es geht Herder also weder darum, die Schöpfungserzählung vor dem Bewusstsein seiner Zeit rationalistisch zu rechtfertigen168 , wie er es etwa in der Interpretation von Michaelis169 sah, noch kreationistisch das Sechstagewerk zu behaupten, sondern eminent darum, den zeitlosen religiösen Sinn dieses poetischen Textes dem gegenwärtigen religiösen Bewusstsein wieder aufzudecken! Die entscheidende Pointe seiner Ausführungen in der Deutung von Genesis 1 als Schöpfungsmorgen liegt im Anschluss an Hamanns Theologie der Sprache in dem Ineinander von Bild und Wort. Im Medium des Lichts transportiert das Bild das Wort und zugleich legt das Wort das Bild aus: »Mit Einem Machtwort, so kurz, so sanft, ist alle vorige schreckliche Dunkelheit weg! im Angesicht der alten Nacht glänzt Strahl der Gottheit! Wie ahmt der Ausdruck der Sache 165 Herders Hieroglyphenthese hat die Funktion das Ineinander von Bild, Gedanke und Wort zu reflektieren. Vgl. zur Deutung der Hieroglyphe C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte, 145–148; U. Gaier, Herders »Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts« und Goethe, 133–150; G. v. Hofe, Herders ›Hieroglyphen‹-Poetik, 190–209, sowie H. B. Nisbet, Die naturphilosophische Bedeutung von Herders »Aeltester Urunde des Menschengeschlechts«, 210–226. 166 FA 5, 239. 167 Ebd. 168 Und zwar gilt das für Herder in beide Richtungen: »Wie also Moses ohne Physik und Metaphysik, eben so weiß ich nicht, warum sich nicht Physik und Metaphysik ohne Moses behelfen könnte, wenn sie die eigne Blüte des Menschlichen Geschlechts ist«; aaO. 194. 169 Zu Herders Rezeption von Michaelis vgl. C. Bultmann, Herder als Schüler des Philologen Michaelis, 64–80.

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Kapitel III: Humanität und Religion

selbst nach: – Sei Licht! und ’s war Licht! ein aufbrechender Lichtstrahl! als unmittelbar im Anschaun und Gefühl desselben gebildet! – nur gleichsam Zuckung Eines sanften Wortes, wie Bildes. Endlich welche schöne, holde Offenbarung der Gottheit – Vorher ewige Nacht, Abgrund und Schaur: ein webender Sturm! aber der Herr war noch nicht im Sturme – jetzt: Sei Licht! und ’s ward Licht! Glorie! sanfte, holde, herrliche Erscheinung Gottes in der Natur!«170

Anschauung und Gefühl werden von Herder dabei nicht in einen Gegensatz zum Offenbarungsgedanken gebracht, sondern sind die anthropologischen Korrelate zur Offenbarung Gottes in der Natur durch das Licht. Licht ist dabei für Herder mehr als eine Metapher für bloße Visualität. Das Licht steht für die sich selbst zu verstehen gebende Welt- und Selbsterschließung Gottes. Damit knüpft Herder direkt an Hamanns einleitende Formulierungen in der Aesthetica an. Hamann schreibt dort: »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit. Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Eindruck ihres Geschichtsschreibers; – – die erste Erscheinung und der erste Genuß der Natur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! hiemit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an«171.

Und er fährt in Anspielung auf Psalm 19,2–5 fort: »Rede, daß ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist«172 . Die Rede interpretiert Herder als Rede des Lichts. Licht, so Herder, ist die »Erste Sprache Gottes«173. Unter der aufgehenden Morgenröte lehrt Gott den Menschen eine Sprache, die auditives und visuelles vereint: »Lichtsprache! [. . .] Sprache vom Throne Gottes. Sei Licht! und’s war Licht! da steht mit einmal der Tempel der Schöpfung eröffnet: durchs Medium dieser Sprache wölbt sich Himmel und Erde«174 . Über das Auge gibt Gott sich selbst vermittelt über die Kreatur zu verstehen als Ansprache. Der Mensch versteht, weil und insofern er Sprachgeschöpf ist. Die in Herders Spinozarezeption festgestellte geisttheoretische Strukturisomorphie von Gott, Mensch und der übrigen Kreatur findet sich hier also in einer eigentümlichen Verschränkung spinozistischer und hamannesker Theorieelemente unter sprachtheologischer Perspektive vorgebildet. 170 FA 5, 205, H. i. O. Es kann angesichts der Verbindung der Worte Anschauung, Gefühl und Offenbarung wieder nur auf die Nähe zu Schleiermacher hingewiesen werden. 171 N II, 197. 172 AaO. 198. 173 FA 5, 250. 174 AaO. 252

4. Religion und Offenbarung

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Der Mensch ist dabei die exemplarische Kreatur, weil nur in ihr dieser sprachtheologische Zusammenhang sich selbst durchsichtig wird. Was die übrige Kreatur nur ist – Wort aus dem Wort Gottes – wird für den Menschen zur Ansprache, die ihn selbst zum Sprechenden und dem Wort Antwortenden macht. Das schöpferische Wort Gottes ist »Erstes Urbild und Vorbild aller Menschlichen Sprache«175 . In dem ursprünglichen Anschauen der Schöpfung stellt sich dem Menschen ein »Allgefühl Gottes in der Natur«176 ein. Noch in seiner Schrift Vom Geist der ebräischen Poesie von 1787 schreibt er in Anschluss an die Älteste Urkunde: »Aufgang der Morgenröte. Bild der Weltschöpfung in ihr. Frühester Anblick der Natur. Erstes Gefühl des großen Geistes als eines mächtigen Wesens«177. Indem Gott so in der Natur angeschaut wird, offenbart sich die Dialektik der Lichtsprache in einer doppelten Weise. Zum einen in der Dialektik von Außersichsein und Sichinnesein. »Welch Wunder Gottes«, betont Herder, »ein Lichtstrahl! wie er uns so weit außer uns selbst, bis an die Räume und Enden der Schöpfung [. . .] hinauswirft«178 . Durch das Licht geht dem Menschen eine Welt auf. Das Licht des Schöpfungsmorgens führt dem Menschen eine geordnete, gegliederte Schöpfung vor Augen. Die Sprache des sinnlichen Menschen sind diese Bilder, die ihm ins Auge fallen und ihm langsam vorgeführt werden. Die Welt wird ihm in Bildern zur Sprache. Und so ganz aus sich hinausgeworfen wird sich der Mensch selbst inne. Herder setzt das letzte Zitat wie folgt fort: »oder vielmehr, wie er alle Dinge, Bilder, die ganze Gestalt der Schöpfung auf Einmal in unsre Seele sammlet«179. Im Außersichsein des Menschen entdeckt dieser sich selbst als der, in dem sich das Außersichsein darstellt. Im Außersichsein wird der Mensch seiner selbst inne und darin seiner Bestimmung »Gottes Bild zu sein«180 . Diese Bestimmung – oder wir können mit Blick auf das Spätwerk sagen – diese Humanität realisiert sich wesentlich in der Sprache. Der Mensch konnte nur »durch Sprache das Geschöpf Gottes sein [. . .], was er sein sollte«181. Denn erst, wenn jenes Licht als Sprache begriffen wird, realisiert sich die Dialektik von Außersichsein und Sichinnesein vollends als ein bewusstes Selbstverhältnis. Denn auch für das Tier gilt, dass das Licht die Welt aus ihm herauswirft und zugleich in ihm sammelt. Aber erst, wo das aus sich Herausgeworfensein als ein in sich Sammeln verstanden wird, kann die Schöpfung als Ansprache an den Menschen begriffen werden, 175 176 177 178 179 180 181

AaO. 255. Ebd. AaO. 695. AaO. 208. Ebd. AaO. 278. Ebd.

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Kapitel III: Humanität und Religion

der dadurch erst selbst zur Sprache kommt: Der Mensch »mußte den Gott kennen, wie er sich offenbaret! Also die Natur kennen von Himmel zu Erde, von Erde zu Himmel! [. . .] Religion und Naturlehre ward seine erste Sprache«182 – oder wie genauer gesagt werden muss: Religion als Naturlehre. In der Lichtsprache des Schöpfungsmorgens kommt der Mensch zur Sprache und damit zu sich selbst, indem er außer sich ist. Erst die Sprache lässt ihn die Welt zu seiner Welt werden. In diesem Sinne kann Herder von einem »Sprachunterricht Gottes«183 sprechen, aber in, mit und unter der Natur. Es ist ein Sprachunterricht an den Menschen, in dem – wie Herder wiederum in direkter Anspielung auf Hamann sagt – Gott »sich selbst hinab [lässt], ihm zu winken! von Himmel zu Erde, von Erde zu Himmel«184 . Es dürfte deutlich sein, dass Herder damit keinesfalls hinter die Einsichten seiner Preisschrift zurückfällt, sondern allein die Leerstelle in puncto der Letztbegründung ausfüllt.185 Sprachunterricht Gottes meint auch hier keinen supranaturalen Eingriff in die Welt, sondern verdeutlicht vielmehr die metaphysisch186 begründete Isomorphie von göttlichem Wort, worthafter Schöpfung und menschlichem Sprechen: »das Element der Unterweisung war nach allem Betracht in die Schöpfung verfasset! groß, redend, mächtig, ewig, wie das System Himmels und der Erden! So unterrichtet Gott«187. In dieser Isomorphie liegt zugleich eine andere Dialektik der Lichtsprache beschlossen, nämlich die zwischen Sichtbarkeit und Verborgenheit Gottes.188 Mittels dieser Dialektik versucht Herder schon hier – wie er es ebenfalls später in seiner Spinozaschrift unternimmt – Identität wie Differenz in Bezug auf das Gott-Welt-Verhältnis zu denken. In der Lichtsprache gibt Gott sich also vermittelst seiner Schöpfung selbst zu verstehen. In ihr wird er in seiner »Allgegenwart« als der »Allbelebende«189 erlebt. Der ungeteilte Blick des Schöpfungsmorgens erweckt ein »unmittelbares Gefühl der allwürkenden Gottheit«190 . Mit diesen Formulierungen will Herder allerdings keiner differenzlosen Identität von Gott und Welt das Wort reden. Der sich in der Schöp182

AaO. 278 f. AaO. 279. 184 Ebd. 185 Vgl. Kap. I 3.3.3. 186 Dementsprechend können Herders Invektiven gegen die Metaphysik nur als mangelnde Selbstdurchsichtigkeit begriffen werden. R. Smend, FA 5, 1366, weist zu Recht darauf hin, dass die Hieroglyphenthese – mittels derer Herder den Hiatus zwischen natürlicher und offenbarter Religion zu überwinden trachtet – selbst metaphysischen Charakter hat. 187 FA 5, 266. 188 Vgl. zu dieser Denkfigur bei Hamann die Ausführungen von H. Graubner, »Origines«. Zur Deutung des Sündenfalls in Hamanns Kritik an Herder, 114–117. 189 FA 5, 206. 190 AaO. 207. 183

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fung offenbarende Gott ist zugleich unter seinem Wort verborgen. Wie der Körper der Ausdruck der Seele ist, so ist die Natur unter der Morgenröte der Ausdruck Gottes – er wird nur »in der Verhüllung offenbar«191. Dem sprachsinnlichen Wesen Mensch kann Gott sich nur in solcher sprachsinnlichen Weise akkomodieren, in der er sich in der Natur zugleich offenbart und verbirgt. Gott spricht und es geschieht. Das Wort ist Gottes Wort und gibt ihn als solchen zu erkennen und zugleich ist er von seinem Wort unterschieden und insofern hinter diesem verborgen. Dieser Dialektik wird sich der Mensch als das göttliche Sprachgeschöpf schließlich auch bei sich selbst inne. Im aufrechten Gang zur Sprache gebildet offenbart sich im menschlichen Antlitz »wie in einem Zauberspiegel, die gegenwärtige aber verborgne Gottheit [. . .]! die Gottheit in eine grobe Erdgestalt verschattet«192 . Durch die ganze Schöpfung, in jedem einzelnen Geschöpf von dem kleinsten Staubkorn bis zur Krone der Schöpfung, dem Menschen, ist der Schöpfer in seinem Wort verborgen offenbar: »Nichts in der Schöpfung eine Monas und in gewissem Betracht Alles eine Monas: die Einheit und Mannigfaltigkeit schlingt und verwirret sich, vom kleinsten Einzelnen bis an der Welt Ende«193. Religion ist deshalb für Herder die »höchste Humanität«194 , wie er in den Ideen zur Philosophie der Geschichte formuliert, weil sie genau den hier sprachtheologisch beschriebenen Zusammenhang von Natur und Offenbarung durchsichtig macht und darin zugleich den Grund aller Kultur bildet. Natur und Offenbarung sind für Herder keine Gegensätze, sondern Natur wird von ihm von vornherein unter ihrer offenbarungstheologischen Valenz betrachtet. Daraus folgt konsequent, dass Herder das Konzept einer natürlichen Religion offenbarungstheologisch aufhebt. Die Wahrheit der natürlichen Religion, nämlich die Vorstellung vom »überall allein [. . .] unsichtbaren, durchfließenden, väterlich würkenden Gott«, den »Deismus, Naturalismus und Pantheismus mit lauter Mißbräuchen und Wortspielen glaubt erfunden zu haben«, wird hier »gegen sie selbst, in wie andern Verstande«195 neu begründet, indem sie auf ihren offenbarungstheologischen Grund hin durchsichtig gemacht wird. Die Theologie der Sprache, die Herder seinem Freund Hamann abgelauscht hat, gibt ihm dazu das Werkzeug an die Hand. Wie ich für Herders Spinozarezeption gezeigt habe, dass Herder Schöpfung als Geist aus Gottes Geist denkt, so lässt sich hier sagen, dass Herder die Schöpfung als 191

AaO. 295. AaO. 231. 193 AaO. 296. H. i. O. 194 FA 6, 160. C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte, 173–176, zeigt auf, dass Herder noch in der Weimarer Zeit seinen in der Ältesten Urkunde gewonnen sachlichen Einsichten treu bleibt, wenn auch der Stil deutlich moderater geworden ist. 195 FA 5, 289. 192

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Kapitel III: Humanität und Religion

Wort aus Gottes Wort denkt. Dem Menschen als dem geist- und worthaften Wesen geht diese Verfasstheit der Wirklichkeit auf. Die Schöpfung existiert in Gottes Wort bzw. in seinem Geist. Inbegriff der Stimme Gottes in der Natur ist der Mensch, der »Herrschergedanke der Schöpfung«196 . Wort aus Gottes Wort und Geist aus Gottes Geist. Diese Strukturisomorphie, der große »Zusammenhang aller Dinge, [das] Wesen der Wesen«197, wird von Herder jeweils offenbarungstheologisch gedeutet. Offenbarung ist schon in Bückeburg für Herder kein supranaturaler Eingriff Gottes in den Weltzusammenhang, sondern das Aufgehen der Transzendenz in der Immanenz. Die poetische Schilderung des Schöpfungsmorgens spiegelt eine solche existentielle Urerfahrung von Totalität wider, in der Gott in seinem Wort der Welt präsent ist und zugleich opak bleibt, insofern er mit ihr auch nicht differenzlos in eins fällt. Gottes Lehrmeisterstimme kommt also nicht in dem Sinne ›hinzu‹, dass sie ab extra erklingt, sondern in, mit und unter der Kreatur ertönt: »Gott war sein Wort, und dies allmächtige Wort teilte sich nachher der ganzen Natur mit, zu ihm [sc. dem Menschen] zu sprechen, zurück zu schallen in ihm. [. . .] So sprach Alles Gott nach, und weckte Menschensprache durch ergossenes Mitgefühl«.198 Das Eigentümliche dieser Schrift liegt in der Verschränkung spinozanischer und hamannesker Motive. Unverkennbar ist bereits hier der monistische Grundzug in Herders Denken.199 In der Theologie der Sprache verschränkt Herder seine Lehre vom Sprachwesen Mensch mit seiner Metaphysik.

196 197 198 199

sen.

AaO. 243. FA 6, 162. FA 5, 519 f. Darauf hat G. Arnold, Das Schaffhauser Urmanuskript, 63, zu Recht hingewie-

Kapitel IV

Humanität und Christologie »Der Poet am Anfange der Tage ist derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage« J. G. Hamann

1. Hamartiologische Aspekte Herder wird Hamann seine Älteste Urkunde in dem Bewusstsein zugeschickt haben, damit die Differenzen ausgeräumt zu haben, die die Debatte um die Sprachursprungsschrift zwischen ihnen erzeugt hatte. Ihm gelingt es in der Interpretation von Genesis 1, eine Anthropologie auf der intellektuellen Höhe der Zeit zu formulieren, die er zugleich auf ihren offenbarungstheologischen Grund hin durchsichtig macht. Der in dieser Konzeption gefunden strukturellen Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch als einer Transzendenz in der Immanenz bleibt er bis in sein Spätwerk treu, auch wenn er sie auf dem Grund verschiedener gedanklicher Modelle durchführt. Was er hier in Anschluss an Hamanns Theologie der Sprache konzipiert, denkt er später an Spinozas Substanzbegriff durch, der ihn auf die Spur zu einer Theologie des Geistes führt. Die Stärke des sprachtheologischen Offenbarungsbegriffs liegt sonach darin, dass Herder mit ihm die sprachphilosophischen Einsichten seiner Anthropologie der Preisschrift unter theologischer Perspektive noch einmal eigens zuspitzen kann, ohne dabei auf den von ihm kritisch widerlegten Standpunkt eines sog. höheren Ursprungs der Sprache zurückzufallen.1 In der Sprache als dem sich selbst zu verstehen gebenden Medium des Geistes kommt Gott zu dem Menschen, der erst so wiederum zu sich selbst kommen kann. Gottes Ansprache des sprachsinnlichen Menschen unter der Natur ist es, die den Menschen sprechen lässt. Systematisch vollends durchreflektiert wird dieser Standpunkt von Herder unter geisttheoretischer Perspektive dann erst im Rekurs auf Spinozas Ethica. Es scheint zunächst tatsächlich so, als sei Hamann mit seinem jüngeren Freund diesmal zufrieden. Hamann hatte nämlich den ersten Band der Ältesten Urkunde sofort zur Durchsicht an Kant weiter geleitet. Dieser zeigt sich 1

Vgl. FA 1, 806–810.

204

Kapitel IV: Humanität und Christologie

in zwei Briefen an Hamann abständig und betont, dass er »armer Erdensohn« »zu der Göttersprache der Anschauenden Vernunft garnicht organisirt«2 sei. Kants Beurteilung macht insgesamt deutlich, dass er Herders Neubestimmung des Offenbarungsbegriffs nicht einmal bemerkt, ihn vielmehr auf traditionellen Pfaden einer Offenbarung durch göttlichen Unterricht wandeln sieht, also genau auf der Position, die Herder in seiner Sprachursprungsschrift verworfen hatte.3 Hamann verteidigt Herder gegen Kant in zwei Briefen, die er in leicht überarbeiteter Form dem allgemeinen Publikum unter dem Titel Christiani Zacchaei Telonarchae ∏ρολεγομενα über die neueste Auslegung der ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts. In zweyen Antwortschreiben an Apollonium Philosophum 4 von 1774 zugänglich macht. Scheint in diesem öffentlichen Eintreten Hamanns für Herders über Königsberg hinaus sehr umstrittene Schrift5 eine klare Parteinahme für Herder zu liegen, so wäre es doch verfehlt, wenn man darin eine restlose Zustimmung Hamanns sehen wollte. In seinem Brief vom 2. April 1774 schreibt Hamann an Herder nach Erhalt des ersten Bandes: »Unser Freund Hartknoch hat mir eine große Freude mit Ihrem Commentar über die älteste Urkunde des Menschengeschlechts gemacht, die ich gestern Abend und Nacht durchgelaufen«. Wird Herder bis hierhin noch mit ungeteilter Zustimmung gerechnet haben, so ändert sich das Bild mit dem folgenden Satz: »Ueberbringer Dieses wird der beste Kommentar aller meiner Empfindungen sein; die gleich jenes evangelischen Beseßenen seien so einander entgegengesetzt gewesen als Feuer und Wasser [. . .]. Ich habe das Monstrum horrendum heute sogleich dem judici competenti alles Schönen und Erhabenen in die Hände gegeben, damit er es zergliedern soll. [. . .] Die Herren Polonii unsers Jahrhunderts, die nichts als philosophische und politische Giguen lieben, werden vielleicht sagen, daß Herder den alten Hamann aushamannisirt habe. Wir beyde verstehen aber das Ding beßer« 6 .

Hamann begrüßt es jetzt zwar, dass Herder deutlicher als in seiner Preisschrift die offenbarungstheologische Valenz der Sprache herauspräpariert habe7, aber ›aushamannisirt‹ fühlt sich der ›alte Hamann‹ noch nicht. Die bleibende Differenz gegenüber Herder ist in der hamartiologischen Fragestellung 2 ZH III, 82. Vgl. den Briefwechsel zwischen Hamann und Kant, ZH III, Nr. 402Nr. 406. 3 Vgl. E. Büchsel, Johann Georg Hamann. Über den Ursprung der Sprache, 76. 4 N III, 123–133. 5 Zur zeitgenössischen Resonanz der Ältesten Urkunde vgl. G. Sauder, Zur Rezeption von Herders Schrift »Älteste Urkunde des Menschengeschlechts«, 268–291; R. Smend, FA 5, 1371–1379, sowie C. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung, 170–173. 6 ZH III, 74. 7 Schon in seinem Brief vom 23. Mai 1768 hatte Hamann an Herder geschrieben: »Denn zu einer Geschichte der Schöpfung gehört unstreitig Offenbarung«; ZH II, 416.

1. Hamartiologische Aspekte

205

zu suchen. Auch jetzt wird Hamann seinen »hieroglyphischen Adam«8 von Herder nicht ausbuchstabiert sehen. Diese Differenz in der Einschätzung des Sündenfalls ist für Herders Humanitätsbegriff wie für seine Christologie von grundlegender Bedeutung. Es dürfte deutlich sein, dass eine Anthropologie sehr verschiedene Richtungen einschlagen muss, je nachdem, ob und wie in ihr das Thema ›Sünde‹ verortet wird. Das wiederum hat einen direkten Einfluss auf die christologische Konzeption.9 Es wurde schon angedeutet, dass Herder bereits in seiner Rezension von Hamanns Aesthetica in nuce keinen Sinn für Hamanns Theologie der Sünde erkennen lässt. Seine Aufforderung an Hamann, warum dieser denn nicht der »Virtuose [sei], um den Gott im Menschen zu singen, und unsre Natur zu verewigen«10 , denkt von der Ebenbildlichkeit Gottes her, aber ohne den für Hamann konstitutiv mit zu denkenden ›Fall‹. Ebenbildlichkeit oder – wie Hamann in Anspielung auf Apostelgeschichte 17,27 ff. sagen kann – unser »Antheil an der Göttlichen Natur«11 kann für Hamann nicht thematisch werden, wenn nicht zugleich die grundsätzliche Korrumpiertheit des Menschen mit thematisiert wird. »Für Hamann stehen [. . .] Schöpfung und Sündenfall am Anfang als Grundgegebenheiten«12 . Die hiermit bezeichnete grundlegende Differenz der beiden Freunde wird erstmals in einem Briefwechsel von 1768 explizit, der sich auf ihre Gespräche in Mitau von 1765 und 1766 bezieht. Die von Herder und Hamann offenbar gemeinsam diskutierte Frage lautete: »wie wurden wir aus einem Geschöpf Gottes, das, was wir jetzt sind, ein Geschöpf der Menschen?«13 Herder geht in seiner Antwort auf diese Frage nicht an dem Übel der Welt vorbei, aber es ist ihm doch nicht das Wesentliche. Entscheidend ist für ihn vielmehr das »schönste Bild«, dass »die Quelle unsres Uebels Klugheit seyn sollte«14 . Das Verlangen, vom Baum der Erkenntnis essen zu wollen, ist für Herder nichts anderes als ein Bild für das Verlangen nach Klugheit. Den Gedanken von der Sprachursprungsschrift über die Instinktreduktion vorbereitend formuliert Herder, dass »der Mensch ein müßiges Geschöpf vor allen ist, die durch einen Instinkt zu einer Sache gezogen werden; daß er, der auf eine schwächere Art alle diese Triebe in sich fühlte, also das 8 Vgl. N II, 200 sowie Herders Bezug darauf in seiner Dithyrambischen Rhapsodie (FA 1, 34). 9 Vgl. zum Folgenden C. Axt-Piscalar, Art. Sünde VII, 400–436, sowie besonders zum Konflikt zwischen Hamann und Herder H. Graubner, »Origines«. Zur Deutung des Sündenfalls in Hamanns Kritik an Herder, 108–132. 10 FA 1, 34. 11 N II, 207. 12 S.-A. Jørgensen, J. G. Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, 183, H. i. O. 13 DA I 4311–13. 14 AaO. 4361.

206

Kapitel IV: Humanität und Christologie

nachahmende Thier des Aristoteles leicht werden konnte«15 . In der Freiheit von der Instinktgebundenheit ist die Unterscheidung von Gut und Böse schöpfungstheologisch angelegt. Dem Menschen muss durch seine Sprachnatur eine Welt werden. In Anklang an das aufklärungstheologische Konzept einer felix culpa kommt Herder zu seiner prononcierten Deutung des Essens vom Baum der Erkenntnis: »Es ist das Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, Erkenntnisse zu sammeln, fremde Früchte zu genießen, andern Geschöpfen nachzuahmen, die Vernunft zu erhöhen, und selbst eine Sammelplatz aller Instinkte, aller Fähigkeiten, aller Genußarten seyn zu wollen, zu seyn wie Gott (nicht mehr ein Thier) u. zu wißen«16 .

Herder vertritt hier mit anderen Worten die Auffassung, dass der Mensch erst das Ebenbild Gottes, was er ist, werden kann, wenn er seine paradiesische Gartenexistenz verlässt. Erst die Erkenntnis der »Mängel der geschwächten Menschheit« lässt die Menschheit ihre Bestimmung erkennen, wonach sie eben »nicht zum zottichten Bär [. . .] bestimmt«17 war. Das gehört für Herder zu den ›Erfolgen‹, die das besagte Risiko gezeitigt haben. Die Erkenntnis der ›Nacktheit‹ ist in Herders späterer Terminologie gesprochen nichts anderes als seine These vom Mängelwesen. Es ist diese Nacktheit, die den Menschen erst sein Humanum entfalten und im eigentlichen Sinne Mensch werden lässt. Diesen Gedanken verfolgt Herder im vierten Teil der Ältesten Urkunde weiter. Deutlicher als in dem Brief klingt die zeitlose allgemeinmenschliche Gültigkeit der Paradies- wie Fallgeschichte an: »Im Paradiese schlägt keine Zeit. [. . .] Paradies ward ein schöner Traum. Aber ein Traum der Wahrheit: Er lebt noch in unsern Herzen; er ficht aber mit der andern Sage, mit Dornen und Disteln des Fluchs, die früh gnug und aus Natur darauf wachsen«.18 Herders Deutung von Genesis 2 und 3 will also nicht bloß Exegese sein, sondern die zeitlose anthropologische Wahrheit dieser Erzählung erheben. In ihr wird die anthropologische Erfahrung einander widerstrebender Kräfte thematisch. Entscheidend an seiner Deutung ist, dass er den sich aus dem Kräfteantagonismus ergebenden Prozess insgesamt in einem positiven Lichte sieht. So betont Herder, nachdem er ausgiebig die negativen Folgen des Falls beschrieben hat, »daß also der folgende Zustand nicht Unter- sondern Über- und Fortgang des Menschengeschlechts im Plane Gottes gewesen«19. Der Fall ist in dieser 15 16 17 18 19

145.

AaO. 4353–56. H. i. O. AaO. 4372–76 , H. i. O. AaO. 4394–101. FA 5, 546. Tillichs Formulierung von der ›träumenden Unschuld‹ klingt an. AaO. 604; H. i. O. Vgl. U. Gaier, Herders »Aelteste Urkunde« und Goethe, 142–

1. Hamartiologische Aspekte

207

Deutung nicht die große Störung, sondern Moment auf dem Weg zur Bestimmung des Menschen. Der Mensch musste den Garten verlassen, um der zu werden, der er sein soll: »Das Feld sollte gebauet, die ganze Erde sollte bewohnt werden [. . .], und herrlicher Schritt der Entwicklung, aus eigner Veranlassung, durch eigne Schuld des Menschen!«20 Fast wird man an Hegels ›List der Vernunft‹ erinnert. Sprach Herder in dem Brief an Hamann noch vom Risiko, das der Mensch auf sich nahm, so wird hier der Fall nun explizit schöpfungstheologisch geordnet gesehen als ein Moment im Heilsplan Gottes: »Gott [. . .] hatte die Sünde Adams nicht nur vorausgesehen, nicht bloß leibliches Gute aus ihr zu bringen gewußt, sondern – Dank dem barmherzigen freien Vater – in ihr und nicht in Adams Erdheiligkeit und Selbsttugend das höhere, geistige, ewige Wohl des ganzen Geschlechts ersehen und verordnet«21.

Wir werden sehen, dass dieses höhere Leben im Rekurs auf die Adam-Christus-Typologie aus Röm 7 und 1. Kor 15 von Herder christologisch ausgedeutet wird. An dieser Stelle reicht es darauf hinzuweisen, dass die Sünde demnach für Herder nicht als der große Riss durch die Schöpfung zu betrachten ist, sondern als Moment des Schöpfungsplanes selbst. Negativität bleibt auf das Gesamttelos der Menschheitsgeschichte positiv hingeordnet. Wie später in seiner Spinozaschrift folgt dies bereits hier aus Herders Gottesbegriff. Ist Gott die alles bestimmende Wirklichkeit, so kann auch die Negativität nicht in einen schlechthin widergöttlichen Sinn treten. Der Mensch als das zweieinige Wesen aus Erde und Odem Gottes muss diese in seiner Natur angelegte Ambivalenz durchleben, um der Mensch zu werden, der er sein soll. Adam ist damit das Sinnbild eines jeden Menschen: »Unsre Teilnehmung an der Bildung Adams, erkläret und fodert sie nicht zugleich Teilnehmung an seiner Natur und Sünde? Einverleibt ist der erste Segen ›seid fruchtbar und mehret euch!‹ der ganzen lebenden Schöpfung, und der Mensch ist auch hier Haupt und Ebenbild Gottes, daß er das Kleinod, den lebenden Gottesothem, als seine Kraft, im Schatze seiner Natur trägt. Wie weit das Auge unsrer Beobachtung reicht, spricht sie: Vater ists, der die Muttererde beseelet, und die Mutter bildet ihm Glieder. Ists also Ungereimtheit, ihr Weisen, wenn wir das Bild dieses Vaters, dieser Mutter, und also Erbsünde an uns tragen?«22

In einem rasanten Gedankengang bindet Herder hier den Gedanken der Ebenbildlichkeit Gottes mit dem der Erbsünde zusammen. Im ersten Segen 20

FA 5, 605; H. i. O. AaO. 608 f. 22 AaO. 507.; Hervorhebung C. C. Insofern leuchtet es nicht ein, wenn T. Namowicz, Anthropologie und Geschichtsphilosophie, 259, der Auffassung ist, dass Herder »letzten Endes in den traditionellen Dualismus von Gut und Böse« zurück fällt. Das Gegenteil ist der Fall. 21

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Kapitel IV: Humanität und Christologie

ist es demnach angelegt, dass der Mensch – mit Gottes Geist beseelt – mit sich und Gott in Zwietracht geraten muss. In dieser steilen Deutung des Ineinanders von Gottebenbildlichkeit und Erbsünde klingt am ehesten das Motiv des ›hieroglyphischen Adams‹ an, aber in einer anderen Färbung als bei Hamann. Während Hamann das ganze Gewicht auf die Korrumpiertheit des Geschöpfes legt, schwingt bei Herder ein proteushafter Ton mit, wenn er angesichts des Falls in Anspielung auf das Exsultet der römischen Ostervigil ausrufen kann: »Glückselige Schuld, der solch ein Heiland ward«23 . Das Motiv der felix culpa wird von Herder also nicht in dem bloßen Sinne eines Herausgehens aus der Unmündigkeit aufgerufen, sondern in dem Sinne einer Befreiung zu einem höheren, die bloß fleischliche Existenz übersteigenden Leben. In Herders Denken dient der Fall Adams der Apotheose des Menschen zu seiner wahren Bestimmung, in der er aber – und darin unterscheidet sich Herder vom klassischen Proteusmotiv – auf die Erziehung und Bildung durch Tradition und Lehre bezogen bleibt. Hierin unterscheidet sich Herder auch von dem aufklärerischen Konzept der felix culpa. Der Mensch konstituiert sich nach Herder nicht als ein schlechthin freies Wesen, sondern bleibt auch im Ausgang aus seiner Unmündigkeit auf Anderes und darin letztlich auf Gott bezogen. Dem hier angeschlagenen Ton bleibt Herder bis in sein Spätwerk treu. In der Folge besteht seine Arbeit darin, den aus der Interpretation von Genesis 3 gewonnenen Sündenbegriff mit seiner Rezeption der naturphilosophischen wie anthropologischen Traditionen in ein Einvernehmen zu setzen. Eine erste entscheidende Station, die schon die spätere Entfaltung in den Ideen zur Philosophie der Geschichte sowie in Gott. Einige Gespräche erahnen lässt, ist Herders kleine Schrift von 1777, die mit dem Titel Über die dem Menschen angeborene Lüge überschrieben wurde. Sie wurde zu Recht als »ältestes Systemprogramm«24 Herders tituliert. Herder setzt sich in ihr mit einer nicht mehr erhaltenen Vorstufe von Carl von Dahlbergs Betrachtungen über das Universum auseinander. In diesem Zusammenhang deutet sich erstmals Herders Theorie der wirksamen Kräfte an. Er unterscheidet zwei einander entgegengesetzte Kräfte im Menschen, die des Stolzes und die der Demut. Entscheidend ist hier für Herder zweierlei: zum einen betont er, dass diese gegeneinander wirkenden Kräfte keinesfalls nur Ausdruck des humanen Lebens sind, sondern vielmehr der gesamten Schöpfung inhärieren. Damit bereitet er sachlich den in der Spinozaschrift ausformulierten Gedanken der geisttheoretischen Isomorphie von Gott, Welt und Mensch vor. Zum anderen und damit zusammenhängend liegt darin die These, dass genau »in dieser Divergenz und 23 24

FA 5, 613. H. Timm, Gott und die Freiheit, 285. Vgl. auch M. Bollacher, FA 4, 1156–1161.

1. Hamartiologische Aspekte

209

Kontrarietät zweier Kräfte der Menschheit, vielleicht eben ihr Zeck, ihre jetzige höhere Bestimmung«25 liegt. Das ewige »Geben und Nehmen, Anziehen und Zurückstoßen, Insichverschlingen und Aufopfern«26 ist die Weise, in der der Mensch leben muss, um zum höheren Leben zu gelangen: »nur also aus der überwundnen Divergenz beider Kräfte entspringt höhere Kraft, Seligkeit, Christentum, Gottes-Leben«27. Nur durch das »lex contrariorum«28 hindurch kann der Mensch also Seligkeit erlangen. Alles andere würde an der conditio humana vorbeigehen. Tod, Übel, Negativität werden unter dieser Perspektive dem Schöpfungsplan Gottes subsumiert. Kein Leben ist denkbar, das nicht dem Tod entspringen würde und dem selbst Tod anhaftet, aber aus diesem Tod arbeitet sich höheres Leben hervor, so wie es das »Gesetz des Christentums«, das durch die ganze Schöpfung verbreitet ist, zeigt: »Vernichtung sein selbst zu einem höhern Sein, Tod zum höhern Leben«29. Wieder gelangt Herder zu einer Aussage, die frappierend direkt den Bogen spannt zwischen dem Fall auf der einen Seite und der Ewigkeitshoffnung auf der anderen Seite: »Eben die Kontrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unsrer Natur, der Baum, der Erkenntnis Guts und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt«30 . Damit wird die Kontrarietät, genauer die aus ihr entspringende Dynamik, gleichermaßen auf den Gedanken der Sünde wie den der Gottebenbildlichkeit bezogen. Der Mensch ist gerade darin Gottes Ebenbild, dass er sich durch Entzweiung und Gegensatz zum höheren Leben durcharbeitet und zugleich ist er darin Sünder, dass er in Entzweiung und Gegensatz bleibend lebt. Der Mensch ist nach Herder in seiner schöpfungsgemäßen conditio humana wesentlich durch diese Polarität geprägt. Auch sein kirchenleitendes Amt als Generalsuperintendent des Herzogtums Sachsen-Weimar, das er seit 1776 innehatte, macht Herder nicht konservativer. 1780/81 veröffentlicht Herder seine Briefe, das Studium der Theologie betreffend, die sich dezidiert an Theologiestudierende richten. An Hamann schreibt Herder am 9. September 1780, das Werk sei »für junge Leute, Kandidaten pp geschrieben, die hier u. an vielen Orten schrecklich in der Wüste sind«31. Während er im Stil in seinen Briefen etwa gegenüber der Ältesten Urkunde und seiner Johannesinterpretation Μαραν αθα Das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel deutlich gefälliger und ›ortho25 26 27 28 29 30 31

FA 4, 398. AaO. 399. AaO. 402. AaO. 403. AaO. 401. AaO. 403. DA IV 12412.

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Kapitel IV: Humanität und Christologie

doxer‹32 wird, schließt er sachlich nahtlos an das Ausgeführte an. Im zweiten Brief greift Herder auf die Ergebnisse seiner Untersuchung zum Sündenfall nach Genesis 3 zurück, die er in der Ältesten Urkunde gewonnen hat. Auf nur neun Seiten bietet er hier leserfreundlich den Extrakt des vierten Teils der Ältesten Urkunde.33 Im Rahmen des dritten Teils der Briefe, das Studium der Theologie betreffend, der dem Studium der Dogmatik und Religionsphilosophie gewidmet ist, kommt er im 33. Brief noch einmal unter systematischtheologischer Perspektive auf den Sündenfall zu sprechen. Herder entwirft keine detaillierte Sündenlehre. Ihm geht es nur darum, dem Anfänger der Theologie ein paar Schneisen zu schlagen, ihm »einige gutgemeinte Winke zu geben«34 , die zum Selbstdenken anregen sollen. Besonders warnt er vor Allegorisierungen und überzogenen Hypothesen in Bezug auf die Paradies- wie Fallgeschichte. Gegenüber dem bisher über den Urstand der ersten Eltern Ausgesagten hinaus gibt Herder hier einen ›Wink‹, wie man sich den »Stand der ersten Unschuld« vorzustellen habe: nämlich als »Integrität aller Neigungen und Kräfte«35 . Bezieht man diesen Hinweis auf die Debatte mit Dahlberg zurück, dann wird man im status integritatis die dort angesprochene Kontrarietät der Kräfte um das Moment der Diversität reduziert zu einem harmonischen Ganzen sich auslegend verstehen. Der lapsus wäre dann zu begreifen als die Unterordnung der höheren Kräfte, die dem Gesetz Gottes folgen, unter die niederen Kräfte menschlicher Selbstbehauptung. Für die Beschäftigung mit dem Übergang in den status corruptionis empfiehlt Herder, sich an die Erzählung von Genesis 3 zu halten und unnötige Spekulationen zu vermeiden. Als Geschichte trägt sie die Geschichte eines jeden Mensch in sich: »Adams Fall [. . .] ist Geschichte, aber unser aller Geschichte. Wie Er fehlte, fehlen wir: die Jugend des Menschengeschlechts ist unser aller Jugend«36 . Klarer als bisher kommt Herder zu einer Würdigung des Sündengedankens aus der Selbsterfahrung humaner Existenz. Die erlebte Kontrarietät der einander widerstrebenden Kräfte des Menschen lässt es bei einer einigermaßen unverbildeten Selbstbeobachtung unmöglich erscheinen, 32

Zur Frage von Herders ›Orthodoxie‹ vgl. R. Smend, Herder und Göttingen, 108–

134. 33 Vgl. FA 9/1, 150–159. Diese die Briefe insgesamt auszeichnende Leserfreundlichkeit wird nicht unmaßgeblich zu ihrer positiven Resonanz beigetragen haben. Zur Rezeption der Schrift vgl. C. Bultmann, FA 9/1, 987–998. 34 AaO. 444. 35 Ebd. Insofern kann man nicht sagen, wie W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 44, dass Herder gar nicht mehr von einem »vollkommenen Urzustand des Menschen« spreche. Pannenbergs Konzentration auf den Aspekt der »werdenden Gottebenbildlichkeit« (aaO. 47) ist für Herders Intention gleichwohl eine treffende Charakteristik. 36 FA 9/1, 445.

1. Hamartiologische Aspekte

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dass ein Mensch von sich denke, »daß Er der primigene Adam, der natürliche, noch unangetastete Keim aller menschlichen Kräfte und Tugenden, kurz das vollkommene Exemplar der menschlichen Natur sei«37. Aus dieser Perspektive müsste man eine »natürliche Sündhaftigkeit des Menschen« annehmen, »wenn die Bibel auch nichts davon sagte«38 . Dieser Aspekt ist nochmals für die Hermeneutik der Bibel für Herder zu beachten. Nicht weil der Fall Adams in der Bibel steht, ist er wahr, sondern er ist wahr, weil er sich der Selbstbeobachtung erschließt. Die zeitlose Wahrheit Adams ist die erfahrbare Wahrheit eines jeden Menschen. Wie schon in seiner 1777er Schrift Über die dem Menschen angeborene Lüge verschränkt Herder hier den Gedanken des göttlich geordneten Falls mit dem der imago Dei. Gott hatte, so Herder, die Schuld des Adams »vorhergesehen und in den Plan seiner höhern Barmherzigkeit und Menschenordnung eingeschlossen«39. Mit dem Fall geht aber für Herder im Unterschied zu Luther nicht der Gedanke des gänzlichen Verlusts der Gottebenbildlichkeit einher. Sünde bezeichnet vielmehr die »Schwachheiten, Mängel und Krankheiten unsres Geschlechts«40 . Der Mensch bleibt – wie Herder in sachlichem Anschluss an die Moral-sense-Philosophie sagen kann – »eine volle Knopse von guten und bösen Anlagen und Qualitäten«41, aber eben keinesfalls nur böser Anlagen. Im Bild der Knospe ist der Entwicklungsgedanke angelegt und zwar in Sinne einer Entfaltung, die sich nur im Durchgang durch die gegeneinander wirkenden Kräfte vollziehen kann. Will man im Bild bleiben, so steht am Ende der Entwicklung eine Blüte. So ist der Mensch nach Herder durch eine lebensontologische Kontrarietätsstruktur bestimmt, der das Ziel eines höheren Lebens gesetzt ist. Dem zukünftigen und dem bestallten Prediger rät er: »Weisen Sie also Ihre Menschen an, den Engel im Menschen nicht vorauszusetzen, sondern auszubilden, das in ihm liegende Gold nicht Schlackenlos anzunehmen [. . .]; sondern es zu reinigen, zu läutern«42 . Das hier anklingende Bildungskonzept macht zugleich die Grenze des Bildes von der Knospe deutlich. Während die Knospe ihr Programm zur Blüte naturhaft entfaltet, wird der Mensch sich selbst zur Aufgabe. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit nimmt Herder im fünften Buch das Bild von der Knospe wieder auf, um die zu erringende Humanität ihrerseits als »Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blu-

37 38 39 40 41 42

Ebd. Ebd. Ebd. AaO. 446 AaO. 445 f. AaO. 447; H. i. O.

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Kapitel IV: Humanität und Christologie

me«43 zu begreifen. Das fünfte wie fünfzehnte Buch der Ideen ziehen zusammen mit Gott. Einige Gespräche für Herder die systematische Summe aus diesen Überlegungen. Der Sündenbegriff spielt in beiden Schriften explizit keine Rolle, aber die Bestimmungen des Menschen etwa als des einzigen Lebewesens, das »allein [. . .] im Widerspruch mit sich und mit der Erde« ist oder der Hinweis auf die »Duplizität seines Wesens«44 nehmen die Aspekte auf, die er in den früheren Texten unter sündentheologischer Perspektive aufgerufen hatte. Aus dieser Perspektive ist Herders gesamte Theorie der wirksamen Kräfte von hamartiologischer Valenz, insofern er in ihr die Erfahrung von Negativität und Entfremdung thematisch werden lässt. Dabei wird aber zugleich deutlich, wie sehr sich Herder von einem starken Sündenbegriff Augustinischer Provenienz distanziert. In der vierten Sammlung der Christlichen Schriften von 1798 mit dem Titel Vom Geist des Christentums bedauert Herder die Repristination der Vorstellung einer wesentlichen Korrumpiertheit des Menschen durch den Sündenfall im Protestantismus: »Entbehrlicher Weise kam der Augustinismus auch ins Lutherthum hinüber: denn gewiß war der Streit, der zwischen Luther und Erasmus über den freien Willen des Menschen entstand, dem Christenthum sehr entbehrlich. Nach dem Tode des großen Mannes wurden nicht nur seine treuesten Gehülfen, mit ihnen andre gelehrte und verdiente Männer als Synergisten gekränkt, beschimpft, verfolgt und verläumdet; sondern der Mensch sollte fortan in der sogenannten Bekehrung durchaus ein Stock und Block bleiben«45 .

Herders Anspielung auf den synergistischen Streit46 macht nochmals deutlich, dass unter der Perspektive einer Erziehung des Menschengeschlechts die Vorstellung einer schlechthinnigen Passivität nicht gangbar ist, so dass er an diesem Punkt sogar einen Vorteil auf Seiten des Katholizismus sieht. Mit Blick auf das ›Decretum de iustificatione‹ der sechsten Sitzung des Tridentinischen Konzils von 1547 47 formuliert er: »Stöcke und Blöcke fand man auf dem Wege der Seligkeit dergestalt unentbehrlich, daß das verschlagene Tridentinische Concilium selbst sich des menschlichen Verstandes anzunehmen gut fand, und einen feinen Semi-Pelagianismus decretirte«48 . Vor diesem Hintergrund werden die letzten expliziten Äußerungen Herders zum Sündentheorem verständlich. Sie beziehen sich auf Kants Lehre vom

43 44 45 46 47 48

FA 6, 187. AaO. 194. SWS 10, 69. Vgl. hierzu B. Lohse, Dogma und Bekenntnis in der Reformation, 121–125. Vgl. das Dekret bei H. Denziger, Enchiridon Symbolorum, 1520–1583. SWS 10, 69.

1. Hamartiologische Aspekte

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radikalen Bösen.49 Kant hatte 1793 in erster Auflage seine Religionsphilosophie unter dem Titel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft veröffentlicht. In ihr entfaltet Kant seinen Sündenbegriff im ersten Teil der Religionsschrift unter dem Titel »Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur«50 . Dazu rekurriert Kant auf seine Maximenlehre. Gut ist demnach eine Handlung, sofern sie auf einer guten Maxime beruht. Gut ist die Maxime dann, wenn sie dem Faktum des Sittengesetzes folgt. Daraus folgt, dass nur eine schlechte Handlung das Indiz einer bösen Maxime sein muss. Da alle Maximen der Urmaxime folgen, muss einer schlechten Handlung zugleich eine böse Urmaxime zugrunde liegen. In einem Ineinander von empirischer und apriorischer Argumentation kommt Kant zu der These, dass die gesamte menschliche Natur durch eine böse Urmaxime korrumpiert sein muss. Da ein Wechsel der bösen Urmaxime zur guten Urmaxime für den Menschen von sich aus nicht möglich ist, da dies die erst zu erlangende positive Urmaxime zur Voraussetzung habe, kann dieser Wechsel nur ab extra erfolgen, was von Kant christologisch gedeutet wird. Wie umgekehrt die urständlich gute Urmaxime das Böse hat wählen können, bleibt in dieser Deutung die unmögliche Möglichkeit, die nur noch als Gegebenes statuiert, nicht aber weiter abgeleitet werden kann. Daraus folgt, dass es für Kant keine »moralischen Mitteldinge«51 geben kann. Entweder ist eine Handlung moralisch gut oder moralisch böse. Entscheidend ist letztendlich allein die Urmaxime. In dieser Logik muss dann selbst eine Handlung, die moralisch gut erscheint, als böse gelten, wenn eine andere Handlung derselben Person als böse qualifiziert werden müsste. Denn es gilt für Kant: »Also müßte sich aus [. . .] einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung, a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime, und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen«52 .

Dieser kantische Rigorismus war Herder zuwider und musste es nach dem, was ich bisher dargestellt habe, auch sein. In der 10. und letzten Sammlung der Briefe zu Beförderung der Humanität, die 1797 erscheint, formuliert Herder erstmals öffentlich seine Kritik an der »Hypothese von einer radikalen bösen Grundkraft im menschlichen Gemüt und Willen«53. Kant wird zwar nicht 49 Vgl. dazu C. Axt-Piscalar, Wieviel Religion braucht die Vernunft?, 515–532, A. Heit, Versöhnte Vernunft, 76–100, sowie W. Düsing, Die Interpretation des Sündenfalls bei Herder, Kant und Schiller, 227–244. 50 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B3/A4. 51 AaO. B8/A9. 52 AaO. B5/A6. 53 FA 7, 746.

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genannt, aber Herder konnte bei seinen Lesern voraussetzen, dass sie wussten, wer gemeint war. Noch verhältnismäßig moderat im Ton setzt er Kant seine Deutung entgegen: »Wo Böses ist, ist die Ursache des Bösen Unart unsres Geschlechts, nicht seine Natur und Art«. Und er fährt fort: »Nicht nur tragen wir die Last unsres Unglücks; sondern unsre Natur ist zu diesem und zu keinem andern Werk eingerichtet; es ist Zweck unsres Geschlechts, der Endpunkt unsrer Bestimmung, uns dieser Unart zu entladen«54 . Herder verwehrt sich dagegen, dass das, was Kant hier unter dem radikalen Bösen thematisiert, mit der Erbsünde gleich zu setzen sei, denn Erbsünde sei »Krankheit«55 und nicht Prinzip. Was in dem 123. Brief anklingt, wird in der Schrift Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen, der fünften Sammlung der Christlichen Schriften von 1798, in aller Schärfe ausgeführt. Herder sieht in der Rede vom radikalen Bösen eine Repristination des gnostischen Dualismus: »Ohne Zweifel freuete sich das böse Principium, daß es seit den Zeiten der Gnostiker und des Manes am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wieder zu so hohen Ehren kam«56 . In der wesentlichen Einwohnung des bösen Prinzips sieht Herder die Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht nur angegriffen, sondern wesentlich aufgehoben. Er argumentiert an dieser Stelle im Rückgang auf die Bibel: »Es ist nicht wahr, daß er [sc. der Mensch] dies Bild nicht verloren (1 Mos. 9,6 Jac. 3,9) und dieses zu seiner ersten Lauterkeit zu bringen, eben der Zweck der Religion sei? (Eph. 4,23.23)«57. Neben dem sachlichen Widerspruch, der sich auf den Rekurs auf den Gedanken der imago Dei zurückführt, wird ein zweites Moment der Kritik an Kant deutlich: nämlich an dessen ahistorischem Apriorismus. Diese Kritik wird von Herder in seiner Metakritik ausgeführt.58 Hier in der Auseinandersetzung mit Kants Religionsphilosophie will Herder damit allein deutlich machen, dass Kant einen rein spekulativen Religionsbegriff entwirft, dem die historischen Daten der Person Jesu nur untergeschoben und insofern letztlich auch entbehrlich sind. Eben solch eine ahistorische Konstruktion, die sich allein dem Zweck der kantischen Religionsphilosophie verdankt, sei auch dessen Lehre vom radikalen Bösen im Menschen. Ironisch hält Herder fest: »Der Teufel selbst existiert in uns; ein radikales Böse, das zwar die Schrift nicht kennet, das aber die Philosophie der Religion ›innerhalb der Grenzen der Vernunft‹ ausgeforscht

54

AaO. 747 f. AaO. 746. 56 FA 9/1, 811; H. i. O. 57 AaO. 812. 58 Vgl. zu Herders Anknüpfung an das Projekt Hamanns O. Bayer, Vernunft ist Sprache, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 sowie H. D. Irmscher, FA 8, 1062–1134. 55

2. Der Mensch – das werdende Bild Gottes

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hat, und postulieret. Nach ihr ist das Böse im Menschen nicht Abweichung vom Gesetz, Unart; [. . .] nein! sondern der Teufel ist in uns gekrochen«59.

Herder wusste sich in dieser Polemik nicht allein. Bereits 1793 hatte Goethe ihm in seinem berühmten Diktum mitgeteilt, Kant habe »seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt würden, den Saum zu küssen« 60 .

Herders Sündenbegriff liegt damit ganz auf der Linie seiner monistischen Grundanschauung. Wenn die Welt und ihr Inbegriff der Mensch Ausdruck Gottes selbst sind, dann kann es kein zweites Prinzip in der Welt geben, das diese Ausdrucksrelation grundsätzlich konterkarieren könnte. Sünde kann dementsprechend für Herder konsequenter Weise auch nicht im Sinne eines qualitativen Bruchs durch die an sich gute Schöpfung Gottes gedeutet werden. Negativität kann sub specie aeternitatis nur als ein Durchgangsmoment zu einem höheren Leben begriffen werden. In diesem Sinne lebt Herders Humanitätsideal geradezu aus der schöpfungsgemäßen Negativität. An und in ihr soll sich der Mensch zu seiner Bestimmung bilden. Der Mensch ist qua seiner Gottebenbildlichkeit bildbar und er soll sich auch bilden lassen. Ein starker Sündenbegriff stünde dem entgegen. Sünde ist für Herder nur unter dem Aspekt gradueller Differenz denkbar. 61 Herders monistische Metaphysik, sein gradueller Sündenbegriff und sein bildungstheoretisches Humanitätsideal verweisen so kongruent wechselseitig aufeinander zurück.

2. Der Mensch – das werdende Bild Gottes Diese Belege machen deutlich, dass für Herder Humanität das Interpretament einer werdenden Ebenbildlichkeit Gottes ist. Unter der Chiffre ›Humanität‹ versucht Herder seinen sich zusehends dem Christentum entfremdenden Zeitgenossen das Theologumenon der imago Dei zu vermitteln. Aus dieser Perspektive muss auch sein gesamtes Bildungsprogramm als in seinem Kon59

FA 9/1, 812. J. W. Goethe, Brief an Herder vom 7. Juni 1793, in: Werke, IV. Abt., 10. Bd., 75. 61 Von Hamanns Theologie der Sünde aus wird man sagen können, dass Herder die Radikalität der Sünde gerade auch in Bezug auf das Gottesverhältnis nicht vor Augen bekommt. Von der Abgründigkeit der daraus resultierenden absconditas Dei wie bei Luther ist bei Herder nicht mehr viel zu spüren, obwohl De servo arbitrio zu den von Herder am meisten geschätzten Schriften gehört. 60

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zept einer werdenden Gottebenbildlichkeit begründet verstanden werden. 62 Humanität und Bildung sind die säkularen Begriffe, unter denen Herder das zentrale Thema christlicher Anthropologie für seine Zeitgenossenschaft zu reformulieren versucht: das der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Ist schon in seinem Frühwerk das Bestreben erkennbar, alle Philosophie auf Anthropologie zurück zu führen, so lässt sich jetzt sagen, dass die gesamte Richtung seiner Anthropologie sowie der daraus folgenden sprach- und geschichtsphilosophischen, kultur-, bildungs- und dichtungstheoretischen Überlegungen ihre geheime Mitte in dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen finden. Anthropologie heißt für Herder, den Menschen als werdendes Ebenbild Gottes in all seinen Dimensionen auszulegen. Mit dieser imago-Konzeption unterscheidet sich der Lutheraner Herder in charakteristischer Weise von der reformatorischen Lehrweise in der Folge von Augustin und Luther. 63 Ihnen galt durch den Sündenfall die Gottebenbildlichkeit als völlig verloren, wenn sie nicht ab extra wieder restituiert würde. Dieser Deutung ist der sog. Altprotestantismus gefolgt. Herder steht einer anderen Traditionslinie näher, die sich ausgehend von dem altkirchlichen Platonismus der Alexandriner über die mittelalterliche Scholastik und das italienische Renaissancechristentum ihren Weg bis in die Philosophie und Theologie der Aufklärung gebahnt hat. Ihr gilt die Gottebenbildlichkeit als eine auch durch den Fall unveräußerliche Würde des Menschen. Ausgangspunkt zu dieser Theoriebildung war Platons Dialog Theaitet und die dort entworfene Lehre von der ὁμοίωσις θεῷ. 64 Die Vorstellung der Gottverähnlichung wird von der altkirchlichen Apologetik aufgegriffen. Demnach besteht nach dem Fall das Ziel des menschlichen Lebens darin, Gott ähnlich zu werden. Was für Platon das Ziel der herausgehobenen philosophischen Existenz war, wird unter christlichen Bedingungen zu einer Telosbestimmung humanen Lebens überhaupt. Möglich wurde diese Adaption der platonischen Homoiosislehre durch eine begriffliche Unterscheidung in Genesis 1,26: »Wir wollen Menschen machen uns zum Bilde (‫)צלם‬, uns ähnlich (‫«)דמות‬. Die begriffliche Differenz zwischen ›zelem‹ und ›demut‹ hat die altkirchlichen Apologeten angeregt. Während die neuere Exegese zwischen den beiden hebräischen Begriffen ›zelem‹ und ›demut‹ rein begrifflich keinen signifikanten Unterschied ausma62 Vgl. auch E. Herms, Bildung des Gemeinwesens aus dem Christentum, 309–325, der allerdings seinen eigenen starken Institutionenbegriff einträgt. Herder steht einem solchen deutlich abständiger gegenüber. 63 Vgl. zum Folgenden W. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen, 1–23; ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, 40–57, sowie U. Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzeptes, 345–371, hier besonders 352–360. 64 Theaitet 176a5.

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chen kann65 , führt ihre Übertragung in den griechischen Sprachraum zu einer begrifflich folgenreichen Differenzierung. Irenäus von Lyon unterscheidet in seinem Kampf gegen die Gnosis in Anschluss an die LXX zwischen εὶκῶν (Bild) und ὁμοίωσις (Ähnlichkeit). Während die ›eikon‹ den Willen und den Verstand betrifft, ist die ›homoiosis‹ auf die sittliche Vollkommenheit gerichtet. Durch den Fall habe der Mensch zwar seine ›homoiosis‹ verloren, aber nicht seine ›eikon‹, so dass dieses Vermögen auch noch dem gefallenen Menschen zukomme. Die ›eikon‹ fungiert sodann als Rest, von dem aus im platonischen Sinne eine Angleichung an Gott erfolgen kann, indem die ›homoiosis‹ erstrebt wird. Diese Differenz wird von der lateinischen Kirche im Begriffspaar imago und similtudo übernommen. Der italienische Renaissancehumanismus greift zur Entfaltung seines Menschenbildes programmatisch auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit aus Genesis 1 zurück. Sachlich kann Herders Konzeption als eine Synthese der beiden bedeutendsten und wirkmächtigsten Deutungen der Gottebenbildlichkeit im Humanismus gelten, wie sie bei Giannozzo Manetti und Pico della Mirandola vorliegen. 66 So teilt Herder mit Manetti die Vorstellung, dass der Herrschaftsauftrag nach Genesis 1,26 nicht bloß im Sinne von Naturbeherrschung gemeint ist, sondern in einem umfassenden Sinne den Kulturauftrag des Menschen bezeichnet. Die Kultur hat in diesem Sinne als Ausdruck der imago Dei zu gelten. In der Kultur legt sich der Mensch als das Ebenbild Gottes erst aus. Bei Pico della Mirandola ist ein anderes auch für Herder zentrales Moment vorgebildet. Pico legt die in der Gottebenbildlichkeit angelegte Bestimmung des Menschen als einen Progress aus, der in der Inkarnation Jesu Christi sein Telos findet. Das Menschsein findet so sein Vorbild in der ethischen Lebensführung Jesu, dem sich die individuelle Lebensführung angleichen soll. Gottverähnlichung vollzieht sich hier im Spiegel der Inkarnation. 67 Das optimistische Menschenbild des christlich inspirierten Renaissancehumanismus findet seinen Weg bis in die Philosophie der Aufklärung hinein. Nicht zuletzt die Idee der Perfektibilität des Menschen kann in dieser Perspektive als – wenn auch nicht mehr überall gewusste – Auslegung der imagoTradition gelten. Für Herder ist in diesem Zusammenhang zweierlei entschei65 Wenn überhaupt, dann ist ›demut‹ gegenüber ›zelem‹ eine Abschwächung. Vgl. dazu H. D. Preuss, Theologie des AT II, 121–124. 66 Vgl. G. Manetti, De dignitate et excellentia hominis (1452) und Pico della Mirandola, De hominis dignitate (1486/87). 67 In diesem Sinne deutet U. Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzeptes, 356 f., Pico wohl zu direkt auf das »neuzeitliche Freiheitsverständnis« hin, wenn er die kreatürliche Sonderstellung als »Selbstgesetzgebung und Selbstbildung« auslegt.

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dend. Indem Herder an diese Tradition anknüpft, grenzt er sich zugleich von einem Konzept der planen Selbstbesserung ab. Seine Debatte mit Kant um die autonome Vernunft steht paradigmatisch für seine Abgrenzung von allen Formen der reinen Selbstgesetzgebung. Für Herder bleibt der Mensch vielmehr grundsätzlich auf die Vorsehung Gottes und das Bild Gottes in ihm selbst bezogen. In dem 31. Brief der Briefe, das Studium der Theologie betreffend spitzt Herder zu: »Ohne Providenz ist uns die Lehre von Gott unnütz« 68 . Wir hatten oben gesehen, dass für Herder seine Geschichtsphilosophie von vornherein in einer religiös-metaphysischen Klammer steht, die er dann in seiner Spinozaschrift ausdeutet. Bezogen zu sein auf die Vorsehung heißt für Herder, den Gesetzen Gottes zu folgen. Dementsprechend ist es für Herder auch kein Widerspruch, wenn er auf der einen Seite den Menschen auffordert sich zu einem höheren Leben zu läutern, sich Gott zu verähnlichen – oder welche Formulierungen Herder auch sonst dafür wählt – und tatsächlich nur eine Seite weiter gegen eine »eigenmächtig-langweilige Selbst-Besserung« 69 polemisiert. Unter der Chiffre der in der Gottebenbildlichkeit im Menschen liegenden Bestimmung thematisiert Herder das Konzept der ὁμοίωσις. Die Angleichung an Gott muss dabei als eine Unterordnung unter den theonomen Zweck humaner Existenz gedeutet werden. Mit der Kritik an der eigenmächtigen Selbstbesserung grenzt Herder sich von einer Autonomiekonzeption ab, nach der der Mensch sich aus sich selbst heraus Gesetze geben und eine Welt erfinden könnte. Das ist bezeichnenderweise genau der Punkt, an dem Herder sich sowohl von der Weimarer Klassik wie von Kant geschieden weiß. Kurz gesagt: Herder entwirft mit dem Gedanken der werdenden Gottebenbildlichkeit eine Theorie, die man dem Stichwort Theonomie subsumieren könnte. Insofern wird man Herders Freiheitsbegriff nicht unmittelbar dem modernen Autonomiebegriff einverleiben können. Man wird nach dem, was ich zu Herders Sündenbegriff geschrieben habe, auch nicht sagen können, dass die Vorstellung von einem durch den Sündenfall verlorenen Urstand des Menschen in Herders Denken gar keine Rolle mehr spielt. Dennoch ist die Tendenz der Interpretation W. Pannenbergs zutreffend, wenn er bei Herder von einer »Auflösung der Urstandslehre in eine Lehre von der Bestimmung des Menschen«70 spricht. Der Urstand als solcher spielt bei Herder kaum eine Rolle. Entscheidend ist für Herder vielmehr der Aspekt, dass der lapsus keinesfalls aus der Vorsehung Gottes heraus fällt, sondern als Station zu einem höheren Leben angesehen wird. Der Mensch ist qua seiner Natur auf den Schöpfer bezogen und kann diese Grundrichtung, die 68

FA 9/1, 431. FA 9/1, 449. C. Bultmann, aaO. 984, will hier einen Selbstwiderspruch Herders sehen. 70 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 51. 69

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seinem Leben schöpfungsgemäß inhäriert, auch nicht verlieren. Gott wäre für Herder nicht Gott, d. h. der in seiner Natur Wirksame, wenn ein Geschöpf diese Wirksamkeit brechen könnte. Mit seiner Applikation des dogmatischen Topos der Gottebenbildlichkeit auf die Lehre von der Bestimmung des Menschen knüpft Herder an die Überlegungen von J. J. Spalding in dessen Schrift Betrachtung über die Bestimmung des Menschen von 1748 an. Diese Schrift erreicht bis 1794 elf Auflagen und gilt als Bestseller der Aufklärungszeit. Herder hat sie 1766 wahrgenommen. 71 Sie bereitet seine eigene Umformung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit unter bestimmungstheoretischem Aspekt in mehrfacher Hinsicht vor. So kann Spalding mit dieser Schrift zum einen als der eigentliche Initiator der anthropologischen Wende in der Theologie gelten. Sein methodischer Ansatz bei der Selbsterfahrung des Individuums – Hegels Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins ist präformiert – führt ihn durch alle Stadien des menschlichen Bewusstseins. Ausgehend von der Frage, »warum ich da bin und was ich vernünftiger Weise sein soll«72 durchschreitet Spalding die Stufen des Bewusstseins: die Sinnlichkeit, den Geist, die Tugend, die Religion, um schließlich in der Unsterblichkeit das »große Ziel« seiner »künftigen Bestimmung«73 zu finden. Herder greift diese sich im Modus subjektiver Selbstdeutung vollziehende Konzeption auf und weitet sie ins Universale. So notiert er zu Spaldings Bestimmungsschrift mit überbietendem Gestus: »Ich muß also überlegen, wo es mit mir [. . .] hinaus will. Aber mit meiner ganzen Bestimmung – meines ganzen Geschlechts – Volk – Zeiten etc«74 . Herder ist der konzeptionelle Ansatz Spaldings zu eng und so deutet sich hier bereits seine universalgeschichtliche Deutung der Menschheitsgeschichte an, in der dann auch das Individuum seinen Ort hat. Zum anderen bereitet Spalding mit seiner Schrift faktisch Herders Theologie einer werdenden Gottebenbildlichkeit unter dem Terminus der Bestimmung vor. Zwar wird die Umdeutung der imago-Tradition im Sinne der Bestimmungsthematik explizit erst von Herder vorgenommen, aber sie stellt zugleich schon das untergründige Thema von Spaldings Bestimmungsschrift dar. Denn der methodische Ansatz, das Wesen des Menschen sich in der dynamischen Spannung von Anlage und Bestimmung aus71 Vgl. Herders nicht unkritisch kommentierendes Exzerpt über Spaldings Schrift SWS 32, 160 f. 72 J. J. Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, 3. Vgl. zur Interpretation der Schrift A. U. Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, 163–200, sowie H. Adler, Die Bestimmung des Menschen. Spaldings Schrift als Ausgangspunkt einer offenen Anthropologie, 125–137. Zur Herkunft der Bestimmungsthematik in der Aufklärung vgl. den von N. Hinske herausgegebenen Band »Die Bestimmung des Menschen«, Hamburg 1999. 73 J. J. Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, 22 f. 74 SWS 32, 160; H. i. O.

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bildend zu sehen, steht schon eo ipso in Konkurrenz zu dem statischen Modell der orthodoxen Ständelehre von status integritatis und status corruptionis. Diese von Spalding aufgeworfene Perspektive musste Herder also nur aufnehmen und auf den Begriff der Gottebenbildlichkeit anwenden. So sehr Herder den Spalding der Nutzbarkeit des Predigtamtes angriff, so sehr fühlte er sich dem Spalding der Bestimmung des Menschen verbunden.75 Das individualgeschichtliche Konzept Spaldings wird von Herder aufgegriffen, auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit appliziert und universalgeschichtlich ausgeweitet. Die bestimmungstheoretisch verstandene Gottebenbildlichkeit wird in ihrer Polarität von Anlage und Ausbildung bzw. Bestimmtheit und Bestimmung zum Movens der Kulturgeschichte überhaupt.

3. Christus als vollendete Humanität 3.1 Christologischer Schwund? Die Kulturgeschichte der Menschheit steht ausgehend von Herders theologischer Anthropologie der Gottebenbildlichkeit somit von vornherein unter einem religiösen Vorzeichen. Gegründet in einem Monismus der internen Differenz legt sich das anthropologische Fundamentale der imago Dei in immer wieder wechselnden kulturgeschichtlichen Formationen neu aus. Von der Urgeschichte ausgehend entwirft Herder das Bild einer sich entfaltenden Menschheit. Das in ihr liegende Bild Gottes drängt im Individuum wie in der Gattung auf seine Verwirklichung. Die sich in Herders Ursprungsdenken – sei es in Form des Ursprungs des Menschengeschlechts, der Poesie oder der Sprache – manifestierende schöpfungstheologische Orientierung hat zu der These geführt, Herder habe »nicht futuristisch, mithin nicht – wie sich doch von einem Theologen erwarten ließe – heilsgeschichtlich-eschatologisch«76 gedacht. Wenn Herder auch durch seine Umdeutung des Falls die klassische heilsgeschichtliche Konstruktion hinter sich lässt, so wäre es doch voreilig, damit zugleich seinem Denken eine eschatologische Dimension abzusprechen. Das Konzept des werdenden Bildes Gottes ist notwendig auf eine teleologische Entfaltung in der Geschichte hin angelegt, wie Herder im vierten, fünften und 15. Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zusammenfassend dargelegt hat. Geschichte ist für Herder nur zu deuten und zu verstehen, solange sie sub specie aeternitatis betrachtet wird.77 In die Gott75

Zum Verhältnis von Herder und Spalding vgl. A. Beutel, Herder und Spalding – ein theologiegeschichtlicher Generationenkonflikt, 119–144. 76 G. v. Hofe, Geschichte als ›Epopee Gottes‹, 68. 77 Vgl. H. D. Irmscher, Grundfragen der Geschichtsphilosophie Herders, 22 f.

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ebenbildlichkeit des Menschen ist die Vorsehung Gottes über das Menschengeschlecht eingesenkt. Der teleologische Zug der heilsgeschichtlichen Konzeption kehrt also unter veränderten Vorzeichen bei Herder wieder. Die Geschichte der Menschheit steht für Herder demnach konstitutiv in einem religiösen Deutungszusammenhang, insofern Geschichte nichts anderes als die geschichtliche Selbstauslegung des Bildes Gottes im Menschen ist. Das starke Interesse der Herderforschung an dem Ursprungsdenken Herders hat indes bisher den Kristallisationspunkt nicht nur seiner Anthropologie, sondern seiner gesamten Natur- und Kulturtheorie nur unzureichend wahrgenommen.78 Dieser ist m. E. in Herders Christologie zu suchen. Herder formuliert nicht bloß eine Jesulogie, in der der Mann aus Nazareth ausschließlich im Sinne eines Vorbildes verstanden werden würde, sondern Herder denkt Christus als den Konstitutionsgrund von Humanität und Wirklichkeit überhaupt, wodurch er allererst die exemplarische Vorbildfunktion einnehmen kann. Diese These mag überraschen, wurde nicht zuletzt von theologischer Seite in Herders Denken ein »christologischer Schwund« konstatiert.79 Auch nach meinem bisherigen Gang durch Herders Werk scheint dieser Schluss nahe liegend zu sein. Herders Theorem der Geschichtlichkeit scheint einer übergeschichtlichen Bedeutung der Person Jesu zu widersprechen. Ebenso scheint Herders monistische Metaphysik in Anschluss an Spinoza, in der alles Ausdruck bzw. Offenbarung Gottes ist, in einem Widerspruch zu einer christologischen Entfaltung des Konstitutionsgrundes zu stehen. Mit dem schöpfungstheologischen Gedanken der dem Wesen des Menschen eingestifteten Gottebenbildlichkeit, die sich als regulatives Prinzip quasi selbst entfaltet und durch den Sündenfall auch nicht wesentlich beeinträchtigt ist, scheint auch eine Christologie obsolet. Dieser Anschein wird aber schon durch eine bloße werkgeschichtliche Beobachtung in Frage gestellt. Denn Herder wendet sich zeitlebens nicht nur in seinen Predigten immer wieder der Person Jesu und ihrer Bedeutung zu80 , sondern in allen Phasen seines literarischen Schaffens entstehen Werke, in denen er die menschheitsgeschichtliche Relevanz des Christentums und damit vor allem der Person Jesu reflektiert. Dies geschieht bei Herder freilich stets eher indirekt als direkt. Wir haben von Herder keine Abhandlung, in der er 78 Eine Ausnahme bildet H. Timm, Geerdete Vernunft, 357–376. Vgl. auch die Hinweise bei G. Arnold, Von den letzten Dingen, 382–411. 79 So etwa F. W. Kantzenbach, ›Selbstheit‹ bei Herder. Anfragen zum Pantheismusverdacht, 15, sowie ders., Johann Gottfried Herder und der Weg des Protestantismus in die Moderne, 372–375. Vgl. in demselben Sinne auch W. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit, 20. 80 Vgl. SWS 31–33, die aber nur einen Bruchteil von Herders Predigttätigkeit dokumentieren. Vgl. dazu M. Kessler, Herders Kirchenamt in Sachsen-Weimar, 327–351, sowie M. Kumlehn, Gott zur Sprache bringen, 164–180.

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seine Anschauung der Person Jesu systematisch entfaltet hätte. Sie ist vielmehr einerseits den Schriften zu entnehmen, in denen er seine Berufspraxis reflektiert und andererseits den im engeren Sinne exegetischen Schriften zum Neuen Testament, wobei seiner in immer neuen Anläufen vorgenommenen Interpretation des Johannesevangeliums besondere Bedeutung zukommt. So wird man etwa Herders anthropologischer Konzeption, wie sie seiner Preisschrift Über den Ursprung der Sprache (1772) sowie in der Ältesten Urkunde (1774/76) niedergelegt ist, sowie seiner frühen Geschichtsphilosophie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) nur gerecht, wenn man einerseits seine Erläuterungen zum Neuen Testament (1775) und andererseits Μαραν αθα Das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel (1779) synoptisch dazu liest. Dasselbe gilt auch für Herders Weimarer Werk. Seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91), die Briefe zu Beförderung der Humanität (1793–97) sowie schließlich Herders Zeitschrift Adrastea (1801–03/4) lassen sich in ihrem Begründungszusammenhang nur verstehen, wenn Herders theologisches Alterswerk und die Summe seines theologischen Schaffens, die fünf Sammlungen der Christlichen Schriften (1794–98), in die Interpretation mit einbezogen werden. Erst, wenn diese dezidiert christentumstheoretischen Texte Herders in die Interpretation seines Werkes eingeholt werden, erschließt sich die gedankliche Einheit seines Schaffens aus dem Geiste des Christentums. Des Weiteren geben aber auch schon Herders außertheologische Schriften darauf einen Hinweis, dass die menschheitsgeschichtliche Sonderstellung der Person Jesu unzureichend erfasst sein muss, wenn sie im Sinne einer bloßen Jesulogie verstanden werden soll. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit betont Herder, dass es »echteste Humanität« war, die Jesus »im Leben bewies, und durch seinen Tod bekräftigte«81, um dann im Tone eines Gebets fortzufahren: »Verehrend beuge ich mich vor deiner edlen Gestalt, du Haupt und Stifter eines Reichs von so großen Zwecken«82 . Ließe sich die Gebetsanrede noch als stilistisches Mittel verstehen, indem er zugleich die »Gedankenlose Anbetung« Jesu kritisiert, so ist aber doch zu fragen, was Herder mit der Titulatur des Stifters aufruft, denn das angekündigte Reich Gottes als »allgemein-wirkende reine Humanität«83 ist ja nichts anderes als der Zweck des Menschengeschlechts überhaupt. Die hier anklingende Sonderstellung Jesu hat die Ausleger immer wieder irritiert, ist damit doch an diesem Punkt in der Geschichte die Gleichwertigkeit aller Darstellungen der Humanität zumindest in Frage gestellt. Herder gibt in den Ideen keinen wei81 82 83

FA 6, 708. AaO. 709. Ebd.

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teren Aufschluss darüber, wie das zu verstehen ist. Ebenso weist der Dialog von Dietrich und Winnfried über die »National-Religionen«84 in der Adrastea der Person Jesu und dem Christentum eine menschheitsgeschichtlich exemplarische Bedeutung zu. Demnach ist das Christentum die »Religion aller Religionen«85 , weil und insofern es halten lehrt, »was Christus befohlen, die reinen Gesetze der Menschheit nämlich«86 . Dem so verstandenen Christentum kommt nach Herder zwar nicht die Aufgabe zu, die anderen Religionen aufzulösen – das widerspräche seiner Schätzung historischer Individualitäten –, aber doch sie zu mehr »Menschlichkeit« 87 zu bilden. Dem Christentum kommt somit ein in der Person Jesu gründender Bildungsauftrag für die gesamte Menschheit zu, der sich schwerlich aus einer schlichten Jesulogie verstehen lässt. Ebenso deutlich ist, dass der für Herder häufig in Anspruch genommene Relativismus kultureller Formationen einer genaueren Prüfung bedarf. Dasselbe Bild hat sich bereits in den vier Jahre zuvor abgeschlossenen Briefen zu Beförderung der Humanität gezeigt. Auch dort wird die Religion Christi im 25. Brief in ihrer herausragenden Bedeutung qualifiziert: sie ist »die Humanität selbst«88 . Die letzte Sammlung abschließend bekennt der 124. Brief die unüberbietbare menschheitsgeschichtliche Bedeutung des Christentums: »Und warum verhehlen wir eine Norm der Ausbreitung des moralischen Gesetzes der Menschheit, die uns so nahe lieget? Das Christentum gebietet die reinste Humanität auf dem reinsten Wege. [. . .] Der Labyrinth seiner Mißbräuche und Irrwege ist nicht unendlich; auf seine reine Bahn zurückgeführt kann es nicht anders als zu dem Ziel streben, den sein Stifter schon in dem von ihm gewählten Namen ›Menschensohn‹ (d. i. Mensch) [. . .] ausdrückte«89.

Der Begründungszusammenhang für die menschheitsgeschichtlich herausgehobene Stellung der Person Jesu wie des ihm folgenden Christentums wird von Herder in diesen Schriften nicht weiter ausgeführt. Dafür müssen wir in Herders im engeren Sinne theologische Schriften sehen. Aber so viel lässt sich jetzt schon sagen: Soll der Person Jesu die menschheitsgeschichtlich exponierte Stellung zukommen, die in den genannten bildungsphilosophischen Schriften Herders anklingt, dann kann das nur durch eine Theorie des Christentums gelingen, die zugleich als Basis der Natur- wie Kulturtheorie in toto konzipiert sein muss. Wenn aber in diesem Sinne die Christologie konzeptionell den Konstitutionsgrund zu aller humanen Selbst- und Weltauslegung bil84 85 86 87 88 89

Vgl. FA 10, 603–625. AaO. 609 und 624. AaO. 611. AaO. 625. FA 7, 130. AaO. 752; H. i. O.

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det, dann kann der These eines christologischen Schwundes bei Herder nicht zugestimmt werden.

3.2 Kritik am Dogma Bei näherem Betracht wird deutlich, dass sich die in der Forschung behauptete Marginalisierung der Christologie in Herders Werk weniger einer systematischen Rekonstruktion der der Person Jesu darin faktischen zukommenden Funktion verdankt als vielmehr der von Herder vorgenommenen theologischen Positionsbestimmung. D. h. die These von der christologischen Reduktion generiert sich einerseits aus Herders expliziter Distanz gegenüber dem Erbsündengedanken im Ausgang von Augustinus und andererseits seiner Abständigkeit gegenüber dem trinitätstheologischen Dogma.90 Diese beiden Aspekte teilt Herder mit der theologischen Dogmenkritik der Neologie.91 3.2.1 Kritik an der Erbsündenlehre Herders Kritik in den Christlichen Schriften an Kants Lehre vom radikalen Bösen ist zugleich eine Kritik an der Erbsündentheologie im Gefolge von Augustinus überhaupt. Das wird deutlich, wenn man einen Blick in die Erläuterungen zum Neuen Testament von 1775 wirft. Schon dort betont Herder mit Blick auf die Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury, dass dem Teufel zu viel Macht zukomme, wenn Christus gezwungen ist, bei ihm die Menschheit auszulösen: »Unwürdigeres gegen Gott, Falscheres gegen die Menschheit, [. . .] Widersprechenderes endlich gegen den ganzen Entwurf der Schrift läßt sich kaum denken. Der Satan wird Monarch: der Schöpfer ein sich irrender und der Erlöser der Welt ein der List des Satans untergeordneter, zu Nothplanen gezwungener Kleinling«92 .

Demgegenüber betont Herder in einer an Athanasius erinnernden Formulierung: »Aus Liebe gab Gott seinen Sohn, und nicht aus Zorn«93 . Nur so bleibt für Herder Gott der Herr der Geschichte. Die Sünde selbst muss dabei – wie gesehen94 – als Moment im Schöpfungsplan angesehen werden. Kants Lehre 90 So etwa bei F. W. Kantzenbach, ›Selbstheit‹ bei Herder, 15 und W. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit, 20. 91 Vgl. dazu K. Aner, Theologie der Lessingzeit, 144–176. 92 SWS 7, 367. 93 AaO. 388. Herder verweist hier auf Joh 3,16; Röm 5,8; Eph 2,4; Tit 3,4; 1. Joh 4,9.10. 94 Vgl. Kap. IV 1.

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vom radikalen Bösen ist für Herder nichts anderes als die Prolongation der Anselmschen Ausdeutung der Sündenlehre Augustins unter satisfaktionstheologischer Perspektive. In der fünften Sammlung der Christlichen Schriften, die mit Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen überschrieben ist, nimmt Herder insbesondere an der Figur einer »fremden Genugtuung« und einer »fremden Zurechnung«95 Anstoß. Damit wird deutlich, worin sich Herder klar von seinem alten Königsberger Lehrer Kant distanziert. Hatte dieser zwar betont, dass die moralische Schuld als die »allerpersönlichste« »nicht von einem andern getilgt werden [kann]; denn sie ist keine transmissible Verbindlichkeit«96 , so kommt er doch dazu eine solche fremde Genugtuung zu postulieren, weil andernfalls ein Wechsel von der bösen zu der guten Urmaxime nicht denkbar wäre.97 Aus der hier zugrunde liegenden Antinomie konzipiert Kant seine Christologie.98 Die in dieser Weise entworfene Christologie ist in Herders Augen nichts anderes als ein bloß sekundäres Korrektiv, um die Schöpfung nach dem Fall wieder auf ihr Ziel hinzuführen. Wie der Gottesgedanke bei Kant am Ende der ›praktischen Vernunft‹ als Postulat steht, so steht Christus am Ende einer religiös-ethischen Antinomie, die sich ihrerseits erst aus der in Herders Sicht künstlichen Einführung eines radikalen Bösen ergibt. Herders sich hier am Gedanken der kantischen Reformulierung der Erbsünde entzündende Kritik ist somit zugleich eine Kritik am kritischen Gottesbegriff überhaupt. Dieser mache Gott zu einem sekundären Postulat und nicht zu dem Grund der Welt. Herder ringt demgegenüber um eine Theologie, die aus der Anthropologie das Gottsein Gottes zu denken vermag. Mit kaum zu überbietender Schärfe wendet sich Herder gegen den »Wahn junger Dünkler, als ob, nachdem sie zu einem Moralgesetz, das von ihnen seine Gültigkeit nehmen soll, sie sich einen Gott ausphantasieren müßten, der nur dadurch, daß er Ihrem Kunstwerk Beifall zuwinkt, ein moralischer Gott werde. Postulieren nennen sie diese Dichtung, mit einer Gebehrde, als ob sie Schöpfer Gottes wären«99.

Und er fährt fort: »Seht ihren Wurzellosen Baum sogenannter übersinnlicher Freiheit, an dessen kahlem Gipfel ein selbstgemachter Herrgott webet«100 . Hatte Herder in Gott. Einige Gespräche gezeigt, wie er Gott als den gründenden Grund der Welt zu denken versucht, so steht es jetzt noch aus, wie er die Person Jesu deutet, wenn dieser nicht bloß als innere Konsequenz und Korrektiv der Sündenlehre verstanden werden soll. 95

FA 9/1, 849. Vgl. auch 765–767. I. Kant, Religion innerhalb der reinen Vernunft, B 94,95/A88. 97 Vgl. hierzu A. Heit, Versöhnte Vernunft, 171–180. 98 Vgl. aaO. 180–189. 99 FA 9/1, 842, H. i. O. 100 AaO. 843. 96

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3.2.2 Kritik an der Trinitätslehre Herders Kritik an trinitätstheologischen Überlegungen bleibt merkwürdig zwiespältig. Das liegt daran, dass Herder zwar die Gottheit der geschichtlichen Person Jesu aussagen möchte, sich aber zugleich von allen metaphysischen Introspektionen in Gott fernhalten möchte. Diese Spannung mit der zugleich noch positivsten Würdigung der Trinitätslehre finden wir in seinen Briefen, das Studium der Theologie betreffend – allerdings schon hier im letzten Brief, der die Dogmatik behandelt. Er gibt dem Studenten der Theologie mit auf den Weg, dass die Trinität am besten ökonomisch in der »Sprache der Bibel«101 behandelt werde. Damit betont Herder, dass das trinitarische Dogma gemäß der drei Artikel des Glaubensbekenntnisses als Auslegung des biblischen Glaubens zu gelten hat. Darin liegt aber zugleich die Kritik verborgen, dass die metaphysischen Hintergrundspekulationen diesen einfachen biblischen Bezug verdunkeln und ungerechtfertigt überschreiten: »Arianische und Semi-Arianische Grübeleien dünken mich ein unnützes Gespinst, weil sich jenseits der Welt und Zeit von uns nichts mehr ergrübeln läßt: der Socinianismus ist offenbar der Schrift entgegen. Denn wie oft spricht diese vom Dasein Jesu vor der Welt«102 . Nennt Herder hier nur die ›Heterodoxien‹ als Grenzüberschreitungen, die im Umfeld des trinitarischen Dogmas entstanden sind, so wird seine Kritik in den Ideen grundsätzlicher. Aus einer einfachen dreigliedrigen Bekenntnisformel zur Taufe seien die größten Spaltungen und Verfolgungen hervorgegangen, allein dadurch, dass man »jenseits der Grenzen des menschlichen Verstandes«103 spekulierte. In Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, der dritten Sammlung der Christlichen Schriften von 1797, bezieht er seine Kritik dann explizit gleichermaßen auf die ›orthodoxen‹ wie ›heterodoxen‹ Deutungsmodelle. Maßstab ist ihm wieder die Schrift, die all die Differenzen von »gezeuget, nicht gemacht« sowie die »personificirende[n] Dichtungen«104 nicht kennt. Die Kritik, die Herder hier am trinitarischen Dogma zeichnet, ist Moment seiner Kritik an Dogmen und metaphysischen Spekulationen überhaupt. 3.2.3 Abgrenzung von Religion und Lehrmeinungen Herders Schrift Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen von 1798 ist seine letzte explizit theologische Schrift, die er an sein religiös interessiertes Publikum ausschickt. In ihr bündeln sich wie in einem Brennglas seine 101 102 103 104

AaO. 484. Ebd. FA 6, 716. SWS 19, 301.

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Grundanschauungen zu Humanität und Christentum und stellen insofern so etwas wie sein theologisches Vermächtnis dar. Sie ist die letzte der fünf Sammlungen der Christlichen Schriften und bildet deren systematische Summe. In ihr nimmt Herder die für das religiöse Bewusstsein selbst grundlegende Unterscheidung zwischen dem Glauben und den Reflexionsgestalten auf den Glauben vor. Das erste nennt er Religion, das zweite Lehrmeinung oder Dogma. Die Bedeutung dieser Differenz, die seitdem zum Grundbestand neuzeitlicher protestantischer Theologie gehört und die Schleiermacher erstmals in einer Theorie der gestuften religiösen Ausdrucksformen systematisierte105 , liegt darin, dass die Theologie und ihre Lehrbildungen als vom religiösen Bewusstsein generiert verstanden werden und also einen bestimmten Ausdrucksmodus desselben darstellen. Zugespitzt lässt sich dieser Sachverhalt so ausdrücken: gelebte Religion ist die Quelle des begrifflich gefassten Dogmas. D. h. umgekehrt, dass sich das Dogma und seine systematische Darstellung stets in gelebte Religion zurückübersetzen können lassen muss, wenn es lebensweltliche Relevanz behalten soll. Die Intention, die Herder hier in seiner im besten Sinne popularwissenschaftlichen Schrift, die ein Seitenstück zu dem von Herder bearbeiteten neuen Katechismus106 für Sachsen-Weimar ist, verfolgt, ist eine doppelte. Zum einen will er in der Tradition Luthers stehend deutlich machen, dass der einfache Gemütsglaube keiner anderen Quelle als der Bibel und des Glaubensbekenntnisses bedarf. Die oben angesprochenen dogmatischen Subtilitäten etwa der Trinitätslehre und der Zweinaturenlehre gehören demgegenüber zum Spezialwissen der Theologen. Schon in den Briefen, das Studium der Theologie betreffend betont Herder in sachlicher Übereinstimmung mit Luthers Vorrede zum Großen Katechismus, Dogmatik sei »eine Philosophie aus der Bibel geschöpft und diese muß immer ihre Quelle bleiben«107. Zum anderen ist in diesen Passagen immer noch die Religionsphilosophie im Gefolge von Kant sein Gegner. Die Kritik an Lehrmeinung und Dogma trifft also keinesfalls nur die Theologie altlutherischer Provenienz, sondern ebenso die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, deren Adepten Herder aus dem naheliegenden Jena zunehmend in den Examina sitzen hatte. Die Schrift Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen gliedert sich in insgesamt sieben Hauptabschnitte. Dabei nimmt schon die ›Einleitung‹ die grundlegende Weichenstellung zur Bestimmung der fundamentalen Differenz von Theologie und Religion vor. Herder fordert: »diese gehöret fürs Volk, jene disputiere auf dem Katheder«108 . Worin liegt aber die Differenz 105 106 107 108

Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Berlin 18302, § 15. SWS 30, 302–392. Vgl. T. Zippert, FA 9/1, 1148 FA 9/1, 414. Zu Luthers Vorrede zum Großen Katechismus vgl. BSLK 551–553. FA 9/1, 727.

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begründet, aufgrund der zwischen verschiedenen Foren der Explikation zu unterscheiden ist? Die Eingangssätze der Schrift lassen bereits Herders genuine Intention erkennen: »Eine Schrift, die von Religion handelt, soll mit Religion, d. i. gewissenhaft geschrieben sein, und wünscht auch also gelesen zu werden. [. . .] Religion spricht das menschliche Gemüt an; sie redet zur Parteilosen Überzeugung. In allen Ständen und Klassen der Gesellschaft darf der Mensch nur Mensch sein, um Religion zu erkennen und zu üben. In alle Neigungen und Triebe des Menschen greift sie, um solche mit sich zu harmonisieren und sie auf die rechte Bahn zu führen. Wenn Religion sich von Lehrmeinungen scheidet, so läßt sie jeder ihren Platz; nur sie will nicht Lehrmeinung sein. Lehrmeinungen trennen und erbittern; Religion vereinet: denn in aller Menschen Herzen ist sie nur Eine«.109

Zunächst will ich mich auf die von mir hervorgehobenen Begriffe konzentrieren. Die in ihnen eingeschlagene Richtung wird in dem ersten Abschnitt »Vom Unterschiede zwischen Religion und Lehrmeinungen überhaupt« weiter verfolgt. Religion ist ihm hier »innerstes Bewusstsein«, »innigste Verbindlichkeit des Willens«, »Mark der Gesinnungen« und »unverletzbare Pflicht«110 . Religion »fodert Glauben, sie bauet auf Glauben, sie wirkt Glauben«111. In einer Anknüpfung an den 1774 noch stark von ihm in den Provinzialblättern gescholtenen Johann Joachim Spalding kann Herder nun in Anspielung auf dessen 1798 in zweiter Auflage erschienenes Buch Religion, eine Angelegenheit des Menschen Religion als das, »was mir innigste Angelegenheit ist«112 , bezeichnen. Und was sind ihm demgegenüber Dogmen? Anknüpfend an den traditionellen Sinn des Begriffs sind es ihm »Lehrmeinungen [. . .], Meinungen der Philosophen über das, was sie nicht wußten, aber für wahrscheinlich oder durch Disputieren für ausgemacht hielten«113. Gegenüber der Religion als dem – um mit Tillich zu sprechen –, was mich unbedingt angeht, sieht Herder in der Möglichkeit zu alternativen Stellungnahmen ein Grundsignum der Lehrmeinungen. In ihnen kann, ja muss es ein »Disputieren pro und contra«114 geben. Als solche entspringen sie dem Bedürfnis des Wissens, sich über die Gehalte des Glaubens aufzuklären. Sofern die Dogmen den »Weg zu weiterer Erforschung der Wahrheit«115 zeigen, sind sie nicht zu kritisieren. Sie dürfen 109

Ebd. Hervorhebungen C. C. AaO. 734. 111 AaO. 735. 112 AaO. 734. 113 FA 9/1, 733. Vgl. zum Begriff des Dogmas W. Pannenberg, Systematische Theologie I, Göttingen 1988, 18 f. 114 FA 9/1, 734 115 AaO. 733. Hervorhebung C. C. 110

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nur nicht mit der Religion selbst als einer unbedingten Verpflichtung verwechselt werden: »Die Lehrmeinungen aller philosophischer Schulen [. . .] haben der menschlichen Vernunft und Untersuchungsgabe also wesentliche Dienste geleistet; sie waren die Handhaben, mittelst deren man das goldne Gefäß der zu erforschenden philosophischen Wahrheit aus der Tiefe emporhob oder emporzuheben strebte«116 .

Mit dem Gesagten hat Herder seine Grunddifferenzierung von Religion und Lehrmeinung vorgenommen. So wenig die in dieser Differenz angelegte sachliche Intention einer Theorie der Stufungen des religiösen Ausdrucks m. E. ernsthaft in Frage gestellt werden kann, so sehr muss doch angefragt werden, ob Herders Unterscheidungskriterium das leistet, was Herder ihm zusprechen will. Die Distinktion hat ihm jedenfalls von Falk Wagner den Vorwurf zugezogen, er unterläge hier einem Selbstwiderspruch.117 Indem er Religion von Lehrmeinungen unterscheide, stelle er faktisch mit dem, was er unter Religion verstehe, eine neue Lehrmeinung auf. Die Behauptung Herders, dass Religion ohne Lehrmeinung auskomme, sei letztlich also eine Illusion. Sie setze »das Dasein eines von allen Lehrmeinungen unabhängigen Kerns wahrer Religion«118 voraus. Religion ohne sprachliche Artikulation, ohne begriffliche Interpretation, die die Religion insofern immer schon in die Pluralität der Darstellungsformen einreiht und insofern von Lehrmeinungen ununterscheidbar macht, gebe es nicht. Die ›reine Sache‹ sei ein Unding, da sie Unmittelbarkeit suggeriere, wo tatsächlich Vermittlung vorliege. »Indem Religion nicht von ihrer jeweils individuellen sprachlichen Darstellung getrennt werden kann«, so fasst Wagner seine Kritik abschließend zusammen, »ist die Scheidung zwischen Religion und theologischer Lehrmeinung ein aussichtsloses Unterfangen«.119 Herders Versuch der Konstitution einer »undogmatischen Definition des Christentums«120 bedürfte also noch einer tiefer gehenden Reflexion. Diese treffende Kritik ist m. E. noch ein wenig genauer zu fassen. Denn das sachliche Problem Herders besteht nicht darin, dass er Mittelbarkeit der Lehrmeinung und Unmittelbarkeit der Religion gegeneinander ausspielt. So muss 116 Ebd. Damit bleibt Herder in einer sachlichen Übereinstimmung mit seinen früheren Ausführungen zum Dogma in den Provinzialblättern (aaO. 88–96) und in den Theologischen Briefen (aaO. 382–490), nur dass er hier die polemische Seite stärker betont. Welche positive Funktion Herder dem Dogma in seiner kulturellen Tradierungsleistung zumisst, wird aus diesen Schriften zu erheben sein. 117 Vgl. F. Wagner, Was ist Religion?, 55–58, sowie T. Zippert, FA 9, 1157 f., der Wagner in diesem Urteil folgt. Auch J. Baur, Religion pur, 195–215, zeigt, inwiefern Herders Erfahrungstheologie selbst auf Lehre hin tendiert. 118 F. Wagner, Was ist Religion?, 58. 119 Ebd. 120 H.-J. Birkner, Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff, 12.

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es auffallen, dass Herder zunächst gerade nicht inhaltlich, sondern strikt geltungstheoretisch argumentiert. Die oben angeführten Äußerungen zur Unterscheidung von Religion und Dogma liegen insofern kategorial auf einer Ebene, als dass Herder in seinem ersten Zugriff weder den Begriff der Religion noch den des Dogmas material füllt, sondern es ihm allein um deren Differenz im Geltungswert geht. Während die Lehrmeinungen alternative Stellungnahmen herausfordern und insofern immer Ausdruck von Zweifel und Problem sind, ist Religion – noch unter Absehung von sämtlichen inhaltlichen Konkretionen – ein Bewusstsein innerster Verpflichtung. Pointiert lässt sich der von Herder intendierte Sachverhalt so zusammenfassen: Die Differenz von Religion und Dogma ist für Herder keine Differenz des Inhalts, sondern eine Differenz im Geltungswert. Und genau an dieser Stelle seiner Argumentation unternimmt Herder eine μεταβασις εις αλλο γενος, wenn er vom Problem des Geltungswertes aus die Frage der inhaltlichen Differenz von Religion und Lehrmeinungen beantworten will. Denn prinzipiell stehen diesem geltungstheoretisch weiten Religionsbegriff alle inhaltlichen Bestimmungen offen, also sowohl die, die Herder als Lehrmeinungen kritisiert, wie auch die, die er für seinen eigenen Religionsbegriff faktisch in Anspruch nimmt. Dass in der Form, wie es Herder hier vornimmt, keine klare Abgrenzung von Religion und Lehrmeinung vorgenommen werden kann, sie vielmehr gerade unter geltungstheoretischem Aspekt zu verschwimmen drohen, machen Herders eigene Formulierungen deutlich. So kann er einmal den Übergang von Religion zu Lehrmeinung beschreiben, wenn etwa »durch hin und her geschobene Lehrmeinungen etwas, was mir Religion ist, wankend gemacht werden kann, höret es auf Religion zu sein; es wird Problem, Hypothese, [. . .] Lehrmeinung«121. Sind diese Ausführungen natürlich kritisch gegen den zersetzenden Einfluss von Lehrmeinungen auf Religion gemeint, so wird darin aber zugleich deutlich, wie die allein über den Geltungswert laufende Abgrenzung nicht zu halten ist. Ebenso kann aber auch Lehrmeinung zu Religion werden: »Meinung bleibt Meinung. Sobald sie mir Herz-ergreifende Wahrheit wird, höret sie auf Meinung eines andern zu sein; sie wird durch Überzeugung, mithin durch eigene Kraft, mir Religion, Herz und Gewissen bindend«122 . Es ist deutlich, dass Herder sich in seinen Ausführungen zum Religionsbegriff sachlich auf die fides apprehensiva des lutherischen pro me bezieht, wie er dies etwa in Luthers Auslegung zum ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses finden konnte. Luther hatte dort auf die Frage, was es heiße, einen Gott zu haben, geantwortet: »Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trau121 122

FA 9/1, 735. AaO. 736; H. i. O.

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en und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott. [. . .] Denn die zwei gehören zuhaufe, Glauben und Gott. Worauf Du nu [. . .] Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott«123. Während aber Luther die fides qua creditur strikt auf die fides quae creditur bezogen sein lässt, wird die Verhältnisbestimmung dieser beiden Größen bei Herder durch die abstrakte Entgegensetzung von Religion und Lehrmeinung fraglich. Die fides qua wird zur Norm der fides quae, ohne dass klar wird, warum die einen inhaltlichen Bestimmungen eine höhere religiöse Affinität als die anderen haben sollen. Diese systematische Unausgeglichenheit ist für Herders Christologie zu beachten und fruchtbar zu machen. Denn sie bedeutet in ihrer Konsequenz, dass Herder entgegen seiner eigenen Beteuerung, nur den unmittelbaren Gemütsglauben zu reproduzieren und nicht spekulieren zu wollen, doch tatsächlich unter der Hand seine Lehrmeinung über die Person Jesu, mithin seine Christologie kommuniziert. Dass er dies im Rekurs auf die Auslegung der neutestamentlichen Schriften tut, steht einem lutherischen Theologen gut an.

3.3 Anknüpfung an die Logoschristologie Herders Christentumskonzeption vollzieht sich ausgehend von den Schriften des Neuen Testaments als Exegese. Dementsprechend verwendet er wie schon in seinen Deutungen des Alten Testaments einen großen Teil seiner Argumentation darauf, die religions-, sozial-, und ideengeschichtlichen Hintergründe der Zeit Jesu aufzudecken. Die Verkündigung Jesu wie die der ersten Christen rücken für Herder so unter eine historisierende Perspektive. Das ist für Herder keine Nebensächlichkeit. Wie er das Sich-selbst-Vorausgesetztsein des humanen Bewusstseins in seiner Spinozaschrift metaphysisch reflektiert, so tut er es in seinen exegetischen Schriften unter dem Paradigma der Geschichte. Die Struktur des Sich-selbst-Vorausgesetztseins qualifiziert das Menschsein wesentlich als ein religiöses. Diesem Gedanken folgend ist ihm Exegese nie bloße Exegese im Sinne eines musealen Interesses, sondern sie steht in der Funktion, den geschichtlichen Grund des Glaubens in seiner Valenz für die Gegenwart durchsichtig zu machen. So macht Herder gleich zu Beginn seiner Weimarer Auslegung des Johannesevangeliums Von Gottes Sohn, der Welt Heiland - der dritten Sammlung der Christlichen Schriften von 1797 – die Gegenwartsrelevanz seiner Interpretation deutlich: »Welche schöne Lichtgestalt aus den Trümmern Palästinas wird uns in ihm hervor-

123

BSLK 560. Vgl. zur Auslegung G. Ebeling, »Was heißt einen Gott haben oder was ist Gott?«, 287–304.

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gehn! Keine verlebte, fremde Gestalt; sie ist uns innig nah, wirkend in aller Menschen Herzen, in aller Menschen Seelen«124 . Es ist eine Lichtgestalt, die den Sinn der Geschichte wie die Bestimmung des Menschen erhellt; eine Lichtgestalt, von der gilt: »Ιδου μαγοι αο ανατολων αρεγενοντο και ανοιξαντες τους θησαυρους αυτων ροσηνεγκαν δωρα«125 . Die Magier aus dem Morgenland bringen dem lux ex oriente ihre Schätze dar. Erst unter diesem Licht aus dem Osten, so Herders Überzeugung, wird das Fragmentarische und Undurchsichtige der Geschichte des Menschengeschlechts aus einer höheren Perspektive in seiner Einheit und Ganzheit sichtbar. In diesem Sinne schrieb er 1774, während er an seiner Ältesten Urkunde arbeitete, an Lavater, dass Religion und Christus der »Schlüßel«126 zur Geschichte und damit auch zum Menschen sein sollen. Das lux ex oriente ist Christus, der den Grundstein wie Schlussstein der Bestimmung des Menschengeschlechts darstellt. Christus ist der Schlüssel, der den bisher nur verborgen wirksamen Sinn der Geschichte sichtbar aufschließt. Wenn Herder die nur in dem Evangelium nach Matthäus erwähnten Magier aus dem Morgenland, die dem Licht der Welt ihre Schätze darbringen, als Motto vor seine Johannesinterpretation setzt, so rekurriert Herder damit auf Pico della Mirandolas Bestimmung der Magie als der göttlichen Weisheit.127 Die μαγοι αο ανατολων beten in Christus den Grund und das Ziel ihrer Weisheit an. Der in der Weisheit der Welt verborgen wirksame λογος wird in Christus sichtbar. Der Christologie muss in diesem Sinne eine wesentlich bedeutendere Rolle im Denken Herders zukommen als bisher von der Forschung herausgearbeitet worden ist. Treffend formuliert Jörg Frey: »Die Einheit der Universalgeschichte und die Bestimmung des Menschengeschlechts wird also nicht am Anfang – in der Urgeschichte – und auch nicht am Ende – in der apokalyptischen Zukunft – erkennbar, sondern in ihrer Mitte, im Auftreten und Wirken Jesu Christi«128 . Mit seiner Christologie schließt Herder eine Lücke, die sein Ursprungsdenken bisher offen gelassen hat, nämlich wie die Menschheit aktiv am Bildungsprozess zur Humanität beteiligt werden kann. Das Ursprungsdenken ist zwar – wie ich dargelegt habe – in sich teleologisch ausgerichtet, aber das Telos selbst bleibt im Dunkeln und kann nur in einer unendlichen Annäherung intendiert werden. Durch das Pendel des Gesetzes der 124

SWS 19, 256. So das aus Mt 2,1 und 2,11 zusammengesetzte Motto zu den Erläuterungen zum Neuen Testament, SWS 7, 335. 126 DA III 8737. 127 Vgl. Pico della Mirandola, De hominis dignitate, 59–65. 128 J. Frey, Herder und die Evangelien, 51. Frey konzentriert sich dann aber auf die historisch-kritische Bedeutung Herders und reflektiert weniger die systematische Begründung und Reichweite dieser These. J. A. Steiger, Von Riga nach Weimar, 323 f., sieht Herder seit 1773 auf dem Weg zu einer Prototyp-Christologie. 125

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Wiedervergeltung wird das Individuum wie die Menschheit auf das in ihr liegende Telos mehr hingestoßen als hingeführt. Tendenziell droht die Fokussierung auf die Frage nach dem Ursprung auf eine »Erziehung ohne Erzogene«129 zu führen. Erst dort, wo das Ziel der Bildung zur Humanität geschichtlich erscheint, kann es zum Gegenstand einer im eigentlichen Verstande des Wortes Selbstbildung werden. Indem in Christus das Urbild und der Konstitutionsgrund der Bestimmung des Menschen erscheint, kann er zum Vorbild in der Ausbildung des Menschseins werden. Die christologische Konzeption, die Herder damit anvisiert, steht in der Tradition der alexandrinischen Logoschristologie. Wenn diese auch nicht das Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung seines publizistischen Schaffens bezeichnet, so ist sie m. E. doch der Knoten, der sein Werk zusammenhält und als Einheit überhaupt verständlich werden lässt. Die universalgeschichtliche Perspektive seiner geschichtsphilosophischen und alttestamentlichen Schriften findet erst von seinen neutestamentlichen Schriften her ihr Telos. Herder entwirft seine Christologie parallel zu seinem frühen geschichtsphilosophischen Pamphlet und behält sie in ihren Grundzügen bis in seine Christlichen Schriften bei. Herder formuliert seine grundsätzliche Würdigung der alexandrinischen Theologie in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit im 17. Buch. Vorbereitet durch das hellenistische Judentum, wobei insbesondere an Philo von Alexandrien zu denken ist, kommt der Geist der »neuplatonische[n] Philosophie«130 auch in das Christentum hinein: »Schon in den Schriften Johannes und Paulus werden platonische Ideen dem Christentum assimilieret; die ältesten Kirchenväter [. . .] konnten der allgemein-angenommenen Vorstellungsarten nicht entbehren, und einige derselben finden z. B. ihren Logos längst vor dem Christentum in allen Seelen der Weisen. Vielleicht wäre es kein Unglück gewesen, wenn das System des Christentums geblieben wäre, was es nach den Vorstellungen eines Justinus, Clemens von Alexandrien und anderer sein sollte, eine freie Philosophie, die Tugend und Wahrheitliebe zu keiner Zeit, unter keinem Volk verdammte, und von den einengenden Wortformeln, die späterhin als Gesetze galten, noch gar nichts wußte. Gewiß sind die früheren Kirchenväter, die in Alexandrien gebildet wurden, nicht die schlechtsten; der einzige Origenes hat mehr getan, als zehntausend Bischöfe und Patriarchen«131.

Die Logoslehre ist für Herder solange das angemessene Paradigma der Christologie, insoweit in ihr die herausgehobene Gegenwart Gottes in der Person 129 So die treffende Formulierung von M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, 84, der allerdings insgesamt das teleologische Moment in Herders Geschichtsphilosophie unterschätzt. 130 FA 6, 734. 131 Ebd.

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Jesu thematisch wird. In dem Moment jedoch, wo diese Gegenwart in den trinitarischen Streitigkeiten begrifflichen Distinktionen unterworfen wird, die ihrerseits zu Glaubenssätzen erhoben werden, werden die platonischen Ideen zu einer »verderbliche[n] Schule«132 , die der Same zu allerlei Verketzerungen und Spaltungen geworden sind. Die reine Form einer der Einfachheit des Evangeliums Jesu entsprechenden Logoschristologie, die ohne Hintergrundspekulationen auskommt, sieht Herder im Johannesevangelium realisiert.133 Diese in den Ideen niedergelegte positive Würdigung geht auf seine Auseinandersetzung mit dem Johannesevangelium und der Logoschristologie in den 70er Jahren zurück. Hier ist vor allem an die Erläuterungen zum Neuen Testament von 1775 zu denken sowie an die unveröffentlichte Vorarbeit dazu, seinem sog. Johannes-Fragment von 1773/74.134 Bereits diese frühen Johannesauslegungen gehen für Herder über die rein exegetische Fragestellung hinaus. Genauer: die Exegese steht in der Funktion Verstehenshindernisse auszuräumen, um gerade so eine gegenwartserschließende Interpretation zu ermöglichen. Gegenwartserschließend insofern, als Herder die universale und zeitenübergreifende Bedeutung der Person Jesu aufzeigen will. Sachlich knüpft Herder mit diesen beiden Schriften an seine gegen Spalding gerichteten Provinzialblätter an. Dem Prediger als Sittenwächter setzt er sein »Lehrer- und Predigerideal entgegen: die vollkommensten Typen sind ihm Paulus und Johannes«135 . Parallel zu diesen Schriften entstehen in den Jahren 1773– 1775 Homilien über das Leben Jesu. Herder ist in dieser Zeit seines Schaffens stark um eine Klärung der Bedeutung der Person Jesu bemüht. 3.3.1 Der frühe logoschristologische Ansatz In dem unveröffentlichten Johannes-Fragment setzt Herder sich mit der historisch-kritischen Forschung seiner Zeit auseinander. Gegen die rationalistische Kritik will er – wie er es in Bezug auf die alttestamentlichen Schriften schon getan hat – den Sinn des Johannesevangeliums aus dessen historischem 132

AaO. 735. Ob Herders Lösung tatsächlich so ›einfach‹ ist, wie er selbst suggeriert, kann berechtigt angefragt werden. Denn schon die von ihm selbst aufgehellten religionsgeschichtlichen Zusammenhänge weisen auf eine komplexe Theorielage. Ebenso ist zu fragen, ob Herders eigene Deutung wirklich viel weniger spekulativ ist, als die von ihm pejorativ beurteilte trinitätstheologische Konzeption. Tatsächlich reflektiert Herder m. E. unter dem logoschristologischen Monismus genau jene Probleme, die die Trinitätslehre auch bedenken will. 134 Das Johannes-Fragment ist SWS 7, 313–334, abgedruckt und die Erläuterungen SWS 7, 335–470. 135 B. Suphan, SWS 7, XIX. 133

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Kontext rekonstruieren. Herder wehrt sich vor allem gegen die auf Irenäus zurückgehende Interpretation, die im Johannesevangelium nur eine polemische Kampfschrift gegen Kerinth oder andere gnostische Irrlehrer sehen will: »Der einfältige Liebesjünger an der Brust Jesu ward, was Er nun wohl am wenigsten ist und seyn wollte, Wiederleger! Ketzerhäscher! strenger Disputator mit Mantel und Kragen«136 . Mit solch einer Interpretation werde die Weite und Höhe des Geistes des Johannesevangeliums unterschätzt. Herder denkt hier primär an die Auslegung des Johannesevangeliums in Johann Salomo Semlers Paraphrasis Evangelii Iohannis, die er bereits 1772 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen rezensiert hatte.137 Ebenso wenig darf die Norm des klassischen Griechisch an das Johannesevangelium angelegt werden. Der Weg zum richtigen Verständnis der von Johannes verwendeten Sprache und Bilder führt vielmehr – so Herders weitblickende religionsgeschichtliche These – über den 1771 von Anquetil-Duperron entdeckten und übersetzten ZendAvesta.138 Das Programm, das im Johannes-Fragment von Herder so erstmals formuliert ist, Johannes aus dem Geist des morgenländischen Denkens zu verstehen, das wesentlich durch den Einfluss der persischen Religion geprägt sei, wird dann in seinen Erläuterungen zum Neuen Testament durchgeführt. Seine grundlegende These lautet, dass Johannes bei der Abfassung seines Evangeliums die seiner Zeit höchste und würdigste Ausdrucksform wählte. Dabei handle es sich um einen Ausdruck, der aus der Inkulturation von persischem und griechischem Geist erwachsen sei. Der religionsgeschichtlichen These muss hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden.139 Für unseren Zusammenhang ist es nur entscheidend zu sehen, dass für Herder die religionsgeschichtliche Einordnung der Christologie des Johannesevangeliums keinesfalls zu ihrer Relativierung führt. In den tradierten sprachlichen Zeichen, so Herders These, transportiert sich vielmehr ein neuer geistlicher Gehalt. Die alte persische Philosophie wird zum »Vehikulum [des] neuen Evangeliums«140 . Was in dieser Weise für jede neue Idee gilt, ist in eminenter Weise für die Deutung der Person Jesu zu beanspruchen: »Wenn jede ungewöhnliche, einzige, neue Begebenheit auch auf neue einzige Art die Seele wecket, ihr [eine] neue Sprache aus alten Worten uns Sylben in den Mund gibt und sie macht zur Verkünderin nur der und keiner andre[n] Stimme der Welt – wie mehr das Evangelium Jesu! seine Geschichte! [seine] Lehre! [seine] Thaten! das ganze Geheimniß

136 137 138 139 140

SWS 7, 316. Vgl. J. Frey, Herder und die Evangelien, 54–56. A. Anquetil-Duperron, Zend-Avesta, Ouvrage de Zoroastre, Paris 1771. Vgl. hierzu J. Frey, Herder und die Evangelien, 56–59. SWS 7, 320

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seines Reichs! [. . .] Machet Johannes so wenig zum Knechte Zoroasters als Philo und Plato«141.

Herders These reicht aber noch weiter als er sie hier in dem Johannes-Fragment formuliert. Es geht ihm nicht nur um eine Nichtrelativierung der Christologie des Johannesevangeliums durch die Religionsgeschichte, sondern die Religionsgeschichte wird von Herder als auf Christus zulaufend und in ihm kulminierend verstanden, wie er in den Erläuterungen zum Neuen Testament ausführt: »Wunderbar, wenn man dem entwickelnden Gange der Vorsehung nachdenket! Dachte Chaldäa daran, daß es mit seinem Leimgeräth von Sprache einem künftigen Gesandten Gottes, dem Sohn des Himmels, Gefäße bildete, die dieser mit Geist durchgießen und wie einst bei der Schöpfung sich aus Chaos und Unrath eine lichte Gotteswelt bilden würde?«142

Was sich hier nur andeutet, wird von Herder weiter ausgeführt. Der Logos, der in der ganzen Welt und in allen Religionen tätig ist, inkarniert sich in Christus und schließt so den Sinn der Geschichte der Menschheit auf. Die von den Herder-Interpreten immer wieder beobachtete Spannung in Herders Denken von der Gleichwertigkeit aller Kulturen einerseits und Höchstgeltung des Christentums andererseits findet in der Logoschristologie ihre Begründung und zugleich ihre Aufhebung. Weil und insofern alle Kulturen abgeschattete Formen des Logos in sich tragen, hat jede derselben ihren unaufhebbaren Wert in sich. Zugleich gilt aber auch: weil und insofern dieser universale Logos in Christus in die Geschichte eintritt, ist in ihm Urbild und Ziel der Menschheit in Reinform verkörpert. Christus allein ist die vollkommene Humanität. Die Gleichwertigkeit aller Kulturen findet in dem Logos ihren Grund, dessen Erscheinung in der Person Jesu zugleich ein für alle Mal überboten und auf ihr Telos ausgerichtet wird. Dementsprechend ist über die Bestimmung des Menschengeschlechts nur von der geschichtlichen Erscheinung Christi her Aufschluss zu erlangen. In einer weiteren Differenz zu einem Konzept der Bestimmung des Menschen in der Folge von Boethius und Spalding wendet sich Herder damit gegen alle »Trostphilosophien [. . .], die die ewige Bestimmung des Menschen in gerader Linie aus sich ziehen und weben«143 . Hatte ich eingangs gezeigt, dass und inwiefern der Mensch der Mittelpunkt der Schöpfung ist144 , so wird von seinen explizit theologischen Schriften aus deutlich, dass für Herder die Mitte der Mitte, in und durch dessen Bild alles geschaffen wurde, Christus ist: »Jesus ist 141 142 143 144

AaO. 318. AaO. 354. AaO. 371. Vgl. Kap. I 3.

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der Mittelpunkt und Eckstein des Ganzen, das Mittelglied der Berechnung, in ihm ist Adam geschaffen: von ihm wird der letzte Mensch gerichtet: an ihm geht das Geschlecht seiner Brüder zu Gott«145 . Mit der Formulierung des frühen Johannes-Fragmentes: Christus ist als das Schöpfungswort Gottes »Ektypus« und »Prototypus«146 zugleich. Indem Herder auf diese Weise alle Vernunft logoschristologisch fundiert denkt, müssen für ihn in letzter Konsequenz Offenbarung und Vernunft koinzidieren bzw. letztere muss in ersterer aufgehoben werden. Die Vernunft in der Schöpfung muss letztlich in ihren Ursprung zurück finden: »Ist die Philosophie, was sie seyn soll: so wird sie ihren Ursprung, ihre Kraft und Schranken erkennen und sich in die Offenbarung, d. i. in den Aufschluß von Bildung des Menschengeschlechts, der auch sie gebildet, verlieren«147. Die systematische Bedeutung und Reichweite von Herders früher Anknüpfung an das logoschristologische Konzept des Johannesevangeliums ist m. E. kaum zu überschätzen. Ihr kommt nach Herder nicht allein innerhalb des neutestamentlichen Schrifttums eine herausgehobene Stellung zu, sondern Herder findet in ihr den Schlüssel zur individualgeschichtlichen Bestimmung des einzelnen Menschen wie zur universalgeschichtlichen Bestimmung des ganzen Menschengeschlechts. In diesem dezidierten Sinne bezeichnet die Christologie die Mitte in Herders Schaffen. Die gesamte Schöpfung wie der Mensch im Besonderen sind christomorph geschaffen. Diese Christusnatur ist die geheime Voraussetzung wie der Fluchtpunkt der bildungs- und bestimmungstheoretischen Überlegungen von Herders Geschichtsphilosophie wie Anthropologie. Herder behält diesen für ihn zentralen Gedanken bis in sein Spätwerk bei. Die Christlichen Schriften knüpfen nahtlos an diese frühe Konzeption an. Unter dem Eindruck der gedanklichen Schärfe seiner Spinozalektüre reflektiert Herder das Verhältnis von Metaphysik und Geschichte weiter, das seiner Logoschristologie zugrunde liegt. 3.3.2 Christologischer Monismus Der entscheidende gedankliche Fortschritt seiner Christlichen Schriften gegenüber seiner frühen Johannesinterpretation liegt m. E. darin, dass Herder bedingt durch seine Spinozainterpretation konsequent alle Rudimente eines Dualismus aus seinem Denken ausscheidet. Konnte er in seinen frühen Interpretationen noch Materie und Geist sowie die Metaphorik des Johannesevan145 146 147

SWS 7, 371. AaO. 322. AaO. 371.

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geliums aufnehmend das Reich des Lichts und das Reich der Finsternis einander unvermittelt entgegenstellen148 , fehlen solche Entgegensetzungen in seinem Spätwerk völlig. In einer Welt, die durch den allein graduellen Unterschied von Natur und Geist qua der Steigerung der Komplexität von Kraftzentren bestimmt ist, ist einer dualistischen Wirklichkeitskonzeption der Boden entzogen. Das Böse wird in Anschluss an Augustinus nur noch als durchaus überwindbare privatio boni begriffen.149 Wie gesehen wirft er nun gerade umgekehrt Kant vor, dass dieser dem gnostischen Dualismus mit seiner Lehre vom radikalen Bösen zu neuen Ehren verhelfe. Der sachliche Anspruch, den Herder mit seiner Synthese von Johannes und Spinoza verfolgt, führt zum Kern seiner Humanitätskonzeption: Letztlich zielt diese auf eine Kultursynthese, die derjenigen der altkirchlichen Apologeten in nichts nachsteht.150 Er knüpft mit Spinoza an die konziseste vorkantische Fassung des Gottesbegriffs an und wendet sie ins Christliche. Der spinozanische Gottesbegriff als weltdurchwaltender Geist, in dem sich zugleich der Natur- wie der Kulturbegriff vermitteln, wird im Ausgang vom Johannesevangelium logoschristologisch umgedeutet. Wie die Apologeten den stoischen Weltlogos in Christus inkarniert sahen, so deutet Herder Spinozas Monismus in einen christologischen Monismus um. Herders Deutung von »Spinoza als Johannes redivivus«151 zielt somit darauf, die vermeintlich atheistische geistphilosophische Natur- und Kulturtheorie spinozanischer Provenienz in eine christentumstheoretische Perspektive zu integrieren und damit gleichzeitig zu überbieten. Der Ort, an dem er diese Synthese produktiv verarbeitet, ist in seinem Spätwerk die dritte Sammlung der Christlichen Schriften von 1797 Von Gottes Sohn, der Welt Heiland. Nach Johannes Evangelium.152 Für die Interpretation von Herders logoschristologischer Jesusdeutung ist es entscheidend zu sehen, dass er sie als Auslegung des Johannesevangeliums vollzieht. Die Geschichte der Person Jesu soll ihn als den inkarnierten Logos erweisen, d. h. in seiner 148

Vgl. aaO. 318 und 377. Vgl. SWS 19, 371–374. 150 Vgl. zu der Logoschristologie der Apologeten W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 160–168, E. Mühlenberg, Epochen, 23–70, C. Andresen und A. M. Ritter, Die Anfänge christlicher Lehrentwicklung, 44–56, sowie besonders zu Clemens von Alexandrien und Origenes H. Ziebritzki, Heiliger Geist und Weltseele, 93– 129 und 192–259. 151 F. W. Kantzenbach, »Selbstheit« bei Herder, 16. Zur kritischen Diskussion des Konzepts eines christlichen Monismus vgl. M. Theunissen, Philosophischer Monismus und christliche Theologie, 397–408. 152 Angesichts der zentralen Bedeutung für Herders logoschristologischen Ansatz ist es umso bedauerlicher, dass diese Schrift nicht in die kommentierte Frankfurter Ausgabe aufgenommen wurde. 149

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metaphysischen Bedeutsamkeit. Damit stellt sich die Frage nach Herders Hermeneutik. Vier ineinander verschränkte Perspektiven, unter denen er das Johannesevangelium liest, lassen sich unterscheiden. Die erste Perspektive, die ihn in der Rezeptionsgeschichte zum Vater des Historismus gemacht hat, ist die historisch-kritische. Mit ihr knüpft er – bei aller von ihm betonten Differenz – an die Ergebnisse der neologischen Bibelkritik an, die mit den Namen Michaelis, Ernesti und Semler verbunden ist. Das historische Verstehen der biblischen Schriften allein würde jedoch nicht zu ihrer gegenwartserschließenden Bedeutung vordringen. An dieser Stelle bleibt Herder auf dem Standpunkt Lessings: »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden«153 . Diesen Graben zu überwinden, dienen die drei anderen hermeneutischen Perspektiven: die ethische, die psychologische und die ästhetische Interpretation. Die ethische Interpretation zielt auf den moralischen Gehalt der biblischen Schriften, der zu einer sittlichen Auferbauung führen soll. Die ethisch-sittliche Natur des Menschen wird gegenwärtig durch das historisch vermittelte Ur- und Vorbild Jesu angeregt. Die psychologische Interpretation bezieht sich auf die dunklen und besonders starke Empfindungen evozierenden Gehalte vornehmlich der Religion des Alten Testaments. Durch Herders synoptisches Lesen von Genesis 1 und Johannes 1 nimmt aber auch die Interpretation des Johannesevangeliums an dieser psychologischen Deutung teil. Die letzte und für die Interpretation des Johannesevangeliums entscheidende hermeneutische Perspektive ist die ästhetische. Die universelle Bedeutung der geschichtlichen Person Jesu erschließt sich dem individuellen ästhetischen Erlebnis. In der Anschauung des Lebens Jesu geht dem Lesenden die universelle Wahrheit auf. Diese hermeneutische Vergegenwärtigung der Bedeutung der Person Jesu bei Herder läuft vor dem Hintergrund eines impliziten Gesprächs mit den Positionen von Reimarus, Lessing und Kant. a) Auferstehung als Interpretament von Erfahrung – das Gespräch mit Reimarus Der in Hamburg lebende Orientalist und Anhänger der Wolffischen Philosophie Hermann Samuel Reimarus hatte im Geheimen eine Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes abgefasst. Nach seinem Tod 1768 kam das Manuskript durch dessen Kinder in die Hände von Lessing, der es unter dem Titel Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten ab 1774 stückweise herausgab, woran sich der sog. Fragmentenstreit entzün153

G. E. Lessing, Beweis des Geistes und der Kraft, 352. Ich werde unten zeigen, inwiefern Herder diesen Gedanken gegenüber Lessing modifi ziert; vgl. Kap. IV 3.3.2 b).

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dete.154 Die eigentliche Wucht der radikalen Kritik, die Reimarus an dem kirchlichen Glauben formuliert, resultiert nicht allein aus seiner philosophischen Desavouierung eines wie auch immer gearteten Offenbarungsglaubens, sondern vielmehr aus der grundlegenden historischen Bibelkritik, mit der er insbesondere die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Zeugnisse in Frage stellt. Hermeneutischer Schlüssel zu dieser Problematisierung ist Reimarus die Entdeckung und Entgegensetzung zweier Systeme: Ursprünglich hätten die Jünger wie Jesus selbst eine politisch-weltliche Erlösung Israels erwartet. Erst das Scheitern Jesu am Kreuz habe zu einer grundlegenden Neuorientierung geführt: »Das vorige System der Apostel, Jesus sey zur zeitlichen Erlösung des Volks Israel, und zur Aufrichtung einer neuen Theokratie gesandt, war in der That das wahre System ihres Meisters. Da es aber übel ausfiel: so ist das neue System der Apostel aus Noht, wegen ihrer fehlgeschlagenen Hofnung, von ihnen ertichtet worden«155 .

Diese weitreichende These wird von Reimarus im Folgenden anhand der neutestamentlichen Zeugnisse und insbesondere ihrer Widersprüche scharfsinnig belegt. Bereits im zweiten Teil der ersten Sammlung der Christlichen Schriften – überschrieben mit Von der Auferstehung als Glauben, Geschichte und Lehre – spielt Herder auf den Fragmentenstreit an. Er wolle, »nachdem der vor einigen Jahren über diese Geschichte und Geschichterzählung heftiggeführte Streit vorübergegangen, dem Publikum eine Meinung nicht entziehen mögen, die, wie mich dünkt, einiger Aufmerksamkeit werth ist«156 . Sein Ziel ist es, die Auferstehungsgeschichte als »historischen Glauben im Zusammenhange seiner Ursachen und Wirkungen, ganz [. . .] ins Licht zu setzen«157. Das Kompositum ›historischer Glaube‹ macht dabei von vornherein die Spannung deutlich, in der Herder die Auferstehung denken will. Mit der Betonung des Historischen will Herder gegen die Betrugshypothese des Reimarus den geschichtlichen Grund des Auferstehungsglaubens festhalten. Für Herder ist die Kritik von Reimarus deshalb so ernst zu nehmen, weil sie ein Angriff auf den geschichtlichen Grund des Glaubens ist.158 Gleichzeitig ist die Auferstehung Jesu für Herder nicht in einem schlichten Sinne historische Tatsache, sondern eben vielmehr ›Glauben‹ und d. h. für Herder überhistorisch. Das Verhältnis vom Historischen zum Überhistorischen ist für Herder nicht allein das Thema des Auferstehungsglaubens, sondern seiner Christologie überhaupt. Oder 154

Vgl. zum Fragmentenstreit E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, 121–165. 155 H. S. Reimarus, Apologie, 180. 156 SWS 19, 60. 157 AaO. 61. 158 Vgl. T. Zippert, FA 9/1, 1101–1110.

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wie oben in seiner Rezeption der spinozanischen Philosophie formuliert: es geht ihm darum, wie Transzendenz in der Immanenz zu denken ist, jetzt unter christologischem Fokus, von wo aus auch der Gottesbegriff seiner Spinozaschrift noch einmal in einem anderen Licht erscheint. Der durch die Veröffentlichung der Fragmente evozierte Streit hat nach Herders Dafürhalten zu einem grundlegenden Glaubwürdigkeitsverlust der Auferstehungsgeschichte geführt, der zwischen Gleichgültigkeit und aggressiver Bestreitung derselben schwebt: »Irre ich nicht, so haben Viele, selbst der alten guten Christen, diese Geschichte stillschweigend aufgegeben; andre, die neueren Christen, scheuen sich nicht, die Apostel Betrüger zu einem guten Endzweck zu nennen und das Christenthum auf einen verabredeten aber nützlichen Betrug zu gründen«159.

Ist die Argumentation von Reimarus über weite Strecken durch die Infragestellung der Glaubwürdigkeit der Apostel getragen, so geht Herders erstes Interesse dahin, diese Glaubwürdigkeit wieder herzustellen. Herder unternimmt es, die von Reimarus beobachteten Spannungen und Widersprüche psychologisch aus der Situation der Apostel plausibel zu machen. Genau darauf zielt sein Vorgehen, wenn er betont, »blos von der Sache, als Sache, von der Geschichte, als Geschichte zu sprechen; weßhalb ich auch alles Wunderbare dabei ganz vergesse«160 . Von dem Auferstehungsglauben als Geschichte zu sprechen, heißt für Herder aufzuzeigen, dass die Jünger selbst von der Auferstehung Jesu überzeugt waren und eben keine vorsätzlichen Betrüger gewesen sind. Anders lässt sich nach Herder schon die erste Ausbreitung des Christentums durch die Apostel unter Verfolgung und Bedrückung nicht plausibel verstehen. Es sei historisch unwahrscheinlich, dass sich die Jünger um ihren Betrug wissend dafür umbringen lassen. Auf einem verabredeten Betrug könne keine Religion entstehen. Ebenso sind die Spannungen zwischen den Berichten in den Evangelien für Herder eher ein Erweis ihrer Glaubwürdigkeit. Das außerordentliche Erlebnis der Jünger, dass ihr Herr wieder bei ihnen ist, musste verschiedene Ausdrücke bekommen. Eine einheitliche Erzählung wäre ein weitaus größeres Indiz für einen verabredeten Betrug. Was für Reimarus in zwei Systeme auseinander fällt, wird von Herder in einer traditionsgeschichtlichen Linie in einer Kontinuität gedacht, die die Umdeutung der Messiastradition psychologisch plausibel macht. Es gibt für Herder einen geschichtlichen Zusammenhang, der seine Einheit in der Deutungsgeschichte der Messiastradition hat, mit dem Umschlagpunkt von Kreuz und Auferstehung:

159 160

SWS 19, 79. AaO. 80.

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»Daß in diesem System sowohl die Briefe der Apostel als die Evangelien geschrieben sind, leidet keinen Zweifel: denn alle wurden geschrieben, da die Tage der Entwicklung längst vorübergegangen waren und das Christenthum sich in mehreren Ländern eben nach diesem System gegründet fand«161.

Damit macht Herder gegenüber Reimarus einen weiteren wichtigen Tatbestand geltend. Die Evangelien sind nicht als objektive Berichte zu verstehen, sondern sind wesentlich Ausdruck des Glaubens und wollen Glauben wecken: »Alle Evangelien, keines ausgenommen, sind geschrieben, daß ihr gläubet, Jesus sei Christ, der Sohn Gottes«162 . Das ist die »Regel des Glaubens«163 , nach der alle Evangelien verfasst sind. Das Christentum ist in diesem Sinne nach Herder von seinen geschichtlichen Anfängen an »κηρυγμα ευαγγελιου«164 . Sind die Evangelien für Herder also wesentlich Glaubenszeugnisse, so verweisen sie als solche auf ihren historischen Grund der Auferstehung Jesu. Herder lässt keinen Zweifel daran, dass er gegen Reimarus an die Tatsächlichkeit des Erlebnisses glaubt, das die Jünger mit dem Interpretament der Auferstehung Jesu belegt haben. Die Geschichte des frühen Christentums wie die sich in den Erzählungen widerspiegelnde psychologische Verfasstheit der Jünger von Trauer über Verwirrung bis hin zur Freude lassen es Herder glaubwürdig erscheinen, dass die Jünger Jesu die Auferstehung ihres Herrn erlebt hatten. Für Herder besteht auch kein Zweifel daran, dass es sich nach den Evangelien dabei um ein Erlebnis gehandelt habe, das als leibliche Auferstehung erfahren wurde.165 Wie aber diese leibliche Auferstehung zu denken ist, ist damit nach Herder keinesfalls ausgemacht und kann auch aufgrund der Quellenlage nicht mehr genau eruiert werden. Herder kritisiert in zwei einander völlig entgegenstehenden Richtungen die Vorstellung eines wieder zum Leben erweckten Leichnams. Mit Rekurs auf die paulinische Vorstellung eines geistigen Leibes in Anschluss an 1. Kor 15 und Thess 4 distanziert sich Herder zum einen von einem »Haut- und Fleischglauben«166 . In dem Überschritt zu einer pneumatischen Interpretation der Auferstehung durch das Christentum sieht Herder auch den eigentlichen religionsgeschichtlichen Fortschritt gegenüber dem Judentum. Dass die Auferstehung in einer leib-seelischen Einheit im Sinne des 161

AaO. 90. AaO. 114. 163 Ebd. In dieser Interpretation, wonach die Evangelien der regula fidei folgen, weiß Herder sich mit Lessing einig. Vgl. G. E. Lessing, Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage (1778), 548 f. 164 AaO. 112. Vgl. in diesem Sinne bereits die zweite Sammlung der Christlichen Schriften: Vom Erlöser der Menschen, FA 9/1, 671. 165 Vgl. SWS 19, 83. 166 AaO. 108. 162

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paulinischen soma pneumatikon gedacht werden muss, ist für Herder eine Wahrheit des christlichen Glaubens, die sich gegen den cartesischen Dualismus auch anthropologisch bewährt.167 Zum anderen formuliert er aus dem Geiste rationalistischer Wunderkritik einen hypothetischen Einwand gegen seine Ausführungen: »Gesetzt, wird man sagen, du hättest die Apostel vom Vorwurf eines wissentlichen Betruges gerettet, [. . .] von einem zweiten Vorwurf, daß sie unschuldige Enthusiasten waren, hast du sie damit nicht befreien mögen. Sie hielten für ein Wunder, was vielleicht kein Wunder war; sie glaubten, daß diese Auferweckung durch Allmacht Gottes bewirkt worden, da sie vielleicht eine natürliche Wiederauflebung unter den reichen Gerüchen Nikodemus gewesen«168 .

Damit spielt Herder auf die sog. Scheintodthese an. Er antwortet auf diesen Einwand mit einem gestuften Argument. In einem ersten Schritt würdigt er die sich daraus ergebende Perspektive, dass damit nicht allein die Jünger dem Vorwurf eines vorsätzlichen Betruges entzogen werden, sondern dass mit solch einer Interpretation auch das Ereignis selbst nicht mehr als Durchbruch der Naturkausalität169 betrachtet werden müsse: »Wäre die Wiederauflebung Christi auch blos als eine Naturbegebenheit gerettet: so wäre dies für die Geschichte des Christenthums nicht unbeträchtlich: denn diese träte damit wenigstens in das Licht eines natürlichen Zusammenhanges«170 . Diese in kritischer Absicht vorgetragene Deutung der Auferstehung kehrt Herder also gegen ihre eigene Intention, insofern diese Deutung wenigstens von dem historischen Faktum ausgehe, dass die Jünger eine Begegnung mit ihrem Herrn hatten, die diese als Auferstehung interpretierten. Wenn Herder diese Deutung stark macht, dann geht es ihm aber nicht um die rationalistische Rettung der Auferstehung. Ihm geht es vielmehr darum, dass in dieser Interpretation »das Factum als Geschichte gerettet«171 ist und kein vorsätzlicher Betrug am Anfang des Christentums steht. Allein auf die geschichtliche Faktizität des Erlebnisses, das die Jünger mit dem Interpretament der Auferstehung belegten, kommt es Herder an. Was diesem geschichtlichen Ereignis demgegenüber zugrunde lag, ist für Herder nicht mehr möglich, aber auch nicht nötig zu eruieren. Ohne sich letztlich auf eine Meinung festzulegen, deutet sich bei Herder in diesem Zusammenhang auch sein in der Auseinandersetzung mit Spinoza durchreflektierter monistischer Hintergrund an, bei dem nur schwerlich mit einer Durchbrechung der 167

Vgl. Kap. I. 3.3. Philosophiegeschichtlicher Hintergrund ist an dieser Stelle Herders Debatte mit Moses Mendelssohn um den Leib-Seele-Dualismus. 168 Vgl. SWS 19, 127. 169 Vgl. zu Herders Wunderkritik Kap. III 3.3.1. 170 SWS 19, 127. 171 AaO. 128.

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Naturkausalität zu rechnen ist, welche zudem den von Herder bestrittenen Dualismus zur Voraussetzung hätte. In diesem Sinne wendet sich Herder gegen einen Wunderbegriff, der als Durchbrechung der Naturkausalität verstanden werden müsse. Der neutestamentliche Sprachgebrauch weise demgegenüber ein viel weiteres Verständnis von Wundern im Sinne von göttlichen Zeichen auf: »das Wunderbare in dieser Geschichte ist im höchsten Sinne des Worts σημα, σημειον, τερας, ein Wunderzeichen, das Jedem in die Augen fällt, der die Umstände lieset, geschweige erlebet. Wunder, im Begriff der scholastischen Metaphysik, kennet die Zeit der Propheten, Christi und der Apostel nicht, so wie sie auch außer dem Kreise alles menschlichen Urtheils liegen«172 .

Wunder werden von Herder demnach nicht in einem ontologischen Sinne, sondern als spezifische Erlebnisqualitäten gedeutet, indem in einem endlichen Ereignis deren unendliche Verweisdimensionen aufleuchten. So kann Herder ganz im Geiste seiner monistischen Konzeption sagen, dass weder in Gottes »Naturreich« noch in seinem »physisch-moralischen Reiche« etwas »ohne seine Kraft und Allmacht«173 geschehe. Herders Stellungnahme in der durch den Fragmentenstreit heraufbeschworenen Diskussion um die Auferstehung ist vorsichtig. Weder will er dem mit einem Zweiweltenschnitt arbeitenden Supranaturalismus anheim fallen, noch will er das historische Faktum des Auferstehungserlebnisses als Ursprung des Christentums aufgeben. Seine angedeutete Lösung liegt auf der Linie des von ihm herausgearbeiteten Monismus des Geistes. Auferstehung ist demnach als das Interpretament zu begreifen, mit dem die Jünger die unverhoffte Begegnung mit dem im Tod vermeinten Jesus auf ihren Ewigkeitswert hin reflektieren. Die Auferstehung Jesu wäre demnach nach Herder ein Spezialfall der Erfahrung von Transzendenz in der Immanenz. Was dieser religiösen Grunderfahrung gegenüber bei der Auferstehung genau geschehen ist, ist für Herder sekundär. Die Wahrheit der Auferstehung Jesu liegt nach Herder nicht in ihren äußeren Umständen, sondern in der existentiellen Erfahrung der Jünger, dass der gekreuzigte und gestorbene Jesus der gegenwärtig lebendig wirkende Christus ist, der in einer geistigen Gemeinschaft mit ihnen steht: »Die Auferstehung Christi war eine Wiedergeburt der Apostel zu neuen Ideen und Hoffnungen, zu einer Wirksamkeit bis an ihr Lebensende«174 . Diese existentielle Wahrheit der Jünger erschließt sich nach Herder auch noch gegenwärtig in ihrer ästhetischen Evidenz: »Die Wiedererweckung des gestorbenen Christus hat, menschlich gefaßt, etwas so Erhabnes, Rührendes und Schönes, daß, 172 173 174

AaO. 128 f. AaO. 129. AaO. 131.

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wenn sie eine Fabel wäre, wie sie es nicht ist, man ihr Wahrheit der Geschichte wünschte«175 . Damit wird auch deutlich, wie Herder hier das Ineinander von Geschichte und Übergeschichtlichem denkt. Liegt ihm zunächst daran, das ›Dass‹ der Auferstehungserfahrung als geschichtliche Wahrheit plausibel zu machen, so transportiert sich die existentielle Wahrheit der darin beschlossenen zeitlosen Bedeutung der Person Jesu in der ästhetischen Evidenz der geschichtlichen Erzählung. Genau diese sich dem ästhetischen Erleben erschließende überhistorische Bedeutung der Person Jesu, die sich in dem historischen Ereignis der Auferstehung erschließt, qualifiziert den christlichen Glauben überhaupt erst als Glauben, d. h. »er ist Hoffnung und Zuversicht [. . .] des Unsichtbaren«176 und damit zugleich Transformation der Wirklichkeit. b) Geschichtlichkeit der Wahrheit – das Gespräch mit Lessing und Kant Herders Auseinandersetzung mit der Position des Reimarus ist zugleich auch schon ein Ringen mit der Position des von ihm verehrten Lessing.177 Denn so sehr Herder die Glaubwürdigkeit der Auferstehungsberichte gegen Reimarus retten will, ebenso sehr ist ihm auch das Argument Lessings präsent, dass damit gar nichts für die gegenwärtige Wahrheit des Christentums gewonnen ist. Lessing hatte in seiner Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1778) anders als Reimarus nicht die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Berichte über Wunder und Weissagungen bestritten, sondern nur die damit verbundene These, dass solche Berichte als Glaubensgrund hinreichend sind, denn so Lessings berühmte These: »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden«178 . Der »garstige breite Graben«179, der Kontingentes und Notwendiges trennt, ist für Lessing nicht zu überspringen. Die zeitlose Wahrheit des Christentums erblickt er nicht in den diese beglaubigenden Wundern, sondern in nichts anderem als in den Lehren des Christentums, die sich aus sich selbst erweisen müssen. Der Kulturanthropologe und Geschichtsphilosoph Herder kann dieser These nur bedingt zustimmen. Zwar teilt er – wie in seiner Kritik an Reimarus deutlich wurde – Lessings Auffassung, dass sich die Bedeutung Jesu dem gegenwärtigen Verstehen erschließen muss und es nicht hinreicht, diese aus historischen Fakten zu postulieren. Aber er geht über Lessing hinaus, wenn er 175

AaO. 124. AaO. 127. 177 Vgl. den 111. und 112. Brief der Briefe zu Beförderung der Humanität, FA 7, 605– 652, in denen Herder Lessing ein Denkmal setzt. 178 G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, 352. 179 AaO. 353. 176

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die konstitutive Bezogenheit von Vernunft auf Geschichte betont. So formuliert Herder im 26. Brief der Briefe, das Studium der Theologie betreffend: »Ich sehe, daß in der ganzen Welt Vernunft und Geschichte nicht nur zusammenhangen, sondern jene auch in einzelnen Tatsachen und gleichsam Erweckungen aus dieser hervorgegangen sei«180 . Damit kommt in Herders Denken der Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens gegenüber Lessings Deutung eine fundamentale Stellung zu. Die von Herder anthropologisch geltend gemachte Grundstruktur der Vernunft als vermittelte Selbstbestimmung181 ist so unmittelbar auch von religionstheoretischer Valenz. Alle Vernunft bildet sich nach Herder nur in und durch Tradition. Dasselbe gilt dementsprechend auch für die Wahrheit des Christentums. Zwar ist diese in sich evident, sie kann aber nur durch historischen Anlass gefunden, angeeignet und tradiert werden. Eine ungeschichtliche Wahrheit ist für Herder undenkbar. So betont er: »Geschichte kann nur durch Geschichte entwickelt werden«182 . Die geschichtliche Wirkung der Person Jesu mit ihrer seine gegenwärtige Bedeutung erschließenden Kraft kann nur durch die kirchliche Überlieferung in den Evangelien wach gehalten und immer wieder erneuert werden. In der zweiten Sammlung der Christlichen Schriften: Vom Erlöser der Menschen führt Herder die unhintergehbare Bedeutung der Überlieferung aus: »Unsern Evangelien wird also in jedem Wort und Charakterzuge Christi ihr bleibender Wert bleiben; [. . .] ohne welche wir die eigentliche Denkart des Erlösers, seine Absicht und die wahre Beschaffenheit seines Werkes in seinem Sinne nicht kennten« und von wo aus uns überhaupt »innere Überzeugung, Kraft und Wahrheit«183 zukommen. In diesem Sinne sieht Herder in den Evangelien »historische Erweisungen der Lehre: Jesus ist Christ der Sohn Gottes«184 , wie er in Von Gottes Sohn, der Welt Heiland festhält. Die Pointe liegt hier für Herder darin, dass diese historischen Erweisungen nicht den Charakter von ephemeren Beispielgeschichten haben, die zwar schön, aber gegenüber der Lehre letztlich sekundär sind, sondern dass die Lehre nur in und durch die Geschichte bestand haben kann. Die überhistorische Bedeutung der Person Jesu lässt sich nach Herder nicht durch eine Lehre demonstrieren, sondern nur durch die geschichtliche Anschauung des Lebens Jesu gewinnen.185 Damit wiederholt sich die für Herder herausgearbeitete metaphysische Struktur der Dialektik von Immanenz und Transzendenz auf dem Gebiet des Historischen. 180

FA 9/1, 393. Vgl. Kap. I 3.3.3. 182 FA 9/1, 399. 183 AaO. 718. 184 SWS 19, 305. 185 Zur Einordnung von Herders Deutung Jesu vgl. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 34–37. 181

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Das Überhistorische, die zeitlose Bedeutung der Person Jesu, kann sich nur in und durch das Historische hindurch erweisen. Jenseits der geschichtlichen Wahrheit tritt nach Herder die zeitlose Wahrheit – in der Diktion Lessings: die Vernunftwahrheit – nicht auf. Die Geschichte hat eine Tiefe, die es nicht jenseits der Geschichte zu erfahren gibt.186 Die konstitutive und damit unhintergehbare Bedeutung der Geschichtlichkeit der Person Jesu ist es auch, die Herder in einen grundsätzlichen Gegensatz zu der Deutung Jesu durch Kant bringt.187 Herders Christliche Schriften können durchgehend als eine Auseinandersetzung mit Kants religionsphilosophischem Hauptwerk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 gelesen werden. Diese Auseinandersetzung läuft über weite Strecken implizit. Selten wird sie so deutlich wie in der Kritik am radikalen Bösen188 oder an Kants aus der praktischen Vernunft gewonnenem Gottesbegriff. Die Kritik, die Herder an Kants Gottesbegriff hat, lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass in ihm nicht Gott als der Konstitutionsgrund der Welt und der Individuen in ihrem Selbst- und Weltverhältnis begriffen wird, sondern umgekehrt Gott als Schöpfung der postulierenden Vernunft erscheint, mithin das Konstitutionsverhältnis in sein Gegenteil verkehrt wird. Aus der Perspektive Herders musste dem bloß postulierten Gott Kants auch ein bloß postulierter Christus bzw. eine postulierte Erlösungsidee entsprechen. Denn Herder konnte bei Kant lesen, dass es durchaus »keines Beispiels der Erfahrung« bedürfe, »um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches in unsrer Vernunft«189. Dieser Gedanke zusammen mit der Tatsache, dass Kant die Christologie aus dem Kampf des guten mit dem bösen Prinzip ableitet, ist für Herder der Inbegriff eines ahistorischen Denkens.190 Dem stellt Herder seine 186

Dementsprechend kann ich der These M. Doernes, Die Religion in Herders Geschichtsphilosophie, 35, nicht zustimmen, dass Herders Theologie der Spätzeit eine Tendenz zur »Entgeschichtlichung [. . .] der Religion« aufweise. 187 Zu Kants Christologie vgl. A. Heit, Versöhnte Vernunft, 180–189. Zur Geschichte der Beziehung zwischen Kant und Herder fehlt immer noch eine monographische Abhandlung ebenso wie zu Herders Wirkung auf den deutschen Idealismus. Dazu bedürfte es einer eingehenden Untersuchung von Herders Metakritik und seiner Kalligone. Vgl. zu diesen Fragestellungen sowie zu weiterführender Literatur H. D. Irmscher, FA 8, 1062–1142 und den von M. Heinz herausgegebenen Aufsatzband: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, Amsterdam/Atlanta 1997. 188 Vgl. Kap. IV 1. 189 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A71/B77. 190 Ob Herders Vorwurf des Ungeschichtlichen an Kant an dieser Stelle gerechtfertigt ist, kann zumindest angefragt werden. Der Begriff der Erlösung ist letztlich auch bei Kant kein postulatorischer Begriff, sondern ein geschichtlicher, der die Eigentümlichkeit des Christentums als positiv-geschichtlicher Religion ausmacht – gerade im Unterschied zum reinen Vernunftglauben.

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eigene Christologie entgegen, die er durchgehend als Auslegung der Evangelien konzipiert. Der Rekurs auf die Evangelien ist für Herder die Garantie für die wesentliche Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens, die diesen von einem bloß spekulativen Vernunftglauben abstrakter Ideen scheidet. c) Christologie der Wirkung Auf den ersten Blick scheint Herders Auslegung der ersten drei Evangelien in Vom Erlöser der Menschen sowie des vierten Evangeliums Von Gottes Sohn, der Welt Heiland als eine relativ konventionelle Evangelienparaphrase, die unter systematisch-theologischem Gesichtspunkt wenig auszutragen scheint. Bei genauerem Hinsehen erweist sich Herders Vorgehen aber als eine nicht anders als rasant zu bezeichnende christentumstheoretische Konzeption. Herder zeichnet ausgehend von den Evangelien ein Bild der Person Jesu, das sich auf dem geschichtlichen Boden einer Jesulogie zu einer Logoschristologie empor schwingt, in der Christus als der metaphysische Grund und das Ziel der Welt und des Menschen ansichtig wird. Das hat weitreichende Folgen für die Interpretation von Herders Werk. In dieser Perspektive erweisen sich seine anthropologischen, kulturtheoretischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen in letzter Konsequenz als christologisch fundiert. Der von mir für Herder rekonstruierte Monismus des einheitlichen Weltzusammenhangs in seinen Stufen des Organischen über die Bestimmung des Menschen bis hin zu einer Teleologie der Geschichte erweist sich als letztlich in einer logoschristologischen Konzeption gegründet. Der menschlich und geschichtlich erfahrbare Logos in Jesus Christus ist der konstituierende Weltgrund und das der Schöpfung inhärierende Telos humaner Existenz überhaupt. Werkgeschichtlich holt Herder damit eine Aufgabe ein, die er 1774 nach dem Erscheinen seiner Bückeburger Geschichtsphilosophie gegenüber Lavater als noch ausstehend ansah: »Ein zweiter Theil sollte zur Philosophie folgen, der sich auf den Ersten bezöge, wie Schlüßel auf Schloß, u. wo dieser Schlüßel Religion, Christus, Ende der Welt mit einer glorreichen seligen Entwicklung seyn sollte – weiß nicht ob ich ihn je schreibe«191. Dass dies nicht nur eine captatio benevolentiae gegenüber dem Theologen Lavater ist192 , macht sein Spätwerk deutlich. Der gegenüber Lavater formulierte Gedanke, dass Christus der Schlüssel für seine Geschichts- wie Humanitätskonzeption ist, wird von Herder in den Christlichen Schriften explizit eingeholt. Entscheidend ist aus systematisch-theologischer Perspektive in diesem Zusammenhang der fünfte Abschnitt seiner Johannesinterpretation Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, in dem Herder die hier gezeichnete und bisher von 191 192

DA III 8736–39. So H. D. Irmscher, Johann Gottfried Herder, 124.

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der Herder-Forschung nicht gesehene Deutung explizit vornimmt. Hatte Herder im ersten Abschnitt seine These dargelegt, dass im Johannesevangelium gegenüber den ersten drei Evangelien die Idee des Christentums universalisiert werde, woraufhin er in dem zweiten Abschnitt eine religionsgeschichtliche Herleitung der Logosidee vornimmt, gefolgt von zwei Abschnitten, die das Johannesevangelium paraphrasierend deuten, so folgt schließlich aus dem Vorhergehenden – die systematische Summe ziehend – im fünften Abschnitt die Frage nach der Gegenwartsrelevanz des Evangeliums: »Was soll nun das Evangelium Johannes uns?«193. Wie bereits angedeutet, antwortet Herder auf diese Frage mit dem Zitat aus Joh 20,31: »›Daß ihr glaubet, Jesus sei Christ der Sohn Gottes, und daß ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.‹ Zu keinem andern Zweck ists geschrieben«194 . D. h. für Herder, dass das Evangelium selbst den Erweis seiner Wahrheit erbringen soll und – wovon Herder überzeugt ist – auch kann. Dabei kommt es ihm darauf an, dass es sowohl in Bezug auf die Tradition überhaupt als auch in Bezug auf das Johannesevangelium nicht um ein wörtliches Nachsprechen geht. Herder betont, »daß wir aus Johannes nicht Worte lernen müssen, sondern Sachen; nicht Bilder, sondern die in ihnen enthaltene Wahrheit«195 . Dementsprechend geht es ihm auch nicht um den Begriff λόγος als solchen, für den es im Lateinischen wie Deutschen kein eindeutiges Äquivalent gibt, sondern es geht darum, den Geist dieses Begriffes zu verstehen, der in einem »Einzigen Ausdruck das Erkennende und Erkennbare, das Mittheilende und Mittheilbare, Rath und That der sonst unerkannten Gottheit, die Quelle des Lichts und Lebens für unser Geschlecht«196 bezeichnet. D. h. für Herder nicht weniger, als dass in der geschichtlichen Person Jesu das Prinzip der gesamten Wirklichkeit in noetischer wie ethischer Hinsicht anschaubar geworden ist – also eben das Prinzip, das Herder in seiner Spinozaschrift reflektiert. Was vorher in der Geschichte der Menschheit wie in der Entwicklung des Individuums nur als verborgen wirksame Richtung tätig und mehr zu erahnen als genau zu fassen war, wird in Christus geschichtliche Anschauung in Wort und Tat: »Christus stellte dies allumfassende, allwirkende, belebende Wort den Menschen wirklich dar«197. Das Wort, von dem ich oben gezeigt habe, dass es die ganze Welt durchwirkt198 , ist in Christus geschichtliche Realität geworden. Oder mit Johannes gesprochen: das Wort ward Fleisch.

193 194 195 196 197 198

SWS 19, 350. Ebd. AaO. 351. Ebd. Ebd. Vgl. Kap. III 4. die Überlegungen zur Lichtsprache des Schöpfungsmorgens.

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Kapitel IV: Humanität und Christologie

Wenn Herder sich dieser geschichtlichen Realität des Logos nicht spekulativ nähern will, stellt sich die Frage, wie Herder die universelle Bedeutung Christi zu erweisen versucht. Darauf muss man streng genommen antworten, dass Herder die Bedeutung Christi gar nicht ›erweisen‹ will. Er ist davon überzeugt, dass sich die übergeschichtliche Wahrheit der geschichtlichen Person Jesu an ihm selbst darstellt. Herder dispensiert sich ganz davon, ihn als Logos mit Gott-Vater in ein Verhältnis zu setzen. Es reicht ihm die Auskunft des Johannes, dass nach Joh 1,1 Gott und sein Wort identisch sind, wodurch Subordinatianismus wie Dreigottglaube gleichermaßen ausgeschlossen werde. Dass in Christus der Logos Mensch geworden ist, zeigt sich nach Herder aus seinen Wirkungen, die er faktisch auf die Geschichte wie auf die Individuen hat. In einem Satz kann man Herders Christologie wie folgt zusammenfassen: Der Mensch gewordene Logos erweist sich in und durch seine geschichtliche Wirkung, wobei diese Wirkung in geschichtsphilosophischer wie subjektivitätstheoretischer Hinsicht unterschieden werden kann. Konkret unterscheidet Herder drei Wirkungen, die er in wahrheitstheoretischer, ethischer und die Sozialform betreffender Weise unterscheidet. Christus ist Wahrheit und wirkt Wahrheit. Er kam auf die Erde, so Herder, um »in seinem Geschlecht das Göttliche (θειον) als den Charakter seiner Gattung und Bestimmung zu entwickeln, ihm Kräfte zu geben, sich als Gottähnliches Geschlecht zu erkennen und zu beweisen«199. Gegenüber der aufklärungstheologischen Jesulogie ist dabei für Herder zu beachten, dass mit dieser Bestimmung Jesus nicht hinreichend begriffen ist, wenn er nur als ethisches Vorbild verstanden wird. Christus ist zwar auch für Herder Vorbild, aber nur insofern er auch und vorrangig als »Urbild« begriffen wird, wie er bereits 1779 in Μαραν αθα in Anschluss an Röm 11,36, 1. Kor 8,6 sowie Kol 1,15 f. betont.200 Als das Urbild ist Christus weder nur ein ethisch vollkommener Mensch noch nur ein herausgehobener Hermeneut der Humanität. All das ist er zwar auch, aber er ist zugleich mehr: Christus ist der Konstitutionsgrund, in dem die Welt geschaffen ist und in dem die Humanität erst in ihrem Vollbegriff geschichtlich erscheint. Nach Herder findet die der Menschheit wie jeden einzelnen Menschen dunkel inhärierende Richtung ihres Strebens in Christus den Grund und das Ziel ihrer Bestimmung. Das Konzept einer ὁμοίωσις θεῷ 201 wird auf diese Weise von Herder christologisch fundiert wie ausgerichtet. Der Mensch ist Ebenbild Gottes, weil und insofern er in und auf Christus hin geschaffen ist: 199

SWS 19, 358. SWS 9, 284. Jüngst sieht wieder M. Kumlehn, Gott zur Sprache bringen, 165, in Herder einen »konsequente[n] Vertreter einer Art Vorbildchristologie«, wenn er auch die Tendenz zur Urbildlichkeit bemerkt. 201 Vgl. Kap. IV 2. 200

3. Christus als vollendete Humanität

251

»Der Unanschaubare ward in ihm gegenwärtig; er war der sprechende Gott. Als solcher enthüllete er die Idee Gottes über das Menschengeschlecht und schuf sie zur That. Er begann das Werk, auf welches in allen vorhergehenden Zeiten die Gottheit vorbereitend gewirkt hatte, nämlich das Göttliche im Menschen, als die Bestimmung des ganzen Geschlechts und dessen Endlose Bahn zur Glückseligkeit, lehrend und werkthätig zu entwickeln. So ward er nicht nur der innigste Ausleger der Gottheit, sondern auch ihr allwirkendes Organ zur Belebung des Menschengeschlechts zu der ihm angestammten Gottähnlichen Würde«202 .

Christus ist für Herder daher auch die Realisationsgestalt der vollkommenen Individualität. Denn Individualität hat Herder, wie gesehen 203 , durch den Grad an Gotteserkenntnis, den Umfang ihrer weltbildenden Mitteilungsfähigkeit sowie den Genuss Gottes bestimmt. In der Auslegung des Johannesevangeliums wird Jesus genau als das Individuum vorgestellt, das in der Kenntnis Gottes aus dessen Willen lebt und sich geschichtlich universal mitgeteilt hat. Das, was Herder in der Spinozaschrift unter Einsicht in die Notwendigkeit Gottes reflektiert hat, erscheint hier unter dem Gedanken der Willenseinheit von Vater und Sohn wieder. Der Genuss Gottes, d. h. das In-der-Wahrheit-sein Jesu, ist es dann nach Herder auch, das Jesus nicht vor dem Kreuz zurückschrecken lässt. Jesu Willenseinheit mit dem Vater findet letztlich in der Erhöhung Jesu ihren letztgültigen Ausdruck.204 Christus wirkt die Wahrheit, weil und insofern er Liebe ist. Die Liebe ist das »wirksame Principium, aus welchem das Göttliche unsres Geschlechts« wie »von selbst«205 folgt. Der spinozanische Gedanke des amor Dei intellectualis wird hiermit von Herder in Bezug auf die Christologie konsequent zur Anwendung gebracht. 206 Ist die verstandesmäßige Liebe zu Gott das Resultat der Erkenntnis der Dinge unter der Form der scientia intuitiva, so heißt das, dass in Christus die Welt und die Individuen erst vollends auf ihre ursprüngliche Verursachtheit durch Gott durchsichtig werden. Als solche ist die Liebe »ein Kind der reinsten, erkannten, lebendig machenden Wahrheit«207. In der Liebe erkennt das jeweilige Individuum sich selbst und sein Gegenüber als Ebenbild Gottes. Vollendete Humanität ist das von seinen Trübungen befreite Ebenbild Gottes als der ursprünglichen logosgemäßen Schöpfungsbestimmtheit. Gegen das Konzept einer sich selbst gebietenden autonomen Vernunft betont Herder, dass sich der Geist der Liebe nicht durch Gebote, son-

202

SWS 19, 296. Vgl. in diesem Sinne auch aaO. 300, 302 und 350. Vgl. Kap. II 3.3.2. 204 Vgl. Herders Deutung des gedanklichen Bogens von den Abschiedsreden über Gefangennahme und Kreuzigung hin zur Erhöhung Christi; SWS 19, 337–349. 205 AaO. 359. 206 Vgl. Kap. II 3.3.2. 207 SWS 19, 359. 203

252

Kapitel IV: Humanität und Christologie

dern nur durch »Anschauung«208 fortpflanzt. Damit macht Herder in Anschluss an Spinozas affekttheoretisch konzipierten Liebesbegriff eine genuine Einsicht reformatorischer Theologie geltend, wonach aus dem Gesetz eben in keinerlei Weise eine positive Willensbestimmtheit folgen kann. Erst die Anschauung der Liebe Christi in Wort und Tat erzeugt eine Resonanz in der Seele des Anschauenden, worin er zugleich Gott und seine eigene Bestimmung erkennt. D. h. nur im geschichtlichen Auftreten des Logos konnte nach Herder der Menschheit Aufschluss über ihre Bestimmung gegeben werden. Nur im Erfahren der Liebe pflanzt sich die Liebe fort: »Gebt einem Menschen durch Empfindung der Liebe und eines guten Willens zu schmecken, was guter Wille und Liebe sei; jede seiner Erweisungen wird ihm Zunder zu neuen Erweisungen. Die Süssigkeit, die er an der Quelle reiner Güte einmal gekostet hat, wir in ihm selbst zur Quelle von Gesinnungen der Güte. That erweckt That, Liebe zündet Liebe an; Leben schafft Leben«209.

Die Liebe kommt aus der Wahrheit, wie Herder in Anschluss an 1. Joh 4,7–12 betont, und führt auf die Wahrheit. Diese sich fortpflanzenden Resonanzen der Liebe führen nach Herder schließlich notwendig in eine Gemeinschaftsform 210 , die dem Geist der Liebe entspricht. Herder qualifiziert die aus dem Geist Jesu lebende Gemeinschaft in Anschluss an die Abschiedsreden als einen »Bund der Liebe«211 bzw. »Freundschaftsbund Christi«212 . Die aus der Gottes- und Selbsterkenntnis fließenden Wirkungen dieser Gemeinschaft sind wesentlich ethischer Natur. Die Gemeinschaft bewährt sich im Liebesdienst am Nächsten und ist innerhalb ihrer eigenen Struktur nicht hierarchisch, sondern durch Brüderlichkeit und Gleichheit geprägt. In der urchristlichen Gemeinschaft sieht Herder so bereits das republikanische Ideal verwirklicht. Das Christentum wird sonach von Herder als ein »Reich reiner Sitten und Glückseligkeit unter den Menschen«213 begriffen. Freilich ist Herder klar, dass er damit einen Idealbegriff von Kirche entwirft, dem ihre historische Erscheinung nicht immer entsprach. Mit dem Rekurs auf die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche hält Herder aber fest:

208

AaO. 360. Ebd. 210 Bei den Überlegungen Herders zur Gemeinschaftsform des Christentums fällt insgesamt auf, dass er sie relativ wenig aus einer institutionentheoretischen Perspektive im Sinne einer Ekklesiologie bedenkt, sondern stärker aus der Pneumatologie entfaltet. Die Kirche als Institution wird von ihm insgesamt eher in ein kritisches Licht gestellt. 211 SWS 19, 361. 212 AaO. 368 213 AaO. 365. 209

3. Christus als vollendete Humanität

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»Ohngeachtet des tiefen Verderbens der folgenden Jahrhunderte, als das Christenthum Staatsreligion geworden war, konnte dennoch sein ursprünglicher Zweck nie ganz verlöscht werden. Unter jedem Druck der Zeiten schloß sich ein Bund besserer Menschen, erkannt und unerkannt, zusammen, die der leidenden Menschheit beistanden, ihr die Hand reichten und an dem Ort ihre Schmerzen linderten, an dem sie von ihnen bemerkt wurden«214.

Gleichsam verborgen wirkte der wahre Geist des Christentums, der mit dem Geist Jesu identisch ist, fort bis er in der Reformation zu neuem Glanz kommt. Damit kommt aber auch zugleich das grundlegende Merkmal von Herders Pneumatologie in den Blick. Er entwirft sie nicht von der dritten Person der Trinität her, sondern als den geschichtsphilosophischen und subjektivitätstheoretischen Auslegungszusammenhang der geschichtlichen Wirkung Jesu.215 Pneumatologie ist in der Perspektive Herders eine Verlängerung der Christologie. Damit grenzt sich Herder von einer Inspirationslehre ab, die das Aufgehen der Wahrheit des Christentums als ein unvermitteltes und insofern auch ungeschichtliches Wunder ab extra begreifen will. 216 Ironisch wendet er sich gegen einen supranaturalen Einbruch, der »vom Firmament herab, den Schädel hindurch, ins Hirn hineinleuchte, es verbrennend, es verwildernd«217. Der Geist Christi trägt sich vielmehr nur in geschichtlicher Vermittlung fort. Unter der Erfahrung des Geistes vergemeinschaften sich die Menschen und tragen den Geist Jesu damit weiter. Die subjektivitätstheoretischen Resonanzen in der Seele des jeweiligen Individuums werden zum geschichtlichen Movens der Tradierung des Christentums. Insofern ließe sich sagen, dass Herder als pneumatisches Konzept wie nach ihm Schleiermacher, die Idee eines Gemeingeistes vertritt. Dieser sich nicht anders als geschichtlich realisierende Gemeingeist weiß sich aber in seiner logosgemäßen, mithin metaphysisch bedingten Natur gegründet. Der Konstitutionszusammenhang von Herders Pneumatologie ist sonach ein geschichtlicher, während ihr Konstitutionsgrund ein übergeschichtlicher ist. In dieser Spannung geht die Geschichte der Menschheit in einer unendlichen Annäherung ihrem Telos entgegen. Für die Menschheit schwebt Herder als Reich-Gottes-Idee ein Reich der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit vor. 218 In Bezug auf die Eschatologie des Individuums sieht Herder in dem 214

AaO. 367; H. i. O. Herder entfaltet seine Pneumatologie in der vierten Sammlung der Christlichen Schriften. Vom Geist des Christenthums (1798); SWS 20, 1–131. 216 Vgl. hierzu das mit »Eingeistung« überschriebene Kapitel in der vierten Sammlung der Christlichen Schriften; SWS 20, 48–64. 217 AaO. 127. 218 Vgl. hierzu das 15. Buch der Ideen; FA 6, 627–671. 215

254

Kapitel IV: Humanität und Christologie

Gedanken »der Fortdauer nach dem Tode«219 einen geschichtlichen Glauben, der sich durch nichts philosophisch ausmachen lässt, aber der dem Leben innewohnenden und durch Christus aufgedeckten »ewige[n] Tendenz«220 entspricht. Lässt sich nach Herder in Bezug auf die Menschheit und den einzelnen Menschen die Ausrichtung auf die Humanität als Ziel der Entwicklung noch bis zu einem gewissen Grad ablesen, so sind die jeweiligen Vollendungszustände nach Herder im strikten Sinne Glaubenssätze, die nur proleptisch zu antizipieren sind. Gerade in den Abschiedsreden Jesu wird nach Herders Dafürhalten der Leser in die »Vorausnehmung der Empfindung, daß Alles vollendet und sein Leben überstanden sei«221 mit hinein genommen. Herder fährt fort: »Eben diese Vorausnehmung giebt im ganzen Evangelium dem Sprechenden und Handelnden Jenes Ueberirdische, das den Lesenden über das Zeitmaaß der Erde hinweghebt«222 . Der humane Sinn für ein ewiges Leben kann hienieden nur ästhetisch antizipiert werden. Mit dieser – wie ich es nennen möchte – Christologie der Wirkung, kreiert Herder einen christologischen Typus, der m. E. über der die spätere theologische Debattenlage prägenden unfruchtbaren Alternative von historischem Jesus und kerygmatischem Christus steht. Pointiert kann Herders Position dahingehend zusammengefasst werden, dass der historische Jesus gar nicht ohne seine geschichtliche Wirkung verstanden werden kann. Mit anderen Worten, ohne Jesus als Christus wüssten wir von dem historischen Jesus gar nichts bzw. der historische Jesus ist an sich selbst der Christus. Die Wirkung ist ein wesentliches Moment des historischen Jesus selbst. Die beiden alternativen Optionen greifen im Verständnis des Geheimnisses der geschichtlichen Person Jesu jeweils zu kurz. Der in einem naiven Sinne historische Jesus, so ließe sich in Anschluss an Herder sagen, ist uns gar nicht mehr zugänglich, da die Evangelien, wie Herder betont, von vornherein als Glaubenszeugnisse verfasst sind und Glauben wecken wollen. Ebenso verfehlt wäre es nach Herder, nur auf das ›Dass‹ des Gekommenseins Christi zu rekurrieren, ohne dafür Anhalt in der historischen Person zu suchen, dass in ihm der Christus erkannt wurde. Das wäre für Herder der Inbegriff eines ungeschichtlichen Denkens. Beide Perspektiven werden nur in einer Christologie zusammengehalten, in der der historische Jesus konstitutiv über seine Wirkungen verstanden wird, d. h. in seinem Ewigkeitssinn.

219

SWS 19, 111. Vgl. zu Herders Eschatologie E. Ruprecht, Herders Gedanken über die Seele und ihre Unsterblichkeit, 31–49, sowie G. Arnold, Von den letzten Dingen – eschatologische Elemente in Herders Werk und ihre Quellen, 383–411. 220 SWS 19, 369. 221 AaO. 332. 222 Ebd.; H. i. O.

3. Christus als vollendete Humanität

255

In einer an die Schlussformulierung aus der Sprachursprungsschrift erinnernden Weise fasst Herder den Kern seiner Christologie zusammen: »Er war also Sohn Gottes, wie in seiner Person so in seinem Werk; es war dies seine eigenste Sinnesart und Empfindung [. . .]. Den väterlichen Plan Gottes erkannte er in keinem andern Geschäft, als zur Befreiung und ächten Glückseligkeit des Menschengeschlechts rein und thätig zu wirken [. . .]. Er nahm daher sein Ziel aufs reinste ins Auge und opferte sich diesem als seinem Werk auf. [. . .] Er wählte den reinsten Zweck und traf in die Mitte des Zieles; Gottes Sohn, indem er sich Menschensohn nannte; denn das Göttlichste im Menschen war ihm die reineste, umfassendste Menschlichkeit selbst«223.

Wenn Herder von Menschlichkeit bzw. Humanität spricht, so ist ihm dieser Begriff in seinem Vollsinne also keine deskriptive Kategorie des empirischen Menschen und der empirischen Menschheit. Humanität ist vielmehr der Begriff, unter dem Herder – im dogmatischen Topos gesprochen – die Urständlichkeit des Menschengeschlechts reflektiert.224 Die schöpfungsgemäße Bestimmung des Menschen zur Humanität ist, so Herder, außer Christus geschichtlich nirgends erschienen. Christus als der Logos ist zugleich metaphysischer Konstitutionsgrund wie geschichtlicher Stifter des Konstitutionszusammenhanges der Humanität. Insofern koinzidieren für Herder die beiden dogmatischen Topoi ›De persona Christi‹ und ›De officio Christi‹.225 Die Person Christi wird nach Herder aus ihren Werken erkannt. Keine metaphysische Spekulation über das Wesen Jesu kann der an ihm erfahrenen Wirkung noch etwas hinzutun. So bekommt Herders Christologie ihre Beglaubigung faktisch in der Anerkennung der erfahrenen Wirksamkeit Christi. Damit ist für Herder Humanität aber auch nie bloße Humanität. Konnte am Ende der Sprachursprungsschrift noch der Gedanke aufkommen, Herder würde in einem unmittelbaren Schluss das vorfindliche Menschliche vergöttlichen, so wird jetzt deutlich, dass für Herder die Humanität als das Göttliche im Menschen eine teleologisch-normative Bestimmung ist. Humanität spannt sich für Herder zwischen der Urstandsbestimmung und ihrer eschatologischen Vollendung auf, die in Christus ihr Urbild hat, in und auf den hin sie geschaffen ist. In diesem Sinne ist für Herder die Zeit des geschichtlichen Auftretens des Logos die »Mitte der Zeit«226 , die die schöpfungsgemäße Bestimmung zur Humanität und ihre eschatologische Vollendung zusammen hält. Herders bekannte Bestimmungen der Humanität in den Ideen – Religion 223

AaO. 374; H. i. O. Zum Urstand bei Herder vgl. Kap. IV 1. und 2. 225 F. Schleiermacher formuliert diesen Sachverhalt in der ersten Auflage der Glaubenslehre von 1821/22 pointiert wie folgt: »Die Thätigkeit des Erlösers und seine eigenthümliche Würde sind in dem frommen Bewußtsein des Gläubigen als identisch gesetzt« (Leitsatz § 113). 226 SWS 7, 466. 224

256

Kapitel IV: Humanität und Christologie

als die »höchste Humanität«227 sowie Christus als die »echteste Humanität«228 – sind letztlich nur von diesem hier entfalteten Zusammenhang her zu verstehen. Christus ist das Ebenbild Gottes, von dem her und auf den hin die Menschen geschaffen sind. Das ist der Satz, der Herders weitstrahliges Werk in seinen Facetten zusammen hält. Herders natur- und geschichtsphilosophische, anthropologische und kulturtheoretische Überlegungen sowie selbst seine an Spinoza anschließende Metaphysik sind so von vornherein in einer christentumstheoretischen Perspektive qualifiziert und erhalten von dort her ihre Einheit. Herder resümiert: »Gott ist Licht; in ihm ist keine Finsterniß. Gott ist Liebe; wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. (1 Joh. 1,5. 4,16) Dies sind die beiden Quellen, aus denen [. . .] alles wahre Leben, d. i. Erkenntniß, Wirksamkeit und Glückseligkeit fließet. Sie sind die beiden Arme, mit denen sein sichtbargewordenes lebendiges Wort der Gottheit hienieden Leben schafft und das Heil der Welt wirket. Die Herrlichkeit des Unanschaubaren erschien in ihm voll Huld und Wahrheit«229.

227 228 229

FA 6, 160. AaO. 708. Vgl. auch die Briefe zu Beförderung der Humanität, FA 7, 147–154. SWS 19, 353.

Rückblick und Ausblick 1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken Im Durchgang dieser Arbeit habe ich einen großen Bogen geschlagen. Ausgehend von Herders Anthropologie konzentrierte sich die Rekonstruktion von Herders Humanitätsbegriff aufgrund der darin bemerkten teleologischen Struktur auf die in ihr implizierten metaphysischen Voraussetzungen. Von einer Naturalisierung der Geschichte bei Herder kann daher nur bedingt gesprochen werden. Herders Deutung von Natur und Geschichte der Menschheit hat ihre Pointe vielmehr genau darin, dass er sich sowohl gegen einen cartesischen Dualismus wie einen naturalistischen Monismus wendet. Dazu erwies sich Herders Spinozarezeption als die grundierende Theorie zu seinen materialen Ausführungen in der Anthropologie. In einer Theorie eines Monismus des Geistes konzipiert Herder sein vereinigungsphilosophisches Grundkonzept von Wirklichkeit, wobei Individualität als Moment des Absoluten selbst vorstellig wird. Anknüpfend an die religionstheoretische Debattenlage der Zeit zeichnete ich dann nach, inwiefern Religion das Wesen des Menschen ausmacht und als höchste Humanität zu gelten hat. Religion und Offenbarung zeigten sich dabei in Herders Denken als korrelative Begriffe, die jeweils ohne den anderen ihren Sinn verlieren. Das letzte Kapitel rekonstruierte dann den Zusammenhang von Herders Christologie und seinem Spinozismus. Entgegen der immer wieder behaupteten Unverbundenheit beider Gedankenlinien bei Herder wurde deutlich, dass Herder den Monismus des Geistes im Sinne einer Logoschristologie umdeutet. Die Christologie wird damit zur Reflexion auf den Konstitutionsgrund der Welt überhaupt. In letzter Konsequenz gründen Naturtheorie, Anthropologie und Geschichtsphilosophie somit in der Christologie. Humanität als das von Herder immer wieder beschworene Telos der Geschichte der Menschheit wie des Individuums zeigt sich damit als ein strikt christologischer Begriff. Im geschichtlichen Auftreten des Logos wird der Menschheit ihr Sinn aufgeschlossen. Der hier in aller Kürze nachgezeichnete Gedankengang der Arbeit findet sich wie in einer Miniatur in seiner letzten theologischen Schrift, die er an sein religiös interessiertes Publikum ausschickt. Es handelt sich um die Auslegung des Glaubensbekenntnisses in Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräu-

258

Rückblick und Ausblick

chen (1798). In ihr bündeln sich wie in einem Brennglas seine Grundanschauungen zu Humanität und Christentum. Sie stellt insofern so etwas wie sein theologisches Vermächtnis dar. Treffend wurde diese Auslegung als Herders »dogmatisches Testament«1 bezeichnet. Sie bildet allerdings nicht allein die systematische Summe der fünf Sammlungen der Christlichen Schriften, sondern fasst die Weite seines gesamten Denkens in nuce zusammen. Anstelle einer ausgiebigen Rekapitulation meiner Arbeit soll als Zusammenfassung meiner Ergebnisse eine Interpretation von Herders Auslegung des Glaubensbekenntnisses stehen. Herders methodisches Vorgehen, seine Theologie als Auslegung des dreigliedrigen Nicänischen Symbolums zu konzipieren, ist der Ausdruck seiner Grundeinsicht, dass Religion überhaupt wie der christliche Glaube im Besonderen nur in einer positiven, kulturell bedingten Form existiert. Eine eigenständig spekulativ entwickelte Systematik droht für Herder diese Einsicht wenn nicht zu überspringen, so doch mindestens zu überdecken. Theologie vollzieht sich für Herder immer als aktualisierende Auslegung von Geschichte.2

1.1 Der Vater Die Behandlung des ersten Artikels von dem »Glauben an Einen Gott, den Schöpfer und All-Erhalter (αντοκρατωρ) der Menschen Vater«3 setzt mit der religionsgeschichtlichen Herleitung des Glaubens an den einen Gott aus dem Judentum an. Demnach hat der Glaube an den einen Gott in der jüdischchristlichen Tradition seinen exponierten geschichtlichen Ort.4 Das Christentum geht nach Herder dann insofern über das Judentum hinaus, als es den Familien- und Landesgott konsequent universalisiere. Der Glaube an den einen Gott, der in dem ersten Artikel des Bekenntnisses seinen grundlegenden Ausdruck gefunden hat, wird von Herder religionspsychologisch auf sein ontologisch-anthropologisches Erfahrungskorrelat hin befragt. Demnach weiß sich der Glaube an den einen Gott auf die humane Erfahrung wirkender Kräfte bezogen. Der Mensch erfährt sich in ein dynamisches Fluidum »wirkender Ursachen«5 eingebunden: »Fast zu Einer Zeit 1 So T. Zippert, FA 9/1, 1155. Zu der Unterscheidung zwischen Religion und Lehrmeinung vgl. Kap. IV 3.3.2. 2 Das ist zugleich sein anthropologisches Grundaxiom; vgl. Kap. I 3.3.3. 3 FA 9/1, 746. 4 Darin ist die Auseinandersetzung Herders mit dem ungeschichtlichen Religionsbegriff des Deismus vorausgesetzt; vgl. Kap. III 2. 5 FA 9/1, 747.

1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken

259

wird unser Verstand also Macht, (eine ungeheure Menge wirkender Kräfte,) und Gesetz, Regel gewahr, nach der diese Kräfte wirken«6 . Diese ambivalente Erfahrung von Macht einerseits sowie Gesetz und Regel andererseits deutet Herder als den Ursprung der Religion.7 Sie schlägt sich in den mentalen Zuständen von »Furcht und Verwunderung« 8 nieder. Mit diesem »einfachen Gemütsglauben«9, nämlich der mit der bloßen Existenz gegebenen Erfahrung des in die Naturordnung Eingebunden- und ihr Verpflichtetseins, will Herder den wesentlichen Gehalt von Religion überhaupt bezeichnet wissen. Er fasst ihn in der »große[n] Regel der Naturreligion« zusammen: »Folge den Gesetzen der Schöpfung, Erhaltung und Vorsehung treu und willig: sie sind Gesetze eines allmächtigen, weisen, gütigen Vaters«10 . Es ist deutlich, dass an dieser Stelle Herders in einer wechselseitigen Korrektur von Leibniz und Spinoza angeeignete Theorie der dynamisch wirkenden Kräfte vorausgesetzt ist.11 In dem gesamten Zusammenhang von Natur und Kultur erkennt er »eine lebendige Formel unsichtbarer Gedanken und Kräfte«12 . Indem der Mensch sich in den Kosmos eingeordnet vorfi ndet, so Herder, lässt ihn dies nach dem »Woher«13 dieser Ordnung zurückfragen. Weder die Natur noch der Zufall können für Herder letztinstanzlich Kandidaten für die Konstitution des einheitlich geordneten Weltzusammenhangs sein. Unter Voraussetzung seines monistischen Gottesbegriffs, wonach Ontologie und Epistemologie korrelieren14 , formuliert Herder: »Die Ordnung also, die dem, was wir Schöpfung nennen, wesentlich einwohnet, wie nennen wir sie? Verstand«15 . Weil dem Menschen selbst »eine Gottes-Ähnlichkeit, die Regel der Schöpfung«16 einwohnt, ist er in der Lage diese in Natur und Geschichte aufzufinden und zu verfolgen. Der Geist endlicher Individualität erkennt in der Schöpfung den diese wie sie selbst konstituierenden unendlichen Schöpfergeist Gottes.17 In diesem geistigen Reich wirkender Kräfte gibt es nichts, was nicht letztlich

6

Ebd. Vgl. Kap. III 3. 8 FA 9/1, 747. 9 AaO. 754. Das Kap. II zu Herders Spinozarezeption hat deutlich gemacht, wie voraussetzungsreich dieser »einfache Gemütsglaube« tatsächlich ist. 10 FA 9/1, 784. 11 Vgl. vor allem Kap. I 3.2, Kap. II 3.2 sowie Kap. III 1. 12 FA 9/1, 748. 13 AaO. 749. 14 Vgl. Kap. II 3.3.2. 15 FA 9/1, 749. 16 AaO. 751. 17 Vgl. Kap. II 3.3. 7

260

Rückblick und Ausblick

dem Guten dient, weil kein Ort denkbar ist, wo jene Gesetze der Schöpfung unwirksam wären.18 Um aber jede Form eines noch so feinen Dualismus zu vermeiden, betont Herder, dass Gott nicht nur die Regel, die die ganze Schöpfung durchwaltet, feststellte, »sondern daß er wesentlich selbst diese Regel ist«19. So wird für Herder die ganze Welt in ihrer Notwendigkeit Ausdruck Gottes selbst: »nach seinen Begriffen (andre hat er nicht!) werden ihm [. . .] Macht und Anordnung [. . .] so andringend sichtbar, daß er das Kleinste wie das Größeste nicht anders als ein ihm sichtbargewordenes Produkt von Macht und Weisheit [. . .] ansehen muß«20 . Die epistemologische Struktur des apophantischen ›Ansehens als‹, in der sich Selbst-, Welt- und Gottesbewusstsein vermitteln, kann nach Herder nicht als ein bloß subjektiver Deutungsakt verstanden werden, sondern gründet in der ontologischen Verfasstheit von Wirklichkeit überhaupt, d. h. ist unmittelbarer Ausdruck der einen ungeteilten Gott-Natur. Aus der Spinozarezeption wissen wir, dass für Herder Gott nicht Macht und Weisheit hat, sondern wesentlich an ihm selber ist. Damit öffnet sich aber die gesamte Schöpfung für die »Anschauung«21 Gottes in ihr. 22 Der epistemische Ort, an dem sich nach Herder diese Ineinsschau vollzieht, ist das »Gewissen«23. Es ist für Herder das Organ, in dem – wie er auf Röm 1,19 f. sowie Ps 19 rekurrierend sagt – die »Stimme Gottes in der gesamten Schöpfung«24 widerklingt. Genau in diesem Sinne als der subjektive Ort, an dem die objektive göttliche Verfasstheit von Welt und Individuum zur Darstellung kommt, ist Herder das Gewissen der »einzige wahre Tempel einer Menschen-Religion«25 . Es hat die Stellung in der Sphäre des Menschen inne, die »dem Tier in der seinigen sein Zug, sein Instinkt«26 ist. Damit lässt sich für Herders Auslegung des ersten Artikels sagen, dass er die von mir in den ersten beiden Kapiteln meiner Arbeit eruierte Natur- und Kulturtheorie, die in einem Monismus des Geistes gründet, als den erfahrungsbezogenen, sachlichen Gehalt des ersten Artikels ansieht. Gott wird in der Schöpfung angeschaut als der in ihr unablässig wirksame Grund. Es ist bezeichnend, dass Herder diese hier zweifellos vorliegende Hintergrundtheorie nur andeutet, aber nicht näher ausführt. Denn sein Konzept eines Monismus des Geistes wäre nun in seinem Sinne ebenfalls bloße Lehrmeinung. Dem 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Zu Herders Adrastea-Nemesis vgl. Kap. III 1. FA 9/1, 750 f. AaO. 748; Hervorhebung C. C. AaO. 757. Vgl. Kap. II 3.2.1. FA 9/1, 753. Ebd. Ebd. Vgl. dazu Röm 2,15 sowie 1. Kor 3,16. FA 9/1, 753.

1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken

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einfachen Gemütsglauben an den Schöpfer und Erhalter vermag es nichts hinzuzufügen noch wegzunehmen. Es stellt eine auf zeitgenössischer Ontologie beruhende sekundäre Interpretation des primären Erlebens dar, die Herder sicher nicht der Diskussion entziehen würde.

1.2 Der Sohn Wenn, wie oben dargestellt, der einfache Gemütsglauben das Wesen wahrer Religion ist, dann ist es nur konsequent, wenn Herder auf die Frage, was die Person Jesu über die Regel der Naturreligion hinaus bringt, antwortet: »Dies ists und nichts anders. Hiezu kann selbst der Name des Stifters dieser Regel nichts hinzutun; er heißt Heilbringer, Seligkeitstifter; er sagt was die Regel saget. [. . .] Leben und Charakter Christi sagen eben dasselbe. In sein Herz war geschrieben: ›Gott ist mein Vater und aller Menschen Vater; die Menschen unter einander sind Brüder. Dieser, der Religion des Menschengeschlechts, der einzigen Religion auf Erden weihete er sein Leben, bereit, es willig hinzugeben, wenn sie Menschen-Religion würde. Denn sie betreffe den primitiven Charakter unsres Geschlechts, dessen ursprüngliche und Endbestimmung [. . .]‹«27.

Demnach ist das Wesen der natürlichen Religion identisch mit dem Gehalt des Christlichen.28 Wenn Christus also eigentlich nicht etwas Neues in die Geschichte bringt, sondern nur die der Schöpfung eingestiftete Bestimmung des Menschen offenbart, stellt sich die Frage, ob Herder im eigentlichen Sinne des Wortes eine Christologie entwirft oder nur eine Jesulogie. Ist Jesus in den Augen Herders nicht nur – mit den Worten Karl Jaspers – einer der maßgebenden Menschen neben anderen? Herders Jesusdeutung geht über solch eine Vorbildjesulogie hinaus. So betont Herder, dass die allgemein menschliche Gotteserkenntnis aus der Natur getrübt ist: »Jene Religion nämlich, die uns der Natur zu folgen gebot, ließ uns auf halbem Wege stehen«29. Unter den Bedingungen eines getrübten Gottesverhältnisses30 ist dem Menschen die Religion aus der Natur kein sicherer Leitfaden mehr. Dass überhaupt in Jesus ein solcher Mensch auftritt, der das Buch der Schöpfung wieder wie am ersten Tag lesen und in Wort und Tat zu ihm anleiten kann, muss schon als eine implizite Christologie gelesen werden. Dieser implizite Verweis auf die über das rein historische hinausgehende Bedeutung der Person Jesu steigert sich zu einer expliziten Christologie, wenn

27 28 29 30

AaO. 760. Hervorhebung C. C. Vgl. Kap. III. 2. AaO. 768. Vgl. zur Hamartiologie Herders Kap. IV 1.

262

Rückblick und Ausblick

Herder betont, dass Christus nicht nur in Übereinstimmung mit der Regel der Naturreligion steht, sondern zugleich ihr Stifter ist. Stifter einer Religion – wie Mose oder Buddha – sind im gewöhnlichen Sprachgebrauch historische Gestalten, die als Begründer einer geschichtlich positiven Religion gelten. Entscheidend an Herders zitierter Formulierung ist, dass er hier nicht sagt, dass Jesus der Stifter des Christentums gewesen ist – das wäre die erwartbare konventionelle Aussage gewesen –, sondern dass er Jesus als den Stifter der Regel der Naturreligion, d. h. des metaphysischen Prinzips von Wirklichkeit überhaupt vorstellig macht. Will man Herder nicht den Vorwurf einer schlampigen Formulierung machen, so muss man darin eine bewusste Pointierung sehen. Jesus als Stifter der Regel der Naturreligion meint Christus als den konstituierenden Grund von Wirklichkeit überhaupt. In Jesus von Nazareth wird der weltdurchwaltende Logos geschichtlich in einer Person anschaubar. In diesem pointierten Sinne ist Herders Interpretation der Person Jesu als Logoschristologie zu begreifen.31 Der für die Naturund Kulturtheorie als Tiefendimension rekonstruierte Monismus des Geistes wird so von Herder christologisch überbildet, so dass sich für Herder als letztbegründende Wirklichkeitsdeutung von einem christologischen Monismus sprechen ließe. Herder kommt damit vermittelt über seine Interpretation des Johannesevangeliums zu einer originellen Zusammenschau von Spinozismus und christlichem Glauben. Die Christologie muss damit – entgegen den bisherigen Ergebnissen der Herderforschung – als die Grundtheorie des Konstitutionszusammenhangs von Wirklichkeit überhaupt und von Herders Konzept der Humanität im Besonderen angesehen werden. Dabei ist es für Herder von unhintergehbarer Bedeutung, dass der Logos geschichtlich in einer Person aufgetreten ist, wie er auf den Philipperhymnus (Phil 2,5–7) anspielend betont: »Christus war ein Mensch, wie wir; keine personifizierte Idee«32 . Die Geschichtlichkeit des Logos im Auftreten von Jesus von Nazareth ist für Herder in einer zweifachen Weise zentral. Zum einen gibt er Aufschluss über Sinn, Zweck und Ziel der Menschheitsgeschichte. Der Gang Gottes über die Nationen findet erst in Christus Maß und Ziel. Darin liegt die geschichtshermeneutische und geschichtsphilosophische Dimension von Herders Christusglauben. Zum anderen gibt auch erst die Anschauung des historischen Jesus Aufschluss über die Bestimmung des Individuums sowie die Befähigung dieses Ziel intentional zu verfolgen. Darin liegt die subjektivitätstheoretische Valenz von Herders Christusglauben. Ich habe sie oben als eine Christologie der Wirkung qualifiziert.33 31

Vgl. Kap. IV 3.3. FA 9/1, 762. Zu der darin liegenden Kritik an der Religionsphilosophie Kants vgl. Kap. IV 3.3.2 b). 33 Vgl. Kap. IV 3.3.2 c). 32

1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken

263

Für Herders Humanitätsbegriff heißt das, dass Christus als die Realisierung der schöpfungsgemäßen Bestimmung humaner Existenz zugleich auch der Bestimmungsgrund der Humanität selbst ist. Außerhalb und abgesehen von Christus gibt es nach Herder keine Humanität. Genau in diesem Sinne muss Humanität in ihrem Vollsinn von Christus her als Ebenbildlichkeit Gottes verstanden werden. Christus ist das Ebenbild Gottes, weil und insofern er die vollendete Humanität ist, die es nicht jenseits von ihm gibt. D. h. dass überall dort, wo Humanität partiell verwirklicht ist, diese als Teilhabe an Christus begriffen werden muss. Als das Bild, in dem die Welt und der Mensch geschaffen wurde, ist Christus auch dort präsent, wo nicht um ihn gewusst wird. Der Mensch erkennt seine ihm einwohnende, aber verdunkelte Bestimmung, wenn er Christus geschichtlich in Wort und Tat als wirkmächtig erlebt. Es gilt für Herder: Christus ist die Realisierung der schöpfungsgemäßen Bestimmung zur Humanität. Und ebenso gilt: Erst von der Wirkung der Person Christi her ist für Herder das Wesen des Humanums vollständig offenbar geworden. Humanität ist in diesem Sinne für Herder ein pointiert christologischer Begriff.

1.3 Der heilige Geist In Herders Auslegung des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses, die er mit »Vom Glauben an den himmlischen Beistand in einer heiligen Gemeinschaft«34 überschrieben hat, vermitteln sich die geisttheoretischen Dimensionen von Herders Logos in der Natur und in Christus. So betont Herder zunächst die Gegenwart des heiligen Geistes in der gesamten Schöpfung in Anschluss an Genesis 2,7: »Als du in die Schöpfung tratst, belebete dich Geist, ohne das du ihn schufest. Göttlicher Atem wehete dich an, als du die erste Luft sogest. [. . .] Als du ins Reich der Menschheit tratst, belebete dich Geist der Menschen, Belehrung. [. . .] und in Dir war Etwas, dies Alles aufzunehmen, dir anzueignen und es als Eigentum zu gebrauchen. Geist empfi ng vom Geiste. [. . .] Triebe erwachten in dir; dein ganzes Leben wird durch Triebe geleitet. [. . .] Leben, Leben treibt dich zu dem, was du tun sollst und sein mußt [. . .]. Nur so umfing dich der Geist der Menschheit«35 .

Von den elementaren Anfängen des Lebens über die Triebe zur Selbsterhaltung36 bis hin zur kulturellen Selbstausbildung der Menschheit 37 sieht Herder den Geist Gottes wirken. Er ist die der Schöpfung einwohnende Richtung 34 35 36 37

FA 9/1, 774. AaO. 775 f.; H. i. O. Vgl. Kap. I 3.2. Vgl. Kap. I 3.3.

264

Rückblick und Ausblick

alles menschlichen Strebens überhaupt. Und nur insofern diese Inhärenz des Strebens ihren Grund in dem sie begründenden Logos, dem »Geist der Schöpfung«38 hat, wird sie von Herder als Humanität bezeichnet. Schon die elementare Form von Humanität als spezifische Form menschlicher Selbsterhaltung erhält ihre Würde von Christus her, insofern bereits in ihr die Richtung auf die vollendete Humanität wirksam ist. Mit dem Auftreten Jesu wird diese verborgene Richtung der Menschheit auf Humanität offenbar.39 Der Logos als der konstituierende Grund der schöpfungsgemäßen Bestimmung zur Humanität macht diese Bestimmung selbst offenbar und leitet zum Verfolg derselben an. Unter der Anschauung seines Beispiels bildet sich in seinem Geist Gemeinschaft aus. Die Wirkung Jesu beruht auf den logoschristologisch vermittelten Resonanzen in den jeweiligen Individuen. Streng genommen kann man sagen, dass das, was da in der Seele des Individuums auf den geschichtlich auftretenden Logos in Christus antwortet, der schöpfungsmäßig einwohnende Logos selbst ist. Unter dem Aspekt der jeweiligen Logoshaftigkeit der Individuen – so ließe sich für Herder sagen – vereinigen diese sich zu einer logike latreia (Röm 12,1). Die christliche Kirche ist für Herder damit ihrer Idee nach die Gemeinschaft der zu einem in der Welt wirksamen logosgemäßen Gottesdienst Verbundenen: »Mit diesem Geiste sprach das Christentum die Menschheit an; und was Wunder, daß ihm der reine Geist der Menschheit antwortete? Da es weder Spekulation noch politische Verfassung betrieb, sondern zu Jedem sprach: ›das sollst du als Mensch sein, in welchem Stande du auch lebest! Das in dir ist das reine Bild deiner Menschheit;‹ so antwortete allenthalben im Menschen die Echo der Stimme Gottes: ›Das bin ich! Das soll ich werden!‹«40 .

1.4 Christentum als Religion der Menschheit Herder ist ein dialogischer Denker. Seine Schriften lassen sich ausnahmslos als Dialoge mit den großen geistigen Strömungen seiner Zeit lesen: so etwa die Ideen als Gespräch mit dem aufkommenden Naturalismus, sein Gott als ein Beitrag zum Pantheismusstreit und die Christlichen Schriften als Gegenentwurf zur Religionsphilosophie Kants und seiner Adepten. Aus diesem glei38

FA 9/1, 778. Vgl. Kap. IV 3.3. 40 FA 9/1, 779. In der damit angezeigten Spannung von Anlage und Ausbildung liegt für Herder auch der Sinn des Glaubens an eine Vergebung der Sünden wie der Grund der Hoffnung auf ein ewiges Leben. Dass der empirische Mensch faktisch nicht logosgemäß handelt, also seine Humanität auf Erden nie voll ausgebildet hat, macht Vergebung ebenso notwendig wie eine Ewigkeitshoffnung, in der jene Differenz von Anlage und Ausbildung endgültig aufgehoben sein wird. 39

1. Anstelle eines Fazits: Eine Miniatur von Herders Denken

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chermaßen positiv aneignenden wie polemischen Gespräch schält sich Herders eigene Position in seinem Spätwerk immer deutlicher heraus. Dabei nimmt er mit seinem zeitdiagnostisch feinen Sensorium zwei Fehlentwicklungen wahr, gegen die er leidenschaftlich zu Felde zieht. Da ist zum einen der naturalistische Monismus einer sich in sich selbst abschließenden Welt, die blind für ihren religiösen Gehalt wird. Herders Geschichtsphilosophie – so sehr Herder auch durchgängig naturwissenschaftliches Material aneignend verarbeitet – muss als ein Protest gegen diese verendlichende und die Welt in sich selbst abschließende Sicht gelesen werden. Die in Herders Gegenentwurf vorgelegte metaphysische Tiefenstruktur von Wirklichkeit macht dann seine Spinozarezeption vollends explizit. Zum anderen wendet sich Herder gegen die Konzeption eines dogmatisch-spekulativen Christentums, das keinen Anhalt am religiösen Erleben mehr hat. Die traditionelle Dogmatik wie die neue Religionsphilosophie im Gefolge von Kant sieht Herder hier auf denselben Abwegen befangen. Herder entwirft dagegen eine am Leben Jesu orientierte Christologie, in der sich im religiösen Erleben des Individuums die universale Bedeutung der geschichtlichen Person Jesu erschließt. In Herders Denken begegnet sich eine Emphase für ein am Leben Jesu ausgerichtetes Christentumsverständnis mit einer ebenso emphatischen Bejahung der in Entstehung begriffenen modernen Wissenschaften. In diesem Gefüge unternimmt Herder seine lebendige Vermittlung vom Geist des Christentums mit dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis auf der Basis einer Logoschristologie. Weil das Christentum der Träger der geschichtlichen Offenbarung des Logos ist, ist es für Herder letztlich die »Religion der Menschheit«41. Der sachliche Zusammenhang der drei Artikel des Glaubensbekenntnisses als eine Miniatur von Herders Denken verstanden stellt sich demgemäß wie folgt dar: Der Gedankengang vom ersten Artikel, der im Gottesbegriff das Wesen von Wirklichkeit und Religion überhaupt thematisiert, über den zweiten Artikel, in dem Christus als metaphysischer wie geschichtlicher Konstitutionsgrund der Humanität begriffen wird, zum dritten Artikel, der den heiligen Geist als das Wirken des Logos in Natur und Geschichte begreift, muss vom epistemischen Entdeckungszusammenhang sonach umgekehrt werden. Erst die Erscheinung Jesu, wie sie der Geist erschließt, offenbart nach Herder den Sinn von Natur und Geschichte ganz. Die Pneumatologie als die geschichtliche Selbstauslegung der wesentlichen logosgemäßen Bestimmung des Menschen wird damit zum grundlegenden Entfaltungsrahmen von Herders – man möchte sagen Theologie, aber es ist noch mehr – gesamten Wirklichkeitsverständnis. Humanität ist dabei für Herder die säkulare Chiffre, die christologisch fundierte Ebenbildlichkeit Gottes zu denken, die er seinen 41

AaO. 785.

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Rückblick und Ausblick

Zeitgenossen in den verschiedensten Kontexten seines Schaffens vermitteln will.42 Er entwirft damit eine Theorie religiöser Deutung von Wirklichkeit, die auf einem nur in historischer Brechung zugänglichen realistischen Grund ruht. In der Religion wird sich der Mensch bewusst, dass er immer schon aus einem Grund lebt, den er sich nicht selbst geben kann.

2. Fluchtlinien Herder als Theologe ist innerhalb der Theologie immer noch ein unentdecktes Land. Dass das so ist, liegt m. E. an zwei Gründen. Zum einen liegt es an Herders Art und Weise zu schreiben. Er ist im besten Sinne des Wortes – ähnlich wie Luther – ein Gelegenheitsschriftsteller. Konkrete Anlässe und Kontroversen bringen ihn dazu, auf den verschiedensten gesellschaftstheoretisch relevanten Feldern zu publizieren. Sein Geist ist dabei ebenso universal wie die Gattungen seiner Schriften. Aber genau hierin liegt auch das rezeptionsgeschichtliche Problem. Herder hat seine Anschauung nie systematisierend in einem ›großen Wurf‹ dargelegt. Der Theologe Herder ist nicht nur in seinen explizit theologischen Schriften zu finden, sondern muss in dem gesamten Werk aufgesucht werden. Für diese Spurensuche hat die vorliegende Arbeit versucht, einen Leitfaden an die Hand zu geben, der die die derzeitige Herderforschung prägenden Charakterisierungen Herders als Antimetaphysiker und Naturalist zumindest relativiert. Zum anderen steht Herder in der Theologie immer noch im Schatten von Kant (dem Philosophen des Protestantismus), Schleiermacher (dem Kirchenvater des 19. Jahrhunderts) und Hegel (dem Restitutor der Trinitätslehre). Hinter deren Entwürfen, die jeweils in einer hohen Geschlossenheit und Systematizität auftreten, tritt Herder wirkungsgeschichtlich zurück, wozu wohl auch maßgeblich Herders Gegnerschaft gegen den Kantischen Kritizismus beigetragen hat.43 Faktisch hat Herder eine breite Wirkung entfaltet, wenn auch ›unterirdisch‹. So seien abschließend noch einige ›Winke‹ – wie Herder sagen würde – gegeben, die Herders Bedeutung für die gegenwärtige Theologie ins Licht stellen wollen. Ich sehe im Wesentlichen vier Felder, auf denen Herder dem gegenwärtigen theologischen Denken Impulse gegeben hat und noch geben kann. In der hier gebotenen Kürze handelt es sich um folgende nicht trennscharf zu verhandelnden Aspekte: um den Gottesgedanken, die Christologie, 42

Vgl. E. Herms, Bildung des Gemeinwesens aus dem Christentum, 309–325. Es bleibt auch nur zu vermuten, dass Herder innerhalb der Theologie zu einer größeren Wirkung gekommen wäre, wenn sich tatsächlich die Möglichkeit, in Göttingen Professor der Theologie zu werden, realisiert hätte. Vgl. zu diesem unerfüllt gebliebenen Stück Biographie Herders R. Smend, Herder und Göttingen, 108–134. 43

2. Fluchtlinien

267

die religiöse Deutung von Natur und Geschichte und nicht zuletzt die theologische Anthropologie. a) Die erste Leistung Herders sehe ich in dem von ihm entworfenen Gottesbegriff. In der von mir rekonstruierten Struktur des Denkens Herders öffnet sich ein Mittelweg gegenüber den ihm nachfolgenden Konzeptionen Schleiermachers und Hegels. Mit Schleiermacher entwirft Herder einen anthropologischen Religionsbegriff, von dem aus er dann aber mit Hegel Gott als das Absolute oder die alles bestimmende Wirklichkeit denken will. Herder ist ein Denker, der noch vor dem religionsphilosophischen Scheideweg zwischen Schleiermacher mit seiner religionstheoretischen Begründung des Gottesgedankens und Hegels Ansatz, das Absolute an sich selbst zu denken, steht. Herder denkt Gott anthropologisch aus der Selbsterfahrung des endlichen Subjektes und zugleich wird aus dem Gottesbegriff die Selbsterfahrung in ihrer Struktur begründet. In dieser spannungsreichen Ellipse vollzieht sich sein Denken. Schleiermacher und Hegel greifen je einen dieser Punkte in der Entfaltung ihrer Systeme heraus. Hierin liegt m. E. der Reiz von Herders Ansatz, der uns bei aller Unsystematizität Herders als Aufgabe aus seinem Werk entgegen kommt. Diese zwei sich dialektisch ineinander verschlingenden Bewegungen prägen Herders Denken. Für eine moderne Religionstheorie bleibt der Herdersche Ansatz eine unabgegoltene Aufgabe. Der Ort, an dem Herder diese Immanenz der Transzendenz reflektiert, ist seine Spinozarezeption. Der hier von mir für Herder rekonstruierte Monismus des Geistes erwies sich in einer vertiefenden Interpretation als eine Neuformulierung der Logoschristologie. Neuformulierung insofern, als dass Herder Christus als den Logos nicht spekulativ entwirft, sondern aus der Erfahrung des endlichen Bewusstseins begreift. Die Pneumatologie muss demnach als Auslegung der Wirkmächtigkeit des Logos in Natur und Geschichte begriffen werden. Es kann insofern angefragt werden, ob Herder mit diesem zumindest ökonomischen Trinitätsbegriff einer Reformulierung der Trinitätslehre unter modernen Bedingungen, nämlich als theologischer Ausdruck der Erfahrung des endlichen Bewusstseins an sich selbst, nicht näher stand, als er in seinem antitrinitarischen Affekt dachte. Seine durchgehende Polemik gegen Metaphysik ließ ihn wohl übersehen, dass er hier selbst – an Kant vorbei – eine Metaphysik des Endlichen entwirft. Diese Metaphysik des Endlichen kommt erst im deutschen Idealismus voll zum Klingen und führt bezeichnender Weise bei Hegel zu einer Neuformulierung der Trinitätslehre. b) Den zweiten zentralen – und soweit ich sehe bisher noch nicht eingeholten – Aspekt sehe ich in Herders Christologie. In der von Herder entworfenen Christologie der Wirkung sehe ich ein tragfähiges Konzept, das den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus produktiv aufeinander bezieht, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Das gilt unbeschadet der Tatsa-

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Rückblick und Ausblick

che, dass Herder selbst hier die Tiefe des historischen Grabens noch nicht gesehen hat. Die Wirkung der Person Jesu in geschichtsphilosophischer wie subjektivitätstheoretischer Hinsicht wird von Herder als ein Moment des Historischen selbst ausgelegt. Jesus setzt als historische Person einen Geschichtszusammenhang aus sich heraus, der bis in die Gegenwart fortwirkt. Die darin sich selbst tradierende universelle Bedeutung des historischen Menschen Jesus bestätigt sich in den rezipierenden Subjekten je und je. Insofern entwirft Herder eine relationale Christologie, der auf der Seite der Glaubenden eine Anerkennung der von Jesus ausgehenden Wirkung entsprechen muss. Firmiert unter der Wendung Christologie der Wirkung also gleichsam die objektive Seite von Herders Christologie, so ließe sich die ihr entsprechende aneignende Dimension des Glaubens aus subjektivitätstheoretischer Perspektive als Christologie der Anerkennung bezeichnen. Dabei ist keine der beiden Seiten auf die jeweils andere zu reduzieren. Die Wirkung realisiert sich nur in der Anerkennung und die Anerkennung nur durch die Wirkung. Hinter diesen Zirkel gibt es aus der Perspektive des Glaubens kein Zurück, womit er auch der angemessene Entfaltungsrahmen für die Christologie als Auslegung des Glaubens ist. c) Aus systematisch-theologischer Perspektive muss Herders Anspruch, ausgehend von der erfahrungsbezogenen Logoschristologie eine universale Deutung von Natur und Geschichte vorzunehmen, überzeugen. Der Theologe Herder beschränkt sich nicht auf die Diskussion innertheologischer Debattenzusammenhänge, sondern ihm geht es um eine umfassende Deutung der Welt wie der gesellschaftlichen Prozesse seiner Zeit, die er von seinem logoschristologisch fundierten Humanitätsbegriff aus vornimmt. Sein reiches Schaffen, das sich in ebenso reichen Forschungssträngen über ihn wieder findet, hat seinen Grund in dem schöpfungstheologischen Impuls, dass Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist. Daraus folgt, dass die Theologie an den Erkenntnissen der außertheologischen Wissenschaften nicht vorbei gehen kann. Gründet alle Wahrheit in Gott und ist die Wahrheit nur Eine, dann kann die Theologie die Ergebnisse der anderen Wissenschaften nicht ignorieren, sondern muss sie theologisch interpretieren. Gegenwärtig gibt es, soweit ich sehe, zwei wirkmächtige Konzepte, die diesen Anspruch der Theologie zu erfüllen versuchen und denen insofern Herder als ihr Ahnherr gelten kann. Da ist zum einen an die in Anschluss an Alfred N. Whiteheads spekulative Kosmologie sich anknüpfende Prozesstheologie44 zu denken sowie an Wolf44 Vgl. dazu im Überblick R. Faber, Prozesstheologie, 179–197, sowie die Debattenlage seit dem 17. Jahrhundert umfänglich nachzeichnend I. G. Barbour, Wissenschaft und Glaube. Historische und zeitgenössische Aspekte, 2003. In der deutschsprachigen Theologie kommt es vor allem bei M. Welker zu einem Gespräch mit der überwiegend angelsächsisch geprägten Prozesstheologie; vgl. dessen Buch: Universalität Gottes und

2. Fluchtlinien

269

hart Pannenbergs geschichtstheologisches Konzept der Offenbarung als Geschichte45 . Natur und Geschichte werden in beiden Konzepten auf die in ihnen offenbar werdende Wirkmächtigkeit Gottes hin befragt. Darin wird allerdings ein Problem deutlich, das auch schon für Herder namhaft zu machen ist: Erkenntnisse aus der Geschichts- wie aus der Naturwissenschaft werden unmittelbar theologisch vereinnahmt. Solch ein Verständnis von Theologie tendiert zum einen zu einem Streit der Fakultäten, insofern sich die Theologie hier mit den außertheologischen Wissenschaften auf derselben argumentativen Ebene um die Deutung derer Ergebnisse streitet.46 Theologie wird so tatsächlich – entgegen der Intention der damit verfolgten Argumentationsstrategie – zu bloß einer Wissenschaft neben den anderen Wissenschaften. Zum anderen droht sich damit das theologische Verstehen von Wirklichkeit jeder erkenntnistheoretischen Kontrollierbarkeit zu entziehen, insofern naturwissenschaftliche oder geschichtliche Phänomene ohne eine erkennbare Kriteriologie einer theologischen Deutung unterworfen werden.47 Beides ist für eine Theologie, die den Anspruch haben muss die gesamte Wirklichkeit zu begreifen, zu vermeiden. Theologie als die Deutung der Deutungen von Welt und Mensch muss ihrem Wesen nach einen metatheoretischen Standpunkt haben, der um die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und Machbarkeiten weiß. Eingedenk dieser Kautel wird ihr aber die gesamte Schöpfung wie die diese reflektierenden Wissenschaften zum Thema. Das ist die bleibende Aufgabe, die die Theologie von Herder empfangen hat. d) Was in dieser Weise für das Verhältnis von Theologie und Wissenschaften im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen für die Konstitution einer theologischen Anthropologie. Der Mensch ist im umfassenden Sinne Gegenstand der Humanwissenschaften. Medizin, Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaften und Ethnologie – um nur einige zu nennen – leisten auf ihren Gebieten Entscheidendes, um zu einem Verständnis des Menschen als eines psychosozialen Lebewesens zu kommen. Unter der Vielzahl der sich nochmals in Relativität der Welt. Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozeßdenken nach Whitehead, 1981. 45 Vgl. den programmatischen Entwurf von W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, 51982 (11961). 46 Die aus den USA herüber schwappende Diskussion um die Evolutionstheorie bzw. ›Intelligent Design‹ ist ein instruktives Beispiel für solch eine theologisch fehlgeleitete Debattenlage. 47 Darauf hat zu Recht U. Barth, Abschied von der Kosmologie, 425, hingewiesen. Vgl. zu der Fragestellung insgesamt den von W. Gräb herausgegebenen Aufsatzband: Urknall oder Schöpfung? Zum Dialog von Naturwissenschaft und Theologie, 1995. M. Heinz, Sensualistischer Idealismus, XXV, fasst das erkenntnistheoretische Problem bei Herder treffend dahingehend zusammen, dass die Erkenntnistheorie der Ontologie nach- und nicht vorgeordnet wird.

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sich differenzierenden Wissenschaften droht aber die Einheit des Forschungsgegenstandes, also hier des Menschen, verloren zu gehen. Diese Einheit zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, kann als die ureigenste Aufgabe der Theologie begriffen werden, insofern in ihr der Mensch vor Gott, d. h. der Mensch in der Ganzheit seines Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses, thematisch wird. Diese Weite einer theologischen Anthropologie ist es, die Herder mit seinem Humanitätsbegriff einzufangen versucht. Humanität ist ihm in diesem Sinne Integrationsbegriff seiner Gesamtanschauung vom Menschen. Dabei liegt m. E. die eigentliche Leistung Herders darin, dass er nicht allein als Begründer einer philosophischen Anthropologie anzusehen ist, die den Menschen aus dem Gesamtzusammenhang von Natur und Geschichte versteht, sondern dass er diese selbst als aktualisierende Auslegung der altkirchlichen imago-Dei-Tradition versteht. Damit ist Herders philosophische Anthropologie also von vornherein als theologische Anthropologie zu verstehen. Herder in dieser fundamentalanthropologischen Bedeutung für die Theologie wieder entdeckt zu haben, ist das Verdienst von W. Pannenberg.48 Über Pannenbergs Herderinterpretation hinaus muss m. E. schon von Herder selbst her die christologische Interpretation des Gedankens der Ebenbildlichkeit Gottes betont werden.49 Nur so wird die Humanität nicht zu einem nebulösen Begriff, der alles und nichts heißen kann. In Christus findet die Humanität ihren Grund und ihr Ziel. Soll dies nicht bei einer blanken Versicherung bleiben, so muss m. E. auch darüber nachgedacht werden, die altkirchliche Logoschristologie unter modernen Bedingungen neu zu formulieren. Sie würde dann den – in der von Herder gezeichneten Spannung – geschichtlich-metaphysischen Entfaltungsrahmen für ein universales Konzept von Humanität bieten. Damit wäre auch für den interreligiösen Dialog Klarheit gewonnen, indem sich nicht hinter einer nur scheinbar neutralen schöpfungstheologischen Argumentation der christliche Standpunkt verbirgt. Von einem Humanitätskonzept aus, das sich vom reformatorischen ›solus Christus‹ her versteht, besteht für den Protestantismus jedenfalls guter Grund, dem Thema der Menschlichkeit wieder verstärkt Geltung zu verschaffen. »Licht, Leben, Liebe«50 – in diesen drei Worten auf Herders Grabplatte in der Weimarer Stadtkirche ist Herders theologisches Vermächtnis formuliert: die Aufgabe der Menschwerdung des Menschen nach dem Bilde Christi zu einer humanen Gesellschaft.

48

Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 40–71. Diese Deutung hält Pannenberg bekanntermaßen für seine eigene Konzeption selbst fest. 50 SWS 20, 74. 49

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Personenregister Adam 190, 205, 207 f., 210 f., 237 Adler, Emil 10, 72, 87, 122, 157 Adler, Hans 11, 219 Andresen, Carl 238 Aner, Karl 178, 195, 224 Anquetil-Duperron, Abraham 235 Anselm von Canterbury 224 f. Apel, Karl-Otto 48 Aristoteles 153, 206 Arnold, Gottfried 80 Arnold, Günter 3, 6, 24, 31, 62, 69 f., 104, 112, 125, 127, 160 f., 162 f., 186, 202, 221, 254 Athanasius 224 Auerochs, Bernd 8 Augustinus, Aurelius 88–90, 212, 216, 224 f., 238 Axt-Piscalar, Christine 121, 205, 213 Baasner, Rainer 52 Bacon, Francis 17 Baeumler, Alfred 46 Barbour, Ian G. 268 Barth, Roderich 29, 193 Barth, Ulrich 40, 63, 82, 177 f., 216 f., 269 Bartuschat, Wolfgang 85, 87, 92, 94, 107, 109 f., 131 Baumgarten, Alexander G. 88, 91 Baumgarten, Siegmund J. 178 Baur, Jörg 229 Bayer, Oswald 70, 194, 214 Bayle, Pierre 59, 77, 79 Becker, Bernhard 3 Bell, David 67 f., 138 Berger, Peter L. 184 Beutel, Albrecht 220 Birkner, Hans-Joachim 229 Blumenberg, Hans 19, 61 f., 108 Boethius, Anicius 89 f., 236 Bollacher, Martin 1, 26 f., 33, 41–43, 45, 55, 58, 70 f., 76 f., 92, 98, 208

Borsche, Tilmann 3 Buddeus, Johann F. 89 Buddha 262 Büchsel, Elfriede 204 Buffon, Georges L. 23, 26, 52, 54 Buhle, Johann Gottlieb 121 Bultmann, Christoph 3, 8–10, 32, 76, 190, 193, 195–197, 201, 204, 210, 218 Buntfuß, Markus 8 Camper, Pieter 38 Cassirer, Ernst 138 Cherbury, Lord Herbert v. 179 Cheung, Tobias 42 Christ, Kurt 67, 81 Chubb, Thomas 180 Cicero, Marcus T. 169 Clairmont, Heinrich 3, 70 Clarke, Samuel 104 Clayton, Philip 67 Colerus, Johannes 77 Collins, Anthony 179 Condillac, Etienne B. 27, 34 Cramer, Konrad 80 Dahlberg, Carl T. v. 138, 208, 210 Denziger, Heinrich 212 Derham, William 19 Descartes, René 17, 77, 95–97, 108 Dienst, Karl 19 Dilthey, Wilhelm 22, 172 Dobbek, Wilhelm 13, 31 Doerne, Martin 31, 39, 247 Dreike, Beate M. 91, 98 Droysen, Johann G. 172, 176 Dubos, Jean-Baptiste 52 Düsing, Wolfgang 125, 213 Ebeling, Gerhard 231 Echternach, Helmut 88 Ellsiepen, Christof 82, 85–87, 92, 96, 121, 138

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Personenregister

Erdmann, Heinrich 105 Ernesti, Johann A. 239 Ewald, Schack H. 77, 82 Faber, Roland 268 Faust, Ulrich 185, 187 Federlin, Wilhelm-Ludwig 163 Feil, Ernst 176, Fénelon, François de Salignac de La Mothe 62, 153 Ferguson, Adam 43 Fichte, Johann G. 63, 82, 145 Fink, Gonthier-Louis 52 Flasch, Kurt 89 Fontenelle, Bernhard le Bovier de 19 Frey, Jörg 232, 235 Gadamer, Hans-Georg 38, 48, 163, 176 Gaier, Ulrich 9, 16, 28, 34, 37, 52, 125, 190, 197, 206 Gatterer, Johann C. 23 Gawlick, Günter 177 Gawoll, Hans-Jürgen 113 Gegenschatz, Ernst 89 Gehlen, Arnold 33, 35, 38, 44, 176 Gerhard, Johann 89 Gericke, Wolfgang 177 Geulincx, Arnold 100 Gloy, Karen 88 Gockel, Heinz 185 Goebel, Louis 82 Goethe, Johann W. v. 5, 33, 41, 64, 67, 75, 76, 92, 153, 174, 215 Gräb, Wilhelm 269 Graubner, Hans 200, 205 Groß, Sabine 3 Grotius, Hugo 8, 169 Grunert, Frank 56 Guthke, Karl S. 19 Habermas, Jürgen 176 Häfner, Ralph 16, 32, 39–41, 48, 54, 57, 66 Haller, Albrecht v. 27 Hamann, Johann G. 45, 70, 74, 137, 146 f., 170, 188–191, 194, 197 f., 200 f., 203–205, 207–209, 214 f. Hammacher, Klaus 70, 115, 126 f. Harnack, Adolf v. 180 Harnack, Theodosius 13 Hartlich, Christian 185

Haym, Rudolf 3, 41, 68 f., 163 Hegel, Georg W. F. 29, 67, 75, 91, 121 f., 166, 176, 207, 219, 266 f. Heidegger, Martin 44, 176 Heinz, Marion 3, 7, 24, 68, 72, 97, 102 f., 126, 133, 138, 143, 172, 186, 247, 269 Heise, Jens 1 Heit, Alexander 213, 225, 247 Hemsterhuis, François 76, 123 Henrich, Dieter 47, 62, 78, 85, 108, 119 Herms, Eilert 3 f., 77, 104, 134, 145, 216, 266 Heydenreich, Karl H. 113–119 Heyne, Christian G. 187 Hillermann, Horst 85 Hinske, Norbert 219 Hirsch, Emanuel 24, 46, 64, 153, 177, 193, 240 Hobbes, Thomas 48, 61, 128, 174 Hofe, Gerhard vom 8, 191, 197, 220 Hoffart, Elisabeth 68, 75 Holbach, Paul H. T. Baron d‘ 17, 29, 123 Holl, Karl 13 Homer 170 Hornig, Gottfried 176 Huber, Peter T. 89 Hume, David 8, 59, 73, 102, 190 Hummel, Gerd 18 Huss, Udo F. 10 Irenäus von Lyon 217, 235 Irmscher, Hans D. 1, 3, 5, 13, 24, 40–42, 75, 156, 161, 163, 186, 188, 214, 220, 247 f. Jacobi, Friedrich H. 29, 63, 67, 69–75, 79–84, 91–93, 97, 115–117, 120–124, 126–135, 137, 138, 146, 152, 153 Jaeschke, Walter 37, 122 Jaspers, Karl 261 Jean Paul 1, 19 f. Jerusalem, Johann F. W. 180, 195 f. Jesus Christus 9, 11 f., 14, 19, 180, 183, 207, 214, 217, 220–226, 231–256, 261– 265, 267 f., 270 Jodl, Friedrich 48 Jørgensen, Sven-Aage 194, 205 Jüngel, Eberhard 44 Kant, Immanuel 3, 6, 23, 24, 29, 32, 33, 47 f., 49, 52, 54–56, 59, 61, 63, 70, 73,

Personenregister 77 f., 81, 88, 91–93, 97, 101, 103, 113, 121, 131–133, 145 f., 158, 174, 177, 184, 193, 203 f., 212–215, 218, 224 f., 227, 238 f., 245, 247, 262, 264–267 Kantzenbach, Friedrich W. 17, 122, 175 f., 221, 224, 238 Kapitza, Peter K. 170 Kemper, Hans-Georg 18 f. Keßler, Martin 2, 4 f., 10, 221 Kim, Dae K. 34 Kisser, Thomas 136 Klein, Angelika 3 Klein, Dietrich 178 Klopstock, Friedrich G. 76 Knoll, Samson B. 1 Koepke, Wulf 1–3, 125, 174 Kondylis, Panajotis 17, 23 Kortholt, Christian 179 Koselleck, Reinhard 27, 38, 176 Koyré, Alexandre 104 Kubik, Andreas 185 Kuhles, Doris 1 Kumlehn, Martin 6, 48, 221, 250 Lambert, Johann H. 125, 165 La Mettrie, Julien O. de 33, 123 Lange, Horst 69 Laplace, Pierre S. 108 Lauermann, Manfred 67, 82 Lavater, Johann C. 40, 232, 248 Lechler, Gotthard V. 177–179 Leibniz, Gottfried W. 17, 20 f., 29 f., 32, 38, 46, 59, 68, 69, 72, 76–79, 82, 84, 85, 95, 98–102, 104, 105, 108, 116, 117–119, 123, 125, 129, 133 f., 138 f., 147, 160, 165 f., 178 f., 259 Leland, John 178 Leppin, Volker 2, 10 Lessing, Gotthold E. 68, 69 f., 71, 76, 81, 87, 121, 127, 143, 147, 153, 159, 170, 195 f., 239, 242, 245–247 Lessing, Theodor 162 Leuser, Claudia 158 Ley, Friedrich 33 Lilienthal, Theodor C. 178 Linden, Mareta 16 Lindner, Herbert 10 Liske, Michael-Thomas 99, 138 Litt, Theodor 30 Locke, John 38, 41, 69, 76, 129, 145

297

Löchte, Anne 66 Löwith, Karl 8 Lohse, Bernhard 212 Longinus, Cassius 193, 195 Lowth Robert 8, 195 Lübbe, Hermann 186, Luther, Martin 13, 112 175, 181, 211 f., 215, 216, 227, 230 f., 266 Linné, Carl v. 26 Machiavelli, Niccolò 174 Malebranche, Nicolas 100 Malesherbes, Lamoignon d. 84 Malter, Rudolf 112 Maltusch, Johann G. 2 Manetti, Giannozzo 43, 50, 217 Mannheim, Karl 31 Mascardi, Agostino 39 Maupertius, Pierre L. M. de 34 Meckenstock, Günter 82 Meijering, Eginhard P. 89 Meinecke, Friedrich 30 f. Mendelssohn, Moses 60, 74, 77, 80 f., 84, 94, 97, 138 f., 146, 243 Mettrie, Julien O. de la 33, 123 Meyer, Friedrich L. W. 127 Michaelis, Johann D. 178, 197, 239 Möller, Michael F. 15, 34 Montesquieu, Charles de Secondat de 52 Morgan, Thomas 180 Mosheim, Lorenz v. 179 Mühlenberg, Ekkehard 238 Müller, Götz 20 Müller, Johann G. 69 Mueller-Vollmer, Kurt 1 Mulsow, Martin 153 Murrmann-Kahl, Michael 233 Namowicz, Tadeusz 207 Neis, Cordula 34 Newton, Isaac 104, 108, 123 Nietzsche, Friedrich 153 Nisbet, Hugh B. 3, 6, 125, 195, 197 Norton, Robert E. 3 Ohst, Martin 82 Otto, Regine 2, 68 Otto, Rüdiger 67 Otto, Rudolf 186

298

Personenregister

Pannenberg, Wolfhart 33, 38, 66, 104, 108, 127, 176, 185, 210, 216, 218, 221, 224, 228, 238, 269 f. Pascal, Blaise 19, 21 Paulus 87, 233 f. Pestré, Jean 59 Pfleiderer, Otto 168, 191 Philipp, Wolfgang 18 f. Philo von Alexandrien 233, 236 Pico della Mirandola 50, 217, 232 Pindar 170 Platon 43, 88, 216, 236 Plessner, Helmuth 33, 41, 176 Plinius, Gaius P. Secundus d.Ä. 84 Plotin 88 Pope, Alexander 13, 71 Poschmann, Brigitte 2 Preuß, Horst D. 217 Prometheus 43 Proß, Wolfgang 6 f., 15–17, 23 f., 29, 31, 33, 36, 38, 40, 43, 52, 55, 57, 63, 64 f., 68, 70 f., 97 f., 113, 116, 145, 169, 171, 174, 188 Quenstedt, Johann A. 89 Ranke, Leopold v. 61, 172 Regen, Frank 89 Reimarus, Hermann S. 35, 178, 239–242, 245 Reinhold, Karl L. 78 Riedel, Friedrich A. 193 Ringleben, Joachim 89, 191, 194 Ritschl, Albrecht 180 Ritter, Adolf M. 238 Robespierre, Maximilien M. I. 175 Robinet, Jean B. 26 Rohls, Jan 69, 127 Rousseau, Jean-Jacques 34, 37, 43, 48, 57, 174, 181 f. Ruprecht, Erich 172, 254 Sachs, Walter 185 Sack, August F. W. 177, 180 Sauder, Gerhard 3, 204 Schaede, Ernst J. 68 Scheler, Max 33, 149 Schelling Friedrich W. J. 119, 173 Schiller, Friedrich 63 Schleiermacher, Friedrich D. E. 2, 19, 56,

69, 82, 92, 105, 121, 122, 138, 182, 198, 227, 253, 255, 266 f. Schmidt-Biggemann, Wilhelm 147, 160, 185 Schnarr, Hermann 88 f. Schneege, Gerhard 72 Schneider, Bärbel 178 Schneiders, Werner 46, 77 Schöne, Albrecht 190 Schoeps, Julius H. 81 Scholz, Gunter 7 Scholz, Heinrich 67, 80 Schrader, Wolfgang H. 130 Schröder, Maria-Brigitta 67, 82 Schürmann, Eva 67 f., 87, 92, 116, 140 Schweitzer, Albert 246 Semler, Johann S. 180, 235, 239 Shaftesbury, Anthony A. C. 17, 36, 43, 48, 71, 76, 144 f., 149, 154, 156 Shichiji, Yoshinori 185 Simon, Josef 31 Smend, Rudolf 8, 186, 200, 204, 210, 266 Smith, Adam 58, 175 Sommer, Andreas U. 195, 219 Spaemann, Robert 62, 153 Spalding, Johann J. 22, 60, 151, 159, 180, 219 f., 228, 234, 236 Spinoza, Baruch de 4, 12, 29 f., 42, 50, 59, 64 f., 67–77, 79 f., 81, 82–88, 91, 92–98, 102–124, 126–128, 130–141, 143 f., 151– 155, 158, 160, 171, 179, 203, 221, 238, 243, 252, 256, 259 Steiger, Johann A. 192, 232 Stolpe, Heinz 68 Stückrath, Jörn 34 Süßmilch, Johann P. 34, 45, 189 Sulzer, Johann G. 49 Sunnus, Siegfried H. 39, 44 Telesio, Bernardino 153 Terenz 159 Theunissen, Michael 88, 238 Tholuck, Friedrich A. G. 121 Thomas v. Aquin 89 Tillich, Paul 92, 173, 206, 228 Timm, Hermann 20, 67, 113, 123, 137, 153, 208, 221 Tindal, Matthew 178, 180 Toland, John 178, 179 f. Troeltsch, Ernst 31, 71, 177 Tumarkin, Anna 49, 68

Personenregister

299

Voigt, Alfred 46 Voigt, Christopher 178 Vollrath, Wilhelm 68 Voltaire 167

Winckelmann, Johann J. 31 Wokler, Robert 40 Wolff, Christian 28, 29, 80, 82, 83, 86–88, 90, 147, 169, 178

Wagner, Falk 91, 176, 229 Walch, Johann G. 80 Wekhrlin, Wilhelm L. 119 f., 123, 135 Welker, Michael 268 Welter, Nicole 47 Werner, August 2, 76 Whitehead, Alfred N. 268 Wieland, Christoph M. 78

Zaremba, Michael 1 Zeuch, Ulrike 29 Ziebritzki, Henning 238 Zimmermann, Eberhard A. W. 23, 26, 55 Zippert, Thomas 9 f., 83, 158, 191, 227, 229, 240, 258 Zoroaster 236

Sachregister Abhängigkeit, abhängig – von den Daseinsbedingungen 17 – von Gott 85 f., 111, 138, 149 – der Vernunft von den sog. niederen Seelenvermögen 46 f. Absolute 74, 84, 86, 93, 136 f., 142, 267 – Darstellung im Endlichen 92 f., 111, 257 – Theorie 121 f., 157 f. Adam-Christus-Typologie 207 aeternitas s. Ewigkeit Ästhetik, ästhetisch 8, 46, 63, 68, 93, 160, 192 f., 239, 244 f., 254 Affekt 36 f. – geistiger 152, 252 – als Körperaffektion 109 f. – als elementare Lebensäußerung 34, 46, 186 Affektsteuerung 140 Aktuosität – als Wesensbestimmung Gottes 105, 114, 117, 148 – das Endliche als Ausdruck der A. Gottes 107 f., 115, 155 Alleinheit 20, 87 Allgegenwart, allgegenwärtig 148, 197, 200 Allgemeine – Erkenntnis 109 f. – und das Individuellen 56, 68, 111 Allmacht, allmächtig 21, 95, 112, 120, 154, 202, 243 f., 259 Altes Testament, alttestamentlich 8, 180, 183, 231, 233 f., 239 amor Dei intellectualis 143 f., 151 f., 154 f., 251 analogia entis 142 Analogie – als Erkenntnismittel 172, 186 – Methode 17, 165 Anlage

– und Bestimmung 12, 211, 219 f., 264 – zur Religion 184 Anschauung, anschauen 198, 252 – Gottes im Endlichen 111, 198 f., 260 – sinnliche 146 Anthropologie, anthropologisch 13–66, 122 – als Abgrenzung vom Mechanismus 29, 33 – Bedeutung der Christologie 9, 221, 237, 248–251, 255 f., 257, 261–263 – als Bindeglied zwischen Natur- und Kulturtheorie 15–17, 29, 33, 57 – telelogische Dimension 150–157 – Naturalisierung der 7, 12, 23–30 – theologische 9, 16, 20, 22, 24, 32, 46, 50, 83, 136, 173, 203, 216–220, 225, 267, 269 f. Anthropomorphismus 73 f., 95, 127 f., 134, 136 Apologetik 216, 238 Apotheose 71, 190, 208 arbitrium s. Wille Atheismus 75, 79 f., 83 f., 91–93, 179 Atheismusstreit 82 Attribute 83, 93–98, 102, 105, 114 f., 117 f. Attributenlehre 79, 93, 102 f., 109, 118, 131 f. Auferstehung 239–245 Aufklärung 8, 46, 49, 53, 74, 78, 160, 216 f. – christliche 178 Ausdruck – von Empfindungen 27 – Gesetz als A. Gottes 165, 169, 172 – Gottes im Endlichen 94 f., 97, 103, 108, 112, 118, 120, 210, 126, 140–151, 157, 174, 191, 201, 215, 260 – Kultur als A. der imago Dei 217 – Mythos als A. des religiösen Gefühls 185–187

Sachregister – Natur als A. des Geistes 171 f. – Stufen des religiösen A. 227–229 Autonomie 218 Autoproduktivität 42 Bedingungsverhältnis – in Bezug auf Bedingungsverhältnisse in der Welt 30, 57, 149 – in Bezug auf das Gott-Welt-Verhältnis 86 f., 92, 103, 142 Begriff – geometrischer 138 – Grenze 130, 142–144 – höchster 127 – klarer 26 – personifizierter 125 – unentwickelter 70 – unzergliederbarer 135 – reiner 106, 129 – vollständiger 147 Besonnenheit 44, 34, 36–38, 151, 219, 231 Bestimmtheit 51, 220 – deskriptive 160 – gegebene 46 – letzte 22 – raum-zeitliche 21, 30, 78, 107 Bestimmung 16, 21, 27, 39, 42, 43, 51, 54, 57, 71, 59, 168, 206–209, 214 f. – und Anlage 12, 14, 150, 160, 165 – christologische 232 f., 236 f., 248, 250–252, 255, 261–265 – schöpfungstheologische 9, 46, 50 f., 199, 217–220, 263 f. – als/zur Selbstbestimmung 39, 42, 45 f., 49 f., 54, 123, 130, 246 – telelogische 164, 216 f., 255 Bewusstsein 37, 129, 149 – endliches 7, 39, 78, 82, 93, 267 – historisches 49 – kulturelles 74 – religiöses 74, 158, 197, 227 f., 230 – Satz des B. 75 Bibel 193 f., 211, 214, 226, 227 – freie Untersuchung 179 Bibelkritik 178, 239 f. Bildung 44, 47, 211, 215 f., 237 – kulturelle 62, 151, 159, 160, 163, 170 – Prozess 16, 161, 163, 232 – Theorie 164 – zur Vernunft 13, 167

301

Bildungsauftrag – christlicher 223, 232 f., 237 Billigkeit 169, 174 Böse, böse 206 f., 209, 211, 214, 238 – radikales 121, 213–215, 224 f., 238, 247 causa 86 – efficiens 87, 107, 115, 123 f., 152 – finalis 115, 120, 123, 152 – immanens 87 – libera 50 – rerum 85, 106 – secunda 25 – sui 62, 84–86, 106 f., 137, 140, 142, 149 – transiens 87 Christentum 6, 10, 12, 180, 209, 215, 222, 227, 231, 242 f., 252 f. – als Menschheitsreligion 183, 221, 223, 236, 264–266 – reformatorisches 181 – Renaissance 216 – undogmatisches 229 – vernünftiges 178, 181 – Wahrheit 245 f., 253 Christologie, christologisch 4, 9, 11 f., 205, 213, 221, 224 f., 231–233, 237, 240, 247, 257, 261 f., 265 – explizite 261 – implizite 261 – Monismus 237–239, 262 – Schwund 220 f., 224 – der Wirkung 248–256, 262, 267 f. cogitatio 30, 93, 95 f., 98, 102 f., 109, 114 f., 117, 120, 130–135, 144 conatus 107 f. conditio humana 38, 209 conservatio sui s. Selbsterhaltung cooperatio 169 Darstellung, darstellen 108, 132 Dasein 21, 130, 139 f., 156 – Bedingungen 16 f., 28, 30, 57, 64, 98 – als unzergliederbarer Begriff 135 – endliches 86, 108, 138–142, 145, 148, 150, 154, 156 – enthüllen 146, 148, 173 – Gefühl 155 f. – Genuss 60, 142–144, 167 – Gottes 81, 84, 111, 130, 132 f., 135, 136, 139–143, 148, 155 f.

302

Sachregister

– als Grund der Kräfte 145 Deismus 74, 84, 176–184, 192, 201, 258 Deszendenz 24 Determination, determinieren 17, 32 f., 41, 52 f., 65 Determinismus 22, 54, 57, 80–83, 89, 122–135, 168 Dialektik, dialektisch – von Allgemeinheit und Besonderheit 51–56 – von Anlage und Bestimmung 12 – in der Anschauung vom Menschen 37, 39 – von Außersichsein und Sichinnesein 199 – von Fremd- und Selbstkonstituiertheit 57, 64, 108 – der Geschichte 168 – von Natur und Geist 172 – von Sichtbarkeit und Verborgenheit Gottes 200 f. – von Transzendenz und Immanenz 92, 246 Dialog 76–79, 264 Dichtkunst 36, 170 Dichtung, dichten 186, 195 – personifizierte 226 – Theorie 8, 74, 216 Diversität – der Attribute 95 f., 98, 102 – der Kräfte 210 – des Menschengeschlechts 51, 54 f. Dogma, dogmatisch 10, 32, 66, 179 f., 182, 219, 224–230, 255, 258, 265 Dogmatik 180, 210, 226 f., 265 Dogmenkritik 224, 226 dominium terrae 44 Dualismus, dualistisch 102, 113, 114, 138, 157, 237 f., 244, 260 – cartesischer 17, 20, 28 f., 32, 63, 96, 99, 102, 113, 243, 257 – von Geist und Natur 38 – gnostischer 214, 238 – von Gut und Böse 207 – von Leib und Seele 243 – theistischer 75, 158 Dynamisierung, dynamisieren 20, 30, 72, 79, 158, 258 f.

Ebenbild Gottes 9, 24, 43, 46, 50, 111, 137, 149, 151, 171, 199, 205–211, 214– 221, 250 f., 256, 263, 265, 270 Einbildungskraft 20, 36, 58, 60, 106, 127, 145 f., 225 Einheit, einheitlich – der Attribute 95 f., 117 – essentielle 95, 118 – funktionale 40, 63 – Gottes 125, 128 f., 135, 139, 148, 156 – von Gott und Natur 63, 65, 86, 105 – von Grund und Begründetem 141, 144 – kausale 96, 114 – von Körper und Geist 96 – der Kräfte 185 – der Kultursphären 183 – leib-seelische 242 – im Machtbegriff 114–117 – und Mannigfaltigkeit 119, 185, 201 – des Menschengeschlechts 52, 54 f., 157, 232 – mythologische 187 f. – von Natur und Kultur 17, 22, 33, 125, 165, 171 – von physis und logos 65 f. – des Selbstbewusstseins 124, 129, 131 – substantielle 96, 98, 118 f. – der Substanz 94 f., 114 f., 118 – Telos 22, 26 – von menschlicher und göttlicher Vernunft 23 – des Weltzusammenhangs 102 f., 119, 248, 259 – des Willens 251 Ekklesiologie 252 Ektypus 237 Empirismus, empirisch 17, 38 f., 129, 213, 255, 264 Endliche, endlich 21 f., 73, 85, 87, 91–93, 97, 105–108, 111, 118, 143, 157 – Bedingungsverhältnis 92 – Dasein 139, 141 f. – Denken 132 – Erfahrung des e. Bewusstseins 7, 39, 78, 82, 93, 267 – Gedanke 94 – Individualität 121 f., 137, 139, 142, 144–150, 154–156, 259 – Metaphysik 78, 98, 138, 157, 184, 267 – Modus 131, 139

Sachregister – Reflexivität 165 – Subjekt 32, 123, 142, 144, 158, 267 – Substanz 84 – Verstand 134 – Zwecksetzung 81 Endlichkeit 21, 91 f., 108, 134, 141, 150 Enthüllung, enthüllen 148, 152, 162, 172, 251 – Dasein 146, 156, 173 – Geheimnis 180 Entwicklung, entwickeln 24 f., 49, 153, 166, 211, 248 – Bestimmung 250 f. – geschichtliche 15, 56, 192 – zur Humanität 161, 169, 254 – kulturelle 73, 152 – religionsgeschichtliche 183 Epistemologie s. Erkenntnistheorie Erbsünde 207 f., 214, 224 f. Erbsündenlehre 224 f. Erfahrung 17, 32, 39, 78, 103, 146, 186, 202 – des Absoluten 92 – des endlichen Bewusstseins 7, 32, 39, 78, 82, 267 – ethisch-moralische 81, 123, 132 – kontingente 109, 155 – Kontingenz 186 – von Negativität 166 f., 212 – von Transzendenz 92 f., 107, 148, 244 – tremendäre 73, 192 Erhabene 89, 193, 195, 204 Erhaltung, erhalten 16, 20, 148, 259 – der Art 25, 107 – Fremderhaltung 62, 108 – Sätze der E. 99 f. Erkenntnis 142, 146, 172 – adäquate 109 f. – Baum der E. 205 f., 209 – Gottes 25,153–156, 251 f., 261 – inadäquate 109 f. – intuitive 109–111, 137, 151 f., 251 – rationale 109–111 Erkenntnistheorie 7, 10, 38, 106, 109, 135, 139 f., 172 f., 259 f., , 265, 269 Erlöser 224, 246, 255 Erlösung 240, 247 Erziehung, erziehen 47 f., 161, 163, 166, 182, 196, 208, 212, 233

303

Eschatologie, eschatologisch 8, 220, 253–255 Essenz, essentiell 84, 94–97, 106–111, 114, 118 Ethik, ethisch 81, 93, 110, 121, 123, 132, 153 f., 169, 217, 225, 239, 249 f., 252 Ethnographie, ethnographisch 1, 33, 53, 58, 269 Evolution, evolutionär 23 f., 26, 269 Ewigkeit, ewig 21, 88–93, 97, 105–108, 111 f., 134, 142, 215, 220, 244 Ewigkeitshoffnung 165, 209, 264 Ewigkeitssinn 21 f., 254 Exegese, exegetisch 206, 216, 222, 231, 234 exprimere 94, 120 extensio 30, 93, 95–98, 102 f., 109 f., 114, 117, 132 extramundan 72–75, 81, 88, 91–93 Exzentrizität, exzentrisch 41, 47 fascinans und tremendum 186 Fatalismus 81, 83, 93, 123 felix culpa 206, 208 fides apprehensiva 230 Fortschritt, fortschreiten 28, 49, 61, 152, 160–162, 166, 242 Freidenker 179 Freiheit 17 f., 32, 41, 50, 82 f., 121–135, 218 – Gottes 134 f., 142, 148, 155 – Indifferenzfreiheit 120, 123, 134 – vom Instinkt 34 f., 41 f., 206 – protestantische 181 – der Wahl 123 – des Willens 120, 123 Fremderhaltung 62, 108 Gang – aufrechter 30, 40–44, 47, 54, 201 – Gottes 168, 262 – der Vorsehung 134 Gattung 23–26, 36, 38, 43, 48, 54, 56, 62, 136, 150, 167, 220, 250, 266 Gefühl 46, 58, 114, 138, 143, 156, 198–200 – Allgefühl 199 – des Daseins 155 f. – Mitgefühl 14, 172 – religiöses 185

304

Sachregister

– des Selbst 114, 148, 150 Gefühlsphilosophie 29 Geist – absoluter 133 – Christi 253 – Gesetze 100 – Gott 7, 119–157, 201 f. – heiliger 128, 253, 263–265 – und Körper 95 f., 98, 100–102 – der Liebe 251 f. – und Materie 98 f., 101 f., 117 f., 237 f. – menschliche 17, 26, 57, 109 f., 162 f., 259 – und Natur 32 f., 37 f., 68, 165, 171–173, 176 – des Protestantismus 181 – der Prüfung 179 Geistmetaphysik 40, 171, 173 Gemeinschaft 48, 55, 58, 163, 167, 244, 252 f., 263 f. Gemütsglauben 227, 231, 259, 261 Genesis 8, 24, 44 f., 55, 137, 191–197, 203, 206–208, 210, 216 f., 239, 263 Genuss – des Daseins 59 f., 167 – Gottes 130, 142–144, 148, 155 f., 251 Geographie, geographisch 15–17, 25, 52 Geschichte, geschichtlich 4, 7 f., 31, 40, 49, 65, 161 f., 165, 168, 194, 220, 232, 239, 245 f., 249 f., 262, 265 – der Kultur 17, 46 f., 51, 57, 61, 159, 173 f., 176, 220 – und Natur 22 f., 27–29, 33, 61, 125, 173, 257, 268 Geschichtsphilosophie 2, 4, 6, 9, 12, 15– 17, 32, 56, 62 f., 150 f., 157, 159 f., 162, 171, 218, 257 Gesellschaft 42, 48, 79, 167, 173–175, 228 Gesetz 15, 17, 20, 53, 109, 259 f. – als Ausdruck Gottes 111 f., 122, 134 f. – des Christentums 209 – der Geschichte 65, 161, 165, 171, 176 – des Geistes 100, 172 f. – Gottes 210, 215, 218, 252 – der Menschheit 223 – der Natur 17, 25, 28, 34, 42, 65, 98, 100, 110 f., 125, 139, 165, 172 – der Wiedervergeltung 165–167, 232 f. Gestalt 16, 24, 40, 42 f., 58, 102, 128, 145, 199, 222

Gewissen 230, 260 Glaube 183 f., 227 f., 230 f., 242, 245, 258, 268 – Geschichtlichkeit 245–248 – historischer 240, 254 – Regel 242 Glaubensartikel 182 Glaubensbekenntnis 123, 181, 226 f., 230, 257 f., 265 Glaubensphilosophie 63, 82 f., 122 Glaubenssätze 234, 254 Gleichwertigkeit der Kulturen 222, 236 Glückseligkeit 16, 56, 58–63, 153, 156, 167, 198, 208, 251 f., 255 f. Gott ähnlich werden 9, 45, 150–157, 171, 216–218, 250 f., 259 Gottebenbildlichkeit 24, 43, 46, 111, 137, 149, 151, 171, 205–211, 214–221, 250 f., 256, 263, 265, 270 Gotteserkenntnis 25, 153–155, 251, 261 Güte 21, 111, 119, 124 f., 135, 149, 154, 252 Hamartiologie 137, 203–215 Handel 175 Harmonie 21, 111, 166, 173, 210 – prästabilierte 32, 98, 100 f., 117, 138 heilsgeschichtlich 8 f., 220 f. Hermeneutik, hermeneutisch 8, 38, 57, 70, 74, 106, 160, 172, 176, 211, 239, 250, 262 Hieroglyphe, hieroglyphisch – Adam 190, 205, 208 – Schöpfung 196 f., 200 Historismus 30 f., 172, 239 Holismus 85 Homoiosis 45, 137, 216 f. Humanismus 31, 51, 217 Idealismus – deutscher 12, 37, 121, 126, 158, 247, 267 – objektiver 22 – sensualistischer 7 Identität 7, 23, 64, 87 f., 92, 96, 102, 130, 139, 141, 150, 153, 180, 200 imaginatio 109 imago Dei s. Ebenbild Gottes Immanenz 63, 92 f., 106, 108, 111, 137, 184, 202 f., 241, 244, 246, 267 Indifferenzfreiheit 123, 134

Sachregister Individualität 4, 27, 31, 55–58, 61 f., 65, 74, 109–111, 121 f., 136–147, 150–157, 161, 175, 189, 223, 251, 257, 259 Individualitätstheorie 83, 137–140, 143, 146, 157 Individuation 138, 140, 145–148, 153 f., 156 f., 164 f. Individuum 21, 25, 43 f., 56, 60 f., 63, 121, 137 f., 147, 154 f., 157, 164, 166 f., 171, 174, 176, 184, 219 f., 233, 249, 251, 253, 257, 260, 262, 264 f. In-Existenz 147 f. influxus physicus 100–102 Inkarnation, inkarnieren 217, 236, 238 Inkulturation 235 Inspirationslehre 253 Instinkt 34–38, 41–44, 47, 62, 166, 171, 205 f., 260 Institution, institutionalisiert 62, 174, 185, 216, 252 Irrationalismus 46 Jesulogie 9, 221–223, 248, 250, 261 Johannesevangelium 11 f., 222, 231, 234–239, 249, 251, 262 Judentum 233, 242, 258 Kausalität – doppelte 85, 101, 107 – geistmetaphysische 40 – Gottes 96, 100 – identische 117 – immanente 105–107 – der Natur 40, 191, 243 f. Kerygma, kerygmatisch 242, 254, 267 Kirche 5, 252, 264 Klimatheorie 51–55, 58 Kolonialisierung 175 Kommunikation 28, 34, 37, 48, 190 Kompensation, kompensieren 36, 53, 166 Kondeszendenz 190 Konfession, konfessionell 177 f., 181, 183 Kontingenz, kontingent 26, 61, 64, 109, 155, 161, 170, 186, 245 Kontrarietät 209–211 Kopernikanischer Schock 19 Kopernikanische Wende 18, 56 Kosmogonie 186 Kosmologie, kosmologisch 15–17, 20 f., 56, 268 f.

305

Kosmos 16, 18–22, 188, 259 Kraft 16, 29 f., 93–119, 130 – geistige 49 – gesetzmäßig wirkende 20 – gottähnliche 50 – immaterielle 101 – organische 41 f., 98, 102 f., 110, 118, 148, 165 f. – substantielle 99 – Theorie der wirksamen Kräfte 20, 29, 72, 208 f., 212, 258 f. – als Urkraft 29, 72 f., 103–105, 108, 111 f., 132, 142 f., 149 Kreuz 240 f., 244, 251 Kultur 15, 17, 37, 43–45, 47, 53 f., 57 f., 61, 64, 125, 168, 173, 183–185, 195, 201, 236 Kulturauftrag 217 Kultursphäre 160, 174–176, 183 Kultursynthese 238 Kulturtheorie 2, 4, 49, 68, 74, 156, 160, 164, 176, 221, 223, 238, 260, 262 Kulturwesen 29 f., 44, 150 Leben Jesu 234, 265 Lebenssteigerung 153 Lehrmeinung 226–231, 260 Letztbegründung 137, 189, 192, 200, 262 Lichtsprache 197–202, 231 f., 249 Liebe 25, 72, 173, 224, 251 f., 256, 270 Logos 11, 23, 66, 195, 232 f., 236, 238, 248–253, 255, 257, 262–265, 267 Logoschristologie 4, 11 f., 231, 233 f., 236–238, 248, 257, 262, 264 f., 267 f., 270 lux ex oriente 232 Macht (potentia) 107, 114–118, 126, 130, 135, 144, 259 f. Mängelwesen 35 f., 42, 196, 206 Materie 97–99, 101, 114 f., 117 f., 237 – tote 99, 102 Materialismus 17, 29, 32 f., 42, 102, 123 Maximenlehre 213, 225 Mensch – als Freigelassener der Schöpfung 39, 44, 65 – als Kulturwesen 30, 44, 150 – Mensch-Tier-Vergleich 26, 34–36, 39, 42, 47 f.

306

Sachregister

– als Mittelgeschöpf 26 f. – als Naturwesen 23, 27 f., 30, 34, 37, 39, 53 – Sonderstellung 18, 24, 30, 33, 42, 45 – als Sprachgeschöpf 38 f., 44 f., 136, 194, 198, 201 Menschenrecht 14, 175, 179 Menschheitsreligion 183, 264–266 Messiastradition 241 Metaphysik, metaphysisch 4, 7 f., 10, 12, 22 f., 31 f., 49, 88, 91, 150, 156 f., 161, 171, 200, 202, 221, 256, 265 – des Endlichen 39, 78, 98, 138, 157, 184, 267 – Spekulation 7, 226, 255 Mikrokosmus 26 Mitteilung, mitteilen 106, 141, 154 f., 251 Mittelbegriff 98, 102 f., 113 f., 116 Mitwirkung 161, 171 modaltheoretisch 133, 147 Moderne, modern 31, 62, 177 – Anthropologie 33 – Kultur 46 – Religionstheorie 267 – Weltbild 30 Modifikation 29, 51, 53 f., 56 f., 85, 97, 107, 116, 139 f., 145, 146 f., 150 Modus 84 f., 94, 109, 140, 145 – endlicher 107, 131, 139 f. – unendlicher 109–111, 131 Möglichkeit – und Wirklichkeit 133–135, 147 Monade 99, 105, 108, 138 – fensterlose 30, 101 f. Monadologie 98 f. Monismus, monistisch 7 f., 23, 68, 85, 157, 171, 174, 215, 243 f., 259 – christlicher 10 f., 169 – christologischer 11, 234, 237 f., 248, 262, 267 – der internen Differenz 157 f., 220 – des Geistes 12, 121, 244, 257, 260, 267 – der Kräfte 102, 118, 132 – materialistischer 32 – mechanischer 29, 75 – der Substanz 138 Moral, moralisch 17, 59, 62 f., 65, 81, 110, 123, 155 f., 213, 239 – Ebenmaß 169 – Gesetz 223, 225

– Notwendigkeit 123, 133 f. moral sense 156, 211 Morgenröte 194–199, 201 Mythos 58, 184–188 Nachahmung, nachahmen 22, 41, 163, 170, 206 Nation 61, 168, 174 f., 186, 223, 262 – Charakter 53, 55 Natur 7, 17, 20, 25–29, 32 f., 35 f., 38, 41 f., 63, 65, 87, 125, 150 f., 160 f., 165–168, 171–173, 182, 186 f., 193 f., 197–201, 259, 261, 265, 268 f. – göttliche 24, 103, 205 – menschliche 37, 213 f., 218, 239 – zweite 44, 173 Naturalisierung 7, 12, 24, 31, 39, 125, 171, 173, 257, 266 natura naturans/naturata 50, 120, 130 Naturbeherrschung 58, 217 Naturgesetz 17, 25, 28, 34, 65, 100, 111, 139, 171–173 Naturgeschichte, naturgeschichtlich 15 f., 23, 28, 31 Naturkausalität 40, 191, 243 f. Naturphilosophie, naturphilosophisch 5 f., 15, 17, 22, 41 f., 208 Naturrecht 43 Naturschreitheorie 34 Naturstand 48, 174 Naturtheorie 4, 125, 257 Naturwesen 23, 27 f., 30, 34, 37, 39, 53, 150 Naturwissenschaft 30, 108, 119, 187, 269 Negativität 166 f., 174, 176, 207, 209, 212, 215 Nemesis 12, 124 f., 169 Neologie, neologisch 22, 121, 178, 180 f., 224, 239 Neues Testament, neutestamentlich 8 f., 222, 231, 233, 237, 240, 244 f. Neuzeit, neuzeitlich 16–18, 56, 60 f., 176, 217, 227, 265 Norm 62–66, 74, 150, 223, 231, 235 Normativität, normativ 17, 51, 53, 62–65, 150 f., 175, 255 Notwendigkeit 22, 64 f., 79, 109, 111 f., 120, 122 f., 125 f., 130, 133–135, 139, 141, 144, 148, 152, 154 f., 165, 167, 170 f., 251, 260

Sachregister

307

Offenbarung, offenbaren 10, 12, 79, 103, 105, 110 f., 118, 120, 141, 146, 148, 158, 177, 180, 182, 184, 188–204, 221, 237, 240, 257, 261, 263–265, 269 Okkasionalismus 100 f. Ontogenese, ontogenetisch 25, 47, 57 Ontologie, ontologisch 4, 10, 73, 90, 99 f., 106, 110, 133, 135, 139 f., 142, 145, 158, 172, 211, 244, 258–261, 269 Organ, organisch 26, 57, 102 f., 110, 116, 118, 143, 148–152, 155, 164 f., 167, 175, 189, 251, 260 – Stufen des Organischen 17, 23 f., 28, 30, 33, 65, 149 f., 248 – Theorie des Organischen 15, 98 Organisation 15 f., 21, 23 f., 26–28, 34, 40–44, 53 f., 59, 107, 125, 150 Organismus 42, 101

Poesie, poetisch 43, 170, 186, 192 f., 195, 197, 202, 220 Politik, politisch 5, 14, 52, 160, 174 f., 179, 204, 240, 264, 269 Postulat, postulieren 22, 81, 95 f., 184, 215, 225, 245, 247 potentia s. Macht Priesterbetrug 182 Produktivität Gottes 103, 108, 147, 156 Proportioniertheit 27, 40, 58 Protestantismus, protestantisch 181, 212, 216, 227, 266, 270 Prototypus 26, 232, 237 providentia s. Vorsehung Psychologie, psychologisch 186, 239, 241 f., 258, 269 – des Erkennens 103 – der Sinne 56, 58

Pantheismus, pantheistisch 64, 75, 79–84, 91, 93, 122, 124, 157, 158, 201 Pantheismusstreit 67, 82, 264 Paradies 206, 210 Parallelismus 95 Parallelität 17, 101, 118 Perfektibilität 49, 153, 168, 217 Plastizität 36 Platonismus, platonisch 18, 154, 163, 216 f., 233 f. – Cambridger 48 – Dialog 76 Pluralität 26, 51 f., 57, 62, 65, 95, 103, 105, 139, 157, 181, 183, 229 providentia s. Vorsehung Prozesstheologie 268 f. Person, persönlich 63, 73, 121, 123, 127–132, 213, 225 f. 253, 262 Personalismus 11, 93 Personalität, personal 73, 75, 81, 84, 91, 124 f., 127–129, 132 Personbegriff 128 f., 131 Perzeptivität, perzeptiv 99, 108 Phantasie s. Einbildungskraft Phylogenese, phylogenetisch 25, 57, 77 Physikotheologie 108 Physiognomie 28, 40, 53 Physiologie, physiologisch 15 f., 25–27, 32, 38 f., 41, 45 f., 54, 59 Pneumatologie 252 f., 265, 267

ratio 109, 142 Rationalismus, rationalistisch 17, 29, 81 f., 121, 178, 197, 234, 243 Rationalität 40, 108 Raum 19–21, 72, 78, 87, 91, 97, 102, 104–107, 110, 163, 199 Reflexion 28, 30, 34, 37, 40, 129, 145, 148, 189, 192, 257 Reflexivität, reflexiv 34, 36–41, 43, 99, 143, 145, 148, 153, 190 – Duplizität 151 f. – erster Ordnung 148 f., 164 f., 167, 189 – zweiter Ordnung 150 f., 189 Reformation, reformatorisch 175, 181, 216, 252 f., 270 Reich 238, 244, 252, 263 – geistiges 178 f. – Gottes 222, 236, 253 – der Kräfte 30, 101, 118, 125, 259 – des Möglichen 134 – der Natur 27, 33, 38, 41, 244 – der Schöpfung 24, 45 – der Zwecke 222 Relativismus, relativistisch 21, 55, 64, 157, 223 Religion 6–8, 12, 14, 38, 79 f., 84, 159, 176, 179–181, 183–186, 188, 190, 200 f., 214, 219, 226–232, 239, 241, 247, 248, 255, 257–261, 266 – der Menschheit 260 f., 264 f.

308

Sachregister

– natürliche 177, 180–183, 192 f., 200 f., 259, 261 f. – offenbarte 182, 192, 200 f. – positive 177, 181–184, 247, 262 – der Religionen 223 Religionsbegriff 176–178, 181, 183 f., 190, 192, 214, 230, 267 Religionsgeschichte, religionsgeschichtlich 74, 183, 194–197, 231, 234, 235 f., 242, 249, 258 Religionskritik, religionskritisch 8, 73, 190 Religionsphilosophie, religionsphilosophisch 8, 12, 177, 210, 213 f., 227, 264 f., 267 Religionstheorie, religionstheoretisch 181, 191, 195, 197, 246, 257, 267 Renaissance 23, 42, 50, 216 f. Republik, republikanisch 174 f., 252 res cogitans 17, 95 f. res extensa 17, 20, 95–97 Resonanz 34, 162 f., 252 f., 264 Revolution 175 Reziprozität 23, 86 Scheintodthese 243 Schöpfung 10, 21, 24, 26, 35, 39, 44 f., 65, 89, 101, 111, 120, 126, 133, 141, 148, 151, 162, 166 f., 170, 172, 194, 197–202, 204 f., 207–209, 215, 225, 236 f., 247 f., 259–261, 263 f., 269 Schöpfungsbericht 45, 55, 196 f. Schöpfungsplan 207, 209, 224 schöpfungstheologisch 8 f., 18, 44, 206 f., 220 f., 268, 270 Schule 5, 175 scientia intuitiva s. Erkenntnis, intuitive Seele 34, 50, 60, 72, 74, 78, 100, 123, 136, 154, 162 f., 172, 186–188, 199, 201, 232 f., 235, 243, 252 f., 264 Seelenkräfte 21 Seelenlehre 27 Seelenmonade 99 Seelenvermögen 29, 46, 60 Selbstbewusstsein 37, 121, 129–131, 140, 146, 148, 150, 164, 192 Selbstbildung 47, 57, 65, 164, 168, 217, 233 Selbsterfahrung 100, 132, 138, 182, 184, 186, 210, 219, 267

Selbsterhaltung 25, 42–44, 51–53, 56, 58, 60–65, 107 f., 148–153, 164 f., 189, 263 f. Selbsterkenntnis 143 f., 154, 156, 171–173, 252 Selbstständigkeit 84 f., 87, 93, 137, 139, 142, 147, 157 Selbstverhältnis 37 f., 79, 150 f., 187, 189, 199 sempiternitas 88–91 Sensualismus, sensualistisch 7, 17, 39 sequi 103, 120 Sinn 19, 21, 48, 63, 124, 161 f., 165, 168, 173 f., 176, 197, 207, 232, 234, 236, 246, 257, 262, 265 Sinne 13, 21, 26, 35 f., 43, 136, 156, 174, 198 Sinnespsychologie 58 Sinnesvermögen 36, 60 Sinnlichkeit 27, 35, 219 Sittengesetz 134, 213 Sklaverei 175 Spekulation, spekulativ 7, 60, 180, 184, 210, 214, 226, 234, 248, 250, 255, 258, 264 f., 267 Spontaneität 123 Sprache 8, 27, 34 f., 37, 39, 40, 44 f., 48 f., 136 f., 150 f., 166, 170, 172, 185–194, 198–201, 203 f., 220, 226, 235 f. Sprachgeschöpf 38 f., 44 f., 136, 194, 198, 201 Sprachphilosophie 48, 68 Sprachtheologie 190, 197, 201–203 Sprachunterricht 200 Sprachwesen 37, 192, 202, 206 Staat, staatlich 57 f., 61, 79, 174 f., 253 status – corruptionis 210, 220 – integritatis 210, 220 Stifter 14, 222 f., 255, 261 f. Stoa, stoisch 23, 42, 63, 65, 238 Sturm und Drang 137 Subjekt 32, 103, 121 f., 142, 144, 172, 213, 267 f. Subjektivität 81, 121, 123, 132, 158 Subordinatianismus 250 Substanz 12, 30, 71–73, 75, 79, 83–87, 91–96, 98, 101, 104 f., 107, 113 f., 117 f., 121 f., 129, 130–132, 137–140, 142, 145, 157, 182, 203

Sachregister Sünde 42, 121, 147, 166, 188, 205, 207–213, 215, 218, 224 f., 264 Sündenfall 205, 210, 212, 216, 218, 221 Sündenlehre 210 Supranaturalismus, supranatural 148, 190 f., 193, 200, 202, 244, 253 Symbol, symbolisch 44 f., 48, 53, 62, 74, 106, 112, 125, 187 f., 190, 194, 196, 258 synergistischer Streit 212 Teil und Ganzes 21 f., 94, 104, 109, 111 f., 149, 165 Teleologie, teleologisch 7, 12, 22, 24, 26, 42, 56, 62, 65 f., 149–153, 160, 164–166, 173, 220 f., 232, 248, 255, 257 Telos 16, 22, 26, 63, 66, 150, 152–158, 160, 165 f., 168 f., 173–175, 207, 216 f., 232 f., 236, 248, 253, 257 Theismus, theistisch 75, 82, 84, 93, 115, 123, 158, 174 Theodizee 12, 159 f., 162, 164 f., 174, 176 Totalität 21, 85 f., 92, 105, 112, 119, 143 f., 166, 191, 202 Tradition 48, 53, 57, 59, 167, 185 f., 195 f., 208, 246, 249 transzendental 27, 63, 145 f. Transzendenz 38, 73, 92 f., 202 f., 241, 244, 246, 267 Tridentinisches Konzil 212 Trieb 13, 25 f., 35, 43, 46, 60 f., 153, 205, 228, 263 Trinität 226, 253 Trinitätslehre 128, 226 f., 234, 266 f. Unbedingte, unbedingt 105, 140, 146, 148, 154, 184, 229 Unendliche 21, 91 f., 94, 97 f., 106 f., 112, 139, 145, 154 Universität 5, 175 Universalgeschichte, universalgeschichtlich 9, 196, 219 f., 232 f., 237 Universum 15, 19 f., 22, 62, 119, 193 Unsterblichkeit, unsterblich 15, 154, 182, 195, 219 Urbild 9, 12, 199, 233, 236, 250, 255 Urgeschichte 8 f., 220, 232 Urkraft 29, 103–105, 108, 111 f., 132, 142 f., 149 Uroffenbarung 192, 194

309

Ursache 72, 95, 100, 105, 107, 109–111, 115, 120, 128, 151, 214, 240, 258 – als Endursache 81, 115, 121 – als Finalursache 120, 123 f., 152 – immanente 87, 120 – persönliche 123, 127 – als Selbstursächlichkeit 84 – als Wirkursache 123 f., 152 Ursprung 233, 237 – des Christentums 244 – der Menschheit 8, 38, 55, 192, 220 – monogenetischer 52, 55 – der Mythologien 185 f. – der Poesie 220 – der Religion 259 – der Sprache 33 f., 45, 136, 188–190, 203, 220 Ursprungsdenken 8 f., 185, 220 f., 232 Urstand, urständlich 210, 213, 218, 255 Verähnlichung 166 – an Gott 9, 154, 216–218 Verborgenheit Gottes 200 f., 215 Vernunft 13, 17, 22 f., 27–30, 36, 38, 40 f., 43–49, 58, 60, 62, 78, 81, 124, 136, 141, 146, 156, 167–170, 174, 177 f., 182, 184 f., 189 f., 195 f., 204, 206 f., 214, 218, 225, 227, 229, 237, 246–248, 251 Vernunftwahrheiten 239, 245, 247 vis activa 98 Volk 64, 175, 187, 219, 227, 233 Vollendung 164, 254 f. Vollkommenheit 36, 104, 120, 132, 151, 153–156, 166, 217 Vorbild 9, 12, 199, 217, 221, 233, 239, 247, 250, 261 Vorsehung 22, 42, 66, 89, 134, 153, 159 f., 162, 168 f., 171, 174, 218, 221, 236, 259 Vorurteil 46, 48, 76–79, 159, 177, 179 Wahrheit 27, 33, 36, 46, 59, 73, 78, 111, 125, 129, 144, 154, 167, 169, 171, 174, 176, 179, 193, 195–197, 201, 206, 211, 228–230, 233, 239, 243–247, 249–253, 256, 268 Weisheit 21, 77, 119, 124, 126, 135, 189, 232, 260 Weltanschauung 22, 43, 103, 111, 187 Weltbild 18–22, 30 f., 92, 108, 112, 117, 181

310

Sachregister

Welterfahrung 78, 95, 97, 185–187 Weltseele 72 Wiedervergeltung 165–167, 233 Wille 73, 89, 91, 95, 100, 119 f., 123 f., 126, 132 f., 153, 182, 212 f., 217, 228, 251 f. Wirksamkeit 88, 107, 109, 111 f., 117, 120, 122, 143, 153–155, 167, 174, 219, 244, 255 f. Wort Gottes 199, 201 f., 237 Würde 50, 174, 182, 216, 251, 255, 264 Wunder 100, 107, 120, 135, 193, 199, 241, 243–245, 253

Zeit 72, 88–93, 97 f., 106 f., 110, 134, 170, 181, 193, 206, 226, 255 Zufall, zufällig 111, 135, 239, 245, 259 Zweck 21, 24–26, 42, 60, 62, 65, 81, 126, 146, 152, 163, 168, 183, 214, 218, 222, 241, 249, 253, 255 Zweifel 21, 168, 179, 230 Zweinaturenlehre 227