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German Pages 226 Year 2012
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel
Band 181
Herausforderungen und Perspektiven der EU Herausgegeben von
Thomas Giegerich unter Mitwirkung von:
Ursula E. Heinz
Duncker & Humblot · Berlin
Thomas Giegerich (Hrsg.)
Herausforderungen und Perspektiven der EU
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel In der Nachfolge von Jost Delbrück herausgegeben von T h o m a s G i e g e r i c h , K e r s t i n O d e n d a h l und N e l e M a t z - L ü c k Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht
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Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics
Eibe H. Riedel Universität Mannheim
James Crawford University of Cambridge
Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg
Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis
Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Herausforderungen und Perspektiven der EU Herausgegeben von
Thomas Giegerich unter Mitwirkung von:
Ursula E. Heinz
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-13936-1 (Print) ISBN 978-3-428-53936-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83936-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Inhaltsverzeichnis Thomas Giegerich Zur Einführung: Die „europäische Föderation“ – unendliche Annäherung an eine Utopie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Häde Die Europäische Währungsunion in schwerer See: Ist der Euro noch zu retten?.
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Christoph Herrmann Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsregierung in der Europäischen Union.. . . .
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Martin Nettesheim Transeuropäische Energieinfrastruktur und EU-Binnenmarkt – Die Neuregelung der TEN-E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Vedder Die neue GASP: Institutionelle und inhaltliche Fortentwicklungen. . . . . . . . . . . . 105 Stefan Kadelbach Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und „Europäische Verteidigungsstreitkräfte“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Martin Heger Europäisches Straf- und Strafverfahrensrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Kay Hailbronner Europäisches Asyl- und Einwanderungsrecht: Festung Europa?.. . . . . . . . . . . . . . 195 Rainer Emschermann Living Together: The European Union’s Undefined Relationship with Turkey. . . 211 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Zur Einführung: Die „europäische Föderation“ – unendliche Annäherung an eine Utopie Von Thomas Giegerich
A. Europäisches Auf und Ab: Die Kunst des (Un-)Möglichen in der EU Die Herausforderungen und Perspektiven der Europäischen Union auf einigen wesentlichen Politikfeldern sechzig Jahre nach dem Schuman-Plan waren im W intersemester 2010/11 und im Sommersemester 2011 Gegenstand einer vom W alther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel veranstalteten Ringvorlesung. Dort ging es um die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Energiepolitik, die Kriminalpolitik, die W ährungspolitik, die Wirtschaftspolitik, die Asyl- und Einwanderungspolitik und die Erweiterungspolitik. Dem schwierigen Prozess der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 AEUV) widmete unser Institut im Abstand von sieben Jahren zwei Ringvorlesungen. Die frühere fand 2003/04 unter dem Namen „Eine Verfassung für Europa“ statt. Noch bevor allerdings der damalige Ringvorlesungsband erscheinen konnte,1 war das ehrgeizige Projekt des Vertrages über eine Verfassung für Europa2 in den Volksabstimmungen zweier Gründungsmitglieder des europäischen Einigungsprojekts – in Frankreich am 29.5.2005 und den Niederlanden am 1.6.2005 – politisch gescheitert. Nicht zuletzt angesichts der Osterweiterung war eine umfassende Reform der EU-Verfassung politisch indessen unabdingbar. Deshalb wurde die Substanz des Verfassungsvertrags weitgehend in den Vertrag von Lissabon3 hinübergerettet, der dann aber seinerseits mehrere Klippen zu umschiffen hatte, bevor er verspätet in Kraft treten konnte. Zunächst musste der negative Ausgang der ersten Volksabstimmung in Irland am 12.6.2008 verarbeitet werden. Der Europäische Rat 1
Rainer Hofmann/Andreas Zimmermann (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa: Die Rechtsordnung der Europäischen Union unter dem Verfassungsvertrag, 2005. 2 Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29.10.2004, ABl. 2004 Nr. C 310. 3 Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007, ABl. 2007 Nr. C 306/1, berichtigt in ABl. 2008 Nr. C 111/56.
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machte in Bezug auf irische Bedenken gewisse Zusicherungen.4 W ichtiger aber war, dass die W irtschafts- und Finanzkrise, die das Euroland Irland inzwischen schwer getroffen hatte, die EU dem irischen W ahlvolk mehr als Rettungsanker denn als Bedrohung irischer Eigenständigkeit erscheinen ließ. Daraufhin billigte es in einem zweiten Anlauf am 2.10.2009 den Vertrag von Lissabon mit Zweidrittelmehrheit. Eine weitere Klippe bestand in den vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Organstreit- und V erfassungsbeschwerdeverfahren gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag sowie dessen Begleitgesetze. Das Gericht erklärte durch Urteil vom 30.6.2009 zwar nicht das Zustimmungsgesetz als solches, wohl aber ein Begleitgesetz für teilweise verfassungswidrig, weil darin die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat zu schwach ausgestaltet sei. Außerdem ordnete es an, dass die deutsche Ratifikationsurkunde erst nach dem Inkrafttreten einer verfassungsmäßigen Version dieses Begleitgesetzes hinterlegt werden dürfe.5 Da es politisch wichtig erschien, dass Deutschland den Vertrag von Lissabon vor der zweiten Volksabstimmung in Irland ratifizierte, musste der Gesetzgebungsprozess zur Reparatur des Verfassungsverstoßes in sehr großer Eile erfolgen. Sein Resultat, das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 22.9.2009,6 kopierte im W esentlichen die Vorgaben des Karlsruher Urteils. Dementsprechend blieb eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Neuregelung, verbunden mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Hinterlegung der deutschen Ratifikationsurkunde, erfolglos,7 so dass Deutschland am 25.9.2009 schließlich ratifizieren konnte.8 Aber noch eine letzte Klippe ragte dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon entgegen: der W iderstand des konservativ-marktliberalen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Klaus. Ohnehin kein Freund der europäischen Integration, sah er 4
Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon (Anlage 1 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 18./19.6.2009, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/ cms_data/docs/pressdata/de/ec/108654.pdf [abgefragt am 18.4.2012]). 5 BVerfGE 123, 267. Kritisch dazu Thomas Giegerich, The Federal Constitutional Court’s Judgment on the Treaty of Lisbon – The Last Word (German) Wisdom Ever Has to Say on a United Europe?, German Yearbook of International Law (GYIL) 52 (2009), 9 ff. 6 BGBl. 2009 I, 3022. 7 BVerfG (Kammer), Beschluss vom 22.9.2009 (2 BvR 2136/09), abrufbar unter: http:// www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20090922_2bvr213609.html (abgefragt am 18.4.2012). 8 BGBl. 2009 II, 1223.
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die tschechische Souveränität nun unerträglich beeinträchtigt. Trotz der Zustimmung des tschechischen Parlaments zum Vertrag und der Abweisung von Klagen durch das Tschechische Verfassungsgericht weigerte er sich, die Ratifikationsurkunde auszufertigen. Er sah in Art. 17 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 der EUGrundrechtecharta mögliche Angriffsmittel der deutschen Vertriebenen gegen die Beneš-Dekrete.9 Sein W iderstand konnte letztlich nur dadurch überwunden werden, dass der Europäische Rat versprach, das Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich1 0 auch auf die Tschechische Republik zu erstrecken.1 1 Ein diesbezügliches Protokoll sollte zwar zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages den EU-Verträgen beigefügt werden, ist jedoch nicht zusammen mit dem Vertrag über den Beitritt Kroatiens am 9.12.2011 unterzeichnet worden. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 wurde der mühsame Verfassungsreformprozess in der EU, der durch die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union des Europäischen Rates vom 15.12.2001 mit solch großer Verve eingeleitet worden war,1 2 zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Bei aller Unvollkommenheit gilt für die heutigen EU-Verträge (den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) die Aussage W alter Hallsteins zu den früheren Verträgen über die drei Europäischen Gemeinschaften: „Alles Wesentliche ist in dem Werk angelegt. Man muß es nur tun“.13
B. Erweiterung und Vertiefung als „finalité politique“ der europäischen Integration Vor über sechzig Jahren, am 9.5.1950, begann die eigentliche europäische Integration mit der Verkündung des Schuman-Plans durch den französischen Außenminister – gerade fünf Jahre nach dem Ende des 2. W eltkriegs, der den 9
R. M. Douglas, „Ordnungsgemäße Überführung“: Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl. 2012, 402 f. 10 Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich vom 13.12.2007, ABl. 2007 Nr. C 306/156. 11 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Brüssel (29./ 30.10.2009). Vgl. auch die Erklärung der Tschechischen Republik zur Charta der Grundrechte (Nr. 53) im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon, ABl. 2007 Nr. C 306/267. 12 Erklärung von Laeken, http://european-convention.eu.int/pdf/lknde.pdf (abgefragt am 18.4.2012). 13 Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, 8.
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„alten Kontinent“ besonders stark verwüstet hatte.1 4 Diese Integration stellt den einzigartigen Versuch dar, Europa auf friedlichem W ege mit Hilfe des Rechts zu einen, weil es nur mit vereinten Kräften in der Lage ist, „eine führende Rolle in einer neuen W eltordnung zu übernehmen, die Rolle einer Macht, die in der Lage ist, sowohl eine stabilisierende Rolle weltweit zu spielen als auch ein Beispiel zu sein für zahlreiche Länder und Völker“. Nur vereint zu einem Kontinent der Freiheit, des W ohlstands, der Solidarität und der Vielfalt kann Europa „Verantwortung hinsichtlich der Gestaltung der Globalisierung“ übernehmen und die Rolle einer Macht spielen, welche Gewalt, Terrorismus und Unrecht entgegentritt und „die Verhältnisse in der Welt so ändern will, dass sie nicht nur für die reichen, sondern auch für die ärmsten Länder von Vorteil sind“.1 5 Dementsprechend wurde bereits 1950 eine politische Finalität angelegt, die das europäische Projekt weiterhin prägt: eine Finalität der Erweiterung und Vertiefung in steter Annäherung an eine „Fédération européenne“1 6 oder eine Art „Vereinigte Staaten von Europa“,1 7 die als ein Ganzes mehr darstellen als die Summe ihrer Teile. Erweiterung bedeutet die allmähliche geographische Erstreckung des europäischen Einigungsprozesses auf Gesamteuropa, die erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vollendet werden konnte. Die Vertiefung hat zwei Komponenten: erstens, die stetige thematische Ausdehnung dieses Einigungsprozesses auf alle Politikfelder, auf denen eine gemeinsame Politik erheblichen Mehrwert verspricht; zweitens, die gleichzeitige Erleichterung des Entscheidungsfindungsprozesses durch Übergang zu für alle verbindlichen M ehrheitsentscheidungen, also die Überwindung des paralysierenden Veto-Spiels einzelner Mitglieder. Auf diesen Grundlagen ist in einem langen und auch durch seine Krisen und Rückschläge geprägten Prozess aus der ursprünglichen Montanunion eines „Europas der Sechs“ auf dem W eg über eine Europäische W irtschaftsgemeinschaft die heutige politische Union des „Europas der 27“ geworden. Sie erstreckt sich auf nahezu alle relevanten Politikfelder, wenngleich in durchaus unterschiedlicher Intensität: W ährend der EU-Entscheidungsprozess im Sektor der internen Politiken vom Binnenmarkt über die Asyl- und Einwanderungspolitik, die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen, die Beschäftigungs- und Sozialpolitik bis
14 Deutsche Übersetzung der Erklärung über den Schuman-Plan in: Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung, 2002, 336 ff. 15 Die Zitate stammen aus der Erklärung von Laeken (Anm. 12). 16 Die französische Fassung der Schuman-Plan-Erklärung vom 9.5.1950 ist abrufbar unter: http://ec.europa.eu/publications/booklets/eu_documentation/04/txt07_fr.htm# declaration (abgefragt am 17.4.2012). 17 Vgl. die Zürcher Rede von Winston Churchill am 19.9.1946, in: Brunn (Anm. 14), 315 ff.
Die „europäische Föderation“
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hin zur Umwelt- und Energiepolitik1 8 heute weitgehend dem föderalen Modell einer supranationalen Integration entspricht, folgt die Entscheidungsfindung im Sektor der besonders souveränitätsrelevanten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin dem internationalen Modell einer intergouvernementalen Kooperation. Im supranationalen Sektor bildet das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ 19 inzwischen den Standardentscheidungsprozess: Über die Initiativen der von den Mitgliedstaaten unabhängigen Kommission2 0 entscheiden gleichberechtigt das Europäische Parlament als direkt gewählte Vertretung der Bürgerinnen und Bürger der EU und der Rat als Vertretung der Regierungen der Mitgliedstaaten 2 1 jeweils mit (qualifizierter) Mehrheit. Dabei stellt Gerichtshof der EU (EuGH) die Rechtsmäßigkeit von Gesetzgebungsakten und sonstigen Organhandlungen der EU in umfassender W eise sicher. 2 2 Den internationalen Sektor dominieren hingegen der Europäische Rat und der M inisterrat, die jeweils einstimmig beschließen, während Kommission und Europäisches Parlament nur Nebenrollen spielen und der Gerichtshof durch Art. 24 Abs. 2 Unterabs. 2 EUV nahezu vollständig von der Bühne verdrängt worden ist. Trotz der notwendigerweise begrenzten Funktion des Rechts im hochpolitischen Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist dieser weitgehende Ausschluss gerichtlicher Kontrolle unvereinbar mit der Rechtsstaatlichkeit, die Art. 2 EUV doch als grundlegenden Wert der EU propagiert. Er verträgt sich auch nicht mit dem in Art. 21 Abs. 1 EUV verankerten Versprechen der Völkerrechtstreue der europäischen Außenpolitik. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH im EUV ertrag angelegte M öglichkeiten nutzt, seine Jurisdiktion rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechend auszuweiten.2 3 Nur so lässt sich vermeiden, dass Art. 24 Abs. 2 Unterabs. 2 EUV einen fundamentalen W iderspruch in die EUVerträge einbringt, der an „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ erinnert. Der europäische Integrationsprozess ist keineswegs abgeschlossen. Neue Erweiterungsschritte stehen bevor: Am 9.12.2011 wurde der Beitrittsvertrag mit Kroatien unterzeichnet; er soll nach Abschluss der Ratifikationsverfahren in den 28 Vertragsstaaten im Sommer 2013 in Kraft treten.2 4 Mit Island und der Türkei 18
Vgl. den Dritten Teil (Art. 26 – 197) des AEUV. Art. 294 AEUV. 20 Art. 17 Abs. 3 EUV. 21 Art. 10 Abs. 2 EUV. 22 Art. 19 Abs. 1 UA 1 Satz 2 EUV, Art. 263, 264 AEUV. 23 Piet Eeckhout, EU External Relations Law, 2nd ed. 2011, 478 ff., 497 ff. 24 Vgl. Art. 49 EUV. Der Text des Beitrittsvertrages ist abrufbar unter: http://register. consilium.europa.eu/pdf/de/11/st14/st14409.de11.pdf (abgefragt am 13.4.2012). 19
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finden bereits Beitrittsverhandlungen statt. Montenegro, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Serbien haben den offiziellen Status von Kandidatenländern erhalten, während Albanien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo nach Maßgabe der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 die spätere Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden ist. Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung des Balkans nach den Verheerungen im Gefolge der Auflösung Jugoslawiens wird als EU-Aufgabe angesehen. Konkrete Pläne zur Vertiefung der Integration in der EU-27 gibt es derzeit nicht, insbesondere weil die gegenwärtige politische Mehrheit im Vereinigten Königreich diese ablehnt. Änderungen der EU-Verträge nach Art. 48 EUV unterliegen ja sowohl im ordentlichen als auch im vereinfachten Änderungsverfahren nach wie vor dem Veto jedes einzelnen Mitgliedstaats. Den Einstieg in eine qualifizierte M ehrheitsentscheidung über Vertragsänderungen hat auch der Vertrag von Lissabon nicht gewagt, obwohl er jedem Mitgliedstaat ein Austrittsrecht ausdrücklich verbürgt hat.2 5 Damit bleibt die Verfassung der EU hinter der UN-Charta 26 zurück. Nach deren Art. 108 treten Charta-Änderungen für alle UN-Mitglieder in Kraft, sobald sie von zwei Dritteln der Mitgliedstaaten einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert worden sind. Zum Ausgleich sollen mit solchen Änderungen nicht einverstandene UN-Mitglieder die W eltorganisation verlassen können.2 7 W ie dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Vertrags von Lissabon zu entnehmen ist, erlaubt das nach Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfeste Demokratieprinzip des Grundgesetzes keinen Verzicht auf das deutsche Vetorecht in Bezug auf Änderungen der EU-Verträge, sondern verlangt eine dauerhafte „nationale Integrationsverantwortung“.2 8 Diese Schranke der verfassten Integrationsgewalt des deutschen Staates beruht auf der Annahme des Bundesverfassungsgerichts, die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat sei einer neuen Entscheidung der verfassungsgebenden Gewalt des Deutschen Volkes vorbehalten – eine keineswegs zwingende und angesichts der Entstehungs- und Frühgeschichte des Grundgesetzes fernliegende Annahme.29 Soll die „europäische Föderation“ – der Traum der Gründergeneration der Bundesre25
Art. 50 EUV. UN-Charta vom 26.6.1945, konsolidierte deutsche Übersetzung in Sartorius II: Internationale Verträge – Europarecht (Stand 1.6.2011), Nr. 1. 27 Vgl. Wolfram Karl/Bernd Mützelburg/Georg Witschel, Art. 108 Rn. 43 f., in: Bruno Simma (ed.), The Charter of the United Nations, vol. II, 2nd ed. 2002. 28 BVerfGE 123, 267 (347 ff.). 29 Näher Giegerich (Anm. 5), 17 ff.; Heinhard Steiger, Staatlichkeit und Mitgliedstaatlichkeit – Deutsche staatliche Identität und Europäische Integration, Europarecht Beiheft 1/2010, 57 ff. 26
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publik Deutschland3 0 – nur um den Preis einer Aufgabe des sehr erfolgreichen Grundgesetzes zu errichten sein? Macht das Grundgesetz die Legitimität einer solchen Föderation wirklich von einem Volksentscheid nach Art. 146 GG abhängig, dem es selbst nie unterzogen worden ist? Sind derartige Forderungen nicht in W ahrheit Ausdruck einer Verhinderungsstrategie, die auf die Ängste des W ahlvolks vor den Ungewissheiten einer europäischen Bundesstaatlichkeit setzt?
C. Europa der mehreren Geschwindigkeiten: Nach-Gründung einer Fiskalunion durch eine Avantgarde von Mitgliedstaaten I. Nachbesserung der EU-Verträge durch völkerrechtliche Verträge Ebenfalls seit über sechzig Jahren entwickelt sich die europäische Integration nach der Magnettheorie fort: Eine Avantgarde zur Integrationsvertiefung bereiter Staaten schreitet voran und bemüht sich, die übrigen allmählich nachzuziehen. So erklärt sich schon das Verhältnis zwischen dem Europarat als der älteren internationalen Organisation Gesamteuropas und der EU als der jüngeren supranationalen Organisation einer wachsenden Zahl europäischer Staaten, die sich auf das Experiment einer Föderalisierung einlassen wollen. Aber auch innerhalb der EU kommt es teilweise zur differenzierten Integration im Sinne eines Europas der mehreren Geschwindigkeiten. Die Eurozone ist hierfür ein im Primärrecht verankertes Beispiel.3 1 Zur differenzierten Integration in Bezug auf das Sekundärrecht führt die verstärkte Zusammenarbeit von mindestens neun Mitgliedstaaten.3 2 Ein weiteres Beispiel bildet die Schengener Passunion, die zunächst von einigen EU-Mitgliedstaaten durch völkerrechtlichen Vertrag gegründet und später weitgehend in den EU-Besitzstand übernommen worden ist (mit Ausnahmeregeln für das Vereinigte Königreich und Irland sowie Dänemark).33 Entsprechend dem Schengen-Modell hat die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten inzwischen Schritte eingeleitet, um die in der Euro-Krise deutlich gewordenen 30
Am deutlichsten ist insoweit die unter Beteiligung zahlreicher Mitglieder des Parlamentarischen Rates nahezu einstimmig gefasste Entschließung des Bundestages vom 26.7.1950 für einen Europäischen Bundespakt zur Schaffung einer übernationalen Bundesgewalt, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode (1949), Drucksachen Band 5, Drs. Nr. 1193. Vgl. Thomas Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, 1403 ff. 31 Art. 139 ff. AEUV. 32 Art. 20 EUV, Art. 326 ff. AEUV. 33 Näher dazu Dieter Kugelmann, Einwanderungs- und Asylrecht, in: Reiner Schulze/ Manfred Zuleeg/Stefan Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 41 Rn. 102 ff.
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U nvollkommenheiten der mit dem Vertrag von M aastricht 3 4 gegründeten W irtschafts- und W ährungsunion zu beseitigen. Zur Bewältigung der gegenwärtigen Finanzkrise und Abwendung neuer derartiger Krisen haben diese Staaten sich durch zwei völkerrechtliche Verträge, die komplementär zum EU-Recht sind, erheblich enger aneinander gebunden: durch einen von den siebzehn Euro-Länder am 2.3.2012 unterzeichneten Vertrag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag)35 sowie durch einen von 25 EU-Mitgliedstaaten (ohne die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich) am selben Tag unterzeichneten Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der W irtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag).3 6 Als Brücke zum EU-Recht wirkt ein einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates im Sinne des Art. 48 Abs. 6 EUV, der Art. 136 AEUV um folgenden Absatz 3 ergänzen soll: „Die Mitgliedstaaten, deren W ährung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-W ährungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen“.37 Diese Ergänzung dient dazu, den ESM-Vertrag im Hinblick auf das Bail-Out-Verbot in Art. 125 AEUV primärrechtlich abzusichern. 3 8
II. ESM -Vertrag: Dauerhafter robuster Krisenbewältigungsmechanismus Der ESM-Vertrag führt einen dauerhaften robusten Krisenbewältigungsmechanismus ein, der die Finanzstabilität des Euro-W ährungsgebiets sichern und den schon bestehenden als vorübergehende Notmaßnahme konzipierten Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) sowie die Europäische Finanzstabili34
Vertrag über die Europäische Union von Maastricht vom 7.2.1992 (BGBl. 1992 II, 1251). 35 Der ESM-Vertrag ist abrufbar unter: http://www.eu-direct.info/coRED/_data/02tesm2.de12.pdf (abgefragt am 17.4.2012). 36 Der Fiskalvertrag ist abrufbar unter: http://european-council.europa.eu/media/ 639244/04_-_tscg.de.12.pdf (abgefragt am 17.4.2012). 37 Beschluss des Europäischen Rates vom 25.3.2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (2011/199/EU), ABl. 2011 Nr. L 91/1. 38 Vgl. die Beiträge von Christian Calliess und Frank Schorkopf, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 71 (2012), 113 (156 f.); 183 (204 ff.).
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sierungsfazilität ablösen soll – letztere eine private Gesellschaft luxemburgischen Rechts, die lediglich auf einer politischen Absprache der Regierungen und einem privatrechtlichen Vertrag beruht.3 9 Der ESM erhält als internationale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg eigene Rechtspersönlichkeit.4 0 Sein Zweck besteht darin, „Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur W ahrung der Finanzstabilität des Euro-W ährungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“.41 Damit wird in der Eurozone ein auf Krisenfälle beschränkter europäischer Finanzausgleich eingeführt, keine allgemeine Tranferunion. Der ESM-Vertrag tritt in Kraft, sobald ihn Unterzeichnerstaaten ratifiziert haben, deren Erstzeichnungen mindestens 90 Prozent des Stammkapitals von 700 M rd. Euro ausmachen. Nur diese Vertragsparteien können in den Genuss der ESM-Finanzmittel kommen.
III. Fiskalvertrag: Völkerrechtliche Nebenverfassung der EU zur Krisenprävention Demgegenüber zielt der Fiskalvertrag auf die Krisenprävention: Er soll die Haushaltsdisziplin der Vertragsparteien durch einen fiskalpolitischen Pakt sichern, die Koordinierung ihrer W irtschaftspolitiken verstärken und die Steuerung des Euro-W ährungsgebiets verbessern, um dadurch zu nachhaltigem W achstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt in der EU beizutragen.4 2 Kern des Fiskalvertrags ist der „fiskalpolitische Pakt“ in Titel III: Durch ihn übernehmen die Vertragsparteien zur W ahrung der Stabilität des Euro-W ährungsgebiets zusätzliche über das EU-Recht hinausgehende detaillierte völkerrechtliche Verpflichtungen im Hinblick auf den Ausgleich ihrer gesamtstaatlichen Haushalte, die an die „Schuldenbremse“ in der Neufassung der Art. 109 Abs. 3,
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Siehe dazu BVerfG, Urteil vom 7.9.2011 (2 BvR 987/10 u.a.), abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20110907_2bvr098710.html; Urteil vom 28.2.2012 (2 BvE 8/11), abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht. de/entscheidungen/es20120228_2bve000811.html (beide abgefragt am 18.4.2012). Dazu Christoph Ohler, The European Stability Mechanism: The Long Road to Financial Stability in the Euro Area, GYIL 54 (2011), 47 ff.; Thomas Giegerich, The Federal Constitutional Court’s Deference to and Boost for Parliament in Euro Crisis Management, ebd., 639 ff. 40 Art. 32 Abs. 2 ESM-Vertrag (Anm. 35). 41 Art. 3 ESM-Vertrag. 42 Art. 1 Abs. 1 Fiskalvertrag (Anm. 36).
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115 Abs. 2 und Art. 143d GG4 3 und entsprechende landesverfassungsrechtliche Bestimmungen 44 erinnern. In den europäischen Partnerstaaten wird kritisch darauf hingewiesen, Europa spreche plötzlich deutsch.45 Die vertraglich übernommenen Stabilitätsverpflichtungen sollen innerhalb eines Jahres im einzelstaatlichen Recht der Vertragsparteien, vorzugsweise in ihren Verfassungen, für das nationale Haushaltsverfahren dauerhaft verbindlich und effektiv durchsetzbar festgeschrieben werden – unter der Überwachung der Kommission und des Gerichtshofs der EU.4 6 Den unterschiedlichen und teilweise unbefriedigend niedrigen Rang des Völkervertragsrechts in den nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten47 will man also dadurch ausgleichen, dass eine Transformation der vertraglichen Stabilitätsverpflichtungen in das jeweilige nationale Recht auf dem höchstmöglichen Niveau vereinbart wird. 4 8 Dies nähert sie dem Vorrang des EU-Rechts zumindest an, den sie durch Einbeziehung in eine förmliche Vertragsänderung nach Art. 48 EUV erreicht hätten. Vielleicht noch wichtiger erscheint aber ihr Legitimitätszugewinn, wenn die Stabilitätsverpflichtungen die Form selbstgesetzter nationaler Verfassungspflichten annehmen.49 Aber der Fiskalpakt begründet nicht nur neue innerstaatlich wirksame Stabilitätsverpflichtungen, sondern effektuiert außerdem bestehende EU-Verpflichtungen. Nach seinem Art. 7 versprechen die Vertragsparteien nämlich ihre Unterstützung von Vorschlägen oder Empfehlungen der Kommission im Überwachungsverfahren nach Art. 126 AEUV zur Sicherung der Haushaltsdisziplin, in denen diese die Auffassung vertritt, dass ein Euro-Staat gegen die Pflicht zur Vermeidung eines übermäßigen öffentlichen Defizits verstößt. Diese Unterstützungspflicht entfällt nur im Ausnahmefall einer umgekehrten qualifizierten Mehrheit, d.h. wenn eine qualifizierte Mehrheit der nicht betroffenen Vertragsparteien gegen den Vorschlag oder die Empfehlung der Kommission ist. Im Regelfall werden die Vertragsparteien 43
Grundgesetz in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 29.7.2009, BGBl. 2009 I,
2248. 44
Vgl. z.B. Art. 53, 59a der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 22.7.2010, GVOBl. 2010, 550. 45 Vgl. das Editorial von Leonard F. M. Besselink/Jan-Herman Reestman, The Fiscal Compact and the European Constitutions: ‚Europe Speaking German‘, European Constitutional Law Review 8 (2012), 1 ff. 46 Art. 3 Abs. 2, 8 Fiskalvertrag (Anm. 36) unter Bezugnahme auf Art. 273 AEUV. 47 In Deutschland haben völkerrechtliche Verträge bekanntlich nur den Rang des einfachen Bundesgesetzes, das nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 GG zu ihrem Abschluss ermächtigte, siehe Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, 160. 48 Zu den Umsetzungsproblemen in einigen Vertragsstaaten vgl. Besselink/Reestman (Anm. 45), 3 ff. 49 Besselink/Reestman (Anm. 45), 6.
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daher einen Block im Rat bilden, der die Annahme der Kommissionsvorschläge sicherstellt. Der Abschluss des Fiskalvertrags als völkerrechtlicher Vertrag im Nähebereich von EUV und AEUV ist allein dem Umstand geschuldet, dass nicht alle Mitgliedstaaten bereit waren, die an sich naheliegenden entsprechenden Änderungen des AEUV im regulären Vertragsänderungsverfahren des Art. 48 EUV mitzutragen. Andererseits vermindert dieses Ausweichen ins Völkerrecht ebenso wie beim ESM-Vertrag die Gefahr, dass das Inkrafttreten des Vertrages durch Ratifikationsprobleme in einem Mitgliedstaat verzögert wird oder gar völlig scheitert. Denn während ein Änderungsvertrag im Sinne des Art. 48 EUV von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss, um in Kraft treten zu können, verlangt der Fiskalvertrag die Ratifikation durch nur zwölf der siebzehn Euro-Staaten.5 0 Verständlicherweise legt der Fiskalvertrag besonderen W ert auf seine Kohärenz mit dem EU-Recht: Er gilt zunächst selbstverständlich nur insoweit, wie er mit dem vorrangigen primären und sekundären EU-Recht vereinbar ist. Überdies wird er „von den Vertragsparteien in Übereinstimmung mit den Verträgen, auf denen die EU beruht, insbesondere mit Artikel 4 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union, und mit dem Recht der Europäischen Union, einschließlich dem Verfahrensrecht, wann immer der Erlass von Sekundärgesetzgebung erforderlich ist, angewandt und ausgelegt“.5 1 Art. 15 öffnet den Fiskalvertrag allen EU-Mitgliedstaaten zum Beitritt. Schließlich sieht Art. 16 Fiskalvertrag vor, dass höchstens fünf Jahre nach seinem Inkrafttreten aufgrund einer Bewertung der Erfahrungen mit seiner Umsetzung gemäß dem EUV und AEUV Schritte mit dem Ziel unternommen werden, seinen Inhalt in den Rechtsrahmen der EU zu überführen. Der Fiskalvertrag stellt eine – personell und inhaltlich bloß partielle – „völkerrechtliche Nebenverfassung“52 der EU dar, welche die bereits 2011 verabschiedeten sechs Sekundärrechtsakte („Sixpack“) zur Reform des Stabilitäts- und W achstumspakts von 1997/20055 3 im Sinne einer besseren wirtschaftspolitischen Steuerung in
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Art. 14 Abs. 2, 3 Fiskalvertrag (Anm. 36). Art. 2 Fiskalvertrag. 52 Begriff von Christian Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), 7 (51 f.). 53 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17.6.1997, ABl. 1997 Nr. C 236/1; Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7.7.1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftpolitiken, ABl. 1997 Nr. L 209/1, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1055/2005 vom 27.6.2005, ABl. 2005 Nr. L 174/1; Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7.7.1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem 51
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der EU ergänzt und verstärkt.54 Mit ihm gründen die Vertragsparteien der Sache nach untereinander eine Fiskalunion,5 5 über die man sich auf EU-Ebene bislang nicht einigen konnte, die aber den anderen EU-Mitgliedern zum Beitritt offenstehen und möglichst in fünf Jahren in das EU-Primärrecht überführt werden soll. Darin liegt ungeachtet der vorläufig nur völkerrechtlichen Form eine Vertiefung der europäischen Integration, also eine weitere Annäherung an eine europäische Föderation.56
IV. Ratifikationsprozess in Deutschland zwischen Berlin und Karlsruhe Der ESM-Vertrag, der Fiskalvertrag sowie der Beschluss des Europäischen Rates nach Art. 48 Abs. 6 EUV durchlaufen gegenwärtig das Verfahren der Ratifikation in den jeweils beteiligten EU-Mitgliedstaaten. In Deutschland werden die notwendigen Zustimmungs- und Umsetzungsgesetze auf Grund von Entwürfen der Regierungsfraktionen derzeit im Bundestag beraten. Zweifelsohne führen beide Verträge zu erheblichen Einschränkungen der Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten und zugleich der Budgethoheit der nationalen Parlamente: Der ESM-Vertrag begründet potentiell erhebliche finanzielle Belastungen, die den haushaltspolitischen Entscheidungsspielraum faktisch begrenzen; der Fiskalvertrag schreibt die in Deutschland binnenverfassungsrechtlich bereits verankerte „Schuldenbremse“ völkerrechtlich fest und begrenzt damit die Haushaltsautonomie außenrechtlich. Weil diese völkerrechtliche Bindung den verfassungsändernden Gesetzgeber daran hindern würde, die grundgesetzliche Schuldenbremse in einer mit dem Vertrag
übermäßigen Defizit, ABl. 1997 Nr. L 209/6, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1056/ 2005 vom 27.6.2005, ABl. 2005 Nr. L 174/5. 54 Der „Sixpack“ besteht aus den Verordnungen (EU) Nr. 1173/2011, 1174/2011, 1175/ 2011 und 1176/2011 vom 16.11.2011 sowie der Verordnung (EU) Nr. 1177/2011 und der Richtlinie 2011/85/EU vom 8.11.2011, alle in ABl. 2011 Nr. L 306. 55 Den Begriff „Fiskalunion“ verwendete der Bundesfinanzminister in der Ersten Beratung über die deutschen Umsetzungsgesetze in der 172. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages am 29.3.2012, Plenarprotokoll, 20210, abrufbar unter: http://dip21.bundestag. de/dip21/btp/17/17172.pdf (abgefragt am 19.4.2012). 56 Während der Bundesaußenminister den Beratungsgegenstand der vorgenannten Bundestagsdebatte einen „Meilenstein auf dem Weg der weiteren europäischen Integration“ nannte und „mehr Europa“ als Antwort auf die Krise für notwendig erklärte (ebd., 20227), wurde der Abg. Gysi konkreter: „… mit diesem Vertrag [d.h. dem Fiskalvertrag] beginnen Sie die Gründung einer europäischen Föderation, der Vereinigten Staaten von Europa, und zwar über eine Fiskalunion“ (ebd., 20220).
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unvereinbaren W eise zu verändern, besteht Einigkeit darüber, dass das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zum Fiskalvertrag einer verfassungsändernden Mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf (Art. 79 Abs. 2 GG).57 Die Regierungskoalition ist diesbezüglich auf eine erhebliche Zahl von Stimmen aus der Opposition angewiesen. Für den Beschluss des Europäischen Rates nach Art. 48 Abs. 6 EUV genügt hingegen die einfachgesetzliche Zustimmung, weil die Anfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV keine neuen Hoheitsrechte auf die EU überträgt, sondern nur den mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum in einer W eise erweitert, die für sich allein keine inhaltliche Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes mit sich bringt oder eine solche ohne weitere von der Zustimmung Deutschlands abhängige Entscheidungen ermöglicht.5 8 Problematisiert worden ist der Umstand, dass der Fiskalvertrag – anders als der EUV selbst5 9 – keine Kündigungsklausel enthält.60 Nach den Grundsätzen des Völkervertragsrechts, die in Art. 56 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV)6 1 kodifiziert worden sind,6 2 könnte ihn Deutschland damit nicht ordentlich kündigen. Denn zur Stabilisierung des Euro halten die Vertragsparteien gerade eine dauerhafte Bindung aller an die fiskalpolitischen Vorgaben des Vertrages zur dauerhaften Sicherung von Haushaltsdisziplin für unerlässlich, und die Natur des Fiskalvertrags spricht angesichts seiner besonderen Zweckrichtung ebenfalls gegen seine freie Kündbarkeit. Demzufolge könnte Deutschland seine haushaltspolitische Freiheit nach dem Inkrafttreten des Fiskalvertrags nur wiedergewinnen, wenn sich alle Vertragsparteien zu einer einverständlichen Vertragsaufhebung entschlössen6 3 oder ansonsten die Voraussetzungen
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Vgl. die Ausführungen des Bundesfinanzministers in der vorgenannten Bundestagsdebatte (Anm. 55) sowie die Begründung zu Art. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, BT Drs. 17/9046. 58 Vgl. die Begründung zu Art. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, BT Drs. 17/9047. 59 Art. 50 EUV. 60 Vgl. die Einwände des Abg. Gysi in der Bundestagsdebatte (Anm. 55), 20219. 61 Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969, BGBl. 1985 II S. 926. 62 Zur Einstufung von Art. 56 WÜRV als Kodifikation von geltendem Völkergewohnheitsrecht siehe Thomas Giegerich, in: Oliver Dörr/Kirsten Schmalenbach, Vienna Convention on the Law of Treaties, 2012, Art. 56 Rn. 52 f. Siehe bereits oben unter 2. 63 Vgl. Art. 54 lit. b WÜRV.
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für eine außerordentliche Kündigung wegen grundlegender Änderung der beim Vertragsabschluss gegebenen Umstände vorlägen.6 4 W ahrscheinlich wird keiner dieser beiden Fälle eintreten. Stimmt jedoch der verfassungsändernde Gesetzgeber der Eingehung derartiger nicht einseitig aufhebbarer völkervertraglicher Bindungen in Bezug auf Verfassungsinhalte zu, so liegt allein in der Unkündbarkeit kein Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG. Deutschland ist bereits Partei etlicher verfassungsrelevanter völkerrechtlicher Verträge, die nicht ordentlich kündbar sind, beispielsweise des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte 65 und der UN-Charta.6 6 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht angenommen, die deutsche Mitgliedschaft in der EU als solche müsse prinzipiell kündbar sein.6 7 Ob das von ihm propagierte – aber angesichts der im Grundgesetz von Anfang an vorgesehenen Eingliederung in ein vereintes Europa zweifelhafte – grundgesetzliche „Prinzip der umkehrbaren Selbstbindung“ auch für den EU-nahen Fiskalvertrag gilt, steht dahin. Dieser würde jedenfalls mit einem nach Art. 50 EUV rechtlich möglichen (wenngleich durch Art. 23 Abs. 1 GG verbotenen) Austritt Deutschlands aus der EU ebenfalls hinfällig, denn nach dem Sinn und Zweck des Fiskalvertrags ist die Mitgliedschaft der Vertragsparteien in der W irtschafts- und W ährungsunion gemäß dem AEUV conditio sine qua non ihrer vertraglichen Bindung. Indessen werden bereits Verfassungsbeschwerden gegen Deutschlands Beteiligung an der Fiskalunion vorbereitet,6 8 so dass das Bundesverfassungsgericht demnächst Gelegenheit erhält, seine selbstgeschriebene Rolle als Veto-Macht der europäischen Integration und Steuerungsgremium der deutschen Europapolitik weiterzuspielen.6 9 Gespannt warten die EU und die übrige W elt, ob auch die Karlsruher Richterinnen und Richter bereit sind, gerade in der Krise „mehr Euro-
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Art. 62 WÜRV. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966, BGBl. 1973 II S. 1534. Zu seiner Unkündbarkeit vgl. Human Rights Committee, General Comment 26 (8 December 1997), UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.8/Rev.1 sowie Giegerich (Anm. 62), Art. 56 Rn. 46 ff. 66 UN-Charta (Anm. 26). Zur Unkündbarkeit Giegerich (Anm. 62), Art. 56 Rn. 38 ff. 67 BVerfGE 123, 267 (350). 68 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 13.4.2012, 11. 69 Kritisch dazu Thomas Giegerich, The Federal Constitutional Court’s Non-Sustainable Role as Europe’s Ultimate Arbiter, GYIL 53 (2010), 867 ff. 65
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pa“ zu wagen.7 0 Dies wird u.a. davon abhängen, ob sie die Ausgestaltung der parlamentarischen Mitentscheidung und Kontrolle für ausreichend erachten, der sie in ihrer jüngsten Rechtsprechung zur europäischen Integration so große Bedeutung zugemessen haben.7 1 Art. 13 Fiskalvertrag verweist in dieser Hinsicht nur auf Titel II des Protokolls (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union 7 2 und fordert das Europäische Parlament und die mitgliedstaatlichen Parlamente auf, gemeinsam durch Organisation und Förderung einer Konferenz von Vertretern ihrer jeweils zuständigen Ausschüsse die Haushaltspolitik und andere vom Fiskalvertrag erfasste Angelegenheiten zu diskutieren. Der ESM-Vertrag enthält keine relevanten Regelungen 7 3 und überlässt die parlamentarische Mitwirkung folglich dem Recht der Mitgliedstaaten. Der Entwurf eines deutschen Zustimmungsgesetzes7 4 sieht in Art. 2 Abs. 1 vor, dass Erhöhungen des genehmigten Stammkapitals des ESM durch den Gouverneursrat einer bundesgesetzlichen Ermächtigung bedürfen. Nach Art. 2 Abs. 2 bedarf auch die Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Art. 19 ESM-Vertrag einer solchen bundesgesetzlichen Ermächtigung. Im Entwurf eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz – ESMFinG) der Fraktionen der CDU/CSU und FDP findet sich derzeit nur folgende Passage: § 3 [Beteiligungsrechte] (1) [… ]. In den Erläuterungen heißt es dazu: „Die Ausgestaltung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages wird im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens erfolgen“.7 5 Pessimistischer hätte man formulieren können, diese werde erst in der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung erfolgen.
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Vgl. Bundespräsident Joachim Gauck, Rede nach der Vereidigung am 23.3.2012: „Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen“, http://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/03/120323Vereidigung-des-Bundespraesidenten.html (abgefragt am 19.4.2012). 71 BVerfGE 123, 267 (351 ff., 433 ff.); Beschluss vom 7.9.2011 (2 BvR 987/10 u.a.), abrufbar unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20110907_2bvr098710.html; Urteil vom 28.2.2012 (2 BvE 8/11), abrufbar unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/es 20120228_2bve000811.html (beide abgefragt am 22.4.2012). 72 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, ABl. 2007 Nr. C 306/148. 73 Vgl. insoweit nur Art. 30 Abs. 5 ESM-Vertrag (Anm. 35) über die Zuleitung des jährlichen Prüfberichts an die nationalen Parlamente der ESM-Mitglieder. 74 Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, BT Drs. 17/9045. 75 BT Drs. 17/9048.
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D. Vollendung der Europäischen Grundrechte-Union? I. Schutzlücken trotz Konstitutionalisierung der EU-Grundrechtecharta Der Vertrag von Lissabon hat eine lange überfällige Vertiefung der Integration in Bezug auf die Grundrechte bewirkt: Art. 6 Abs. 1 EUV erhebt die Charta der Grundrechte der EU in der Fassung vom 12.12.2007 7 6 in Primärrechtsrang und verschafft damit der EU erstmals einen eigenen geschriebenen, umfassenden und rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog. Allerdings bestehen auch gegen diesen Schritt nationale „Vorbehalte“ fort. Diese kommen nicht allein im Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich zum Ausdruck.7 7 Vielmehr trugen auch andere Mitgliedstaaten Bedenken dagegen, die zuvor nur politisch proklamierte Grundrechtecharta zu konstitutionalisieren und sie dem Gerichtshof der Europäischen Union als zusätzliches „Herrschaftsinstrument“ an die Hand zu geben. So erklären sich Art. 6 Abs. 1 UA 2 EUV, wonach die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner W eise erweitert werden, 7 8 und Art. 6 Abs. 1 UA 3 EUV, wonach die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen zur Grundrechtecharta79 ausgelegt werden.8 0 Noch an einer anderen Stelle kommen mitgliedstaatliche Vorbehalte gegen eine umfassende Europäische Grundrechte-Union zum Ausdruck: Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh gilt die Charta ohne weiteres nur für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, für die Mitgliedstaaten hingegen ausschließlich bei der Durchführung von EU-Recht. Die zugehörigen Erläuterungen machen deutlich, dass damit die einschlägige Rechtsprechung des EuGH kodifiziert (und nicht eingeschränkt) werden soll.8 1 Auch Ziel und Zuständigkeit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte sind dementsprechend eingeschränkt.82 Zwar 76
ABl. 2007 Nr. C 303/1. Siehe oben (Anm. 10). 78 Ebenso Art. 51 Abs. 2 GrCh. 79 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 Nr. C 303/17. 80 Ebenso Art. 52 Abs. 7 GrCh. 81 Näher Matthias Niedobitek, Entwicklung und allgemeine Grundsätze, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI/1, 2010, § 159 Rn. 105 ff. 82 Art. 2, 3 Abs. 3 der auf die Vertragsabrundungskompetenz nach Art. 308 EGV (jetzt Art. 352 AEUV) gestützten Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates vom 15.2.2007 zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, ABl. 2007 Nr. L 53/1. 77
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zählen die Menschenrechte zu den grundlegenden W erten der EU (Art. 2 EUV) und ist ihre Achtung und Förderung nach Art. 49 EUV Voraussetzung für den EUBeitritt, so dass die Menschenrechtsentwicklung in den Beitrittsländern während der Beitrittsverhandlungen permanent und umfassend beobachtet wird und eine große Rolle in den jährlichen Fortschrittsberichten der Kommission spielt.83 W eiterhin gehört es Art. 21 EUV zu den Grundsätzen des auswärtigen Handelns der EU, den M enschenrechten und Grundfreiheiten weltweit zu stärkerer Geltung zu verhelfen. Der EuGH scheut sich auch nicht, selbst den UN-Sicherheitsrat der Sache nach in die grundrechtlichen Schranken des EU-Primärrechts zu verweisen, soweit er individualisierte Sanktionen verhängt.8 4 In einem merkwürdigen W iderspruch zu dieser Grundrechtsprojektion nach außen liegt die Überwachung der allgemeinen Menschenrechtslage in den Mitgliedstaaten außerhalb der EU-Zuständigkeiten, solange nicht der Extremfall einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten W erte durch einen Mitgliedstaat eintritt und damit die Voraussetzungen für eine Einleitung des Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV vorliegen. Diese Zuständigkeitsgrenzen der EU sind etwa bei ihrer Reaktion auf die vieldiskutierten Ereignisse in Ungarn relevant geworden.85 Demnach reicht die Gewährleistungsfunktion der EU in Bezug auf die Menschenrechtslage in den Mitgliedstaaten bei weitem nicht an diejenige der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Grundrechtslage in den Ländern heran.86 Zwar entspricht das Schutzniveau der M enschenrechte in der EU inzwischen dem berühmten Postulat des Generalanwalts Jacobs, dass ein Unionsbürger im EUAusland berechtigt sei „zu sagen ‚civis europeus sum‘ und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen“. 8 7 Denn seit der Verbürgung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts in Art. 21 AEUV als Ergänzung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts durch den Vertrag von Maastricht von 1992 liegt jeder Aufenthalt einer Unionsbürgerin in einem anderen Vgl. Armin von Bogdandy, Grundrechtsschutz durch die Europäische Grundrechteagentur, in: Merten/Papier (Anm. 81), § 166. 83 Vgl. Editorial Comments, Common Market Law Review 49 (2012), 481 ff. 84 EuGH, Urteil vom 3.12.2009, verb. Rs. C-402/05 und C-415/05 – Kadi und Al Bakaraat, Slg. 2008, I-6351. 85 Vgl. den Bericht 2011 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Kommission vom 16.4.2012, COM(2012) 169 final, 4 f.; Editorial Comments: Hungary’s new constitutional order and „European unity“, Common Market Law Review 49 (2012), 871 ff. 86 Art. 28 Abs. 3 GG. 87 Schlussanträge des Generalanwalts Francis. G. Jacobs, Rs. C-168/91 – Konstantinidis. Slg. 1993, I-1191, 1211 f. (Abs. 46).
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Mitgliedstaat ungeachtet seines Zwecks im Anwendungsbereich der Verträge und damit gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh zugleich im Schutzbereich der EUGrundrechte.8 8 Für den Aufenthalt im Heimatstaat gilt dies hingegen nicht: EUrechtlich betrachtet stellt die Behandlung der eigenen Staatsangehörigen durch die Mitgliedstaaten nach wie vor in erheblichem Umfang eine „innere Angelegenheit“ dar, insbesondere wenn kein grenzüberschreitendes Element vorhanden ist. Es fehlt nicht an wissenschaftlichen Versuchen, dem abzuhelfen,8 9 wohl aber am politischen W illen der Mitgliedstaaten, eine solche Abhilfe zu akzeptieren, und bisher auch an der Bereitschaft des EuGH, den Unionsbürgerstatus nach Art. 20 Abs. 1 AEUV aktivistisch zu einem allgemeinen und umfassenden Grundrechtsstatus fortzuentwickeln.90 Die Überwindung des domaine réservé durch Menschenrechtsregeln, die dem durchsetzungsschwächeren Völkerrecht – insbesondere der EMRK – längst gelungen ist, hat das durchsetzungsstärkere EU-Recht noch nicht geschafft, weil sich die föderale Machtbalance zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sonst deutlich zulasten der letzteren verändern würde. Die mitgliedstaatlichen W iderstände gegen eine solche Entwicklung sind jüngst im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den Beitritt der EU zur EMRK erneut deutlich geworden.9 1 Im Entwurf eines Beitrittsvertrags9 2 ist vorgesehen, in Art. 59 Abs. 2 EMRK folgende Regelung aufzunehmen: „c. Accession to the Convention and the Protocols thereto shall impose on the European Union obligations with regard only to acts, measures or omissions of its institu-
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Nach der Rechtsprechung des EuGH liegt eine „Durchführung des Rechts der Union“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh vor, sobald eine Situation unter das Unionsrecht fällt, vgl. Urteil vom 15.11.2011, Rs. C-256/11 – Dereci, Rn. 72. 89 Vgl. z.B. Armin von Bogdandy u.a., Reverse Solange – Protecting the Essence of Fundamental Rights against EU Member States, Common Market Law Review 49 (2012), 489 ff. Restriktiv hingegen Peter M. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2011, 2385 ff. 90 Vgl. das Dereci-Urteil (Anm. 88), Rn. 70 ff. Stanislas Adam/Peter van Elsuwege, Citizenship Rights and the Federal Balance between the European Union and its Member States: Comment on Dereci, European Law Review 37 (2012), 176 (184 ff.). 91 Siehe dazu eingehend unten II. 92 Draft Agreement on the Accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms – Appendix zum Bericht des Steering Committee for Human Rights „Report to the Committee of Ministers on the elaboration of legal instruments for the accession of the European Union to the European Convention on Human Rights“ vom 14.10.2011, CCDH(2011)009, abrufbar unter: http:// www.coe.int/t/dghl/standardsetting/hrpolicy/cddh-ue/CDDH-UE_MeetingReports/CDDH_ 2011_009_en.pdf (abgefragt am 11.4.2012).
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tions, bodies, offices or agencies, or of persons acting on their behalf. Nothing in the Convention or the Protocols thereto shall require the European Union to perform an act or adopt a measure for which it has no competence under European Union law“. Diese Klausel soll sicherstellen, dass die EU als Vertragspartei der Konvention anders als ein Bundesstaat nicht durch Art. 1 EMRK verpflichtet wird, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Konventionsrechte auch gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten zu gewährleisten.9 3 Sie entspricht der Sache nach der Bundesstaatsklausel in Art. 28 Abs. 1 und 2 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention.9 4
II. Die W ehen des EM RK-Beitritt der EU 1. Beitrittsauftrag und -verfahren Eine wirkliche Grundrechte-Union stellt die EU nach alledem noch nicht dar. Einen wesentlichen Schritt auf dem W eg zu deren Vollendung wird die EU aber durch ihren Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention gehen. Damit unterwirft sie sich gleich allen ihrer Mitgliedstaaten einer externen Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Natürliche und juristische Personen werden in die Lage versetzt, Individualbeschwerden nach Art. 34 EMRK unmittelbar gegen die EU zu erheben. Zu diesem weiteren Integrationsfortschritt hat die EU nach langem Anlauf mit dem Vertrag von Lissabon endlich konkret angesetzt: Art. 6 Abs. 2 EUV schafft nicht nur die für den EMRK-Beitritt erforderliche vertragliche Ermächtigungsgrundlage,9 5 sondern ordnet seinen Vollzug konkret an.9 6 Der langandauernde W iderstand einiger Mitgliedstaaten gegen den Konventionsbeitritt der EU beruhte nicht zuletzt auf Befürchtungen, dass ein solcher unwillkommene Rückwirkungen auf die Kompetenzen der EU zur Grundrechtsdurchsetzung in den Mitgliedstaaten sowie auf den innerstaatlichen Status
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Siehe in diesem Sinne sogar ausdrücklich Art. 50 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Anm. 65). 94 Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22.11.1969, deutsche Übersetzung in: Bruno Simma/Ulrich Fastenrath (Hrsg.), Menschenrechte, 6. Aufl. 2010, 637 ff. = EuGRZ 1980, 435 ff. 95 EuGH, Gutachten 2/94 vom 28.3.1996, Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Slg. 1996, I-1759 Rn. 34 f. 96 Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 4 Rn. 14. Vgl. auch Protokoll Nr. 8 zu Art. 6 Abs. 2 EUV, das Vorgaben für den Beitritt formuliert, ABl. 2007 Nr. C 306/155.
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der Konventionsrechte haben könnte.9 7 Seit Juli 2011 liegt der Entwurf eines Beitrittsvertrags zwischen den Konventionsstaaten und der EU vor, den eine informelle Arbeitsgruppe des Steering Committee for Human Rights des Europarats zusammen mit der Europäischen Kommission ausgearbeitet hat.9 8 Es ist aber bereits deutlich geworden, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten mit diesem Entwurf einverstanden sind, sondern weiterer Diskussionsbedarf innerhalb der EU besteht. 99 Die politischen W iderstände gegen einen EMRK-Beitritt der EU sind offenbar immer noch nicht überwunden. Dies belegt nicht zuletzt das durch den Vertrag von Lissabon über alle Maßen erschwerte Entscheidungsverfahren auf EU-Seite: Art. 218 Abs. 8 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV verlangt nicht nur einen einstimmigen Ratsbeschluss für den Abschluss des Beitrittsabkommens, welcher zudem der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf. Vielmehr tritt dieser Ratsbeschluss erst in Kraft, wenn ihm alle EU-Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften zugestimmt haben. Darüber hinaus muss das Beitrittsabkommen als solches außer von der EU noch von allen Konventionsstaaten (einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten) ratifiziert werden.1 00 Das kann lange dauern, wie die Erfahrungen mit dem Protokoll Nr. 14 zeigen, dessen Inkrafttreten die Russische Föderation um mehr als drei Jahre verzögert hat. Vorgesehen ist zunächst ein Beitritt der EU zur Konvention sowie zu den Zusatzprotokollen Nr. 1 und 6 – den einzigen von allen EU-Mitgliedstaaten ratifizierten Zusatzprotokollen. Zugleich wird Art. 59 Abs. 2 EMRK, der bisher nur vom Beitritt der EU zur Konvention spricht, klarstellend dahingehend ergänzt, dass die EU darüber hinaus den (d.h. allen, auch zukünftigen) Protokollen beitreten kann. Art. 6 Abs. 2 EUV ermächtigt die EU zwar ausdrücklich nur dazu, der Konvention beizutreten, dürfte aber seinerseits auch die Zusatzprotokolle erfassen,10 1 deren materielle Rechtsverbürgungen ja als Zusatzartikel zur Konvention gelten.102 Dies gilt zumindest für diejenigen Zusatzprotokolle, die alle EU-
97 Vgl. Sebastian Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2000, 115 ff. Vgl. auch Thomas Giegerich, Wirkung und Rang der EMRK in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in: Rainer Grote/Thilo Marauhn/Oliver Dörr (Hrsg.), EMRK/GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2012, Kap. 2 Rn. 35 ff. (im Erscheinen). 98 Draft Agreement (Anm. 92). 99 Vgl. Bericht des Steering Committee (Anm. 92), Abs. 9 und 11. 100 Draft Agreement (Anm. 92), Art. 10 Abs. 3. 101 Vgl. Thorsten Kingreen, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 6 EUV Rn. 25. 102 Art. 5 ZP 1, Art. 6 ZP 4, Art. 6 ZP 6, Art. 7 ZP 7, Art. 3 ZP 12 und Art. 5 ZP 13.
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Mitgliedstaaten binden und deshalb schon jetzt einen relevanten völkerrechtlichen Mindeststandard bilden, den das Unionsrecht nicht unterschreiten will.1 0 3
2. Ko-Verteidigungsmechanismus und garantierte Vorbefassung des EuGH Insbesondere zwei Probleme hat der Beitrittsvertrag zu lösen: Geregelt werden muss erstens die Einbeziehung der EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), in denen es um behauptete Konventionsverletzungen durch mitgliedstaatliche Umsetzung und/ oder mitgliedstaatlichen Vollzug von primärem oder sekundärem EU-Recht geht, die nur durch eine Missachtung EU-rechtlicher Verpflichtungen hätten vermieden werden können. Dem dient der neue Ko-Verteidigungsmechanismus (co-respondent mechanism), welcher der EU (in Bezug auf Sekundärrecht) 1 0 4 bzw. den Mitgliedstaaten (in Bezug auf Primärrecht)10 5 eine Verfahrensbeteiligung mit voller Parteistellung – einschließlich aller Verpflichtungen aus Art. 46 EMRK bei einer Verurteilung – ermöglicht, falls sie dies wünschen und der EGMR zustimmt.1 06 Da die Verfahrensbeteiligung als co-respondent von der Zustimmung der jeweiligen Körperschaft abhängt, sollten Beschwerdeführer ihre Beschwerden in beiden Fallkonstellationen von vornherein sowohl gegen die EU als auch den/ die betreffenden Mitgliedstaat/en richten, um deren Verfahrensbeteiligung auf jeden Fall sicherzustellen.1 07 Zweitens muss durch den Beitrittsvertrag gewährleistet werden, dass der EGMR einen EU-Rechtsakt auf seine Vereinbarkeit mit der Konvention erst untersucht, nachdem eine EU-interne Kontrolle durch den EuGH stattgefunden hat. Diese Subsidiarität der Straßburger Menschenrechtskontrolle im Verhältnis zur Grundrechtskontrolle seitens der Gerichte der Konventionsparteien wird im
103
Art. 53 GrCh. H. D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 53 Rn. 14 f. 104 Das ist die Konstellation der Bosphorus-Entscheidung des EGMR, Urteil vom 30.6.2005, Application No. 45036/98, Rep. 2005-VI. 105 Das ist die Konstellation der Matthews-Entscheidung des EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Application No. 24833/94, Rep. 1999-I, 251 ff. 106 Draft Agreement (Anm. 92), Art. 3. 107 Vgl. Abs. 47 des Draft Explanatory Report des Steering Committe (Anm. 92): „… No High Contracting Party may be compelled against its will to become a co-respondent. This reflects the fact that the initial application was not addressed against the potential corespondent, and that no High Contracting Party can be forced to become a party to a case where it was not named in the original application“.
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Regelfall dadurch sichergestellt, dass Beschwerdeführer die nationalen Rechtsbehelfe erschöpfen müssen, bevor sie den EGMR anrufen können.1 0 8 Konventionsrechtlich problematische Sekundärrechtsakte der EU bilden jedoch keinen solchen Regelfall, weil potentielle Beschwerdeführer im Sinne des Art. 34 EMRK – natürliche Personen und juristische Personen des Privatrechts – nur in Ausnahmefällen vor dem EuGH (konkret: dem Gericht) direkt Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV gegen den Sekundärrechtsakt erheben können. Dies gilt auch nach der Erweiterung ihrer Direktklagebefugnis durch den Vertrag von Lissabon.1 0 9 Im EU-rechtlichen Regelfall steht betroffenen natürlichen und juristischen Personen hingegen nur der Rechtsweg zu den mitgliedstaatlichen Gerichten gegen nationale Umsetzungs- oder Ausführungsakte etwa zu einer EU-Verordnung oder Richtlinie offen. Die nationalen Gerichte sind dann zwar nach Art. 267 AEUV berechtigt und ggf. verpflichtet, dem EuGH die Fragen der Vereinbarkeit einer solchen Verordnung oder Richtlinie mit dem Primärrecht einschließlich der Grundrechtecharta sowie ihrer korrekten Interpretation vorzulegen. Effektiv erzwingen können private Kläger eine derartige Vorlage indessen nicht, so dass ein Vorabentscheidungsverfahren keinen von ihnen auszuschöpfenden Rechtsbehelf im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK darstellt. Sehen die zuständigen nationalen einschließlich der letztinstanzlichen Gerichte unter Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV von der Einschaltung des EuGH ab, was auch in Deutschland immer wieder vorkommt1 1 0 und wogegen das EU-Recht keinen Rechtsbehelf gewährt, so können die Kläger ohne einen Luxemburger Durchgang sogleich Individualbeschwerde beim EGM R einlegen (Art 34 EMRK). Dieser käme dadurch in die schwierige Lage, die Vereinbarkeit eines EU-Sekundärrechtsakts mit der EMRK prüfen zu müssen, obwohl er mangels Vorbefassung des EuGH weder die EU-rechtliche W irksamkeit noch die korrekte Interpretation dieses Akts kennt. Vor diesem Hintergrund haben die Präsidenten des EuGH und des EGMR in einer Gemeinsamen Mitteilung vom 17.1.2011 zur W ahrung des Subsidiaritätsprinzips empfohlen, im Zusammenhang mit dem EMRK-Beitritt der EU ein Verfahren einzurichten, „which is flexible and would ensure that the CJEU may
108
Art. 35 Abs. 1 EMRK. Dazu jüngst restriktiv EuG, Beschluss vom 6.9.2011, Rs. T-18/10 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a. (Einfuhrverbot für Robbenerzeugnisse); Berufung anhängig als Rs. C-583/ 11 P. Vgl. auch Niklas Görlitz/Philipp Kubicki, Rechtsakte „mit schwierigem Charakter“, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2011, 248 ff. 110 Vgl. nur BVerfG (Kammer), Beschluss vom 25. 2. 2010 – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268, sowie Beschluss vom 22.9.2011 – 2 BvR 947/11, Straßenverkehrsrecht 2011, 468. 109
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carry out an internal review before the ECHR carries out external review“.11 1 Der Entwurf des Beitrittsvertrags greift diese Empfehlung eines EU-internen Vorverfahrens in folgender Bestimmung auf, die als Art. 36 Abs. 6 in die Konvention aufgenommen werden soll: „In proceedings to which the European Union is corespondent, if the Court of Justice of the European Union has not yet assessed the compatibility with the Convention rights at issue of the provision of European Union law as under paragraph 2 of this Article,1 1 2 then sufficient time shall be afforded for the Court of Justice of the European Union to make such an assessment and thereafter for the parties to make observations to the Court. The European Union shall ensure that such assessment is made quickly so that the proceedings before the Court are not unduly delayed. The provisions of this paragraph shall not affect the powers of the Court“. Die Einführung eines solchen besonderen und beschleunigten EuGH-Zwischenverfahrens1 1 3 – gewissermaßen die Einholung einer Vorabentscheidung durch den EGMR – bedarf der Ergänzung des AEUV im ordentlichen Änderungsverfahren nach Art. 48 EUV.1 1 4 Denn da auch die Kompetenzen der EU-Organe dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung unterliegen,1 1 5 gilt für die EuGHZuständigkeiten ein numerus clausus der im AEUV vorgesehenen Verfahren. Keines von diesen ermöglicht derzeit die Einbeziehung des EuGH in ein laufendes Individualbeschwerdeverfahren in Straßburg. Im Übrigen regelt der Entwurf eines neuen Art. 36 Abs. 6 EM RK diese Einbeziehung nur sehr unvollkommen: Er erfasst von vornherein Fälle nicht, in denen Individualbeschwerden gleichzeitig gegen die EU und einen oder mehrere ihrer Mitgliedstaaten gerichtet worden sind und die Verfahrensstellung der EU nicht nachträglich in diejenige eines „co-respondent“ umgewandelt worden ist. 111 Joint communication from Presidents Costa and Skouris, http://www.echr.coe.int/ NR/rdonlyres/02164A4C-0B63-44C3-80C7-FC594EE16297/0/2011Communication_ CEDHCJUE_EN.pdf (abgefragt am 21.4.2012). 112 Der in Bezug genommene Absatz lautet: „Where an application is directed against one or more member States of the European Union, the European Union may become a corespondent to the proceedings in respect of an alleged violation notified by the Court if it appears that such allegation calls into question the compatibility with the Convention rights at issue of a provision of European Union law, notably where that violation could have been avoided only by disregarding an obligation under European Union law“. 113 Zum beschleunigten Verfahren bzw. Eilverfahren in Bezug auf Vorabentscheidungsersuchen vgl. Art. 104a, b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs (konsolidierte Fassung in Sartorius II Nr. 250). 114 Nach Art. 48 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV könnte dabei auf das Konventverfahren verzichtet werden. 115 Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV.
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Außerdem beschränkt er sich zu Unrecht darauf, dem EuGH die vorherige Beurteilung zu ermöglichen, ob der Sekundärrechtsakt mit den Konventionsrechten vereinbar ist. Demgegenüber muss sichergestellt werden, dass der EuGH vorab eine umfassende W irksamkeitskontrolle eines möglicherweise konventionswidrigen Sekundärrechtsakts vornimmt, also auch etwa im Hinblick auf Verstöße gegen die Verbands- und Organkompetenz. Außerdem muss der EuGH Gelegenheit erhalten, die maßgebliche (beispielsweise konventionskonforme) Interpretation dieses Sekundärrechtsakts zu bestimmen. Ansonsten könnte es vorkommen, dass der EGMR die EU wegen einer Konventionsverletzung verurteilt und sich in einem späteren Verfahren vor dem EuGH herausstellt, dass der betreffende Sekundärrechtsakt nichtig oder anders auszulegen ist, als der EGMR auf der Grundlage der eigenmächtigen Interpretationsversuche der involvierten mitgliedstaatlichen Gerichte annahm. Vor diesem Hintergrund ist die an den letzten Satz des Entwurfs eines Art. 36 Abs. 6 EMRK anknüpfende Aussage des Draft Explanatory Report irreführend, „[t]he assessment of the CJEU will not bind the Court“.1 1 6 Zwar kann die Einschätzung des EuGH, der betreffende Sekundärrechtsakt sei mit der Konvention vereinbar, den EGMR natürlich genauso wenig binden wie entsprechende Einschätzungen nationaler Gerichte. W enn jedoch der EuGH den Sekundärrechtsakt wegen Verstoßes gegen das EU-Primärrecht (einschließlich seiner grundrechtlichen Gewährleistungen) für nichtig erklärt, bindet dies den EGMR selbstverständlich ebenso wie die definitive Klärung seiner Interpretation durch den EuGH. In dieser Hinsicht muss der EuGH einem mitgliedstaatlichen Höchstgericht gleichgeachtet werden. Die Suche nach einer Lösung der politischen und rechtlichen Probleme eines EMRK-Beitritts der EU wird durch den derzeitigen Reformbedarf des Konventionssystems selbst nicht gerade erleichtert. In den Jahren 2010, 2011 und 2012 fanden drei Konferenzen hochrangiger Mitgliedstaatenvertreter über die Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte statt,117 weil dieser eine riesige und ständig wachsende Bugwelle von unerledigten Verfahren vor sich herschiebt.1 1 8 Etwa 800 Millionen Europäerinnen und Europäer aus den 47 Konven-
116
Abs. 60 des Draft Explanatory Report des Steering Committee (Anm. 92). Vgl. zuletzt die High Level Conference on the Future of the European Court of Human Rights: Brighton Declaration, 19/20 April 2012, abrufbar unter: http://www.coe.int/ en/20120419-brighton-declaration (abgefragt am 23.4.2012). 118 Derzeit sind annähernd 150.000 Verfahren anhängig, vgl. die Statistik des EGMR, abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Reports+and+Statistics/ Statistics/Statistical+data (abgefragt am 24.4.2012). 117
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tionsstaaten suchen in wachsendem Maße Abhilfe in Straßburg, weil ihnen das von den nationalen Judikativen gebotene Menschenrechtsschutzniveau nicht genügt.
E. Sechzig Jahre auf dem Weg nach Utopien: Weltweite Beispielhaftigkeit der Europäischen Einheitsbildung Mehr als sechzig Jahre nach dem Schuman-Plan ist Europa immer noch nicht in Utopien angekommen: Die damals anvisierte „europäische Föderation“ besteht nicht, wenn man darunter einen europäischen Bundesstaat versteht. Das Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ streben die maßgeblichen politischen Kräfte auf mitgliedstaatlicher und europäischer Ebene nicht länger an. Ebenso wenig verlaufen sie sich aber auf dem de Gaulle’schen Irrweg eines „Europas der Vaterländer“, der in das „europäische Konzert“ des 19. Jahrhunderts zurückführen würde.1 1 9 Sie bauen stattdessen an einer Europäischen Union fort, deren wesentliches Bauprinzip die Quasi-Föderalität oder Bundesstaatsähnlichkeit ist, die jedoch bei aller dynamischen Fortentwicklung ihre Eigengesetzlichkeit dauerhaft bewahrt. Die EU bleibt eine nichtstaatliche und nichtsouveräne Union aus souveränen demokratisch verfassten Mitgliedstaaten und Unionsbürgern, in der dauerhafte Institutionen nach festgelegten Verfahren einen wesentlichen Teil der staatlichen Souveränität gemeinsam ausüben.1 2 0 Ihr personales Substrat besteht aus Menschen mit mehrfachen Identitäten und Loyalitäten zumindest als Unionsbürger und Staatsbürger. Die EU ist kein „unvollendeter Bundesstaat“1 2 1 und will kein vollendeter Bundesstaat werden. Stattdessen ist sie ein supranationaler Integrationsverband sui generis, ein beispielloser und zugleich beispielgebender demokratischer Staaten- und Völkerverbund, der sich nicht um seine eigene „Etikettierung“ kümmert, sondern seine Funktionalität und Effektivität stetig zu verbessern und theoretische Vorbehalte pragmatisch zu überwinden sucht. So verwendet die EU ihre Symbole wie die blaue Europaflagge mit den zwölf goldenen Sternen seit Jahrzehnten und setzt diese Praxis fort, obwohl der Vertrag von Lissabon die Festlegung der europäischen Symbole in Art. I-8 des Vertrages über eine Verfassung für Europa nicht übernommen hat. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts hat sich praktisch durchgesetzt und setzt sich weiterhin durch, auch ohne in einer 119
Vgl. Ludolf Herbst, Option für den Westen, 1989, 197 ff. Vgl. Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 10, 11 EUV. Nach Jürgen Habermas ist die konstituierende Gewalt der EU zwischen den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten und der Gesamtheit der Unionsbürger geteilt (Zur Verfassung Europas: Ein Essay, 2011, 62 ff.). 121 Vgl. Hallstein (Anm. 13). 120
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Vertragsvorschrift ausdrücklich kodifiziert zu sein,1 2 2 weil alle Beteiligten (einschließlich des Bundesverfassungsgerichts) wissen, dass er für das Funktionieren der Integration unabdingbar ist. Die EU braucht sich für das Erreichte nicht zu schämen und vor der Zukunft keine Angst zu haben, denn sie ist „die größte politische Erfolgsgeschichte unseres Kontinents“.1 2 3 W ie die Verfassungsstaatlichkeit auf nationaler Ebene, so ist auch die europäische Integration immer ein Elitenprojekt gewesen; beide dürfen freilich die ständige Rückkopplung an das W ahlvolk nicht vernachlässigen. Deshalb muss die EU die politischen Mehrheiten in den Völkern aller Mitgliedstaaten von dem Mehrwert jedes Erweiterungs- und Vertiefungsschritts, stets aufs Neue aber auch von ihrem eigenen Mehrwert überzeugen. Dieser M ehrwert besteht darin, dass sie den europäischen Staaten und Völkern angesichts der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und sonstigen Herausforderungen eines globalen Zeitalters die einzig realistische Chance bietet, mit vereinten Kräften den Frieden, ihre in Art. 2 EUV proklamierten W erte und ihr W ohlergehen zu fördern. 1 2 4 Bei der Einbringung ihrer W erte in den weltweiten W ettbewerb der W erte kooperiert die EU mit dem Europarat im Sinne einer paneuropäischen verstärkten Zusammenarbeit und Komplementarität.12 5 W ährend der Europarat als internationale Organisation vornehmlich die europäische Glaubwürdigkeit in Bezug auf M enschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nach innen gerade auch im Verhältnis der Mitgliedstaaten zu ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern gewährleistet, sichert die EU als supranationale Organisation den wirtschaftlichen W ohlstand im Binnenmarkt und verfügt über Fähigkeiten zur effektiven Einflussnahme auf das W eltgeschehen. Sie verleiht den europäischen Staaten und Völkern eine Stimme, die weltweit Gehör findet. Auf seinem W eg zur politischen Einheit lebt Europa von beiden Komponenten. W ie die US-Amerikaner, so müssen auch die Europäer mühsam lernen, entweder einzeln unterzugehen oder gemeinsam zu schwimmen, W ohlstand und 122
Vgl. Art. I-6 des Vertrags über eine Verfassung für Europa (Anm. 2) und die Erklärung (Nr. 17) zum Vorrang im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon vom 13.12.2007, ABl. 2007 Nr. C 306/256. 123 So der Bundespräsident in einer Rede am 23.4.2012, abrufbar unter: http:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/04/1204 23-Luxemburg-Staatsbankett.html (abgefragt am 24.4.2012). 124 Art. 3 Abs. 1 EUV. 125 Vgl. Memorandum of Understanding between the Council of Europe and the European Union vom 11./23.5.2007, abrufbar unter: http://www.coe.int/t/der/docs/MoU_EN.pdf (abgefragt am 24.4.2012).
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Heil in der Union und nicht der Spaltung zu suchen.1 2 6 Die Herausforderungen des globalisierten 21. Jahrhunderts warten nicht, bis sich die Mentalität auch der letzten der kleinen und mittleren Mächte Europas auf die Überforderung und den daraus folgenden Bedeutungsverlust des souveränen Nationalstaats eingestellt hat: Entweder bündeln diese zügig ihre Kräfte und steuern ihr Schicksal auf demokratische W eise gemeinsam, wie dies effektiv etwa in der W TO geschieht,12 7 oder sie lassen sich von externen Akteuren – seien es außereuropäische Großmächte in W est und Ost oder diffuse Marktmächte – steuern.1 2 8 Dass die EU zur wirksamen extraterritorialen Macht- und W ertprojektion im Interesse der global commons in der Lage ist, wenn sie den dadurch erzeugten politischen Gegendruck aushält, zeigt die aktuelle Kontroverse um die Erstreckung des EU-Systems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten auf die Gesamtstrecke aller Flüge, die von einem Flughafen innerhalb der EU abgehen oder dort enden.1 29 Als weltweit einziges Projekt einer überstaatlichen Demokratie 1 3 0 steht die EU in der Verantwortung, der internationalen Gemeinschaft zu beweisen, dass eine solche möglich, effektiv und dauerhaft ist. Die EU ist ein Modell kontinentaler Integration, um das uns andere Kontinente beneiden, denn ihr ist die Zivilisierung der Ausübung politischer Herrschaft durch demokratisch gesetztes Recht gelungen.1 3 1 Sie kann ein Zwischenschritt zu einer globalen kosmopolitischen Gemeinschaft der Staaten, Kontinente und W eltbürger zur demokratischen Gestaltung von W eltinnenpolitik sein.132 Sie weist nicht zuletzt den W eg zum Aufbau supranationaler Steuerungsfähigkeit gegenüber transnational agierenden gesellschaftlichen Kräften zum Beispiel im Banken- und Finanzsektor.1 33
126
Vgl. aus der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court z.B. Saenz v. Roe, 526 U.S. 489, 511 (1999). 127 Vgl. Michael Hahn, Die EU als WTO-Mitglied: Machtinteressen einer Rechtsgemeinschaft, in: Thomas Giegerich (Hrsg.), Internationales Wirtschafts- und Finanzrecht in der Krise, 2011, 173 ff. 128 „Ducunt volentem fata, nolentem trahunt“, L. Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Buch XVII und XVIII, 107, 11, abrufbar unter: http://www.thelatinlibrary.com/ sen/seneca.ep17-18.shtml (abgefragt am 2.5.2012). 129 EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Rs. C-366/10 – Air Transport Association of America u.a. Vgl. Jacques Hartmann, The European Emissions Trading System and Extraterritorial Jurisdiction, EJIL: Talk!, 23 April 2012, abrufbar unter: http://www.ejil.org/ (abgefragt am 1.5.2012). 130 Klaus Hänsch, Europas Sinn und Wert, FAZ vom 27.2.2012, 7. 131 Vgl. Habermas, Zur Verfassung Europas (Anm. 120), 9 f., 55. 132 Habermas, Zur Verfassung Europas (Anm. 120), 40, 82 ff. 133 Habermas, Zur Verfassung Europas (Anm. 120), 46.
Die Europäische Währungsunion in schwerer See: Ist der Euro noch zu retten? Von Ulrich Häde Die Europäische W ährungsunion hat Probleme. Manche sehen gar die EuroW ährung schon als Auslaufmodell an. Ist der Euro noch zu retten? Die Frage kann man als Jurist kaum seriös beantworten; jedenfalls sind keine ökonomischen oder politikwissenschaftlichen Lösungen zu erwarten. Eine juristische Antwort kann aber auf die Frage eingehen, ob das geltende Recht die Umsetzung der Vorschläge zulässt, die derzeit zur Stabilisierung der Euro-W ährung diskutiert werden.
A. Grundprobleme der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion Zunächst aber zu den Grundproblemen der Europäischen W irtschafts- und W ährungsunion. W ie konnte es so weit kommen, dass man über die Frage sprechen muss, ob der Euro noch zu retten ist?
I. Der Euro als vorrangig politisches Projekt Die Europäische W irtschafts- und W ährungsunion leidet an mindestens zwei Strukturproblemen. Das erste lässt sich mit der These umschreiben, dass der Euro nicht in erster Linie ein ökonomisches, sondern ein politisches Projekt ist. Die Einführung der gemeinsamen W ährung zum 1.1.1999 kann man als einen der bedeutendsten Integrationsfortschritte seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften verstehen. Aus ökonomischer Sicht war eine W ährungsunion jedoch nicht zwingend erforderlich. Die unterschiedlichen Währungen verursachten im gemeinsamen Markt zwar gewisse Transaktionskosten. Doch fuhr man schon längere Zeit mit dem auf Initiative von Frankreich und Deutschland 1978/1979 errichteten Europäischen W ährungssystem recht gut. In diesem EW S behielt jeder Staat seine eigene W ährung. Das System verhinderte aber allzu große Schwankungen der W echselkurse und erleichterte damit den Austausch von W aren und Dienstleistun-
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gen zwischen den beteiligten Staaten. Das EW S funktionierte nicht spannungsfrei; aber mit einem verbesserten System hätte man sicher noch länger auskommen können. Auch mit den USA oder China kann man intensive Geschäftsbeziehungen pflegen, ohne eine gemeinsame W ährung zu haben. Es waren deshalb weniger ökonomische als politische Motive, die zur einheitlichen Währung führten. Bezeichnend ist, dass ein wichtiger Anstoß aus Deutschland nicht von Finanzminister Stoltenberg, sondern von Bundesaußenminister Genscher kam, der Anfang 1988 sein „Memorandum für die Schaffung eines europäischen W ährungsraumes und einer Europäischen Zentralbank“ veröffentlichte.1 Es gab schon damals eine gewisse Abkühlung der Europabegeisterung. Das Projekt einer gemeinsamen W ährung hatte deshalb Symbolcharakter. Es bot eine neue Vision. Und manche wollten die gemeinsame W ährung sicher auch als einen deutlichen Schritt in Richtung auf Vereinigte Staaten von Europa verstehen. Zu den Gründen für die W ährungsunion gehörte auch, dass im Europäischen W ährungssystem die künstlich geschaffene europäische W ährungseinheit ECU nicht die Rolle spielen konnte, die man ihr eigentlich zugedacht hatte. Stattdessen entwickelte sich die Deutsche Mark immer stärker zur Anker- und Leitwährung Europas.2 Nicht wenige Zentralbanken anderer europäischer Länder vollzogen darum die geldpolitischen Entscheidungen der Deutschen Bundesbank mehr oder weniger zähneknirschend nach. Diese als Hegemonie empfundene Rolle der Deutschen Mark und der Deutschen Bundesbank3 war wohl vor allem für Frankreich auf Dauer schwer erträglich. Schließlich dürfen auch die Ereignisse in Deutschland nicht vergessen werden. Der damalige Bundesfinanzminister Waigel lehnt es zwar immer wieder ab, die europäische Einheitswährung als Preis für die deutsche Einheit zu verstehen. Dennoch wird auch der Prozess, der zur deutschen W iedervereinigung führte, mit dazu beigetragen haben, dass Deutschland bereit war, seine W ährung aufzugeben. 4 Der Euro war und ist deshalb vor allem ein politisches Projekt. Integrationspolitische Erwägungen spielten in seiner noch relativ kurzen Geschichte eine größere Rolle als ökonomische Notwendigkeiten.
1
Siehe dazu H. Krägenau/W. Wetter, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, 1993, 53. Der Text des Memorandums findet sich ebd., 309 ff. 2 Vgl. H. J. Hahn/U. Häde, Währungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 13, Rn. 16. 3 Vgl. Krägenau/Wetter (Anm. 1), 32. 4 Siehe dazu M. Sauga/St. Simons/K. Wiegrefe, Der Preis der Einheit, Der Spiegel 39/ 2010 vom 27.9.2010, 34.
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II. Die Asymmetrie der W irtschafts- und W ährungsunion Ein Charakteristikum und zugleich ein weiteres Grundproblem der Europäischen W irtschafts- und W ährungsunion ist deren Asymmetrie. Damit ist das Auseinanderfallen der Zuständigkeiten für die W irtschafts- und die W ährungspolitik gemeint. In einem Staat sind diese Kompetenzen in der gleichen Hand vereinigt. Und auch wenn die Zentralbank, wie früher die Bundesbank, von W eisungen der Regierung unabhängig ist, dann handelt es sich dennoch um eine Einrichtung nur dieses Staates. Und ihre Geldpolitik bezieht sich auf die W irtschaft gerade jenes Landes. Die Europäische W irtschafts- und W ährungsunion kennt diese Einheitlichkeit nicht. Die beteiligten Staaten haben fast alle Kompetenzen im Bereich der W ährungspolitik an die europäische Ebene abgegeben. Die allgemeine W irtschaftspolitik ist der W ährungspolitik aber nicht gefolgt. Deshalb sind die Mitgliedstaaten nach wie vor insbesondere für die Konjunkturpolitik, die Beschäftigungspolitik, die Sozialpolitik, die Steuerpolitik und nicht zuletzt die Haushaltspolitik selbst zuständig. Auf der europäischen Ebene ist das Europäische System der Zentralbanken mit der Europäischen Zentralbank an der Spitze für die Geldpolitik verantwortlich. Diese gemeinsame Geldpolitik ist dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Die Mitgliedstaaten verfolgen mit ihren W irtschaftspolitiken aber nicht selten andere und auch unterschiedliche Ziele. Nicolaus Heinen hat das im EU-Monitor von Deutsche Bank Research folgendermaßen ausgedrückt: 17 Volkswirtschaften mit unterschiedlicher nationaler Wirtschaftspolitik, Wachstumsdynamik, mit divergierenden strukturellen Stärken und Schwächen koexistieren unter einer gemeinsamen Geldpolitik. Da der Wechselkurs als nominales Ausgleichsventil entfällt, die Länder jedoch gleichzeitig nicht mit strukturellen Reformen real angepasst haben, sind die Spannungen in den letzten Jahren eskaliert.5 Das führt im Ergebnis dazu, dass die gemeinsame Geldpolitik, die sich auf den gesamten Euro-W ährungsraum bezieht, gar nicht zu den unterschiedlichen W irtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten passen kann. Deshalb sind Konflikte zwischen der einheitlichen W ährungspolitik und der mitgliedstaatlichen W irtschaftspolitik vorprogrammiert. Das war schon vor rund 20 Jahren ein wesentlicher Grund für den W iderstand gegen die W ährungsunion. Die meisten Kritiker argumentierten nicht gegen eine W ährungsunion als solche, sondern gegen die konkrete Ausgestaltung der Euro-
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N. Heinen, Makroökonomische Koordinierung, in: Deutsche Bank Research, EUMonitor 78, Januar 2011, 3.
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päischen W irtschafts- und W ährungsunion. So heißt es in dem 1992 verbreiteten „Manifest von 60 deutschen W irtschaftswissenschaftlern gegen Maastricht“:6 „Eine Wirtschafts- und Währungsunion kann als erstrebenswertes Ziel des europäischen Integrationsprozesses angesehen werden. Die Beschlüsse von Maastricht sind allerdings in entscheidenden Punkten ungeeignet, dieses Ziel angemessen zu verwirklichen“. Bereits damals wiesen viele Ökonomen darauf hin, dass die beschriebene Asymmetrie problematisch ist. Die Bundesbank sprach von einer Schicksalsgemeinschaft, die man mit der gemeinsamen W ährung eingehe und die deshalb der Absicherung durch eine politische Union bedürfe. Nicht wenige sahen die heutigen Schwierigkeiten zumindest teilweise schon voraus und warnten vor einer solchen W ährungsunion. Allerdings muss man hinzufügen, dass die W ährungsunion bei gleichzeitiger kompletter politischer Union weder damals erreichbar war noch heute realisierbar wäre. Zum einen fehlte nämlich der politische Wille, weitere wirtschaftspolitische Kompetenzen abzugeben. Und zum anderen ist aus rechtlicher Sicht der mit einer vollständigen politischen Union unabdingbar verbundene Übergang der Europäischen Union zur Staatlichkeit wohl in kaum einem Mitgliedstaat zulässig. Für Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2009 zum Vertrag von Lissabon sehr deutlich gemacht, dass die Aufgabe der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. 7 Man ist deshalb diesen W eg in die W ährungsunion ohne W irtschaftsunion bewusst gegangen. Auch hier waren die integrationspolitischen Gründe für die W ährungsunion stärker als die ökonomischen Gegenargumente. Dennoch wäre es ungerecht, den damaligen Entscheidungsträgern zu unterstellen, sie hätten gar nichts getan, um wegen der möglichen Probleme, die sich aus der Zuständigkeitsaufspaltung ergeben könnten, vorzusorgen. Das Recht der Europäischen Union sieht nämlich mehrere Sicherungen vor, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 1993 zum Vertrag von M aastricht immerhin als Elemente eines Grundkonzepts der W ährungsunion als Stabilitätsgemeinschaft 8 bezeichnet hat. Gemeint sind damit zunächst die Eintrittsvoraussetzungen für die W ährungsunion. Den Euro einführen dürfen nur jene Mitgliedstaaten, die einen hohen Grad an wirtschaftlicher Konvergenz aufweisen. Diese wirtschaftliche Annäherung dient dem Ziel, zu große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Je stärker die Angleichung ist, umso besser kann auch eine gemeinsame Geldpolitik funktionieren.
6 7 8
Abgedruckt bei Krägenau/Wetter (Anm. 1), 401. BVerfGE 123, 267 (347 f.). BVerfGE 89, 155 (202, 204 ff.).
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Als weitere Sicherungen sieht das Unionsrecht eine wirtschaftspolitische Koordinierung sowie die Überwachung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten vor. Diese Regelungen und nicht zuletzt auch die Vorschriften, die der Europäischen Zentralbank eine Kreditvergabe an die Mitgliedstaaten untersagen und die eine Haftung der Mitgliedstaaten untereinander verbieten, sollen dazu beitragen, die Funktionsfähigkeit der W ährungsunion ungeachtet der problematischen Asymmetrie zu erhalten.
III. Die Grenzen des Konzepts der W irtschafts- und W ährungsunion Trotz dieser Grundprobleme hat die Europäische W irtschafts- und W ährungsunion in den ersten zehn Jahren gut funktioniert. Und der Präsident der Europäischen Zentralbank, Trichet, hat den Euro als Erfolgsgeschichte bezeichnet. Trichet stellte weiter fest, es gebe keine Krise der Euro-W ährung. Einzelne Länder hätten Probleme, aber die Euro-Zone selbst sei stabil.9 Dennoch muss man feststellen, dass die beiden erwähnten Grundprobleme deutlicher zu Tage getreten sind. Eine Kombination aus mehreren Gründen hat dazu geführt, dass das heute im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) niedergelegte Konzept der W irtschafts- und W ährungsunion an seine Grenzen zu stoßen scheint.
1. Missachtung der Konvergenzkriterien Der erste Grund ist, dass man schon die Eintrittsvoraussetzungen, die so genannten Konvergenzkriterien, nicht ernst genug genommen hat. Eigentlich ist ein Gesamtschuldenstand von mehr als 60 % des Bruttoinlandsprodukts ein Hinweis auf ein übermäßiges Defizit. Und ein Staat mit übermäßigem Defizit darf den Euro nicht einführen. Trotzdem hat der Rat der Europäischen Union schon 1998 bei der ersten Entscheidung über die Teilnehmer an der W ährungsunion höhere Schuldenberge akzeptiert.10 Die Schuldenstände Belgiens und Italiens lagen damals bei W erten von über 100 % des BIP. Dennoch hat man diese Länder mitgenommen; denn man wollte diese zwei Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaften nicht abweisen. Das wäre wohl an sich nicht so schlimm gewesen. Aber damit waren Präzedenzfälle geschaffen.
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http://www.boersen-zeitung.de/index.php?isin=&dpasubm=all&ansicht=meldungen &dpaid=387831. 10 Näher dazu U. Häde, Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidungen über die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Juristenzeitung (JZ) 1998, 1088.
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Als dann im Jahr 2000 über die Teilnahme Griechenlands zu entscheiden war, konnte der Rat kaum anders handeln. Er setzte seine Politik fort, die sehr integrationsfreundlich war, dafür aber die wirtschaftlichen Risiken unterschätzte. Deshalb durfte auch Griechenland den Euro einführen, obwohl sein Schuldenstand nach den offiziell gemeldeten Zahlen ebenfalls über 100 % des BIP lag. Dass sich später herausstellte, dass Griechenland falsche Daten im Hinblick auf das damalige Finanzierungsdefizit seines Haushalts angegeben hatte, verschlimmert die Sache zwar. Schon auf der Basis der gemeldeten Daten hätte Griechenland aber bei der erforderlichen strengen Auslegung der Konvergenzkriterien nicht an der W ährungsunion teilnehmen dürfen.
2. Misserfolg der Haushaltsüberwachung Als zweiter Grund für die derzeitigen Schwierigkeiten ist zu nennen, dass die Überwachung der Haushaltspolitik nicht so funktioniert, wie es wünschenswert wäre. Das Verfahren ist langwierig. Und wenn es zum Schwur kommt, dann tun die Mitgliedstaaten alles, um zu vermeiden, dass sie wegen ihrer unsoliden Finanzpolitik bestraft werden. Gerade Deutschland und Frankreich sind insoweit ihrer besonderen Verantwortung als größte Mitgliedstaaten nicht gerecht geworden. Sie verhinderten 2003, dass es wegen ihrer übermäßigen Defizite zu der von der Kommission vorgeschlagenen Verschärfung des Verfahrens kam. Und die Änderungen des so genannten Stabilitäts- und W achstumspaktes von 2005 lassen sich wohl eher auch nicht als Verbesserungen im Sinne einer strengen Aufsicht verstehen.1 1
3. Misserfolg der wirtschaftspolitischen Koordinierung Auch die wirtschaftspolitische Koordinierung zeigt nicht die angestrebten Erfolge. Das ist der dritte Grund für die problematische Lage. Die W ettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten konnte sich deshalb in einem sehr unerwünschten Umfang auseinander entwickeln. Je mehr die wirtschaftliche Konvergenz aber abnimmt, umso weniger passt die einheitliche Geldpolitik zu den W irtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten.
11
Vgl. U. Häde, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 126 AEUV, Rn. 107 f.
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4. Banken- und Finanzkrise Als vierten Grund muss man auch die Schockwellen nennen, die ab 2007 insbesondere von den USA ausgingen und zu einer globalen Krise von historischem Ausmaß führten. Diese Banken-, Finanz- und W irtschaftskrise brach wie eine Naturkatastrophe auch über die Mitgliedstaaten der Europäischen Union herein. Manche Probleme hat sie wohl nur aufgedeckt; andere scheint sie aber auch maßgeblich mitverursacht zu haben.
B. Auswege aus der Euro-Krise I. Politische Erklärungen W enn man sich diese Sachlage vor Augen führt, erscheint es nachvollziehbar, dass manche das Ende der Euro-W ährung schon voraussehen. Andere haben schon immer gewusst, dass das Projekt einer europäischen Einheitswährung scheitern würde. Die Politik stemmt sich aber dagegen. Der französische Staatspräsident Sarkozy erklärte am 27. Januar 2011 auf dem W eltwirtschaftsforum in Davos: „W ir werden dem Euro niemals den Rücken kehren, wir werden den Euro niemals aufgeben“. Diese Garantie für den Euro gab er ausdrücklich auch im Namen von Bundeskanzlerin M erkel ab. Die Presse berichtete deshalb „Frankreich und Deutschland garantieren trotz Schuldenkrise die Existenz des Euro – für immer.“ 12 Dieser Vorgang erinnert an die Garantien, die die Bundeskanzlerin auf dem Höhepunkt der Bankenkrise Anfang Oktober 2008 zusammen mit dem damaligen Bundesfinanzminister Steinbrück für die Spareinlagen in Deutschland abgab. W eder die eine noch die andere Erklärung dürfte rechtlich verbindlich sein. Aber auch rein politische Äußerungen können sehr nützlich sein. Bisher hat jedenfalls niemand in Deutschland angelegtes Geld wegen der Bankenkrise verloren. W enn sich die Garantie von Staatspräsident Sarkozy für den Bestand des Euro als genauso wirksam erweisen sollte, dann könnte diese gemeinsame W ährung von inzwischen immerhin 17 Mitgliedstaaten noch recht lange bestehen. Das setzt aber voraus, dass es gelingt, die derzeitige Krise zu überwinden. Dazu sollen auf der Basis von Vorschlägen der Kommission die wirtschaftspolitische Koordinierung und die Aufsicht über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten verschärft werden. Außerdem soll durch eine Vertragsänderung die Basis für einen dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus geschaffen werden.
12
Süddeutsche Zeitung vom 28.1.2011.
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Ulrich Häde II. Die Vorschläge der Kommission – Art. 136 AEUV als neue Generalklausel?
Die Kommission hat am 29. September 2010 ein Bündel von Vorschlägen vorgelegt.1 3 Es handelt sich um Empfehlungen für Rechtsakte, die die wirtschaftspolitische Koordinierung und die haushaltspolitische Überwachung stärken und verschärfen sollen. Dieses Paket mit Vorschlägen für fünf Verordnungen und eine Richtlinie enthält viele interessante Ansätze, die die Verfahren möglicherweise verbessern könnten. Aber nicht nur die Kommission hat gearbeitet. Die Staats- und Regierungschefs hatten den Präsidenten des Europäischen Rats, van Rompuy, aufgefordert, Verbesserungsvorschläge zu machen. Der Abschlussbericht der von ihm geleiteten Arbeitsgruppe „W irtschaftspolitische Steuerung (Task Force on Economic Governance)“ vom 21. Oktober 201014 setzt einige Akzente anders als die Kommission. In wichtigen Teilen stimmen die beiden Vorschläge aber überein. Man will nämlich neue Sanktionen einführen. Ein Vorschlag für eine Verordnung über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum sieht Geldbußen vor, die es so bisher nicht gibt. Die Möglichkeit, Geldbußen zu verhängen, und als Vorstufe dazu die Pflicht zur Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage gibt es allerdings schon jetzt im Bereich der Haushaltsaufsicht nach Art. 126 AEUV. Das dort vorgesehene Verfahren ist jedoch langwierig. Es quält sich über mehrere Stufen. Jedes Mal entscheidet der Rat auf Empfehlung der Kommission. Und auf jeder Stufe braucht die Kommission einen Beschluss des Rates mit qualifizierter Mehrheit. Das ist mühsam, dauert lange und hat bisher noch nie zu Sanktionen geführt. Die Kommission schlägt deshalb wesentliche Vereinfachungen und Verschärfungen vor. Sie will früher, schneller und umfassender mit Sanktionen auf haushalts- und wirtschaftspolitisches Fehlverhalten der Mitgliedstaaten reagieren können. Schon dann, wenn der Rat eine Empfehlung nach Art. 121 Abs. 4 AEUV an einen Mitgliedstaat richtet, dessen Haushaltspolitik Anlass zu Sorge bietet, soll der Rat eine verzinsliche Einlage fordern. Das ist eine neue Sanktion; denn erstens sieht Art. 121 bisher überhaupt keine Sanktionen vor und zweitens gibt es in Art. 126 zwar Zwangseinlagen, die dann aber unverzinslich sind.
13
Dokumente KOM (2010) 522–527 endgültig. Siehe dazu K. Lammers, EU-Stabilitätspakt: Wirtschaftspolitische Steuerung, Wirtschaftsdienst 10/2010, 640. 14 Siehe http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/ 117429.pdf.
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W enn der Rat dann nach Art. 126 Abs. 6 AEUV das Vorliegen eines übermäßigen Defizits förmlich feststellt, soll damit regelmäßig die nächste Stufe der Eskalation verbunden sein. Nach der Vorstellung der Kommission soll er jetzt nämlich eine unverzinsliche Einlage verlangen. Und wenn der Rat nach Art. 126 Abs. 8 feststellt, dass seine zuvor erlassene Empfehlung unbeachtet geblieben ist, dann müsste er eine Geldbuße beschließen. Diese Sanktionen sind zwar bereits in Art. 126 Abs. 11 vorgesehen, das jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Die Kommission schlägt außerdem vor, dass der Rat solche Sanktionen nicht wie bisher vorgesehen mit qualifizierter Mehrheit beschließen muss. Vielmehr soll er den Vorschlag der Kommission nur innerhalb einer Frist von zehn Tagen mit qualifizierter Mehrheit ablehnen können. Dieses neue Abstimmungsverfahren würde der Kommission einen erheblichen Machtzuwachs bringen. Sie bräuchte dann nämlich nicht mehr die Zustimmung des Rates und damit der Mitgliedstaaten. Das vorgesehene Veto wäre innerhalb der kurzen Frist wohl kaum zu erreichen. Im Ergebnis würde die Entscheidungsbefugnis in nicht unerheblichem Maße vom Rat auf die Kommission übergehen. W ohl aus diesem Grund ist der Abschlussbericht der van Rompuy Task Force gegenüber diesem umgekehrten Abstimmungsverfahren zurückhaltender. Ansonsten trägt er die Vorschläge der Kommission aber im W esentlichen mit. Eine Analyse der Sinnhaftigkeit dieser Vorschläge soll jetzt hier nicht folgen. Man kann unterstellen, dass vieles von dem, was die Kommission vorschlägt, zu einer wirklichen Verbesserung führen würde. Diese Sympathie für die Pläne der Kommission, was den Inhalt angeht, darf den Blick bei der rechtlichen Bewertung aber nicht trüben. Vielmehr stellt sich die Frage, ob frühere und zusätzliche Sanktionen und ein umgekehrtes Abstimmungsverfahren mit dem geltenden Unionsrecht vereinbar wären. Der Rat stützt seine Verordnungsentwürfe insbesondere auf Art. 136 AEUV. Diese erst durch den Vertrag von Lissabon am 1.12.2009 eingefügte neue Vorschrift ermächtigt den Rat, Maßnahmen zu erlassen, um die Koordinierung und Überwachung der Haushaltsdisziplin zu verstärken. Dieser Teil des Art. 136 Abs. 1 klingt noch so, als könnte er die Kommissionsvorschläge stützen. Sieht man aber genauer hin, dann erlaubt diese Vorschrift nur Maßnahmen, die mit den einschlägigen Bestimmungen in Einklang stehen. Inhaltliche Abweichungen von Art. 121 und 126 durch zusätzliche und vorgezogene Sanktionen oder ein anderes als das bisher festgelegte Abstimmungsverfahren sind deshalb ohne Vertragsänderung nicht zulässig.1 5 15
Ausführlich dazu U. Häde, Art. 136 AEUV – eine neue Generalklausel für die Wirtschafts- und Währungsunion?, JZ 2011, 333. Aus anderen Gründen für teilweise primärrechtswidrig halten M. Kullas/J. Koch, Reform des Stabilitäts- und Wachstums-
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In den Schlussfolgerungen, die der Europäische Rat am 4.2.2010 verabschiedet hat, heißt es zu diesem Thema: Der Europäische Rat ruft den Rat auf, im März eine allgemeine Ausrichtung zu den Gesetzgebungsvorschlägen der Kommission zur wirtschaftspolitischen Steuerung festzulegen und dabei für die uneingeschränkte Umsetzung der Empfehlungen der Arbeitsgruppe „Wirtschaftspolitische Steuerung“ zu sorgen, damit bis Ende Juni eine endgültige Einigung mit dem Europäischen Parlament erzielt wird. Dies wird eine Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und die Umsetzung eines neuen gesamtwirtschaftlichen Rahmens ermöglichen. Der Hinweis auf die uneingeschränkte Umsetzung der Empfehlungen der Arbeitsgruppe klingt so, als wollte man die rechtlichen Bedenken gegen diese Vorschläge nicht berücksichtigen. Deshalb ist zu befürchten, dass der Rat Rechtsakte beschließen könnte, die man als Ultra-vires-Akte im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einordnen muss.1 6
III. Die geplante Vertragsänderung für einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus W ährend ihres Gipfeltreffens am 16./17. Dezember 2010 in Brüssel haben die Mitgliedstaaten beschlossen, Art. 136 AEUV zu ändern. Dieser Beschluss bezieht sich allerdings nicht auf die gerade erwähnten Vorschläge der Kommission. Vielmehr soll Art. 136 AEUV ein dritter Absatz angefügt werden, der eine rechtliche Grundlage für einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus bietet. Dieser neue Art. 136 Abs. 3 soll lauten: „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen“.1 7 Schon bisher gibt es solche Finanzhilfen. Bekanntlich unterstützen die Mitgliedstaaten Griechenland seit Anfang Mai 2010. Insoweit handelt es sich nicht um Hilfen der Europäischen Union. Vielmehr sind es die Mitgliedstaaten der Eurozone, die Griechenland durch bilaterale, aber koordinierte Kredite und Kreditzusagen bis zur Höhe von 80 Mrd. Euro vor dem Staatsbankrott gerettet haben. W eitere 30 Mrd. Euro sollen vom Internationalen W ährungsfonds kommen.
pakts – Schneller, Schärfer, Konsequenter?, cepStudie, 16.12.2010, 22 f., die geplanten Änderungen. 16 U. Häde, Kommissionsentwürfe für offensichtliche Ultra-vires-Akte, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2010, 921. 17 Vgl. http://www.european-council.europa.eu/home-page/highlights/ready-to-stabilisethe-whole-eurozone.aspx?lang=de.
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Kaum war die Griechenlandhilfe beschlossen, kam es am ersten Mai-W ochenende 2010 zu so heftigen Turbolenzen, dass der so genannte große Euro-Rettungsschirm beschlossen wurde. Dabei handelt es sich um eine Kombination von Maßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten. Bis zu etwa 60 Mrd. Euro kann die Union über den europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus zur Verfügung stellen. Dieser Mechanismus wurde durch eine auf Art. 122 Abs. 2 AEUV gestützte Verordnung des Rates errichtet. W eitere 440 Mrd. Euro können von den Mitgliedstaaten kommen. Sie bündeln ihre bilateralen Finanzhilfen in einer von ihnen in Luxemburg errichteten Aktiengesellschaft. Ergänzt werden diese Maßnahmen ebenso wie im Falle Griechenlands um Hilfen, die der Internationale W ährungsfonds gewährt. Die Rechtmäßigkeit dieser Unterstützung für Griechenland und andere von der Zahlungsunfähigkeit bedrohte Mitgliedstaaten ist umstritten. Das gilt vor allem für die Frage, ob diese Hilfen mit Art. 125 AEUV vereinbar sind, der es sowohl der Union als auch den Mitgliedstaaten untersagt, für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaats einzutreten. Zumindest als temporäre Maßnahmen zur Krisenbewältigung sind diese Hilfen jedoch zulässig.18 Das geltende Recht bietet keine Grundlage für einen dauerhaften Unterstützungsmechanismus der Union. Für ein Handeln der Mitgliedstaaten außerhalb der EU ist eine solche Ermächtigungsgrundlage jedoch nicht zwingend erforderlich; dennoch ist die angestrebte Vertragsänderung hilfreich, weil sie die Befugnis der Mitgliedstaaten klarstellt und zugleich an strenge Voraussetzungen bindet. In der Diskussion in Deutschland taucht in diesem Zusammenhang sehr schnell der Begriff „Transferunion“ auf. Argumentiert wird, eine Transferunion sei mit dem auf Stabilität ausgerichteten Konzept der W irtschafts- und W ährungsunion nicht vereinbar. Verließe die Union dieses Konzept, ergebe sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von M aastricht, dass Deutschland an einer solchen W ährungsunion nicht mehr teilnehmen dürfe. Man wird aber differenzieren müssen. Schon seit längerer Zeit fließt vor allem über die verschiedenen Fonds, insbesondere den Kohäsionsfonds, sehr viel von den wohlhabenderen Mitgliedstaaten eingezahltes Geld aus dem Haushalt der Union in die Mitgliedstaaten mit Entwicklungsrückstand. Diese Transfers dienen den in den Verträgen festgelegten Zielen, die sich mit den Stichworten Solidarität 18 Näher dazu U. Häde, Die europäische Währungsunion in der internationalen Finanzkrise – An den Grenzen europäischer Solidarität?, Europarecht 2010, 854; ders., Rechtsfragen der EU-Rettungsschirme, Zeitschrift für Gesetzgebung 2011, 1. Siehe auch C. Calliess, Perspektiven des Euro zwischen Solidarität und Recht – Eine rechtliche Analyse der Griechenlandhilfe und des Rettungsschirms, Zeitschrift für europarechtliche Studien 2001, 213 mit weiteren Literaturnachweisen.
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und Verringerung des Rückstands weniger begünstigter Gebiete beschreiben lassen. Sie machen einen nicht unwesentlichen Teil der Anziehungskraft der Union auf die Staaten aus, die ihr in mehreren W ellen beigetreten sind. Deshalb kann man feststellen, dass die EU insoweit schon lange eine Transferunion ist. Allerdings gibt es bisher keinen allgemeinen Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft der Mitgliedstaaten, wie er in Deutschland in Form des Länderfinanzausgleichs stattfindet. Es gibt auch normalerweise keine gegenseitige Haftung für die Schulden der Mitgliedstaaten. Eine solche Transferunion sehen die Verträge nicht vor. Und einer Entwicklung in diese Richtung könnte auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entgegenstehen. Das muss aber nicht heißen, dass das deutsche Verfassungsrecht einen Mechanismus verbietet, der die Krisenanfälligkeit verringert und im Notfall mit strengen Auflagen verbundene Unterstützung vorsieht. Bei entsprechender Ausgestaltung kann ein solches Instrument, das letztlich die Stabilität der W irtschafts- und W ährungsunion stärkt, durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar sein.
IV. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7.9.2011 Mit Urteil vom 7.9.2011 zu den so genannten Euro-Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht die Hilfen für Griechenland und den Rettungsschirm aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts gebilligt. Es wies die Verfassungsbeschwerden vollumfänglich zurück. Gleichzeitig leitete es aber „aus den durch Art. 79 Abs. 3 GG für unveränderbar erklärten demokratischen Grundsätzen des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG“1 9 ein „Verbot der Entäußerung der Budgetverantwortung“ ab, dass „der Deutsche Bundestag seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen“ darf. „Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können, seien es Ausgaben oder Einnahmeausfälle“.20 Der Zweite Senat leitete „aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie [ab], dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen darf, 19
BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs2011 0907_2bvr098710.html, Absatz-Nr. 134. 20 Absatz-Nr. 125.
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der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist.“2 1 Im Umkehrschluss heißt das, dass Finanzhilfen möglich bleiben, wenn sie konditioniert sowie in ihren finanziellen Auswirkungen begrenzt sind und wenn die wesentlichen Entscheidungen der Kontrolle des Deutschen Bundestages unterliegen. Das Gericht machte allerdings deutlich, dass es nicht ausreicht, wenn sich die Bundesregierung, wie es bisher § 1 Abs. 4 StabMechG vorsieht, nur um das Einvernehmen des Parlaments bemühen muss. Künftig ist grundsätzlich die vorherige Zustimmung erforderlich. Allerdings akzeptiert das Bundesverfassungsgericht zwei Erleichterungen. Zum einen reicht die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestages aus. Und zum anderen kann es dabei bleiben, dass die Bundesregierung den Haushaltsauschuss in zwingenden Fällen nur nachträglich beteiligt.2 2 Für den in Vorbereitung befindlichen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), aber auch im Hinblick auf die veränderte Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) bedeutet das, dass die erweiterten Beteiligungsrechte des Bundestages und die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen materiellen Grenzen zu beachten sind. Insbesondere gilt es, Automatismen zu vermeiden. Finanzhilfen für von der Zahlungsunfähigkeit betroffene Mitgliedstaaten bleiben aber unter diesen Voraussetzungen auch künftig möglich. Eine Absage erteilt hat das Bundesverfassungsgericht allerdings den so genannten Eurobonds. Darunter ist die gemeinsame Schuldenaufnahme der Mitgliedstaaten zu verstehen, bei der jeweils alle Mitgliedstaaten auch für die Schulden der anderen haften. Schon bisher hätte sich eine solche Haftungsübernahme nicht mit Art. 125 AEUV vereinbaren lassen. In seinem Urteil vom 7.9.2011 geht das Bundesverfassungsgericht von den Art. 123 bis 126 AEUV aus und entnimmt diesen Vorschriften, „dass die Eigenständigkeit der nationalen Haushalte für die gegenwärtige Ausgestaltung der W ährungsunion konstitutiv ist, und dass eine die Legitimationsgrundlagen des Staatenverbundes überdehnende Haftungsübernahme für finanzwirksame W illensentschließungen anderer M itgliedstaaten – durch direkte oder indirekte Vergemeinschaftung von Staatsschulden – verhindert werden soll.“ 2 3 Damit sind Eurobonds allerdings nicht für alle Zeiten ausgeschlossen. Da das Gericht die „gegenwärtige Ausgestaltung der W ährungsunion“ erwähnt, kann es auch eine künftige Ausgestaltung geben. Deshalb sollte unter bestimmten Voraussetzungen eine Vertragsänderung zulässig sein, die eine Rechtsgrundlage für 21 22 23
Absatz-Nr. 127. Absatz-Nr. 141. Absatz-Nr. 129.
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Eurobonds schaffen würde. Allerdings heißt es an anderer Stelle des Urteils, dass „Möglichkeiten politischer Gestaltung des Bundestages in verfassungsrechtlich unzulässigem Umfang“ eingeschränkt werden könnten, wenn die Bundesregierung „ohne konstitutive Zustimmung des Bundestages in erheblichem Umfang Gewährleistungen, die zur direkten oder indirekten Vergemeinschaftung von Staatsschulden beitragen, übernehmen dürfte, bei denen also der Eintritt des Gewährleistungsfalls allein vom Verhalten anderer Staaten abhängig wäre.“2 4 Daraus lässt sich folgern, dass Eurobonds jedenfalls nur mit Zustimmung des Bundestages zulässig sein können. Schwieriger zu erfüllen wäre die Forderung, dass eine Maßnahme nicht auf „eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten“ hinauslaufen darf.2 5 Diese Voraussetzung dürfte auch nach einer politisch wohl ohnehin schwer realisierbaren Vertragsänderung immer noch erhebliche Anforderungen an die Konstruktion von Eurobonds stellen.
C. Fazit Die Vorschläge zur Stabilisierung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion scheinen überwiegend sinnvoll zu sein. Sie könnten mit dazu beitragen, die Gefahren, die sich aus den Strukturproblemen der W ährungsunion ergeben, zu verringern. Allerdings zeigt sich auch, dass die rechtliche Umsetzung schwieriger ist, als man in der Praxis zugibt. Es ist nachvollziehbar, dass man Vertragsänderungen vermeiden möchte. Sie sind immer ein W agnis. Denn selbst dann, wenn das in Art. 48 Abs. 6 EUV vorgesehene vereinfachte Vertragsänderungsverfahren ausreicht, muss zunächst der Europäische Rat einstimmig beschließen. Und anschließend müssen alle Mitgliedstaaten diesem Beschluss im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen. W ie schwierig und langwierig es sein kann, die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten zu finden, hat das Verfahren gezeigt, das zum Vertrag von Lissabon führte. Kaum einer der politischen Akteure dürfte sich danach sehnen, diese Erfahrungen mit gescheiterten Volksabstimmungen und Verzögerungen durch einzelne widerstrebende Staatsoberhäupter möglichst bald wieder zu machen. Deshalb ist es gut verständlich, dass man derzeit versucht, so viel wie möglich ohne Vertragsänderung umzusetzen. Dennoch sollte man nicht versuchen, Maßnahmen, die inhaltlich vom geltenden Primärrecht abweichen, ohne Vertragsänderung durchzusetzen. Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft, die sich nicht über ihr eigenes Recht hinwegsetzen sollte. 24 25
Absatz-Nr. 105. Absatz-Nr. 128.
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7.9.2011 hat die Unsicherheit über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der bisherigen Hilfsmaßnahmen für andere Mitgliedstaaten beendet. Bei der Ausgestaltung künftiger neuer Finanzhilfen muss der Bundesgesetzgeber die zusätzlichen Vorgaben des Gerichts beachten.
Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsregierung in der Europäischen Union * Von Christoph Herrmann
A. Einführung Die Europäische Union befindet sich seit Beginn des Jahres 2010 in einer wirtschaftlichen Krise zuvor nicht gekannten Ausmaßes. Infolge dieses anhaltenden krisenhaften Zustandes werden grundsätzliche Fragen der W irtschaftsverfassung und der W irtschaftsregierung in der Europäischen Union erstmalig oder völlig neu gestellt. Der vorliegende Beitrag versucht, zunächst die Begriffe der W irtschaftsverfassung und W irtschaftsregierung näher einzufangen, und ihre Inhalte nach dem geltenden Unionsrecht zu umreißen. Sodann werden mögliche Erosionstendenzen aufgezeigt und die infolge der Eurokrise bereits eingetretenen, vereinbarten oder geplanten Änderungen dargestellt.
B. Begriffliche Annäherung Unter W irtschaft versteht man allgemein die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse unter Knappheitsbedingungen. W ährend die menschlichen Bedürfnisse ihrer Natur nach grundsätzlich unendlich erscheinen, sind die zu ihrer Befriedigung zur Verfügung stehenden Ressourcen materieller Art stets begrenzt. Die W irtschaft als ein Ausschnitt des Zusammenlebens von Menschen in einem Gemeinwesen bedeutet somit immer die Verteilung knapper Güter unter unterschiedlichen Individuen und Interessengruppen. Unter Verfassung versteht die Rechtswissenschaft gewöhnlich die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens.1 * Der Beitrag beruht auf dem im Rahmen der Ringvorlesung im Sommersemester 2011 an der Universität Kiel gehaltenen Vortrag. Die Vortragsfassung wurde im Wesentlichen beibehalten und auf einen umfassenden Fußnotenapparat verzichtet. 1 W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945; vgl. K. Hesse, § 1 Verfassung und Verfassungsrecht, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Studienausgabe Teil 1, 2. Aufl. 1995, 3 (7 f.).
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Regierung wird meist als Inbegriff der politischen Führung des Gemeinwesens beschrieben.2 W irtschaftsverfassung ist danach die rechtliche Grundordnung der W irtschaft; W irtschaftsregierung der Inbegriff der politischen Führung oder Lenkung der W irtschaft. Mit diesen Beschreibungen ist die begriffliche Tiefe beider Begriffe jedoch noch nicht ausgeschöpft. So kann mit W irtschaftsverfassung sowohl eine normative Gesamtsystementscheidung für einen bestimmten ökonomischen Idealtypus der W irtschaftsordnung gemeint sein, als auch lediglich die Gesamtheit der grundlegenden Bestimmungen der geltenden Verfassung, die das W irtschaftsleben ordnen.3 In ähnlicher W eise lässt sich auch unter W irtschaftsregierung entweder ein bestimmtes Staatsorgan verstehen oder die Gesamtheit der staatslenkenden Entscheidungen unterschiedlicher Organe, die sich auf die W irtschaft oder das W irtschaftsleben auswirken. Im Mittelpunkt sowohl der W irtschaftsverfassung als auch der W irtschaftsregierung stehen damit jedoch immer Fragen nach der Art und W eise, dem Mechanismus der Verteilung der knappen Ressourcen und Güter innerhalb des Gemeinwesens an die verschiedenen Interessengruppen und Individuen zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse. Hierfür bieten sich grundsätzlich zwei Systemansätze an: zum einen die dezentrale Verteilung über Marktmechanismen, d.h. die Steuerung und Zusammenführung von freiem Angebot und freier Nachfrage über den Preis; zum anderen die zentrale Verwaltungs- oder Planwirtschaft, bei der zentrale Stellen über Produktion und Verteilung von Gütern entscheiden. Beide Systemansätze werden kaum je in Reinform verwirklicht. Auch in Marktwirtschaften werden bestimmte Güter der sog. Daseinsvorsorge zentral und möglicherweise unentgeltlich bzw. zu einem regulierten Preis bereitgestellt (Militär, Polizei, Gerichte, Gesundheitsversorgung, Schulen, Universitäten etc.), um damit politisch gesetzte Ziele zu verfolgen. Umgekehrt überlassen auch zentralistische Planwirtschaften den Verbrauchern im Kleinen die Entscheidung darüber, welche Güter sie konsumieren wollen (im Rahmen des Verfügbaren) oder für welchen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz sie sich entscheiden wollen. Die Frage nach der W irtschaftsverfassung und der W irtschaftsregierung eines Gemeinwesens beinhaltet damit stets die Frage nach dem Ausgleich ökonomischer Marktprinzipien sowie politisch gesetzter nicht-ökonomischer Ziele und politischer Festlegungen bei der Verteilung von Ressourcen. Erstere gründen legitimatorisch auf den individuellen Präferenzen und Wahlhandlungen individueller Marktbürger, deren „Stimmgewicht“ allerdings von ihrer Ausstattung mit Geld abhängt (das sie selbst wiederum im Marktprozess verdient haben), während letztere durch Kollek2
G. F. Schuppert, § 31 Regierung und Verwaltung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Anm. 1), Studienausgabe Teil 2, 1499 (1507 f.). 3 C. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, 131 ff. m. w. Nachw.
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tivpräferenzen nach dem (meist) repräsentativen Mehrheitssystem auf Grundlage allgemeiner, freier, gleicher und geheimer W ahlen legitimiert werden. Vorstellungen über die „richtige“ W irtschaftsverfassung und Wirtschaftsregierung beruhen damit stets auf grundlegenden Vorstellungen über die Stellung des Individuums und seines Verhältnisses zum Gemeinwesen, über die richtige Gewichtung von Freiheit und Gleichheit in einer Gesellschaft.
C. Das Grundmodell der Europäischen Wirtschaftsverfassung I. W irtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes Im Hinblick auf das Grundgesetz, das weder ein eigenständiges Kapitel „W irtschaftsverfassung“ noch eine ausdrückliche Systementscheidung für eine Marktoder Planwirtschaft enthält, hat das Bundesverfassungsgericht in der Investitionshilfeentscheidung den B egriff der „wirtschaftspolitischen N eutralität“ geprägt.4 Danach lässt sich dem Grundgesetz – anders als im sog. „Kampf um die W irtschaftsverfassung“ von verschiedenen Autoren behauptet – auch in der Gesamtschau keine normativ verbindliche Gesamtentscheidung für ein bestimmtes W irtschaftssystem – etwa die soziale Marktwirtschaft – entnehmen. Der Gesetzgeber könne damit seine wirtschaftspolitischen Entscheidungen grundsätzlich frei treffen, sei jedoch an die Vorschriften des GG allgemein gebunden. Zu diesen Vorschriften gehören insbesondere die Grundrechte; besonders bedeutsam für die W irtschaftsverfassung sind hierbei naturgemäß die „W irtschaftsgrundrechte“ (Art. 12, 14, 2 I GG) einschließlich der Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) und der Möglichkeit der Sozialisierung (Art. 15 GG). Das Sozialstaatsprinzip und andere, nicht-ökonomische Staatszielbestimmungen wie z.B. der Umweltschutz und sonstige Verfassungsvorschriften binden den Gesetzgeber gleichfalls. Im Ergebnis wird damit vom Grundgesetz zwar kein bestimmter ökonomischer Mechanismus zur Verteilung knapper Güter verbindlich vorgegeben. Gleichwohl geht die überwiegende Meinung davon aus, dass Eigentumsgrundrecht, Berufsfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit letztlich ein grundsätzlich marktwirtschaftliches System verlangen und Abweichungen vom Marktmechanismus, also der Verteilung knapper Güter über den sich infolge von Angebot und Nachfrage bildenden Preis, der Rechtfertigung bedürfen.5 Diese gelingt angesichts der Viel4
BVerfGE 4, 7 (17). Dazu eingehend Herrmann (Anm. 3), 135 ff.; P.-C. Müller-Graff, Soziale Marktwirtschaft als neuer Primärrechtsbegriff der Europäischen Union, in: P.-C. Müller-Graff/ S. Schmahl/V. Skouris (Hrsg.), Europäisches Recht zwischen Bewährung und Wandel: Festschrift für Dieter H. Scheuing 2011, 600 (602 ff.). 5
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zahl denkbarer verfassungslegitimer Zielsetzungen und des vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eingeräumten „weiten Beurteilungsspielraums“ hinsichtlich wirtschaftspolitischer Lenkungsentscheidungen allerdings in vielen W irtschaftsbereichen. Lediglich ein genereller Systemwechsel hin zu einer echten Planwirtschaft wäre danach mit dem Grundgesetz unvereinbar. Die effektive Steuerungskraft der normativen Vorgaben des Grundgesetzes ist damit verhältnismäßig gering. In der Konsequenz bleibt ein erheblicher Gestaltungsspielraum für die „W irtschaftsregierung“.6
II. Unionsrecht: Systementscheidung zu Gunsten einer „offenen M arktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ und „wettbewerbsfähigen sozialen M arktwirtschaft“ Anders als das Grundgesetz beinhalten die Verträge der Europäischen Union (EUV, AEUV) eine ausdrückliche Systementscheidung zu Gunsten einer sozialen Marktwirtschaft (seit dem Vertrag von Lissabon) und einer offenen Marktwirtschaft mit freiem W ettbewerb, basierend auf einer stabilen W ährung (insb. Art. 3 EUV, 119 AEUV). Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht diese Systementscheidung jedoch als zu unbestimmt an, als dass sich ihr justiziable Maßstäbe für konkrete wirtschaftspolitische Entscheidungen der politischen Organe entnehmen ließen.7 Ein aus der unmittelbaren W irkung entspringendes subjektives Recht auf Marktwirtschaft existiert damit auch in der europäischen W irtschaftsverfassung nicht. Vielmehr sieht auch der Gerichtshof die einzelnen Ausprägungen der Grundentscheidung in den Verträgen als maßgeblich an, d.h. insbesondere die Grundfreiheiten sowie die W irtschaftsgrundrechte, das W ettbewerbs- und Beihilfenrecht. Die in diesen Vorschriften verankerten Gewährleistungen einer möglichst offenen und freien Marktwirtschaft (Art. 119 Abs. 1, Art. 120 S. 2 AEUV) mit einer möglichst stabilen W ährung (vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV) erfahren jedoch ebenfalls erhebliche Relativierungen, sowohl in den jeweils zu findenden Einschränkungs- und Rechtfertigungstatbeständen (geschriebene Rechtfertigungsgründe; zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls; Querschnittsklauseln) als auch durch andere Politikfelder der Europäischen Union, wie z.B. der Agrar- und Industriepolitik oder der Umweltschutzpolitik. W eitere Einschränkungen des Marktprinzips können sich aus Vorschriften über die Daseinsvorsorge (Art. 14, 106 AEUV) und die Eigentumsordnung (Art. 345 AEUV) ergeben.
6
Generell dazu M. Ruffert, Zur „Leistungsfähigkeit“ der Wirtschaftsverfassung, Archiv des öffentlichen Rechts 134 (2009), 197 ff. 7 EuGH, Rs. C-9/99, Échirolles, Slg. 2000, I-8207, Rn. 25.
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Im Ergebnis existiert damit auch im Recht der Europäischen Union ein normativ abgesichertes Regel-Ausnahme-Verhältnis, dessen Steuerungskraft maßgeblich über die Kontrolldichte des Gerichtshofs der Europäischen Union im Rahmen der bei den einschlägigen subjektiven Rechte jeweils vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung beeinflusst wird.8 W ährend der Gerichtshof dabei gegenüber den Mitgliedstaaten im Hinblick auf Eingriffe in die Grundfreiheiten in der Tendenz eher streng war, um so insbesondere die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern, hat er gegenüber den Unionsorganen von jeher ebenfalls Zurückhaltung walten lassen. Hierfür ist der Gerichtshof stets kritisiert worden, sei es für die strengere Behandlung der Mitgliedstaaten bei den Grundfreiheiten, sei es für die nachsichtige Haltung gegenüber den Unionsorganen im Rahmen der Grundrechtskontrolle. Abgesehen von dem ausdrücklichen Bekenntnis zur Marktwirtschaft weist der normative Befund hinsichtlich der W irtschaftsverfassung der Europäischen Union damit gegenüber dem nach dem Grundgesetz kaum relevante Unterschiede auf. Beide – ohnehin miteinander eng verflochtene – Normsysteme prägen eine Mischform aus marktwirtschaftlichen und zentralen regulierenden Elementen aus, mit einer grundsätzlichen Prärogative zu Gunsten der Freiheitsrechte und einem entsprechenden Rechtfertigungsbedürfnis für interventionistische Eingriffe. Das „europäische W irtschafts- und Sozialmodell“ ist damit grundsätzlich kein marktradikales und lässt der politischen Verfolgung nicht-ökonomischer Zielsetzungen unterschiedlichster Couleur weiten Raum.
D. Erosionen der Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union? I. Verschiebungen im Primärrecht der EU durch den Vertrag von Lissabon In der jüngeren Vergangenheit, schon vor der globalen W irtschafts- und Finanzkrise, scheint die Steuerungskraft der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Vorgaben der Europäischen Union noch weitergehend gelitten zu haben. Am augenfälligsten ist dabei die auf politischer Ebene im Rahmen des Vertragsrevisionsprozesses geführte Diskussion um die wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundentscheidung der Europäischen Union, als deren Folge das zuvor in Art. 3 Abs. 1 lit. g) EUV a.F. genannte „System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“, aus dem Tätigkeits- und Zielkatalog des 8
Siehe dazu C. Herrmann, Die Grenzen der Binnenmarktkompetenz in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH, in: W. Schroeder (Hrsg.), Europarecht als Mehrebenensystem, 2008, 141 (150 ff.).
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EUV gestrichen und in das Protokoll über den Binnenmarkt und den W ettbewerb verlagert wurde.9 Dieses Protokoll genießt zwar ebenfalls Primärrechtsrang (Art. 51 EUV), gleichwohl verliert das W ettbewerbsziel damit seine prominente Stelle im Normengefüge der Verträge, so dass eine Neuorientierung der Rechtsprechung des Gerichthofs, die schlussendlich für die Bedeutung des W ettbewerbsziels entscheidend sein wird, einen argumentativen Anknüpfungspunkt hätte. Eine ebenfalls eine Verwässerung andeutende Diskussion, die jedoch zu keiner relevanten Primärrechtsänderung führte, betraf die Gewichtung der Preisstabilität als primärem Ziel der W ährungspolitik (Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV),1 0 die allerdings in den jüngsten Äußerungen des französischen Präsidentschaftskandidaten Hollande über die Unabhängigkeit der EZB wiederkehrt. Im Ergebnis blieb die W irtschaftsverfassung der Europäischen Union damit insgesamt auch nach dem Vertrag von Lissabon im Hinblick auf ihre primärrechtliche Ausgestaltung an sich unverändert. Gleichwohl bieten sich neue Anknüpfungspunkte für legislative und judikative Verschiebungen der Gewichtung von ökonomischen und nicht-ökonomischen Zielen.
II. Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Grundfreiheiten Ein weiteres Indiz für eine gelockerten Steuerungskraft der europäischen W irtschaftsverfassung ist aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten und deren Anwendung insbesondere im Bereich des Gesundheitswesens und des Glücksspielsektors abzuleiten. Der Gerichtshof hat hier in einer bemerkenswerten Kehrtwende gegenüber seiner früheren Rechtsprechung den Beurteilungsspielraum, der den Mitgliedstaaten eingeräumt ist, mit Blick auf die fehlende unionsrechtliche Harmonisierung dieser Rechtsgebiete und die Wichtigkeit der von den Mitgliedstaaten dort verfolgten nicht-ökonomischen Zielsetzungen deutlich ausgeweitet. An die Stelle einer strikt an den Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit orientierten Prüfung stellt der Gerichtshof nunmehr eine eher auf Kohärenz und Transparenz der Gesamtregelung orientierte Betrachtung, mit in der Konsequenz erheblichen Einbußen bei der W irkmächtigkeit der Grundfreiheiten.
9 Hierzu eingehend C. Nowak, Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, in: J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, Europarecht Beiheft 1/2009, 129 ff.; MüllerGraff (Anm. 5), 608 ff. 10 R. Streinz/C. Ohler/C. Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, 84.
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III. Der „more economic approach“ im W ettbewerbsrecht Ein ähnliches, wenngleich differenzierter zu betrachtendes Bild ergibt sich im W ettbewerbsrecht im Hinblick auf den von der Kommission propagierten „more economic approach“, der dazu führt, dass die wettbewerbsrechtlichen Verbotstatbestände nicht mehr strikt formaljuristisch interpretiert werden, sondern vielmehr eine eher ökonomisch gehaltene Einzelfallgesamtbetrachtung der durch eine Handlung bewirkten W ettbewerbsverzerrungen sowie ihrer Auswirkungen auf die ökonomische Wohlfahrt durchgeführt wird, die naturgemäß weitere administrative Beurteilungsspielräume schafft und sich strikter gerichtlicher Überprüfung entzieht.
IV. Beihilfenkontrolle in der W irtschaftskrise Im Rahmen der Finanz- und W irtschaftskrise ist zudem durch die Handhabung der Beihilfenkontrolle durch die EU-Kommission der Eindruck entstanden, das Beihilfenverbot werde weitgehend ausgehöhlt. Dieser Eindruck täuscht allerdings, da auch das Beihilfenverbot zahlreiche Ausnahmen kennt und zudem die Beihilfengewährung durch das Unionsrecht nur insoweit unterbunden werden soll, als sie zu W ettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt und zu Beeinträchtigungen des grenzüberschreitenden Handels führt. Diese Effekte hat die Beihilfenkontrolle allerdings auch während der Krise weitgehend vermeiden können.11
V. Aufweichung der Regelbindung in der Euro-Schuldenkrise? Schlussendlich ist im Rahmen der Bekämpfung der Euro-Schuldenkrise weitläufig der Vorwurf laut geworden, die Organe und die Mitgliedstaaten würden zur Rettung des Euro nach dem M otto „Not kennt kein Gebot“ die rechtlichen Regeln der W irtschafts- und W ährungsunion mit Füßen treten. Bei genauerer Betrachtung hat das Recht jedoch gerade im Rahmen der Euro-Schuldenkrise erhebliche Prägekraft entfaltet. So wurden vielfach Lösungsvorschläge, deren kurzfristige Erfolgsaussichten bei der unmittelbaren Krisenbekämpfung besser gewesen wären, nicht zuletzt wegen deren unleugbaren Verstoßes gegen die Regeln insbesondere der Art. 123 und 125 AEUV verworfen und stattdessen aufwendige Konstruktionen gewählt, die bei gut vertretbarer Auslegung zulässig sind.12 11
Dazu C. Herrmann, Beihilfenrecht als Schönwetterrecht? Die Beihilfenüberwachung in der Europäischen Union während der Finanz- und Wirtschaftskrise, in: M. Bungenberg/ P. M. Huber/R. Streinz (Hrsg.), Der Staat in der Finanz- und Wirtschaftskrise, 2011, 55 ff. 12 Siehe hierzu lediglich C. Herrmann, Griechische Tragödie – der währungsverfassungsrechtliche Rahmen für die Rettung, den Austritt oder den Ausschluss von über-
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Christoph Herrmann VI. Zwischenfazit
Eine klare Erosion der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Steuerungskraft der Unionsverträge lässt sich damit im Ergebnis nicht feststellen. Erkennbar ist jedoch, dass die Deutungshoheit über den normativen Rahmen je nach wirtschaftsund krisenpolitischer Großwetterlage durchaus wechselt, dabei aber stets im Rahmen der Leitplanken bleibt, die durch die Verträge der Europäischen Union gezogen werden. Dabei kann es wenig verwundern, dass gerade seit der Finanz-, W irtschafts- und Schuldenkrise das Nachdenken über die richtige Gewichtung ökonomischer und nicht-ökonomischer Regulierungsziele und -mechanismen intensiviert worden ist.
E. Die „Wirtschaftsregierung“ der Europäischen Union im Werden I. Rückblick und mögliche Gehalte W ährend die Diskussionen um eine europäische W irtschaftsverfassung auf eine langjährige wissenschaftliche Diskussion im Hinblick sowohl auf das Grundgesetz als auch die Verträge der Europäischen Gemeinschaften und Union aufbauen können, sind wissenschaftliche Untersuchungen zur W irtschaftsregierung in der Europäischen Union eher selten. Dabei sind die Überlegungen, ein wirtschaftliches Entscheidungsgremium für die Europäische(n) Gemeinschaft(en) bzw. Union zu schaffen, keineswegs gänzlich neu. Vielmehr finden sich diesbezügliche Überlegungen schon im W erner-Plan aus dem Jahr 1970.1 3 Seit etwa 1990 hatte sich insbesondere Frankreich den W unsch nach einer europäischen W irtschaftsregierung, konstruiert als Gegengewicht zur geldpolitischen Steuerungsfähigkeit der noch zu errichtenden Europäischen Zentralbank, auf die Fahnen geschrieben.
schuldeten Staaten aus der Eurozone, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2010, 413 ff.; ders., Staatsbankrott in der EU: Versagen, Bewährung oder Chance der Europäischen Währungsverfassung?, in: K. von Lewinski (Hrsg.), Staatsbankrott als Rechtsfrage, 2011, 29 ff.; ders., Die Folgen der Finanzkrise für die europäische Wirtschaftsund Währungsunion, in: S. Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise: Politische und rechtliche Rahmenbedingungen einer neuen Ordnung, 2012, 79 ff. 13 Zu den historischen Überlegungen siehe N. aus dem Moore, Eine Wirtschaftsregierung für Europa? RWI Positionen Nr. 41, 20. Dezember 2010, 6 ff.; aus der Anfangszeit der europäischen Integration U. Everling, Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Rechtsproblem, Recht und Staat, Heft 296/297, 1964.
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Keineswegs klar ist dabei bei manchen Vorschlägen, welche konkrete Ausgestaltung die „Europäische W irtschaftsregierung“ überhaupt haben soll. Es handelt sich meist um einen diffusen Begriff ohne präzise greifbare Inhalte, die zwischen einem französischem „gouvernement économique“ und einer englischen „economic governance“ schwanken.1 4 Der Unterschied scheint auf den ersten Blick lediglich terminologisch gradueller Natur zu sein; bei näherer Betrachtung werden jedoch auch kategoriale Differenzen offenbar. Während „Regierung“ ein hierarchisches System beschreibt, in dem Anweisungen der Regierung von der Administration vollzogen werden, meint „governance“ üblicherweise ein kooperatives Koordinierungsmodell zwischen gleichberechtigen Partnern, oftmals ohne klare Entscheidungszuständigkeiten.1 5 W ill man diese Begrifflichkeiten auf die Steuerung der Wirtschaft beziehen und ihre Verwirklichung in der Europäischen Union beleuchten, so erfordert dies, die verschiedenen Möglichkeiten und Methoden der wirtschaftspolitischen Steuerung in den Blick zu nehmen. Ziel wirtschaftspolitischer Steuerung können Größen wie W irtschaftswachstum, Arbeitslosenquote, Exportüberschüsse, Binneninvestitionen, eine bestimmte W irtschaftsstruktur oder Ähnliches sein. Als Methode kommen sowohl die obrigkeitliche Steuerung durch legislative und administrative zwingende Instrumente in Frage als auch die Anreizsteuerung durch die Besteuerung unerwünschter Tatbestände, die Subventionierung erwünschten Verhaltens sowie zuletzt die Förderung der allgemeinen Voraussetzungen der W irtschaftstätigkeit durch Investitionen in allgemeine Infrastruktureinrichtungen bis hin zur Förderung von Universitäten.
II. Das bisherige EU-M odell der W irtschaftsteuerung Überprüft man das Unionsrecht auf das Vorliegen von legislativen und administrativen wirtschaftspolitischen Steuerungsmechanismen sowie Möglichkeiten zur Anreizsteuerung, so zeigt sich ein widersprüchliches und vielschichtiges Bild. Zunächst ist festzuhalten, dass wesentliche Elemente einer wirtschaftlichen Ordnungspolitik tatsächlich der Rechtssetzungskompetenz der Europäischen Union unterliegen bzw. im Unionsprimärrecht unmittelbar geregelt sind. Dies gilt namentlich für den Binnenmarkt (Grundfreiheiten und Rechtsangleichung), für die gemeinsame Zoll- und Handelspolitik sowie für die W ettbewerbspolitik einschließlich der Beihilfenkontrolle. Hinzu treten geteilte und ergänzende Kompetenzen der 14
Dazu M. Seidel, Eine Wirtschaftsregierung für die Europäische Union – rechtliche Grundlagen, Legitimation, Funktion und Verhältnis zur Europäischen Zentralbank, in: Festschrift Scheuing (Anm. 5), 717 ff. 15 A. Heise/Ö. G. Heise, Auf dem Weg zu einer europäischen Wirtschaftsregierung, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Internationale Politikanalyse, September 2010, 6 f.
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EU in den Bereichen der Industriepolitik, Forschung und Entwicklung, der Verkehrs- und Energiepolitik, der Kohäsions- und der Strukturpolitik sowie der – am weitesten reichenden – Agrarpolitik. Ungeachtet dieses weitreichenden Katalogs von Kompetenzen sind jedoch auch eklatante Defizite bei den Rechtssetzungskompetenzen auszumachen, und zwar in der Steuerpolitik sowie in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Zu den Kompetenzdefiziten tritt eine ressourcenbedingte W irkungsschwäche der unionalen W irtschaftssteuerung hinzu. Das Volumen des EU-Haushalts ist in Relation zur Wirtschaftsleistung in der Union derart gering, dass eine Anreizsteuerung durch finanzielle Förderung flächendeckend gar nicht möglich ist und daher von vornherein auf wenige W irtschaftsbereiche beschränkt bleiben muss.1 6 Darüber hinaus birgt das meist angewandte Modell der Kofinanzierung die Schwierigkeit in sich, dass die Mitgliedstaaten oder Regionen in der EU, die am dringendsten auf Förderung angewiesen wären, mangels der notwendigen Eigenmittel diese oftmals nicht abrufen können. W eder kompetenzielle noch ressourcenbedingte Defizite der Steuerungskraft weist die einheitliche Geld- und W echselkurspolitik für die Eurozone (Art. 127 ff. AEUV) auf. Das Eurosystem verfügt über die rechtlichen Instrumente zur effektiven Steuerung der Geldversorgung der Eurozone sowie über die unbegrenzte Fähigkeit, die erforderlichen materiellen Ressourcen hierfür bereitzustellen. Die Geldpolitik hat aber ausweislich Art. 127 Abs. 1 AEUV weder ein primär wirtschaftspolitisches Mandat – sieht man einmal von der Bereitstellung einer stabilen W ährung als wirtschaftspolitische Daseinsvorsorge ab – noch ist die Geldpolitik das richtige Mittel, eine Makro- oder gar Feinsteuerung des W irtschaftsgeschehens in der Eurozone – von der EU als Ganzem gar nicht zu reden – durchzuführen. Ganz im Gegenteil ist die einheitliche Geldpolitik infolge der unvollkommenen wirtschaftlichen Integration der Eurozone möglichweise mitunter ursächlich für Fehlentwicklungen, da der einheitliche Refinanzierungszinssatz (one size fits all) des Eurosystems für einzelne Mitgliedstaaten oftmals zu hoch oder zu niedrig sein wird, sofern sich ihre W irtschaftsentwicklung nicht im Gleichklang mit der Eurozone als Ganzes befindet. Das Eurosystem kann daher allenfalls – z.B. durch Liquiditätsbereitstellung für die nationalen, noch nicht hinreichend integrierten Finanzsysteme der Eurozonen-Teilnehmerstaaten – zeitliche Anpassungsspielräume für die politischen Organe bereitstellen. Als echte W irtschaftsregierung ist es nicht legitimiert und taugt auch nicht dazu. Zu diesen funktionalen Kompetenzen tritt die in Art. 5 AEUV genannte Koordinierung der W irtschaftspolitik der Mitgliedstaaten „in der Union“ hinzu, die in den Art. 120–126 AEUV näher ausgeformt ist und ihrer primärrechtlichen Grund16
Man spricht insoweit davon, dass der EU-Haushalt nicht der „dominante Haushalt“ in der Europäischen Union ist, siehe Seidel (Anm. 14), 720.
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konzeption nach große Ähnlichkeiten mit den Regelungen des ursprünglichen EW G-Vertrages aufweist (dort Art. 103–105). Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei dieser Koordinierung nicht einmal um eine echte Kompetenz der Union handelt, sondern sie lediglich das Forum für eine Koordinierung der Mitgliedstaaten abgibt, wenngleich die Ausgestaltung insbesondere des Art. 126 AEUV sowie die Möglichkeiten zur engeren Koordinierung in der Eurozone nach Art. 136 AEUV kompetenzähnliche Züge haben, allerdings die W irtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nicht in supranationaler W eise binden. Zwar betrachten die Mitgliedstaaten ihre W irtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse (Art. 121 Abs. 1 AEUV). Die von Europäischem Rat und Rat gemeinsam ausgearbeiteten und verabschiedeten „Grundzüge der W irtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Union“ (Art. 121 Abs. 2 AEUV) sind jedoch als Empfehlung ausgestaltet und daher rechtlich nicht verbindlich (Art. 288 Abs. 5 AEUV). Eine echte supranationale W irtschaftspolitik der Union kann auf dieser Grundlage nicht erwachsen. Hinsichtlich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, die für die Wirtschaftsentwicklung von besonderer Wichtigkeit sind, kann die Union ausweislich Art. 5 Abs. 2, 3 AEUV ebenfalls nur Initiativen ergreifen. Dabei wäre in der W ährungsunion die Notwendigkeit für eine möglichst einheitliche, zumindest aber doch gemeinsame oder wenigstens eng koordinierte mitgliedstaatliche W irtschaftspolitik von besonderer Bedeutung, da mit dem W egfall der W echselkurse, der Möglichkeit zur eigenständigen Geldpolitik und herkömmlicher Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten sämtliche traditionellen Anpassungs- und Abfederungsmechanismen weggefallen sind, die Divergenzen der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen verschiedenen W irtschaftsgebieten kompensieren könnten, während gleichzeitig die in der Europäischen Union seit Jahrzehnten angelegten Finanztransfersysteme bei weitem nicht ausreichen, um die erheblichen Unterschiede in der W irtschaftskraft auszugleichen. Die primärrechtlich am stärksten ausgebildete Säule der Wirtschaftspolitik bildet an sich die Überwachung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten im Rahmen des Art. 126 AEUV, ergänzt um das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, das Protokoll über die Konvergenzkriterien und eine diesbezügliche Verordnung1 7 sowie den „korrektiven Arm“ des sog. Stabilitäts- und W achstumspakts, bestehend aus einer Entschließung des Europäischen Rates1 8 sowie zwei
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Verordnung Nr. 3605/93 vom 22. November 1993 über die Anwendung des dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügten Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, Amtsblatt (ABl.) 1993 Nr. L 332/7. 18 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, ABl. 1997 Nr. C 236/1.
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EU-Verordnungen.1 9 Dieses System, nach dem die Mitgliedstaaten „übermäßige öffentliche Defizite“ vermeiden müssen (Art. 126 Abs. 1 AEUV), die wiederum durch die sog. Maastricht-Kriterien (gesamte öffentliche Nettoneuverschuldung max. 3 % des Bruttoinlandsprodukts; gesamter Schuldenstand der öffentlichen Haushalte 60 % des Bruttoinlandsprodukts)2 0 objektiv klar definiert sind, und das bei einem Verstoß sogar mit an sich ernstzunehmenden Sanktionen bewährt ist (vgl. Art. 126 Abs. 11 AEUV), hat sich infolge normativer Unschärfebegriffe, politischer Ermessensspielräume und schlichter Rechtsbefolgungsverweigerung als nicht effektiv erwiesen. Auch ist zweifelhaft, ob das Sanktionsinstrumentarium in seiner bisherigen Ausgestaltung überhaupt sinnvoll und durchsetzbar wäre.
III. Lücken der EU-Wirtschaftsverfassung Schließlich hat die Euro-Schuldenkrise offengelegt, dass die EU-W irtschaftsverfassung eklatante Lücken, „blinde Flecken“ 2 1 aufweist, die durch die Krisenbekämpfungsmaßnahmen größtenteils geschlossen werden konnten. So ist in den Art. 143 und 144 AEUV zwar geregelt, was bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten der EU-Mitgliedstaaten „mit Ausnahmeregelung“ (d.h., die den Euro noch nicht eingeführt haben) zu tun ist. Für die Euro-Teilnehmerstaaten fehlen vergleichbare Regelungen jedoch gänzlich. Im strikten Sinne Zahlungsbilanzschwierigkeiten können diese allerdings auch nicht mehr haben. Allerdings können diese Staaten in erhebliche Refinanzierungsschwierigkeiten geraten, da die Verträge ihnen jegliche monetäre Finanzierung abschneiden und sie allein auf Steuererhebung und (begrenzte) Kredite an den Kapitalmärkten zur Finanzierung von Staatsausgaben verweisen. Eurozonen-Teilnehmerstaaten unterliegen damit grundsätzlich einem höheren Insolvenzrisiko als Staaten, die noch über eine tatsächlich eigene W ährung in dem Sinne verfügen, dass sie diese notfalls beliebig schöpfen können. Staatsschulden der Euro-Teilnehmerstaaten sind Fremdwährungsschulden jedenfalls ähnlich. W as im Falle eines (drohenden) Zahlungsausfalls in der Eurozone konkret zu geschehen habe, mit welchen Mitteln dieser zu verhindern oder durchzuführen wäre, lässt das Unionsrecht weitgehend ungeregelt. Dies mag daran liegen, dass die „Herren der Verträge“ 1991 davon ausgingen, dass die präventi-
19 Verordnung Nr. 1466/97 vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl. 1997 Nr. L 209/1 und Verordnung Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. 1997 Nr. L 209/6. 20 Siehe Art. 1 des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit. 21 K. von Lewinski, Öffentlichrechtliche Insolvenz und Staatsbankrott, 2011, 455.
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ven Regeln in ihrer Kombination und infolge der erwarteten Kontrolle des Verschuldungsverhaltens durch die Finanzmärkte eine nicht tragfähige Schuldenlast gar nicht erst entstehen lassen würden. Nachdem sich diese Hoffnungen als unbegründet erwiesen haben, sind bestehende Unschärfen in den Vorschriften der Art. 122 und 125 AEUV genutzt worden, um die aufgezeigte Lücke durch ein System der konditionierten Kredithilfen der Mitgliedstaaten, der EU (durch den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM)), des IW F sowie der eigens zu diesem Zweck gegründeten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) zu schließen. Nach wie vor fehlt jedoch ein tragfähiger unionsrechtlicher Rahmen für die geordnete Umschuldung insolventer Euro-Teilnehmerstaaten; die ab 2013 von den Mitgliedstaaten standardmäßig zu verwendenden Collective Action Clauses (CAC) werden erst langfristig eine solche Grundlage schaffen. Die im März 2012 „geglückte“ Umschuldung Griechenlands belegt insoweit – wegen erheblicher ihr anhaftender rechtlicher Risiken – nicht das Gegenteil. Für die Zukunft sollen der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der W irtschafts- und Währungsunion (VSKS)2 2 und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)2 3 diese Lücken dauerhaft – zunächst extra-unional – schließen.
IV. Die aktuellen Reformen der Economic Governance in der Europäischen Union 1. Defizite des bisherigen Systems der Economic Governance Das oben beschriebene System weist offenkundig erhebliche Defizite auf. Die Kombination aus vertikal-sektoralen Rechtssetzungskompetenzen der EU, begrenzten Transfers durch die verschiedenen Förderpolitiken, einer ineffektiven Haushaltskontrolle und einer schwach ausgeprägten und weitgehend nur auf dem Papier stehenden wirtschaftspolitischen Koordinierung hat nicht zum normativen Idealzustand (vgl. Art. 121 Abs. 3 AEUV) einer möglichst weitgehenden wirtschaftlichen Konvergenz der Mitgliedstaaten geführt. Im Gegenteil haben sich im Verlauf der Jahre erhebliche wirtschaftliche Ungleichgewichte infolge sich auseinanderentwickelnder W ettbewerbsfähigkeiten aufgebaut; die Verschuldung der öffentlichen Haushalte konnte nicht im erforderlichen Maß begrenzt werden und in einzelnen Mitgliedstaaten bildeten sich erhebliche ökonomische Risiken durch Spekulationsblasen bzw. anderweitige Klumpenrisiken im Finanzsektor. Der Zu22
Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion vom 2. März 2012. 23 Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus vom 2. Februar 2012.
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sammenbruch des US-amerikanischen subprime-Hypothekenmarktes, der Bank Lehman Brothers und die darauf folgende globale Finanz- und W irtschaftskrise haben diese Schwierigkeiten zu Tage gefördert und deutlich verschärft. Dabei ist sichtbar geworden, dass zum einen die Höhe des Schuldenstands im Rahmen der haushaltspolitischen Überwachung nicht hinreichend gewichtet worden ist, zum anderen aber auch, dass eine solide Haushaltspolitik allein keinen Schutz vor erratischen wirtschaftlichen Veränderungen bietet, wie die Fälle Irlands und Spaniens deutlich zeigen. So hat die Schuldenkrise seit 2010 als Katalysator für eine intensivierte Diskussion über die wirtschafts- und haushaltspolitische Koordinierung innerhalb der Eurozone gewirkt. Die Frage eines dauerhaften Rettungsmechanismus wurde insbesondere von Seiten Deutschlands immer wieder im Sinne einer Junktimklausel mit Fortschritten in diesen Bereichen verknüpft. Generell haben die Entwicklungen und Diskussionen der vergangenen Jahre gezeigt, dass für ein wirtschaftspolitisches „weiter so!“ in der W ährungsunion kein Raum ist und dass es tiefgreifender struktureller Reformen und eines erheblichen Bewusstseinswandels bedarf, um dauerhaft stabile Staatsfinanzen und Finanzmärkte als Voraussetzung langfristigen W ohlstands zu sichern. Im Hinblick auf dieses Ziel hat die Eurozone mit den im Jahr 2011 getroffenen und den im Jahr 2012 beschlossenen Maßnahmen zwar keinen Quantensprung nach vorne gemacht und auch keine echte „Europäische W irtschaftsregierung“ im oben genannten Sinn etabliert; die vielen kleineren und größeren Reformen stellen in der Summe jedoch eine qualitative W eiterentwicklung der W irtschafts- und W ährungsunion von erheblichem Gewicht dar, 2 4 die jedoch die durch die vertragliche Konzeption der Koordinierung der mitgliedstaatlichen W irtschaftspolitik als besondere Kompetenzform der Europäischen Union (vgl. Art. 5 Abs. 1 AEUV) gezogenen grundsätzlichen Grenzen respektiert. Die rechtliche Zulässigkeit der einzelnen Bausteine ist teilweise in Zweifel gezogen worden.2 5 Ihr Erfolg wird vor allem davon abhängen, inwieweit die Mitgliedstaaten zu echten Änderungen eingeschliffener Verhaltensmuster bereit sind.
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Siehe schon H. Van Rompuy, Remarks by the President of the European Council, following the last meeting of the Task force on economic governance, Rat der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. PCE 230/10, 18 September 2010: „Taken separately, some of these reforms may seem small steps. Together, they are a major step forward“. 25 U. Häde, Art. 136 AEUV – eine neue Generalklausel für die Wirtschafts- und Währungsunion?, JuristenZeitung 2011, 333; ders., Kommissionsentwürfe für offensichtliche Ultra-vires-Akte, EuZW 2010, 921; C. Ohler, Die zweite Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Zeitschrift für Gesetzgebung 2010, 330 (341 ff.).
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2. Vorbereitende Arbeiten und ihre Umsetzung Zeitgleich mit den ersten Andeutungen über die Möglichkeit bilateraler Kredite der Euro-Teilnehmerstaaten an Griechenland wurde durch die Europäische Union auch eine grundlegende Reform der europäischen W ährungsverfassung in die W ege geleitet. So sah die vom Europäischen Rat am 25./26. März 2010 ins Auge gefasste Strategie „Europa 2020“ bereits eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung auf Grundlage von Art. 121 und Art. 136 AEUV vor und nahm die divergenten Entwicklungen in den Bereichen W ettbewerbsfähigkeit und Zahlungsbilanzentwicklung in den Blick; der Europäische Rat sprach sich zudem für eine bessere zeitliche Abstimmung der nationalen Reformprogramme sowie der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme aus.2 6 Zur weiteren Ausarbeitung dieser Strategieelemente wurde durch den Europäischen Rat eine Task Force unter dem Vorsitz des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, gegründet, die bis Jahresende Möglichkeiten für einen besseren Krisenbewältigungsmechanismus und für eine bessere Haushaltsdisziplin erarbeiten sollte. Die Task Force legte ihren Bericht bereits im Oktober 2010 vor.2 7 Ebenfalls durch den Europäischen Rat im März 2010 wurde die Europäische Kommission beauftragt, bis Juni 2010 Vorschläge zur Stärkung der Koordinierung des Euro-Währungsgebiets vorzulegen und dabei „das neue Instrumentarium für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik, das der Artikel 136 des Vertrags (AEUV) bietet“, zu nutzen.2 8 Die Kommission folgte dieser Aufforderung und legte am 12. Mai 2010 ihre Mitteilung zur Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung2 9 vor, auf die am 29. September 2010 konkrete, inhaltlich auf den Abschlussbericht der Task Force abgestimmte Legislativvorschläge3 0 folgten. Der Europäische Rat vom 28./29. Oktober billigte den Be26
Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 26. März 2010, EUCO 7/10, Ziff. 6. Strengthening Economic Governance in the EU, Report of the Task Force to the European Council, 21 October 2010; dt. Fassung (ohne Titel) Dok.-Nr. 15302/10. 28 Schlussfolgerungen vom 26. März 2010 (Anm. 26), Ziff. 6 d). 29 Europäische Kommission, Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung, KOM(2010) 250 endg. 30 Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, KOM(2010) 522 endg.; Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten, KOM(2010) 523 endg.; Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euroraum, KOM(2010) 524 endg.; Vorschlag für eine Verordnung des Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum, KOM(2010) 525 endg.; Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen 27
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richt der Arbeitsgruppe.31 Die Vorschläge wurden von der Euro-Gruppe,3 2 den Staats- und Regierungschefs des Euro-W ährungsgebiets3 3 sowie vom ECOFINRat3 4 dann weiter vorberaten und präzisiert. Die Grundsatzentscheidungen über die Verwirklichung der Pläne fielen im Europäischen Rat.3 5 Das Rechtssetzungsverfahren zwischen Rat und Parlament gestaltete sich kompliziert und mühsam, konnte aber im Oktober 2011 letztlich erfolgreich abgeschlossen werden. So traten die sechs Rechtsakte des sog. Six-Packs im Dezember 2011 in Kraft. Bereits im November 2011 legte die Kommission – gestützt auf Art. 136 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 121 Abs. 6 AEUV – zwei weitere Rechtssetzungsvorschläge vor, durch die die haushaltspolitische Überwachung in der Eurozone und insbesondere für Mitgliedstaaten, die in finanziellen Schwierigkeiten sind, weiter ausgebaut werden soll.36 Im Dezember 2011 vereinbarten die M itgliedstaaten, einen weiteren Vertrag über eine Fiskalunion abzuschließen, nachdem sich insbesondere Großbritannien einer Änderung der Verträge, wie sie vor allem von Deutschland gefordert worden war, verweigert hatte.3 7 Dieser „Fiskalpakt“ wurde am 2. März 2012 als Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der W irtschafts- und W ährungsunion (VSKS) von zunächst 25 Mitgliedstaaten abgeschlossen (alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens und der Tschechischen Republik), bedarf aber noch der Ratifikation (Art. 14 Abs. 1 VSKS). Bereits am 2. Februar 2012 wurde der Vertrag
Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, KOM (2010) 526 endg.; Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, KOM (2010) 527 endg. 31 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 28./29. Oktober 2010, EUCO 25/1/10. 32 Siehe Statement by the Eurogroup, 28 November 2010, dt. Fassung abgedruckt in: Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember 2010, EUCO 30/1/10, Anlage II. 33 Siehe die Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU-Organe, abgedruckt ebd., Anlage III, sowie die Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets vom 11. März 2011, http:// www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_Data/docs/pressdata/de/ec/119824.pdf. 34 Siehe Rat der Europäischen Union, 3062. Tagung des Rates Wirtschaft und Finanzen, 5287/11, Presse 3 PR CO 1, 18. Januar 2011; 3067. Tagung des Rates Wirtschaft und Finanzen, 6514/11, Presse 25 PR CO 6, 15. Februar 2011, sowie Council reaches agreement on measures to strengthen economic governance, 7691/11, PRESSE 63, 15 March 2011. 35 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 17. Juni 2010, EUCO 13/10; Schlussfolgerungen vom 16./17. Dezember 2010 (Anm. 32); Schlussfolgerungen vom 25. März 2011, EUCO 10/11. 36 COM(2011) 819 final; COM(2011) 821 final. 37 Siehe Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 9. Dezember 2011, EUCO 139/1/11, Ziff. 4.
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zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus von den 17 EurozonenTeilnehmerstaaten unterzeichnet. Er bedarf ebenfalls noch der Ratifikation gemäß den verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten (Art. 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 ESM-Vertrag).
3. Die Maßnahmen im Einzelnen Die Reform der Regelungen über die W irtschafts- und W ährungsunion besteht aus einem Bündel von Maßnahmen, die von einer – allerdings geringfügigen – Ergänzung der Verträge (neuer Art. 136 Abs. 3 AEUV) über umfangreiche Sekundärrechtssetzung im Rahmen des Legislativpakets bis hin zu teilweise aus dem Unionsrechtsrahmen heraus fallenden Rechtsakten (völkerrechtliche Gründung des ESM; Euro-Plus-Pakt; VSKS) reichen. Inhaltlich decken die Vorhaben – mit Ausnahme eines echten Staateninsolvenzrechts – das gesamte Problemspektrum der Euro-Schuldenkrise ab. Der dauerhafte Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und die in die Verfassungen der VSKS-Vertragsstaaten einzufügenden Schuldenbremsen (Art. 3 Abs. 2 VSKS) sollen auch für die Zukunft sicherstellen, dass Mitgliedstaaten mit gravierenden Refinanzierungsschwierigkeiten an den Finanzmärkten geholfen werden kann. Das „Europäische Semester“, die Verschärfungen des Stabilitäts- und W achstumspakts sowie die diesbezüglichen Verstärkungen im VSKS sollen dem Verbot übermäßiger Haushaltsdefizite mehr Biss verleihen und Fehlentwicklungen der Haushaltspolitik in Zukunft frühzeitig und nachhaltig aufdecken und sanktionieren. Schlussendlich soll auch die mitgliedstaatliche W irtschaftspolitik einer stärkeren Koordinierung und Kontrolle unterworfen werden, und zwar sowohl im Rahmen der unionsrechtlichen Verfahren als auch im Rahmen des semi-extra-unionalen Euro-Plus-Pakts sowie des VSKS.
a) Der dauerhafte Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) Den politisch umstrittensten und zugleich bedeutsamsten Teil des Reformpakets bildet die Gründung des dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), durch den die EFSF mittelfristig abgelöst werden soll.3 8 Im Unterschied zu diesem vorübergehenden Instrumentarium hat der ESM keine sekundärrechtliche Komponente und beinhaltet keine Kreditaufnahme durch die Europäische Kommission (wie der EFSM). Er ruht auch nicht auf privatrechtlicher (wie die EFSF), sondern
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Siehe Art. 39 und 40 ESM-Vertrag zum Verhältnis zur EFSF. Bei Abfassung dieses Beitrags wurde politisch diskutiert, für einen Übergangszeitraum die Darlehenskapazitäten von EFSF und ESM zu kumulieren.
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vielmehr auf völkerrechtlicher Grundlage. Der ESM wird als eigenständige internationale Organisation errichtet, die neben dem Unionsrecht steht.3 9 Eine solche extra-unionale Vorgehensweise ist außerhalb des Bereichs der ausschließlichen Zuständigkeiten der Union – und dazu gehört die bilaterale Kreditgewährung infolge der fortbestehenden wirtschaftspolitischen Souveränität der Mitgliedstaaten4 0 – zweifelsfrei rechtlich zulässig und zudem darüber hinaus im Bereich der W ährungspolitik auch nicht ungewöhnlich. Zur Klarstellung wird durch die Ergänzung des Art. 136 AEUV um einen neuen Absatz 341 die rechtliche Unbedenklichkeit dieser Konstruktion – auch im Hinblick auf die hier allenfalls als materiellrechtliche Schranken mitgliedstaatlicher Kompetenzausübung zu erwägenden Art. 123–125 AEUV – primärrechtlich fixiert. Die Übereinstimmung mit der Unionspolitik, insbesondere der multilateralen Überwachung, soll sichergestellt werden, und die Kommission wird in die Durchführung von Hilfsmaßnahmen umfassend eingebunden. Der ESM soll mit einer effektiven Ausleihkapazität i.H.v. 500 Mrd. Euro ausgestattet werden (Art. 39 ESM-Vertrag); eine Erhöhung ist gemäß Art. 10 Abs. 1 ESM-Vertrag grundsätzlich möglich und stand bei Abfassung dieses Beitrags zur Entscheidung an.4 2 Zur Erfüllung seines Zwecks wird der ESM mit einem Eigenkapital von insgesamt 700 Mrd. Euro versehen, von denen 80 Mrd. Euro von den Anteilseignern, verteilt über einen Zeitraum von fünf Jahren, eingezahlt werden 39 Siehe hierzu die Vereinbarung über die Merkmale des ESM, abgedruckt in: Europäischer Rat, Schlussfolgerungen vom 25.3.2011, EUCO 19/11, Anlage II, 22, sowie Art. 1 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 2 S. 1 ESM-Vertrag. 40 Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik stellt keine echte Kompetenz der Europäischen Union dar, sondern eine besondere Form der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Union, vgl. Art. 5 Abs. 1 AEUV. Demzufolge haben die Art. 121–126 AEUV aus systematischen Gründen auch keine Sperrwirkung nach Art. 2 Abs. 1 AEUV. Eine solche greift nur für die Währungspolitik gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. c) AEUV, und auch nur für die Mitgliedstaaten der Eurozone. Erfasst sind von dieser Sperrwirkung die Inhalte der Art. 127–133 AEUV. 41 Beschluss 2011/199/EU des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ABl. 2011 Nr. L 91/1. Der neue Absatz 3 soll lauten: „(3) Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen“; siehe dazu H. Rathke, Von der Stabilitäts- zur Stabilisierungsunion: Der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV, Die Öffentliche Verwaltung 2011, 753 ff. 42 Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets vom 2. März 2012, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/128588.pdf.
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müssen (Art. 8, 41 ESM-Vertrag).4 3 Die Kapitalanteile entfallen auf die Mitgliedstaaten der Eurozone entsprechend ihrem Kapitalanteil an der EZB (Art. 11 Abs. 1 ESM-Vertrag), so dass auf Deutschland ein Betrag von 21,7 M rd. Euro einzuzahlenden und insgesamt 190 M rd. Euro haftenden Kapitals entfällt (s. Anhang I und II zum ESM-Vertrag). Die Erträge des ESM werden an die Mitgliedstaaten grundsätzlich ausgekehrt, sofern dadurch die Ausleihkapazität nicht beeinträchtigt wird (Art. 23 ESM-Vertrag). Der ESM soll zur Sicherung der Stabilität der Eurozone als Ganzes im Einklang mit dem neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV, d.h. wenn dies unabdingbar ist und unter strengen wirtschaftspolitischen Auflagen, Mitgliedstaaten mit Finanzierungsschwierigkeiten Stabilitätshilfen gewähren (Art. 3 ESM-Vertrag). Die Hilfeleistung kann durch vorsorgliche Finanzhilfen, Hilfen zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten, ESM-Darlehen sowie Primär- und Sekundärmarktkäufen von Staatsanleihen der betroffenen Mitgliedstaaten gewährt werden (Art. 14–18 ESMVertrag). W eitere Instrumente können eingeführt werden (Art. 19 ESM-Vertrag). Ab 2013 steht die Gewährung von Finanzhilfen unter der – allerdings nur in der Präambel festgehaltenen – Bedingung, dass der bedürftige Mitgliedstaat den VSKS ratifiziert hat (Erwägungsgrund Nr. (5)). Auf eine umfassende Beteiligung des Privatsektors konnten sich die Mitgliedstaaten nicht einigen. Ab 2013 müssen jedoch alle Staatsanleihen der EurozonenTeilnehmerstaaten Collective Action Clauses enthalten (Art. 12 Abs. 3 ESM-Vertrag).
b) Das „Europäische Semester“, die Verschärfung des Stabilitätsund W achstumspakts und der „Fiskalpakt“ (VSKS) Die wesentlichste Ursache der Euro-Schuldenkrise liegt im Versagen des präventiven Regimes der Haushaltsüberwachung infolge seiner zu laxen Anwendung durch die im Rat verantwortlichen Mitgliedstaaten.4 4 Diese Überwachung ist erheblich gestärkt und quasi automatisiert worden. Hierzu dient die Einführung des „Europäischen Semesters“ zum 1. Januar 2011 45 ebenso wie die Änderungen der VO (EG) 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei
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Im Jahr 2012 sollen von den Mitgliedstaaten zwei Einzahlungen vorgenommen werden, siehe die Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets vom 2. März 2012 (Anm. 42). 44 Siehe ECB, The Reform of Economic Governance in the Euro Area – Essential Elements, Monthly Bulletin, March 2011, 99 (102 ff.). 45 Siehe Schlussfolgerungen vom 17. Juni (Anm. 35), Ziff. 11 c).
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einem übermäßigen Defizit4 6 und der VO (EG) 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der W irtschaftspolitiken,4 7 die Richtlinie über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten48 und die Verordnung über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-W ährungsgebiet.49 Die Maßnahmen haben ein ganzes Bündel von Einzeländerungen an den bestehenden Vorschriften mit sich gebracht bzw. diese um neue Regelungen ergänzt. Eine detaillierte Darstellung dieser umfangreichen Änderungen und Ergänzungen kann hier nicht geleistet werden.50 Durch das Europäische Semester wird der zeitliche Ablauf aller existierenden Überwachungselemente im Zeitraum Januar–Juli eines Jahres harmonisiert, um eine möglichst konsistente Überwachung sicherzustellen und zu ermöglichen, dass bereits vor den jeweiligen nationalen parlamentarischen Budgetentscheidungen Fehlentwicklungen – sei es hinsichtlich der ökonomischen Annahmen, auf denen die nationalen Budgets geplant werden, sei es hinsichtlich der Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben – erkannt werden und auf ihre Korrektur hingewirkt wird.5 1 Durch die Sekundärrechtsänderungen soll das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit stärker den Schuldenstand – und nicht lediglich das Haushaltsdefizit – einbeziehen5 2 und durch kürzere Fristen beschleunigt werden.5 3 Ferner sollen für
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Verordnung (EU) Nr. 1177/2011 des Rates vom 8. November 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. 2011 Nr. L 306/33. 47 Verordnung (EU) Nr. 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. November 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl. 2011 Nr. L 306/12. 48 Richtlinie 2011/85/EU des Rates vom 8. November 2011 über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten, ABl. 2011 Nr. 306/41. 49 Verordnung (EU) Nr. 1173/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet, ABl. 2011 Nr. L 306/1. 50 Zum neuen Verfahren der wirtschaftspolitischen Koordinierung siehe die eingehende Darstellung bei ECB, The Reform of Economic Governance in the Euro Area (Anm. 44); eine erste wirtschaftspolitische Bewertung findet sich zudem bei Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute, Aufschwung setzt sich fort – Europäische Schuldenkrise noch ungelöst, Frühjahr 2011, 48 ff. 51 Zur Taktung des Europäischen Semesters s. ECB, The Reform of Economic Governance in the Euro Area (Anm. 44),100 f. 52 Neuer Art. 2 Abs. 1a der VO Nr. 1467/97. 53 Neue Art. 3 ff. der VO Nr. 1467/97.
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die Eurozonen-Teilnehmerstaaten (zusätzliche) Sanktionen früher greifen,5 4 und die Beschlussfassung soll hinsichtlich dieser neuen Sanktionen umfassend dem Prinzip der umgekehrten Mehrheit unterworfen werden, wonach eine Empfehlung der Kommission dann als angenommen gilt, wenn sich keine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten dagegen ausspricht.5 5 Im VSKS wird zudem eine – ebenfalls sanktionsbewehrte – Verpflichtung zur Einführung einer Schuldenbremse im nationalen Recht – möglichst mit Verfassungsrang – niedergelegt, die gerichtlich durch den Gerichtshof kontrolliert werden kann (Art. 3 Abs. 2, Art. 8 VSKS i.V.m. der von den Vertragsparteien bei der Unterzeichnung getroffene Regelung betreffend Artikel 8 des Vertrags).
c) Die Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung und der Euro-Plus-Pakt zur Überwachung der W ettbewerbsfähigkeit Als tiefere makroökonomische Ursache für die Schuldenkrise haben die Mitgliedstaaten die Ungleichgewichte in der Eurozone ausgemacht, die durch divergierende Entwicklungen insbesondere der Lohnstückkosten, d.h. der W ettbewerbsfähigkeit in den Mitgliedstaaten ausgelöst worden sind. Eine vergleichbare Entwicklung soll zukünftig durch eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung verhindert werden. Hierzu dienen die Verordnungen über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte5 6 und über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-W ährungsgebiet5 7 sowie Teile der Änderungen an der VO Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der W irtschaftspolitiken.58 Ergänzt werden diese unionssekundär-
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Art. 4–8 der VO Nr. 1173/2011. Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 6 Abs. 2 der VO Nr. 1173/2011; siehe insoweit auch Art. 7 VSKS. 56 Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, ABl. 2011 Nr. L 306/25. 57 Verordnung (EU) Nr. 1174/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet, ABl. 2011 Nr. L 306/8. 58 Verordnung (EU) Nr. 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. November 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl. 2011 Nr. L 306/12. 55
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rechtlichen Maßnahmen durch den intergouvernementalen Euro-Plus-Pakt59 der Eurozonen-Teilnehmerstaaten, der für die Teilnahme anderer Mitgliedstaaten offen ist6 0 und zusätzliche, allerdings wohl nur politische, Verpflichtungen begründet. Ökonomische Ungleichgewichte sollen in einem noch festzulegenden Scoreboard erfasst6 1 und dokumentiert werden (W arnmechanismus). Zur Korrektur von Ungleichgewichten kann der Rat auf Empfehlung der Kommission Empfehlungen an den Mitgliedstaat richten. Bei „übermäßigen Ungleichgewichten“ soll ein Verfahren eingeleitet werden, in dessen Rahmen dem betroffenen Mitgliedstaat Korrekturmaßnahmen empfohlen werden, deren Durchführung überwacht wird (Excessive Imbalance Procedure; EIP).6 2 W ährend dieses Verfahren für alle Mitgliedstaaten der Union gelten soll, sind Sanktionen nur für die Mitglieder der Eurozone vorgesehen.6 3 Diese bestehen in einer Geldbuße i.H.v. 0,1% des Vorjahres-BruttoNationaleinkommens des sanktionierten Mitgliedstaats.6 4 Die Geldbuße soll der EFSF bzw. – nach seiner Errichtung – dem ESM zugewiesen werden. 6 5 Ergänzt wird dieses unionsrechtliche Instrumentarium durch den bereits beschlossenen Euro-Plus-Pakt, der die W ettbewerbsfähigkeit der Paktteilnehmer und die Konvergenz zwischen ihnen durch politische Verpflichtungen in Bereichen, für die die Europäische Union keine Kompetenzen hat, stärken soll.6 6 Hierzu sollen die Staats- und Regierungschefs der Paktteilnehmer jährliche wirtschaftspolitische Verpflichtungen übernehmen, die von den Staats- und Regierungschefs politisch überwacht werden sollen. Inhaltlich sollen sich diese auf die Lohn- und Produktivitätsentwicklung, die Förderung der Beschäftigung, die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen und die Stärkung der Finanzstabilität beziehen. Zu den übernommenen Verpflichtungen gehört zudem auch, die im Stabilitätsund W achstumspakt enthaltenen Haushaltsvorschriften im nationalen Recht zu verankern, wobei den Paktmitgliedern allerdings die W ahl des jeweils geeigneten Rechtsinstruments überlassen bleibt.
59 Siehe „Der Euro-Plus-Pakt – Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz“, abgedruckt in: Schlussfolgerungen vom 25. März 2011(Anm. 35), Anlage I, 13 ff. 60 Zunächst sind dem Pakt Bulgarien, Dänemark, Lettland, Polen und Rumänien beigetreten (siehe Anm. 59). Damit nehmen Großbritannien, Litauen, Schweden und die Tschechische Republik nicht an dem Pakt teil. 61 Art. 3–5 der VO Nr. 1176/2011. 62 Art. 7 der VO Nr. 1176/2011. 63 Art. 1 Abs. 2 der VO Nr. 1174/2011. 64 Art. 3 Abs. 5 der VO Nr. 1174/2011. 65 Art. 4 der VO Nr. 1174/2011. 66 Siehe „Der Euro-Plus-Pakt“ (Anm. 59),13 ff.
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V. Die institutionelle Verortung der „EU-W irtschaftsregierung“ Stellt man weniger auf die Zuständigkeiten und Verfahren ab und versucht, den Begriff der „W irtschaftsregierung“ in der Europäischen Union institutionell zu entschlüsseln, so gerät man in einen institutionellen Flickenteppich, der kaum unübersichtlicher sein könnte und zudem unter erheblichen Defiziten im Hinblick auf die demokratische Legitimation leidet. Die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung und der haushaltspolitischen Überwachung liegen zunächst beim Rat in der Zusammensetzung der W irtschafts- und/oder Finanzminister, d.h. beim ECOFIN. In Fragen betreffend die Mitgliedstaaten der Eurozone sind aber regelmäßig nur die M inister aus diesen Mitgliedstaaten stimmberechtigt. Keine Entscheidungsbefugnisse, aber wesentliche Koordinierungsfunktionen zwischen den Eurozonenteilnehmerstaaten übernimmt sodann die durch den Vertrag von Lissabon primärrechtlich sanktionierte „Eurogruppe“, bestehend aus den W irtschafts- bzw. Finanzministern der Eurozone sowie dem auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten der Eurogruppe, der nicht notwendig aus ihrer Mitte stammen muss. Kommission und EZB sind in diesen Sitzungen regelmäßig vertreten. Die Sitzungen der Eurogruppe werden sodann wiederum von der Eurogruppenarbeitsgruppe vorbereitet, die gegenüber der Eurogruppe ähnliche Funktionen übernimmt wie der W ährungs- und Finanzausschuss bezüglich des ECOFIN (vgl. Art. 134 AEUV). Im Rahmen der W irtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise fand das Krisenmanagement sodann meist gleich auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs statt, und zwar entweder unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten im Europäischen Rat oder auf sog. „Eurogipfeln“, die in Art. 12 VSKS auch ausdrücklich vorgesehen sind. Letzteres, in den eigentlichen Unionsverträgen bislang an sich gar nicht vorgesehene Gremium kommt den Vorstellungen einer W irtschaftsregierung letztlich am nächsten, verfügt selbst aber nur über politische, nicht rechtliche Entscheidungsbefugnisse.
VI. Zusammenfassung und Ausblick – das konstitutionelle Dilemma der europäischen W irtschaftsverfassung und W irtschaftsregierung Insgesamt hat der andauernde Reformprozess ein konstitutionelles Dilemma aufgedeckt, in dem sich die Union infolge der Eigenart ihrer Konstruktion befindet. Bestimmte Vorhaben ließen sich auf der Grundlage der geltenden Verträge und dem in ihnen angelegten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung schlicht nicht verwirklichen und selbst die nunmehr beschlossene Umkehrung der Beschlussfassungsregel im Stabilitäts- und W achstumspakt auf Grundlage des
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Art. 136 Abs. 1 AEUV begegnet gelegentlich rechtlichen Bedenken. Eine europäische Staateninsolvenzordnung ließe sich zwar mit den supranationalen Instrumenten des Unionsrechts erheblich einfacher verwirklichen als durch jede andere Rechtskonstruktion. Hierfür fehlt es jedoch an einer tragfähigen Rechtsgrundlage. Auch eine echte Sanktionierung suboptimaler mitgliedstaatlicher W irtschaftspolitik lässt sich nur schwer auf Art. 136 AEUV stützen. Der in der Vergangenheit häufig eingeschlagene W eg über Art. 308 EGV – nunmehr Art. 352 AEUV – ist durch die im Vertrag von Lissabon erfolgte Reform und nicht zuletzt durch die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihre Kodifizierung im Integrationsverantwortungsgesetz hingegen erheblich erschwert worden. Damit bleibt der Union zur Erreichung bestimmter Ziele an sich nur noch der W eg über die Vertragsänderung, und sei es auch über das „vereinfachte Verfahren“, wie es für den Art. 136 Abs. 3 AEUV gewählt worden ist. Mit welchen Schwierigkeiten eine solche umfangreichere Vertragsänderung mit erheblichen Einschnitten in die mitgliedstaatlichen Souveränitätsrechte verbunden ist, hat die Diskussion um den „Fiskalpakt“ mit der Abstinenz Großbritanniens und der Tschechischen Republik deutlich gezeigt. Selbst in Fällen, in denen sich ein entsprechender politischer Kompromiss zwischen den 27 Mitgliedstaaten für eine Vertragsänderung fände und die nationalen Verfassungsorgane oder ggfs. W ähler der Ratifikation zustimmten, ist noch nicht sicher, dass effektivere Beschränkungen der mitgliedstaatlichen wirtschafts- und fiskalpolitischen Souveränität auch den „Identitätskern“-Test des Bundesverfassungsgerichts bestehen würden. Wenn die wesentlichen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben des Staates dem deutschen Gesetzgeber nicht entzogen werden dürfen, so ist dies z.B. mit der Vorstellung einer automatischen Sanktionierung der Überschreitung bestimmter Schuldenquoten kaum in Einklang zu bringen; zudem berühren auch andere im Euro-Plus-Pakt zu besprechende Themenkreise wie Renteneintrittsalter, Lohnpolitik oder ähnliches wesentliche Grundaspekte der Gestaltung der sozialen Lebensverhältnisse und sind damit potentiell von Karlsruhes Bannstrahl betroffen. Eine insgesamt gesamtschuldnerische Haftung der Mitgliedstaaten im Rahmen von echten Eurobonds dürfte zudem die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Euro-Entscheidung im September 2011 betonten Haushaltsverantwortung verletzen und aus diesem Grunde unzulässig sein. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist derzeit nicht erkennbar. Dass die Mitgliedstaaten in dieser Situation auf außervertragliche, völkerrechtliche Konstruktionen oder hybride Rechtsakte ausweichen, hat gerade in der W ährungspolitik lange Tradition. Ob allerdings die notwendigen Schritte bei der W eiterentwicklung der Europäischen W irtschaftsverfassung und der Etablierung von Strukturen der W irtschaftssteuerung, die einer echten Wirtschaftsregierung näher kommen, durch derartige, im Einzelnen extrem komplizierte und in ihrer Verbindlichkeit zumindest
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fragwürdige Konstruktionen effektiv gegangen werden können, ist zweifelhaft. Zur Überwindung des hier beschriebenen Dilemmas bedürfte es allerdings eines derart ausgeprägten Maßes an integrationspolitischer Vorstellungskraft und Handlungswillens, dass damit auf absehbare Zeit nicht gerechnet werden darf.
Transeuropäische Energieinfrastruktur und EU-Binnenmarkt – Die Neuregelung der TEN-E Von Martin Nettesheim
A. Herausforderungen „Energie ist der Lebenssaft unserer W irtschaft“ – so stellte es die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung vom 10.11.20101 heraus. Energie ist ein Grundstoff, auf dessen Verwendung das W irtschafts- und Konsumgeschehen angewiesen ist. Der verlässliche und finanzierbare Zugang zur Energie ist eine Grundvoraussetzung für die Realisierung eines Lebens, wie wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewöhnt sind. Unterbrechungen in der Energieversorgung beeinträchtigen den wirtschaftlichen Erzeugungsprozess und führen zu Einbußen in der Lebensqualität. Die Sicherung der Versorgung mit Energie steht allerdings heute vor großen und bislang nicht bewältigten Herausforderungen. Die Mitgliedstaaten der EU können – auch in der Gesamtheit – bislang ihren Energiebedarf nicht autark decken, die Importabhängigkeit ist groß, ja sogar steigend. In der Versorgung mit fossilen Brennstoffen, vor allem mit Erdgas und Erdöl, ist schon heute absehbar, dass sich die Abhängigkeit der EU von Einfuhren weiter steigern wird. Die Notwendigkeit einer kohärenten, langfristig ausgelegten und belastbaren Energieaußenpolitik ist damit offenkundig. Das Gewicht dieser Erwägung wird dadurch erhöht, dass sich die EU in einer steigenden Konkurrenz um bestimmte Energieträger – vor allem solche fossiler Art – befindet. Der Energiebedarf der Schwellen- und Entwicklungsländer steigt als Ausdruck und Folge der wirtschaftlichen Entwicklung und des Anstiegs des Lebensstandards stark an. Zugleich liegt die Nutzungseffizienz von Energie in diesen Ländern deutlich hinter dem in entwickelten Ländern erzielten Niveau. Die EU kommt nicht umhin, sich mit der Frage der Zusammensetzung des Energiemixes zu befassen. Die relative Bedeutung von Energiequellen wird sich ändern. Einerseits ist ein Rückgang der Verfügbarkeit bestimmter fossiler Energieträger absehbar, vor allem des Öls. Die Nachfrage nach Strom wird in Zukunft 1
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erheblich steigen. Andererseits erzwingen politische Entscheidungen eine Beschäftigung mit dieser Frage. Die Verwirklichung des politischen Ziels, die Energieversorgung ganz oder doch jedenfalls überwiegend nachhaltig zu gestalten, setzt die Erschließung neuer Erzeugungsquellen voraus; dies erfordert erhebliche Investitionen, die von den Versorgungsunternehmen nicht in jedem Fall geleistet werden können. Bestimmte Erzeugungsformen, vor allem die Verbrennung von Kohle, stoßen auf klimapolitische Einwände. Hinzu kommt: In Mitgliedstaaten, die sich gegen die weitere Nutzung der Atomkraft zu Energieerzeugungszwecken entschieden haben, müssen Ersatzquellen erschlossen werden. W ieder andere Erzeugungsformen, insbesondere die Nutzung der W indkraft, setzen erhebliche Investitionen in den Netzausbau voraus. Der Investitionsbedarf ist insofern groß. Kurz: Die Heterogenität der Problemstellungen ist groß, ebenso die Unsicherheit und Dynamik der Zielhorizonte. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus dem Umstand, dass viele Energiequellen erhebliche Volatilität aufweisen. W ährend sich die Versorgung mit Energie etwa aus Kernkraft längerfristig und auf der Grundlage stabiler Prognosen planen lässt, hängt der Anfall von W ind- oder Solarenergie von kaum beeinflussbaren und nur schwierig zu prognostizierenden Umständen ab. Die Abstimmung der volatilen Erzeugungsmengen mit der ebenfalls schwankenden Verbrauchsnachfrage verlangt nach Mechanismen der Steuerung und nach Speicherlösungen. Teilweise sind es auch politisch-ökonomische Faktoren, die zur Volatilität beitragen. Die Produktionssituation in einigen Staaten ist erheblichen politischen Veränderungen ausgesetzt. Die EU muss sich zudem mit dem Umstand auseinandersetzen, dass die Energieerzeugung und -versorgung weiterhin grundsätzlich national strukturiert und organisiert ist. Die Anbieterseite richtet ihre Leistungen in vielen Teilmärkten weiterhin sehr stark auf lokale, regionale, teils auch nationale Nachfrage aus. Funktionierende Märkte für einen grenzüberschreitenden Bezug von Energie bestehen in wichtigen Teilmärkten weiterhin nicht. In anderen Teilmärkten ist der W ettbewerb eher gering und es sind oligopolistische Strukturen zu beobachten. Die Bewältigung dieser Herausforderung setzt nicht zuletzt eine Verknüpfung der bislang national ausgerichteten Strukturen und eine Überwindung bestehender Grenzen und Hindernisse voraus. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass die zu treffenden Entscheidungen ihren Ertrag nicht kurzfristig hervorbringen werden. Die erforderlichen W eichenstellungen erzwingen langfristige planerische Festlegungen und Investitionsentscheidungen, die sich über Jahrzehnte bewähren müssen. Die Schwierigkeiten, die sich hieraus ergeben, werden noch dadurch erhöht, dass sich politische Entscheidungen gerade im Energiesektor immer wieder als
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wenig stabil und als parteipolitisch umstritten erweisen. Die längerfristige Verlässlichkeit von Festlegungen und Richtungsentscheidungen ist teilweise klein. Diese Herausforderungen sind in einem Umfeld zu bewältigen, das von der Sorge um nationale Souveränität, von Verteilungskonflikten und staatlicher Vorteilssuche, von unterschiedlichen außen- und energiepolitischen Vorstellungen, ja auch von einer weiten Varianz politischer Ideologie gekennzeichnet ist. W ährend sich die Erforderlichkeit eines geschlossenen europäischen Auftretens aufdrängt, erweist sich die Organisation politischer Zustimmung im Kreis der Mitgliedstaaten als schwierig und die Herbeiführung richtungsweisender politischer Entscheidungen als überaus mühselig. W ährend sich der Vertragsgeber des Lissabon-Vertrags dazu entschlossen hat, durch die Aufnahme eines eigenständigen Kapitels „Energie“ (Art. 194 AEUV)2 den besonderen Handlungsbedarf im Energiebereich hervorzuheben und eine umfassende Handlungsbefugnis zu schaffen, ist bislang keinesfalls sichergestellt, dass die Bemühungen der EU um Nutzung und Ausfüllung dieser Kompetenz im Kreise der Mitgliedstaaten auf Zustimmung und Unterstützung stoßen werden. Teilweise konzentrieren sich die Organe der EU auf Maßnahmen marginaler Bedeutung – erhebliche Bekanntheit hat das Verbot von Glühbirnen erlangt –, während die Bewältigung der großen Herausforderungen herausgeschoben wird. Immer wieder ist zu beobachten, dass sich die EU – politisch verständlich – einer Problemstellung mit einem technokratisch-dirigistischen Ansatz nähert, der wenig Sinn für die Entdeckungs- und Selbstregulierungspotentiale von Märkten zeigt und ein Eingehen auf die individuellen Besonderheiten in den jeweiligen Mitgliedstaaten ausschließt. Insofern verwundert es nicht, dass der EU-Energiepolitik von einigen Beobachtern attestiert wird, dass sie sich durch ein kontrastreiches Aufeinandertreffen von Aktionismus und Ineffizienz kennzeichne.
B. Stand der Entwicklung: Überblick Es ist altbekannt, dass zwischen der europäischen Integration und der Energiepolitik engste Wechselbeziehungen bestehen. Immerhin setzten die ersten Bemühun2
Hierzu J. Gundel, Die energiepolitischen Kompetenzen der EU nach dem Vertrag von Lissabon: Bedeutung und Reichweite des neuen Art. 194 AEUV, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (EWS) 2011, 25; W. Kahl, Die Kompetenz der EU in der Energiepolitik nach Lissabon, Europarecht (EuR) 2009, 601; M. Nettesheim, Das Energiekapitel im Vertrag von Lissabon, JuristenZeitung (JZ) 2010, 19; A. Haratsch, Kompetenz und Kompetenzausübung der EU auf dem Gebiet von Energiepolitik und Klimaschutz, in: Stiftung Gesellschaft für Rechtspolitik/Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2008/II, Energierecht – Energiepolitik – Energiewirtschaft, 2009, 79.
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gen um eine Integration der europäischen Volkswirtschaften nach dem Zweiten W eltkrieg im Energiebereich an (EGKS, EAG).3 Strategische M einungsverschiedenheiten, unterschiedliche Interessen und die politische Sensibilität der Materie verhinderten allerdings, dass sich die Ordnung und Regulierung des Energiesektors zu einem Kernbereich der Integration entwickelte. Stattdessen drängten andere Politikbereiche nach vorne. Erst in den letzen Jahren haben energiepolitische Initiativen wieder an Bedeutung gewonnen. Das Portfolio des gegenwärtigen Kommissars Oettinger hat sich zu einer der bedeutsamsten Zuständigkeiten entwickelt. Dabei spielt nicht zuletzt eine Rolle, dass die Energiepolitik nach Einführung des Art. 194 AEUV nicht mehr aus der Perspektive anderer, im Vertrag ausdrücklich enthaltener Kompetenzen – etwa des Umweltschutzes oder der Binnenmarktzuständigkeit – formuliert werden muss, sondern als selbstständige Politik nach eigenständigen Zielen, Imperativen und Rationalitäten gestaltet werden kann. Die Bemühungen um Stärkung der Kohärenz und Schlagkraft der europäischen Energiepolitik nehmen seit dem Europäischen Rat in Hampton Court (2005) klarere Konturen an. Dort bekräftigte der Europäische Rat seinen W illen, integrationspolitische Fortschritte auf dem Gebiet der Integration der Energiemärkte und der Stärkung energiepolitischen Auftretens zu erzielen. Die Kommission legte in der Folge 2006 ein Green Paper zum Thema „A European Strategy for Sustainable, Competitive and Secure Energy“4 vor. In der Folge veröffentlichte die EU ihren „Energy Action Plan“ (2007–2012) 5 und eine „Strategic Energy Review“ (2008)6 . Diese Aktivitäten differenzierten sich in eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen aus. So machte sich die EU 2009 durch Erlass eines „Dritten Liberalisierungspakets“7 an die Vertiefung des Binnenmarktes für Energie. Das Anliegen des Klimaschutzes prägte den Hintergrund des 2008 geschaffenen „20-20-20“-Ziels.8 Es läuft darauf hinaus, dass bis 2020 die Energieeffizienz um 20 % gesteigert werden, der Ausstoß von Kohlendioxid um 20 % reduziert und der Anteil erneuerbarer Energien am Verbrauch auf 20 % gesteigert werden soll. Die in den letzten Jahren ergriffenen Schritte verfolgen dann einen umfassenden Ansatz: In ihrer Kommunikation „Energy 2020 – A Strategy for Competitive, Sustainable and Secure Energy“ (2010)9 hat sich die Kommission dazu bekannt, bis 2020 eine 3
Hierzu im Einzelnen M. Nettesheim, Das Energiekapitel im Vertrag von Lissabon, JZ 2010, 19 m.w.N. 4 KOM(2006) 105 endg. 5 KOM(2007) 545 endg. 6 SEC(2008) 2794. 7 Unten unter C. I. 8 KOM(2008) 772 endg. 9 Europäische Kommission, Mitteilung KOM(2010) 639 vom 10.11.2010 „Energie 2020 – Eine Strategie für wettbewerbsfähige, nachhaltige und sichere Energie“.
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vollständige Europäisierung der Energiepolitik anzustreben. 2011 ist dann sogar ein Energiefahrplan 2050 vorgelegt worden;1 0 hier geht es vor allem um die längerfristige „Dekarbonisierung“ des Wirtschaftsgeschehens und der Lebensverhältnisse. Hierin wird deutlich, dass sich die EU inzwischen eines integralen Ansatzes bedient, der sich nicht nur auf punktuelle, an jeweiligen politischen Interessen orientierten Maßnahmen beschränkt, sondern die Aufgabe einer zugleich verlässlichen und nachhaltigen Energieversorgung umfassend in den Blick nimmt. Dieser Aktivitätsschub darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Umsetzung dieser Planungen weiterhin nicht gelungen ist. Mehr noch: Manche der Planungen erweisen sich heute (Anfang 2012) schon als M akulatur. Eine wirklich „europäische“ Energiepolitik ist bislang noch nicht geschaffen worden, zudem werden zentrale Bereiche (Bau und Gebäudewirtschaft, Verkehr) bislang nicht hinreichend erfasst. Die erheblichen mitgliedstaatlichen Interessendifferenzen, die in den verschiedenen Bereichen auftauchen, verhindern ein effizientes und tatkräftiges Anpacken der teilweise mit erheblicher Sensibilität betrachteten Probleme. Dabei spielt auch eine Rolle, dass es im Energiebereich vielfach Regulierungsund Gestaltungsprobleme gibt, deren Bewältigung nicht zu einer Win-Win-Situation führt.1 1 Anders als etwa bei der Liberalisierung von Märkten im Bereich der Binnenmarktpolitik profitieren von energiepolitischen Maßnahmen nicht notwendig alle im gleichen Maße, schon deshalb, weil die Verfügbarkeit über energiepolitische Ressourcen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfällt. Es sei daran erinnert, dass Norwegen sich nicht zuletzt deshalb gegen die Mitgliedschaft in der EW G entschieden hat, weil es die Kontrolle über und den Gewinn aus seinen Energieressourcen nicht in der europäischen Integration aufgeben oder teilen wollte. Hinzu kommt, dass sich die energiepolitischen Herausforderungen nur zum Teil durch schlichte Regulierung lösen lassen; in vielen Bereichen bedarf es anderer – und flexiblerer – Formen der Steuerung. Im internationalen Kontext scheidet das Handeln durch rechtsförmige Vertragsgebung in vielen Bereichen aus; vielmehr ist der Einsatz eines komplexen und herausfordernden Verhandlungsmanagements erforderlich. Insofern bleibt der energiepolitische Selbststand der EU weiterhin klein. Mehr noch als in anderen Bereichen wird die Erfüllung der energiepolitischen Agenda von den Mitgliedstaaten dominiert. Das bislang realisierte Maßnahmentableau ist fragmentiert, ja teilweise sogar in sich widersprüchlich. Von einem kohärenten 10
KOM(2011) 885/2. Zu Zielkonflikten etwa H. Lecheler, Das ungeklärte Verhältnis zwischen der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und der unionsrechtlichen Pflicht zum Schutz der Umwelt – dargestellt anhand von Kollisionen beim Leitungsbau, Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 110 (2011), 177. 11
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Auftreten kann bislang nur in Ansätzen gesprochen werden, die Effizienz bleibt deutlich hinter dem eigentlich Erforderlichen zurück.
C. Energiebinnenmarkt und Infrastruktur Es ist vielleicht gerade die Vielzahl der Aktivitäten, die der EU wirkliche Schlagkraft nimmt. Eine Konzentration auf das W esentliche würde die Spannkraft der Politik erhöhen und zu Effektivitätssteigerungen führen. Die Verwirklichung des Energiebinnenmarktes muss im Zentrum der EU-Energiepolitik stehen. Die Energieinfrastruktur bildet, wie es die Kommission einmal formuliert hat, „das zentrale Nervensystem unserer W irtschaft“.1 2
I. Die Notwendigkeit infrastruktureller Investitionen Die Herstellung marktförmiger Strukturen der Erzeugung bzw. Einfuhr, der Verteilung und des Bezugs von Energie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Energie effizient und kostengünstig bewirtschaftet wird. Maßnahmen der EU auf diesem Gebiet sind insbesondere insoweit, als es um die Überwindung grenzüberschreitender Barrieren geht, ohne weiteres subsidiaritätskonform. Die marktordnungsrechtliche Seite ist inzwischen in vielerlei Hinsicht verwirklicht: Die Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt 1 3 und die Richtlinie 2009/73 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt14 zielen auf eine Marktöffnung ab, durch die auf der Angebots- ebenso wie auf der Nachfrageseite eine wesentliche Liberalisierung erfolgt ist. Man war sich allerdings bei der Schaffung dieser Regelungen einig, dass damit nur eine Seite der Herstellung eines funktionstüchtigen und effizienten Binnenmarkts abgedeckt wird. Es war immer klar, dass die Entfaltung der vorgesehenen Marktkräfte erhebliche infrastrukturelle Veränderungen voraussetzen würde. Es waren aber nicht nur die marktordnungsrechtlichen Fortschritte, die die defizitären Gegebenheiten auf der infrastrukturellen Seite in den Blick rückten. Eine EU-Politik, die (auf der Angebotsseite) die Umstellung von einer vergleichsweise stabilen Versorgung mit fossilen Stoffen auf vergleichweise volatile Strukturen der erneuerbaren Energie forciert, muss sicherstellen, dass Angebots- und 12 13 14
Mitteilung vom 17.11.2010, KOM(2010), 677 endg., unter 1. ABl. L 211 vom 14.8.2009, 55. ABl. L 211 vom 14.8.2009, 94.
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Nachfrageschwankungen ausgeglichen werden. Die Gewinnung erneuerbarer Energie weist wetterbedingt erhebliche Volatilität auf; zudem decken sich Angebots- und Nachfrageentwicklung nicht notwendig. Es bedarf daher der Schaffung zusätzlicher Infrastruktur, um eine räumliche und zeitliche Abstimmung der Nachfrage vorzunehmen. Dies setzt nicht nur ein weiträumiges und dicht verflochtenes Leitungsnetz voraus, über das Angebotsregionen und Nachfrageregionen miteinander verbunden werden; die Netze sind zudem „intelligent“ zu machen, um die Volatilität zu bewältigen. Nicht zuletzt bedarf es der Einrichtung von Speichern. M an ist sich vor diesem Hintergrund einig, dass sich die wirtschaftlichen Zielsetzungen, die unter dem Schlagwort „Europa 2020“ formuliert worden sind, ohne einen zügigen Ausbau der Energieinfrastruktur nicht verwirklichen lassen.15 Dieser Ausbau muss grundsätzlich unternehmerisch erfolgen. Die erforderlichen Maßnahmen setzen nicht nur technologische W eitsicht voraus, sondern auch unternehmerische Flexibilität und eine langfristige Perspektive. Ohne zielführende Rahmenbedingungen werden die Infrastrukturunternehmen die notwendigen Investitionen nicht vornehmen. Dies verlangt nicht nur, dass es zu einer sachangemessenen und hinreichend effektiven Ausgestaltung der Genehmigungsverfahren kommt; es muss auch sichergestellt sein, dass die häufig hohen Infrastrukturkosten so umgelegt werden können, dass sich Vorhaben rentieren. Vor allem geht es darum, die derzeit national fragmentierten Teilmärkte zu verknüpfen. Um die Größe der Herausforderung am Beispiel der Stromnetze zu verdeutlichen: Bislang umfasst das Netz der im Europäischen Verbund der Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) vereinigten Unternehmen einen Umfang von ungefähr 300.000 km. Der Netzentwicklungsplan, den der ENTSO-E ausgearbeitet hat, sieht für die Zeit 2010–2020 eine Ergänzung des Stromnetzes im Umfang von immerhin 42.200 km vor. Für neue Leitungen besteht ein Bedarf im Umfang von 35.300 km, für erneuerte Leitungen im Umfang von 6.900 km.16 Damit müssen immerhin 14 % des bestehenden Netzes erneuert oder auch neu gebaut werden. Die Kommission geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die Umstellung der „veralteten“ Infrastruktur auf voll integrierte, intelligente und durchlässige Netzund Speichertechnik bis 2020 Kosten von ungefähr 500 Mrd. Euro verursachen wird. Die Kosten für die Energieinfrastruktur bilden nur einen Teil der von der Kommission geschätzten Gesamtkosten für die Entwicklung des EU-Energiesystems; insgesamt geht die Kommission von Kosten von mehr als 1.000 Mrd. Euro aus. Der 15
U. Ehricke/D. Hackländer, Europäische Energiepolitik auf der Grundlage der neuen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon, Zeitschrift für europarechtliche Studien (ZEuS) 2008, 580. 16 ENTSO-E, Ten-Year Development Plan (TYNDP) 2010–2020, Juni 2010 (http:// tinyurl.com/tyndp-2010).
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Bau neuer Energietransportnetze wird nach Schätzungen der Kommission mindestens 200 Mrd. Euro kosten. Dieser Betrag setzt sich nach Schätzungen der Kommission zusammen aus ca. 140 Mrd. Euro für Hochspannungsstrom-Übertragungsnetze, Speicherung und „intelligente Stromnetze“,17 ca. 70 Mrd. Euro für Hochdruckgasfernleitungen für die Versorgung aus Drittstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten, die Speicherung von Gas, die Errichtung von Terminals für Flüssiggas (LNG) und komprimiertes Erdgas (CNG) und die Umstellung der Infrastruktur für den Gastransport entgegen der H auptflussrichtung, sowie ca. 2,5 Mrd. Euro für die CO 2-Transportinfrastruktur. Allenfalls die Hälfte, so die Kommission, wird von Seiten der Energieunternehmen (über regulierte Tarife und Engpassentgelte) aufgebracht werden können. Der öffentliche Finanzierungsbedarf beträgt insofern ca. 100 Mrd. Euro. Nicht überall stoßen die Zahlen der Kommission allerdings auf Zustimmung; teilweise hält man den Investitionsbedarf für niedriger. Nach Einschätzung der Kommission werden teilweise die im Gesamtinteresse liegenden Investitionen deshalb nicht getätigt, weil Unternehmen die nichtkommerziellen positiven externen Effekte bzw. den regionalen oder europäischen Zusatznutzen von Projekten nicht zu tragen bereit sind. Seit 2008 ist darüber hinaus krisenbedingt ein Rückgang der Investitionen zu beobachten.
II. Errungenschaften und Defizite bisheriger Politik Schon seit Jahren beschäftigen sich die EU-Organe daher mit dem Förderung eines Ausbaus der Energieinfrastruktur.1 8 Die Steigerung der Interkonnektivität der Netze hat eine solche Bedeutung, dass sie in Art. 194 AEUV sogar ausdrücklich von den Verhandlungspartnern des Lissabon-Vertrags aufgenommen wurde. Schon vor vielen Jahren hat der Vertragsgeber vertragliche Grundlagen geschaffen, um den EU-Organen die Förderung der Schaffung transeuropäischer Netze zu ermöglichen (heute Art. 170 AEUV).19 Maßnahmen, die zum Auf- und Ausbau der
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Mitteilung der Kommission, KOM(2011) 2020. Ausführliche Darstellung bei H. Lecheler, Art. 170 AEUV, in: E. Grabitz/M. Hilf/ M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 46. Ergänzungslieferung 2011, Rn. 1 ff. 19 Hierzu etwa R. Scholz/S. Langer, Europäischer Binnenmarkt und Energiepolitik, 1992; F. von Burchard, Trans-European Energy Networks, in: F. von Burchard/L. Eckert (Hrsg.), Natural Gas and EU Energy Law, 1995, 71; G. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998; E. Bogs, Die Planung transeuropäischer Verkehrsnetze, 2002; C. Koenig/ M. Scholz, Die Förderung transeuropäischer Netze, EWS 2003, 223; S. Schulenberg, Die Energiepolitik der Europäischen Union, 2009, 190 ff. 18
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„trans-European energy networks (TEN-E)“2 0 beitragen, dienen der Verwirklichung des Binnenmarkts (Art. 26 AEUV) und fördern den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt innerhalb der EU („Kohäsion“ (Art. 174 AEUV)). Die vertraglichen Grundlagen sehen in diesem Zusammenhang insbesondere auch ein Handeln vor, mit dem der Verbund und die Interoperabilität der einzelstaatlichen Energienetze gefördert werden (Art. 170 Abs. 2 AEUV). Gerade im Energiesektor gelang es allerdings lange Jahren nicht, die vertraglichen Befugnisse so schlagkräftig zu nutzen, wie dies sachlich geboten wäre. Gerade die „TEN-E“-Politik zur Koordinierung eines grenzüberschreitenden Netzausbaus erschöpfte sich in wenig effizienter punktueller Einzelfallförderung. Dieser Politik lag die Entscheidung Nr. 1364/200/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 2 1 zugrunde; Ziel der dort festgelegten Leitlinien für die transeuropäischen Energienetze war es, durch Förderung von Einzelprojekten die Vollendung des Energiebinnenmarkts der Union zu unterstützen und auf die wirtschaftliche Erzeugung, den Transport sowie die Verteilung und Nutzung von Energie hinzuwirken. Ein integriertes europäisches Netz, das mehr ist als die Summe seiner einzelnen Bestandteile, ließ sich so nicht verwirklichen. Die Leitlinien aus dem Jahr 2006 sahen insgesamt 550 Projekte in den Bereichen Strom- und Gasinfrastruktur vor, die für eine finanzielle EU-Unterstützung in Betracht kommen. Zur Finanzierung stellte die EU in der TEN-Finanzierungsverordnung2 2 für den Förderzeitraum von 2007 bis 2013 Fördermittel in Höhe von 155 Mio. Euro zur Verfügung. Die Vergabe erfolgte in Form der Kofinanzierung von TEN-E-Vorhaben. Schon in ihrer Energiestrategie 2020 23 äußerte sich die Kommission kritisch und warb dafür, sich der Planung, dem Bau und dem Betrieb von Energieinfrastrukturen mit neuen Ansätzen zu widmen. Die Kommission stellte schon vor längerem selbstkritisch fest, dass das Nebeneinander der Förderung einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen nicht zu einem kohärenten und effizienten Gesamtnetz führe. Durch punktuelle Maßnahmen, wie sie etwa im Rahmen des in der W irtschafts- und Finanzkrise konzipierten europäischen Energieprogramms zur Konjunkturbelebung („European Energy Programme for Recovery“ (EEPR))2 4 entwickelt wurden, verschlechterte sich die Kohärenz weiter; in diesem Rahmen leistete die EU Einmalzahlungen (ca. 3,85 M rd. Euro), um Vorhaben in den Bereichen Strom- und Gasinfrastruktur, Offshore-W ind20
Hierzu B. Meier-Weigt, Die Vorhaben von europäischem Interesse nach den Transeuropäischen Energienetze-TEN-E Leitlinien und ihre Umsetzung in den europäischen Mitgliedstaaten, InfrastrukturRecht (IR) 2007, 7. 21 ABl. L 262 vom 22.9.2006, 1. 22 VO Nr. 680/2007/EG. 23 KOM(2010) 639. 24 Verordnung (EG) Nr. 663/2009 vom 13.7.2009, ABl. L 200 vom 31.7.2009, 31.
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energie und „carbon capture and storage“ (CCS)-Demonstration zu ermöglichen. Zudem war zu beobachten, dass die finanzielle Förderung von Projekten häufig deshalb ins Leere lief, weil die erforderlichen Genehmigungsverfahren nicht vorankamen. Die Kommission beobachtete langwierige und ineffiziente Genehmigungsverfahren, einen teils starken W iderstand in der Bevölkerung und darüber hinaus auch teilweise die fehlende Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Stellen, sich auf europäische Infrastrukturprioritäten auszurichten. Die Finanzierungskapazitäten lagen zudem weit hinter dem erforderlichen Maß zurück. Dem Europäischen Rat sind diese Defizite inzwischen bewusst. Er befasst sich seit einigen Jahren verstärkt mit der Thematik. So stellte er etwa auf seiner Tagung vom 19. Februar 2009 heraus, dass Investitionshindernisse ermittelt und beseitigt werden müssen; dabei nahm er insbesondere auch die Straffung der Planungs- und Konsultationsverfahren in den Blick. Mit besonderer Dringlichkeit haben sich die Mitglieder des Europäischen Rats auf der Tagung vom 4. Februar 2011 darauf verständigt, auf dem Binnenmarkt für Energie auch infrastrukturelle Strukturen zu schaffen, die der in Art. 26 AEUV niedergelegten Idee eines offenen Raums ohne Binnengrenzen entsprechen. Nochmals stellte der Europäische Rat heraus, wie wichtig die Straffung und die Verbesserung der Genehmigungsverfahren seien. Noch immer sind einzelne Mitgliedstaaten an das europäische Gas- und Stromnetz nicht angekoppelt. Dies führt zur Abhängigkeit von Drittstaaten, vor allem aber dazu, dass sich die Effizienzen eines großen Marktes, auf dem Energie frei gehandelt werden kann, für die betroffenen Mitgliedstaaten nicht bemerkbar machen. Auf der genannten Tagung am 4. Februar 2011 hat der Europäische Rat dem W illen Ausdruck verliehen, bis zum Jahr 2015 für eine Anbindung aller Mitgliedstaaten zu sorgen. Aber auch zwischen jenen Mitgliedstaaten, die schon heute verbunden sind, müsse die Dichte der Vernetzung gesteigert werden. Die Bedeutung, die der Netzausbau zwischen Erzeugungszentren (W indenergie: die Küstenregionen; Solarenergie: Südeuropa) und den Verbrauchszentren erlangt hat, ist inzwischen in das allgemeine Bewusstsein gerückt. Allerdings räumte der Europäische Rat ein, dass unionale Maßnahmen nur unter Beachtung der grundsätzlichen nationalen Zuständigkeiten möglich seien. Auch die Kommission arbeitet schon seit Jahren darauf hin, einen Rechts- und Steuerungsrahmen zu erstellen, innerhalb dessen die notwendigen Energieinfrastrukturmaßnahmen vorangetrieben werden können. Ein wesentliches Element der von der Kommission entwickelten Strategie „Europa 2020“2 5 bildete in diesem Zusammenhang die Leitinitiative „Ressourcenschonendes Europa“.2 6 In dieser 25
Europäische Kommission, „Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“, KOM(2010) 2020 vom 3.3.2010. 26 KOM(2011) 21 endg.
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Leitinitiative entwickelte die Kommission Ansätze, mit denen der Ausbau der transeuropäischen Energienetze zu einem europäischen „Supernetz“ vorangetrieben werden soll. Dabei geht es nicht nur um die Modernisierung der Energieinfrastruktur Europas, sondern auch um die grenzüberschreitende Verknüpfung der bislang tendenziell insulär strukturierten nationalen Netze. Von erheblicher W ichtigkeit ist es zudem sicherzustellen, dass kein EU-Mitgliedstaat von den europäischen Gasund Stromnetzen abgekoppelt ist. Investitionsbedarf wird mit Blick darauf gesehen, dass die Energieversorgungssicherheit durch ein Nebeneinander von alternativen Verbindungen gesichert wird. Die Schaffung alternativer Versorgungs- bzw. Transitrouten und die Förderung komplementär nutzbarer Energiequellen werden daher als prioritäre Ziele verfolgt. Ein großes Gewicht hat in diesem Zusammenhang wiederum das (vorstehend schon erwähnte) Ziel, die errichteten Netze „intelligent“ zu machen. Allerdings fehlte es der EU-Politik (nach eigenem Eingeständnis der Kommission) an „Vision, Fokussierung und Flexibilität“, um den Netzausbau auf kontinentaler Ebene zu koordinieren und zu optimieren.2 7 Nicht zuletzt aufgrund der Einsicht in die Notwendigkeit eines Neuansatzes hat die Kommission – als Teil der schon erwähnten „Energiestrategie 2020“2 8 – ein „Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz“2 9 vorgelegt, in dem ihre Vorstellungen über die Planung, den Bau und den Betrieb von Energieinfrastrukturen skizziert werden und Entwicklungspfade bis 2020 beschrieben werden. Es ist eine deutliche Richtungsänderung zu erkennen: Sie konzentriert sich nunmehr auf die beiden großen Bereiche des Genehmigungsrechts und die Finanzierung von zentralen Schnittstellen.
III. Der Entwurf einer Verordnung zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur Den zentralen Baustein bei der Regelung des Genehmigungsverfahrens soll künftig eine Verordnung darstellen. Die Kommission hat am 19. Oktober 2011 einen Vorschlag für eine Verordnung zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur3 0 vorgelegt, in der das Genehmigungsverfahren für die Errichtung von Energieinfrastrukturen einer unionsrechtlichen Ordnung unterworfen werden
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Entwurf der Verordnung (Anm. 30), Erwägungsgrund 5. Europäische Kommission, Mitteilung KOM(2010) 639 vom 10.11.2010 „Energie 2020 – Eine Strategie für wettbewerbsfähige, nachhaltige und sichere Energie“. 29 Europäische Kommission, Mitteilung KOM(2010) 677 vom 17.11.2010 „Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach – ein Konzept für ein integriertes europäisches Energienetz“. 30 KOM(2011) 658 endgültig; vgl. auch die begleitende Folgenabschätzung SEK(2011) 1233. 28
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soll. Der Entwurf beruht auf Vorüberlegungen, die in einem Arbeitspapier einzelner Kommissionsdienststellen an den Rat „Telekommunikation, Verkehr, Energie“ am 10. Juni 2011 angestellt worden waren.3 1 In diesem Papier mutmaßte die Kommission, dass es bei ungefähr der Hälfte der für den Zeitraum bis 2020 benötigten Investitionen in Energieinfrastruktur deshalb zu Verzögerungen kommen könne, weil die Genehmigungserteilung zu langsam erfolge. Der nunmehr vorgelegte Entwurf versucht, hierauf zu reagieren. Der „Anwendungsbereich“ des Entwurfs ist grundsätzlich weit: Er erstreckt sich auf alle Bestandteile der „Energieinfrastruktur“. Darunter wird „jede materielle Ausrüstung [verstanden], die für die Stromübertragung und -verteilung oder die Gasfernleitung und -verteilung, für den Transport von Erdöl oder von CO 2 oder für die Speicherung von Strom oder Gas konzipiert ist und sich in der Union befindet oder die Union mit einem oder mehr als einem Drittland verbindet.“ (Art. 2 Abs. 1 des Entwurfs). In dem Verordnungsentwurf werden insgesamt 12 Infrastrukturprioritäten benannt, die aufgrund ihrer Bedeutung ein EU-Handeln besonders rechtfertigen. Diese Prioritäten umfassen verschiedene geografische Regionen oder thematische Gebiete im Bereich der Stromübertragungs-, Stromspeicher-, Gasfernleitungs-, Gasspeicher- und Flüssiggas- oder Druckgasinfrastruktur, der CO 2 -Transportinfrastruktur und der Erdölinfrastruktur. Nach Art. 1 Abs. 1, Anhang I des Entwurfs geht es insbesondere um transeuropäische „Energieinfrastrukturkorridore“ (z.B. Nordsee-Offshore-Stromnetz) und transeuropäische „Energieinfrastrukturgebiete“ (z.B. „intelligente Stromnetze“). Auffällig ist, dass der Vorschlag davon auszugehen scheint, dass die grundsätzliche politische Entscheidung für die Einführung von CO 2 -Speicherungs- und -transporttechniken bereits gefallen ist; dies ist jedenfalls in Deutschland nicht der Fall.
1. Die Erstellung einer Liste von Vorhaben von gemeinsamem Interesse Der Entwurf legt Regeln fest, durch die bestimmt wird, welche „Vorhaben von gemeinsamem Interesse“ für die Verwirklichung effizienter Bedingungen in den prioritären Korridoren und Gebieten notwendig sind. Der Entwurf sieht vor, dass die Entscheidung über den Ausweis eines Projekts als „Vorhaben von gemeinsamem Interesse“ bei der Kommission liegt. Sie soll die Liste zusammenstellen, um sicherzustellen, dass das Gemeinschaftsinteresse in jedem Einzelfall auch tatsächlich gegeben ist. Der Verordnungsgeber fürchtet, dass andernfalls auch Projekte benannt werden könnten, die keinen oder nur einen untergeordneten Beitrag zur Realisierung der vorrangigen strategischen Energieinfrastrukturkorridore und -gebiete leisten können. Die Kommission geht davon aus, dass die Zahl 31
„Energieinfrastruktur: Investitionsbedarf und -lücken“, SEK(2011) 755.
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solcher Vorhaben im Stromsektor bei etwa 100 und im Gassektor bei 50 liegt. Die Aufnahme in die Liste bedeutet nicht zugleich die Genehmigung des Vorhabens; die diesbezügliche Kompetenz liegt weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Die Liste wird alle zwei Jahre überprüft und gegebenenfalls aktualisiert. Die erste Liste wird spätestens bis zum 31. Juli 2013 verabschiedet. In „materiell-rechtlicher“ Hinsicht bestimmt der Entwurf, dass als Vorhaben von gemeinsamem Interesse nur Projekte angesehen werden können, die (a) für die Realisierung der in Anhang I des Entwurfs aufgeführten vorrangigen Energieinfrastrukturkorridore und -gebiete erforderlich, (b) wirtschaftlich, sozial und ökologisch tragfähig sind und (c) mindestens zwei Mitgliedstaaten betreffen. Der Entwurf sieht das letztgenannte Kriterium dann als erfüllt an, wenn das Vorhaben die Grenze eines Mitgliedstaates oder mehrerer Mitgliedstaaten direkt quert; es ist aber auch dann erfüllt, wenn sich das Vorhaben zwar im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befindet, zugleich aber erhebliche grenzüberschreitende Auswirkungen (Anhang IV Punkt 1) hat (Art. 4 Abs. 1 des Entwurfs). Darüber hinaus sieht der Entwurf für die vier großen Bereiche Stromübertragung und -speicherung, Gas, intelligente Stromnetze und Erdöltransport spezifische Kriterien vor. So wird etwa im Hinblick auf Stromübertragungs- und -speichervorhaben verlangt, dass sie mindestens in einem der nachfolgenden Bereiche eine erhebliche Förderung bewirken: Marktintegration, W ettbewerb und Netzflexibilität; Nachhaltigkeit, unter anderem durch die Übertragung von regenerativ erzeugtem Strom zu großen Verbrauchszentren und Speicheranlagen; Interoperabilität und sicherer Netzbetrieb. Funktional ähnliche Kriterien werden in dem Entwurf auch für die anderen Bereiche statuiert. „Prozedural“ strukturiert der Verordnungsentwurf den Vorlauf, der in eine Kommissionsentscheidung mündet, aufwendig durch. Es ist vorgesehen, dass für die prioritären Korridore und Gebiete jeweils eine „regionale Gruppe“ eingesetzt wird, die Vorschlagslisten für Vorhaben von gemeinsamem Interesse erstellen. Das Verfahren wird im Einzelnen geregelt (Anhang III Abschnitt 2). Als Bewertungsmaßstab dient der jeweilige Beitrag eines Vorhabens zur Realisierung der vorrangigen Energieinfrastrukturkorridore und -gebiete, zudem die Einhaltung der in Art. 4 festgelegten materiellen Kriterien. Die Mitgliedstaaten müssen die Aufnahme eines Vorschlags, der ihr Hoheitsgebiet betrifft, genehmigen. Der Vorschlag zur Aufnahme von Strom- und Gasvorhaben ist spätestens sechs Monate vor dem Datum für die Verabschiedung der unionsweiten Liste der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden zu übermitteln; diese gibt eine Stellungnahme ab. Vorschläge für Projekte im Bereich von Erdöl- und CO 2Transportvorhaben werden unmittelbar an die Kommission geleitet; hier unternimmt die Kommission eine Bewertung. Auf der Grundlage dieser Bewertungen soll es der Kommission möglich sein, die Liste zu erstellen. Den gelisteten Projek-
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ten ist im Rahmen regionaler Investitionspläne3 2 und nationaler Zehnjahresnetzentwicklungspläne,3 3 aber auch in anderen nationalen Infrastrukturplänen die höchstmögliche Priorität einzuräumen. Der Verordnungsentwurf spricht in seinem operativen Teil davon, dass es einer Straffung der Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfe (Art. 8 Abs. 4 des Entwurfs), ohne dass dies im Einzelnen ausgestaltet wird; diese Form der Normgebung erscheint eher ungewöhnlich. Der Verordnungsentwurf begnügt sich nicht damit, die Erstellung der Liste zu regeln. Er sieht ein teilweise auffallend technizistisches, weit in die Rechte eines Projektentwicklers eingreifendes Instrumentarium vor, um eine schnelle Realisierung zu erzwingen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht nur vorgesehen, dass Projektentwickler eines Vorhabens von gemeinsamem Interesse einen „Durchführungsplan“ zu erstellen haben, der einen Zeitplan für Machbarkeits- und Auslegungsstudien, die Genehmigung durch die Regulierungsbehörden, den Bau und die Inbetriebnahme sowie den Genehmigungsplan (Art. 11 Abs. 3 des Entwurfs) zu enthalten hat. Sie haben auch einen Jahresbericht zu erstellen, in dem der Fortschritt bei der Verwirklichung des Vorhabens dokumentiert wird. Einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Freiheiten des Projektentwicklers bewirkt Art. 5 Abs. 6 des Entwurfs. Diese Bestimmung sieht für den Fall einer mehr als zweijährigen, nicht hinreichend begründbaren Verzögerung der Inbetriebnahme eines Vorhabens zwei Möglichkeiten vor: Einerseits soll der Projektentwickler gezwungen werden können, Investitionen einer dritten Seite zu „akzeptieren“, also die wirtschaftliche Verfügung über das Projekt teilweise oder auch ganz zu verlieren. Der Verordnungsgeber sichert diesen Eingriff in unternehmerische Freiheiten dadurch ab, dass er den Netzbetreiber, in dessen Gebiet die Investition angesiedelt ist, dazu zwingt, dem realisierenden Betreiber oder Investor alle für die Realisierung der Investition erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, die neuen Anlagen mit dem Übertragungs-/Fernleitungsnetz zu verknüpfen und sich nach besten Kräften zu bemühen, die Realisierung der Investition sowie Sicherheit, Zuverlässigkeit und Effizienz beim Betrieb und bei der Instandhaltung des Vorhabens von gemeinsamem Interesse zu erleichtern. Andererseits soll es der Kommission möglich sein, eine Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen zu veröffentlichen, die jedem Projektentwickler offensteht, um das Vorhaben nach einem vereinbarten Zeitplan zu bauen. M it den grundrechtlich geschützten Freiheiten unternehmerischer Betätigung ist dies schwerlich zu vereinbaren. Schließlich sieht Art. 6 des Entwurfs die Einsetzung eines „europäischen Koordinators“ vor, wenn bei einem als „Vorhaben von gemeinsamem Interesse“ ausgewiesenen Projekt erhebliche Durchführungsschwierigkeiten auftreten. Ein32 33
Artikel 12 der Verordnungen (EG) Nr. 714/2009 und (EG) Nr. 715/2009. Artikel 22 der Richtlinien 72/2009/EG und 73/200/EG.
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setzungsberechtigt ist die Kommission. Eine Zustimmung der betroffenen Mitgliedstaaten ist bei der Einsetzung des Koordinators nicht vorgesehen; es ist kritisch zu fragen, ob der Verordnungsentwurf in diesem Punkt der Kommission nicht zu weitgehende Rechte einräumt, zumal der Koordinator auf die Mitwirkung der Mitgliedstaaten angewiesen ist. Es spricht insofern vieles dafür, in der Verordnung eine einvernehmliche Benennung vorzusehen. Der Koordinator wirkt für einen (zwei Mal verlängerbaren) Zeitraum von einem Jahr. Seine Funktion beschränkt sich nicht lediglich auf die „Koordination“ und die „Unterstützung“; er hat (dies ist eine schärfere Formulierung) „sicherzustellen“, dass die betroffenen Mitgliedstaaten dem Projekt bei der Vorbereitung und Durchführung „eine angemessene Unterstützung und strategische Leitung“ zukommen lassen. Der Verordnungsentwurf legt nicht selbst fest, welche Maßnahmen vom Begriff der Sicherstellung umfasst werden. Vielmehr sieht er vor, dass die Kommission in ihrem Beschluss zur Benennung des europäischen Koordinators „das Mandat mit Angabe der Mandatsdauer, die spezifischen Aufgaben und die entsprechenden Fristen sowie die einzuhaltende Methode“ festlegt (Art. 6 Abs. 4 des Entwurfs). Die Formulierung ist denkbar offen. Sie ließe sich dahingehend verstehen, dass auch W eisungs- oder Ingerenzrechte gegenüber den Mitgliedstaaten begründet werden können. Eine derartige Möglichkeit liegt schon deshalb auf der Hand, weil den Mitgliedstaaten in Art. 6 Abs. 5 des Entwurfs die Pflicht auferlegt wird, mit dem europäischen Koordinator bei der W ahrnehmung der Aufgaben zusammenzuarbeiten. Gewiss ließe sich argumentieren, dass für die Entscheidung der Kommission, einem Koordinator auch W eisungsbefugnisse einzuräumen, schon aus Gründen der Normenklarheit und der Rechtsstaatlichkeit hinreichend deutliche Anhaltspunkte im Verordnungstext vorhanden sein müssten. Aus dieser Perspektive ließe es die vage Formulierung des Art. 6 Abs. 4 des Entwurfs nicht zu, den Koordinator mit entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Allerdings steht und fällt diese Argumentation mit der Plausibilität und Konsensfähigkeit der zugrunde gelegten Bestimmtheitsanforderungen. Bekanntlich sind die Institutionen der europäischen Gerichtsbarkeit hier eher zurückhaltend. W ürde sich die Kommission in der Tat dazu entschließen, einem Koordinator mehr als weiche Steuerungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle rechtlicher Verbindlichkeit einzuräumen, würde dies wohl von der europäischen Gerichtsbarkeit hingenommen. Die grundsätzliche Entscheidungszuständigkeit der Mitgliedstaaten darf allerdings nicht angetastet werden; der Koordinator darf das Verfahren nicht einfach an sich ziehen. Es ist bislang nicht abzusehen, welche Effektivität das im Verordnungsentwurf vorgesehene Kontroll- und Aufsichtsinstrumentarium haben würde. Immerhin sichert es erhebliche Transparenz; die Kommission wäre kontinuierlich und umfassend über den Planungs- und Realisierungsverlauf der als prioritär einge-
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stuften Vorhaben informiert. Der Entwurf ermöglicht es, Schwierigkeiten frühzeitig zu erkennen, moderierend oder unterstützend einzugreifen und so einer Situation entgegenzuwirken, wie sie heute kennzeichnend ist: Häufig fehlt der Kommission nicht nur das W issen um die Gründe, die hinter der Verzögerung eines Projekts stehen. Sie hat auch keine Möglichkeiten, zielgerichtet einzugreifen. Vieles wird davon abhängen, wie die Kommission die nach Art. 6 Abs. 5 des Entwurfs notwendige Aufgabenumschreibung eines Koordinators vornehmen wird.
2. Die Genehmigung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse Die aus rechtswissenschaftlicher Sicht größte Bedeutung haben die Bestimmungen des Entwurfs, die darauf abzielen, die Genehmigungserteilung bei Vorhaben von gemeinsamem Interesse zu beschleunigen und die diesbezügliche Beteiligung der Öffentlichkeit zu regeln. In den bisherigen TEN-E-Leitlinien finden sich keine Regelungen über das Genehmigungsverfahren; die dort zu beobachtenden Schwierigkeiten und Verkrustungen unterlaufen nicht selten die Förderungsbemühungen der Kommission. Das ambitionierte Ziel des Verordnungsgebers ist es nach dem nunmehr vorgelegten Entwurf, das Genehmigungsverfahren in insgesamt höchstens drei Jahren (Art. 11 Abs. 1 des Entwurfs) zu einem Ergebnis kommen zu lassen. Der Entwurf gliedert diesen Zeitraum in zwei Phasen: In einem Vorantragsverfahren (Phase 1) sollen die Grundlagen geschaffen werden, um das formale Genehmigungsverfahren (Phase 2) effizient und zielgerichtet durchführen zu können. Der Entwurf sieht für Phase 1 einen Zeitraum von zwei Jahren, für Phase 2 einen Zeitraum von höchstens einem Jahr vor. Der Entwurf enthält keine umfassende Festlegung, welche Folgen eine Überschreitung dieser Fristen hat. In Art. 11 Abs. 6 des Entwurfs ist lediglich vorgesehen, dass die zuständige Behörde die zuständige regionale Gruppe (Art. 3 Abs. 1 des Entwurfs) darüber unterrichtet, welche Maßnahmen getroffen wurden oder zu treffen sind, damit das Genehmigungsverfahren mit der geringstmöglichen Verzögerung zum Abschluss gebracht wird. Die Entscheidungszuständigkeit der nationalen Behörde wird dadurch nicht berührt; die regionale Gruppe kann der zuständigen Behörde keine W eisungen erteilen. Gegenüber den Vorstellungen, die die Kommission in der „Energiestrategie 2020“ 34 thematisiert hatte, fällt der Entwurf zurück: Dort hatte die Kommission die Frage angesprochen, ob nicht die nationale Behörde bei Fristüberschreitung (die Kommission sah damals noch eine Frist von maximal fünf Jahren vor) „spezielle Befugnisse“ für eine endgültige Entscheidung haben solle. Diese Überlegungen werden im Entwurf nicht mehr angesprochen. 34
Europäische Kommission, Mitteilung KOM(2010) 639 vom 10.11.2010 „Energie 2020 – Eine Strategie für wettbewerbsfähige, nachhaltige und sichere Energie“.
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Insofern steht auch außer Frage, dass die – unmittelbar anwendbaren und vorrangig geltenden – Bestimmungen der Verordnung nicht zum Fortfall der Genehmigungsbedürftigkeit führen würden. Ebenso wenig kommen besondere Befugnisse zum Einsatz. Mit anderen Worten: Die Genehmigungsbehörde hat auch im Falle einer Fristüberschneidung kein besonderes Schwert, mit dem sie den „gordischen Knoten“ durchschlagen könnte. Derartige Sonderbefugnisse wären weder mit dem Sinn und Zweck der Verordnung noch mit der Struktur des Verhältnisses von EU und Mitgliedstaaten vereinbar. Unklar ist demgegenüber, inwieweit es sich bei den Verfahrensvorgaben der Verordnung um Regelungen handelt, die drittschützender Natur sind. W ürde die mitgliedstaatliche Verwaltung sie nicht einhalten, könnte dies – bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen – eine Amtspflichtverletzung darstellen und die Entstehung von Schadensersatzansprüchen zur Folge haben. Auch wenn im Verordnungstext diesbezüglich keine ausdrücklichen Festlegungen getroffen werden, spricht vieles für die Annahme, dass die vom Normgeber fixierten Vorgaben nicht nur dem EU-Interesse an einer zügigen Realisierung prioritäter Vorhaben dienen. Sie sollen auch Projektträgern, die ihrerseits erheblichen Aufwand betreiben müssen, um die in dem Entwurf begründeten Pflichten zu erfüllen, Schutz und Rechtssicherheit verleihen. Es geht darum, dass sie sich in einem Planungsumfeld bewegen, auf dessen rechtliche Struktur sie sich verlassen können. Dies spricht dafür, dass eine Überschreitung der in dem Verordnungsentwurf enthaltenen Vorgaben nicht nur objektiv rechtswidrig ist, sondern auch subjektive Rechtspositionen verletzt. Eine abschließende Klärung dieser Frage kann an dieser Stelle aus Platzgründen aber nicht geleistet werden. Es ist ein besonderes Kennzeichen des Verordnungsentwurfs, dass das Genehmigungsverfahren nicht nur schnell, sondern auch effizient durchgeführt werden soll. Der Entwurf sieht daher vor, dass Vorhaben von gemeinsamem Interesse innerhalb der nationalen Genehmigungsverfahren den jeweils höchstmöglichen Status (Art. 8 Abs. 1 des Entwurfs) erhalten. Es bleibt aber unklar, welche materiell-rechtlichen Folgen sich damit verbinden. Einerseits sollen die so ausgewiesenen Vorhaben – qua Normgebung – wasser- und FFH-rechtlich im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen; andererseits sollen die Bestimmungen des W asser- und FFHRechts weiterhin zur Anwendung kommen. Eine saubere materiell-rechtliche Abstimmung steht insofern noch aus. Hinzu kommt ein W eiteres: Der Verordnungsentwurf schenkt der Frage, ob dies nicht zu einer übermäßigen Begünstigung von Investitionen in Übertragungsnetze gegenüber der Förderung des Ausbaus von Verteilungsnetzen führen wird, keine Aufmerksamkeit. Die Bestimmungen sollten so verstanden werden, dass sie in diesem Spannungsfeld keine allgemeine W ertung zugunsten des Ausbaus von Verteilungsnetzen vornehmen wollen. Zudem werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine Behörde für die Koordinierung des Verfahrens zur Genehmigung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse
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zu benennen (Art. 9 Abs. 1 des Entwurfs). Diese Behörde muss mit der Kompetenz ausgestattet werden, eine „umfassende Entscheidung“ zu erlassen. Dabei eröffnet der Entwurf den Mitgliedstaaten zwei Gestaltungsoptionen. Einerseits können sie vorsehen, dass die Genehmigungszuständigkeit konzentriert wird: W ählt ein Mitgliedstaat die sog. „integrierte Regelung“, dann ergeht nur eine einzige – und umfassend verbindliche – Entscheidung (Art. 9 Abs. 2 lit. a) des Entwurfs): Nur die zuständige Behörde tritt nach außen als entscheidende Institution auf. Koordinationsprozesse erfolgen im Innenbereich. Andere Behörden können Stellungnahmen abgeben. Der Mitgliedstaat kann aber auch das Verfahren der „koordinierten Regelung“ wählen (Art. 9 Abs. 2 lit. b) des Entwurfs): In diesem Fall setzt sich die umfassende Entscheidung aus mehreren rechtsverbindlichen Einzelentscheidungen der zuständigen Behörde und anderer Behörden zusammen; im Außenverhältnis erfolgt keine Konzentration. Die Gesamtverantwortung der koordinierenden Behörde wird dadurch allerdings nicht durchbrochen. Sehr weitgehende – und letztlich weder rechtlich noch sachlich zu rechtfertigende – Befugnisse sieht der Entwurf für den Fall vor, dass es zu nicht hinreichend begründeten Verzögerungen in einem der Teilverfahren kommt. Die zuständige Behörde soll in diesem Fall eine Einzelentscheidung für eine andere nationale Behörde erlassen können; zudem soll die zuständige Behörde die Einzelentscheidung einer anderen nationalen Behörde aufheben können, wenn sie der Ansicht ist, dass die Entscheidung hinsichtlich der von der betroffenen Behörde zugrunde gelegten Erkenntnisse nicht hinreichend begründet ist. Für diese Eingriffe in die Organisationsgewalt der Mitgliedstaaten gibt es keine legislative Rechtfertigung; es wären unsachgemäße und gerichtlich anzugreifende Ergebnisse zu befürchten, wenn eine Behörde (außerhalb ihrer Sachkunde) allein aufgrund einer Verzögerung die Kompetenzen einer anderen Behörde übernehmen könnte. In Deutschland wären auch Friktionen mit der föderalen Ordnung zu befürchten. Um die Grundlagen für ein zügiges Verfahren zu legen, strukturiert der Verordnungsentwurf das Vorantragsverfahren in erheblichem Umfang durch. Insbesondere wird der Versuch unternommen, durch eine frühzeitige Erarbeitung von Alternativen und die Konsultation der Öffentlichkeit W iderstände von vorne herein zu vermeiden.3 5 Der Verordnungsentwurf sieht daher vor, dass die „betroffenen Kreise“ frühzeitig über das Vorhaben informiert werden müssen. Schon vor Einreichung der Antragsunterlagen ist von Seiten des Projektentwicklers oder der zuständigen Behörde eine Konsultation der Öffentlichkeit durchzuführen (Art. 10 Abs. 4, Anhang VI des Entwurfs). W ird ein Vorhaben die Grenze von zwei oder mehr M itgliedstaaten überqueren, so finden die Konsultationen der Öffentlichkeit 35
Zu möglichen Formen A. Bischoff/K. Selle/H. Sinning, Informieren, Beteiligen, Kooperieren, 2. Aufl. 2005.
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in jedem der betroffenen Mitgliedstaaten innerhalb von maximal zwei Monaten nach dem Beginn der ersten Konsultation der Öffentlichkeit in einem dieser Mitgliedstaaten statt. Nach Beginn des Genehmigungsverfahrens (Art. 11 Abs. 1 a) des Entwurfs) ist innerhalb eines Monats von Seiten der zuständigen Behörde festzulegen, welche Inhalte die Antragsunterlagen für die Beantragung der umfassenden Genehmigung aufweisen müssen. Der Entwurf verlangt in diesem Zusammenhang, dass der „Umfang des Materials“ und der „Detailgrad der Informationen“ festzulegen sind, die vom Projektentwickler als Teil der Antragsunterlagen einzureichen sind. Ein detaillierter Plan für den Ablauf des Genehmigungsverfahrens ist von der zuständigen Behörde – in Zusammenarbeit mit dem Projektentwickler – innerhalb von drei Monaten nach dem Beginn des Genehmigungsverfahrens auszuarbeiten. Zudem müssen die Projektentwickler der zuständigen Behörde spätestens drei Monate nach Beginn des Genehmigungsverfahrens ein Konzept für die Öffentlichkeitsbeteiligung vorlegen (Art. 10 Abs. 3 des Entwurfs). Eine kontinuierliche Unterrichtung der Öffentlichkeit ist dadurch gewährleistet, dass Projektentwickler oder nationale Behörden eine Projektwebsite einrichten und pflegen müssen, auf der sich die wesentlichen Informationen über das Vorhaben finden.3 6 Die Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen muss in diesem Zusammenhang gewahrt werden.
3. Kostenteilung bei grenzüberschreitenden Projekten und Anreizstrukturen Einen dritten Regelungsgegenstand des Entwurfs bilden Regeln für die grenzüberschreitende Kostenaufteilung und für risikobezogene Anreize. Der Verordnungsentwurf sieht in diesem Zusammenhang zunächst vor, dass eine Methode für die Erstellung einer „harmonisierten, energiesystemweiten Kosten-Nutzen-Analyse“ für Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Strom- und im Gassektor entwickelt wird (Art. 12 Abs. 1–5, Anhang V des Entwurfs). Diese Aufgabe soll gemeinsam von den Europäischen Verbünden der Betreiber für Stromübertragungsnetze (ENTSO-E) und Gasfernleitungsnetze (ENTSO-G), der EU-Energieagentur ACER und der Kommission erledigt werden. Der Verordnungsgeber versucht, auf diesem W eg tragfähige Daten für die Kosten-Nutzen-Analysen im Rahmen von Zehnjahresnetzentwicklungsplänen für Strom oder Gas zu gewinnen (Art. 12 Abs. 7 des Entwurfs). Die anfallenden Investitionskosten für Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Strom- und Gassektor sind nach Art. 13 Abs. 1 des Entwurfs von den Netzbetreibern der Mitgliedstaaten zu tragen, für die das Vorhaben positive Auswirkungen hat; die mitgliedstaatlichen Regulierungsbehörden 36
Allgemein A. Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000.
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haben sicherzustellen, dass eine W eiterreichung der Investitionskosten über die Netzzugangsentgelte möglich ist. Eine gemeinsame Entscheidung der betroffenen nationalen Regulierungsbehörden ist in Fällen erforderlich, in denen es um die grenzüberschreitende Aufteilung der Investitionskosten von Netzbetreibern für ein Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Strom- und im Gassektor geht. Dabei werden die Nutzeffekte des Vorhabens in den betroffenen Mitgliedstaaten und die notwendige finanzielle Unterstützung berücksichtigt (Art. 13 Abs. 5 des Entwurfs). Der Verordnungsentwurf sieht vor, dass die nationalen Regulierungsbehörden angemessene Anreize schaffen, um die Durchführung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse zu fördern, die mit größeren Risiken verbunden sind (Art. 14 des Entwurfs).
4. Subventionsgewährung Schließlich sieht der Entwurf Bestimmungen über die Subventionierung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse durch die EU vor. Am 29. Juni 2011 verabschiedete die Kommission die Mitteilung „Ein Haushalt für Europa 2020“ zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (2014–2020). In ihr wird die Schaffung einer Fazilität „Connecting Europe“ vorgeschlagen, um die Fertigstellung vorrangiger Energie-, Verkehrs- und IKT-Infrastrukturen mit Hilfe eines mit 40 Mrd. Euro ausgestatteten Fonds zu fördern, der 9,1 Mrd. Euro für den Energiesektor vorsieht.37 Der hier analysierte Verordnungsentwurf sieht in diesem Zusammenhang vor, dass Vorhaben von gemeinsamem Interesse auf dem Gebiet von Strom, Gas und CO 2Transport eine finanzielle Unterstützung in Form von Finanzhilfen für Studien und von Finanzierungsinstrumenten erhalten können. Dies geht über die bisherigen TEN-E-Leitlinien hinaus, die sich allein auf den Bereich von Strom und Gas konzentrierten. Im Bereich des Strom- und Gastransports ist auch eine finanzielle Unterstützung der EU in Form von Finanzhilfen für die Ausführung denkbar, wenn einschränkende Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss die vorhabenspezifische Kosten-Nutzen-Analyse Erkenntnisse dafür liefern, dass erhebliche positive externe Effekte wie Versorgungssicherheit, Solidarität oder Innovation zu erwarten sind; zweitens muss sich das Vorhaben nach dem Geschäftsplan und anderen, insbesondere von potenziellen Investoren oder Gläubigern durchgeführten Bewertungen als kommerziell nicht tragfähig darstellen; drittens schließlich müssen bei grenzüberschreitenden Projekten eine Entscheidung über die Kostenaufteilung bzw. bei bestimmten anderen Projekten eine Stellungnahme der zuständigen nationalen Regulierungsbehörden und der Agentur zur kommerziellen Tragfähigkeit des Vorhabens vorliegen. Man fragt sich allerdings, ob auf diese W eise 37
KOM(2011) 665, 7.
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wirklich hinreichende Vorkehrungen gegen die Förderung unwirtschaftlicher Vorhaben getroffen wurden; auch Mitnahmeeffekte bei kommerziell profitablen Vorhaben lassen sich nicht ausschließen. Kritisch anzumerken ist auch, dass es nicht den Anschein hat, als ob die neuen Finanzierungsinstrumente mit bestehenden abgeglichen worden oder die Notwendigkeit der Fortführung alter Instrumente geprüft worden wären.3 8 Es lässt sich insofern nicht ausschließen, dass es zu schädlichen Dopplungen kommen wird. Grundsätzlich ist die Entscheidung, die Kosten für den Netzausbau nicht über Steuergelder und (jedenfalls grundsätzlich) nicht über EU-Subventionen zu schultern, sondern den Netznutzern zuzuweisen, zu begrüßen: Sie wird nicht nur das Kostenbewusstsein stärken und die Frage in den Vordergrund rücken, inwieweit sich Vorhaben wirklich für die Netznutzer auch rentieren. Der Ansatz reduziert auch das Risiko, dass Mitgliedstaaten falsch ausgelegte oder überflüssige Projekte nur deshalb anstoßen, weil sie eine EU-Förderung erhalten. Richtig ist es, in diesem Zusammenhang Anreizmechanismen vorzusehen, über die den potentiellen Projektträgern eine langfristige Perspektive auf Rentabilität ermöglicht wird. Leider lässt der Verordnungsentwurf nicht hinreichend erkennen, dass die Kosten, die durch den vermehrten Einsatz einer Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien entstehen, vorzugswürdig diesen Erzeugern angelastet werden sollten. Nur so ist sichergestellt, dass die tatsächlichen Kosten dieser Form der Energieerzeugung erkennbar und politisch bewertbar sind. Leider scheint der Politik die Bereitschaft und der Mut zu fehlen, hier für Transparenz und Zurechnungsfairness zu sorgen.
D. Bewertung Der Versuch des europäischen Gesetzgebers, die europäische Energieinfrastrukturpolitik neu zu konzipieren, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Die weitreichenden Ziele, die im Bereich der Marktöffnung und -integration, darüber hinaus aber auch bei der Vorbereitung der Infrastruktur auf die Herausforderungen einer klimafreundlicheren Erzeugung gesteckt wurden, setzen ein deutlich zielgerichteteres Vorgehen voraus, als dies gegenwärtig zu beobachten ist. Die deutlich präzisere Evaluierung von Vorhaben führt dazu, dass der Netzausbau in kohärenter und aufeinander abgestimmter W eise erfolgt. Bislang hat sich die EU-Politik viel zu häufig auf Maßnahmen konzentriert, die aus nationaler Perspektive sinnvoll waren, denen aber der Gesamtnutzen für den Binnenmarkt fehlte. Nur wenn dieser vorhanden ist, lässt sich vermeiden, dass sich die EU-Politik in unübersichtlichen 38
Zum gegenwärtigen Bestand H. Lecheler, Art. 171 AEUV in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Anm. 18), Rn. 32 ff.
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und unsystematischen Einzelprojekten verzettelt und aufreibt. Die nunmehr gewählte Denomination der „Vorhaben von europäischem Interesse“ macht diesen Neuansatz deutlich; die Konzentration auf Vorhaben mit grenzüberschreitendem Bezug (Art. 4 Abs. 1 lit. c) des Entwurfs) stellt das Ziel der Vernetzung in den Vordergrund. Hier spielt die Notwendigkeit der Entstehung eines gesamteuropäischen Denkens eine wichtige Rolle.
I. Kompetenzfragen Die Kommission beansprucht, den Entwurf auf Art. 172 AEUV stützen zu können.3 9 In der Begründung des Entwurfs wird allerdings lediglich der W ortlaut von Art. 171 Abs. 1 und Art. 172 AEUV wiederholt. Die Lektüre dieses W ortlauts weckt Zweifel, ob es der EU möglich ist, auf der Rechtsgrundlage dieser beiden Bestimmungen zum Handlungsinstrument der Verordnung zu greifen. Man ist sich einig, dass Titel XVI keine Kompetenz für eine eigenständige und selbstständige Infrastrukturpolitik der EU eröffnet.4 0 Vielmehr geht es um die begleitende und akzessorische Steuerung mitgliedstaatlicher Politik. In Art. 172 i.V.m. Art. 171 Abs. 1 Spr. 1 AEUV wird der Gebrauch von „Leitlinien“4 1 (engl. „guidelines“, frz. „ensemble d’orientations“) vorgesehen. Über die Rechtsnatur dieser Handlungsform bestand und besteht Unsicherheit. M an kann sie als eigenständige Rechtsform neben den in Art. 288 AEUV geregelten Typen ansehen; ihre Rechtsverbindlichkeit lässt sich nicht ernsthaft in Zweifel ziehen.42 Denkbar ist es aber auch, als Leitlinie eine (besondere) Form einer der in Art. 288 AEUV angeführten Handlungstypen anzusehen. Es ginge dann nicht um ein Aliud zu den in Art. 288 AEUV genannten Akten; vielmehr wären Leitlinien nur eine Untergruppe. Dieser Sichtweise zufolge lag in der Schaffung einer Leitlinie unter dem EGV substanziell der Erlass einer Entscheidung. Nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags bedürfte es nunmehr der W ahl der Handlungsform des Be-
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Man wird davon ausgehen müssen, dass Art. 170–172 AEUV als Spezialnormen Vorrang vor Art. 194 AEUV haben, siehe M. Ronellenfitsch, in: W. Blümel/H.-J. Kühlwetter/ R. Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts IV, 2000, 111, 119; V. van Vormizeele, Art. 154 EGV, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Rn. 19; Lecheler (Anm. 18), Rn. 29 m.w.N. 40 von Burchard (Anm. 19), 77. 41 Zum Begriff: H. Lecheler, Ungereimtheiten bei den Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts – dargestellt anhand der Einordnung von „Leitlinien“, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 2008, 873; E. Bogs, Die Planung transeuropäischer Verkehrsnetze, 2002, 141 ff. 42 Lecheler (Anm. 38), Rn. 2 ff. m.w.N.; V. van Vormizeele, Art. 155 EGV, in: Schwarze, EU-Kommentar (Anm. 39), Rn. 6.
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schlusses. Das wesentliche Argument für die Annahme, dass Leitlinien in einer der in Art. 288 AEUV genannten Handlungsformen ergehen müssen, findet sich in Art. 172 AEUV: Dort ist vorgesehen, dass Leitlinien im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Art. 289 Abs. 1 Satz 1 AEUV formuliert eindeutig, dass dieses Verfahren „in der gemeinsamen Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses“ bestehe. Diese Formulierung lässt es nicht zu, weitere Akte im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erlassen; die Verfahrensvorschriften sind insofern nicht disponibel.43 Auch die Kommissionspraxis deutet darauf hin, dass eine Sichtweise vorzugswürdig ist, derzufolge Leitlinien nicht eine eigenständige Handlungsform darstellen, sondern als Untergruppe einer der in Art. 288 AEUV genannten Typen anzusehen sind. W er sich dieser Sichtweise anschließt, muss sich der Frage stellen, ob bei der Schaffung einer Leitlinie neben der Handlungsform des Beschlusses nicht auch andere Instrumente gewählt werden können. Die Definition des Begriffs der Leitlinie in Art. 171 Abs. 1 AEUV macht deutlich, dass die unmittelbar geltende, gesetzesgleich wirkende Verordnung grundsätzlich als Instrument zur Schaffung von Leitlinien in Betracht kommt. Immerhin spricht der Vertragstext nicht nur davon, dass es um die Formulierung von Zielen und Prioritäten gehen soll. In der (sprachlich schlechten) Formulierung des Vertrags sollen auch Grundzüge erfasst werden.4 4 Man wird nicht von vornherein ausschließen können, dass die Erfassung von Grundzügen auch in Form einer Verordnung erfolgen kann. Es liegt in diesem Zusammenhang nahe, geltend zu machen, dass der im Verordnungsentwurf vorgesehene Grad an Konkretheit und Detailliertheit über das hinausgeht, was noch als „Grundzügeregelung“ angesehen werden kann. Die Dogmatik des Unionsrechts kennt allerdings keine gefestigten Regeln, wo die diesbezüglichen Grenzen des Begriffs „Grundzüge“ liegen; es steht auch nicht zu erwarten, dass sich die Europäische Gerichtsbarkeit hier um die Entwicklung einschränkender Vorgaben bemühen wird. Auch wenn es daher semantisch eher fern liegt, die unmittelbare Steuerung konkreter Planungsprozesse als Erfassung von Grundzügen anzusehen, wird von Unionsrechts wegen ein Rekurs auf Art. 171 Abs. 1, 1. Spiegelstrich AEUV nicht auszuschließen sein.
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Anders P. Schäfer/M. Schröder, Art. 171 AEUV, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Rn. 4. 44 Zu diesem Begriff: Lecheler (Anm. 38), Rn. 4; Schäfer/Schröder (Anm. 43), Rn. 4 ff.; J. Erdmenger, Art. 155 EGV, in: H. von der Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), EUV/ EGV, 6. Aufl. 2003, Rn. 11.
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Denkbar wäre es ferner, den Erlass einer Verordnung als „Aktion“ im Sinne von Art. 171 Abs. 1, 2. Spiegelstrich AEUV zu interpretieren. Dort ist nur unbestimmt davon die Rede, dass Aktionen der Gewährleistung der Interoperabilität der Netze, insbesondere im Bereich der Harmonisierung der technischen Normen, dienen müssen. Die beispielhafte Formulierung im letzten Halbsatz ist nicht abschließend; es erscheint rechtlich nicht ausgeschlossen, unter den untechnischen Begriff der „Aktion“ auch den Erlass einer Verordnung zu subsumieren, die – wie der nunmehr vorgelegte Entwurf – mit weitgehenden und unmittelbar anwendbaren Bestimmungen darauf abzielt, Netze zu verknüpfen und deren Funktionalität zu erhöhen.4 5
II. W ahl der Handlungsform Verordnung Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, ob nicht die von der Kommission verfolgte Regelungsabsicht besser durch Erlass einer Richtlinie verfolgt werden sollte. Hierfür spricht nicht nur der Gedanke, dass sich so die normgeberischen Befugnisse der für die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens zuständigen mitgliedstaatlichen Institutionen schützen lassen. Für die W ahl einer Richtlinie lässt sich auch anführen, dass es keinesfalls um eine umfängliche, das mitgliedstaatliche Recht ersetzende Regelung des Genehmigungsverfahrens von Infrastrukturprojekten geht. Die mitgliedstaatlichen Regelungen sollen ergänzt und aufeinander abgestimmt, nicht aber ersetzt werden. Dies ist das typische Anwendungsfeld einer Richtlinie. Allerdings ist zugleich auch erkennbar, dass sich die Zielsetzungen des gegenwärtig vorliegenden Entwurfs mit der Handlungsform der Richtlinie nicht ohne weiteres verwirklichen lassen. Es geht eben nicht nur um die Koordination und Harmonisierung nationaler Verfahren. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Rechte der Kommission (z.B. die Befugnis, eine Liste zu beschließen, oder das Recht, einen Koordinator einsetzen zu können). Man wird insofern davon ausgehen müssen, dass der EU-Normgeber seinen vertraglich eröffneten Spielraum bei der Entscheidung über die W ahl der Handlungsform nicht überschreiten würde, wenn er sich für die Verwendung einer Verordnung entschiede. Es erscheint als gänzlich ausgeschlossen, dass sich die Institutionen der Europäischen Gerichtsbarkeit an dieser Entscheidung stören würden; die inzwischen sprichwörtlich bekannte Bereitschaft, beinahe jede Dehnung (oder auch: Überdehnung) von Kompetenznormen hinzunehmen, würde auch hier wieder um Tragen kommen. Es muss an dieser Stelle deutlich hervorgehoben werden, dass es den im Normgebungsverfahren politisch entscheidenden Institu-
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Nicht in Betracht kommt Art. 171 Abs. 1, 3. Spiegelstrich AEUV.
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tionen obliegt zu entscheiden, ob sie sich eher für ein enges Kompetenzverständnis oder für die Vorteile einer effektiven EU-Energieinfrastrukturpolitik entscheiden wollen. Im Lichte der „Honeywell“-Entscheidung des BVerfG 46 könnte man aus deutscher Sicht jedenfalls nicht davon ausgehen, dass es sich um einen Ultra-viresAkt handelte. W eder liegt eine evidente Überschreitung der kompetenziellen Grenzen vor, noch würde die Verordnung zu einer strukturellen Verschiebung führen. Unter Subsidiaritätsgesichtspunkten ist gegen die Inhalte der Verordnung kein Einwand zu erheben; es geht bei der Verknüpfung der bislang vorwiegend national strukturierten Netze offensichtlich um eine Aufgabe, die von der EU jedenfalls gesteuert werden sollte.
III. Genehmigungsverfahren Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die rechtliche Hauptbedeutung der Verordnung im Bereich des Genehmigungsrechts liegt. Die Bestimmungen der Verordnung würden sowohl materiell als auch prozedural tief in das mitgliedstaatliche Genehmigungsrecht eingreifen. Ihr Inkrafttreten würde das Verfahren der Genehmigung energieinfrastruktureller Vorhaben erheblich verändern. Anpassungsbedarf würde insbesondere im Bereich der Raumordnungsverordnung, des Energiewirtschaftsgesetzes, des Gesetzes zum Ausbau von Energieleitungen sowie des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes (Übertragungsnetz) entstehen. Die in Deutschland in den letzten Jahren unternommenen Bemühungen um eine Reform des Genehmigungsrechts wären jedenfalls teilweise hinfällig und überholt. Dies allein ist allerdings noch kein Argument, eine gesamteuropäische Lösung zu suchen. Ebenso wenig würde die Sorge der Länder, bei der Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Verfahrenszuständigkeiten (Art. 30 GG) Spielraum zu verlieren, per se einen Einwand darstellen. Man kann nicht einerseits eine Effektivierung des Planungs- und Realisierungsprozesses von Infrastrukturvorhaben fordern und andererseits auf dem Schutz nationaler Partikularitäten, Besonderheiten und Eigenständigkeiten bestehen. Ohne Einschränkung zustimmungsbedürftig sind die Pläne, eine Anlaufstation für Investoren vorzusehen und so eine Zerfaserung des Genehmigungsverfahrens zu verhindern. Man wird sehen müssen, ob die optimistischen Zeitvorgaben wirklich im Gesetzgebungsverfahren beibehalten werden. Das Ziel eines möglichst schnellen Genehmigungsverfahrens für Energieinfrastrukturprojekte ist sicherlich zu begrüßen; der Aufwand einer sachgerechten Ermittlung von Gestaltungsoptionen und deren Bewertung ist allerdings so hoch, dass der gesetzte Zeitrahmen von insgesamt drei Jahren jedenfalls bei manchen Projekten möglicherweise zu qualitativ suboptimalen Ergebnissen führen wird. 46
Abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift 2010, 3422.
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Auch wenn sich der Prozess der Erstellung der Liste prioritärer Vorhaben deutlich von jenem Verfahren unterscheidet, das die FFH-Richtlinie bei der Erstellung des Gebiets Natura 2000 vorsieht, sollten doch gewisse Strukturübereinstimmungen im Blick behalten werden. Im Streitfall ist jedenfalls zu prüfen, ob sich ein Rückgriff auf die zum FFH-Recht ergangene EuGH-Rechtsprechung anbietet. Mit großer Anschaulichkeit würden bei der Infrastrukturrealisierung Strukturen einer Verbundverwaltung entstehen, wie sie inzwischen schon in vielen anderen Bereichen des föderativen Verbunds von EU und Mitgliedstaaten existieren. Die neuerdings verstärkte verwaltungsrechtswissenschaftliche Aufarbeitung bekäme ein neues Referenzfeld.
IV. Öffentlichkeitsbeteiligung Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Rolle, die die Entwurfsverfasser der Öffentlichkeit beimessen.4 7 Der damit erforderliche Netzausbau wird nicht gelingen, wenn nicht die Genehmigungsverfahren in den Mitgliedstaaten zugleich effizient und legitimationsstiftend sind.4 8 Die Erteilung von Genehmigungen und die grenzübergreifende Zusammenarbeit müssen nicht nur transparent gestaltet werden, um die öffentliche Akzeptanz zu erhöhen und die Durchführung zu beschleunigen; es ist auch erforderlich, den interessierten Bürgern deutlich zu machen, dass zum Zeitpunkt ihrer Beteiligung nicht bereits die wesentlichen Entscheidungen getroffen worden sind und die Beteiligung nur noch Feigenblatt-Funktion hat. Es muss in einem frühen Verfahrensstadium darum gehen, Verteilungskonflikte (etwa beim Streit über unterschiedliche Trassenverläufe oder bei der Ansiedelung von Vorhaben mit überregionaler Bedeutung) frühzeitig darzustellen und die Egoismen, die gelegentlich hinter Einwänden stehen, herauszuarbeiten. Gerade im Energieinfrastrukturbereich ist leider nur zu häufig zu beobachten, dass die Vorzüge einer effizienten und verlässlichen Versorgung zwar geschätzt werden, zugleich aber die damit verbundenen Lasten doch gerne dem (entfernteren) Nachbarn zugemutet werden sollen.4 9 Ohne die Einbin-
47 Allgemein etwa A. Guckelberger, Formen von Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsbeteiligung im Umweltverwaltungsrecht, Verwaltungsarchiv 2012 (im Erscheinen); B. Müller, Die Öffentlichkeitsbeteiligung im Recht der Europäischen Union und ihre Einwirkungen auf das deutsche Verwaltungsrecht am Beispiel des Immissionsschutzrechts, 2010, 24 ff. 48 A. Schink, Öffentlichkeitsbeteiligung – Beschleunigung – Akzeptanz, DVBl. 2011, 1377. 49 Besonders greifbar ist dies in Fällen, in denen zwar die grundsätzliche Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien politisch gewünscht wird, die hierzu
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dung der betroffenen Bevölkerung werden sich jedenfalls die ambitionierten Zeitpläne des Verordnungsentwurfs nicht einhalten lassen. Der Verordnungsentwurf sieht ein Vorgehen vor, das jedenfalls das Potential hat, befriedend zu wirken; die Bestimmungen des Entwurfs versuchen umfassend, Raum für die frühe Manifestation von Konfliktpositionen zu geben und so Dispute zu kanalisieren. Es geht nicht darum, eine schon gefundene Entscheidung den Bürgern zu „verkaufen“; vielmehr sollen deren Anliegen, Interessen und W ünsche verfahrensbegleitend und kontinuierlich einbezogen werden. Man hofft ersichtlich, Auseinandersetzung in ein strukturiertes Verfahren zu überführen; diese Einbindung soll ein Ausbrechen des Konflikts in unstrukturierte öffentliche Räume (die „Straße“) verhindern und sicherstellen, dass die einmal getroffene Entscheidung dann auch Bestand hat. Es lässt sich bislang aber noch nicht einmal im Ansatz absehen, ob sich die Hoffnungen seiner Schöpfer realisieren lassen. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es eine Form des W iderstands gegen Infrastrukturprojekte gibt, die sich weder durch Mediation noch durch vernünftige Gründe aus dem W eg räumen lässt.5 0 Insofern bleibt auch abzuwarten, ob diese Formen der Einbindung das Unbehagen an der geringen Steuerbarkeit und schwachen Responsitivität repräsentativ-adminstrativer Entscheidungsprozesse zurückdrängen und so das Bürgervertrauen in die Demokratie stärken wird.51 W ie vielschichtig, aber auch unklar die diesbezüglichen Diskussionsverläufe letztlich sind, zeigt sich daran, dass inzwischen jede Form der Äußerung „guter Gründe“ als Ausdruck deliberativer Demokratie5 2 angesehen wird, ohne dass die ideengeschichtlichen W urzeln und die besonderen Eigenarten dieses Konzepts berücksichtigt würden. Nicht in jedem Fall, in dem sich die Verwaltung in Kontakt mit der anhörungsberechtigten Öffentlichkeit begibt, liegt eine Ausprägung der
erforderlichen Investitionen (Windräder, Speicherkraftwerke, Netzleitungen) aber vehement bekämpft werden. 50 Zum Diskussionsstand O. Renn, Einführung: Bürgerbeteiligung – Aktueller Forschungsstand und Folgerungen für die praktische Umsetzung, in: Bürgerbeteiligung und Akzeptanz öffentlicher Großprojekte, 2011, 11 (http://buerger-beteiligung.org/contents/ download/106). 51 W. Hoffmann-Riem, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, 9; J. Ziekow, Bürgerbeteiligung und Bürgerengagement in der verfassten Demokratie: in: K. Beck/J. Ziekow, Mehr Bürgerbeteiligung wagen, 2011, 33. 52 Zum Begriff und dem Hintergrund: J. Cohen, Deliberative Democracy and Democratic Legitimacy, in: A. Hamlin/P. Pettit (eds.), The Good Polity, 1989, 17; J. Bohman/W. Rehg (eds.), Deliberative Democracy: Essays on Reason and Politics, 1997; E. J. Eriksen/ O. J. Fossum, Democracy in the European Union, 2000, 141; J. Parkinson, Deliberating in the Real World, 2006.
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deliberativen Demokratie vor.5 3 Vor diesbezüglichen Überhöhungen muss gewarnt werden. Dies nimmt aber dem – sehr viel zurückhaltenderen – Ansatz des Verordnungsentwurfs nicht seinen W ert. Es ist zusammenfassend festzustellen, dass der Verordnungsentwurf einen weiterführenden und sinnvollen Ansatz enthält.
53
T. Nabatchi, Adressing the Citizenship and Democratic Deficits: The Potential of deliberative Democracy for Public Administration, The American Review of Public Administration 40 (2010), 276.
Die neue GASP: Institutionelle und inhaltliche Fortentwicklungen Von Christoph Vedder (
A. Einführung: Die Außenpolitik der Union 60 Jahre nach dem Schuman-Plan Die erste Vorlesung im Rahmen einer Ringvorlesung, die die heutige EU in Stand und Perspektiven in die Entwicklungslinie seit dem Schuman-Plan stellt, ist der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), sogar der „neuen GASP“ gewidmet. Mit dem Schuman-Plan verbindet sich unmittelbar die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), kaum jedoch außenpolitische Handlungsfelder der europäischen Integration. Die Rückbesinnung auf den SchumanPlan vom Mai 1950, der den Startschuss zur europäischen Integration in der Form gab, wie wir sie heute als EU vor uns haben, und auf die durch ihn angestoßenen Vorhaben der 50er Jahre zeigt allerdings, dass in dieser Frühzeit der europäischen Integration von Anfang an auch ein außenpolitisches Handeln der geplanten europäischen Organisationen eine große Rolle gespielt hat. Es ist erhellend, sich die Urmotive zu vergegenwärtigen, die von Jean Monnet formuliert wurden, der hinter dem Schuman-Plan stand. Die herausragende Bedeutung Monnets in der Frühzeit der europäischen Integration zeigt sich in der Benennung der JeanMonnet-Lehrstühle. Das Datum dieser ersten Veranstaltung der Ringvorlesung ist gut gewählt. Am 1. Dezember 2010, am Mittwoch der vergangenen W oche, also 60 und ein halbes Jahr nach dem Schuman-Plan, hat der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) offiziell seine Arbeit aufgenommen. „Auswärtiger Dienst“ ist etwas, was man unmittelbar mit „Staat“ und einem zentralen Bereich staatlicher Politik assoziiert: Europa tritt mit eigenen Diplomaten in der W elt auf.
(
Der Beitrag beruht auf dem Vortrag, den der Autor am 9. Dezember 2010 am Walther-Schücking-Institut gehalten hat.
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Nach Churchills Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, die er in seiner Rede in der Züricher Universität am 19. September 1946 1 mit Vehemenz ausbreitete und die allgemein als der Startschuss für die europäische Integration nach dem Zweiten W eltkrieg angesehen wird, und nach der weniger bekannten, kurz zuvor gehaltenen Rede des amerikanischen Außenministers James S. Barnes in Stuttgart am 6. September 1946,2 in der dieser das Ende des Morgenthau-Plans für Deutschland verkündete und ebenfalls die Idee eines Zusammenschlusses der europäischen Völker propagierte, konzentrierte sich der Schuman-Plan sehr konkret auf die supranationale Einbindung der damals kriegswichtigen Kohle- und Stahlindustrie. Allerdings war der Schuman-Plan auch gedacht als ein erster Schritt zur Integration weiterer Bereiche im Sinne der funktionalistischen Theorie, nach der sich die Integration, von vermeintlich unpolitischen wirtschaftlichen Gebieten ausgehend, allmählich auf ein umfassendes Zusammengehen der Staaten erstrecken sollte. In der politischen Realität sollten die nächsten Schritte dagegen am Kopf, am politischen Überbau beginnen: an der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Die EVG diente auch dem Ziel, eine wiederzubewaffnende Bundesrepublik einzubinden. Die Einbindung Deutschlands ist ein Leitmotiv, das in verschiedenen Momenten der europäischen Integration hervorgetreten ist. Die GASP ist in den letzten Jahren wissenschaftlich durchgeknetet worden. Sie und die Außenpolitik der Union im Übrigen, d.h. auf den Feldern der alten ersten Säule, sind wohl die Politikfelder, die durch den Europäischen Verfassungsvertrag (EVV) und durch den Vertrag von Lissabon vordergründig am stärksten verändert worden und Gegenstand großer literarischer Zuwendung sind. Ich möchte daher im Folgenden dem Generalthema nachspürend die neue GASP nicht Punkt für Punkt vorstellen, sondern Entwicklungslinien aufzeigen. Man ist es gewohnt, die in Maastricht geschaffene GASP mit ihrem schmalen Vorläufer, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986,3 als einen neuen Entwicklungsschritt zu sehen, und übersieht leicht, dass die außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation und Integration von Anfang an ein wesentlicher Teil der europäischen Integration war.
1
Heinrich Siegler, Dokumentation der Europäischen Integration, Bd. 1, 1946–1961, 1961, 3 f. 2 Restatement of Policy on Germany, auch „Speech of Hope“ genannt, Department of State (ed.), Documents on Germany, 91. 3 Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986, BGBl. 1986 II, 1102, in Kraft seit 1. Juli 1987, BGBl. 1987 II, 451; ABl. 1987 L 169/1.
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B. Vorgeschichte der GASP Die europäische Integration wird gemeinhin als wirtschaftliche Integration wahrgenommen, die sich seit dem Vertrag von M aastricht mit der GASP in allgemeinpolitische Bereiche hin fortentwickelt. W enn man zurückschaut, ist jedoch das Gegenteil der Fall. Am Anfang stand die politische Integration, die verteidigungsund außenpolitische Aspekte mit einschloss. Die Berliner Blockade 1948/49 hatte das Ende des Einvernehmens der vier Siegermächte unübersehbar werden lassen. Der Beginn des Korea-Krieges am 25. Juni 1950 markierte den Beginn des Kalten Krieges. Ein Angriff der Sowjetunion auf Deutschland, das gerade seine staatliche Gestalt auf der Grundlage des Grundgesetzes fand, wurde befürchtet; die Lage Deutschlands war immer ein Katalysator für europäische Entwicklungen.
I. Startschuss Schuman-Plan An dem nicht zufällig gewählten Datum des 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman auf einer Pressekonferenz in Paris im Kern vor, die deutsche und französische Kohle- und Stahlindustrie aus der nationalen Souveränität herauszulösen und einer überstaatlichen, „supranationalen“ Hohen Behörde zu unterstellen.4 Damit sollten diese aus damaliger Sicht kriegswichtigen Industrien der nationalen Verfügung entzogen werden. Diese dann „SchumanPlan“ genannte Strategie hatte Jean Monnet,5 der sich im Krieg lange in den USA aufgehalten hatte, nach dem Vorbild der Tennessee Valley Authority, einer zwar inneramerikanischen, jedoch auf einem „interstate compact“ mehrerer amerikanischer Bundesstaaten beruhenden Einrichtung,6 konzipiert. Schuman lancierte diesen Plan am Vortag einer Konferenz in London, bei der die USA, Großbritannien und Frankreich über die W iedereingliederung der Bundesrepublik in den Kreis der W estmächte und die Kontrolle der Ruhrindustrie sprechen wollten. Schumans Plan fand allgemeine Zustimmung und die weiteren Schritte erfolgten schnell. Im Sommer 1950 wurde verhandelt, im April 1951 der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl unterzeichnet und
4 Text in Pascal Fontaine, Ein neues Konzept für Europa. Die Erklärung von Robert Schuman. 1950–2000, 2. Aufl. 2000, 36 f.; erst am Morgen des 9. Mai war der Text der Erklärung den Mitgliedern der französischen Regierung und Bundeskanzler Adenauer übermittelt worden. 5 Zu Jean Monnet und seinen Vorstellungen Gérard Bossuat/Andreas Wilkens (Hrsg.), Jean Monnet, L’Europe et les chemins de la Paix, 1999. 6 Tennesee Valley Authority Act of 1933, 48 Stat. 58–59, 16 U.S.C. sec. 831.
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am 23. Juli 1952 trat dieser in Kraft.7 Die damit bewirkte Integration war einerseits sehr konkret und technisch und hatte andererseits zugleich hohe politische und sicherheitspolitische Ambitionen. Für Schuman war dies „die erste Etappe der europäischen Föderation“.8 Man wollte von eher unpolitischen Bereichen zu einer politischen Gemeinschaft voranschreiten. Im Sinne dieses funktionalistischen Ansatzes folgten sehr schnell, teilweise parallel, weitere Unternehmungen.
II. Europäische Verteidigungsgemeinschaft und Europäische Politische Gemeinschaft 1. EVG Die schon angedeutete W eltlage des Jahres 1950 brachte die USA dazu, von W esteuropa und insbesondere Deutschland stärkere Anstrengungen zur Verteidigung Europas zu fordern. Das Zünden der ersten russischen Atombombe 1949 hatte das amerikanische Atomwaffen-Monopol gebrochen und die Verteidigung Europas in Frage gestellt. Es wurde darüber nachgedacht, die amerikanischen Truppen hinter die Pyrenäen zurückzuziehen. Im September 1950 schlug der amerikanische Außenminister Dean Acheson Robert Schuman und dem britischen Außenminister Ernest Bevin die Schaffung einer europäischen Armee vor – in die deutsche Truppen eingebunden werden sollten –, die allerdings unter NATO-Kommando stehen sollte. Frankreich, das diese Vorschläge reserviert aufgenommen hatte, antwortete mit dem Pleven-Plan, den der französische Ministerpräsident René Pleven am 24. Oktober 1950 vor der französischen Nationalversammlung ausbreitete und dem diese zustimmte.9 Auch bei der Formulierung dieses Planes hatte Jean Monnet entscheidend mitgewirkt. Der Pleven-Plan sah die Schaffung einer europäischen Armee unter europäischem, nicht unter NATO-Kommando vor: eine supranationale Lösung nach dem Vorbild der EGKS. Schon im August 1950 hatte Churchill im Europarat eine europäische Armee gefordert. 10 Im Februar 1951 begannen die Verhandlungen zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. Der Vertrag zur Errichtung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wurde am 27. Mai 1952
7
Vertrag vom 18. April 1951 über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, BGBl. 1952 II, 445, in Kraft seit 23. Juli 1952, BGBl. 1952 II, 978. 8 Die Erklärung von Schuman (Anm. 4), 36. 9 Abgedruckt in (Keesing’s) Archiv der Gegenwart 1950, 2664 f. 10 Abgedruckt ebd., 2536.
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unterzeichnet.1 1 Dieser Vertrag enthielt in Art. 2 § 3 eine Bündnis- und Beistandsklausel. Art. 9 ff. regelten, dass „europäische Verteidigungsstreitkräfte“ unter einem „Kommissariat“ errichtet werden sollten. Art. 38 EVGV sah vor, dass EGKS und EVG später durch eine endgültige Organisation ersetzt werden sollten. Auch die EVG war wieder ein Schritt konkreter, diesmal militärischer Integration.
2. EPG Im Sommer 1951, während die Verhandlungen über die EVG im Gange waren, schlug wiederum Robert Schuman vor, dass neben die gegründete, aber noch nicht in Kraft getretene EGKS und neben die in Verhandlung befindliche EVG eine supranationale politische Organisation treten sollte. Dies war nicht im EGKSV, jedoch in Art. 38 EVG 1 2 ausdrücklich angelegt; eine endgültige europäische Organisation sollte an die Stelle der EGKS und der EVG treten und diese neue Organisation sollte Teil eines „bundesstaatlichen oder staatenbündischen Gemeinwesens“ sein. Mit dieser Zielsetzung setzten sich nunmehr föderalistische Bestrebungen durch, wie sie schon von Altiero Spinelli, der die „Vereinigten Staaten von Europa“ propagierte,1 3 und Paul-Henri Spaak1 4 befördert wurden. Monnet und Spaak griffen die Idee einer übergreifenden europäischen politischen Gemeinschaft auf. Die Beratende Versammlung der EGKS sollte einen solchen Vertrag ausarbeiten. Erst im November 1952 schlug der niederländische Innenminister van Beyen vor, auch die wirtschaftliche Integration in die geplante EPG mit aufzunehmen, den Handel zu integrieren und eine Zollunion zu bilden.15 Die Verhandlungen führten bereits am 10. M ärz 1952, also noch vor Inkrafttreten der EGKS, zu einem Vertragsentwurf.16 11
Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 27. Mai1952, BGBl. 1954 II, 343. 12 Siehe Anm. 11. 13 Altiero Spinelli/Ernesto Rossi/Eugenio Colorni, Manifesto di Ventotente von 1941, abgedruckt in: Walter Lipgens (Hrsg.), Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945, 1968, 36–44. 14 Spaak-Bericht vom 21. April 1956, abgedruckt in: Jürgen Schwarz (Hrsg.), Der Aufbau Europas: Pläne und Dokumente 1945–1980, 1982, 287. 15 Willem Herman Weenink, Bankier van de wereld, bouwer van Europa: Johan Willem van Beyen 1897–1976, 2005, 323 ff. 16 Entwurf zu einem Vertrag über die Satzung der Europäischen (Politischen) Gemeinschaft vom 10. März 1952, abgedruckt in: Heinrich Siegler, Dokumentation der Europäischen Integration, Bd. 1, 1961, 73; dazu Richard T. Griffith, Europe’s First Constitution. The European Political Community 1952–1954, 2000, 110 ff.; Bettina Mecking, Der Beitrag des Projekts der EPG zur Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006.
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Nach dem EPG-Vertrag sollten die Verteidigung, der Grund- bzw. Menschenrechtsschutz und der Handel integriert werden. Darüber hinaus, und das ist für das heutige Thema weichenstellend, sollte auch die Außenpolitik umfassend eingebunden werden. Art. 67 ff. EPGV sahen dafür eine eigene Kompetenz der EPG einerseits und andererseits eine Kooperation der Mitgliedstaaten unter der Ägide des Rates vor; dabei sollte der Rat als gemeinsamer Vertreter der Mitgliedstaaten nach außen auftreten. Die damals gefundene Lösung war in vieler Hinsicht einfacher als die komplizierten und stärker intergouvernementalen Strukturen der heutigen GASP – ob sie effektiver gewesen wären, lässt sich ex post nicht ergründen.
3. Das Scheitern der europäischen politischen Integration Im August 1954 lehnte die französische Nationalversammlung mit 319 zu 264 Stimmen den EVG-Vertrag ab. Stalins Tod im März 1953 ließ zeitweilig die W eltlage in einem anderen Licht erscheinen und vor allem war Frankreich enttäuscht, dass die USA Frankreich in Indochina nicht unterstützten – ein frühes Beispiel dafür, dass die Ablehnung eines europäischen Vertragswerkes nicht in dem Vertragswerk selber begründet ist. Danach wurde auch das Projekt der EPG nicht weiter verfolgt. Die Konstruktion Europas als allgemeine politische Organisation vom Kopfe her war gescheitert und die Integration ging fortan den W eg des funktionalistischen Ansatzes, der schließlich in einem großen zeitlichen Bogen und mit großen Umwegen zur GASP heutigen Stils geführt hat, die aber von einer gemeinsamen Verteidigung noch weit entfernt ist. Die verteidigungspolitische Integration Europas, auch die Einbindung einer erwarteten deutschen Armee, vollzog sich fortan außerhalb der europäischen Institutionen. Der Bonner oder Generalvertrag von 1952 1 7 lag seit dem Scheitern der EVG ebenfalls auf Eis. Die Bundesrepublik wurde am 6. M ai 1955 in die NATO aufgenommen.1 8 Der Generalvertrag wurde 1954 neu gefasst1 9 und hatte 17
Bonner Verträge vom 26. Mai 1952 in der durch das Protokoll vom 23. Oktober 1954 geänderten Fassung, BGBl. 1955 II, 213, in Kraft seit 5. Mai 1955, BGBl. 1955 II, 628; die beiden Verträge regelten die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den drei Mächten bzw. die aus Krieg und Besatzung entstandener Frage; sie traten in geänderter Form zusammen mit dem Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes (Anm. 19) am 5.5.1955 in Kraft. 18 Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 i.d.F. vom 17. Oktober 1951, BGBl. 1955 II, 256, 289, in Kraft für die Bundesrepublik seit 6. Mai 1955, BGBl. 1955 II, 630. 19 Protokoll vom 23. Oktober 1954 über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland, BGBl. 1955 II, 213, in Kraft seit 5. Mai 1955, BGBl. 1955 II,
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bis zum 2. Oktober 1990 Gültigkeit. Die Bundesrepublik wurde am 6. Mai 1955 Gründungsmitglied der W esteuropäischen Union (W EU).2 0 Die W EU hätte nach dem Vertrag von Maastricht in der GASP in Form der europäischen Verteidigungspolitik aufgehen sollen. Entgegen diesen Erwartungen ist die W EU nicht zum militärischen Arm der EU ausgebaut worden, sondern hat sich 2010 zugunsten der GASP aufgelöst.2 1 In der GASP und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) geht es seither allein um die gegenseitige Verschränkung mit der NATO.
4. Der Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Der W eg, der aus der nach dem Scheitern von EVG und EPG eingetretenen europapolitischen Ernüchterung zur Europäischen W irtschaftsgemeinschaft (EWG) führte, ist bekannt. Auf Initiative insbesondere des belgischen Außenministers PaulHenri Spaak trafen sich die Außenminister der sechs Staaten Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, Niederlande und Luxemburg am 3. Juni 1955 in Messina zu einer Konferenz, die, wieder einem funktionalistischen Ansatz folgend, das vergleichsweise unpolitische Projekt einer als „Gemeinsamer Markt“ konzipierten Europäischen W irtschaftsgemeinschaft (EW G) auf den W eg brachte. Nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 27. Mai 1955 begannen EWG und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) zum 1. Januar 1958 ihre Existenz.
III. Die Außenpolitik in der EW G bis 1992 1. Zwei außenpolitische Kompetenzen Der EW GV sah bis zum Vertrag von Maastricht nur zwei außenpolitische Kompetenzen vor. Als notwendige Ergänzung zur Zollunion verfügte die EW G 628: zu den jetzt sogenannten Pariser Verträgen zählen neben diesem Vertrag die Beitrittsverträge zu NATO und WEU und ein deutsch-französisches Abkommen über die Europäisierung des Saarlands, welches aber nicht in Kraft trat, da es von der dortigen Bevölkerung in einem Volksentscheid abgelehnt wurde. 20 Vertrag vom 17. März 1948 über wirtschaftliche soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung (Brüsseler Pakt mit Belgien, Frankreich, England, Luxemburg, Niederlande) i.d.F. der Protokolle vom 23. Oktober 1954, BGBl. 1955 II, 256, in Kraft für die Bundesrepublik seit 6. Mai 1955, BGBl. 1955 II, 630; mit den Pariser Verträgen, durch die Deutschland und Italien dem Brüsseler Pakt beitraten, wurde die WEU als internationale Organisation gegründet. 21 Erklärung des Vorsitzes des WEU-Ministerrates im Namen der Hohen Vertragschließenden Parteien vom 31. März 2010.
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gemäß Art. 113 EW GV im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik über die Kompetenz zum Abschluss von Handelsabkommen. W eiter hatte die EW G die Kompetenz zum Abschluss von Assoziierungsabkommen, die in Art. 238 EW GV im Rahmen der Schlussbestimmungen verankert war; dadurch sollte Staaten, die nicht Mitglied der EW G werden wollten – gedacht war vor allem an Großbritannien – die Möglichkeit gegeben werden, in ein besonders enges Verhältnis zur EW G einzutreten.
2. Fouchet-Plan Anfang 1961 lancierte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle eine europäische politische „Union“ mit stark intergouvernementalen Zügen, ein „Europa der Staaten“. Die Staats- und Regierungschefs der sechs EW G-Staaten setzten in einer Gipfelkonferenz eine Studiengruppe unter dem Vorsitz des französischen Diplomaten Christian Fouchet ein. Diese legte am 2. November 1961 einen Vertragsentwurf zur Gründung einer Europäischen Union vor, der auch eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Verteidigungspolitik vorsah.22 Dieser Plan wurde von den anderen Mitgliedstaaten als intergouvernementale Aufweichung der Gemeinschaftsstruktur abgelehnt und seit April 1962 nicht weiter verfolgt.
3. Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 Die „Gipfelkonferenz“ der Staats- und Regierungschefs am 1. und 2. Dezember 1969 in Den Haag2 3 markierte mit der Entdeckung der auswärtigen Dimension der EW G den W endepunkt hin zu aktivem außenpolitischen Handeln der EW G auf internationalem Parkett. Zuvor hatte die EW G lediglich 1961 bzw. 1963 mit Griechenland und der Türkei Assoziierungsabkommen geschlossen, die einen Beitritt vorbereiten sollten,2 4 und 1964 durch das Abkommen von Yaoundé 2 5 mit den in die Selbständigkeit entlassenen ehemaligen Kolonien von EWG-Mitgliedstaaten das Vorläuferabkommen zum Abkommen von Lomé bzw. Cotonou geschlossen. Bei diesen und den 1970 bzw. 1972 geschlossenen Assoziierungsabkommen mit
22
Fouchet-Plan I, in: European Parliament (Hrsg.), Selection of texts concerning institutional matters of the Community from 1950 to 1982, Luxemburg 1982, 112. 23 Diese Gipfelkonferenzen waren der Vorläufer des Europäischen Rates; Haager Kommuniqué vom 2. Dezember 1969, ABl. 1970 C 94/9. 24 Abkommen mit Griechenland vom 9. Juli 1961, ABl. 1963, 294; Abkommen mit der Türkei vom 12. September 1963, ABl. 1964, 3687. 25 Abkommen von Yaoundé vom 20. Juli 1963, ABl. 1964, 1431.
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Malta und Zypern26 ging es um die Begründung von Nähe-Verhältnissen zur EW G, für die europäischen Staaten um eine Beitrittsperspektive. Hier ging es um Nachbarn und Verwandte; eine aktive Rolle der EW G bei den internationalen Beziehungen war noch nicht in Sicht. Mit der Hinwendung zu auswärtigen Aktivitäten sollte der mit der Politik des leeren Stuhls durch Frankreich seit 1963 eingetretene Stillstand überwunden werden. Der Rücktritt General de Gaulles nach den durch die Pariser Studenten im Mai 1969 ausgelösten Unruhen hatte dazu den W eg frei gemacht.
4. Davignon-Bericht Im Auftrag der Haager Gipfelkonferenz legte eine aus den politischen Beratern der Außenminister bestehende Arbeitsgruppe unter Vorsitz des belgischen Diplomaten Etienne Davignon einen Bericht vor, der am 27. Oktober 1970 vom Ministerrat angenommen wurde. Danach sollten – was dann auch geschah – im Rahmen von „Außenministerkonferenzen“ zweimal, später viermal im Jahr Konsultationen in allen wichtigen außenpolitischen Fragen stattfinden – unter dem Etikett „Europäische Politische Zusammenarbeit“ (EPZ). Europa sollte „mit einer Stimme sprechen“.27 Diese ohne Rechtsgrundlage im EWGV erfolgten außenpolitischen Konsultationen setzen sich seit 1972, der ersten Erweiterung, in Form von Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs fort.2 8 Die Kopenhagener Gipfelkonferenz vom Dezember 1973 beschloss ein für die Außenpolitik der EG zukunftweisendes Dokument: das Dokument über die europäische Identität.2 9 Durch die Gipfelkonferenz von Paris 1974 wurde erstmalig ein „Europäischer Rat“ der Staats- und Regierungschefs mit den Außenministern als Forum der EPZ eingesetzt.3 0 Mit diesen extra-konstitutionellen Entwicklungen war der W eg zur intergouvernementalen Struktur der späteren GASP angelegt. Das außenpolitische Handeln vollzog sich zunächst jedoch außerhalb der Gründungsverträge aufgrund der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten, später dann zwar auf der Grundlage der Verträge, jedoch außerhalb der Gemeinschaftsinstitutionen. 26 Abkommen mit Malta vom 5. Dezember 1970, ABl. 1970 L 61/2; Abkommen mit Zypern vom 19. Dezember 1972, ABl. 1973 L 133/2. 27 Erster Teil, Punkt 8, des Davignon-Berichts, abgedruckt in Europa-Archiv 1970, D 520. 28 Christoph Vedder, Die auswärtige Gewalt des Europa der Neun, Göttingen 1980, 232 f. 29 Dokument über die europäische Identität vom 14.12.1973, Bull. EG 1973 Nr. 12, 131. 30 Punkt 3 des Kommuniqués der Pariser Gipfelkonferenz, abgedruckt in Europa-Archiv 1975, D 41; dazu Vedder (Anm. 28), 234 ff.
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Christoph Vedder 5. Die AETR-Entscheidung: Die Entdeckung impliziter völkerrechtlicher Kompetenzen
Mit seiner in Politik und wissenschaftlicher Literatur zunächst mit Zurückhaltung oder Ablehnung aufgenommenen AETR-Entscheidung vom 31. März 1971 31 weitete der EuGH im W ege einer weitgespannten systematischen Auslegung des EW GV die Kompetenz der EW G zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge erheblich aus. Danach waren in allen internen Rechtsetzungskompetenzen der EW G auch nichtausdrückliche Kompetenzen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit eingeschlossen. Die EW G verfügte somit aufgrund der internen Rechtsetzungskompetenzen über parallele Kompetenzen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit dritten Staaten und internationalen Organisationen, die in der Sache genau so weit, aber auch nur so weit reichen wie die internen Rechtsetzungskompetenzen.32 Die mit der Haager Gipfelkonferenz angestoßene allgemeine außenpolitische Abstimmung der Mitgliedstaaten einerseits und die AETR-Entscheidung andererseits haben seit Beginn der 70er Jahre zu deutlich ausgeweiteten außenpolitischen Aktivitäten der EW G und ihrer Mitgliedstaaten geführt. Beginnend mit den Freihandelsabkommen mit den EFTA-Staaten33 schloss die EW G viele völkerrechtliche Verträge und wurde auch in multilateralen Zusammenhängen aktiv.34 Für diese von der EW G einerseits und ihren Mitgliedstaaten andererseits mit verteilten Rollen getragenen außenpolitischen Kompetenzen und Aktivitäten habe ich in meiner Göttinger Dissertation aus dem Jahr 1978 den Begriff der „auswärtigen Gewalt“ in das Europarecht eingeführt.3 5 W enn diese Vorlesungsreihe den 60 Jahre zurückliegenden Schuman-Plan in Erinnerung ruft, lassen sich die runden Erinnerungsdaten fortsetzen. In fünf Monaten wird die AETR-Entscheidung 40 Jahre zurückliegen, vor 30 Jahren setzte die vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den außenpolitischen Möglichkeiten der EW G ein. Zuvor war dieses ein eher exotisches Thema und jedenfalls wissenschaftliches Neuland. Im Gegensatz zu heute gab es außer der AETR-Entscheidung wenig Rechtsprechung und trotz der in den 70er Jahren ein-
31
EuGH, Rs. 22/70, AETR, Urteil vom 31.3.1971, Slg. 1971, 263. Vedder (Anm. 28), 143. 33 Abkommen mit Schweden, Schweiz, Österreich, Portugal, Island, Norwegen und Finnland von 1972 und 1973; z.B. Abk. vom 22.7.1972 mit der Schweiz, ABl. 1972 L 300/ 97. 34 Übersicht bei Vedder (Anm. 28) 32 ff., 170 ff. 35 Vedder (Anm. 28), 11 f. 32
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setzenden erheblichen außenpolitischen Aktivitäten konnte die völkerrechtliche Praxis der EG noch vollständig analysiert werden.3 6
6. Einheitliche Europäische Akte Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986,3 7 in Kraft getreten am 1. Juli 1987, wurde der EPZ erstmals eine vertragliche Grundlage gegeben. Die EEA, der erste größere Änderungsvertrag, mit dem die M itgliedstaaten betont zurückhaltend auf die Initiative des Europäischen Parlaments (EP) zur Gründung einer Europäischen Union38 reagierten, sah in Art. 30 EEA, außerhalb der Gemeinschaftsmethode und des Gemeinschaftsrechts, eine völkerrechtlich-intergouvernemental strukturierte politische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik und der Innenpolitik vor – die Vorläufer der zweiten und dritten Maastrichter Säule.
IV. Außenpolitik der EG und EU nach M aastricht Mit dem Vertrag von Maastricht wurde in Art. J (Art. 11 ff. EUV nach der durch den Vertrag von Amsterdam bewirkten Umnummerierung) die GASP als zweite Säule der EU außerhalb des Kompetenzbereichs der EG begründet und war wenig effektiv. Im Bereich der ersten Säule, d.h. im Bereich des Gemeinschaftsrechts, hatte der EuGH allerdings reichlich Gelegenheit, die völkerrechtlichen Vertragsschließungskompetenzen der EG und die W irkung der von der EG geschlossenen völkerrechtlichen Verträge im Gemeinschaftsrecht zu präzisieren und damit der auswärtigen Gewalt der EG deutliche Konturen zu verleihen. Der EuGH wurde angerufen, weil die Mitgliedstaaten wenig bereit waren, der EG kompetenzgemäß das internationale Terrain zu überlassen. In der Rechtsprechung ging es daher nicht so sehr um die Feststellung, ob die EG konkurrierende außenpolitische Kompetenzen hat, sondern ob diese vielmehr ausschließlicher Natur sind. Da der EG durch den Vertrag von Maastricht und weitere Vertragsänderungen weitere außenpolitische Kompetenzen, vor allem für Umweltschutz und Entwicklungszusammenarbeit, übertragen wurden, hat sich die EG spätestens in den 90er Jahren über die nachbarschaftlichen Beziehungen hinaus als Akteur in den bilateralen und multilateralen internationalen Beziehungen etabliert. Globaler Lösungsbedarf auf
36
So die Arbeiten von Hans Krück, Völkerrechtliche Verträge im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1977, und Vedder (Anm. 28). 37 Siehe Anm. 3. 38 Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union vom 19. März 1984, Zweiter Spinelli-Bericht, EP-Dok. 1-1200/83, ABl. 1984 C 77/33.
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vielen Gebieten, wie im W elthandelsrecht, im Seerecht, in der Fischereipolitik, im Umweltrecht, hat dazu erheblich beigetragen. Seit M itte der 90er Jahre ist das auswärtige Handeln der EG und der EU auf breiter Front Gegenstand rechtswissenschaftlicher Analyse. Eine große Zahl von Gesamtdarstellungen und Sammelwerken zeugt davon.3 9 Das auswärtige Handeln der EG war Gegenstand der FIDE-Konferenz 2006 in Limassol.4 0
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Piet Eeckhout, EU External Relations Law, 2. Aufl. 2011; Christophe Hillion/Panos Koutrakos (Hrsg.), Mixed Agreements Revisited, 2010; Marise Cremona (Hrsg.), Developments in EU External Relations Law, 2008; Marise Cremona/Bruno de Witte (Hrsg.), EU Foreign Relations Law. Constitutional Fundamentals, 2008; Alan Dashwood/Marc Maresceau (Hrsg.), Law and Practice of EU External Relations – Salient Features of a Changing Landscape, 2008; Geert De Baere, Constitutional Principles of EU External Relations, 2008; Raas Holdgaard, External Relations Law of the European Community, 2008; Stefan Kadelbach (Hrsg.), Die Außenbeziehungen der EU, 2006; Panos Koutrakos, EU International Relations Law, 2006; Enzo Cannizzaro (Hrsg.), The European Union as an Actor in International Relations, 2002; Stefan Griller/Birgit Weidel (Hrsg.), External Economic Relations and Foreign Policy in the European Union, 2002; Vincent Kronenberger (Hrsg.), The European Union and the International Legal Order: Discord or Harmony?, 2001; Alan Dashwood/ Christophe Hillion (Hrsg.), The General Law of EC External Relations, London 2000; Ramses A. Wessel, The European Union’s Foreign and Security Policy, 1999; Martti Koskenniemi (Hrsg.), International Law Aspects of the European Union, 1998; Christine Kaddous, Le droit de relations extérieures dans la jurisprudence de la Cour de justice des Communautés européennes, 1998; Jacques H. J. Bourgeois/Jean-Louis Dewost/ Marie-Ange Gaiffe (Hrsg.), La Communauté européenne et les accords mixtes. Quelles Perspectives?, 1997; Dominic MacGoldrick, International Relations Law of the European Union, 1997; I. MacLeod /I. D. Hendry/Stephen Hyett, The External Relations of the European Communities, 1996. 40 Xenios L. Xenopoulos (Hrsg.), External Relations of the EU and the Member States: Competence, Mixed Agreements, International Responsibility, and Effects of International Law, FIDE 2006 National Reports, 2006; Christoph Vedder, Die Außenbeziehungen der EU und die Mitgliedstaaten: Kompetenzen, gemischte Abkommen, völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Wirkungen des Völkerrechts, EuR Beiheft 3/2007, 57; nachdem sich das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung vom 30. Juni 2009 erstaunlicherweise unter verfassungsrechtlichen Aspekten mit der Ausübung der ausschließlichen handelspolitischen Kompetenz der EU in der WTO auseinandergesetzt hatte (BVerfGE 123, 267, 417 ff.), befasste sich der Arbeitskreis Europäisches Verfassungsrecht im Rahmen der Tagung der Staatsrechtslehrer-Vereinigung im Oktober 2011 mit dem Thema „Die EU als globale Akteurin und ihre Außenverfassung“.
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V. Auf dem W eg zur „neuen GASP“: Der Europäische Verfassungsvertrag und der „Reformvertrag“ von Lissabon Obwohl die Außenpolitik in der Erklärung zur Zukunft der Union zum Vertrag von Nizza und in der Erklärung von Laeken vom Dezember 2001,4 1 mit denen die W eichen zum neuen Unionsrecht gestellt wurden, keine besondere Rolle spielte, fasste der Europäische Verfassungsvertrag (EVV) vom Oktober 2004 erstmalig das „Auswärtige Handeln der Union“ als eigenständiges Politikfeld in den Art. III-292 bis Art. III-329 EVV zusammen und unterstrich damit die Emanzipation außenpolitischer Aktion von den mageren Anfängen einiger weniger, über den Vertrag bzw. die Verträge verstreuter Vorschriften zu einem eigenständigen Politikbereich. In der Sache handelte es sich allerdings nur um die Zusammenführung der vorhandenen außenpolitischen Kompetenzen und die Integration der GASP. Der vor einem Jahr, zum 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon hat den Titel zum „Auswärtigen Handeln“ in Art. 205 ff. AEUV, von gewissen redaktionellen Änderungen abgesehen, unverändert aus dem EVV übernommen und damit das auswärtige Handeln als eigenes Politikfeld rechtlich etabliert. In der demonstrativen Abkehr von einer „Verfassung“ und Hinwendung zu einer Reform der bestehenden Verträge liegt es begründet, dass die GASP weiterhin in Art. 23 bis 46 EUV gesondert geregelt ist. Die Verklammerung von GASP mit außenpolitischem Handeln der früheren ersten Säule, das sich jetzt in Art. 205 ff. AEUV findet, wird durch die Art. 21 f. EUV und 205 AEUV bewirkt, die die übergreifenden Grundsätze und Ziele der Außenpolitik der Union festlegen. Die sich im EUV fortsetzende Regelung der GASP macht aber auch schon äußerlich deutlich, dass die GASP trotz der Auflösung der Säulenstruktur und der formalen Integration in ein einheitliches Unionsrecht neuen Stils weiterhin ein ausgeprägtes Eigenleben führt. Die GSVP ist in einem eigenen Unterkapitel kodifikatorisch ausgeweitet und durchnormiert worden. Der Hohe Vertreter (HV), der in Gestalt Javier Solanas schon existierte und nach dem EVV „Außenminister der Union“ geheißen hätte, ist jetzt wieder der „Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“. Neben dem Präsidenten des Europäischen Rates vertritt er die Union für den Bereich der GASP einschließlich der GSVP völkerrechtlich. Ein M eilenstein der Entwicklung gegenüber Nizza ist die Formulierung der außenpolitischen Ziele und Maximen in Art. 21 EUV, die über Art. 11 EUV/Nizza weit hinausgeht.
41
Europäischer Rat von Laeken vom 14./15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I, Bull. EU 12-2001, I. 27.
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C. Die institutionelle Fortentwicklung der GASP Trotz oder vielleicht gerade wegen der Auflösung der Säulenstruktur und der formalen Integration der GASP in ein grundsätzlich einheitliches „auswärtiges Handeln der Union“ sind die rechtlichen Grundlagen der Außenpolitik der Union im Vergleich zu Nizza eher noch komplexer geworden.
I. Institutionelles Eigenleben, Verschränkung mit Unionskompetenzen Die GASP führt weiterhin ein ausgeprägtes institutionelles und rechtliches Eigenleben. W ie Art. 24 EUV schon einleitend klarstellt und wie es dann aus den weiteren Vorschriften zur GASP und zur GSVP folgt, gibt es in der GASP keine Gesetzgebungsakte. Somit gibt es keine Mitentscheidung oder Anhörung des Europäischen Parlaments. Europäischer Rat und Rat beschließen weitgehend eigenständig, unter gelegentlicher Mitwirkung von Kommission und HV, jedoch ohne nennenswerten Einfluss des EP. Es bleibt bei der intergouvernementalen Methode und dem Grundsatz einstimmiger Beschlussfassung. Die GASP erstreckt sich gemäß Art. 40 EUV wie bisher auf die gesamte Außenpolitik jenseits der im AEUV enthaltenen Kompetenzen der alten ersten Säule. Andererseits zielen EUV und AEUV auf eine kohärente Außenpolitik über die Kompetenzgrenzen, insbesondere zwischen GASP einerseits und AEUV andererseits, hinweg. Dem dienen die in Art. 21 EUV normierten außenpolitischen Zielsetzungen und die besondere institutionelle Stellung des HV, der sowohl auf der Seite der GASP als auch auf der Seite der AEUV-Kompetenzen agiert. Auch der neu geschaffene Europäische Auswärtige Dienst (EAD) agiert übergreifend für alle außenpolitischen Handlungsfelder der Union.
II. Völkerrechtspersönlichkeit der EU, Art. 47 EUV Voraussetzung für ein intern kompetenzübergreifendes und extern einheitliches Auftreten ist, dass die EU durch Art. 47 EUV mit Völkerrechtspersönlichkeit ausgestattet worden ist und gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV die völkerrechtliche Rechtsnachfolge der EG angetreten hat. Die neue Union handelt als Völkerrechtssubjekt für alle Bereiche der Außenpolitik.
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III. Die Außenvertretung der Union Eine der wesentlichen W eiterentwicklungen der GASP im Vergleich zu Nizza ist die neu geregelte Außenvertretung der Union. Das 1969 in Den Haag verabredete „Sprechen Europas mit einer Stimme“ litt immer daran, dass die anderen internationalen Akteure konkrete Ansprechpartner vermissten. Der amerikanische Außenminister Henry Kissinger beklagte, dass er, wenn er mit Europa sprechen wolle, keine Telefonnummer habe, die er anrufen könne. Die rotierende sechsmonatige Präsidentschaft im Rat und im Europäischen Rat war kein Äquivalent für die in staatlichen Kategorien denkenden Partner. Ob die unter Lissabonner Recht agierende Dreierspitze mit Herman von Rompuy, Catherine Ashton und Manuel Barroso diese politischen Erwartungen intern und extern erfüllen können, bleibt abzuwarten. Die drei Namen stehen für die drei Institutionen, die sich die völkerrechtliche Vertretung der Union nach außen teilen.
1. Der Präsident des Europäischen Rates Der in Art. 15 Abs. 6 EUV, nicht einmal in einem eigenen Artikel angesprochene Präsident des Europäischen Rates ist die kompromisshafte Schrumpfform eines Unionspräsidenten, der, möglicherweise sogar direkt gewählt, die Rolle eines Staatsoberhauptes der Union gespielt hätte. Der Präsident wird mit der Möglichkeit einmaliger W iederwahl für zweieinhalb Jahre vom Europäischen Rat gewählt; mit einer insgesamt fünfjährigen Amtszeit würde sich der Präsident in die mit der Wahl zum EP beginnende fünfjährige Amtsperiode der Unionsorgane EP und Kommission einfügen. Der Präsident wird ad personam gewählt und vertritt gem. Art. 15 Abs. 6 Uabs. 3 EUV nicht als Staats- oder Regierungschef einen M itgliedstaat. Die halbjährlich rotierende Präsidentschaft ist damit für den Europäischen Rat Vergangenheit; der spanische Regierungschef Zapatero war der erste, der Anfang 2010 diese geschrumpfte Bedeutung der weiterhin rotierenden, aber auf den Rat beschränkten Präsidentschaft mit Irritation zur Kenntnis nehmen musste. Gemäß Art. 15 Abs. 6 Uabs. 2 EUV nimmt der Präsident des Europäischen Rates die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der GASP wahr, dies allerdings „unbeschadet der Befugnisse“ des HV. Dieser vertritt die Union in den Bereichen der GASP gemäß Art. 27 Abs. 2 EUV ohne Einschränkung, sodass sich die Frage stellt, was die Vertretungskompetenz des Präsidenten ausmacht. Die Lösung liegt in der in Art. 15 Abs. 6 Uabs. 2 enthaltenen Formulierung „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft“. Das zielt auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs der Staaten, die nach den Regeln des Völkerrechts ihre Staaten ver-
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treten. Der Präsident des Europäischen Rates hat die völkerrechtliche Rolle des Staatsoberhaupts für die EU inne.
2. Der Präsident der Kommission Außerhalb der GASP und anderer in den Verträgen vorgesehenen Ausnahmen 42 vertritt gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 6 EUV die Kommission die Union nach außen. Damit wird die bisherige Rechtslage kodifiziert. Die Kommission als Kollegialorgan wird, ohne dass dies ausdrücklich normiert wäre, durch ihren Präsidenten vertreten. Das schließt sowohl das unionsinterne als auch das unionsexterne Handeln der Kommission ein. Daran ändert die interne Ressortverteilung der Kommission mit außenpolitischen Ressorts für Außenhandel, Nachbarschaftspolitik, internationale Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Krisenreaktion sowie Entwicklung nichts.
3. Der Hohe Vertreter Der HV Lissabonner Prägung unterscheidet sich von seinem Maastrichter Vorgänger in der Person von Javier Solana grundlegend durch eine neuartige institutionelle Zwitterstellung, die die Brücke zwischen der GASP und der Außenpolitik nach dem AEUV schlägt. Der frühere HV war allein in der GASP verankert und institutionell als Generalsekretär des Rates diesem zugeordnet. Der neue HV ist neben seiner originären Zuständigkeit für die GASP gemäß Art. 18 EUV auch Teil des Rates, wo er den Vorsitz in der Ratsformation „Auswärtige Angelegenheiten“ führt, und zugleich als einer der Vizepräsidenten der Kommission für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union gemäß Art. 18 Abs. 4 EUV zuständig. Damit ist der HV institutionell auch auf der Seite der AEUV-Außenpolitik angesiedelt. Für die W ahrnehmung der einzelnen Kompetenzen, z.B. gemäß Art. 218 AEUV für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge der Union, wird allerdings weiterhin unterschieden, ob es sich um GASP- oder AEUV-Aufgaben handelt, und entsprechend handelt die Kommission oder der HV.
a) Ernennung Der HV wird durch den Europäischen Rat gemäß Art. 18 Abs. 1 EUV mit qualifizierter Mehrheit und – wegen seiner Funktion als Vizepräsident der Kom42
Z.B. Art. 219 AEUV für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge im Rahmen der Währungspolitik.
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mission – mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt. Eine bestimmte Amtszeit ist nicht vorgesehen, wie sich indirekt aus Art. 18 Abs. 1 S. 2 EUV ergibt. Da der HV als Vizepräsident der Kommission gemäß Art. 17 Abs. 3 EUV eine Amtszeit von fünf Jahren hat und da auch der HV als Mitglied der Kommission gemäß Art. 17 Abs. 7 Uabs. 3 EUV der Zustimmung des EP bedarf, hat der HV ebenfalls eine fünfjährige Amtsperiode.
b) Gestaltung und Vertretung der GASP Das erste Standbein und die primäre Aufgabe des HV ist nach Maßgabe von Art. 18 Abs. 2 und Art. 27 EUV und näher ausgeführt durch verschiedene spezielle Kompetenzen im EUV die Gestaltung der GASP einschließlich der GSVP und die schon erwähnte Außenvertretung der Union. Gemäß Art. 18 Abs. 2 S. 1 und S. 2 sowie Art. 27 Abs. 1 EUV macht der HV Vorschläge zur Gestaltung der GASP, leitet diese und führt die GASP im Auftrag des Rates durch. Der HV nimmt gemäß Art. 15 Abs. 2 S. 2 EUV an der Arbeit des Europäischen Rates teil. Er ist gemäß Art. 218 Abs. 3 AEUV Verhandlungsführer bei der Aushandlung völkerrechtlicher Verträge der Union im Bereich der GASP. Als Vorsitzender des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ gemäß Art. 18 Abs. 3 EUV ist der HV neben den Aufgaben, die der Rat nach Lissabon verstärkt im Bereich der GASP hat, auch in die Aktivitäten des Rates in den Politikfeldern nach dem AEUV involviert. Der HV hat allerdings lediglich den Vorsitz inne und löst damit insoweit die vorherige rotierende Präsidentschaft des Außenministers ab, dessen Mitgliedstaat den halbjährlichen Vorsitz im Rat generell innehat. Da der HV nicht Minister eines Mitgliedstaates ist, hat er im Rat keine Stimme.
c) W ahrnehmung der auswärtigen Zuständigkeiten der Kommission Als Mitglied der Kommission ist der HV die personelle Brücke zwischen der GASP und dem auswärtigen Handeln nach Art. 205 ff. AEUV. Er ist als Vizepräsident der Kommission gemäß Art. 18 Abs. 4 S. 3 EUV „innerhalb der Kommission mit deren Zuständigkeiten im Bereich der Außenbeziehungen … betraut“. Von den Kommissionszuständigkeiten bleiben die durch eigene Kommissare repräsentierte Handelspolitik, Nachbarschaftspolitik, internationale Zusammenarbeit und humanitäre Hilfe sowie Entwicklungspolitik außerhalb des unmittelbaren Zugriffs des HV. Als Vizepräsident hat der HV der Kommission gemäß Art. 18 Abs. 4 S. 2 und Abs. 4 S. 3 EUV für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union insgesamt und die „Koordinierung der übrigen Aspekte des auswärtigen Handeln der Union“
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zu sorgen, was sich auf die außenpolitischen Felder nach dem AEUV bezieht,43 also die Ressorts anderer Kommissare einschließt. In seinen Funktionen als Mitglied der Kommission unterliegt der HV gemäß Art. 18 Abs. 4 S. 4 EUV den Verfahren der Kommission und insbesondere der Leitungskompetenz des Präsidenten. Daher bleibt es für die Bereiche außerhalb der GASP trotz der kommissionsinternen Zuständigkeiten des HV bei der Außenvertretung der Union durch die Kommission und ihren Präsidenten.
d) Verantwortlichkeit für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union Das erste Standbein des HV in der GASP und das zweite Standbein in der Kommission mit Zuständigkeiten für die AEUV-Außenpolitik verbinden sich in der Brückenfunktion des HV, die dieser in der Verantwortlichkeit hat, gemäß Art. 18 Abs. 4 S. 1 und S. 3 EUV für die Koordinierung und Kohärenz des gesamten auswärtigen Handelns der Union, d.h. der GASP und der AEUV-Außenpolitik, zu sorgen. Damit ist der HV für die Verwirklichung der Kohärenzgebote verantwortlich, die in Art. 21 Abs. 3 EUV Ausdruck finden und die auf die Verwirklichung der internen Verfassungsprinzipien der Union und der neu in Lissabon formulierten Maximen der auswärtigen Politik gerichtet sind. Gemäß Art. 21 Abs. 3 Uabs. 2 S. 2 EUV unterstützt der HV Rat und Kommission dabei, diese Kohärenzen sicherzustellen. Es geht zum einen um die Kohärenz zwischen den verschiedenen Bereichen des auswärtigen Handelns nach dem AEUV einerseits und in der GASP andererseits und zum anderen um die Kohärenz allen auswärtigen Handelns mit den übrigen, d.h. internen Politikbereichen.
e) Koordinierung des Handelns der Mitgliedstaaten auf multilateraler Ebene Die GASP wird wesentlich im Zusammenwirken der M itgliedstaaten realisiert, und hier kommt dem HV die Aufgabe der Anregung und Koordinierung zu. Gemäß Art. 32 Abs. 1 EUV haben sich die Mitgliedstaaten in jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung im Europäischen Rat und im Rat abzustimmen, um ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Bevor die Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene tätig werden, konsultieren sie sich im Europäischen Rat oder im Rat und sind zu konvergentem Handeln verpflichtet. W enn 43
Volker Epping, Art. 18 EUV, in: Christoph Vedder/Wolff Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2011, Rn. 12.
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der Europäische Rat oder der Rat ein gemeinsames Vorgehen der Union in einem solchen Bereich festgelegt hat, koordinieren sich der HV und die Außenminister im Rat. Gemäß Art. 34 EUV haben die Mitgliedstaaten ihr Handeln in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen zu koordinieren und dort für die Standpunkte der Union einzutreten. Die Koordinierung obliegt gemäß Art. 34 Abs. 1 Uabs. 1 S. 3 EUV dem HV. Der HV wird von den Mitgliedstaaten, die in internationalen Organisationen oder auf internationalen Konferenzen agieren, gemäß Art. 34 Abs. 2 EUV über alle Fragen von gemeinsamem Interesse unterrichtet, ebenso wie die in diesen multilateralen Gremien nicht vertretenen Mitgliedstaaten. Gemäß Art. 34 Abs. 2 Uabs. 3 EUV sollen die EU-Mitgliedstaaten, die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sind, beantragen, dass bei Themen, die auf der Tagesordnung des Sicherheitsrates stehen, der HV den Standpunkt der Union vortragen kann.4 4
f) Beteiligung des Europäischen Parlaments Das EP ist nur rudimentär an der GASP beteiligt. Gemäß Art. 36 EUV hört der HV das EP regelmäßig zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der GASP und der GSVP an und unterrichtet das EP über die Entwicklungen in diesen Bereichen. Der HV hat darauf zu achten, dass die Auffassungen des EP gebührend berücksichtigt werden. Der HV hat an ihn gerichtete Anfragen des EP zu beantworten und auf eventuelle Empfehlungen Rücksicht zu nehmen.
IV. Europäischer Auswärtiger Dienst Als institutionelle Vollendung einer Außenpolitik der EU sieht Art. 27 Abs. 3 EUV die Errichtung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) zur Unterstützung des HV vor. Damit soll einerseits den bereits seit langem bestehenden Vertretungen der EG bzw. EU in dritten Staaten und bei internationalen Organisationen eine rechtliche Grundlage und mehr Gewicht gegeben werden, andererseits die Präsenz der EU in den Hauptstädten der W elt und bei internationalen Organisationen gestärkt werden. Da die auswärtigen Dienste der Mitgliedstaaten weiterhin bestehen und durch Art. 35 EUV untereinander zur Zusammenarbeit und 44
Die Resolution A/RES/65/276 der UN-Generalversammlung vom 10. Mai 2011 (Participation of the European Union in the work of the United Nations), mit welcher der der EWG 1974 gewährte Beobachterstatus ausgeweitet wird, sieht eine Rolle der „institutional representatives“ der EU, darunter des HV, nur in der Generalversammlung vor.
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Abstimmung und auch zur Zusammenarbeit mit den bestehenden Delegationen der EU und künftig mit dem EAD verpflichtet sind, dient der EAD allein der W ahrnehmung der Außenpolitik der EU selbst. Die Errichtung eines eigenen Auswärtigen Dienstes der Union weckt Assoziationen an den Kernbereich staatlicher Souveränitätsausübung auf völkerrechtlicher Ebene. W ährend die deutsche Bezeichnung „Auswärtiger Dienst“ diese Assoziationen eher verstärkt, distanziert sich z.B. die englische Bezeichnung „European External Action Service“ deutlich von Bezeichnungen wie „Foreign Office“.
1. Errichtung des EAD Die Vorbereitungen für die Schaffung eines auswärtigen Dienstes der Union hatten schon vor der Verabschiedung des EVV, der diesen in Art. III-296 EVV schon vorsah, im Jahre 2004 begonnen. Die konkreten Vorbereitungen zur Errichtung des EAD unter dem Vertrag von Lissabon gehen auf ein vier W ochen vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon verabschiedetes Ratsdokument vom 23. Oktober 2009 zurück.4 5 Nachdem zum 1. Dezember 2009, dem Datum des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon, mit Herman van Rompuy und Catherine Ashton der Präsident des Europäischen Rates und die Hohe Vertreterin ernannt worden waren, wurde der in Art. 27 Abs. 3 EUV vorgesehene Beschluss zur Errichtung des EAD am 26. Juli 2010 als Ergebnis kontroverser Verhandlungen beschlossen. Schon wenige Tage später, mit dem 1. August 2010, begann der praktische Aufbau des EAD. Die Zustimmung des EP zum Personalstatut für den EAD erfolgte erst am 20. Oktober 2010.4 6 Vorgesehen sind 200 Botschaften mit 3700 Beschäftigten im Einsatz. Am 1. Dezember 2010, also in der vergangenen Woche, hat der EAD seine Existenz begonnen, auch wenn der notwendige Haushalt noch nicht verabschiedet worden ist.47
2. Rückblick: Das aktive und passive Gesandtschaftsrecht der EU Ohne Rechtsgrundlage in den Gründungsverträgen, aber völkerrechtlich aufgrund der Völkerrechtspersönlichkeit zunächst der EGKS und dann der EW G 45 Der Europäische Auswärtige Dienst, Rat Dok. 14930 vom 23. Oktober 2009, register. consilium.europa.eu/pdf/de/09/st14/st14930.de09.pdf. 46 VO (EU, EURATOM) 1080/2010 des EP und des Rates vom 24. November 2010 zur Änderung des Statuts der Beamten der EG und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der EG, ABl. 2010 L 311/1. 47 Einzelplan X Europäischer Auswärtiger Dienst, Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2011 vom 15. Dezember 2010, ABl. 2011 L 68/I/495.
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möglich, hatte die EW G, EG bzw. EU von Anfang an das aktive und passive Gesandtschaftsrecht. Bereits 1954 wurde ein Informationsbüro der Hohen Behörde der EGKS – der Vorläufer der Kommission – in Washington errichtet. Jean Monnet, der als erster Präsident der Hohen Behörde agierte, war, wie schon erwähnt, seit seinem Aufenthalt in den USA während des Kriegs den USA sehr verbunden. Die USA haben ihrerseits die EGKS sofort als Völkerrechtssubjekt anerkannt und 1955 einen Botschafter bei der EGKS akkreditiert. 1956 wurden Delegationen der EGKS in London und Santiago de Chile und, dann schon als Delegationen der EW G-Kommission, im Laufe der 60er Jahre in den Staaten, die durch das Abkommen von Yaoundé mit der EG verbunden waren, eröffnet. Schließlich verfügte die EG über 123 Delegationen mit ca. 5.000 Bediensteten in 118 Staaten und bei fünf internationalen Organisationen.48 Die Bezeichnung „Botschaft“ wurde allerdings nicht verwendet. Rund 170 Staaten der W elt und zwanzig internationale Organisationen hatten Botschafter zu der EG in Brüssel entsandt, meistens in doppelter Akkreditierung in Personalunion mit der Funktion des Botschafters beim Belgischen Staat. Die „Delegationen der Union“ haben in Art. 221 AEUV jetzt eine vertragliche Grundlage gefunden, ihr Aufgabenbereich wurde erweitert, sie unterstehen dem HV und werden in den EAD eingegliedert.
3. Organisation und Aufgaben des EAD Durch den Beschluss des Rates vom 26. Juli 2010 über die Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes4 9 wurde dieser als funktional eigenständige Einrichtung der EU mit eigener Rechts- und Geschäftsfähigkeit errichtet.5 0 Er ist nicht ein Unterorgan eines der in Art. 13 EUV genannten Hauptorgane der EU, auch keine Agentur. Er untersteht dem HV und unterstützt diesen in dessen die sonstigen institutionellen Strukturen der EU überbrückenden Funktionen. Der EAD arbeitet auch anderen EU-Organen zu und hat neben spezifischen Aufgaben in der EU-Entwicklungspolitik vor allem für die Kohärenz des außenpolitischen Handelns der Union zu sorgen. So hat der EAD eine in jeder Hinsicht einzigartige komplexe organisatorische Struktur und Stellung, die, wenn sie funktioniert, dem HV eine starke und gegenüber den anderen Organen eigenständige Machtposition verschaffen kann.
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Kirsten Schmalenbach, Art. 221 AEUV, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Rn. 1. 49 Beschluss (2010/427/EU) des Rates vom 26.7.2010 über die Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes, ABl. 2010 L 201/30. 50 Ebd., Art. 1 Abs. 2.
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Der EAD unterstützt den HV in seinen drei Funktionen5 1 als Leiter der GASP im Bereich der Art. 23 ff. EUV, als Vorsitzenden des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ und als Vizepräsidenten der Kommission für die Außenbeziehungen der Union nach Art. 205 ff. AEUV und ist so verantwortlich für die praktische Kohärenz des auswärtigen Handeln. Der EAD unterstützt auch den Präsidenten des Europäischen Rates, den Präsidenten der Kommission und die Kommission bei ihren jeweiligen außenpolitischen Aufgaben.52 W eiterhin unterstützt der EAD die diplomatischen Dienste der Mitgliedstaaten, das Generalsekretariat des Rates und die Kommission, um die Kohärenz des außenpolitischen Handelns sicherzustellen.5 3 Hier sind enge Zusammenarbeit und – außerhalb der GASP – ständige Konsultationen mit den Dienststellen der Kommission vorgesehen. Im Vorfeld der Errichtung des EAD hat das EP darauf gedrungen, diesen nicht als rein exekutive Einrichtung agieren zu lassen. Neben der haushaltsrechtlichen Mitsprache des EP5 4 hat dies zur Folge, dass der EAD auch die anderen Organe und Einrichtungen der Union, insbesondere das EP unterstützt und diesen Zusammenarbeit zur Verfügung stellt.5 5 Der EAD wird nicht vollkommen neu geschaffen. Sein Personal rekrutiert sich aus Beamten des Generalsekretariats des Rates, der Kommission und aus den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten, die als Bedienstete auf Zeit übernommen werden, sowie aus abgeordneten nationalen Experten. Die Angehörigen des EAD haben ein eigenes Personalstatut und sind allein der Union zur Loyalität verpflichtet.5 6 Der Personaltransfer wird vor allem in der W eise bewirkt, dass außenpolitisch relevante Verwaltungseinheiten des Generalsekretariats des Rates (der Politische Stab, die Krisenbewältigungsstrukturen der GSVP mit dem Zivilen Planungsstab und dem Militärstab und die außenpolitische Generaldirektion E mit den Verbindungsbüros des Rates im Ausland) und der Kommission (die Generaldirektion „Auswärtige Beziehungen“, die bisherigen Delegationen der Kommission und die Generaldirektion „Entwicklung“) in den EAD eingegliedert werden.5 7 Der EAD besteht aus einer Zentralverwaltung in Brüssel unter der Leitung eines Geschäftsführenden Generalsekretärs – gerade wurde der französische Diplomat
51 52 53 54 55 56 57
Ebd., Art. 2 Abs. 1. Ebd., Art. 2 Abs. 2. Ebd., Art. 3. Der EAD hat einen eigenen Einzelplan im EU-Haushalt, ebd., Art. 8. Ebd., Art. 3. Ebd., Art. 6. Ebd., Art. 7 i.V.m. Anhang.
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Pierre Vimont ernannt – und zwei Stellvertretenden Generalsekretären, von denen eine Helga Schmid aus dem Auswärtigen Amt ist. Darunter befinden sich allgemeine und thematisch oder regional zuständige Generaldirektionen, also die übliche Hierarchie eines auswärtigen Dienstes. Neben fünf regionalen Generaldirektionen gibt es eine für globale und multilaterale Angelegenheiten sowie die Krisenmanagementstrukturen mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) an der Spitze.5 8 136 Delegationen bestehen in Drittstaaten und bei internationalen Organisationen. 2014 soll der EAD eine Sollstärke von 8.000 Beschäftigten erreicht haben – das Auswärtige Amt hat 6.000 Beschäftigte. Mit dem EAD entsteht ein Außenministerium der Union mit einer Zentrale in Brüssel im Charlemagne-Gebäude und mit Vertretungen, die diplomatischen Status genießen,5 9 in den Staaten der W elt und bei internationalen Organisationen.
D. Inhaltliche Fortentwicklung der GASP Der inhaltliche Anwendungsbereich der GASP erstreckt sich gem. Art. 24 Abs. 1 EUV, wie zuvor, auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union einschließlich einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Diese Aufgabenbeschreibung fasst das zusammen, was Art. 11 und 17 EUV/Nizza noch für die GASP und die GSVP getrennt formuliert hatten. Es bleibt aber weiterhin, wie nach Art. 47 EUV/Nizza, gem. Art. 40 EUV beim Vorrang des auswärtigen Handelns nach dem AEUV und den darin vorgesehenen verfahrensmäßigen, institutionellen und rechtsaktförmigen Gegebenheiten. Die Einhaltung dieser Grenzziehung unterliegt gem. Art. 275 Abs. 2 AEUV wie bisher der Kontrolle durch den EuGH.
I. Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Die Ausgestaltung der GSVP als ein eigenständiger Bereich der GASP in Art. 42 ff. EUV ist gegenüber Art. 17 EUV/Nizza eine kodifikatorische und evolutionäre 58
Per 1.1.2011 besteht der EAD aus 3645 Mitarbeitern, von ihnen 1.611 in der Brüsseler Zentrale und 2.034 in den Delegationen; dazu kommen ca. 4.000 Angestellte der EUMissionen für ziviles und militärisches Krisenmanagement; 28 EU-Botschafter wurden bereits ernannt, darunter zwei Deutsche, Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages Nr. 05/ 11 vom 16. 2. 2011. 59 Gemäß Art. 5 Abs. 6 des EAD-Beschlusses (Anm. 49) schließt der HV Verträge mit den Gastländern der Delegationen, durch die diese die Stellung von Botschaften nach der Wiener Diplomaten-Konvention von 1961 erhalten; ein Beitritt der EU zu dieser Konvention sollte angestrebt werden.
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W eiterentwicklung dessen, was sich auf der Basis von Art. 17 EUV/Nizza bereits in der Praxis etabliert hatte. Allerdings ist die W EU, auf die Art. 17 Abs. 4 EUV/ Nizza noch als möglichen verteidigungspolitischen Arm der EU Bezug nahm, aufgelöst worden6 0 und damit ist klargestellt, dass die EU sicherheits- und verteidigungspolitische Aktionen – weiterhin in Zusammenwirken mit der NATO – selbst vornimmt.
1. Fähigkeit zum internationalen Krisenmanagement: Missionen Die auf eine gemeinsame Verteidigungspolitik der Union zielende Komponente der GSVP bedarf als Startschuss eines einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates und ist der zukünftigen Entwicklung überantwortet. W esentlicher Gegenstand der GSVP ist damit gegenwärtig die Sicherheitspolitik, insbesondere die internationale Sicherheitspolitik. Zentrales Mittel dieser Politik ist gem. Art. 42 Abs. 1 S. 2 EUV eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Diese Operationsfähigkeit realisiert sich insbesondere, wie Art. 42 Abs. 1 S. 3 generell und Art. 43 und 44 EUV im Detail ausführen, in der Entsendung von Missionen außerhalb der Union.
a) Internationale Sicherheit und Friedenssicherung Im Rahmen der GSVP hat die Union die Mittel und Fähigkeiten, Missionen zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit der UN-Charta zu entsenden. Die Union stellt sich damit in den Dienst der internationalen Sicherheitspolitik, insbesondere im Rahmen und zur Unterstützung der Vereinten Nationen. Art. 43 EUV nennt: Abrüstung, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, militärische Beratung und Unterstützung, Konfliktverhütung, Friedenserhaltung, Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen, post conflict-Stabilisierung, Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Damit hat sich die Union auch die Petersberg-Aufgaben der W EU6 1 zu eigen gemacht. W ie sich indirekt aus Art. 42 Abs. 5 EUV ergibt, rechtfertigt selbstverständlich auch die W ahrung der W erte der Union und ihrer Interessen die Entsendung von Missionen. Diese Aufgaben werden im Rahmen der AEUV-Außenpolitik ergänzt durch die in Art. 214 AEUV vorgesehene humanitäre Hilfe zugunsten von dritten Staaten bei Naturkatastro60
Siehe oben Anm. 21. Petersberg-Erklärung des Ministerrats der WEU vom 19. Juni 1992, Bull. BReg. 1992, 649; näher Vedder (Anm. 63), 39 f. 61
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phen oder vom Menschen gemachte Katastrophen sowie – innerhalb der Union – gem. Art. 222 AEUV durch die gegenseitige Solidaritätsverpflichtung der Union und ihrer Mitgliedstaaten bei Naturkatastrophen und vom Menschen gemachten Katastrophen und darüber hinaus bei terroristischen Anschlägen.
b) Zivile und militärische Mittel der Mitgliedstaaten Die Union greift für die Entsendung von Missionen gem. Art. 43 EUV auf die ihr von den M itgliedstaaten zur Verfügung gestellten militärischen und zivilen Mittel zurück. Die Union kann die Entsendung von Missionen aber auch einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die dafür erforderliche Fähigkeit verfügen. Der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten dient die Europäische Verteidigungsagentur, deren Aufgaben in Art. 45 EUV festgelegt sind, die aber bereits auf der Grundlage des Vertrages von Nizza errichtet worden ist.6 2 Die EU hat bisher vor allem auf den Balkan, in den Nahen und Mittleren Osten sowie ins zentrale Afrika 24 Missionen entsandt, darunter 7 militärische, 16 zivile und eine gemischt zivil-militärische.6 3
2. Beistandsklausel Durch den Vertrag von Lissabon wurde in die GSVP in Art. 42 Abs. 7 EUV eine Beistandsklausel eingefügt. Danach sind im Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedstaat die anderen Mitgliedstaaten verpflichtet, diesem alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung in Einklang mit Art. 51 UN-Charta zu gewähren. Hiermit wird die EU über den Kreis der NATO-Mitgliedstaaten hinaus zu einem Verteidigungsbündnis. Art. 42 Abs. 7 EUV verstärkt die durch Art. 51 UN-Charta gegebene Möglichkeit der kollektiven Selbstverteidigung zu einer unionsrechtlichen Verpflichtung. Diese lässt gem. Art. 42 Abs. 7 Uabs. 1 S. 2 EUV 62
Gemeinsame Aktion 2004/551/GASP des Rates vom 12. Juli 2004 über die Errichtung der Europäischen Verteidigungsagentur, ABl. 2004 L 245/17; näher Dominik Eisenhut, Europäische Rüstungskooperation, 2010, 241 ff. 63 Übersicht bei Christoph Vedder, Möglichkeiten und Grenzen effektiven Krisenmanagements durch die EU, in: Hubert Isak (Hrsg.), Krise, Kompetenz, Kooperation, Beiträge zum 9. Österreichischen Europarechtstag 2009, 2010, 15, 19 ff.; zusätzlich hat der Rat seither, gestützt auf die Sicherheitsratsresolution S/RES/1872 (2009) vom 26. Mai 2009, eine militärische Mission der EU zur Ausbildung somalischer Sicherheitskräfte (EUTM SOMALIA 2010) eingesetzt, Beschluss 2010/96/GASP vom 15. Februar 2010, ABl. 2010 L 44/16, zuletzt geändert durch Beschluss des Rates 2011/482/GASP vom 28. Juli 2011, ABl. 2011 L 198/37.
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Raum für Neutralitätspolitik und lässt gem. Uabs. 2 die kollektive Selbstverteidigung auf der der Grundlage des NATO-Bündnisses unberührt. Ex lege wird ein Vorrang des NATO-Rechts und der NATO-Politik postuliert.6 4 Art. 222 AEUV enthält in Abs. 2 eine Beistandsklausel für den Fall von Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder vom Menschen gemachten Katastrophen, allerdings abhängig von einem Ersuchen des betroffenen Mitgliedstaats.
3. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit Die zuvor in Art. 27 b EUV/Nizza allenfalls rudimentär angedeutete verstärkte Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der GASP und der GSVP wird in Art. 46 EUV i.V.m. Art. 42 Abs. 6 EUV in Form einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) präzisiert. Mitgliedstaaten, die über bessere militärische Fähigkeiten verfügen und im Blick auf Missionen weitergehende Verpflichtungen auf sich zu nehmen bereit sind, können im Rahmen der SSZ zusammenwirken, um deren Schlagkraft im Blick auf Missionen zu verbessern.
4. Institutionelle Struktur der GSVP W ie die GASP generell wird auch die GSVP durch Beschlüsse des Europäischen Rates und des Rates bestimmt und vom HV praktisch geleitet. Für die GASP insgesamt und die GSVP insbesondere wird das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) eingesetzt – es ist jedoch schon im Vorgriff auf den EVV und den Vertrag von Lissabon im Jahre 2001 errichtet worden.65 Dem PSK obliegt gemäß Art. 38 Abs. 2 EUV die politische Kontrolle und die strategische Leitung der Krisenbewältigungsoperationen unter der Verantwortung des Rates und des HV. Daneben sind für die Entsendung und die operative Leitung von Missionen eingesetzt worden: – der Militärausschuss der Europäischen Union (EUMC),66
64
Christoph Vedder, Außenbeziehungen und Außenvertretung, in: Waldemar Hummer/ Walter Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, 267, 281 f. 65 Beschluss 2001/78/GASP des Rates vom 22. Januar 2001 zur Einsetzung des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees, ABl. 2001 L 27/1. 66 Beschluss 2001/79/GASP des Rates vom 22. Januar 2001 zur Einsetzung des Militärausschusses der Europäischen Union, ABl. 2001 L 27/4.
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– der Militärstab der Europäischen Union,67 – das EU-Operationszentrum,6 8 – der Ausschuss für nichtmilitärische Krisenbewältigung.6 9 Zur Durchführung von Missionen kann auf NATO-Strukturen, wie das Headquaters Allied Powers Europe (Shape) zurückgegriffen werden. 7 0
II. W erteorientierte Außenpolitik Die wesentlichste W eiterentwicklung auf dem Gebiet der Außenpolitik der Union sind die in Art. 21 EUV aufgelisteten Ziele und Maximen, denen sich die EU verpflichtet. Gemäß Art. 21 EUV und Art. 205 AEUV gelten diese Zielsetzungen sowohl für die GASP als auch das außenpolitische Handeln nach dem AEUV; darüber hinaus strahlen sie nach Art. 21 Abs. 3 EUV auch auf alle anderen Politikbereiche aus. Die außenpolitischen Zielsetzungen sind, von redaktionellen Anpassungen abgesehen, identisch aus Art. III-292 EVV übernommen worden. Art. 21 EUV greift die in Art. 11 EUV/Nizza enthaltenen politischen und sicherheitspolitischen Zielsetzungen, die dort allerdings allein für die GASP galten, auf. Diese finden sich jetzt in Art. 21 Abs. 1 Uabs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 5 EUV und in Art. 21 Abs. 2 lit. a, b, c EUV. Neu formuliert sind dagegen in Art. 21 Abs. 2 lit. d bis h EUV außenpolitische Zielsetzungen, die auf die weltwirtschaftliche Entwicklung, auf nachhaltige Entwicklung, den Umweltschutz, den Schutz vor Katastrophen und eine ambitionierte W eltordnungspolitik zielen.
1. Rechtlich bindende Selbstverpflichtung Art. 21 EUV enthält nicht nur Programmsätze, sondern stellt eine rechtlich bindende Selbstverpflichtung der Union dar.7 1 Im Verfassungsrecht der Staaten 67
Beschluss 2001/80/GASP des Rates vom 22. Januar 2001 zur Einsetzung des Militärstabes der Europäischen Union, ABl. 2001 L 27/7, zuletzt geändert durch Beschluss 2001/ 298/GASP des Rates vom 7. April 2008, ABl. 2008 L 102/25. 68 Vedder (Anm. 63), 37. 69 Beschluss 200/354/GASP vom 22. Mai 2000 zur Einsetzung eines Ausschusses für die militärischen Aspekte der Krisenbewältigung, ABl. 2000 L 127/1. 70 Auf Grundlage des vom NATO-Generalsekretär und dem Hohen Vertreter der Union abgeschlossenen Rahmenabkommens „Berlin-Plus“ vom 17. März 2003, Background Paper des Rates der Europäischen Union, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsuploads/0311-11_Berlin_Plus_press_note_BC.pdf. 71 Werner Kaufmann-Bühler, Art. 21 EUV, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Ergänzungslieferung 41, Juli 2010, Rn. 6.
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dürfte eine solche Festlegung auf außenpolitische Ziele einmalig sein, insbesondere da diese Maximen zu einem großen Teil altruistischer Natur sind. Diese Bestimmungen der Unionsziele sind Essenz und Ausdruck post-nationaler Staatlichkeit. Die einzelnen außenpolitischen Maximen der Union können und werden in der Realität miteinander in Konflikt geraten; sie stehen nicht in einer hierarchischen W ertigkeit. Die handelnden Unionsorgane haben einen großen Beurteilungsspielraum bei der Realisierung dieser Ziele, der vom EuGH respektiert werden wird. Im Rahmen der Verfahrensmöglichkeiten vor dem EuGH können insbesondere außenpolitische Handlungen unter dem AEUV mit einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 1 bis 3 AEUV auf die Übereinstimmung mit den außenpolitischen Zielsetzungen hin kontrolliert werden. Die außenpolitischen Maximen werden in Situationen zur Nichtigkeit eines Rechtsakts führen können, wenn eines der Ziele gegenüber anderen völlig missachtet oder zwar bedacht, aber in keiner W eise berücksichtigt wurde. Insbesondere in den außenpolitischen Politikfeldern nach dem AEUV, die bisher keinen allgemeinen außenpolitischen Zielsetzungen untergeordnet gewesen waren, werden die in Art. 21 EUV aufgelisteten M aximen Auswirkungen entfalten. Art. 21 Abs. 2 EUV bestimmt die Ziele, die die Union durch „ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen“ erreichen will. Es sind verhaltensleitende Maximen, die nach Art. 22 EUV durch Beschlüsse des Europäischen Rates in strategische Leitlinien für konkretere Politikfelder zu übersetzen sind. Aber auch ohne solche Beschlüsse entfalten sie primärrechtlich selbstverpflichtende W irkung. Die außenpolitischen Maximen der Union speisen sich aus verschiedenen Quellen.
2. Externalisierung interner Grundsätze der Union In Art. 21 Abs. 1 Uabs. 1 EUV verpflichtet sich die Union, sich bei ihrem auswärtigen Handeln von den Grundsätzen leiten zu lassen, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Damit greift Art. 21 EUV die in Art. 2 EUV genannten Verfassungsprinzipien der Union auf und mit der Nennung völkerrechtlicher W erte wiederholt Art. 21 EUV Teile der in Art. 3 Abs. 5 EUV genannten grundlegenden Ziele der Union.
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3. Außenpolitische „Staats“ziele der Union Ohne dass Art. 21 EUV ausdrücklich darauf Bezug nimmt, sind für die außenpolitische Aktion der Union die in Art. 3 EUV enthaltenen allgemeinen außenpolitischen Zielsetzungen einschlägig. Zu diesen gehört selbstverständlich die selbstbezogene Zielsetzung, die W erte und Interessen der Union zu schützen und zu fördern sowie die Unionsbürger zu schützen. Art. 3 Abs. 5 S. 2 EUV nennt darüber hinaus aber schon die altruistischen Ziele Frieden, Sicherheit, globale nachhaltige Entwicklung, Solidarität und gegenseitige Achtung unter den Völkern, freien und gerechten Handel, Armutsbekämpfung, Schutz der Menschenrechte, Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere der Grundsätze der UN-Charta. Diese Ziele werden in Art. 21 Abs. 2 EUV näher beschrieben.
4. Handlungsleitende Maximen An erster Stelle steht in Art. 21 Abs. 2 EUV natürlich die Wahrung der eigenen Sicherheit, Unabhängigkeit, Unversehrtheit, W erte und Interessen der Union. Im Interesse einer wertegeleiteten Außenpolitik zugunsten der Völkergemeinschaft legt sich die Union aber auch ohne unmittelbare eigene Betroffenheit altruistisch auf einen weitgespannten Katalog von Zielsetzungen für jede außenpolitische Aktion der Union fest: – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Festigung und Förderung der Menschenrechte und Grundsätze des Völkerrechts; – Friedenserhaltung, Konfliktverhütung und internationale Sicherheit auf den Grundlagen der UN-Charta und des OSZE-Rechts, insbesondere der Charta von Paris;7 2 – die nachhaltige Entwicklung von W irtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern und vor allem die Armutsbekämpfung; – die Integration aller Länder in die W eltwirtschaft und den Abbau von Handelshemmnissen; – die Erhaltung und die Verbesserung der Umwelt, die nachhaltige Bewirtschaftung der weltweiten natürlichen Ressourcen, um eine nachhaltige Entwicklung zu sichern; 72 Charta von Paris für ein neues Europa, Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, Paris 21.11.1990, International Legal Materials 1991, 193, auch abgedruckt in: Ulrich Fastenrath (Hrsg.), KSZE/OSZE. Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Loseblatt), Bd. 1, A. 2; Europäische Sicherheitscharta, 19.11.1999, abgedruckt ebd., A.10.
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– H ilfe bei N aturkatastrophen oder vom M enschen gemachten K atastrophen. Sehr grundsätzlich und sehr ambitioniert will die Union „eine W eltordnung … fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen W eltordnungspolitik beruht“. Dazu gehört die „verantwortungsvolle Regierungsführung“,73 der in den Staaten der W elt zum Durchbruch zu verhelfen seit langem ein Anliegen der EU ist. Dazu gehört aber auch vor allem „good global governance“ – so die englische Fassung – auf zwischenstaatlicher Ebene.74 Ein wesentliches Element dieser W eltordnungspolitik ist die Unterstützung und Zusammenarbeit mit dem Jugoslawien-Tribunal (ICTY) und dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC).75 Gegenüber dem EVV neu hinzugekommen ist in der Folge des G-8-Treffens von Heiligendamm 2008 die Bekämpfung des Klimawandels, die allerdings, da man zu diesem späten Zeitpunkt den EUV nicht mehr ändern wollte, in der Sachkompetenz des Art. 191 Abs. 1 AEUV verankert wurde. Neben den generellen Zielen der Außenpolitik sind die besonderen Zielsetzungen einzelner Politikbereiche, wie der Handelspolitik in Art. 206 AEUV,7 6 der Entwicklungspolitik in Art. 208 Abs. 2 AEUV oder der Umweltpolitik in Art. 191 Abs. 1 AEUV zu beachten.
5. Kohärenz der Außenpolitiken mit den anderen Unionspolitiken Die außenpolitischen Maximen gelten gemäß Art. 21 Abs. 3 Uabs. 1 EUV für die explizite Außen- und Sicherheitspolitik nach dem EUV und dem AEUV – d.h. 73
Z.B. Art. 9 Abs. 1 des Abkommens von Cotonou vom 23.6.2000, ABl. 2000 L 317/1. Zu „global governance“ schon die Europäische Sicherheitsstrategie vom 12. Dezember 2003, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/78367.pdf; Beate Rudolf, Is „Good Governance“ a Norm of International Law?, in: Pierre M. Dupuy/Bardo Fassbender/Malcolm N. Shaw (Hrsg.),Völkerrecht als Wertordnung, Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, 1007 ff. 75 Gemeinsamer Standpunkt 2003/280/GASP des Rates vom 16. April 2003 zur Unterstützung der wirksamen Ausführung des Mandats des ICTY, ABl. 2003 L 101/22; Beschluss 2009/613/GASP des Rates vom 24. Juli 2008 zur Durchführung des Gemeinsamen Standpunkts 2004/694/GASP betreffend weitere Maßnahmen zur Unterstützung der wirksamen Ausführung des Mandats des ICTY, ABl. 2008 L 197/63; Gemeinsamer Standpunkt 2001/443/GASP des Rates vom 11. Juni 2001 zum Internationalen Strafgerichtshof, ABl. 2001 L 155/19; Gemeinsamer Standpunkt 2003/444/GASP des Rates vom 16. Juni 2003 zum Internationalen Strafgerichtshof, ABl. 2003 L 150/68. 76 Christoph Vedder, Die außenpolitische Zielbindung der gemeinsamen Handelspolitik, in: Marc Bungenberg/Christoph Herrmann (Hrsg.), Die gemeinsame Handelspolitik der Europäischen Union nach Lissabon, 2011, 121, 135 ff. 74
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für die GASP und GSVP einerseits und die bisherige EG-Außenpolitik in der ersten Säule andererseits – sowie für die externen Aspekte der übrigen Politikbereiche. Die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen der Außenpolitik und den übrigen Politikbereichen, damit auch den unionsinternen Politiken, ist gemäß Art. 21 Abs. 3 Uabs. 2 EUV zu wahren. Dazu arbeiten Rat, Kommission und HV zusammen. Die Kohäsionsverpflichtung bekräftigt, dass die Außenpolitik ein eigenständiges Politikfeld ist und, dass die internen Politiken der Union mit den außenpolitischen Zielen der EU vereinbar sein müssen, was im Blick auf M enschenrechte oder nachhaltige Entwicklung durchaus relevant werden dürfte.
6. Völkerrechtliche Selbstverpflichtung der EU Mit diesem Katalog bekennt sich die Union in bemerkenswerter W eise neben dem Multilateralismus als außenpolitischem Handlungsprinzip inhaltlich zur Achtung des Völkerrechts und zur Förderung der internationalen Sicherheit, zur nachhaltigen Entwicklung und zum Umweltschutz, zur Teilhabe aller am freien W elthandel und vor allem zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten als Eckpfeilern einer W eltordnungspolitik. Damit werden die drei Pfeiler der Verfassung des Planeten Erde – UN-Charta und UN-Recht wie die Menschenrechtspakte, W TO-Recht und Rio-Übereinkommen – angesprochen und von der EU als politische Vorgaben angenommen. Die mehrfach betonte Achtung des Völkerrechts, insbesondere der UN-Charta, findet sich erstmalig in dem fünften, durch den Europäischen Rat vom Dezember 1997 in Luxemburg formulierten ungeschriebenen Beitrittskriterium.7 7 Obwohl die EU kein Staat ist, ist sie, wie der EuGH bei passender Gelegenheit festgestellt hat,78 an die Regeln des allgemeinen Völkerrechts gebunden, d.h. an die völkerrechtlichen Regeln, die nicht in völkerrechtlichen Verträgen enthalten sind, deren Vertragspartei die EU ist. Mit dieser Haltung setzt die Union „Staaten“praxis, die zusammen mit der opinio iuris der EU eine völkergewohnheitsrechtliche Bindung internationaler Organisationen des Typs der Union an das Völkergewohnheitsrecht bewirkt. Die zuvor als Selbstverpflichtung der Union apostrophierten außenpolitischen Maximen des Art. 21 EUV gehen über eine rein unionsrechtliche, unilaterale Selbstverpflichtung hinaus und korrespondieren mit konkreten oder weniger konkreten völkerrechtlichen Verpflichtungen, die die einzelnen Maximen 77
Europäischer Rat vom 12./13.12.1997, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok. 97/24 vom 13. Dezember 1997, Bull. EU 12-1997, I.4. 78 Aus der Rechtsprechung des EuGH: EuGH Rs. C-216/90, Poulsen und Diva, Slg. 1992, I-6019, Rn. 9 f.; Rs. C-162/96, Racke, Slg. 1998, I-3655, Rn. 45 f.; Rs. C-308/06, Intertanko, Slg. 2008, I-4057, Rn. 51.
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in allgemeiner Formulierung aufnehmen. Art. 21 EUV spiegelt die völkerrechtlichen Verpflichtungen und Grundsätze wider und verstärkt sie unionsrechtlich. Völkerrechtliche Rechte und Pflichten aus der UN-Charta und anderen völkerrechtlichen Instrumenten, die die Mitgliedstaaten binden, sind auch für die EU bindend, soweit diese kompetenzgemäß anstelle der Mitgliedstaaten handelt; das gilt insbesondere für die Durchführung von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates.79
E. Schlussbemerkung Die „neue GASP“, betrachtet 60 Jahre nach dem Schuman-Plan, ist ein Schritt in einer Entwicklung, deren Anfänge, Beweggründe und Ziele sich zu Zeiten verbreiteten Europa-Skeptizismus zu vergegenwärtigen erhellend ist. Die Anfänge bei Monnet und Schuman hatten – wenige Jahre nach Ende des Zweiten W eltkrieges – ein Ziel: Frieden in Europa, damals gleichbedeutend mit Frieden auf der W elt. Dem ersten Schritt, der Gründung der EGKS, der W eltlage entsprechend in das Entstehen und die Aufgaben anderer internationaler Organisationen eingebettet, sollte schnell die große Konstruktion einer politischen Union einschließlich Außenpolitik und Verteidigungspolitik in Gestalt von EPG und EVG folgen. Das waren nicht nur Pläne, sondern fertig ausverhandelte Verträge. Dieses Ziel mag zur Zeit der aus dem Scheitern dieser Pläne als kleine Lösung geborenen EW G, die als Europa der Händler und Krämer karikiert wurde, in den Hintergrund getreten und von einem auf in Mark und Euro ausgedrückte Vor- und Nachteile verengten Blick überlagert worden sein. Die Vision ist aber nicht verlorengegangen und was wir heute lernen können ist: Europa ist nicht die Ursache der Krise, sondern kann eine Lösung sein. Die alte GASP Maastrichter Version wurde, gemessen an dem was denkbar oder wünschbar war, als nicht erfolgreich bewertet. Die neue GASP, die so neu nicht ist, wird sich beweisen müssen. Die beiden wesentlichen Neuerungen der GASP nach Lissabon, die allerdings nur kodifizierend Entwicklungen aufgreifen und verstärken, machen mich optimistisch. Die GASP wird trotz ihres weiterhin bewahrten institutionellen Eigenlebens durch die alles auswärtige Handeln der Union überwölbenden, in Art. 21 EUV formulierten selbstbezogenen und altruistischen außenpolitischen Maximen und Kohärenzgebote untrennbar mit der Außenpolitik unter dem AEUV verklammert und wird so aus ihrer Isolation geholt. Umgekehrt werden die internen Unionspolitiken für eine außenpolitische Ausrichtung geöffnet. Darin liegt die wahre Überwindung der Säulenstruktur. W ie sich die komplexen Strukturen des außenpolitischen Handelns der Union, ins79
Vedder (Anm. 63), 42 ff.; EuGH, verb. Rs C-402/05P, Kadi u. Al Barakaat, Slg. 2008 I-6351, Rn. 78 ff.
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besondere die Stellung des HV, in der Realität bewähren, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie die drei derzeit die Union vertretenden Personen miteinander klarkommen und wer die politisch stärkere Figur ist. Die seit 2003 schon im Vorgriff auf den EVV und den Vertrag von Lissabon in Gang gesetzte GSVP macht die Union im Interesse der internationalen Sicherheit, die immer auch die Sicherheit der EU schützt, handlungsfähig und mit ihren militärischen und vor allem zivilen Missionen zu einem potentiell wichtigen globalen politischen Akteur – in Achtung des Völkerrechts im Dienste der UN, aber auch aus eigenem Antrieb. Der in diesen Tagen zu arbeiten beginnende EAD ist das sichtbarste Element der neuen GASP: eine einzigartige, in ihrem Zuarbeiten zu den Unionsorganen hochkomplexe Einrichtung, die exemplarisch für die Einheit allen außenpolitischen Handelns der Union und auch für eine Verknüpfung mit den Mitgliedstaaten steht und als potentielles Außenministerium der Union dem HV eine starke politische Basis geben kann.
Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und „Europäische Verteidigungsstreitkräfte“ Von Stefan Kadelbach *
A. Einleitung Um die europäische Verteidigungspolitik sind anfangs große W orte gemacht worden. Sie wurde als eines der großen Integrationsprojekte angekündigt,1 als „Ausgang Europas aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, die kraft des Selbstverständnisses als reine W irtschaftsmacht entstanden und im Balkankrieg spürbar geworden sei.2 Seit dem Zerwürfnis anlässlich des Irakkrieges 3 entstandene Beiträge kennzeichnet ein eher skeptischer Unterton. So wird gefragt, ob die Sicherheits- und Verteidigungspolitik „nur virtuell“,4 ob sie „Anspruch oder W irklichkeit“ sei,5 und die Tagespresse sah im letzten Herbst nur die Alternative zwischen „Mehr Gemeinsamkeit oder Untergang“.6 Heute also die Frage nach den europäischen Streitkräften: W ird und kann es sie geben? Da ohne einen Blick zurück die heutige Rechtlage nicht zu verstehen ist, soll die erste Betrachtung der Vorgeschichte der bestehenden Vertragslage gelten, bevor diese selbst vorzustellen ist (Teil B.) und die in diesem Rahmen errichteten
*
Frau Lisa Müller danke ich für Anregungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrags, Herrn Sascha Gourdet für Hilfe bei der Recherche. 1 J. Solana, Die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Das Integrationsprojekt der nächsten Dekade, integration 23 (2000), 1–6. 2 W. Link, Europäische Sicherheitspolitik. Der Ausgang Europas aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, Merkur 54 (2000), 916–928. 3 Vgl. F. Mayer, Angriffskrieg und europäisches Verfassungsrecht, Archiv des Völkerrechts 41 (2003), 394–418. 4 T. Stein, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach der geplanten EU-Verfassung – nur virtuell?, in: R. Hofmann/A. Zimmermann (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa: Die Rechtsordnung der Europäischen Union unter dem Verfassungsvertrag, 2005, 179–195. 5 V. Epping/C. Lemke/A. Baluch (Hrsg.), Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Anspruch oder Wirklichkeit?, 2010. 6 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 2.11.2010, 10.
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Kapazitäten näher zu betrachten sind (C.). Vor diesem Hintergrund soll sodann ein Blick auf die verfassungsrechtliche Seite geworfen werden (D.).
B. Europarechtlicher Rahmen I. Vorgeschichte: Vom Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zur Einheitlichen Europäischen Akte Bekanntlich stehen Aspekte der Verteidigung am Anfang der europäischen Integrationsgeschichte.7 Die Vergemeinschaftung der rüstungswichtigen Güter Kohle und Stahl bildete das Gründungsmotiv der mit Inkrafttreten des EGKSVertrages 1952 errichteten Montanunion, auch wenn hier von Streitkräften noch nicht die Rede war. Doch bereits im selben Jahr wurde als Reaktion auf die BerlinBlockade und den Korea-Krieg der Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unterzeichnet,8 die, ähnlich der heutigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), in eine umfassende Europäische Politische Gemeinschaft hätte eingebettet werden sollen.9 Vorgesehen waren „europäische Verteidigungsstreitkräfte“, die aus Kontingenten bestehen sollten, „die der Gemeinschaft zur Verschmelzung nach Maßgabe dieses Vertrages von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden“ (Art. 9 EVGV). Dazu kam es nicht. Nach dem Tode Stalins, dem Ende des Koreakrieges und dem Beginn einer Tauwetterphase in den Ost/W est-Beziehungen erschien der französischen Politik ein derart weitreichender Souveränitätsverzicht nicht mehr erforderlich. Die Folge waren die Umwandlung der 1948 gegründeten W EU in eine politische Komplementärorganisation der NATO1 0 und der Beitritt Deutschlands und Italiens zur atlantischen Allianz. Die W EU, als lange einziges westeuropäisches Verteidigungsbündnis, verfügte über keine eigenen militärischen Strukturen; in dieser Hinsicht war sie von der NATO abhängig. Dementsprechend war diese Organisation lange inaktiv. Dies änderte sich mit Ende der 80er Jahre, nachdem 7
Zum Folgenden M. Gehler, Europa vor und nach Ende des Kalten Krieges: Von der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Epping et al. (Anm. 5), 11–46 (17–38). 8 Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft vom 27.5.1952, BGBl. 1954 II, 343; dazu T. Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, 2005, 244 f.; die deutsche verfassungsrechtliche Debatte ist dokumentiert in: Institut für Staatslehre und Politik Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. I, 1952, Bd. II, 1953, Bd. III, 1958. 9 Zur EPG siehe bei R. Schulze/T. Hoeren (Hrsg.), Dokumente zum Europäischen Recht, Bd. I Gründungsverträge, 1999, Teil 2, Dok. 31, 609. 10 Brüsseler Vertrag vom 17.3.1948 i.d.F. vom 23.10.1954, BGBl. II, 283.
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sich Warschauer Pakt und NATO nicht mehr als potenzielle Aggressoren ansahen und auf dem Gipfel von Reykjavik 1986 die USA und die Sowjetunion ohne wesentliches Zutun der Europäer einen Dialog über die Sicherheit Europas geführt hatten.1 1 Es war die Zeit der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa (KVE, 1986), des Vertrages über die Begrenzung der M ittelstreckenraketen (INF, 1987) und des Rückzuges der Sowjetunion aus Afghanistan. Mit der Plattform von Den Haag 1987 definierte die WEU ihre Doppelrolle, einerseits die europäische Integration um eine verteidigungspolitische Dimension zu ergänzen, andererseits aber die transatlantischen Bindungen zu erhalten und zu vertiefen. Im selben Jahr wurde die deutsch-französische Brigade vereinbart, aus der wenig später das Eurokorps hervorgegangen ist.1 2 Das W iedererwachen der WEU und einer europäischen Verteidigungsidee fällt zeitlich zusammen mit der ersten größeren Vertragsrevision der Europäischen Gemeinschaften, der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA).1 3 Hier wurde die bereits seit 1970 bestehende Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) als gemeinsame Außenpolitik erstmals vertraglich festgeschrieben. Sie hatte sich vor allem im Zuge der Entspannungspolitik mit dem Anstoß des KSZE-Prozesses bewährt. Hieran anknüpfend sollte sie, der EEA zufolge, auch die „politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheit“ umfassen, aber, mit Rücksicht auf das neutrale Irland, keine militärische Komponente haben.
II. Die Entstehung der Europäischen Verteidigungspolitik 1. Der Vertrag von Maastricht Zu einem neuen Schub kam es, nach dem Fall der Berliner Mauer, der Erosion des W arschauer Paktes und der offiziellen Beendigung des Kalten Krieges, mit dem Vertrag von Maastricht.1 4 Er brachte eine intensivere Regelung einer koordinierten Außenpolitik, nun GASP genannt, und stellte erstmals wieder eine Verknüpfung zur militärischen Komponente der Sicherheitspolitik her. Nach Art. J.4 I EUV Maastrichter Fassung umfasste die GASP alle Fragen, die die Sicherheit der EU 11
Stein (Anm. 4), 182. K. Dau, Rechtliche Rahmenbedingungen einer deutsch-französischen Brigade, Neue Zeitschrift für Wehrrecht (NZWehrr) 1989, 177–186; T. Stein, Rechtsfragen des Eurokorps und der deutsch-französischen Brigade, in: C. Tomuschat (Hrsg.), Rechtsprobleme einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 36 (1997), 53–67. 13 BGBl. 1986 II, 1102. 14 BGBl. 1992 II, 1251; BGBl. 1993 II, 1947. 12
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betreffen, wozu „auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit auch zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“. Seither besteht ein Unterschied zwischen „Verteidigungspolitik“ und „Verteidigung“, der auch für die heutige Rechtslage von Bedeutung ist (Art. 42 II EUV). W ährend Verteidigung die Selbstverteidigung der EU-Staaten einschließt, richtet sich die Verteidigungspolitik auf die militärische Seite einer internationalen Sicherheitspolitik, wie sie in Systemen kollektiver Sicherheit betrieben wird, meint also die sog. Out-of-area-Einsätze.1 5 Zu diesem Zweck „ersucht“ die EU die W EU, die als „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union“ angesprochen wird, „die Entscheidungen und Aktionen der Union, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen“. EU und W EU wurden auf diese W eise selbst zu einem Bündnis kollektiver Sicherheit.16 Die Aufgaben wurden von der W EU durch die PetersbergErklärung vom 19. Juli 1992 gleichsam auftragsgemäß näher bestimmt.1 7 Zu den sog. Petersberg-Aufgaben gehören „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung“. Auch hier finden sich Vorbehalte. So bleibt zum einen der „besondere Charakter“ der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt, womit die Neutralität Irlands, aber auch die der damaligen Anwärter Finnland, Schweden und Österreich gemeint war. Zum anderen sollten die Pflichten der NATO-Mitglieder geachtet werden (Art. J.4 IV EUV).1 8 Auch eine Kooperation zwischen W EU und NATO wird ins Auge gefasst. Diese Vorbehalte machen deutlich, dass hier einige Konkurrenzen zu anderen politischen Orientierungen und völkerrechtlichen Verpflichtungen bestanden. Von den 27 Staaten der EU sind 21 in der NATO; nicht zu ihr gehören Irland, Finnland, M alta, Österreich, Schweden und Zypern. Dänemark ist an der GSVP bis heute nur eingeschränkt beteiligt. 15
Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. 5. 1998, ABl. C 167/192; andere Akzente bei S. v. Kielmansegg, Die verteidigungspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union, Europarecht 2006, 182–200 (188–194), der auch den Verteidigungsbegriff in Abhängigkeit von der GASP versteht. 16 J. A. Frowein, Die Europäische Union mit WEU als Sicherheitssystem, in: O. Due/ M. Lutter/J. Schwarze, Festschrift für Ulrich Everling, 1995, Bd. 1, 315–326. 17 Bull BReg Nr. 68 vom 23.6.1992, 649. 18 Zum auch im Folgenden immer wieder angesprochenen variablen Teilnehmerkreis der GSVP umfassend S. v. Kielmansegg, Die Verteidigungspolitik der Europäischen Union, 2005, 387–449; im Verhältnis zu den anderen Verteidigungsinstitutionen C. Daase, EU, NATO und OSZE. Zur variablen Geometrie sicherheitspolitischer Kooperation, in: S. Kadelbach (Hrsg.), 60 Jahre Integration in Europa – Variable Geometrien und politische Verflechtung jenseits der EU, 2011, 37–52 (44–52).
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2. Von Amsterdam über Saint Malo nach Nizza Die Petersberg-Aufgaben wurden in den Vertrag von Amsterdam übernommen und auf diese W eise zu einem primärrechtlichen Ziel (Art. 17 II EUV a.F.).1 9 Der Vertragssprache nach wurde aus dem Fernziel einer auf „längere Sicht“ zu verwirklichenden eine Pflicht zur „schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“. Gemeinsame Verteidigung wird von einem (einstimmig zu fassenden) Ratsbeschluss abhängig gemacht (Art. 17 I EUV a.F.). Die W EU, die noch zu Beginn der 90er Jahre im Zuge des Bosnien-Krieges die militärische Blockade von Verkehrswegen organisiert hatte, wurde zu einem Instrument herabgestuft, das die EU „in Anspruch nehmen“ konnte. Diese Gewichtsverschiebung wurde auch in der Politik erkennbar.2 0 Mit der britisch-französischen Erklärung von Saint Malo vom 4. Dezember 1998 hatte Großbritannien seine Politik geändert. Die Katastrophe von Bosnien und der sich abzeichnende Kosovo-Konflikt hatten die Nutzlosigkeit rein ziviler Mittel gegenüber einem zu allem entschlossenen W iderpart bewiesen. Premierminister Blair wollte offenbar, nach Abstinenz in der W ährungsunion und einigen anderen europäischen Politikfeldern, die fortbestehende britische Bereitschaft zu europäischem Engagement beweisen. Die Forderung von Saint Malo, dass die EU „must have the capacity for autonomous action“, war ein klares Bekenntnis zu einer eigenständigen ESVP. Dies traf sich mit der seinerzeitigen Orientierung der deutschen Außenpolitik, so dass der Gipfel von Köln im Juni 1999 als eigentlicher Startpunkt der ESVP gelten kann.21 W enig später wurden auf dem Ratsgipfel von Helsinki ehrgeizige Ziele vereinbart, die sog. Headline Goals, mit denen die Mitgliedstaaten Truppenkontingente für EU-Missionen zur Erfüllung der Petersberg-Aufgaben benennen sollten.2 2
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Vgl. D. Thym, Die Begründung einer europäischen Verteidigungspolitik: Anforderungen des europäischen und des deutschen Verfassungsrechts, Deutsches Verwaltungsblatt 2000, 663–682; S. Dietrich, Die rechtlichen Grundlagen der Verteidigungspolitik der Europäischen Union, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerecht 66 (2006), 663–697 (673–675). 20 Dazu A. Marchetti, Politikformulierung im Beziehungsdreieck Deutschland-Frankreich-Großbritannien, 2009. 21 G. Müller-Brandeck-Bocquet, Die EU – eine Zivil-, Friedens- oder Militärmacht?, in: Epping et al. (Anm. 5), 47–82 (56 f.). 22 W. Kaufmann-Bühler, in: E. Grabitz et al. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 43. Lfg. 2011, Art. 42, Rn. 42.
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Die W EU übertrug ihre Aufgaben mit der Erklärung von Marseille 2000 im W esentlichen auf die EU.2 3 Der Vertrag von Nizza nennt sie nur noch nebenbei, wenn er darauf verweist, dass die Verteidigungspolitik der EU einem Zusammenhang mit der W EU und der NATO „nicht entgegen“ steht (Art. 17 IV EUV a.F.). Die EU hat die W EU seither ganz in sich aufgenommen. Das Modell einer interinstitutionellen Kooperation (Maastricht) hat sich über ein Konzept der Organleihe (Amsterdam) in den Anspruch der EU verwandelt, als einziger Akteur aufzutreten. Am 31. März 2010 entschieden die M itgliedstaaten der W EU, den Vertrag zu beenden; mit dem 30. Juni 2011 ist er ausgelaufen.2 4 Das Protokoll (Nr. 11) zum Lissabonner Vertrag, ein Überbleibsel aus dem nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrag,2 5 das der EU den Auftrag erteilt hatte, eine verstärkte Zusammenarbeit mit der W EU zu betreiben, ist damit gegenstandslos geworden. Mit dem Vertrag von Nizza wurde zudem das bis dahin bestehende Politische Komitee, eine Substruktur des Rates, zum Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK). W enig später, im Januar 2001, setzte die EU einen Militärstab (EUMS) und einen Militärausschuss (EUMC) ein.2 6 Auch sie sind dem Rat zugeordnet. Das PSK tagt zweimal die W oche, im Bedarfs- und Krisenfall ist es ständig befasst. Es soll die internationale Lage im Bereich der GASP verfolgen und die Durchführung vereinbarter Maßnahmen überwachen. Der EUMC, der über 200 Personalstellen verfügt, ist das höchste militärische Gremium und das Forum für die militärische Konsultation und Kooperation zwischen Mitgliedstaaten der EU. Er wird auf Ersuchen des PSK tätig und bewertet strategische Optionen. Der EUMS, der dienstrechtlich der Hohen Vertreterin untersteht, arbeitet fachlich dem EUMC zu und plant auf der Grundlage seiner Leitvorgaben die konkreten Einsätze. Die noch immer gültige Akzentverteilung, der zufolge die GSVP nicht mehr (und nicht weniger) als ein Instrument der GASP ist, wurde in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) festgelegt, die der seinerzeitige Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana ausgearbeitet und der Europäische Rat im Dezember 2003 angenommen hat.2 7 Sie muss als Reaktion auf die Spaltung in der europäischen Haltung zum Irakkrieg gesehen werden. Darin bekennt sich die EU zu einem ganzheitlichen Ansatz der Krisenbewältigung und 23 Western European Union, Marseille Declaration, WEU Council of Ministers, Marseille, 13.11.2000. 24 Western European Union, Statement of the Presidency of the Permanent Council of the WEU on behalf of the High Contracting Parties to the Modified Brussels Treaty, Brüssel, 31.3.2010. 25 Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29.10.2004, ABl. 2004 C 310/1. 26 Beschlüsse 2001/78 und 2001/79 GASP des Rates vom 22.1.2001, ABl. L 27/4 und 7. 27 Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12.12.2003.
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Konfliktverhütung, bei dem die militärische Option nur eines von mehreren Mitteln der Außenpolitik ist und in ein multilaterales System eingebunden bleibt, womit vor allem die Vereinten Nationen gemeint sind. Zugleich wird das Petersberg-Spektrum um gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, militärische Beratung und Unterstützung, Konfliktprävention, Stabilisierung nach Konflikten und Bekämpfung des Terrorismus erweitert. Soweit also zur Vorgeschichte der heutigen Vertragslage bis zu den Vorarbeiten am Verfassungsvertrag: Es gab ein Design der politischen Optionen, Organe, Verfahren und Versprechen, aber wenig Konkretes an Kapazitäten, auf die man hätte zurückgreifen können. Der Stand der in der ESS vereinbarten Ziele entspricht im W esentlichen der Vertragslage, wie sie in den Verfassungsvertrag eingegangen ist und wie wir sie heute in Gestalt des Lissabonner Vertrages vor uns haben.
III. Die heutige Vertragsstruktur Die heutigen Regelungen über die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ übernehmen weitgehend die Bestimmungen aus dem Konventsentwurf einer Verfassung für Europa (2003)2 8 und greifen die perspektivischen Vorstellungen der Nizza-Phase wieder auf. Durch sie hat die GSVP einen eigenen Abschnitt im Unionsvertrag erhalten, wenn sie auch Teil der GASP geblieben ist. Explizit soll die GSVP der Union „eine zivile und auf militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit“ sichern (Art. 42 I EUV). Zwar hat sich am Konzept der „schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“ mit der zusätzlichen Option gemeinsamer Verteidigung nichts geändert (Art. 42 II EUV). Auch der „besondere Charakter“ einzelner Unionsstaaten und die Verpflichtungen der NATO-Mitglieder bleiben nach wie vor unberührt. Deutlicher ausgearbeitet wird die in den Vorverträgen angelegte Unterscheidung zwischen Verteidigung und Verteidigungspolitik, die beide Teil der GSVP sind. W as die Verteidigung betrifft, regelt Art. 42 VII EUV erstmals den Bündnisfall und nimmt damit das letzte Element des W EU-Vertrages in das Unionsrecht auf: Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.
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Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa vom 18.7.2003, ABl. C 169/1.
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Die W endung „schulden … alle in ihrer Macht stehende Hilfe“ scheint einen politischen Charakter dieser Pflicht zu implizieren, zumal die noch im Verfassungsvertrag vorgesehene Formulierung „müssen … Hilfe leisten“ (Art. I-41 EVV) durch sie ersetzt worden ist. Solange jedenfalls ein Ratsbeschluss nicht einstimmig eine „gemeinsame Verteidigung“ beschließt, kann eine unionsrechtliche Beistandspflicht nicht aktiviert werden (Art. 42 II 2 EUV).2 9 Zudem bleibt der Vorrang der NATO bestehen, wie der folgende Unterabsatz deutlich macht, der darauf verweist, dass diese „für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung ist“ (Art. 42 VII EUV). Auch für den Fall eines Terroranschlags ist, infolge der Attentate auf das Nahverkehrssystem von Madrid 2004, eine zwischenstaatliche Solidarpflicht geschaffen worden (Art. 222 AEUV), die unter dem Vorbehalt weiterer Konkretisierung steht (Art. 222 III AEUV). Unionspolitisch wichtiger ist auf absehbare Zeit die Verteidigungspolitik, also die kollektive Sicherheit außerhalb der Union in W ahrnehmung der PetersbergAufgaben. Die Union, heißt es nun, „sichert […] eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit“, auf die sie „bei Missionen“ im Rahmen ihrer Aufgaben „zurückgreifen“ kann, und „erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden“ (Art. 42 I 2 bis 4 EUV). Die Bereitstellung „ziviler und militärischer Fähigkeiten“ ist zur vertraglichen Pflicht erklärt worden, die eintritt, sobald der Rat entsprechende Ziele festgelegt hat (Art. 42 III EUV). Diese Missionen umfassen nach Art. 43 EUV nunmehr ausdrücklich das erweiterte Petersberg-Spektrum: gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen der Lage nach Konflikten. Zudem findet sich eine explizite Erweiterung auf die Abwehr des Terrorismus:30 29
Vgl. dazu auch D. Thym, Außenverfassungsrecht nach dem Lissabonner Vertrag, in: I. Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, 173–189 (183 f.); gegen eine unmittelbar rechtliche Bindung auch BVerfGE 123, 267 (424) – Lissabon; Kaufmann-Bühler (Anm. 22), Rn. 69; siehe aber auch G. Hafner, Beistands- und Solidaritätsklausel des Lissabonner Vertrags im Lichte der österreichischen Position, in: W. Hummer/W. Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, 373–408, der Art. 42 VII EUV zwar unmittelbare Wirkung beimisst (387), diese aber unter dem Vorbehalt der NATO-Pflichten und der Ausnahmen zugunsten der neutralen Staaten sieht (392–395). 30 Dazu M. Ramsperger, Die Terrorismusbekämpfung im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, 2009.
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Mit diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet. Dies entspricht in etwa dem in der Praxis der letzten Jahre entstandenen Aufgabenzuschnitt des UN-Sicherheitsrates, und zur Klarstellung weist der Vertrag ausdrücklich auf die Charta der Vereinten Nationen hin (Art. 42 I 3 EUV). Einige Verwirrung stiftet auf den ersten Blick Art. 42 V EUV.3 1 Danach kann der Rat „zur W ahrung der W erte der Union und im Dienste seiner Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission beauftragen“. Da die zuvor zitierte Bestimmung des Art. 43 EUV über das Handlungsspektrum nur auf Missionen außerhalb der EU (Art. 42 I EUV), aber nicht auf Missionen zur Sicherung der W erte und Interessen (Art. 42 V EUV) Bezug nimmt, fragt sich, was hier eigentlich geregelt worden ist. Insbesondere bleibt rätselhaft, warum von W erten und Interessen statt von den Aufgaben eines kollektiven Sicherheitssystems die Rede ist. Dass zivile Maßnahmen gegen Mitgliedstaaten der EU gemeint sein könnten, dürfte der systematische Standort ausschließen. Vermutlich haben wir in Art. 42 V EUV den redaktionell missglückten Versuch vor uns, den Fall, dass nicht die Union selbst, sondern eine Gruppe von Staaten in deren Auftrag Missionen durchführt (Art. 44 EUV), an materielle Anforderungen zu binden. „W erte“ der Union sind nicht nur in Art. 2 EUV aufgeführt, der Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit usw. nennt. Sie werden auch in der Einleitungsvorschrift des Vertragstitels über das auswärtige Handeln der Union wieder aufgegriffen (Art. 21 EUV); sie dürften durch Art. 42 V EUV nicht modifiziert worden sein. Strategische „Interessen“ kann der Rat einstimmig festlegen (Art. 22 I EUV). Dass dabei alle Maßnahmen unter dem Vorbehalt ihrer völkerrechtlichen Zulässigkeit stehen, ist selbstverständlich, wird aber mit einem Bezug auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts gleich doppelt klargestellt (Art. 21 I 1 und II lit c EUV). Der Ablauf einer M ission liegt in den Händen des Rates. Er fasst einstimmig (Art. 31 EUV) einen Beschluss, der Ziel, Umfang und allgemeine Durchführungsregeln festlegt (Art. 43 II EUV). Die Durchführung kann auf deren W unsch einer Gruppe von Staaten übertragen werden (Art. 44 EUV). Die Hohe Vertreterin sorgt unter Aufsicht des Rates für die Koordinierung (Art. 43 II 2 EUV). Der Rat kann die Bedingungen der Mission so ständig anpassen. Das Parlament ist „regelmäßig zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden W eichenstellungen“ in der GASP anzuhören (Art. 36 EUV), also nicht in nennenswertem Umfang beteiligt.
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Stein (Anm. 4), 186 f.
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C. Militärische Mittel der GSVP I. Vorgesehene Kapazitäten Im Lissabonner Vertrag werden erstmals im EU-Primärrecht eigene militärische Ressourcen erwähnt. Anders als sonst die Ausgaben der GASP werden die operativen Ausgaben nicht aus Mitteln der EU bestritten, sondern aus Beiträgen der Mitgliedstaaten (Art. 41 II EUV). Vorbereitungs- und Sofortmaßnahmen sollen nach einem besonderen Verfahren einstweilen mit Unionsmitteln, ansonsten mittels eines Anschubfonds getragen werden, dessen Finanzierung sekundärrechtlich geregelt ist (Art. 41 III EUV). 3 2 Von Anfang an hatte die EU nicht die im EVG-Vertrag vorgesehenen integrierten Strukturen und militärischen Fähigkeiten. Die W EU, lange der verteidigungspolitische Arm der EU, war ein lediglich politisches Gremium, das in seinen militärischen Kapazitäten auf die NATO angewiesen war. Zu Zwecken der GSVP verpflichten sich die Mitgliedstaaten nun, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern (Art. 42 III UAbs. 2 S. 1 EUV). Dazu gehört zum einen die Ausrüstung. Die 2004 gegründete Europäische Verteidigungsagentur (Art. 45 EUV) hat die Aufgabe, die nötigen Synergien herzustellen und technischen Bedarf in sog. „Project Teams“ zu harmonisieren.3 3 Ein Beispiel ist die gemeinsame Konstruktion und Produktion eines Transporthubschraubers, weiteres Potenzial soll ermittelt werden. 3 4 Zum anderen stellt sich die Frage nach der Verfügbarkeit von Personal. Erstmals ist im Vertrag von Lissabon von eigenen militärischen Fähigkeiten der Union die Rede. Eine EU-Streitmacht aus Verbänden verschiedener Mitgliedstaaten wird dadurch möglich, wenn auch nicht unbedingt mit ihr gerechnet wird. Stattdessen spricht Art. 42 EUV von Mitgliedstaaten, die multinationale Streitkräfte aufstellen, die diese auch der GSVP zur Verfügung stellen können (Art. 42 III UAbs. 1 S. 2 EUV).
32 Beschluss 2007/384/GASP des Rates vom 14.5.2007 über einen Mechanismus zur Verwaltung der Finanzierung der gemeinsamen Kosten der Operationen der Europäischen Union mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen (Athena), ABl. L 152/14. 33 Zum Status Beschluss 2011/411/GASP des Rates vom 12.7.2011 über die Rechtsstellung, den Sitz und die Funktionsweise der Europäischen Verteidigungsagentur, ABl. L 183/16. 34 R. Bund, NATO und ESVP – Kooperation oder Konkurrenz, in: Epping et al. (Anm. 5), 111–158 (131).
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In Art. 42 VI EUV ist außerdem die Rede von Staaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf M issionen „mit höchsten Anforderungen“ eine sogenannte „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (SSZ) begründen können. Einzelheiten sind außer im EUV (Art. 46) in einem speziellen Protokoll geregelt. Mitgliedstaaten, die dies wünschen, teilen ihre Absicht dem Rat mit, der hierüber mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Art. 46 I und II EUV). W eitere Staaten können später in einem ähnlichen Verfahren beitreten, ebenso kann die Mitgliedschaft ausgesetzt oder – ohne dass der Rat zustimmen müsste – beendet werden (Art. 46 III, IV und V EUV). W eitere Beschlüsse werden unter den Teilnehmerstaaten einstimmig gefasst (Art. 46 VI EUV). Die Mitgliedschaft in der SSZ ist an Voraussetzungen geknüpft, die im Protokoll (Nr. 10) zum Lissabonner Vertrag aufgeführt sind. Sie müssen sich verpflichten, – ihre Fähigkeiten durch ihre Beteiligung an finanziellen und ggf. personellen Ressourcen und im Zusammenwirken mit der Europäischen Verteidigungsagentur auszubauen und – über die Fähigkeit zu verfügen, als nationale Kontingente oder Teil multinationaler Truppenverbände bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung in Transport und Logistik verfügen, innerhalb von fünf bis 30 Tagen einsatzbereit und in der Lage sind, diese Mission für einen Zeitraum von 30 bis 120 Tagen aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck müssen die Mitgliedstaaten der SSZ – eine vereinbarte Höhe der Verteidigungsausgaben erreichen, – zu einer weitreichenden Angleichung und gemeinsamen Nutzung ihrer Verteidigungsmittel und -fähigkeiten bereit sein, – ihre Einsatzplanung koordinieren (wozu auch gehört „gegebenenfalls ihre nationalen Beschlussfassungsverfahren zu überprüfen“), – an evtl. gemeinsamen Programmen zur Entwicklung und Beschaffung wichtiger Güter mitwirken. Das Stichjahr dafür war 2010. Es nimmt das schon mehrmals (auf 2003 und 2007) hinausgeschobene Zieldatum für die Entwicklung dieser Fähigkeiten auf, zu dem die 1999 auf dem Ratsgipfel in Helsinki ins Auge gefassten sog. Headline Goals hätten erreicht werden sollen. Die Headline Goals 2010 sind allerdings eine Schwundstufe der Helsinki Headline Goals. Nicht nur sind die definierten Kapazitäten bescheidener und die Fristen für die Einsatzbereitschaft länger ausgefallen,
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sie sollen mit reduzierten Mitteln auch noch für ein gegenüber der Ausgangslage 1999 vergrößertes Aufgabenfeld, eben die erweiterten Petersberg-Aufgaben zur Verfügung stehen.3 5
II. Bestehende Kapazitäten Bisher sind viele ehrgeizige Vorhaben den Spardiktaten der allgemeinen Finanz- und Schuldenkrise zum Opfer gefallen.3 6 Etwas Bewegung hat es aber doch gegeben.
1. Eurokorps Ob es bereits eine gemeinsame Armee gibt, ist auch ein wenig Deutungssache. Üblicherweise wird von einer europäischen Armee nur gesprochen, wenn sie nicht aus festen Kontingenten der Mitgliedstaaten, sondern multinational zusammengestellt wird, der Verfügung der Einzelstaaten nicht mehr unterliegt, gemeinsam verwaltet und finanziert wird und unter einem einheitlichen Kommando steht. Solche Verbände waren nach dem Pleven-Plan für die EVG vorgesehen,3 7 existieren aber derzeit nicht, und auch der Lissabon-Vertrag folgt diesem Leitbild nicht. Multinationale Streitkräfte gibt es in Europa dagegen seit längerer Zeit. Neben verschiedenen bilateral vereinbarten Truppenverbänden ist dies vor allem das Eurokorps in Straßburg. Aus den genannten Vereinbarungen von Den Haag 1987 ging zunächst 1991 eine deutsch-französische Brigade hervor, bevor nach dem deutsch-französischen Gipfeltreffen von La Rochelle 1992 das eigentliche Eurokorps gebildet wurde, das in Straßburg stationiert ist und seit 1995 eingesetzt werden kann. Der Verband hat heute eine Stärke von 60.000 Mann, besteht außer aus deutschen und französischen auch aus belgischen, luxemburgischen, spanischen und polnischen Einheiten und ist durch einen Vertrag, das SACEUR-Abkommen von 1993, mit der NATO verbunden. Er ist als schnelles Reaktionskorps der NATO-Kommandostruktur unterstellt und war in dieser Funktion etwa in Kosovo und Afghanistan im Einsatz. Das Eurokorps stellt keinen ständig verfügbaren Verband dar, sondern setzt sich aus Einheiten der Mitglieder zusammen, die je nach Bedarfslage entsandt werden. Ihren Kern bildet die deutsch-französische Brigade 35
Krit. J. Lindley-French, Headline Goal 2010 and the Concept of the EU Battle Groups: An Assessment of the Build-up of a European Defence Capacity, Cicero Foundation, Great Debates, Paris 2005, http://www.cicerofoundation.org/pdf/lecture_lindleyfrench_ dec05.pdf. 36 Vgl. L. Rühl, Mehr Gemeinsamkeit oder Untergang, FAZ vom 2.11.2010, 10. 37 Siehe oben Text nach Anm. 9.
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(4.600), die ständig präsent ist. Das Eurokorps sollte im Prinzip für Einsätze der W EU, seit 1997 der EU zur Verfügung stehen.
2. Battle Groups Mit dem Gipfel von Helsinki 1999 wurde die Aufstellung von Battle Groups mit insgesamt 60.000 Mann ins Auge gefasst, die als EU-Eingreiftruppe (EU Rapid Reaction Force) fungieren sollte. Die Battle Groups, wie sie heute bestehen, wurden zwecks Umsetzung der ESS am 17. September 2004 durch den Ratsbeschluss von Nordwijk errichtet, um den Headline Goals näher zu kommen.38 Dabei handelt es sich um einen einsatzfähigen Teil der in Helsinki geplanten Krisenreaktionskräfte, die spätestens innerhalb von 14 Tagen vor Ort einsatzbereit sein und dort 30 bis 120 Tage operieren sollen, in erster Linie um im Rahmen des Petersberg-Spektrums Resolutionen des UN-Sicherheitsrates durchzusetzen. Der Operationsradius beträgt 6.000 km um Brüssel, was Einsätze in Afrika und im Nahen Osten bedeuten kann. Die Zusammensetzung kann sich nach Einsatzziel verändern. Zurzeit gibt es 13 solche Einheiten zu 1.500 Mann, von denen in halbjährlicher Rotation immer zwei Infanterieeinheiten in Bataillonsstärke einsatzbereit sein sollen. Die militärische Leitung hat ein jeweils für den Einsatzzeitraum bestellter Operation Commander. Ihm steht ein Leitungsgremium zur Seite, das Operational Headquaters. Die politische Leitung liegt beim PSK und damit beim Ministerrat. Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien haben gelegentlich alle Kräfte für eine Rotationsphase gestellt, sonst sind die Verbände multinational. So hat es südeuropäische und nordische Battlegroups (einschließlich Irlands, Finnlands und Schwedens), eine sog. Helbroc-Gruppe (Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Zypern) und eine mittelwesteuropäische Gruppe gegeben (Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Spanien). Norwegen und die Türkei sind beteiligt. Bislang blieb es beim Stand-by-Betrieb, zu einem Einsatz ist es noch nicht gekommen. Und auch diese Einheiten sind von weiterer Logistik abhängig, insbesondere verfügen sie als Infanterie nicht über eigene Unterstützung und Transportkapazitäten zur See und in der Luft.
3. Komplementarität als Prinzip Selbständigen, d.h. von der NATO unabhängigen EU-Streitkräften stehen nach wie vor Hindernisse entgegen. Zum Ersten ist dies die politische Orientierung 38
Einführung dazu in Europäisches Parlament, Generaldirektion für die Außenbeziehungen der Union, Direktorat B, The EU Battlegroups, EP Doc. DGExPO/BPlDep/Note 2006_145 vom 12.9.2006.
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vieler, insbesondere mittel- und osteuropäischer Staaten, die in der NATO den Kern ihrer Verteidigungspolitik sehen. Zum Zweiten begegneten derartige Initiativen dem Argwohn der USA, die auf die Integrität der NATO bedacht sind. Dazu gehören auch Geheimhaltungsbedenken, die sich gegen die an die NATO angelehnte Verbände richten, an denen sich auch Nicht-NATO-Staaten beteiligen. Zum Dritten bedeutet eine Doppelung der Verteidigungsressourcen auch einen hohen Kostenaufwand. So kam es zu Lösungen, die in engem Zusammenhang mit den Kapazitäten der NATO stehen. Durch das sog. Berlin-Plus-Abkommen von 2003 hatte die EU Zugang zu planerischen und operativen Strukturen der NATO erhalten, soweit diese nicht in eigener Regie handeln wollte.3 9 Zu diesem Zweck wurde bei der NATO eine EUPlanungseinheit (SHAPE) eingerichtet. Durch dasselbe Abkommen behielt die NATO aber den Vorrang und konnte verlangen, dass sich auch Nicht-EU-Staaten an Missionen beteiligen dürfen. Das Verhältnis beider wird als strategische Partnerschaft verstanden.4 0 Im Ergebnis bedeutet dies eine Komplementarität zwischen den Headline Goals und NATO-Kapazitäten zur Krisenreaktion (NATO Response Forces – NRF). So wurden aus Ressourcen des Eurokorps, das den Kern der NRF stellt, auch Battle Groups gebildet; die deutsch-französische Brigade hat diese Funktion bereits mehrmals wahrgenommen. Die bisher durchgeführten Maßnahmen unterstreichen die komplementäre Rolle der GSVP Die Zahl der autonomen, also nicht als Teil einer NATO-Operation geführten GSVP-Missionen ist begrenzt. Hierunter lassen sich die nach dem Berlin-Plus-Abkommen beschlossenen und die unabhängigen Missionen fassen. Von ihnen waren sieben militärischer Art: – die Mission Concordia (Mazedonien, 2003), die keinen großen Aufwand erforderte und auf einem wenig kritischen Terrain stattfand;4 1 – die erste Kongo-Mission (Artemis 2003) wurde weitgehend von französischen Verbänden bestritten;4 2
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Die Anwendung wird seit dem Beitritt Zyperns zur EU wegen griechisch-türkischer Streitigkeiten immer wieder blockiert, siehe Müller-Brandeck-Bocquet (Anm. 21), 73. 40 Declaration on Alliance Security, North Atlantic Council in Strasbourg/Kehl, NATO Press Release (2009) 043 vom 4.4.2009, 2. 41 Gemeinsame Aktionen 2003/92/GASP vom 27.1.2003 über die militärische Operation der EU in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, ABl. L 34/26, und 2003/202 GASP vom 18.3.2003 über den Beginn der Militäroperation der EU in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, ABl. L 76/43. 42 Gemeinsame Aktion 2003/423/GASP vom 5.6.2003 über die militärische Operation der EU in der Demokratischen Republik Kongo, ABl. L 143/50.
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– die seit 2004 laufende Mission Althea in Bosnien-Herzegowina war mit insgesamt bis zu 2.500 Soldaten die bislang umfangreichste Mission, ist jedoch in militärischer Hinsicht wesentlich die Fortführung einer bereits errichteten Struktur (SFOR) unter neuem Namen, wie neben anderem auch die Beteiligung von Nicht-GSVP-Staaten, wie Chile und der Schweiz, zeigt;4 3 – die Unterstützung der AU-Aktion Amis in Sudan (2005) war eine personell begrenzte Beratungsmission für Militär und Polizei;4 4 – die zweite Kongo-Mission (EUFOR RD Congo 2006) bestand aus einer zeitlich überschaubaren Absicherung von W ahlen;4 5 – bei EUFOR Tchad (2008/09) ging es um die Unterstützung humanitärer Maßnahmen, also gleichfalls nicht um ein robustes Mandat;4 6 – der Beitrag zu Atalanta (Piraterie) ist als eine Art Polizeiaktion zur See im Hinblick auf die militärischen Anforderungen nicht anspruchsvoll.4 7 Dagegen waren andere Maßnahmen wie EUTM (Somalia) und EUSEC (Demokratische Republik Kongo) im Schwerpunkt Ausbildungsaufträge für Polizei, Grenzsoldaten oder Militär.4 8 Regelrecht auf die Probe gestellt wurden die Kapazitäten der EU also bisher nicht. Auch die zwischenzeitlich vorgesehene Verwendung in Libyen hätte dieses Bild nicht entscheidend geändert. Mit ihr hätte einem Ersuchen der UNO entspro43
Gemeinsame Aktion 2004/570/GASP des Rates vom 12.7.2004 über die militärische Operation der EU in Bosnien und Herzegowina (Althea), ABl. L 252/10; dazu A. Baluch, Die Operation Althea: Peacekeeping im ethnisierten Föderalstaat, in: Epping et al. (Anm. 5), 181–206 (192–206). 44 Gemeinsame Aktion 2005/557/GASP vom 18.7.2005 betreffend die zivil-militärische Unterstützungsaktion der EU für die Mission der Afrikanischen Union in der Region Darfur in Sudan, ABl. L 188/46. 45 Gemeinsame Aktion 2006/319/GASP vom 27.4.2006 über die militärische Operation der EU zur Unterstützung der Mission der Organisation der Vereinten Nationen in der Demokratischen Republik Kongo (MONUC) während der Wahlen, ABl. L 116/98. 46 Gemeinsame Aktion 2007/677/GASP vom 15.10.2007 über die militärische Operation der EU in der Republik Tschad und der Zentralafrikanischen Republik, ABl. L 279/21. 47 Gemeinsame Aktion 2008/749/GASP des Rates betreffend die militärische Koordinierungsmaßnahme der EU zur Unterstützung der Resolution 1816 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, ABl. L 252/39. 48 Beschlüsse 2010/96/GASP vom 15.2.2010 über eine Militärmission der EU als Beitrag zur Ausbildung somalischer Sicherheitskräfte, ABl. L 44/16 und 2010/565/GASP vom 21.9.2010 über die Beratungs- und Unterstützungsmission der EU im Zusammenhang mit der Reform des Sicherheitssektors in der Demokratischen Republik Kongo (EUSEC RD Congo), ABl. L 248/59.
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chen werden sollen, wenn die militärische Lage dies zugelassen hätte. Der Einsatz hätte den Titel „EUFOR Libya“ tragen und erstmals mit der EU Battle Group bestritten werden sollen, an der sich auch deutsche Soldaten in einer Stärke von bis zu 1.000 Mann hätten beteiligen sollen.4 9 Die Rolle der Entlastungskapazität, die die GSVP für die NATO spielt, wäre hierdurch bestätigt worden. Der Schwerpunkt der GSVP liegt, wie nicht deutlich genug betont werden kann, seit Festlegung durch die ESS nach eigenem Selbstverständnis auf Krisenprävention, post crisis management und W iederaufbau, d.h. auf der diplomatischzivilen Ebene.5 0 Sie bleibt auf absehbare Zeit eine Option mit gegenüber der NATO ergänzendem Charakter51 und sie handelt nicht ohne Mandat der Vereinten Nationen, für die sie als Regionalorganisation nach Kapitel VIII der Charta fungiert.5 2 Sie ist Teil einer globalen Sicherheitsarchitektur.5 3 Eine „eigene“ Armee braucht sie dafür nicht.
D. Verfassungsrechtliche Aspekte Solange dies so bleibt, stellen sich im Hinblick auf die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit keine neuen Fragen. Denn die EU handelt in der GSVP entweder unterhalb der Gewaltschwelle oder sie ist in Missionen eingebunden, für die es eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates gibt. Umstritten ist, ob die verfassungsrechtliche Legitimation der grundsätzlichen Beteiligung Deutschlands an der GSVP über Art. 24 II oder 23 GG erfolgt; wegen der erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten ist dies nicht nur von akademischem Interesse. Soweit ein Handeln in die GASP eingebunden ist, dürfte indes – entgegen der Auffassung des BVerfG – die Spezialvorschrift des Art. 23 GG anzuwenden sein.54 49
Beschluss 2011/210/GASP des Rates vom 1.4.2011 über eine Militäroperation der Europäischen Union zur Unterstützung humanitärer Hilfseinsätze als Reaktion auf die Krisensituation in Libyen (EUFOR Libya), ABl. L 89/17; FAZ vom 8.4.2011, 6. 50 Bericht des Hohen Vertreters für die GASP über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie – Sicherheit schaffen in einer Welt im Wandel, EP Dok. 17104/08 vom 10.12.2008. 51 Allgemeine Einschätzung, siehe z.B. M. Nettesheim, in: T. Oppermann et al., Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 39, Rn. 59. 52 So schon Frowein (Anm. 16), 320; v. Kielmansegg (Anm. 18), 218–222. 53 Umfassend A. Bashlinskaya, Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU: Das Rechtsverhältnis zu den Vereinten Nationen und zu regionalen Sicherheitsorganisationen, 2009. 54 Jedenfalls gegen eine Anwendung des Art. 24 II GG zum jetzigen Zeitpunkt, weil es an einer gemeinsamen Verteidigung nach Art. 42 II EUV fehle, BVerfGE 123, 267 (360 f.,
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W ürde der Bezugsrahmen des Grundgesetzes verlassen, wenn die EU mit eigenen Streitkräften neben die oder gar an die Stelle der nationalen Armeen träte?5 5 Ein gewisses Potenzial dazu ist in den Verträgen angelegt, wie die Rolle der Europäischen Verteidigungsagentur anschaulich macht, und auch der Umstand, dass multinationale Verbände für Kampfeinsätze in Bereitschaft stehen, zeigt, wie weit sich die Realität von dem im Grundgesetz in Aussicht genommenen Leitbild der nationalen Territorialverteidigung entfernt hat. Das zentrale Problem ist die demokratische Legitimation. Das EP ist an Maßnahmen der GSVP nur marginal, d.h. durch Anhörung, Unterrichtung und Fragerechte (Art. 36 EUV), beteiligt. Der Einsatz der Bundeswehr verlangt indessen nach einer konstitutiven Zustimmung des Bundestages. Dies gilt bisher auch für Einsätze im Rahmen der GSVP. Die Auflösung der nationalen W ehrpflichtigenarmeen in professionelle, multinationale, mobil und arbeitsteilig operierende Einheiten könnte auch insofern neue Fragen aufwerfen. Sollten nun integrierte Streitkräfte bislang in nationaler Verantwortung wahrgenommene Verteidigungsaufgaben übernehmen, entstünde eine neuartige zwischenstaatliche Einrichtung, für die nach Art. 24 GG ein Gesetz notwendig ist. Soweit die Verantwortung auf die EU übergeht, unterläge dieses Gesetz den Anforderungen des Art. 23 GG. Dann erhebt sich die Frage, ob es für die konkreten Einsatzbefehle beim Prinzip des konstitutiven Parlamentsvorbehalts bleiben würde. Die parlamentarische Zustimmungsbedürftigkeit bewaffneter Auslandseinsätze gründet sich nach den Streitkräfte-Urteilen des BVerfG auf Eigenheiten der W ehrverfassung, aber auch auf den Status der Bundeswehr als „Parlamentsheer“.5 6 Letztlich beruht sie zugleich auf der Grundrechtsrelevanz des Einsatzbefehls und auf dem Demokratieprinzip. Der Parlamentsbeschluss muss gleichsam die Einwilligung der Betroffenen fingieren; der Eintritt in einen bewaffneten Konflikt ist aber auch eine hochpolitische Entscheidung, die der demokratischen Selbstbestimmung unterliegen muss. Hieran soll sich auch im Falle einer Integration der Bundeswehr in eine Europäische Verteidigungsstruktur nichts ändern, wie das BVerfG ausdrücklich festgestellt hat.5 7 Die W irksamkeit des Parlamentsvorbehaltes wird danach durch 422–426) – Lissabon; darin liegt allerdings ein Widerspruch zu BVerfGE 90, 286 (349 f.); wie hier bereits I. Fährmann, Die Bundeswehr im Einsatz für Europa, 2009, 202–219; R. Scholz, in: T. Maunz et al. (Hrsg.), Grundgesetz, 61 Lfg. 2011, Art. 23, Rn. 65. 55 Zur Diskussion Stein (Anm. 12), 58–62; F. Kirchhof, Deutsche Verfassungsvorgaben zur Befehlsgewalt und Wehrverwaltung in multinationalen Verbänden, NZWehrr 1998, 152–163; J. Wieland, Ausländische Vorgesetzte deutscher Soldaten in multinationalen Verbänden, NZWehrr 1999, 133–142; V. Epping, in: Maunz et al. (Anm. 54), Art. 65a, Rn. 64–68. 56 BVerfGE 90, 286 (381 f.); 121, 135 (154). 57 BVerfGE 123, 267 (361, 424 f.) – Lissabon.
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die Einstimmigkeit gewährleistet, der Entscheidungen in der GSVP unterliegen. Sie soll nach dem Lissabon-Vertrag erhalten bleiben (Art. 48 VII UAbs. 1 S. 2 EUV), und sie aufrechtzuerhalten hat das BVerfG zur verfassungsrechtlichen Pflicht erklärt. Ob danach ein vollständiger Übergang der Verteidigung auf die EU überhaupt denkbar wäre, scheint zweifelhaft. Aber auch wenn man sich von dem Leitbild des nationalen Parlamentsheeres löst, müsste die Ratio des parlamentarischen Beistimmungsrechts in die Struktursicherungsklausel des Art. 23 I GG hineingelesen werden und dazu führen, eine gleichwertige parlamentarische Letztverantwortung auf europäischer Ebene zu verlangen.5 8
E. Resümee Die Entwicklung rechtfertigt weder Euphorie noch Untergangsängste.5 9 Auf absehbare Zeit wird es bei einer Arbeitsteilung zwischen NATO und GSVP mit Vorrang der NATO bleiben. Angesichts der Rolle der EU als Zivilmacht reichen militärische Notfallbefugnisse auch vollkommen aus, eine Duplizierung oder Ersetzung der NATO ist weder erwünscht noch erforderlich. Die Ausgangsfrage dieses Beitrags nach den europäischen Verteidigungsstreitkräften lässt sich sicher nur auf mittlere Sicht beantworten, dürfte aber in dieser Perspektive im negativen Sinne ausfallen. Ungeachtet ihrer Aufgabenbeschreibung im Gesamtgefüge würden vollintegrierte europäische Streitkräfte verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen, die zwar in ihrer ganzen Reichweite noch kaum systematisch bedacht wurden, aber nach dem Stand des Lissabonner Vertrages lösbar sind.
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Zu Ansätzen R. Schmidt-Radefeld, Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration, 2005, 233–237. 59 Vgl. Anm. 1 bis 6.
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A. Einleitung In der Einladung zu dieser Ringvorlesung am W alther-Schücking-Institut war diese noch betitelt mit „Errungenschaften und Perspektiven der EU 60 Jahre nach dem Schuman-Plan“. Inzwischen haben die Kieler Veranstalter – angesichts der auf allen Rechtsfeldern spätestens seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, aber auch im Lichte aktueller Krisen wie der um die Zahlungsfähigkeit einiger Euro-Länder aufgetretenen neuen Fragen völlig zu Recht – den Fokus weg von den Errungenschaften und damit der glorreichen Vergangenheit der Europäischen W irtschaftsgemeinschaft (EW G) hin zu den Herausforderungen und damit der hoffentlich gelingenden Zukunft der Europäischen Union (EU) gelegt. Aus Sicht eines Strafrechtlers ist dies trotz unserer fachspezifisch retrospektiven Sichtweise auf begangenes und damit vergangenes Unrecht – welche uns eben von den Polizeirechtlern unterscheidet,1 die präventiv zukünftige Straftaten zu verhindern suchen – sicherlich zu begrüßen, denn das heute allgemein sogenannte „Europäische Strafrecht“ war im Schuman-Plan, in der Montanunion (1952) und auch in den Römischen Verträgen allenfalls implizit angelegt und spielte deshalb weder in der nationalen Strafrechtspraxis noch in der Strafrechtswissenschaft in den ersten vier Jahrzehnten der EW G eine nennenswerte Rolle.2 Selbst „leading
1 Polemisch betitelt B. Schünemann die (seines Erachtens) Fehlentwicklungen im europäischen Strafrecht daher: „Europäischer Sicherheitsstaat = europäischer Polizeistaat?“, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 2007, 528 ff. 2 Allerdings sah die 1952 beschlossene und zwei Jahre später gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) eine Übertragung von Strafbefugnissen vor; ob daraus allerdings der Schluss gezogen werden kann, die Vertragsparteien der Römischen Verträge hätten bewusst auf eine Übertragung von Strafkompetenzen verzichtet (so D. Oehler, Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: Th. Vogler et al. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, Bd. 2, 1985, 1399, 1404; H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2011, § 8, Rn. 21), erscheint angesichts der unterschiedlichen Funktionen von EVG und EWG fraglich (M. Böse, Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, Goltdammer’s Archiv
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cases“ des EuGH, die auf Vorabentscheidungsersuchen nationaler Strafgerichte zurückgegangen sind – beispielhaft nennen möchte ich nur die berühmten Fälle aus den 1970er Jahren „Dassonville“3 und „Cassis de Dijon“4 sowie noch 1992 „Keck und Mithouard“5 –, wurden lange in ihrer Rezeption in Rechtspraxis und Schrifttum nicht oder kaum mit dieser „Vaterschaft“ in Verbindung gebracht. Von „Cassis“ bis „Keck“ diskutierte man vielmehr etwa heftig im Europäischen W ettbewerbsrecht, welche nationalen Normen – hier eben (W irtschafts-)Strafgesetze – als M aßnahmen gleicher W irkung wie Zölle und mengenmäßige Beschränkungen im Sinne des heutigen Art. 34 AEUV zu einer europarechtswidrigen Einschränkung der W arenverkehrsfreiheit führten.
B. Europäisierung der Strafrechtswissenschaft und Strafrechtsprechung I. W issenschaftliche Annäherungen Dass das nationale Strafrecht im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts eine eigene Entwicklung genommen, sich in Richtung auf ein „gemeineuropäisches Strafrecht“ entwickelt hat, ist – nicht nur – in Deutschland daher eine relativ neue Entdeckung. Naturgemäß waren das öffentliche Recht und das gesamte W irtschaftsrecht diejenigen Teilgebiete des nationalen Rechts, die zuerst und von Anfang der EW G an durch das primäre und sekundäre Europarecht nachhaltig beeinflusst worden sind. Andere Teildisziplinen des nationalen Rechts, und darunter eben auch das Strafrecht, blieben länger von Beeinflussungen aus Brüssel verschont bzw. wollten eine solche vielleicht auch einfach nicht wahrhaben. Während aber etwa der Heidelberger Zivilrechtler Christian Müller-Graff Ende der 1980er Jahre dem Verhältnis von „Privatrecht und europäische[m] Gemeinschaftsrecht“ eine Monographie widmete,6 der Göttinger Rechtshistoriker Rolf Knütel in einem JuS-Aufsatz Mitte der 1990er Jahre über die gar nicht so seltenen Fälle eines Rekurses auf „Ius commune und Römisches Recht vor Gerichten der Europäischen Union“7 berichtete und mein heutiger Fakultätskollege Stefan Grundmann wenige für Strafrecht (GA) 2006, 211, 213; M. Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009, 69 f., Fn. 204). 3 EuGH Slg. 1974, 837. 4 EuGH Slg. 1979, 649. 5 EuGH Slg. 1993, I-6097. 6 Ch. Müller-Graff, Privatrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989. 7 R. Knütel, Ius commune und Römisches Recht vor Gerichten der Europäischen Union, Juristische Schulung (JuS) 1996, 768 ff.
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Jahre später den Terminus „Europäisches Schuldvertragsrecht“ prägte,8 erschien – wenngleich nach zunächst noch weniger beachteten Vorarbeiten in den 1990er Jahren, insbesondere von dem heutigen Direktor des Freiburger Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht Ulrich Sieber,9 dem damaligen EuGH-Richter Manfred Zuleeg1 0 und dem Heidelberger Ordinarius Gerhard Dannecker,1 1 aber auch in einigen Dissertationen1 2 – die immer noch grundlegende strafrechtliche Habilitationsschrift des Münchener Kollegen Helmut Satzger unter dem Titel „Die Europäisierung des Strafrechts“ erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts1 3 – freilich unverzüglich gefolgt von weiteren Habilitationsschriften, die sich mit dem Betrugsrecht,1 4 der W irkung von EG-Richtlinien auf das nationale Strafrecht1 5 und mit der rechtsphilosophischen Legitimation von Strafrechtssetzungsverpflichtungen seitens der EU befassten.1 6
II. Europäische Strafrechtsprechung In der Rechtsprechung des EuGH trat – trotz der erwähnten Entscheidungen zu „Dassonville“ und „Cassis de Dijon“ sowie einer bereits bis dahin fein ziselierten Rechtsprechung zum Kartellbußgeldrecht aufgrund der Kartellverordnung VO 17/621 7 (heute VO 1/2003) – das europäische Strafrecht als solches erst seit 2003 deutlich in Erscheinung, als der Luxemburger Gerichtshof erstmals – und seither immerhin noch neunmal – über Inhalt und Reichweite des in Art. 54 des 8
S. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1999. U. Sieber, Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 103 (1991), 957 ff.; ders. (Hrsg.), Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, 1993. 10 M. Zuleeg, Der Beitrag des Strafrechts zur europäischen Integration, JuristenZeitung (JZ) 1992, 761 ff. 11 G. Dannecker, Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: A. Eser/B. Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Band 4.3, 1995; ders., Strafrecht in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1996, 869 ff. 12 Z.B. M. Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996; D. Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung, 1998. 13 H. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001. 14 B. Hecker, Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2001. 15 Ch. Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002. 16 S. Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003. 17 Vgl. dazu nur F. Toepel, Strict liability im europäischen Bußgeldrecht? Eine Untersuchung am Beispiel des Art 15 II lit a VO 17/62, GA 2002, 685 ff.; Th. Wahl, Kartellverfahren, in: U. Sieber/F.-H. Brüner/H. Satzger/B. v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 7. 9
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Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) verankerten und mit dem Vertrag von Amsterdam zum 1.5.1999 als sog. „Schengen-acquis“ auf die Ebene des Unionsrechts gehobenen europäischen Doppelbestrafungsverbots (ne bis in idem) zu entscheiden hatte.1 8 Auf die Inhalte dieser inzwischen ständigen Rechtsprechung wird noch einzugehen sein. Zu einem „Schicksalsjahr“ für das europäische Strafrecht wurde dann 2005, und das nicht nur, weil mit dem damaligen Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa auch die darin enthaltenen strafrechtlichen Bestimmungen obsolet wurden, sondern vor allem, weil der EuGH binnen weniger Monate in drei Grundsatzurteilen Eckpfeiler eines europäischen Strafrechts sowohl mit Blick auf die Kompetenzen zur Europäisierung als auch auf Inhalt und W irkungen in den Luxemburger Boden gerammt hat.1 9 Die Fälle „Berlusconi“,2 0 „Pupino“21 und „Umweltstrafrecht“2 2 bilden bis heute eine Trilogie von „leading cases“ eines europäischen Strafrechts.2 3 In Deutschland wurde die gewachsene Bedeutung dieser Rechtsmaterie deutlich im nahezu zeitgleichen Erscheinen (freilich fünf Jahre nach dem französischen Vorbild)2 4 gleich drei neuer Lehrbücher,2 5 die den Stoff des europäischen Strafrechts als Lehr- und Prüfungsfach vor allem im Schwerpunktstudium bis heute prägen. Erst Ende vergangenen Jahres ist das nächste deutschsprachige Handbuch zum „Europäischen Strafrecht“ erschienen.26 Gerade deswegen, aber auch im Interesse einer Begriffsklärung des Terminus „Europäisches Strafrecht“ möchte ich mit einem kleinen Exkurs in die Geschichte des Strafrechts in Europa starten, bevor ich mich dann dessen Errungenschaften in 18
EuGH Slg. 2003, I-1345. Heger, Europäisierung (Anm. 2), 1 f. 20 EuGH Slg. 2005, I-3565. 21 EuGH Slg. 2005, I-5285. 22 EuGH Slg. 2005, I-7879. 23 Vgl. nur Heger, Europäisierung (Anm. 2), 1 f. 24 J. Pradel/G. Corstens/G. Vermeulen, Droit pénal européen, 2009 (inzwischen in 3. Aufl.). 25 H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2004 (inzwischen 5. Aufl. 2011); B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 2005 (inzwischen 3. Aufl. 2010); K. Ambos, Internationales Strafrecht, 2006 (inzwischen 3. Aufl. 2011). Vgl. dazu M. Heger, Literaturbericht: Lehrbücher zum internationalen Strafrecht, ZStW 117 (2005), 630 ff. Dass das europäische Strafrecht inzwischen zu einer im Jurastudium verbreiteten Materie geworden ist, verdeutlichen das jüngst erschienene Kurzlernbuch von E. Schramm, Internationales Strafrecht, 2011, wie auch das Falllösungsbuch von K. Ambos, Fälle zum Internationalen Strafrecht, 2010. 26 U. Sieber/F.-H. Brüner/H. Satzger/B. v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011. 19
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den letzten Jahrzehnten und vor allem den aktuellen Herausforderungen zuwenden möchte.
C. Ein europäisches Strafrecht? I. Kein europäisches Strafgericht Anders als mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vom 17.7.1998 2 7 für das Völkerstrafrecht gibt es bislang grundsätzlich kein europäisches Strafgesetz und auch keine gemeinsame gerichtliche Strafinstanz, vergleichbar etwa dem 2002 in Den Haag eingerichteten Internationalen Strafgerichtshof. Das hat sich mit dem Vertrag von Lissabon nicht grundlegend geändert; auch danach besteht keine Kompetenz der EU zur Errichtung eines Unionsstrafgerichts.2 8 Vereinzelte Forderungen in der W issenschaft, analog zum IStGH und ebenfalls basierend auf dem Prinzip der Komplementarität ein EUStrafgericht zu errichten,2 9 konnten sich damit (noch) nicht durchsetzen.
II. Kein europäisches Strafgesetzbuch Ebenso wenig ergibt sich aus dem Vertrag von Lissabon3 0 eine ausdrückliche Kompetenz der Europäischen Union, ein eigenständiges EU-Strafgesetz zu erlassen.3 1 Angesichts des weiterhin für die Union maßgeblichen Prinzips der limitierten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) ist es deswegen bis zu einer Vertragsänderung ausgeschlossen, ein für den gesamten Binnenrechtsraum der Union unmittelbar geltendes Strafrecht zu erlassen. Zwar gibt es seit den 1990er Jahren Vorschläge für EU-weit geltende Strafgesetze, z.B. zum Schutz der finanziellen
27
Dazu A. Zimmermann, Die Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes. Perspektiven und Probleme vor der Staatenkonferenz in Rom, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 58 (1998), 47 ff.; G. Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 55 ff. 28 Vgl. nur M. Heger, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon. Eine Durchsicht des (wohl) kommenden EU-Primärrechts vor dem Hintergrund des Lissabon-Urteils des BVerfG vom 30.6.2009, ZIS 2009, 406, 409. 29 So J. Vogel, Die europäische polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen im Wandel, in: B. Heß (Hrsg.), Wandel der Rechtsordnung, 2003, 45, 61 ff. 30 Dazu K. H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2. Aufl. 2010. 31 Vgl. nur Heger, Perspektiven (Anm. 28), 415 f.
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Interessen der EU (Corpus Juris)3 2 oder allgemeiner des W irtschafts- und Umweltstrafrechts (sog. „Europa-Delikte“),3 3 doch dienen diese bislang eher als Diskussionsgrundlage für Inhalt und Grenzen einer wünschenswerten Harmonisierung des Strafrechts in der EU 3 4 denn als konkrete Rechtssetzungsvorschläge für die Organe der EU.
III. Die Europäische Staatsanwaltschaft Seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags ist die Schaffung gesamteuropäischer Strafnormen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union durch Verordnung auf Grundlage von Art. 325 AEUV jedenfalls nicht mehr – wie noch durch Art. 280 Abs. 4 Satz 2 EG – per se ausgeschlossen.3 5 Möglich geworden ist mit Art. 86 AEUV auch die Etablierung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil der Union und ggf. auch anderer transnationaler Straftaten,3 6 doch setzt dies einen einstimmigen Beschluss im Rat voraus, der derzeit auf politischer Ebene nicht absehbar ist. Daher wird in letzter 32
Dazu M. Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, 1998; B. Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europäischen Strafrechts, 2000. 33 Vgl. K. Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der EU, 2002. 34 Zur Idee eines europäischen Modellstrafgesetzbuches – nach Art des US-amerikanischen Model Penal Code (MPC; dazu M. Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, 2 ff.) – auf der Ebene des Europarats U. Sieber, Memorandum für ein Europäisches Modellstrafgesetzbuch, JZ 1997, 369 ff.; vgl. auch ders., Einheitliches europäisches Strafgesetzbuch als Ziel der Strafrechtsvergleichung?, in: Gunnar Duttge et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 2002, 107 ff.; zurückhaltender gegenüber der Möglichkeit einer Übertragung des Beispiels des MPC auf Europa B. Stapert, American approach to harmonization, the Model Penal Code as an example for Europe?, in: A. Klip/H. van der Wilt (Hrsg.), Harmonisation and harmonising measures in criminal law, 2002, 109 ff. 35 M. Mansdörfer, Das europäische Strafrecht nach dem Vertrag von Lissabon – oder: Europäisierung des Strafrechts unter nationalstaatlicher Mitverantwortung, Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht (HRRS) 2010, 11, 17 f. 36 Dazu S. Nürnberger, Die zukünftige Europäische Staatsanwaltschaft – Eine Einführung, Zeitschrift für das Juristische Studium (ZJS) 2009, 494 ff.; K. Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2011, § 13, Rn. 19 ff.; B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 14, Rn. 37 ff.; B.-R. Killmann/M. Hofmann, Perspektiven für eine Europäische Staatsanwaltschaft, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), § 48; F. H. Brüner/H. Spitzer, Der Europäische Staatsanwalt – ein Instrument zur Verbesserung des Schutzes der EU-Finanzen oder ein Beitrag zur Verwirklichung eines Europas der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2002, 393 ff.
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Zeit immer wieder über die ebenfalls in Art. 86 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV enthaltene Möglichkeit einer Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft im W ege verstärkter Zusammenarbeit nur einer Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten nachgedacht; diese Kerngruppe könnte – so die Hoffnung wohl auf Brüsseler Ebene – nach und nach auch für die zunächst außen vor bleibenden Mitgliedstaaten Anziehungskraft entfalten. Nach dem Schengen- und dem Euro-Raum gäbe es dann auch auf der Ebene europäischer Strafverfolgung wegen Betrügereien zum Nachteil der Union – zur Verfolgung anderer Straftaten könnte eine nicht von allen EU-Mitgliedstaaten eingesetzte Europäische Staatsanwaltschaft keinesfalls zuständig sein – ein „Europa zweier Geschwindigkeiten“. Aber unabhängig davon, ob, wann und in welcher Form die Europäische Staatsanwaltschaft kommt, ist doch festzuhalten, dass damit (ohne Änderung des EU-Primärrechts) die Einrichtung einer gemeinsamen Gerichtsbarkeit für die Bekämpfung bestimmter Straftaten zum Nachteil der Union nicht verbunden sein kann. Eine Europäische Staatsanwaltschaft müsste vielmehr vor den nationalen Strafgerichten aufgrund nationalen Strafprozessrechts Anklage erheben.37
D. Grenzen des europäischen Strafrechts I. Die mitgliedstaatliche Souveränität Diese Zurückhaltung vor allem der Mitgliedstaaten bei der Schaffung unionsweiter Strafverfolgungsinstanzen ist vor allem dadurch begründet, dass das Monopol auf Strafrechtsetzung und gerade auch auf die gerichtliche Durchsetzung des Strafanspruchs als unmittelbarer Ausfluss des Gewaltmonopols seit Beginn der Neuzeit wesentlicher Bestandteil der Souveränität der Territorial- und später Nationalstaaten war und ist.3 8 Indem der Territorialherr am Ausgang des Mittelalters die Fehde verbot, private Selbsthilfe verstaatlichte und damit unter dem Schlagwort „Friede durch Recht“ ein landesherrliches Gewaltmonopol begründete,3 9 wurde sein Territorium vielfach überhaupt erst zu einem Staat; die dieses Gewaltmonopol des Territorialherren etablierende Landfriedensbewegung führte Ende des 15. Jahrhunderts zwar auch zur Errichtung des Reichskammergerichts, doch war das
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J. Vogel, Art. 86 AEUV, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Stand Oktober 2011, Rn. 41. 38 Zum Strafrecht in der frühen Neuzeit vgl. nur M. Hirte/R. Hübsch, Einführung in die ältere Strafrechtsgeschichte, Juristische Arbeitsblätter (JA) 2009, 606, 610 f.; M. Heger, Recht im „Alten Reich“ – Der Usus modernus, ZJS 2010, 29, 34 ff. 39 Vgl. A. Laufs, Frieden durch Recht – Der Wormser Reichstag 1495, JuS 1995, 665 ff.
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Strafrecht grundsätzlich einer Appellation entzogen.4 0 1532 erfolgte zwar die erste gesamtdeutsche Strafrechtskodifikation – die als „Carolina“ bekannte Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. (PGO) –, doch galt diese gegenüber den Territorialstrafgesetzen nur subsidiär.41 Dieser Gedanke der Territorialstaatsbildung auch mittels Strafrechtsharmonisierung wurde Ende des 16. Jahrhunderts staatstheoretisch dadurch untermauert, dass es nach der Lehre des berühmten französischen Philosophen Jean Bodin nur eine ungeteilte Souveränität geben konnte.42 Als wesentlicher Bestandteil dieser Souveränität wurde (und wird bis heute) auch das Strafrecht angesehen. Wollten die Territorialherren ihre gerade mühsam dem Reich abgerungene Souveränität nicht in Frage stellen, mussten sie an ihrem Strafrechtsund Strafrechtsdurchsetzungsmonopol festhalten.4 3 Mit der Ausbildung von Nationalstaaten insbesondere im 19. Jahrhundert – welche sich in Deutschland gerade auch im Umgang mit den seit Alters her unteilbaren Herzogtümern Schleswig und Holstein beweisen sollte 4 4 – wurde der Gedanke einer ausschließlichen Strafgewalt in einem Territorium als Ausdruck des Gewaltmonopols, des (Land-)Friedens durch Recht, mit der Nationalität der Staatsbürger verbunden und dadurch gleichsam metaphysisch überhöht. W ar das Strafrecht in Europa bis zum Ende des Ancien Régime trotz seiner territorialen Verankerung inhaltlich immer noch sehr ähnlich (und geprägt auch von römisch-gemeinrechtlichen Vorstellungen) 45 und wurde etwa unter dem Eindruck der Aufklärung im 18. Jahrhundert europaweit die Folter abgeschafft, entwickelte das Strafrecht und vor allem das Strafverfahrensrecht angesichts seiner Nationalisierung ein Eigenleben. Ketzerisch gesprochen: Der frühneuzeitliche Inquisitionsprozess in Spanien und in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 4 6 hat sich wohl in geringerem M aße
40
Ch. Szidek, Das frühzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen, 2002, 142. G. Radbruch, Gesamtausgabe Band 8, Strafrecht II, 1998, 370. 42 Vgl. E. Hoven, Jean Bodin (1530–1596) – Wegbereiter des modernen Staates , JuS 2007, 10 ff.; G. Kleinheyer/J. Schröder, Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. 2008, 74 ff. 43 M. Heger, Influences of EU Law on National Criminal Law, US-China Law Review 8 (2011), 263, 263 f. Zur Territorialisierung und Nationalisierung des Strafrechts in Mitteleuropa vgl. auch U. Sieber, Einführung, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), Rn. 20 ff. 44 Dazu Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 1983, 770 ff. 45 Vgl. D. Bock, Die erste Europäisierung der Strafrechtswissenschaft: Das gemeine Strafrecht auf römischrechtlicher Grundlage, ZIS 2006, 7 ff. 46 Dazu A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846, 2002, 41 ff. 41
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unterschieden als heutige Strafverfahren in Deutschland und England mit guilty plea47 und Geschworenengerichten.4 8 Auch wenn bereits die Strafgesetze in der frühen Neuzeit – wie die Carolina – in der Landessprache abgefasst waren,4 9 war doch bis Ende des 18. Jahrhunderts das Lateinische als W issenschaftssprache so dominant, dass die Strafrechtswissenschaft bis dahin trotz nationaler Gesetzgebung eine gemeineuropäische geblieben ist – ganz wie Helmut Coing es für das gesamte ius commune konstatiert hat.50 Erst mit der Nationalisierung des (Straf-)Rechts entwickelte sich auch eine nationale, auf die Landessprache gestützte und in der nationalen Kultur verhaftete Strafrechtswissenschaft; so kam im 19. Jahrhundert der zuvor gängige Austausch von Lehrmeinungen über die Grenzen der Anwendungsbereiche der Gesetze hinaus weitgehend zum Erliegen. Den Terminus einer „Europäischen Strafrechtswissenschaft“ prägte dann erst wieder Kristian Kühl auf der Berliner Strafrechtslehrertagung 1997.5 1
II. Strafverfahren als Ausdruck kultureller Identität Umgekehrt gilt seither das nationale Straf- und Strafverfahrensrecht geradezu als Ausdruck kultureller Identität des jeweiligen Staats.5 2 Der etwa von Gustav Radbruch5 3 – von 1919 bis 1926 in Kiel tätig – beschworene „Geist des Englischen Rechts“5 4 äußert sich in besonderem Maße in den Strafprozessen vor Geschworenengerichten. Und im materiellen Strafrecht kann man etwa die englischen Regelungen zur Notwehr mit Benthams Utilitarismus,5 5 die deutschen 47
Vgl. dazu F. Hertel, „Deal“ gleich „Bargain“? Verständigungen im deutschen und angelsächsischen Strafverfahren, ZJS 2010, 198 ff. 48 Dazu ausführlich M. Gerding, Trial by Jury, 2007. 49 Text abgedruckt bei A. Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998, 103 ff. 50 H. Coing, Europäisches Privatrecht, Band 1, 1985, 39. 51 K. Kühl, Europäisierung der Strafrechtswissenschaft, ZStW 109 (1997), 777. 52 Zu den Unterschieden zwischen den Strafverfahrensordnungen innerhalb der EU und ihren kulturellen Hintergründen T. Hörnle, Unterschiede zwischen Strafverfahrensordnungen und ihre kulturellen Hintergründe, ZStW 117 (2005), 801 ff. 53 Zu diesem A. Kaufmann, Gustav Radbruch, 1987; G. Kleinheyer/J. Schröder, Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 354 ff.; K. Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, 500 ff. 54 G. Radbruch, Der Geist des Englischen Rechts und die Anglo-Amerikanische Jurisprudenz, Nachdruck hrsg. von K. Schmoller 2006. 55 Zur Rezeption Benthams im 19. Jahrhundert in Deutschland vgl. S. Luik, Die Rezeption Jeremy Benthams in der deutschen Rechtswissenschaft, 2003.
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dagegen mit Kant und Hegel in Verbindung bringen.5 6 Und heute gilt häufig die Existenz oder Nichtexistenz der Todesstrafe als Ausdruck nationaler Strafrechtskultur,5 7 wobei – trotz der fortbestehenden Regelung des Art. 2 Abs. 1 EMRK und der Fortexistenz dieser Strafe in W eißrussland – die Abschaffung der Todesstrafe in Europa vielen bereits als regionales Völkergewohnheitsrecht gilt.5 8 Dieser Kulturbezug wird als Hindernis einer europaweiten Harmonisierung des Straf- und Strafprozessrechts immer wieder bemüht, sollte m.E. aber auch nicht überbetont werden. So zeigt ein Blick auf die gemeinsame Entwicklung des Strafrechts in der frühen Neuzeit – ebenso wie der Umstand, dass etwa der Geschworenenprozess in Deutschland erst 1924 („Lex Emminger“)5 9 und die gemeinrechtlich gestützte und in vielen Ländern wie auch im Völkerstrafrecht bis heute akzeptierte Unbeachtlichkeit jedes Verbotsirrtums,6 0 nicht nur des unvermeidbaren (so heute § 17 StGB), erst durch ein Grundsatzurteil des BGH im Jahre 1952 61 verabschiedet worden sind – dass die heutigen Unterschiede im Straf- und Strafprozessrecht ihrerseits das Ergebnis von Strafrechtsreformen,6 2 d.h. kriminalpolitischen Entscheidungen, und nicht so sehr Ausfluss der nationalen Identität der Rechtsunterworfenen sind; deutlich wird dies bei einem Vergleich der Irrtumsregeln innerhalb der Europäischen Union, der zeigt, dass das Ende des 19. bis Mitte des 56 Zur rechtsphilosophischen Begründung der Notwehr vgl. K. Kühl, Freiheit und Solidarität bei den Notrechten, in: Th. Weigend/G. Küpper (Hrsg.), Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag am 11. April 1999, 1999, 259 ff.; rechtsvergleichend Th. Rönnau/K. Hohn, § 32, in: H. W. Laufhütte/R. Rissing-van Saan/K. Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2006, Rn. 1 ff.; W. Perron, Rechtsvergleichende Betrachtungen zur Notwehr, in: J. Arnold et al. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag, 2005, 1019 ff.; F. Wittemann, Grundlinien und Grenzen der Notwehr in Europa, 1997. 57 Zur weltweiten Einstellung gegenüber der Todesstrafe F. Neubacher/M. Bachmann/ F. Goeck, Konvergenz oder Divergenz? – Einstellungen zur Todesstrafe weltweit, ZIS 2011, 517 ff. 58 A. Peters, Die Mißbilligung der Todesstrafe durch die Völkerrechtsgemeinschaft, Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 1999, 650, 656; Th. Hensgen/B. Janning/ M. Mansfeld, Europa – Ein Kontinent ohne Todesstrafe?, in: Ch. Boulanger/V. Heyes/ Ph. Hanfling (Hrsg.), Zur Aktualität der Todesstrafe, 2. Aufl. 2002. 59 Vgl. dazu ausführlich Th. Vormbaum, Die Lex Emminger, 1988. 60 Dazu kritisch K. Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, 816 ff.; Werle, Völkerstrafrecht (Anm. 27), Rn. 534 f. 61 BGHSt 2, 194. 62 Zur (Grundsatz-)Diskussion um die gesetzliche Behandlung eines Verbotsirrtums in der Großen Strafrechtskommission 1954–1959 vgl. nur die Kieler Dissertation von B. Rosenbaum, Die Arbeit der Großen Strafrechtskommission zum Allgemeinen Teil, 2004, 51 ff.
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20. Jahrhunderts – d.h. in der Hochzeit des Nationalismus – in Deutschland vom Reichsgericht praktizierte Irrtumsregime63 heutzutage in der Mehrheit der anderen EU-Staaten weiterhin Anwendung findet und deswegen ein „gemeinsamer Nenner“ bei einer denkbaren Harmonisierung sein könnte.6 4 Die enge Verbindung von Staatsbürgerschaft und Strafverfolgung fand etwa in Deutschland bis Ende 2000 Ausdruck im absoluten Verbot einer Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an das Ausland (Art. 16 GG a.F.). Das BVerfG hat in seinem Urteil zum Europäischen Haftbefehl vom 18.7.2005 6 5 daran festgehalten, 63
Dazu M. Heger, Woher kommt eigentlich der Verbotsirrtum, Ad Legendum 2011, 398, 399. 64 Vgl. K. Ambos, Is the Development of a Common Substantive Criminal Law for Europe Possible? Some Preliminary Reflections, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2005, 173, 179. Zu EU-rechtlich motivierten Harmonisierungsmöglichkeiten U. Das, Möglichkeiten der Angleichung des materiellen Strafrechts zwischen England und Deutschland im Rahmen des Art. K 31 EUV, 2007. 65 BVerfGE 113, 273; dazu J. Vogel, Europäischer Haftbefehl und deutsches Verfassungsrecht, JZ 2005, 801; O. Lagodny, Eckpunkte für die zukünftige Ausgestaltung des deutschen Auslieferungsverfahrens, Strafverteidiger (StV) 2005, 515; T. Gas, Die Verfassungswidrigkeit des Europäischen Haftbefehlgesetzes – gebotener Grundrechtsschutz oder euroskeptische Überfrachtung, Europarecht 2006, 285; B. Schünemann, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Europäischen Haftbefehl: markiges Ergebnis, enttäuschende Begründung, StV 2005, 681; U. Hufeld, Der Europäische Haftbefehl vor dem BVerfG – NJW 2005, 2289, JuS 2005, 865; O. Ranft, Die Verfassungswidrigkeit des (deutschen) Europäischen Haftbefehlsgesetzes, Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (wistra) 2005, 361; M. Wasmeier, Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht – Zur Verzahnung des nationalen und europäischen Strafrechts, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2006, 23; Ch. Tomuschat, Ungereimtes. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 über den Europäischen Haftbefehl, EuGRZ 2005, 453; U. Buermeyer, Grundrechtsschutz in Deutschland und Europa: Das BVerfG hebt die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auf, HRRS 2005, 273; Th. Klink/A. Proelß, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte bei Umsetzungsakten von Rahmenbeschlüssen der Europäischen Union, Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2006, 469; J. Bosbach, Nichtigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetzes. Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 18. 7. 2005 – 2 BvR 2236/04, NStZ 2006, 104; J. Jekewitz, Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, GA 2005, 625; Ch. J. Tams, Anmerkung zu BVerfG NJW 2005, 2289 – Europäischer Haftbefehl, JA 2006, 177; L. Knopp, Bundesverfassungsgericht contra EU-Haftbefehl, Juristische Rundschau 2005, 448; C. Stachel, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 2005-07-18, 2 BvR 2236/04, Verwaltungsrundschau 2005, 394; M. Böhm, Das Europäische Haftbefehlsgesetz und seine rechtsstaatlichen Mängel, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2005, 2588; J. Kretschmer, Die aktuelle Entscheidung: Das Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehlsgesetz, Jura 2005, 780. Vgl. auch M. Heger, Der europäische Haftbefehl: Zur Umsetzung europäischer Vorgaben in Deutschland, ZIS 2007, 221 ff.
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dass trotz der zwischenzeitlich im Grundgesetz erfolgten Einschränkung des Auslieferungsverbots für Deutsche den deutschen Staat immer noch eine Pflicht zur besonders zurückhaltenden Handhabung des Europäischen Haftbefehls gegenüber deutschen Staatsbürgern treffe.6 6 Als zulässig galt lange nur eine Auslieferung an den Tatortstaat oder eine Bestrafung von Auslandstaten durch den Heimatstaat (aut dedere aut punire).67 Letztlich zeigt Deutschland mit seinem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)6 8 von 2002 angesichts des für das Völkerstrafrecht mit Art. 17 Abs. 1 a) IStGH-Statut eingeführten Prinzips der Komplementarität, wonach der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nur tätig werden darf, sofern nationale Strafgerichte dazu nicht willens oder nicht in der Lage sind,6 9 dass auch weiterhin Völkerrechtsverbrechen deutscher Staatsangehöriger grundsätzlich nach deutschem Völkerstrafrecht vor deutschen Strafgerichten abgeurteilt werden sollen. Die Nationalisierung des Strafrechts lebt heute in einer menschenrechtlichen Spielart dergestalt fort, dass das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht als besonders grundrechtssensible M aterien in einem besonders engen Verhältnis zu den jeweils nationalen Grundrechtsverbürgungen gesehen werden. Deswegen gilt hier ein besonders strenger Gesetzesvorbehalt; und deswegen maß das BVerfG bekanntlich die strafrechtlichen Bestimmungen des Lissabon-Vertrags am Demokratieprinzip.7 0 Dass dann etwa für bestimmte strafprozessuale Grundrechtseingriffe im Grundgesetz detaillierte (und strenge) Verfahrensvorschriften enthalten sind – man denke nur an den ausdrücklichen Drei-Richter-Vorbehalt für den sog. „Großen Lauschangriff“ in Art. 13 Abs. 3 Satz 3 GG – , welche sich teilweise nicht (jedenfalls nicht spiegelbildlich) in den Strafverfahrensordnungen anderer EUStaaten wiederfinden lassen,7 1 wird dann zum Problem, wenn man darüber nachdenkt, im Ausland unter den dortigen verfassungs- und strafrechtlichen Rege66
BVerfGE 113, 273, 292 ff. Vgl. nur P. Popp, Grundzüge der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, 2001, Rn. 199. 68 Dazu G. Werle/F. Jeßberger, Das Völkerstrafgesetzbuch, JZ 2002, 755 ff. 69 Werle, Völkerstrafrecht (Anm. 27), Rn. 226 ff. 70 BVerfGE 123, 267; dazu M. Böse, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon und ihre Bedeutung für die Europäisierung des Strafrechts, ZIS 2010, 76. Zum Demokratieprinzip grundsätzlich F. Meyer, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht, 2009 (dazu Besprechungen von M. Heger, JZ 2010, 87); zu den Folgen des Lissabon-Urteils für das Europäische Strafrecht M. Kubiciel, Das „Lissabon“Urteil und seine Folgen für das Europäische Strafrecht, GA 2010, 84 ff.; K. Ambos/ P. Rackow, Erste Überlegungen zu den Konsequenzen des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts für das Europäische Strafrecht, ZIS 2009, 397 ff.; H.-P. Folz, Karlsruhe, Lissabon und das Strafrecht – ein Blick über den Zaun, ZIS 2009, 427 ff. 71 Vgl. nur F. Höpfel/B. Huber (Hrsg.), Beweisverbote in Ländern der EU und vergleichbaren Rechtsordnungen, 1999. 67
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lungen rechtmäßig gewonnene Beweismittel, z.B. aus einer Telefon-Überwachung, in einem Strafprozess im Inland zuzulassen, obwohl die nationalen Verfahrensverbürgungen nicht eingehalten worden sind.7 2
III. Ein europäisiertes Strafrecht Wenn man also über ein zukünftiges „Europäisches Strafrecht“ spricht, redet man weiterhin vor allem über ein nationales Strafrecht, das aber auf vielfältige W eise durch das Primär- und Sekundärrecht der Europäischen Union beeinflusst ist, mithin über ein europäisiertes Strafrecht.7 3 W ährend etwa durch Richtlinien der nationale Gesetzgeber zur Strafgesetzgebung verpflichtet werden kann,74 sind andererseits die Grundfreiheiten des EG-Vertrags unüberwindliche Hindernisse nationaler Strafrechtsdurchsetzung (das zeigt schon der „Klassiker“ „Cassis de Dijon“) 7 5 – freilich nur, soweit nicht von Europarechts wegen in ihren Schutzbereich eingegriffen werden darf. Augenfällig ist dies derzeit für den Bereich des Glücksspielstrafrechts, das via Internet,76 aber auch durch Wettbüros grenzüberschreitend angeboten werden kann und insoweit grundsätzlich den Schutz der Grundfreiheiten des AEUV genießt, solange nicht etwa der Gesundheitsschutz (vor Spielsucht) oder der Verbraucherschutz (vor Betrügereien) Eingriffe der Nationalstaaten in Angebote aus dem EUAusland in Form von Strafbewehrung von Angeboten und Inhalten im Inland rechtfertigen kann.7 7 Im jüngsten Urteil des EuGH zu dieser Problematik erklärte er bekanntlich das staatliche deutsche (und österreichische) Glücksspielmonopol in seiner konkreten Ausgestaltung für europarechtswidrig;7 8 welche Konsequenzen
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Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 12, Rn. 59 ff.; S. Gleß, Die „Verkehrsfähigkeit von Beweisen“ im Strafverfahren, ZStW 115 (2003), 131, 139 f., und ausführlich dies., Beweisrechtsgrundsätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung, 2007, sowie F. P. Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im deutschen Strafprozess, 2006. 73 Dazu H. Satzger, Europäisierung, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), § 9, und bereits grundlegend ders., Europäisierung des Strafrechts (Anm. 13); Heger, Europäisierung (Anm. 2), 55 ff. 74 Vgl. J. Eisele, Einflussnahme auf nationales Strafrecht durch Richtliniengebung der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2001, 1157 ff.; grundlegend Ch. Schröder, Europäische Richtlinien (Anm. 15), 179 ff. 75 Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 12, Rn. 58. 76 Dazu L. Mintas, Glücksspiele im Internet, 2009. 77 Vgl. EuGH Slg. 2003, I-13031. 78 EuGH MultiMedia und Recht 2010, 844.
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daraus für das deutsche Glücksspielstrafrecht (§§ 284 ff. StGB) zu ziehen sind, muss sich aber erst noch erweisen. 7 9 Solange das europäische Strafrecht aber auch in Zukunft vor allem ein europäisiertes nationales Strafrecht darstellt, ist man gezwungen, sowohl die europarechtlichen Grenzen und Pflichten als auch – bei der nationalen Umsetzung – die nationalen Grenzen insbesondere der Verfassung (namentlich die Grundrechte des Grundgesetzes) zu beachten.8 0 Auch wenn natürlich grundsätzlich – und erst recht seit der Überführung der intergouvernementalen dritten Säule in das heutzutage supranationale Unionsrecht81 – das Europarecht auch dem nationalen Verfassungsrecht vorgeht und deswegen eine nationale Umsetzungspflicht europäischer Strafrechtsvorgaben nicht allein mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht verneint werden kann, liegt hier in Zukunft gerade aus deutscher Sicht ein Problem. Immerhin klingt im Lissabon-Urteil des BVerfG an, dass die Karlsruher Richter durchaus mit der Vereinbarkeit supranationaler Strafrechtssetzungspflichten mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes und dabei namentlich dem Grundsatz „nullum crimen sine lege parlamentaria“ zu kämpfen hatten.82 Im Folgenden möchte ich, nach einem Blick auf die menschenrechtlichen Grundlegungen in EM RK und GRCh, die vier sog. Europäisierungsfaktoren des Strafrechts8 3 vor allem mit Blick auf die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon in Erinnerung rufen und danach kurz auf das unmittelbar nach dessen Inkrafttreten am 10./11.12.2009 durch den Europäischen Rat angenommene „Stockholmer Programm für ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“8 4 sowie den dazu am 20.4.2010 von der Kommission angenommenen Aktionsplan eingehen.8 5 Da allerdings die kriminalpolitischen Leitlinien dieser Dokumente keineswegs eindeutig sind, hat die internationale W issenschaftlergruppe „European Criminal Policy Initiative“ im Dezember 2009 in verschiedenen
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Dazu z.B. KG, Urteil vom 2.2.2011, Leitsatz in NVwZ-RR 2011, 647. Vgl. Heger, Europäisierung (Anm. 2), 203 f. 81 Davor für einen Vorrang des Unionsrechts B. Weißer, Die Wirkungen von EURahmenbeschlüssen auf das mitgliedstaatliche Recht. Zugleich Besprechung von EuGH EuZW 2005, 433 („Pupino“), ZIS 2006, 562, 569; Heger, Haftbefehl (Anm. 65), 222; vgl. auch Tomuschat, Ungereimtes (Anm. 65), 455 f.; Hufeld, Haftbefehl (Anm. 65), 867; J. Masing, Vorrang des Europarechts bei umsetzungsgebundenen Rechtsakten, NJW 2006, 264, 266. Dagegen etwa Klink/Proelß, Kontrolldichte (Anm. 65), 471 ff.; Stachel, Anmerkung (Anm. 65), 395. 82 BVerfGE 123, 267. 83 Vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), §§ 7 ff. 84 ABl. EU 2010, Nr. C 115, 1. 85 KOM (2010) 171. 80
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EU-Amtssprachen ein Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik veröffentlicht,86 das – aufbauend auf einer kritischen Bestandsaufnahme – eben diese Leitlinien aufnehmen möchte.
E. Menschenrechtliche Grundlegungen eines europäischen Strafrechts I. Europäische Grundrechte Die Menschenrechte der EMRK und die Grundfreiheiten der Europäischen Union begrenzten seit den 1950er Jahren das nationale Strafrecht.8 7 Dazu gekommen sind in den letzten beiden Jahrzehnten Rechtsverbürgungen des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) sowie der Grundrechte-Charta, die mit dem Vertrag von Lissabon zum 1.12.2009 Rechtsverbindlichkeit erlangt hat (Art. 6 Abs. 1 EUV). Der Grundrechtsschutz auf der Ebene der Europäischen Union ist – auch mit Blick auf das Straf- und Strafverfahrensrecht – seither dadurch vielfach verdoppelt, weil die Union bei ihren Rechtsakten gemäß Art. 6 EUV sowohl die Grundrechte-Charta als auch die EMRK zu beachten hat; wenn der in Art. 6 Abs. 2 EUV angestrebte Beitritt der EU zur EMRK erfolgt sein wird, folgt daraus auch eine Verdoppelung des Rechtsschutzes, denn dann kann nicht mehr nur der EuGH überprüfen, ob die EU ihre selbst gesetzten Grundrechtsstandards auch einhält; vielmehr steht dem EGMR die Letztentscheidung darüber zu, ob die EU die Konventionsgarantien der EMRK (allerdings nur diese) beachtet. Die allgemeinen Grundrechtsverbürgungen des Art. 6 EUV, die jeweils nur einen gemeinsamen europäischen Standard abbilden, nicht aber auch darüber hinausgehende nationale Grundrechte erfassen, werden mit Blick auf das Strafund Strafverfahrensrechts durch Art. 67 Abs. 1 AEUV diesbezüglich ausgeweitet, wonach die Union „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts [bildet], in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“.8 8
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Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009, 697 ff. (in Deutsch), mit Vorbemerkung von H. Satzger, ebd., 691 ff. 87 Vgl. Ambos, Internationales Strafrecht (Anm. 36), § 10. 88 Zur Berücksichtigung nationaler Besonderheiten bei der Europäisierung des Strafrechts N. Pastor Muñoz, Europäisierung des Strafrechts und mitgliedstaatliche nationale Besonderheiten in der Europäischen Union, GA 2010, 84 ff.
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Der von Satzger entwickelte und vom BVerfG in seinem Urteil zum Europäischen Haftbefehl vom 18.7.20058 9 aufgegriffene strafrechtsspezifische Schonungsgrundsatz, wonach in die nationalen Strafrechtssysteme aufgrund ihrer engen Verzahnung mit der nationalen Kultur nur besonders schonend eingegriffen werden soll,9 0 lässt sich auf das Achtungsgebot gegenüber den verschiedenen Rechtsordnungen und Rechtstraditionen stützen.
II. Konventionsgarantien der EM RK Betrachtet man die Entwicklung der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme seit dem Schumann-Plan, so hat – was in Deutschland wohl erst in den 1980er Jahren weitgehend anerkannt worden ist9 1 – die EMRK das nationale Strafverfahrensrecht in allen Mitgliedstaaten des Europarats nachhaltig beeinflusst.9 2 Auch das grundgesetzlich fundierte deutsche Strafprozessrecht konnte bis heute nicht in jedem Fall „aus eigener Kraft“ den Vorgaben der Straßburger Richter genügen, so dass die Bundesrepublik trotz ihres ausgebauten Grundrechtsschutzes immer wieder Niederlagen vor dem EGMR hinnehmen musste oder dieser jedenfalls erhebliche Rechtsverstöße gegen die EMRK konstatiert hat.9 3 Auch auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts gingen vom Europarat Impulse aus,9 4 wenngleich die EMRK das materielle Strafrecht zunächst eher am Rande betroffen hat.95
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BVerfGE 113, 273. Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Anm. 13), 166 ff. 91 K. Kühl, Der Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland, ZStW 100 (1988), 406 bzw. 601; S. Trechsel, Der Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Schweiz, ZStW 100 (1988), 667. 92 Vgl. nur die eindrucksvolle Bestandsaufnahme bis 1999 von R. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002. 93 So jüngst im Fall „Gäfgen“ gegen Art. 3 EMRK (EGMR NJW 2007, 2461). 94 Überblick bei W. Schomburg, Überblick über die Aktivitäten des Europarates auf strafrechtlichem Gebiet, sowie Überblick über die strafrechtlichen Konventionen des Europarates, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), §§ 3, 4. 95 Bereits im Zuge der geplanten großen Strafrechtsreform wurde allerdings darüber diskutiert, ob Art. 2 Abs. 2 EMRK dem traditionell weiten deutschen Notwehrrecht (heute § 32 StGB) entgegenstehen könnte (dazu D. Diehm, Die Menschenrechte der EMRK und ihr Einfluss auf das deutsche Strafgesetzbuch, 2006, 345 ff. m.w.N.). 90
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III. Grundfreiheiten des AEUV Aber auch das nationale Strafrecht ist seit den 1950er Jahren durch europäische Regelungen beeinflusst worden. Neben der EMRK ging diese W irkung im Prinzip – zunächst weitgehend unbemerkt – vom Recht der EW G aus. Neben vereinzelten sog. supranationalen Straftatbeständen zum Schutz der Rechtsprechung des EuGH 96 und von Euratom9 7 sind hierfür vor allem die Grundfreiheiten des EW G-Vertrags verbunden mit dem grundsätzlichen Vorrang des Europarechts zu nennen. Weil die Grundfreiheiten im Gemeinsamen M arkt auch nicht – wie heute in Art. 30 AEUV ausgedrückt – mit „Maßnahmen gleicher W irkung“ wie Zölle etc. ausgehebelt werden sollten, konnte von Anfang an geprüft werden, ob sich eine nationale Strafnorm faktisch als eine solche Maßnahme darstellt. Tatsächlich nahm dies der EuGH das erste Mal 1974 im Fall „Dassonville“ an.9 8 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts9 9 blieben die nationalen Strafnormen zwar bestehen, konnten aber im konkreten Fall nicht durchgesetzt werden.1 0 0 Damit setzten die Grundfreiheiten des EW GV der Instrumentalisierung des Strafrechts auf dem Gebiet des Gemeinsamen Marktes klare Grenzen.1 0 1
96 Art. 30 EuGH-Satzung: „Jeder Mitgliedstaat behandelt die Eidesverletzungen eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. Auf Anzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Täter vor seinen zuständigen Gerichten“. Seit 2008 bedarf es wegen § 162 StGB der Figur eines supranationalen Tatbestandes nicht mehr (dazu A. Sinn, Die Einbeziehung der internationalen Rechtspflege in den Anwendungsbereich der Aussagedelikte, NJW 2008, 3526). 97 Art. 194 Abs. 1 UAbs. 2 EAGV i.V.m. §§ 93 ff., 203, 353b StGB (dazu BGHSt 17, 121). 98 EuGH Slg. 1974, 837. 99 Dazu Schröder, Europäische Richtlinien (Anm. 15), 2002, 90 ff.; A. Posch, Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor Verfassungsrecht, 2010. 100 Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 9, Rn. 8 ff. 101 Umstritten ist, wie sich dieser Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Deutschland strafrechtsdogmatisch auswirkt (dazu grundlegend F. Kreis, Die verbrechenssystematische Einordnung der EG-Grundfreiheiten, 2008), konkret ob es sich dabei innerhalb des anerkannten Straftataufbaus um eine Deliktsstufe sui generis handelt (dafür die h. M., z.B. Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Anm. 13), 488 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 9, Rn. 10 ff.) oder den Grundfreiheiten des AEUV als Rechtfertigungsgrund innerhalb der Stufe der Rechtswidrigkeit Rechnung getragen werden soll (dafür z.B. T. Walter, Vor § 13, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, Rn. 201; Heger, Europäisierung (Anm. 2), 51; M. Mansdörfer, Einführung in das Europäische Umweltstrafrecht, Jura 2004, 297, 301).
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Martin Heger IV. Einzelfälle 1. Todesstrafe
Das gilt auch für die seit Beginn der 1980er Jahre erkennbaren Versuche einer europaweiten Ächtung der Todesstrafe. Diese Strafe war und ist bis heute in Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EM RK vorgesehen, galt mithin den Konventionsverfassern – wenngleich nur in rechtsstaatlichen Grenzen – keinesfalls als Verstoß gegen ein Menschenrecht. Dies änderte sich – nachdem zu Beginn der Präsidentschaft von François Mitterrand (1981) die Todesstrafe in Frankreich abgeschafft worden war – mit dem 6. Zusatzprotokoll zur EMRK, in dem 1983 die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft werden sollte; seither wurde auf verschiedenen Ebenen in Europa versucht, trotz der Regelung des Art. 2 Abs. 1 EMRK de facto die Todesstrafe aus dem tradierten Sanktionenarsenal zu bannen. Motor hierfür war der EGMR, der im Fall Soering 1989 eine Auslieferung an die USA zwar nicht wegen der dort drohenden Todesstrafe, wohl aber wegen deren Modalitäten – dem „death row syndrome“ – verboten hatte.1 0 2 Explizit unzulässig ist gemäß Art. 19 Abs. 2 GRCh selbst die Auslieferung an einen Staat, in dem die Todesstrafe droht. Und um die Jahrhundertwende erkannte der EGMR im Prozess gegen den PKK-Führer Öcalan einige Verstöße gegen das „fair trial“-Gebot, insbesondere weil über dem Verfahren das Damokles-Schwert einer Todesstrafe hing.1 03 Da die in den 1990er Jahren dem Europarat beitretenden mittel- und osteuropäischen Staaten als Beitrittsvoraussetzung auch dieses Protokoll ratifizieren mussten, waren sie genötigt, die zuvor in den meisten früheren Ostblockstaaten noch bestehende Todesstrafe abzuschaffen. 2002 folgte dann die endgültige Abschaffung der Todesstrafe im 13. Zusatzprotokoll zur EM RK. Bereits zuvor – in einem Protokoll zum Vertrag von Amsterdam – hatte sich die EU dem Kampf gegen die Todesstrafe verschrieben, weshalb Forderungen des früheren polnischen Präsidenten Kaczynski, diese Strafart in Polen wieder einzuführen, in Brüssel mit massiven Drohungen beantwortet wurden. Mit der in Art. 6 Abs. 1 EUV n.F. eingeführten Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta bestimmt deren Art. 2 Abs. 2: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden“.1 0 4 Und auch im Fall Soering böte heute die Grundrechte-Charta Schutz, denn nach deren Art. 19 Abs. 2 darf niemand in einen Staat ausgeliefert werden, in dem das ernsthafte Risiko der Todesstrafe droht. Da 102
EGMR NJW 1990, 2183. EGMR NVwZ-RR 2006, 1267. 104 Dazu M. Borowsky, Art. 2 in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Rn. 18 ff. 103
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allerdings Soering dereinst aus Großbritannien an die USA ausgeliefert werden sollte (und schließlich auch wurde), bliebe heute zu bedenken, dass aufgrund eines Protokolls zum Vertrag von Lissabon die Gerichte des Vereinigten Königreichs (und Polens) wie auch der EuGH nicht befugt sind, festzustellen, dass die dortigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen nicht mit der Grundrechte-Charta übereinstimmen.1 0 5
2. Europäisches Doppelbestrafungsverbot a) Inhalt Zunächst nur für den Schengen-Raum, seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1.5.1999 als Teil des „Schengen-acquis“ für die gesamte Europäische Union, statuiert Art. 54 SDÜ erstmals ein länderübergreifendes Doppelbestrafungsverbot, das inzwischen auch in Art. 50 GRCh enthalten ist.1 0 6 Die Voraussetzungen für das Eingreifen dieses Verfolgungshindernisses, das etwa auch dem Erlass eines Haftbefehls, der Ausschreibung im Europäischen Informationssystem (EIS) oder anderen Ermittlungsmaßnahmen entgegensteht, sind: – Rechtskräftige Aburteilung, – Identität der Tat (idem) sowie – ein Vollstreckungselement (wenn nicht Freispruch); Sanktion – ist bereits vollstreckt (verbüßte Geld- oder Freiheitsstrafe), – wird gerade vollstreckt (z. B. Bewährungsstrafe während der Bewährungsfrist) oder – kann nicht mehr vollstreckt werden (z. B. Vollstreckungsverjährung, Amnestie, Begnadigung). In allem ist der EuGH großzügig, so dass etwa auch staatsanwaltschaftliche Einstellungen gegen Auflagen (= „Aburteilung“, § 153a StPO) nach Erfüllung der Auflagen (= Vollstreckung),1 0 7 aber auch ein Freispruch mangels Beweisen bzw. wegen Verjährung einer erneuten Strafverfolgung entgegenstehen können; nicht genügend sind allerdings vorläufige Einstellungen durch Justizbehörden, die
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Art. 1 des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendbarkeit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich. 106 Dazu Ambos, Internationales Strafrecht (Anm. 36), § 10, Rn. 100 ff. 107 EuGH Slg. 2003, I-1345 „Gözütök“.
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innerstaatlich keinen endgültigen Strafklageverbrauch bewirken.1 0 8 Auch ist der Tatbegriff weit, so dass etwa die Ausfuhr (geschmuggelter Zigaretten) aus einem Staat und die Einfuhr in den anderen Staat dieselbe Tat darstellt. 1 0 9 Schließlich werden auch die einzelnen Vollstreckungselemente recht weitgehend interpretiert; das rechtskräftige Urteil muss nicht einmal irgendwann vollstreckbar gewesen sein.110 Begründet wird diese „Großzügigkeit“ vor allem mit der W echselwirkung zu den Grundfreiheiten des AEUV; denn die Freizügigkeit innerhalb der EU ist praktisch nicht gewährleistet, wenn ein in einem Staat bereits Bestrafter (oder Freigesprochener) bei der Ausreise in einen anderen EU-Staat dort Verfolgung oder Auslieferung in einen dritten EU-Staat befürchten müsste.
b) Verhältnis von Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRCh Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sind nebeneinander Art. 54 SDÜ 1 11 und Art. 50 GRCh1 1 2 rechtswirksam. Das Verhältnis beider europäischer Doppelbestrafungsverbote ist umstritten. Einerseits ist wohl Art. 50 GRCh sprachlich enger, weil er ein rechtskräftiges Urteil voraussetzt (und damit nicht etwa eine Einstellung gemäß § 153a StPO), andererseits verzichtet er jedenfalls nach dem eindeutigen W ortlaut auf ein Vollstreckungselement.11 3 Klar ist, dass Art. 54 SDÜ die einzige Rechtsgrundlage gegenüber an das SDÜ gebundene Nicht-EU-Staaten (z.B. Island) darstellt, weil diesen Staaten gegenüber die GRCh ja nicht rechtswirksam ist.1 1 4 W eiterhin könnte man Art. 54 SDÜ auf alle Aburteilungen (also auch Einstellungen) anwenden, wenn ein Vollstreckungselement vorliegt, während Art. 50 GRCh als lex specialis für Verurteilungen bereits deren rechtskräftiges Vorliegen genügen ließe, weil man in einem Binnenrechtsraum angesichts der 108
EuGH Slg. 2007, I-Rs. C-491/07 „Turansky“. EuGH Slg. 2007, I-6441 „Kretzinger“ (dazu M. Heger, Die Auswirkungen des europäischen Doppelbestrafungsverbots auf die deutsche Strafrechtsprechung, HRRS 2008, 413 ff.). 110 EuGH Slg. 2007, I-Rs. C-297/07 „Bourquain“. 111 Art. 54 SDÜ: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann“. 112 Art. 50 GRCh: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“. 113 Vgl. A. Klip, European Criminal Law, 2009, 245 f. 114 Ambos, Internationales Strafrecht (Anm. 26), § 10, Rn. 103. 109
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grundsätzlichen M öglichkeit einer Auslieferung zur Vollstreckung das Vollstreckungselement nicht mehr brauche.1 15 Dagegen hat sich aber in Deutschland infolge einer Entscheidung des LG Aachen vom 9.12.2009 1 1 6 – wenige Tage nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags – eine andere Meinung weitgehend durchgesetzt: Zwar gelte Art. 50 GRCh trotz des beschränkten Anwendungsbereichs (Art. 51 GRCh) zwischen denjenigen EU-Staaten, die die GRCh anerkennen, doch sei bei der Auslegung die Einschränkungsmöglichkeit des Art. 52 I GRCh im Lichte der Erläuterungen (vgl. Art. 52 Abs. 7 GRCh) zu beachten. In der Erläuterung zu Art. 50 GRCh1 1 7 heißt es: „Nach Art. 50 findet die Regel „ne bis in idem“ nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung. Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union: siehe die Art. 54 bis 58 SDÜ und Urteil des EuGH Slg. 2003, I-1345 „Gözütök“, Art. 7 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie Art. 10 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung. Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesem Übereinkommen von der Regel „ne bis in idem“ abweichen können, sind von der horizontalen Klausel des Art. 52 Abs. 1 über die Einschränkungen abgedeckt“. Daraus folgerten das LG Aachen1 1 8 und inzwischen auch der BGH 1 1 9 , dass Art. 54 SDÜ als gesetzliche Einschränkung zu Art. 50 GRCh i.S. von Art. 52 Abs. 1 GRCh anzusehen sei. Auch wenn diese Herleitung vielleicht dem Wortlaut der betreffenden Vorschriften nicht zuwiderläuft, ist doch das Ergebnis überaus fragwürdig, denn letztlich ist damit Art. 50 GRCh hinsichtlich seines Anwendungsbereichs enger und in seinen Voraussetzungen genauso streng wie Art. 54 115
Heger, Perspektiven (Anm. 28), 408; T. Reichling, Anmerkung zur Entscheidung des Landgerichts Aachen vom 08.12.2009, 52 Ks 9/08, StV 2010, 237 f.; M. Zöller, Die transnationale Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ nach dem Vertrag von Lissabon, in: H.-L. Günther/K. Amelung/H.-H. Kühne (Hrsg.), Festschrift für Volker Krey – Zum 70. Geburtstag am 9. Juli 2010, 2010, 518; vgl. auch M. Fletcher/R. Lööf/G. Gilmore, EU Criminal Law, 2008, 138; S. Swoboda, Paying the Debts – Late Nazi Trials before German Courts: The Case of Heinrich Boere, Journal of International Criminal Justice 9 (2011), 263, 266. 116 LG Aachen StV 2010, 237. 117 ABl. EU 2007, Nr. C 303, 31. 118 Zustimmend D. Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick, ZIS 2010, 376, 382 f., Ch. Burchard/D. Brodowski, Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union und das europäische ne bis in idem nach dem Vertrag von Lissabon, Strafverteidiger Forum 2010, 179; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (Anm. 2), § 10, Rn. 68; Ambos, Internationales Strafrecht (Anm. 26), § 10, Rn. 119; Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 13, Rn. 39. 119 BGHSt 56, 11.
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SDÜ, so dass – trotz deutlich verändertem und jedenfalls partiell ausgeweiteten W ortlauts – am Ende alles beim Alten bliebe.1 2 0
F. Strafrechtsrelevante Europäisierungsfaktoren I. Assimilierung Nur in wenigen Ausnahmefällen gelangte man darüber hinaus zu einer Pflicht zur Strafbewehrung bestimmter Verhaltensweisen. Neben den wenigen schon angesprochenen supranationalen Tatbeständen leitete der EuGH eine solche Pflicht zur Etablierung von Kriminalstrafen 1989 im bekannten „Griechischer Mais“-Urteil12 1 aus dem Loyalitätsgebot der Mitgliedstaaten gegenüber der Union ab (heute Art. 4 Abs. 3 EUV); seither gilt der Grundsatz der Assimilierung bzw. Nichtdiskriminierung, der mit dem Vertrag von Maastricht Eingang in das Primärrecht gefunden hat1 2 2 (heute Art. 325 Abs. 2 AEUV), als ein Europäisierungsfaktor des Strafrechts.1 2 3 W eiterhin hatte der EuGH bereits zuvor anerkannt, dass in Richtlinien nicht nur ein Politikfeld des EG-Vertrags geregelt, sondern zugleich den Mitgliedstaaten aufgegeben werden kann, für Verstöße gegen die umgesetzten Richtlinienvorgaben wirksame, abschreckende und angemessene Sanktionen vorzusehen;1 2 4 diese Sanktionen-Trias, die sich in leicht abgewandelter Form auch in Art. 325 Abs. 1 AEUV wiederfindet, verpflichtet zwar nicht zur Pönalisierung im engeren Sinne, solange es auch andere Sanktionen gibt, die die genannten Voraussetzungen erfüllen. In Betracht kommen etwa Bußgeldtatbestände; zivilrechtliche Haftungsnormen genügen dagegen regelmäßig nicht, weil sie nicht abschreckend sind. W enn aber wegen der Schwere des Verstoßes nur Kriminalsanktionen als angemessene Reaktion angesehen werden können, kann sich eine solche SanktionenTrias bereits in Richtung auf eine staatliche Strafbewehrungspflicht verdichten; das war der Fall etwa bei der Geldwäsche-Richtlinie der EG aus dem Jahr 1991, 1 25
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Für einen Verzicht auf das Vollstreckungselement mit guten Gründen jüngst auch M. Böse, Die transnationale Geltung des Grundsatzes „ne bis in idem“ und das „Vollstreckungselement“, GA 2011, 504, 511. 121 EuGH Slg. 1989, 2965. 122 Vgl. dazu nur I. E. Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG, 2004. 123 Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 7. 124 Zu diesen Mindestvorgaben vgl. ebd., § 7, Rn. 26 ff. und 60 ff. 125 ABl. EG 1991, L 166, 77.
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die – freilich neben völkerrechtlichen Übereinkommen 1 2 6 – die Schaffung eines Geldwäschetatbestandes im deutschen Strafrecht zur Folge hatte (§ 261 StGB).1 27 Eine Annexkompetenz kraft implied powers zur Strafrechtsanweisung als zur effektiven Durchsetzung der Harmonisierungsmaßnahmen auf den Politikfeldern im EG-Vertrag – und damit letztlich eine ungeschriebene Kompetenz zur Harmonisierung des W irtschafts- und Umweltstrafrechts – wurde bis Anfang der 1990er Jahre generell nicht angenommen.
II. Harmonisierung Erst mit dem Vertrag von Maastricht und dessen dritter Säule – der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) – wurde 1993 im EU-Recht die Kompetenz geschaffen, durch Gemeinsame Maßnahmen der Union auf eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts hinzuwirken.12 8 Von dieser Kompetenz wurde allerdings erst Ende 1998 wirklich Gebrauch gemacht, mithin zu einem Zeitpunkt, als bereits der Vertrag von Amsterdam angenommen war, der die dritte Säule explizit auf das Strafrecht fokussierte; der Titel 6 des EU-Vertrags war seither überschrieben mit „Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS).1 29 Mit dessen Inkrafttreten gab es dann ein spezielles Instrument zur Harmonisierung des Strafrechts: den Rahmenbeschluss, welchen Art. 34 Abs. 2 lit. b) EU in enger Anlehnung an die EG-Richtlinien definiert.1 30 Die wenigen Unterschiede zu einer Richtlinie – wie der explizite Ausschluss einer unmittelbaren W irkung – relativieren sich bei näherem Hinsehen, denn auch strafrechtliche Richtlinien könnten nicht zum Nachteil des Straftäters unmittelbar wirken,1 31 vor allem auch angesichts der Rechtsprechung des EuGH, der im „Pupino“-Urteil bekanntlich die Figur der richtlinienkonformen Auslegung umstandslos auf Rahmenbeschlüsse – hier zum Opferschutz – übertragen hat.1 32 In der ersten Dekade unseres Jahrhunderts erging dann eine Vielzahl strafrechtlicher Rahmenbeschlüsse, 126 Dazu Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Anm. 13), 397 f.; M. Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter von EU-Staaten durch das deutsche Strafrecht, 2005, 65 ff. 127 J. Vogel, Geldwäsche – ein europaweit harmonisierter Straftatbestand?, ZStW 109 (1997), 335 ff.; Eisele, Einflussnahme (Anm. 74), 1157 ff. 128 Dazu H. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen der Europäischen Gemeinschaft, 2000. 129 Heger, Europäisierung (Anm. 2), 68 f. 130 Dazu S. Lorenzmeier, Der Rahmenbeschluss als Handlungsform der Europäischen Union und seine Rechtswirkungen, ZIS 2006, 576 ff.; Weißer, Wirkungen (Anm. 81), 562 ff. 131 S. Alber, Art. 49, in: P. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Rn. 5. 132 EuGH Slg. 2005, I-5285.
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die einige Felder des materiellen Strafrechts, wie Geldfälschung,1 3 3 Terrorismus,134 Menschenhandel,1 3 5 Kinderpornographie,13 6 Cyberkriminalität1 37 und Rassismus,138 aber auch Einzelfragen des Strafverfahrenrechts, wie den Opferschutz,13 9 und vor allem der Rechtshilfe – man denke nur an den Europäischen Haftbefehl 1 4 0 sowie neuestens auch die Europäische Beweisanordnung 1 4 1 – regelten. Obwohl der Grundsatz der Mindestharmonisierung als wesentlicher Europäisierungsfaktor des Strafrechts1 4 2 bereits im Vertrag von Maastricht angelegt und mit dem Vertrag von Amsterdam endgültig durchgesetzt worden ist, sind doch viele Grundsatzfragen offen geblieben. So beschränkte sich die Harmonisierungskompetenz mittels Rahmenbeschlüssen nach dem W ortlaut von Art. 31 Abs. 1 lit. e) EU eigentlich auf Terrorismus, illegalen Drogenhandel und organisierte Kriminalität. Einige Deliktsvorgaben – etwa in den Rahmenbeschlüssen zur Geldfälschung – ließen sich damit kaum begründen, doch gelangte man schnell zu der Auffassung, dass die „zu enge“ Fassung Ergebnis eines Redaktionsversehens war.1 4 3 Eine andere Streitfrage musste der EuGH schlichten. Im Urteil „Umweltstrafrecht“1 4 4 hatte er zuerst der EG eine Annexkompetenz zur Strafrechtsharmonisierung mittels Richtlinien in der ersten Säule zuerkannt, um diese dann zwei Jahre später im Urteil „Meeresverschmutzung“1 4 5 inhaltlich wiederum einzuschränken: W ährend nämlich in Rahmenbeschlüssen aufgrund der expliziten 133
ABl. EG 2000, Nr. L 140, 1, und 2001, Nr. L 329, 3, sowie ABl. EG 2001, Nr. L 149, 4. Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 11, Rn. 80 ff., und ausführlich L. Kuhl, Geldfälschung; in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), § 14. 134 ABl. EG 2002, Nr. L 164, 3. 135 ABl. EG 2002, Nr. L 203, 1; allgemein zum Menschenhandel als Straftat A. L. Herz, Menschenhandel, 2005. 136 ABl. EU 2004, Nr. L 13, 44. 137 ABl. EU 2005, Nr. L 69, 67. Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 11, Rn. 99 ff., und ausführlich U. Sieber, Computerkriminalität, in: Sieber/Brüner/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), § 24. 138 ABl. EU 2008, Nr. L 328, 55. Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 11, Rn. 128 ff., und ausführlich H. Weiß, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), § 25. 139 ABl. EG 2001, Nr. L 82, 1. 140 ABl. EG 2002, Nr. L 190, 1. 141 ABl. EU 2008, Nr. L 350, 72. 142 Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 8, sowie ders., Harmonisierung, in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (Anm. 26), § 10. 143 Zur Diskussion Heger, Europäisierung (Anm. 2), 140 ff. 144 EuGH Slg. 2005, I-7879. 145 EuGH Slg. 2007, I-9097.
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Kompetenzregelung des Art. 31 Abs.1 lit. e) EU neben den Tatbestandsmerkmalen auch die Strafen harmonisiert werden durften, hielt der EuGH in EG-Richtlinien nur eine Harmonisierung der Tatbestandsseite für zulässig. Deswegen wurden 2008 aus dem Vorschlag einer Umweltstrafrechtsrichtlinie vor deren Inkrafttreten die Vorgaben für Mindesthöchststrafen wieder gestrichen.1 46 Mit dem Lissabon-Vertrag ist die Kompetenzfrage ebenso geklärt wie der Umfang möglicher Harmonisierung: In Art. 83 Abs. 1 AEUV ist für einen abschließenden, wenngleich durch einstimmigen Beschluss im Rat erweiterbaren Katalog von Straftaten eine Harmonisierung zugelassen. Und in Art. 83 Abs. 2 AEUV ist nunmehr – für alle bereits jetzt und in Zukunft harmonisierten Politikfelder der Union – auch die Annexkompetenz kodifiziert.147 In beiden Fällen ist eine Harmonisierung sowohl der Tatbestandsmerkmale als auch der Rechtsfolgen zugelassen und damit die Meeresverschmutzungsjudikatur überholt.1 4 8 Schließlich sehen beide Ermächtigungsgrundlagen eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit vor; zugleich wird in Art. 83 Abs. 3 AEUV allerdings den Mitgliedstaaten ein VetoRecht eingeräumt, wenn durch den geplanten Rechtsakt wesentliche Aspekte ihrer Strafrechtsordnung berührt werden. Umstritten ist im Einzelnen derzeit noch, welche Aspekte hierfür in Frage kommen, ob der sich darauf berufende Staat eine Begründung abgeben muss und ob diese ggf. auf EU-Ebene hinterfragt werden darf.1 4 9 Eine inhaltliche Überprüfung durch EU-Organe oder gar andere Mitgliedstaaten ist m.E. unzulässig, weil es für das Ziehen dieser „Notbremse“ („emergency brake“) nach dem W ortlaut von Art. 83 Abs. 3 Satz 1 AEUV (wie auch Art. 82 Abs. 3 AEUV mit Blick auf eine Harmonisierung des Strafverfahrensrechts) allein darauf ankommt, ob „ein Mitglied des Rates der Auffassung [ist], dass der Entwurf einer Richtlinie … grundsätzliche Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde“; allenfalls bei offensichtlichem Missbrauch könnte das Veto als unbeachtlich angesehen werden.1 5 0 Ausgeschlossen ist das Notbremse-Verfahren für die gegenseitige Anerkennung gemäß Art. 82 Abs. 1 AEUV; nicht vorgesehen ist es auch für Strafrechtsakte auf Grundlage von Art. 325 Abs. 4 AEUV, d.h. zum Schutz der finanziellen Interessen der EU, doch wird insoweit derzeit über eine analoge Anwendung des Art. 83 Abs. 3 AEUV diskutiert.1 5 1
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Vgl. Heger, Europäisierung (Anm. 2), 295 f. Vgl. nur Heger, Perspektiven (Anm. 28), 412; Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 8, Rn. 36. 148 Vgl. nur Heger, Perspektiven (Anm. 28), 413. 149 Ebd., 414. 150 Ebd., 414. 151 Dafür Heger, ebd., 416. 147
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In der Brüsseler W irklichkeit dürfte es wohl auch nur selten dazu kommen; denn wenn sich abzeichnet, dass sich ein Staat mit auch nur einer gewissen Plausibilität auf ein Veto stützen könnte, wird man sicherlich alles tun, um diesen Dissens im Rat nicht offensichtlich werden zu lassen; im Zweifel wird man die Beschlussfassung verschieben und den Rechtsakt liegenlassen. Umgekehrt werden sich alle Mitgliedstaaten wohl genau überlegen, ob sie von diesem weitgehenden Recht Gebrauch machen wollen oder nicht besser in Verhandlungen eine Lösung ihrer Probleme anstreben.
III. Gegenseitige Anerkennung Der erstmals explizit bei der Einführung eines Europäischen Haftbefehls zugrunde gelegte Gedanke einer gegenseitigen Anerkennung von rechtlichen Entscheidungen eines Mitgliedstaates – wie eben einem Haftbefehl – auch in den anderen EU-Staaten wurde aus dem EG-W irtschaftsrecht in das Strafrecht „importiert“ und galt seit den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere im Oktober 1999 sozusagen „praeter legem“ als ein wesentliches Prinzip des europäischen Strafrechts;1 5 2 eine Kodifizierung erfolgte erst mit dem Vertrag von Lissabon (Art. 67, 82 AEUV), wobei – wie bereits im Verfassungsvertrag – systematisch und sprachlich sogar ein gewisser Vorrang dieses Prinzips gegenüber der traditionellen Mindestharmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen besteht.1 5 3 Gerade die Diskussion um die Auslieferung des W ikileaks-Sprechers Julian Assange aus Großbritannien nach Schweden hat die Möglichkeiten eines Europäischen Haftbefehls deutlich werden lassen.1 5 4 Es ist vielleicht nicht ohne eine gewisse Ironie, dass das im Frühjahr 2005 vor dem BVerfG 15 5 als problematisch 152 Dazu grundlegend S. Gleß, Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ZStW 116 (2004), 353 ff.; M. Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege der EU, in: C. Momsen/R. Bloy/P. Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 233 ff.; M. Juppe, Die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen in Europa, 2007; P. Andreou, Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen in der Europäischen Union, 2009; S. Scheuermann, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im geltenden und künftigen Europäischen Strafrecht, 2009; Hecker, Europäisches Strafrecht (Anm. 36), § 12, Rn. 50 ff. 153 Heger, Perspektiven (Anm. 28), 411. 154 Dazu M. Heger, Der Fall Julian Assange, Hamburger Rechtsnotizen 2011, 105–114; K. Peters, Inhaftierter WikiLeaks-Gründer. Wohin die Reise gehen kann, Legal Tribune Online vom 10.12.2010. 155 Dazu F. Schorkopf (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht, 2006.
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diskutierte „Zungenkuss-Beispiel“ zwar nicht im Verhältnis einer von den Niederlanden angestrengten Auslieferung aus Deutschland, so doch mindestens sinngemäß Niederschlag gefunden hat. In Karlsruhe wurde damals problematisiert, ob aufgrund des mit dem Europäischen Haftbefehl verbundenen Verzichts auf das für die Auslieferung übliche Erfordernis einer beiderseitigen Strafbarkeit für einen Katalog von 32 Straftaten bzw. Straftatengruppen – darunter eben auch die Vergewaltigung, nicht aber andere Formen sexueller Nötigung – deutsche Behörden zur Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers verpflichtet sind, wenn ein niederländisches Gericht wegen eines erzwungenen Zungenkusses – nach der Rechtsprechung niederländischer Gerichte eine Vergewaltigung156 – einen Europäischen Haftbefehl erlassen hat. Dabei klangen bereits die Fragen an, die jetzt – mit Blick auf die causa Assange – wieder gestellt werden: Nach welchem Recht richtet sich, ob eine Vergewaltigung – oder natürlich jede andere Katalogtat – vorliegt? Und kommt es dabei auf die Rechtsprechung des ersuchenden Staates – im Fall Assange: Schweden – oder des ersuchten Staates – hier: Großbritannien – an? Auf die erste Frage kann man nur mit „Ja“ antworten. In Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (Rb) heißt es mit Blick auf den erwähnten Katalog von Straftaten, für die das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit nicht gelten soll, ganz deutlich, dass es auf die Ausgestaltung im Recht des Ausstellungsmitgliedstaates ankommen soll. Dass dies ausschließlich gemeint ist, ergibt sich daneben auch aus dem Ablehnungsgrund für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Art. 3 Nr. 3 Rb, denn hier – und nur hier – wird in Bezug auf die Strafmündigkeit ausdrücklich auf das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaates rekurriert. Damit ergibt sich aber auch die Frage nach der Auslegungshoheit, denn es geht stets um das „Recht“, nicht lediglich um den – möglicherweise interpretationsbedürftigen – W ortlaut des Gesetzes.1 57 Das gilt umso mehr, als es angesichts der Common Law-Tradition einiger EU-Mitgliedstaaten (Großbritannien, Irland, Malta, Zypern) trotz der Vorschrift von Art. 49 GRCh nicht einmal notwendig ist, dass Straftatbestände gesetzlich kodifiziert sind.1 5 8 Unterstützt wird das Abstellen auf die Strafgesetze im Lichte ihrer aktuellen Interpretation durch die zuständigen Strafgerichte des Ausstellungsmitgliedstaates – d.h. hier Schweden – letztlich durch das dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende Prinzip gegenseitiger Anerkennung. Im 6. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es: „Der Europäische Haftbefehl … stellt im strafrecht156
In Deutschland kann ein erzwungener Zungenkuss „nur“ als sexuelle Nötigung i. S. von § 177 Abs. 1 StGB strafbar sein (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 12). 157 Dazu ausführlich Heger, Assange (Anm. 154), 105, 109 ff. 158 Vgl. A. Eser, Art. 49 – Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Auflage 2010, Rn. 13.
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lichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar“. Nachdem auch das BVerfG in seinem Urteil vom 18.7.2005 dieses Prinzip als mit dem strafrechtlichen Schonungsgrundsatz besonders gut vereinbar herausgestellt hat1 5 9 und die gegenseitige Anerkennung inzwischen mit dem Vertrag von Lissabon auch explizit und an prominenter Stelle Eingang in das europäische Primärrecht gefunden hat (Art. 67, 82 AEUV), muss doch gelten, dass zumindest im Prinzip Großbritannien die Bewertung durch die schwedische Justiz wie seine eigene anerkennen muss. Dass damit den Binnenrechtsraum der EU 1 60 möglicherweise ein „Primat des punitivsten Staates“ beherrschen könnte, der aus allen EU-Ländern alle Unionsbürger wegen nur nach seinem Strafrecht strafbaren Handlungen vor seine Gerichtsschranken zitiert,1 61 ist trotz des Beispiels Assange m.E. aber nicht zu befürchten. Vielmehr ist es – gerade auch bei grenzüberschreitenden W irtschaftsdelikten in einem Binnenmarkt – sicherlich angebracht, dass sich einzelne Beteiligte nicht den auf einem Teilgebiet, d.h. dem Territorium eines Mitgliedstaates, geltenden (Straf-)Gesetzen entziehen können, auch wenn diese in ihrem Herkunftsland kein Pendant haben. Besonders deutlich wird dies im Bußgeldrecht: Fährt ein deutscher Spediteur in Italien schneller als erlaubt und kann dadurch mehr Aufträge abwickeln als seine Konkurrenten, sollte er sich nicht allein durch Rückkehr in sein Heimatland von der Strafhaftung befreien können.1 6 2 Das Gleiche gilt aber natürlich auch für das Kriminalstrafrecht: Beschäftigt ein aus dem Ausland stammender Unternehmer im Bundesgebiet Arbeitnehmer bei hier abzuwickelnden Aufträgen über mehr als ein Jahr,1 6 3 muss er für diese Sozialversicherungsbeiträge im Inland entrichten, tut er 159
BVerfGE 113, 273 (Leitsatz 2). Dazu M. Heger, Europäische Beweissicherung – Perspektiven der strafrechtlichen Zusammenarbeit in Europa, ZIS 2007, 547 ff. 161 So B. Schünemann, Europäischer Haftbefehl und EU-Verfassungsentwurf auf schiefer Ebene. Die Schranken des Grundgesetzes, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2003, 185, 187 f.; S. Gleß, in: W. Schomburg/O. Lagodny/S. Gleß/Th. Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. 2006, III A d, Rn. 4. Dagegen z.B. J. Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europäische Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), 400, 411 (zum Europäischen Haftbefehl), und N. Kotzurek, Gegenseitige Anerkennung und Schutzgarantien bei der Europäischen Beweisanordnung, ZIS 2006, 123, 126; vgl. dazu auch H. Seitz, Mildeste versus punitivste Strafrechtsordnung – Einige Anmerkungen zum Entwurf einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der Europäischen Union, in: H. Schöch/D. Dölling/R. Helgerth/P. König (Hrsg.), Recht gestalten – dem Recht dienen. Festschrift für Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag , 2007, 675 ff. 162 Dazu Heger, Beweissicherung (Anm. 160), 549 f. 163 Bis dahin gebietet es der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung, auch eine inhaltlich unzutreffende Sozialversicherungsbescheinigung eines anderen EU-Staates (sog. E-101160
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dies nicht, macht er sich nach § 266a StGB strafbar. Daran sollte sich nichts ändern, allein wenn und weil der Täter wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist und dort solche Sozialabgaben nicht anfallen. Gleichwohl steckt im Vorwurf vom „punitivsten Staat“ ein durchaus berechtigter Kern: Denn obwohl die Europäische Union einen (Binnen-)Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bilden soll,1 6 4 gilt doch bei nahezu allen Handlungen der EU-Organe ein faktisches „safety first“. Das ergibt sich strukturell bereits aus dem primären Europarecht, das weiterhin – auch nach dem Vertrag von Lissabon – der Union Kompetenzen zur Mindestharmonisierung des Strafrechts gibt, nicht aber die Kompetenz zur Entkriminalisierung.1 6 5 Auch wenn in Art. 82 Abs. 1 AEUV die Rechte der Beteiligten an einem Strafverfahren, d.h. insbesondere des Beschuldigten und des Opfers einer Straftat, gleichermaßen geregelt werden sollen, zeigt doch der Blick auf das Sekundärrecht, dass die zweite Gruppe „besser davonkommt“: W ährend es bereits seit zehn Jahren einen Rahmenbeschluss zum Opferschutz gibt, den der EuGH im berühmten „Pupino“-Urteil auch noch sehr großzügig angewandt hat,16 6 treten die BemüBescheinigung) im Inland als solche anzuerkennen, so dass eine Strafbarkeit gemäß § 266a StGB wegen Nichtabführens von Sozialversicherungsbeiträgen im Inland ausscheiden muss (BGHSt 51, 124; dazu U. Schulz, Zur Entscheidung des BGH hinsichtlich der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen und zur Bindungswirkung einer portugiesischen Entsendebescheinigung, NJW 2007, 237; P. Hauck, Anmerkung zu BGH 1 StR 44/06 (Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen – Bindungswirkung portugiesischer Entsendebescheinigung), NStZ 2007, 221 f.; R. Wank, Die Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen, EuZW 2007, 300 ff.; F. Zimmermann, Offene strafrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der europäischen E-101-Bescheinigung für Wanderarbeiter – zugleich eine Besprechung von BGHSt 51, 124, ZIS 2007, 407 ff. Zuvor ebenso A. Ignor/S. Rixen, Europarechtliche Grenzen des § 266a Abs. 1 StGB – Zur Bindungswirkung der E-101Bescheinigung, wistra 2001, 201; P. Pananis, Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen, in: A. Ignor/S. Rixen (Hrsg.), Handbuch Arbeitsstrafrecht, 2002, Rn. 736; dagegen K. Heitmann, in: Ch. Müller-Gugenberger/K. Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 36, Rn. 70 f., 66); dagegen sind Bescheinigungen anderer Staaten auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin zu überprüfen, so dass allein deren (unberechtigtes) Vorliegen einer inländischen § 266a StGB-Strafbarkeit nicht entgegensteht (BGHSt 52, 67; dazu M. Heger, Anmerkung zu BGH 1 StR 160/07, JZ 2008, 369 ff.). 164 Vgl. dazu nur M. Kraus-Vonjahr, Der Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa, 2002. 165 J. Vogel, Harmonisierung des Strafrechts in der Europäischen Union, GA 2003, 314, 316; Heger, Europäisierung (Anm. 2), 73. Eine solche fordert P.-A. Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003, 1; P.-A. Albrecht, Europäischer Strafrechtsraum: Ein Albtraum?, ZRP 2004, 1, 3. 166 EuGH 2005, Slg. I-5285.
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hungen der EU um eine adäquate europäische Verteidigung weitgehend auf der Stelle, obwohl bereits seit einigen Jahren auch in der W issenschaft darum gerungen wird. Beispielhaft zu nennen ist das von einer Arbeitsgruppe um Schünemann entfaltete Konzept des „Euro-Defensors“.167 Eine, vielleicht die grundsätzliche Herausforderung im Zuge der Europäisierung der Strafverfolgung ist deshalb die Gewährleistung einer effektiven Verteidigung.1 68 Sonst bleibt das aus Art. 6 Abs. 1 EMRK in Art. 47 Satz 2 GRCh übernommene und damit eigentlich im europäischen Primärrecht seit Lissabon sogar doppelt abgesicherte Gebot eines fairen Strafverfahrens vollends auf der Strecke. Das Prinzip gegenseitiger Anerkennung auch in Strafsachen mag zwar in der Tat – insofern ist dem BVerfG beizupflichten – für die Nationalstaaten schonender sein als jeder Eingriff in ihr Strafrechtsetzungs- bzw. Strafrechtsdurchsetzungsmonopol. Deswegen ist auch – anders als für Harmonisierungsakte auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts (Art. 82 Abs. 2 AEUV) – für die gegenseitige Anerkennung als solche in Art. 82 Abs. 3 AEUV kein „Notbremse-Verfahren“ und damit kein Veto-Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen.1 69 Für den – insbesondere bei großzügiger Inanspruchnahme seiner unionsweiten Freizügigkeit – bis zu 27 EU-Strafrechtsordnungen unterworfenen Unionsbürger 1 70 stellt sich die Situation demgegenüber völlig anders dar: Möglicherweise muss er in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten – und das heißt neben unterschiedlichen Rechtsordnungen eben auch unterschiedliche Sprachordnungen – seine Verteidigung koordinieren, kann es doch – vor allem bei dem Vorwurf organisierter transnationaler Kriminalität – sein, dass letztlich das Strafverfahren in einem anderen Land stattfindet als erste Teile des Ermittlungsverfahrens. Obwohl diese Probleme für eine effektive Verteidigung spätestens seit der Diskussion um den Europäi-
167 Dass die Angeklagtenrechte auf EU-Ebene stiefmütterlich behandelt werden, beklagt nicht ohne Grund H. Ahlbrecht, Der Rahmenbeschluss-Entwurf der Europäischen Beweisanordnung – eine kritische Bestandsaufnahme, NStZ 2006, 70, 75. Zu Mindestverfahrensgarantien vgl. Grünbuch der Kommission, Verfahrensgarantien im Strafverfahren, KOM (2003), 75, und den Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft vom 22.12.2006 für einen Rahmenbeschluss (Ratsdok. 16874/2006); zu einem Alternativ-Entwurf zur europäischen Strafverfolgung B. Schünemann, Grundzüge eines Alternativ-Entwurfs zur europäischen Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), 376, und ders. (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004. 168 Vgl. nur E. Cape/Z. Namoradze/R. Smith/T. Spronken (Hrsg.). Effective Criminal Defence in Europe, 2010. 169 Heger, Perspektiven (Anm. 28), 415. 170 Dazu vgl. Ch. Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, 2008.
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schen Haftbefehl immer wieder betont wurden, tritt insoweit die EU weiterhin auf der Stelle.
IV. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht Nachdem der EuGH mit Blick auf sekundäre EG-Rechtsakte bereits vor längerem die Figur einer richtlinienkonformen Auslegung geschaffen hatte, hat er diesen Gedanken – m.E. folgerichtig – im „Pupino“-Urteil 2005 auch auf innerhalb der dritten, intergouvernementalen Säule ergangene Rahmenbeschlüsse übertragen und daher italienische Gerichte für verpflichtet angesehen, bei der Auslegung der Opferschutznormen des italienischen Strafprozessrechts den Rahmenbeschluss zum Opferschutz zu berücksichtigen. Dies gilt – auch nach der Aufgabe des Instituts des Rahmenbeschlusses mit dem Vertrag von Lissabon – weiterhin; soweit nationale Straf- und Strafverfahrensnormen in Umsetzung der Vorgaben eines Rahmenbeschlusses der EU ergangen sind, müssen die nationalen Gerichte prüfen, ob der Gesetzgeber den Rahmenbeschluss vollumfänglich in das nationale Recht implementiert hat, und ggf. bestehende Umsetzungslücken im W ege unionsrechtskonformer Auslegung zu schließen suchen. Seit dem Vertrag von Lissabon steht als Harmonisierungsinstrument nur noch die Richtlinie zur Verfügung; für vor oder nach Lissabon erlassene Strafrechtsrichtlinien gilt ohnehin der Grundsatz richtlinienkonformer Auslegung, soweit dies nach nationalem Recht zulässig ist. Aus deutscher Sicht ist damit die W ortlautgrenze „in malam partem“ bei der Auslegung von europäisierten Strafnormen zu berücksichtigen („nullum crimen sine lege scripta“; Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB).
G. Europäische Kriminalpolitik I. Vorbemerkungen Nachdem mit dem Vertrag von Lissabon die kompetenziellen Grundlagen für eine Europäisierung des Strafrechts einerseits für schwerwiegende transnationale Kriminalität17 1 (Art. 83 Abs. 1 AEUV) und andererseits für das W irtschafts- und Umweltstrafrecht (Art. 83 Abs. 2 AEUV) wenn nicht gelegt, so doch jedenfalls präzisiert worden sind und der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auch in Strafsachen (Art. 82 Abs. 1 AEUV) etabliert worden ist, ist es hohe Zeit, dass sich die Europäische Union Gedanken über eine stringente Kriminalpolitik macht. Die 171
Dazu B. Hecker, Europäisches Strafrecht als Antwort auf transnationale Kriminalität?, JA 2002, 723 ff.; Heger, Beweissicherung (Anm. 160), 549 f.
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bisherigen Strafrechtsakte waren allzu oft motiviert von aktuellen Sicherheitsbedürfnissen wie auch von politischem Aktionismus. Das zeigen exemplarisch die Rechtsakte zur Terrorbekämpfung, welche jeweils unmittelbar nach großen Anschlägen – zunächst 1998 nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Ostafrika, dann nach dem 11. September 2001 – erlassen worden sind. Das Strafrecht wurde zu einem Mittel unter vielen, mit dem der „effet utile“ des Europarechts abgesichert werden soll. Der inzwischen wohl europaweit anerkannte Gedanke, dass Strafrecht nur ultima ratio des Rechtsgüterschutzes sein soll und mithin nur einen fragmentarischen Charakter besitzen kann, ist dabei vielfach in den Hintergrund getreten. Es ist sicherlich richtig, dass man sich in einem grenzenlosen EUEuropa nicht allein auf den Schutz überkommener nationaler Strafrechtsgüter beschränkt, sondern auch die Rechtsgüter der Union wie ihre finanziellen Interessen, die Rechtsprechung des EuGH und die Gemeinschaftswährung, aber auch die entsprechenden Kollektivrechtsgüter in den anderen EU-Staaten in allen Mitgliedstaaten strafrechtlich schützt,1 7 2 doch liegt schon ein Problem darin, sich europaweit zu verständigen, was schutzwürdige Rechtsgüter sind,1 7 3 zumal jedenfalls das deutsche Rechtsgutsprinzip innerhalb der EU vereinzelt dasteht. Nach jedem Terroranschlag, aber auch nach Eingriffen in das Wirtschaftssystem etc. werden regelmäßig Stimmen in Brüssel laut, die eine Schließung jedweder noch denkbarer Strafbarkeitslücken sowie eine Intensivierung grenzüberschreitender Ermittlungstätigkeit fordern, ohne dass der menschenrechtlich gebotene Schutz des Beschuldigten, aber auch unverdächtiger Dritter (die von den modernen Ermittlungsmethoden vielfach notwendig mitbetroffen sind) dabei gebührend berücksichtigt wird. Dass der EuGH im Urteil „Umweltstrafrecht“ eine Erforderlichkeitsprüfung dergestalt verlangt hat, dass man vor einer Harmonisierung eines Strafrechtsfeldes prüfen muss, ob nicht bereits solche Strafnormen in allen EUStaaten vorhanden sind, hilft wohl nicht wirklich weiter, denn bei den „core crimes“ wie Mord und Totschlag, die in keinem Strafgesetz eines EU-Staates fehlen, ist schon mangels typischen Auslandsbezugs eine Europäisierung ausgeschlossen;1 74 Rechtshilfe, z.B. in Form eines Europäischen Haftbefehls, ist dagegen möglich und – aufbauend auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen – auch im letzten Jahrzehnt vereinfacht worden. Gerade bei den modernen und weniger schwer wiegenden Tatbeständen des W irtschaftsund Umweltstrafrechts, die eine solche transnationale Dimension typischerweise aufweisen, wird es dagegen im Regelfall Unterschiede in den nationalen Kriminal172
Dazu M. Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter (Anm. 126). Vgl. nur S. Swoboda, Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen, ZStW 122 (2010), 24 ff.; R. Hefendehl/A. v. Hirsch/W. Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2002; N. Peršak, Criminalising Harmful Conduct, 2007. 174 Ambos, Development (Anm. 64), 187 ff.; Heger, Europäisierung (Anm. 2), 66. 173
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gesetzen geben; das genügt dem EuGH aber für eine Bejahung der Erforderlichkeit eines EU-weiten Vorgehens, so dass sich die Union von Europarechts wegen eigentlich die Frage sparen kann, ob es überhaupt strafrechtlicher Sanktionierung des inkriminierten Verhaltens bedarf. Eine moderne europäische Strafrechtspolitik darf es sich aber nicht so einfach machen; erforderlich sind Kriminalstrafen nur, solange es sich bei ihnen wirklich um das letzte M ittel zur Bekämpfung erheblich sozialschädlicher Zustände handelt.
II. Das Stockholmer Programm 1. Grundziele Das unmittelbar nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags am 10./11.12.2009 verabschiedete „Stockholmer Programm für ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“1 7 5 zielt mit Blick auf das europäische Strafrecht auf – die Förderung der Unionsbürgerschaft und der Grundrechte, – ein Europa als Raum des Rechts und der Justiz und – ein Europa, das schützt.
2. Schutz der Bürger In Bezug auf den Schutz der Rechte der Bürger werden u.a. genannt: – Beitritt der EU zur EMRK, – Vereinbarkeit aller EU-Rechtsakte mit den Grundrechten und Grundfreiheiten der EU, – Bemühungen zur Abschaffung von Todesstrafe, Folter und anderen Formen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, – Bekämpfung der Straflosigkeit von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Verstärkung der Zusammenarbeit mit dem IStGH, – ggf. Strafbewehrung des öffentlichen Billigens, Leugnens oder Verharmlosens von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber einer Gruppe von Personen, „die sich durch andere Kriterien defi175
ABl. EU 2010, Nr. C 115, 1.
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Unter der Überschrift: „Zusammenleben in einem Raum, in dem die Vielfalt respektiert und die Schutzbedürftigsten geschützt werden“, heißt es u.a.: – Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, – weitere Verbesserung des Schutzes der Opfer von Straftaten, – Schutz der Rechte des Verdächtigen oder Beschuldigten durch Mindestverfahrensrechte (immer noch schwach ausgeprägt), – Schutz der Privatsphäre der Bürger (z.B. Datenschutzabkommen mit USA zum Datenaustausch zu Zwecken der Strafverfolgung). Besonderes Gewicht soll auf der gegenseitigen Anerkennung aller Arten von gerichtlichen Urteilen und Entscheidungen liegen. So soll darauf aufbauend ein umfassendes System für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen geschaffen werden; daneben soll die Zulässigkeit von Beweismitteln erleichtert werden. Die Rechtsvorschriften sollen bis zu einem gewissen Grade angeglichen werden, damit eine ordnungsgemäße Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ermöglicht wird.
3. Schutz vor schwerer und organisierter Kriminalität Der Schutz vor schwerer und organisierter Kriminalität soll erreicht werden durch – Bekämpfung der globalisierten organisierten Kriminalität, – neue Strafnormen gegen Menschenhandel, – neue Strafnormen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie, – Ratifizierung des Übereinkommens über Computerkriminalität des Europarats von 2001 durch alle EU-Mitgliedstaaten, – verstärkte Bekämpfung von W irtschaftskriminalität und Korruption sowie Steuerflucht und missbräuchliche Praktiken auf den Finanzmärkten, – Terrorismus soll konsequent bekämpft werden, wobei aber – trotz der „verabscheuenswürdigen Kriminellen“ – die Grundrechte gewahrt und vor allem
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Diskriminierung vermieden werden soll. Die Maßnahmen müssen mit dem Völkerrecht im Einklang stehen. Der explizite Rekurs auf den Terroristen als „verabscheuenswürdigen Kriminellen“ lässt tief blicken, vor allem wenn man bedenkt, dass es regelmäßig um M aßnahmen gegen noch nicht rechtskräftig wegen terroristischer Straftaten verurteilte Menschen geht, für die kraft Europarechts immerhin die Unschuldsvermutung der Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRCh streitet, die mit Art. 6 EUV nunmehr im Rang europäischen Primärrechts steht. Dass dabei Diskriminierungen vermieden werden sollen, ist vor dem Hintergrund von Art. 18 AEUV ohnehin eine Selbstverständlichkeit und kann die Anklänge an ein europäisches Feindstrafrechtsdenken1 76 kaum kompensieren.
III. Der Aktionsplan der Kommission zur Umsetzung des Stockholmer Programms Am 20.4.2010 folgte ein Aktionsplan der Kommission zur Umsetzung des Stockholmer Programms,1 77 dessen Hauptaspekte hier nur ganz kurz angerissen werden sollen.1 7 8 Vorgesehen ist etwa der Beitritt zur EMRK, (endlich) eine Stärkung der Verfahrensrechte des Beschuldigten im Strafverfahren, der Aus- und Umbau strafrechtlicher Institutionen bis hin zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (projektiert für 2013), Richtlinien zu Menschenhandel und Kinderpornographie, zur Cyberkriminalität, zum Umweltschutz sowie zu Geldwäsche und Zollvergehen, schließlich eine Ausweitung der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht.
IV. Das M anifest zur Europäischen Kriminalpolitik der „European Criminal Policy Initiative“ Da auch diese Programme allenfalls Ansätze einer rationalen Kriminalpolitik erkennen lassen, wurde bereits im Dezember 2009 von der „European Criminal Policy Initiative“ – einem Kreis von Strafrechtswissenschaftlern aus zehn EU-
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Zur Diskussion um die Figur eines Feindstrafrechts vgl. nur B. Heinrich, Die Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention, ZStW 121 (2009), 94. 177 KOM (2010), 171. 178 Die Entwicklung des europäischen Strafrechts seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon beschreibt anschaulich Brodowski, Strafrechtsrelevante Entwicklungen (Anm. 118), 376 ff. und 749 ff. sowie ZIS 2011, 940 ff.
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Staaten – ein Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik erarbeitet.17 9 Kriminalpolitische Grundprinzipien sollen danach sein: – Erfordernis eines legitimen Schutzzwecks, der sich aus dem EU-Primärrecht ergibt, nicht im W iderspruch zu den verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten und der Grundrechtecharta steht und dessen Beeinträchtigung in besonderem Maße sozialschädlich ist, – ultima-ratio-Prinzip, – Schuldgrundsatz, – Gesetzlichkeitsprinzip (Bestimmtheitsgebot, Rückwirkungsverbot und Erfordernis eines Parlamentsgesetzes), – Subsidiaritätsprinzip,1 8 0 – Kohärenzprinzip (in Bezug auf europäische Rechtsordnung und Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten). Als deutscher Strafrechtler wird man keiner dieser kriminalpolitischen Prämissen etwas entgegensetzen können oder wollen. Es bleibt zu hoffen, dass sie auch auf EU-Ebene ernsthaft rezipiert werden und in den Brüsseler Rechtsetzungsakten Niederschlag finden.1 8 1
H. Schluss Von bescheidenen Anfängen in den ersten Jahrzehnten der EW G hat sich das europäische Strafrecht bis heute gemausert. Es ist von einer der Säulen der Union nach Maastricht und (vor allem) Amsterdam zu einem der Politikfelder der supranationalen Post-Lissabon-Union gewachsen. Bis Lissabon hätte die Rede von einer Vergemeinschaftung dieser Materie sein können.1 8 2 Nachdem sich in formaler Hinsicht das Strafrecht damit in die schon seit jeher, mindestens aber seit längerem vergemeinschafteten Politikfelder des W irtschafts- und Umweltrechts einordnet, 179
Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik (Anm. 86). Zum Verhältnis der Subsidiarität des Strafrechts gegenüber anderen Sanktionsinstrumenten als ultima ratio des Rechtsgüterschutzes und der Subsidiarität des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht vgl. M. Donini, Strafrechtstheorie und Strafrechtsreform, 2006, 151 ff. 181 In ihrer Erklärung vom 20.9.2011 „Towards a reasonable use of criminal law to better enforce EU rules and help protect taxpayers’ money“ (IP/11/1049) bekennt sich die Kommission ausdrücklich zu den in dem Manifest genannten Grundsätzen einer Europäischen Kriminalpolitik. 182 Heger, Perspektiven (Anm. 28), 407. 180
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bedarf es nunmehr auch einer inhaltlich konsistenten Strafrechtspolitik auf der Ebene der Europäischen Union, so dass das europäische Strafrecht als solches zu einem von kriminalpolitischen Prinzipien geleiteten Gebäude wird und nicht ein Flickenteppich von gerade aus allgemeinpolitischen (zumeist Sicherheits-)Interessen ad hoc erlassenen Einzelakten bleibt. Ansätze zu einer Systematisierung und Rationalisierung dieses Gebiets auf EU-Ebene sind bereits vorhanden; sie müssen aber in der Zukunft weiterentwickelt werden, insbesondere bevor vorschnell neue strafrechtliche Institutionen – wie die Europäische Staatsanwaltschaft – aus der Taufe gehoben werden. Vor allem aber muss die Europäische Union ein (Binnen-)Raum der Freiheit bleiben und darf nicht allein dem Primat der Sicherheit folgen;1 8 3 das europäische Strafrecht muss daher freiheitsfunktional im Interesse der Unionsbürger gedacht und gemacht werden.
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Vgl. P.-A. Albrecht, Die vergessene Freiheit, 2. Aufl. 2006; ders., Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, 2010.
Europäisches Asyl- und Einwanderungsrecht: Festung Europa? Von Kay Hailbronner
A. Festung Europa? Die Fakten Das Schlagwort von der „Festung Europa“ bezeichnet eine These. Die These, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich in zunehmendem Maße gegenüber den Migrationsströmen aus Herkunftsländern mit instabilen, politischen, sozialen oder ökonomischen Verhältnissen abschotten. Insbesondere Asylrecht und Asylpolitik der EU werden als rigide, ja sogar als unmenschlich und heuchlerisch im Hinblick auf den humanitären Anspruch auf Schutzgewährung, der in einschlägigen internationalen Verträgen und Deklarationen verankert ist, gebrandmarkt. Entsprechendes gilt für das Zuwanderungsrecht der EU und ihrer Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland, das als im Kern protektionistisch und als das Gegenteil einer weltoffenen und humanen Einwanderungspolitik kritisiert wird. Die Bilder, die in den Massenmedien über Migrationsbewegungen, insbesondere aus den Maghreb-Staaten nach Italien transportiert werden, unterstützen dieses Bild. Frontex erscheint als die Personifikation des Bösen und hat es jüngst sogar in einen „Tatort“ geschafft. Die Botschaft war: Ziel europäischer Asyl- und Ausländerpolitik ist die Abschiebung oder Fernhaltung oder in Fällen von Frontex die Versenkung von Flüchtlingsbooten auf Hoher See. Auch wenn man insgesamt keine allzu hohen Ansprüche an den Informationslevel bei so komplexen Regelungsbereichen wie dem europäischen Asyl- und Einwanderungsrecht stellen darf, so lässt sich doch feststellen, dass nur auf wenigen Gebieten so falsch berichtet wird wie über das europäische Asyl- und Einwanderungsrecht – was selbstverständlich nicht bedeutet, dass mit dem europäischen Asyl- und Einwanderungsrecht alles zum Besten steht.
B. Theoretische Grundlagen und empirische Befunde Die wissenschaftliche Basis für die These von der Festung Europa stützt sich vor allem auf drei Argumentationsstränge:
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Kay Hailbronner
1. Die Europäische Asyl- und Einwanderungspolitik führe quasi als Sicherheitskompensation für die interne Freizügigkeit im Schengen-Raum und die Abschaffung der Grenzkontrollen zu einer Abschottung gegenüber Ausländern aus Drittstaaten. 1 2. Die nationalen restriktiven Asyl- und Ausländerpolitiken können durch eine europäische Gesetzgebung legitimiert werden, bei der ohne hinreichende Kontrolle durch eine europäische Öffentlichkeit Regierungen und Verwaltungen ihre Pläne zur Abschottung durchsetzen können. 3. Die Dominanz der traditionell restriktiv eingestellten Innenministerien bestimme die Entwicklung und Gestaltung der Asyl- und Einwanderungspolitik. Ist diese theoretische Fundierung von der Festung Europas überzeugend? Zunächst steht außer Zweifel, dass der anfänglich rein zwischenstaatliche Charakter des Asyl- und Einwanderungsrechts sowohl die Schengen-Regeln als auch die Regeln über die Zuständigkeit zur Durchführung von Asylverfahren (DublinRegeln) maßgeblich geprägt hat. Die Grundlagen des europäischen Asylrechts wurden auf der Grundlage völkerrechtlicher Abkommen außerhalb der Europäischen Gemeinschaft beschlossen. Aber bereits beim Übergang der „intergouvernementalen Zusammenarbeit“ zur Gemeinschaftsgesetzgebung als Folge der Verträge von Maastricht und Amsterdam hat sich gezeigt, dass ungeachtet des Erfordernisses einer einstimmigen Beschlussfassung der Vertreter der Regierungen im Rat sich durchaus nicht immer eine einheitliche (restriktive) Linie bei den Mitgliedstaaten über die Migrationspolitik der Gemeinschaft durchsetzte. Ungeachtet des Einstimmigkeitserfordernisses sahen sich insbesondere auch stark von Migrationsströmen betroffene Mitgliedstaaten zu Konzessionen veranlasst, die sich aus einer Dominanz von Kommission, humanitär eingestellten Mitgliedstaaten und internationalen Flüchtlingsorganisationen, insbesondere dem UNHCR, ergeben hat. Der Übergang zum Grundsatz der Mehrheitsentscheidung und der gleichberechtigten Mitwirkung des Europäischen Parlaments, das in der Vergangenheit die Asylpolitik der Mitgliedstaaten heftig kritisiert hat, hat die Tendenz einer Erweiterung der Rechtsstellung von Flüchtlingen erheblich verstärkt. Das zeigen mit aller Deutlichkeit die neuesten Vorschläge der Kommission über eine Revision der beiden Richtlinien zur Aufnahme von Asylbewerbern und zur Durchführung von Asylverfahren. Darauf ist zurückzukommen. 1 Vgl. z.B. J. C. Hathaway, Harmonizing for Whom? The Devaluation of Refugee Protection in the Era of European Economic Integration, Cornell International Law Journal 26 (1993), 719; V. Guiraudon, De-nationalizing control: analyzing state responses to constraints on migration control, in: V. Guiraudon and C. Joppke (eds.), Controlling a New Migration World, 2001.
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Aber auch eine nüchterne Analyse des geltenden europäischen Einwanderungsund Asylrechts, wie es sich in zahlreichen Richtlinien manifestiert, zeigt, dass die These von der Festung Europas in der vergleichbaren rechtlichen Analyse keine ausreichende Grundlage hat.2 Die These von der Festung Europa impliziert die Verschlechterung der Rechte von Drittstaatsangehörigen; sie schließt von den institutionellen und politischen Grundlagen des europäischen Harmonisierungsprozesses auf eine tendenzielle Verstärkung restriktiver Zuwanderungspolitik – die Harmonisierung auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner, der „race to the bottom“. Tatsächlich zeigen aber die vorliegenden rechtsvergleichenden Untersuchungen, die insbesondere im Auftrag der Kommission, aber auch im Auftrag des Europäischen Parlaments bezüglich der Einwirkungen europäischer Gesetzgebung auf das nationale Recht und die Umsetzung von Richtlinien durchgeführt worden sind, das Gegenteil. Sie weisen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – darauf hin, dass in wesentlichen Bereichen des Asyl- und Einwanderungsrechts eine Anhebung der rechtlichen Standards stattgefunden hat. Die empirische Überprüfung der Grundlagen der These von der Festung Europas kann an mehreren Punkten ansetzen: Zum einen am Vergleich des rechtlichen Status von Drittstaatsangehörigen vor und nach der europäischen Rechtsharmonisierung. Problematisch ist, inwieweit die aktuelle Rechtsanwendung dadurch hinreichend zuverlässig abgebildet wird. Dass innerhalb der EU große Unterschiede bestehen, ist bekannt. Griechenland hat seine Verpflichtungen aus den Richtlinien über die Aufnahme von Asylsuchenden und die Asylverfahrensrichtlinie unzweifelhaft nicht erfüllt und beruft sich dafür auf einen Massenzustrom von Asylbewerbern. Italien greift ebenfalls zum Mittel der Vertragsverletzung, um sich unerwünschter Flüchtlinge aus Tunesien zu entledigen. Frankreich schließlich verweigert auf zweifelhafter Rechtsgrundlage diesen Flüchtlingen innerhalb des Schengen-Raums die Einreise und stellt damit die Funktionsweise von Schengen in Frage. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass eine aussagekräftige rechtsvergleichende Überprüfung nach verschiedenen Sachbereichen differenzieren muss, so z.B. bezüglich der Regelungen über den Zugang zur Europäischen Union, der Chance, ein Aufenthaltsrecht und gegebenenfalls Flüchtlingsstatus zu erreichen und schließlich der mit Einreise und Aufenthalt von Schutzsuchenden verbundenen sozialen und prozessualen Rechte. Im Zentrum der Kritik stehen beim Zugang zur EU das Visaregime, die Schengen-Regeln und insbesondere Frontex – exemplifiziert durch 2
Vgl. insbesondere E. Thielemann/N. El-Enany, Beyond Fortress Europe – How European Cooperation Strengthens Refugee Protection, in: European Union Studies Association Eleventh Biennial International Conference, 23rd–25th April 2009.
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die Bilder der toten Bootsflüchtlinge und die italienische Politik der W eiterschiebung „unerwünschter“ Tunesier durch Ausstellung eines italienischen temporären Aufenthaltstitels bei gleichzeitiger Abwesenheit sozialer Unterstützung. Für die Überprüfung der Auswirkungen europäischer Rechtsharmonisierung hat die Europäische Kommission eine Reihe von Analysen über die Umsetzung von Richtlinien in den 27 EU-Mitgliedstaaten durchgeführt, die auch die Frage der Verschlechterung der rechtlichen Situation mit einbezogen hat. Insbesondere eine Analyse der Umsetzung von 10 EU-Richtlinien im Bereich des europäischen Einwanderungs- und Asylrechts durch das Brüssler Odysseus-Netzwerk, an dem auch unser Konstanzer Forschungszentrum durch die deutschen Landesberichte und einige Generalberichte mitgearbeitet hat,3 und eine neuere Untersuchung von Thielemann und El-Enany an der London School of Economics, die sich spezifisch mit der Situation des EU-internen Schutzsystems, d.h. den Rechten von Schutzsuchenden innerhalb der EU befasst,4 zeigen, dass die Europäisierung zu einer Verbesserung der rechtlichen Standards geführt hat. Dies kann insbesondere an der Richtlinie über die Aufnahme von Asylsuchenden, der „Qualifikationsrichtlinie“ über die Anerkennungskriterien und der Asylverfahrensrichtlinie gezeigt werden.5 Ungeachtet restriktiver Tendenzen in den EU-Mitgliedstaaten, insbesondere beim Zugang zum Asylverfahren und bei der Schutzgewährung, stellt die Untersuchung von Thielemann/El-Enany fest, dass die Vergemeinschaftung des Asylrechts die Rechtsstellung von Flüchtlingen in Europa gestärkt und damit Abschottungstendenzen entgegengewirkt hat. Untermauert wird dies mit einer Analyse, die die spezifischen Aufnahmebedingungen, wie z.B. den Zugang zum Arbeitsmarkt, den Zugang von Flüchtlingskindern zu Schule und Ausbildung, und soziale Mindeststandards untersucht. Im Bereich der Qualifikationsrichtlinie sind es vor allem die Ausweitung des Flüchtlingsschutzes auf den sog. subsidiären Schutz, d.h. die Erweiterung der Fluchtgründe über die traditionelle politische Verfolgung hinaus auf Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, und die Einbe3
Odysseus Academic Network (2006), Comparative overview of the implementation of the Directive 2003/9 of 27 January 2003 laying down minimum standards for the reception of asylum seekers in the EU Member States. 4 Thielemann/El-Enany (Anm. 2). 5 RL 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, ABl. L 31/18 vom 06.02.2003; RL 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004, Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304/12 vom 30.09.2004; RL 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, Abl. L 326/13 vom 13.12.2005 (abgedruckt in: K. Hailbronner (Hrsg.), Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008).
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ziehung nicht-staatlicher Verfolgung, die bei einigen Mitgliedstaaten durchaus zu signifikanten Erweiterungen bei der Gewährung des Flüchtlingsschutzes geführt haben. Bei der Asylverfahrensrichtlinie hat insbesondere der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtschutzes mit der Verpflichtung einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu einer Stärkung der Rechte von Asylbewerbern neben der Ausgestaltung des Rechts auf ein faires und effizientes Asylverfahren durch kompetente Asylbehörden geführt.6 Entsprechende Ergebnisse lassen sich aber auch bei der Überprüfung der Auswirkungen von Einwanderungsrichtlinien auf das nationale Recht der EU-Mitgliedstaaten aufzeigen, soweit die Richtlinien bereits von den Mitgliedstaaten vollständig umgesetzt worden sind. Das gilt z.B. für die Richtlinie über die Rechtstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen,7 die neben einem neuen Aufenthaltstitel und einem weitgehenden Schutz vor Aufenthaltsbeendigung eine Inländergleichbehandlung beim Zugang zu selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeiten, Sozialleistungen und Bildungseinrichtungen mit voller Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebiets und einem Weiterwanderungsrecht in andere EU-Mitgliedstaaten als Vorstufe eines EU-weiten Aufenthaltsrechts vorsieht. Selbst die viel gescholtene Familiennachzugsrichtlinie hat über die Europäische Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz hinausgehend einen individuellen – wenn auch von gewissen Bedingungen abhängigen – Rechtsanspruch auf Nachzug von Ehegatten und minderjährigen Kindern geschaffen und damit die Souveränität der Mitgliedstaaten drastisch beschränkt. Studenten-, Forscher- und Blue-Card-Richtlinie8 haben die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen gestärkt, insbesondere im Bereich der innereuropäischen M obilität und der Inländergleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen und der Anerkennung von Diplomen. In vielen Punkten sind diese Richtlinien kritikwürdig. Die Methode der europäischen Rechtsharmonisierung führte, insbesondere unter dem Prinzip der Einstimmigkeit, zu überkomplizierten und häufig auch überdetaillierten Regelungen, bei denen die einzelnen Mitgliedstaaten versuchten, möglichst viel von ihrem nationalen Recht in die Richtlinie einzubringen. Dies führte zu gelegentlich skur6 Vgl. z.B. zur Auswirkung der Asylverfahrensrichtlinie und zu ihrer Umsetzung in Großbritannien Thielemann/El-Enany (Anm. 2), 20. 7 RL 2003/109/EG des Rates vom 25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. L 16/44 vom 23.01.2004. 8 Studenten-Richtlinie, RL 2004/114/EG des Rates vom 13.12.2004, ABl. L 37512 vom 23.12.2004; Forscher-Richtlinie, RL 2005/71/EG des Rates vom 12.10.2005, ABl. L 289/15 vom 03.11.2005; Blue-Card-Richtlinie, RL 2009/50/EG des Rates vom 25.05.2009, ABl. L 155/17 vom 18.06.2009.
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rilen, wenn auch regelmäßig fakultativen Regelungen über Angelegenheiten, die in einzelnen Mitgliedstaaten geregelt worden waren, aber keine Entsprechung in anderen Mitgliedstaaten fanden. Ein Beispiel ist die Regelung über Selbstverwaltung von Asylbewerberunterkünften in der Richtlinie über die Aufnahme von Asylsuchenden. Hinzu kam der unvermeidliche Kompromisscharakter bei unterschiedlichen Auffassungen, der nicht selten zu vagen Formulierungen führte, die im W esentlichen die Funktion hatten, unterschiedliche Auffassungen über die Auslegung einer Bestimmung zu verschleiern. Die Suche nach Kompromissen zwischen unterschiedlichen Auffassungen erklärt auch die zahlreichen Optionen und nationalstaatlichen Vorbehalte, mit denen sich die Mitgliedstaaten gegen allzu weit gehende Einmischungen in ihre nationalen Reservate abzusichern versuchten. W er im europäischen Asyl- und Einwanderungsrecht den „großen W urf“ sucht, wird daher vergeblich suchen. Ungeachtet dessen ist allen Skeptikern zum Trotz festzuhalten, dass im Bereich des Einwanderungs- und Asylrechts wesentliche Harmonisierungsschritte und auch Verbesserungen zu verzeichnen sind, die dazu führen, dass das Gebrauchmachen von Optionsregelungen und opt out-Verfahren viel seltener stattgefunden hat, als dies ursprünglich befürchtet worden ist. Insgesamt kann man daher feststellen, dass der – wenn auch zähe – Harmonisierungsprozess im Bereich des Einwanderungs- und Asylrechts erfolgreicher war, als man ursprünglich erwarten musste. Hält man sich vor Augen, dass noch vor wenigen Jahrzehnten Einwanderungs- und Asylrecht als Kern nationalstaatlicher Souveränität angesehen wurde, so stellt es keinen geringen Fortschritt dar, dass heute nach weitgehend einheitlichen Grundsätzen Visa erteilt und Aufenthaltserlaubnisse an Forscher, Studenten und qualifizierte Drittstaatsangehörige gewährt werden. Auch die Annahme, die Mitgliedstaaten würden die in den Richtlinien zahlreich vorhandenen Optionen und Ausnahmeregelungen, die nicht zuletzt aus Gründen der Findung eines Konsenses im Einstimmigkeitsverfahren unabdingbar waren, wie z.B. bei der komplexen Regelung der Beschränkung des Kindernachzugs, zur Einführung restriktiver Regelungen nutzen, hat sich nicht bewahrheitet. Die Analyse der Umsetzung zeigt, dass die Mitgliedstaaten die Optionsregelungen und Ausnahmeklauseln nutzen, um ihr vorhandenes Recht auch weiterhin aufrecht erhalten zu können. Als Instrument des „downgradings“ des vorhandenen Standards werden die europäische Rechtsharmonisierung und Optionsregelungen für Ausnahmen nur in seltenen Fällen genutzt.9
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Vgl. Odysseus Academic Network (Anm. 3).
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C. Die Europäische Einwanderungs- und Asylpolitik am Maßstab der internationalen Praxis und des humanitären Völkerrechts Unabhängig von der Frage der Verbesserung oder Verschlechterung der bestehenden nationalen Standards als Folge einer europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik kann man selbstverständlich die Frage aufwerfen, ob das europäische Normgefüge nicht substantielle Defizite und Mängel aufweist. Sind nicht die Bilder von Lampedusa und die Berichte über Griechenland ausreichend, um die grundlegende Revisionsbedürftigkeit des europäischen Asyl- und Einwanderungsrechts darzulegen? Die These von der Festung Europas gibt vor, unzweifelhaft vorhandene Defizite und Mängel des Systems durch neue Zugangswege von Flüchtlingen nach Europa, Aufhebung des Visaregimes, Erweiterung von Schutzansprüchen und Gleichstellung der Rechte von Flüchtlingen mit Inländern im Geiste der Solidarität innerhalb Europas und weltweit beheben zu können. W enngleich dieses Sammelsurium von Zielvorstellungen nur als Surrogat von im Einzelnen konkreteren Vorschlägen und Projekten erwähnt wird, so ist es doch symptomatisch für die Annahme, dass die Asylpolitik im Kern ungerecht ist und durch eine offene und großzügige europäische Asyl- und Einwanderungspolitik abgelöst werden muß. Dahinter steht der vielfach erhobene Vorwurf, die EU-Einwanderungs- und Asylpolitik sei primär auf Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen und Fluchtbewegungen unter Fernhaltung von Flüchtlingen ausgerichtet. Schon der oberflächliche Blick auf die Statistik zeigt freilich, dass in der Realität diese Annahme nicht zutrifft. Zieht man die internationale Praxis im Bereich der Aufnahme von Flüchtlingen als M aßstab heran, so können sich die europäischen Zahlen gut sehen lassen. Von insgesamt 358.000 im Jahr 2010 registrierten Asylbewerbern wurden allein 235.000 in den 27 EU-Mitgliedstaaten (d.h. 87 % aller Asylbewerber in Europa) aufgenommen. Die relative Bedeutung der EU als Aufnahmeland weltweit ist zwar etwas zurückgegangen; immer noch steht aber die EU weit vor den USA mit 78.650 registrierten Asylbewerbern, Australien mit 8.580 und Japan mit 1.630 Asylbewerbern. Auch in der Statistik der Anerkennungsquote zeigt sich keine restriktive Tendenz. Bei mehr als einem Viertel der Asylentscheidungen in erster Instanz in den 27 EU-Mitgliedstaaten wurde Antragstellern ein Schutzstatus zugesprochen. Die Anerkennungsrate von Asylbewerbern, d.h. der Anteil der positiven Entscheidungen an der Gesamtzahl der Entscheidungen, lag in der ersten Instanz bei 27 % und im endgültigen Berufungsverfahren bei 19 %. Von den 78.800 Personen, denen im Jahr 2009 in der EU der Schutzstatus zugesprochen wurde, erhielten 39.300 den Flüchtlingsstatus, 29.900 subsidiären Schutz und
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9.600 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Mehr als drei Viertel aller Zuerkennungen des Schutzstatus in der EU-27 wurden im Vereinigten Königreich, Deutschland, Frankreich, Schweden, Italien und den Niederlanden registriert. Dabei lag in absoluten Zahlen das Vereinigte Königreich mit 12.500 knapp vor Deutschland mit 12.100, Frankreich folgte mit 10.400, Schweden mit 9.100, Italien 8.600 und die Niederlande mit 8.100.1 0 Die Tendenz geht derzeit deutlich nach oben. In Deutschland haben 2010 insgesamt 41.332 Personen Asyl beantragt. Gegenüber dem Vorjahr bedeutet dies eine Steigerung um beinahe 50 %. Hauptsächlich geht der Anstieg der Zugangszahlen auf die Steigerung der Asylbewerberzahlen aus Serbien, Mazedonien, Afghanistan, Iran, Somalia und Syrien zurück. Die Gesamtschutzquote war mit 21,6 % gegenüber 33,8 % im Jahr 2009 rückläufig, was sich aus den hohen Entscheidungszahlen zu den Hauptherkunftsländern Serbien, Mazedonien und Kosovo mit sehr geringer Schutzquote erklärt.1 1 Neuere Zahlen zeigen einen deutlichen Anstieg der Asylbewerberzahlen in den Hauptaufnahmeländern der Europäischen Union. So haben von Januar bis November 2011 in Deutschland 41.491 Personen Erstasylanträge gestellt. Berücksichtigt man, dass Deutschland als Binnenstaat von sicheren Drittstaaten umgeben ist, so stellt dies einen erheblichen Anstieg dar, der insbesondere aus der Einreise legal einreisender Drittstaatsangehöriger resultiert. Anhaltend hoch ist insbesondere der Zugang von Asylbewerbern aus Afghanistan, Irak, aber auch Serbien, Kosovo und Mazedonien; d.h. Staaten, bei denen weder Hungersnot noch Bürgerkrieg herrscht und die mit der EU in Beitrittsverhandlungen stehen, weisen relativ hohe Asylbewerberzahlen auf. 1 2 Die Zahlen zeigen, dass die landläufige Vorstellung, die EU-Mitgliedstaaten und insbesondere die EU-Binnenstaaten, d.h. EU-Staaten ohne Schengen-Außengrenzen, würden sich in zunehmendem Maße abschotten und auch innerhalb der EU die Last auf einige „Frontstaaten“, wie Italien, Malta und Zypern, verteilen, jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zutrifft. Zwar beruht das europäische Asylsystem auf den Dublin-Regeln über die ausschließliche Zuständigkeitsverteilung. Danach ist grundsätzlich nur ein Mitgliedstaat entweder aufgrund eines erteilten Aufenthaltstitels, Visums oder eben auch über die illegale Einreise ausschließlich zuständig. Dass dieses System keine Lastenverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten ermöglicht, zeigt sich immer dann, wenn es zu plötzlichen größeren Migrationsbewegungen, z.B. aufgrund politischer Unruhen oder Um10
Eurostat, Pressemitteilung vom 18.06.2010, STAT/10/89. Die Zahlen beruhen auf Informationen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im April 2011. 12 Vgl. Pressemitteilung BMI, Dezember 2011. 11
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stürzen, kommt, wie dies derzeit z.B. in Libyen oder Ägypten zu beobachten ist. Zuständig ist nach den Dublin-Regeln grundsätzlich mangels anderer Kriterien derjenige Staat, in den ein Asylbewerber zuerst eingereist ist. Die illegale W eiterwanderung in andere EU-Mitgliedstaaten führt grundsätzlich zu einer Rückführung in den für die Durchführung des Asylverfahrens allein zuständigen EU-Mitgliedstaat. Das Dublin-Konzept1 3 ist, wie auch das dem deutschen Asylrecht seit der Verfassungsreform 1992 zugrunde liegende Konzept der sicheren Drittstaaten und der sicheren Herkunftsstaaten, grundsätzlich sinnvoll und notwendig, um das Unterlaufen einer Einwanderungskontrolle durch Berufung auf das Asylrecht einzuschränken. Asylrecht und Flüchtlingsschutz sollen, wie es das BVerfG einmal formuliert hat, Schutz aus einer unentrinnbaren Notlage gewähren.1 4 Aus diesem Grund kann der Anspruch auf Schutz, den die Genfer Flüchtlingskonventionen und der subsidiärer Schutz nach der Qualifikationsrichtlinie für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge eröffnen, keinen Anspruch auf freie W ahl des Asyllandes und auf W eiterwanderung innerhalb der Europäischen Union gewährleisten. Asyl und humanitärer Schutz dürfen nicht das Einwanderungsregime der EU-Mitgliedstaaten unterlaufen. Das Dublin-Konzept beruht freilich auf der stillschweigenden Annahme, dass in den Dublin-Staaten wenn auch nicht gleiche, so doch vergleichbare materiellrechtliche und prozessuale Standards für die Durchführung eines Asylverfahrens gelten, die sicherstellen, dass ein Schutzbedürftiger nicht in ein Verfolgerland zurückgeschickt wird und ihm menschenwürdige und rechtstaatlich akzeptable Bedingungen eröffnet werden, seinen Schutzanspruch geltend zu machen. Im Falle Griechenlands hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unlängst entschieden, dass eine der Europäischen Menschenrechtskonvention gemäße Behandlung in Griechenland nicht mehr gewährleistet ist und daher eine Rücksendung nach Griechenland im Rahmen der Dublin-Verordnung unzulässig ist.1 5 Ähnlich hat der EuGH in seinem Urteil vom 21.12.2011 für Griechenland entschieden, 16 dass das Unionsrecht eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems an zuständige EU-Mitgliedstaaten nicht erlaubt, wenn diese aufgrund „systemischer Mängel des Asylverfahrens“ keine Gewähr mehr für eine mit Art. 3 EMRK übereinstimmende Behandlung schutzsuchender Flüchtlinge bieten. Die Bundesregierung hat mit einem sofortigen, auf ein Jahr befristeten Stopp der Rücküberstellung an Griechenland im Rahmen des Dublin-Verfahrens unter 13
Vgl. im Einzelnen die VO 343/2003 (Dublin II) des Rates vom 18.02.2003, ABl. L 50/1 vom 25.02.2003. 14 Vgl. BVerfGE 74, 51. 15 EGMR vom 21.01.2011, Application No. 30696/09, M.S.S. v. Belgium und Greece. 16 RS C-411/10 und C-493/10, N.S. gegen Secretary of State.
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Hinweis auf die „besondere Situation in Griechenland hinsichtlich der Gewährung eines menschenrechtskonformen Asylverfahrens“ reagiert.17 Schon bislang wurde freilich im Rahmen von Dublin auf besondere Situationen mit der Nutzung eines sog. „Selbsteintrittsrechts“ reagiert. So hat Deutschland im Jahr 2009 Griechenland zwar in 2.288 Fällen ersucht, Flüchtlinge wieder aufzunehmen, nur 200 Personen aber tatsächlich überstellt. Im Jahr 2010 waren dies nur noch 55 Personen. Das BVerfG hat ein Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen eine Überstellung nach Griechenland eingestellt, nachdem eine Abschiebungsanordnung aufgehoben wurde. 1 8 Das Griechenland-Fiasko und die italienische Praxis des Umgangs mit Flüchtlingen in Lampedusa haben die Kritik am europäischen Asyl- und Einwanderungsrecht verstärkt. Das Dublin-System und das Konzept der sicheren Drittstaaten wird als grundsätzlich verfehlt angesehen und eine Eröffnung neuer Zugangswege und Verfahren für Schutzsuchende gefordert. Zum Teil stützt sich diese Kritik auf das Fehlen eines „Burdon-Sharing“-Verfahrens. Richtig ist, dass das Dublin-Verfahren keine Lastenverteilung entsprechend den üblichen derartigen M echanismen innerhalb der EU ermöglicht. Frontstaaten, wie z.B. Griechenland oder Italien, werden daher tendenziell überproportional belastet. Freilich ist zu berücksichtigen, dass Asylbewerber auf ganz verschiedenen W egen in die EU-Mitgliedstaaten gelangen, so z.B. immer häufiger über ein Touristen- oder Besuchervisum. Tatsächlich weist die Statistik etwa für Italien zwar im Jahr 2008 einen großen Anstieg auf 30.300 Asylsuchende auf, womit Italien insgesamt für das Jahr 2008 an fünfter Stelle der EU-Mitgliedstaaten liegt. Im Jahr 2009 ging aber diese Zahl signifikant auf etwa die Hälfte zurück. Im Jahr 2010 wurden 8.200 Asylbewerber in Italien registriert, damit liegt Italien im Jahr 2010 auf dem 14. Platz der EUMitgliedstaaten.19 Griechenland hat mit 10.300 registrierten Asylsuchenden die 11. Stelle in der EU-Rangskala eingenommen.2 0 Ungeachtet dessen muss dem Problem der fairen Lastenverteilung innerhalb der EU stärker Beachtung geschenkt werden. Die Einführung der europäischen Asylunterstützungsagentur,2 1 die es ermöglicht, technische und finanzielle Hilfe zu leisten, kann hierfür nur ein erster Schritt sein. Entsprechendes gilt auch für Frontex, das insbesondere bei der Überwachung der Grenzen Unterstützung leistet. 17
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.01.2011. BVerfG vom 15.01.2011, 2 BvR 2015/09. 19 Vgl. UNHCR, Asylum Levels and Trends in Industrialized Countries 2010, 2011, 11; nicht mitgezählt sind dabei diejenigen Bootsflüchtlinge, die keinen Asylantrag stellen. 20 Ebd. 21 Verordnung (EU) Nr. 439/2010 vom 19.05.2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützerbüros für Asylfragen, ABl. EU L 1432/11, vom 29.05.2010. 18
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Ein grundsätzlicher Einwand gegen das Dublin-System und gegen Regelungen über sichere Drittstaaten lassen sich daraus aber meines Erachtens nicht herleiten.2 2 Mit einer Rückkehr zum Prinzip des Rechts auf freie W ahl des Asyllandes würde nicht nur der legalen W eiterwanderung innerhalb der EU Vorschub geleistet, sondern zugleich das Grundprinzip der Einwanderungskontrolle, zwischen legaler Einwanderung und humanitärer Schutzgewährung zu unterscheiden, unterlaufen. Diese essentielle Unterscheidung funktioniert nur, wenn der funktionelle Zweck von Einreise und Aufenthalt eines schutzsuchenden Flüchtlings, die Durchführung eines fairen Prüfungsverfahrens zu ermöglichen, erhalten bleibt.
D. Einwanderungskontrolle und das „Schengen-System“ Ein zentraler Bestandteil eines gemeinsamen europäischen Asylsystems und einer europäischen Einwanderungspolitik ist die Kontrolle illegaler Zuwanderung durch einheitliche Kontrollen an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten und die Verstärkung von Grenzkontrollen (Frontex). Sie sollen die illegale Einwanderung in die EU möglichst verhindern und gewährleisten, dass ausschließlich diejenigen Drittstaatsangehörigen, die über gewisse einheitliche Voraussetzungen, wie z.B. ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt, Krankenversicherungsschutz usw., verfügen, in die EU einreisen können. Der Schengener Grenzkodex (Verordnung Nr. 562/2006), die Rückführungsrichtlinie 2008/115 2 3 und der unlängst in Kraft getretenen Visakodex,2 4 der die Grundsätze über eine Visumerteilung (Schengen-Visum) vereinheitlicht, sind rechtliche Ausprägungen der neueren EUGesetzgebung im Bereich des Einwanderungsrechts.2 5 Aber selbst bei diesen auf Einwanderungskontrolle und bessere Steuerung der Einwanderung ausgerichteten Instrumenten gibt es deutliche Erweiterungen und Verbesserungen der Rechtstellung von Drittstaatsangehörigen, die zum Teil erheblich über mitgliedstaatliche 22
Anderer Meinung ein großer Teil der einschlägigen Literatur, vgl. z.B. R. Weinzierl, Der Asylkompromiss 1993 auf dem Prüfstand, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2009. 23 RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. EU L348/98 vom 24.12.2008. 24 Verordnung (EG) Nr. 810/2009 vom 13.07.2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, ABl. L 243/1 vom 15.09.2009 (abgedruckt in: K. Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Bd. V, D 9.14). 25 Für einen Überblick über die Rückführungsrichtlinie L vgl. B. Franßen-de la Cerda, Die Vergemeinschaftung der Rückführungspolitik – das Inkrafttreten der EU-Rückführungsrichtline, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) 2008, 377, ZAR 2009, 17 ff.; für einen Überblick über die Umsetzung vgl. S. Basse/A.-M. Burbaum/C. Richard, Das „zweite Richtlinienumsetzungsgesetz“ im Überblick, ZAR 2011, 361 ff.
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Regelungen hinausgehen. Ein Bespiel ist die traditionelle Nichtbegründung der Visaverweigerung. Dem gegenüber wird im Visakodex erstmals der Grundsatz der Begründungspflicht und des gerichtlichen Rechtschutzes für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben. Die Rückführungsrichtlinie sieht für alle EU-Mitgliedstaaten die Notwendigkeit einer Rückkehrentscheidung vor, die mit einer Frist zur freiwilligen Ausreise verbunden sein muss – was ebenfalls im Hinblick auf eine Tradition einiger Mitgliedstaaten keineswegs selbstverständlich ist. Das entbindet allerdings nicht von der Frage, ob das europäische System der Grenzsicherung und des Zugangs zum Asylverfahren den selbst gesetzten humanitären Ansprüchen der Europäischen Union wirklich gerecht wird. Nun wird man bereits im Ausgangspunkt bezweifeln können, ob die Zugangswege für Migranten jedweder Art in die Europäische Union, die vor politischer Verfolgung oder Krieg Schutz suchen oder katastrophalen ökonomischen oder sozialen Lebensbedingungen entgehen wollen, gerecht sind. Visa-Erfordernisse und andere Hindernisse, wie z.B. Grenzkontrollen, differenzieren im Allgemeinen nicht danach, ob ein Schutzanspruch glaubhaft geltend gemacht wird oder nicht. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, man könne auf das geltende System von VisaErfordernissen und strikten Grenzkontrollen verzichten. Nach wie vor steht das Ausländerrecht vor dem „liberalen Dilemma“, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen für diejenigen, die über kein Aufenthaltsrecht verfügen oder deren Aufenthaltsrecht geendet hat, häufig nicht oder nur mit großem rechtlichen und administrativem Aufwand durchsetzbar sind. Gerade die hohen rechtsstaatlichen Anforderungen an die Durchführung eines Asylverfahrens, die Dauer von gerichtlichem Rechtschutz und die Eröffnung zahlreicher Möglichkeiten, im Anschluss an ein erfolgloses Asylverfahren ein humanitäres Aufenthaltsrecht entweder auf Grund familiärer Bindungen oder aufgrund längeren Aufenthalts zu erreichen, stehen der substantiellen Lockerung von Grenzkontrollregimen und der Aufgabe von Visumserfordernissen entgegen. Damit steigt aber der Anreiz zur illegalen Einreise und zur Inanspruchnahme humanitärer Schutzverfahren zur Verlängerung des Aufenthalts beträchtlich. Die ökonomische Analyse von organisiertem Schleppertum weist auf diese Zusammenhänge deutlich hin. Das für die organisierte Flucht aufgewendete Geld amortisiert sich lediglich, wenn zumindest über einen längeren Zeitraum ein Aufenthalt innerhalb der EU erreicht werden kann. Die logische Konsequenz der Verkürzung des Asylverfahrens ist zwar in der EU unter anderem dadurch anerkannt worden, dass bei der geplanten Schaffung eines einheitlichen europäischen Asylstatus ein einheitliches Asylverfahren vorgeschrieben wird, in dem alle humaitären Schutzgründe in einem einzigen Verfahren geprüft werden sollen, was gegenwärtig noch nicht in allen EU-Mitgliedstaaten der Fall ist. Ungeachtet dessen
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gibt es trotz der Harmonisierung der Standards im Asylverfahren zahlreiche unterschiedliche nationale Verfahren, in denen Schutzansprüche, Duldung oder reguläre Aufenthaltstitel nach nationalem Recht überprüft werden und gegebenenfalls hiergegen gerichtlicher Rechtschutz in Anspruch genommen werden kann. In Deutschland ist zwar die Dauer der Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich in den letzten Jahren auf weniger als drei Monate durchschnittlich reduziert worden. Insgesamt betrug die durchschnittliche Dauer der im Jahr 2009 letztendlich abgeschlossenen Asylverfahren 15 M onate. 26 Dies ändert aber nichts daran, dass sich häufig an das Asylverfahren zahlreiche weitere Verfahren anschließen, die nicht selten die Frage, ob ein Asylbegehren begründet ist oder unbegründet, obsolet machen. Eine Abschiebung stößt jedenfalls nach längerem Aufenthalt auf größere Schwierigkeiten rechtlicher, faktischer oder humanitärer Art. Entweder sind die Ausreisedokumente nicht mehr gültig oder der betreffende Herkunftsstaat weigert sich einfach, zwangsweise abgeschobene Staatsangehörige wieder aufzunehmen. Mitte 2010 lebten in Deutschland 86.140 vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer und Personen mit einer Duldung.2 7 Die Europäische Union hat auf das Problem des „Vollzugsdefizits“ mit dem Abschluss von zahlreichen Rückführungsabkommen und einer Richtlinie zur Rückführung2 8 reagiert. Rückführungsabkommen sind von unterschiedlicher Effizienz. Unter Umständen können sie einen erheblichen Einfluss auf Migrationsbewegungen haben. So ist in Italien im Jahr 2009 nach dem Abschluss eines Rückführungsabkommens mit Libyen die Zahl der Asylsuchenden auf nahezu die Hälfte zurückgegangen. Ob Libyen allerdings hinreichende alternative Schutzmöglichkeiten bietet, kann mit guten Gründen auch nach dem Sturz Gaddafis bezweifelt werden. Ob die Rückführungsrichtlinie erheblich zu einer höheren Effizienz der Rückführung von Personen ohne Aufenthaltsrecht beiträgt, bleibt noch abzuwarten. Ungeachtet dessen sind eine einheitliche und vorhersehbare Rückführungspolitik und der Verweis auf alternative Schutzmöglichkeiten in der Region und die Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern von Flüchtlingen zur Verhinderung ökonomisch induzierter Fluchtbewegungen in die EU-Staaten unverzichtbar. Der Vorschlag, Visa-Beschränkungen aufzuheben oder zumindest für potentiell Schutzberechtigte einzuschränken, führt ebenso zu einem unlösbaren Dilemma. Die Abschaffung von Visa-Beschränkungen führt mit großer W ahrscheinlichkeit zu einem drastischen Anstieg von Migrationsbewegungen, die bei Zugrundelegung der allgemein geltenden Einwanderungsbestimmungen keine Chance auf ein Ein26 27 28
Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asyl in Zahlen 2009, 45. Vgl. BTDrs. 17/3160, 8. RL 2008/115/EG (Anm. 23).
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reise- und Aufenthaltsrecht haben. Der Anstieg der Asylverfahren führt nahezu zwangsläufig zu einer längeren Verfahrensdauer. Entsprechendes gilt aber auch für gutgemeinte Vorschläge, bereits auf Hoher See und außerhalb der Grenzen der Mitgliedstaaten neue Zugangswege zum Asylverfahren zu eröffnen. Damit steigt der ökonomische W ert der organisierten illegalen Einreise und der Anreiz, sich des Asylverfahrens zu bedienen, um ein anderweitig nicht erreichbares Aufenthaltsrecht in der EU zu erhalten. Nach der EU-rechtlich vorgegebenen Aufhebung von Visa-Beschränkungen für Mazedonien und Serbien sind zwischen 2009 und 2010 die Steigerungsraten für Asylsuchende auf 80 % bzw. 54 % in Deutschland gewachsen. Allein 28.900 Antragsteller aus Serbien wurden im Jahr 2010 in der EU registriert. Als Folge der visumfreien Einreise hat sich die Zahl serbischer Asylsuchender in Deutschland von 2009 bis 2010 verdreifacht, in Schweden vervierfacht.2 9 Es ist kaum anzunehmen, dass eine beträchtliche Zahl der auf diese Weise eingereisten Drittstaatsangehörigen, deren Anerkennungsquote bei 1 % liegt, in ihre Heimatstaaten abgeschoben werden oder im Falle einer Abschiebung in ihren Herkunftsstaaten bleiben. Die Rückführungsrichtlinie wird daran möglicherweise nichts W esentliches ändern, sieht sie doch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, eine Rückführungsanordnung zu erlassen und eine Frist für die freiwillige Rückkehr zu bestimmen. Ob sich dies – wie einschlägige Erfahrungen in den USA zeigen – als „runaway order“ in der Praxis auswirkt, wird man sehen.
E. Ausblick Mit dem Lissabon-Vertrag hat sich die EU zum Ziel gesetzt, nicht nur eine gemeinsame Politik in Bezug auf Visa und andere kurzfristige Aufenthaltstitel sowie ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen der Gemeinschaft zu schaffen, sondern auch einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige sowie gemeinsame Verfahren für die Gewährung und den Entzug des einheitlichen Asylstatus und Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Anders als bisher sollen nicht nur Mindeststandards harmoniert werden, sondern einheitliche Normen sowohl im Bereich des materiellen Asylrechts wie auch des Asylverfahrensrechts geschaffen werden. Derzeit sind eine Reihe von Regelungen über die Reform der bestehenden Richtlinien in der Beratung.3 0 Prinzipiell weisen alle diese Richtlinien die Tendenz 29
UNHCR, Asylum Levels and Trends (Anm. 19), 11. Vgl. die Vorschläge der Kommission zu Reform der Aufnahmerichtlinie vom 09.12.2008, KOM (2008) 360 endg., und Abänderung vom 01.06.2011, KOM (2011) 320 endg., und zur Reform der Asylverfahrensrichtlinie vom 01.06.2011, KOM (2011), 319 endg. 30
Europäisches Asyl- und Einwanderungsrecht
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auf, die Rechte von Asylsuchenden zu erweitern. So sollen unter anderem subsidiär Schutzberechtigte, d.h. Opfer von Kriegen oder Bürgerkriegen, mit politischen Flüchtlingen bezüglich des Aufenthaltsrechts und der sozialen Rechte völlig gleichgestellt werden. Darüber hinaus soll Inländerbehandlung bei der Sozialhilfe gewährt werden und auch im Rahmen von Dublin gerichtlicher Rechtschutz gegen Überstellungen gewährleistet werden. Was nicht geändert wird, ist die grundsätzlich nationale Kompetenz für die Durchführung des Asylverfahrens. Nach wie vor bleibt die Prüfung von Asylbegehren und die Aufnahme von Asylsuchenden eine – wenn auch nach europäischen Regeln erfolgende – Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Damit ist grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, nationale Gerichte zur Durchsetzung nationaler Ansprüche auf Schutz usw. in Anspruch zu nehmen. Die EU-Mitgliedstaaten scheuen bislang noch davor zurück, das Asylverfahren in eine europäische Kompetenz überzuleiten. Dies hätte immerhin den Vorteil, dass eine bisherige Schwäche des Verfahrens, die Kombinierung von europäisch harmonisierten Asylverfahren mit nationalen Verfahren, vermieden würde. Freilich wäre bei einer Vergemeinschaftung des Asylverfahrens die Frage zu lösen, wie anerkannte Schutzsuchende auf die Mitgliedstaaten verteilt werden und wie die Rückführung abgelehnter Schutzsuchender organisatorisch erreicht werden soll. Dazu bedürfte es eines Netzes von Kooperationsvereinbarungen mit Herkunftsländern und zahlreicher kompensierender Maßnahmen. Immerhin gibt es Ansätze zur stärkeren Berücksichtigung der internationalen Kooperation bei der Bewältigung von Migrationsbewegungen. Der Lissabon-Vertrag erwähnt als Teil des gemeinsamen europäischen Asylsystems Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittländern zur Steuerung des Zustroms von Personen, die Asyl oder subsidiären bzw. vorübergehenden Schutz beantragen. Hier sind die Ansätze für eine Weiterentwicklung des europäischen Asyl- und Einwanderungsrechts vorgezeichnet, die freilich erst noch konkretisiert werden müssen.
Living Together: The European Union’s Undefined Relationship with Turkey By Rainer Emschermann (
A. The Turkish Question at the Core of the EU’s Identity EU relations with Turkey are different from all of its other external relations: they not only pose the question of potential accession, but also touch upon the very definition of the EU’s identity. W hen the European Council unanimously invited Turkey to become a candidate for accession to the EU in Helsinki in 1999,1 it made a long-term “political investment”. A first indication of what “long term” could mean was a delay of six years until accession negotiations were finally opened in 2005. It was a “political investment” because of the substantial efforts required on both sides if the envisaged Turkish membership is not only to be realised but also to become a success. The real issue of this candidacy is not religion, nor is it the geographical limits of Europe: Turkey has been a M ember State of the Council of Europe since 1950, its accession predating that of Germany by three months.2 Rather, it is about perceptions, about the rivalling concepts of European integration. The challenge (
The author works in the European Commission’s unit responsible for the EU’s relations with Turkey. Opinions presented in this article do not necessarily reflect the position of the European Commission. 1 Conclusions of the Presidency of the European Council in Helsinki (10–11 December 1999). 2 See the list of ratifications of the Statute of the Council of Europe (COE) of 5 May 1949 on the website of the COE’s Treaty Office, available at: http://www.conventions. coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=001&CM=8&DF=26/12/2011&CL=ENG. Art. 7 sentence 1 of the Treaty of Paris of 30 March 1856 that ended the Crimean War already made the Ottoman Empire a part of Europe: “Sa Majesté l’Empereur des Français, Sa Majesté l’Empereur d’Autriche, Sa Majesté la Reine du Royaume-Uni de la GrandeBretagne et d’Irlande, Sa Majesté le Roi de Prusse, Sa Majesté l’Empereur de toutes les Russies et Sa Majesté le Roi de Sardaigne déclarent la Sublime Porte admise à participer aux avantages du droit public et du concert Européen.” (available at: http://books.google.de/ books/reader?id=8csMAAAAIAAJ&hl=de&printsec=frontcover&output=reader, page 12).
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Rainer Emschermann
faced by the EU relates to its actual belief in democracy as a universal political system, i.e. as a system that is not linked to some “European” cultural tradition. Or, more philosophically: is the future governed by history? The answer to this question explains what people expect from the relationship between the EU and Turkey. For Turkey, the challenge is to prove the “determinists’” camp wrong. Since the beginning of the 20th century, Turkey has embarked on adopting a republican and later a multi-party democratic system. After 1945, this process was three times interrupted by military coups. After the latest of these, in 1980, had given way to an – initially – “managed” democracy, the Turkish political system has gradually emancipated itself from military influence. In the 2007 elections, Turkey’s maturing democratic society gave a particularly clear signal to the generals. Yet further key reforms remain to be tackled, the most important project for 2012 being the elaboration of an entirely new constitution that is to replace the “generals’ constitution” of 1982. Both the EU and Turkey represent unique endeavours to break new political ground – the EU as a model for solving conflicts between countries, protecting common political principles and jointly pursuing common interests, and Turkey as a model for a laicist democratic system based on the rule of law and the effective protection of human rights in a predominantly Muslim country. Today, both of these models require further development. The EU needs to find new ways of better coping with cross-border effects of national politics; to become more robust with regard to future crises, it needs to better determine the boundary between those competences which are common EU responsibilities and those which should remain within the responsibility of the individual Member States. Turkey, for its part, needs to transform its nationalist State identity into a more pluralist democracy; only then can it be an important asset for a struggling EU.
B. Becoming Engaged These abstract reflections are formulated against the background of the concrete reality that Turkey is already very closely associated with the EU. A mixed association agreement between the European Economic Community, its Member States and Turkey was concluded in 1963 which already envisaged the possibility of later Turkish membership.3 The EC thereafter dynamically developed into today’s EU, 3
Agreement establishing an Association between the European Economic Community and Turkey of 12 September 1963, Official Journal 1964 No. 217, 3687. Art. 28 of that Agreement reads as follows: “Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, daß die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der
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while Turkey’s democratic and economic development was unsatisfactory for a considerable period of time. It was only since the 1990s that a new dynamism evolved, culminating in the 1995 Customs Union agreement.4 Turkey received full access to the EU markets in goods (agriculture, services and public procurement remain excluded). In return for the subsequent 20-fold increase in its domestic market, Turkey transferred its sovereign right of determining external customs duties to the EU. Moreover, it agreed to apply EU standards and competition rules. During the past decade, Turkey has experienced an impressive economic growth. Today, Turkey’s real per capita income is 50 % of the EU average, higher than that of EU members Bulgaria or Romania. It has Europe’s youngest workforce and enviably low levels of public debt. Income equality has increased significantly. Only the existence of a massive current account deficit clouds the picture somewhat. Overall, the Customs Union is bringing immense economic benefits to consumers and producers both in Turkey and in the EU. Moreover, it helps to reassure foreign direct investors in Turkey – 80 % of whom are from the EU – and this thus stabilises economic growth. However, there are problems ahead. The EU criticises Turkey’s failure to put in place effective legislation in many areas. Moreover, there is impatience over the resolution of a large number of trade disputes, for instance with respect to the implementation of the Customs Union and the ineffective enforcement of intellectual property rights. Turkey, for its part, has two main complaints: first, it argues that visa requirements (application in person, submission of comprehensive personal information and high visa fees) both contradict the association agreement and also hinder its businesses from benefitting equally from the Customs Union, as Turkey imposes no similar obstacles to EU businesses. Secondly, Turkey complains about an asymmetric effect of free trade agreements concluded by the EU, the recent FTA with South Korea being a case in point: this agreement abolishes customs tariffs between the EU and South Korea.5 The EU-Turkey Customs Union means that these Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen. / Lorsque le fonctionnement de l’accord aura permis d’envisager l’acceptation intégrale de la part de la Turquie des obligations découlant du traité instituant la Communauté, les Parties contractantes examineront la possibilité d’une adhésion de la Turquie à la Communauté”, available at: http://eur-lex.europa.eu/LexUri Serv/LexUriServ.do?uri=CELEX:21964A1229(01):DE:HTML. 4 Decision 1/95 of the EC-Turkey Association Council of 22 December 1995 on implementing the final phase of the Customs Union, Official Journal1996 L 35, 1. 5 Council Decision of 16 September 2010 on the signing, on behalf of the European Union, and provisional application of the Free Trade Agreement between the European Union and its Member States, of the one part, and the Republic of Korea, of the other part, Official Journal 2011 L 127, 1.
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zero-tariffs also apply to Korean exports to Turkey, while Korean tariffs continue to apply to Turkish products as Turkey is not a party to the agreement. M oreover, as Korea produces similar goods as Turkey, the value of Turkey’s preferential access to the EU market is decreased. The economic impact may ultimately be minor; however, it adds a serious political aspect to Turkey’s domestic discussion about its current account deficit. Many in the EU suggest replacing Turkey’s accession perspective, however vague, with an equally vague “privileged partnership”, which would reach beyond the current status of integration. It has not yet been explained which additional benefits this could include: broadening the customs union to agriculture, services and public procurement or abolishing visa requirements for Turkish citizens? And, as Turkey’s transfer of sovereign rights in the context of the Customs Union can be seen as a partial anticipation of accession, would abandoning the accession perspective amplify current problems of the Customs Union? In the event of Turkey resigning from or losing its accession perspective, nothing could be taken for granted.
C. Wedding Postponed: Lengthy Accession Talks W hat issues do the accession negotiations with Turkey actually comprise and what is their current state? The accession talks have never been “negotiations” in the true sense; they are rather a process of guiding Turkey – as well as other candidate countries – towards fulfilling the Copenhagen criteria, which are 6 – Political criteria: stable institutions guaranteeing human rights, democracy, the rule of law, etc.; – Economic criteria: a functioning market economy (Turkey already fulfils this criterion); – Acquis: ability to implement the acquis (i.e. the current state of legal and political commitments within the EU) and readiness to adopt the EU’s political and institutional objectives. Only the timelines for compliance with these criteria are negotiable. Thus, the accession talks are a highly formalised process consisting of a continuous exchange between the Commission services and the Turkish authorities about the “how and when” of the various Turkish reform measures that are necessary to meet the Copenhagen criteria. In order to open a negotiations chapter, certain 6
Conclusions of the Presidency of the European Council in Copenhagen on 21–22 June 1993, available at: http://ec.europa.eu/bulgaria/documents/abc/72921_en.pdf.
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decisions have to be made: the Council needs to unanimously agree upon a proposal by the Commission detailing that the necessary conditions have been met. In the same way and simultaneously, certain criteria for provisional closure of a chapter are defined. In this regard, however, the principle that “nothing is finally agreed before everything is agreed” applies. In comparison to past enlargement processes, progress has been slow since 2005. Only thirteen of a total of 35 chapters have been opened and merely one single chapter – science and research – has been provisionally closed. As not only accession itself,7 but also the opening of each chapter requires unanimity among EU Member States, eight chapters remain blocked until Turkey fulfils its obligations deriving from the extension of the Customs Union to Cyprus as a new EU Member State. Five are blocked by France, because the French President unilaterally revoked his country’s consent to negotiations aiming, ultimately, at Turkey’s accession to the EU.8 Thirteen chapters have been opened in the following chronological order: Science and Research (provisionally closed); Enterprise and Industry; Statistics, Financial Control; Trans-European Networks; Consumer and Health Protection; Intellectual Property; Company Law; Free Movement of Capital; Information Society and Media; Environment; Taxation; Food Safety, Veterinary and Phyto-Sanitary Policy. The following eighteen chapters are currently blocked by the EU because of the Cyprus problem or other caveats flagged by individual Member States: Free Movement of Goods; Freedom to Provide Services; Financial Services; Agriculture and Rural Development; Education and Culture; Economic and Monetary Policy; Justice, Freedom and Security; Judiciary and Fundamental Rights; Regional Policy; Energy; Financial and Budgetary Provisions; Freedom of Movement for W orkers; Fisheries; Transport; Customs; External Relations; Foreign, Security and Defence Policy; Institutions. The three following chapters can be opened once Turkey fulfils specified technical criteria: Social Policy and Employment; Competition; Public Procurement. One further chapters remains to be opened at the very end of negotiations: Institutions, namely that of “Other issues”. Turkey for its part has, after an encouraging start in 2005 and 2006, markedly slowed down its reform pace. Internal bickering over the headscarf issue, the Kurdish issue, the implicit threat of a military coup and other unrelated internal issues have absorbed much of the political energy. Add the critical position of some EU M ember States and little remains of the earlier dynamism. In 2010, 7
See Art. 49 of the Treaty on European Union. On the constitutional implications in France of a future Turkish accession see Didier Blanc, L’adhésion de la Turquie à l’Union européenne – L’hypothèque constitutionnelle française, Revue de l’Union européenne numéro 549 (juin 2011), 391 et seq. 8
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however, Turkey undertook a major reform of its judiciary which brought it closer to the standards required by the Copenhagen criteria and the European Convention on Human Rights (ECHR).9 In this context, Turkey also consulted the European Commission for Democracy through Law (Venice Commission) of the Council of Europe for the first time. The Turkish government has itself stated on several occasions that even if the EU accession bid became more elusive, it would still be worth continuing the EUrelated reforms as if it was to succeed they would benefit Turkey in any case. From an EU perspective, this stance strengthens the credibility of the reform process and enhances the likelihood for Turkey to become a constructive Member State if it does ultimately join the EU. Given that Turkey, with its still-growing population of currently some 75 million, would have a significant weight within the EU, this is a legitimate concern. Therefore, it is worthwhile taking a closer look at Turkey’s reforms regarding some of the key political criteria of Copenhagen: the judiciary and fundamental rights.
D. All for the State or a State for All? I. Political Climate, Judiciary and Administration In its most recent report on Turkey’s progress towards the EU, the European Commission states that Turkey “continues to sufficiently fulfil the political criteria”.1 0 The general elections in June 2011 are considered to have been free and fair. There is a consensus in the Turkish society on the need for the enactment of an entirely new constitution, the current one being a legacy of the 1980 military coup. However, the political antagonisms between the major political parties – the governing AKP and the opposition CHP – are fundamental. This atmosphere impedes the building of a broad consensus for substance of the new constitution. One of its core issues is the need to better guarantee fundamental rights in many areas. For example, a high number of criminal prosecutions of writers and journalists and the many instances of disproportionate website bans have raised serious concerns about the freedom of expression. Moreover, investigations into an al9 See the Turkey 2011 Progress Report (SEC(2011) 1201 final) of 12 October 2011 under 2.1. and 4.23., available at: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2011/ package/tr_rapport_2011_en.pdf. 10 Enlargement Strategy and Main Challenges 2011–2012, COM(2011) 666 final of 12 October 2011, 72, available at: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2011/ package/strategy_paper_2011_en.pdf.
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leged conspiracy network called Ergenekon and related coup projects and the probes into the conspirators’ plans present both a chance and a challenge for Turkey. It may be seen as a chance as this process could contribute to strengthening confidence in the robustness of the democratic society against politically motivated criminal threats. However it also represents a challenge, as the State institutions need to defend themselves by democratic means. If the State wants to defeat these threats politically, it must not only safeguard but indeed highlight the superiority of its legitimacy by adhering to the rule of law – and that includes the rights of the accused. However, it is the way in which these investigations and the judicial proceedings are conducted and the application of criminal procedural means, such as the lengthy pre-trial detention of many suspects, which has cast a shadow over the proceedings, giving rise to suspicions that the legitimate objective is increasingly superseded by other, rather partisan motives. In another development, constitutional amendments adopted by way of a referendum in 2010 and the implementing legislation enacted by the Turkish Grand National Assembly have brought about a fundamental reform of the High Council of Judges and Public Prosecutors, the central organ of the Turkish judiciary. It has considerably improved the High Council’s representativeness, independence and impartiality. This reform also extends to the Constitutional Court, newly introducing an individual application procedure for enforcing those fundamental rights and freedoms which are simultaneously guaranteed by the Turkish Constitution and the European Convention on Human Rights. Turkey also wants to enhance the efficiency and speediness of judicial processes, which is particularly urgent with regard to criminal proceedings. Pre-trial detention of suspects is extremely long and often based on flimsy grounds; a large proportion of indicted persons is ultimately not sentenced. Moreover, judicial proceedings are not sufficiently transparent. Even though they are held in the public interest, courts and prosecution offices do not normally issue statements explaining the proceedings of important cases to the public. According to Transparency International’s (TI) index of perceived corruption, Turkey is comparable to countries such as Latvia, Slovakia and the Czech Republic, faring better than Greece, Italy and the Eastern and W estern Balkans. However, due to the lack of reliable alternatives, the TI index measures perceived corruption and therefore remains a subjective measure. There is generally a strong sense of duty among state officials. There are widespread fears of an increasing politicisation of public officials, from the security forces to the ministries. Corruption remains a fact of life in many areas. W hile the government has initiated an anti-corruption policy, particularly the financing of political parties lacks transparency. A slowdown of reforms in areas such as public procurement may point to waning political support in this area.
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There is good news in an area which used to be one of the focal points of criticism against Turkey’s democratic credentials: the principle of civilian oversight of the security forces. Today, hardly anybody talks about it. Moreover, the civilian oversight of military expenditure has recently been reinforced. Civilians are no longer subject to the jurisdiction of the military courts. Certain decisions of the Supreme Military Council have been made subject to judicial review. Nevertheless, these reforms remain incomplete, both with regards to the gendarmerie and the military justice system as such.
II. Human Rights and Civic Freedoms After positive developments in recent years, progress towards an effective guarantee of all human rights has stagnated. Improvements are most needed in the areas of freedom of expression and freedom of religion. This being said, Turkey recently ratified the Optional Protocol to the UN Convention against Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment.1 1 The positive trend on the prevention of torture and ill-treatment has continued, but the disproportionate use of force by security officials is reported, in particular outside official detention sites. Allegations of physical ill-treatment due to the excessive use of force during arrest appear credible. There also seems to be an increasing overcrowding of prisons. One of the issues receiving most attention abroad and domestically relates to the cultural rights of people belonging to minorities, in particular of Kurdish Turks (some fifteen to twenty million) and Armenian Turks (some 40,000 to 70,000). Discussion of these issues has become more open in recent years, but the discourse – i.e. the freedom of expression – in this respect has been limited by a high number of judicial proceedings and investigations against journalists, writers, academics and human rights defenders. For example, there have been reports of a professor being jailed because of a presentation on Spanish federalism. The ensuing self-censorship and the undue pressures on the media raise serious concerns. The pertinent Turkish legislation is not compatible with the ECHR and the case law of the European Court of Human Rights. While legislation on freedom of association is broadly in line with EU standards, excessive legal and administrative obstacles impede a more vigorous development of civil society. Moreover, legislation continues to lend itself to the closure of political parties as a political tool. In the majority of party closure cases, the European Court of Human Rights has found violations of the freedom of association pursuant 11
Of 18 December 2002, available at: http://www2.ohchr.org/english/law/cat-one.htm.
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to Article 11 ECHR.1 2 In Turkey, an office for religious affairs is responsible for Islamic worship. Dialogue with the estimated fifteen to twenty million-strong Alevi population continues, with the group demanding their own independent places of worship. The freedom of worship for Alevis and other religious groups is generally respected, but not sufficiently safeguarded by a legal framework in accordance with the ECHR. Another topic featuring prominently in the EU debate on Turkey is women’s rights. W hile the equal rights of women enjoy constitutional and legal protection, the challenges for turning gender equality into reality and effectively combating violence against women are even higher in Turkey than elsewhere in Europe. There is a strong regional dimension to this: honour killings, early and forced marriages and domestic violence against women remain serious problems, in particular in the rural south-eastern parts of the country. As Turkish society develops economically, improving the situation of vulnerable members of society and those with disabilities is beginning to move onto the political agenda, while many challenges remain in improving labour and trade union rights. The legal framework with regard to the latter is neither compatible with the pertinent International Labour Organization conventions nor with the ECHR.1 3 Property rights are generally guaranteed. However, the return of confiscated properties belonging to non-Muslim religious communities has begun only recently. Turkey’s approach to minorities remains restrictive. For example, Turkey limits the use of the term “minority” to the Turkish nationals belonging to nonMuslim groups covered by the 1923 treaty of Lausanne, namely Greeks, Armenians and Jews.1 4 This narrow definition leaves out primarily the Kurds but also the Roma and other minority groups. Recently, the use of languages other than Turkish by all national radio and television stations, as well as the use of multiple languages by municipalities, has been authorised, but restrictions still remain in political life, in communications with public services and in prisons. The legal framework on the use of languages other than Turkish is open to restrictive interpretation, and implementation remains inconsistent across the country. Legislation which discriminated against the Roma has recently been amended. In 2009, the Turkish government declared a policy of “democratic opening” with regard to the Kurdish issue in the south-east of the country. However, it has not been followed through. Both the detention of elected politicians and human rights defenders, the 12 See, e.g., ECtHR, arrêt du 26 avril 2005, Parti de la démocratie et de l’évolution et autres c. Turquie, requêtes nos. 39210/98 et 39974/98, available at: http://www.echr. coe.int. 13 See, e.g., ECtHR (Grand Chamber), judgment of 12 November 2008, Demir and Baykara v. Turkey, application No. 34503/97, available ibid. 14 Arts. 37 et seq. of the Treaty of Peace with Turkey of 24 July 1923, available at: http://wwi.lib.byu.edu/index.php/Treaty_of_Lausanne.
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continuing system of village guards, which is open to abuse, as well as the reemergence of PKK terrorism have damaged mutual trust. W hile there are no easy solutions for such issues, which cannot be imposed from the outside, the objective of full protection of the language, culture and fundamental rights of all citizens requires a higher amount of political will and a much freer societal discourse. An open discussion – including a judicial follow-up – about extra-judicial killings and torture carried out in the south-east in the 1980s and 1990s could be one step to re-establish trust. Thus, the picture is still mixed. However, the combination of the EU accession perspective and endogenous efforts has triggered important political developments which would have appeared elusive just a decade ago. At the same time, this progress is often dwarfed by even higher and unrealistic expectations on both sides, leaving both, from the start, bound to be disappointed. There is something to learn from that.
E. Realistic Perceptions Can Avoid Disappointment The perfect is the enemy of the good. A re-assessment of expectations towards the negotiation process is urgent in order to limit the potential for disappointment on all sides. Therefore, while the accession negotiations use the same procedures (annual reports and the focus on necessary transposition of EU legislation) as during the Eastern enlargement of 2004 and 2007, the Turkish accession process should not be compared to previous ones: – The momentum for reform in Turkey is weaker than in the Eastern European countries: the context is not revolution, but evolution. – Turkey is a functioning market economy; it also has a generally functioning administration. Thus, different from the Eastern European countries after the peaceful revolutions of 1989–1990, institutions have to be reformed, not newly created. The political economy of such a reform process is arguably much more difficult because important vested interests are effected. – W ith regard to both territory and population, Turkey is twice the size of the largest of the new Member States, Poland. It is also economically and socially much more diverse. Size and diversity are often underestimated factors in implementing political reforms and the European acquis. – These factors alone would make the accession process longer than any other. In itself, this means that politicians’ incentives to promote the process are comparatively weaker, because they are less likely to reap the benefits of the reforms while in office, while bearing the risks immediately.
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– Incentives are further weakened by the ambiguity of some Member States’ positions towards the objective of final accession. Against this background, the EU and Turkey are beginning to understand that they should not assess the accession process against a timeline that is unrealistic. This can help focusing public perception of the progress that has been made. In step with a changing EU, it can also broaden the perspective beyond the technical and institutional focus of the negotiations to the economic, cultural and political contributions that Turkey, as a big potential Member State with close ties to the countries of Central Asia, the Middle East and the Islamic world, could be expected to make to the European project as such and to the EU’s ability to defend its interests globally. Turks know more about the United States of America than about the EU, and Europeans know little else about Turkey but its beaches. Accepting a broader view on Turkish accession could buy time to engage in a new quality of cultural exchange by substantially intensifying youth and student exchanges, scholarships, town twinning and other civil society exchanges. Yet this is not a bureaucratic exercise that the European Commission can undertake on behalf of the Member States – it is up to them to intensify their efforts. Better mutual knowledge and understanding can reduce the perceived angst that cultural stereotypes continue to foment in the public opinion throughout the EU.
F. The Future is up to us The challenge for the EU and Turkey’s political classes is to keep the future open: Turkey has come a long way since Ottoman times. Enlightenment has made European cultural determinism a self-contradiction. It is certainly misplaced vis-àvis Turkey, which already made important choices long before associating with the EU, ranging from the adoption of the Latin alphabet to the introduction of democracy. Less fundamental, but still very significant reforms remain to be realised. The EU can neither weaken its accession criteria nor actively enforce political change in Turkey. But it can keep the reform process alive by maintaining and strengthening the EU’s resolve to lead meaningful negotiations aimed at eventual full Turkish membership. Moreover, the EU itself is likely to change before an eventual Turkish accession. Obviously, the Turkish accession process could also fail. Various scenarios are conceivable of how this could happen and what effects it could have. A simple freezing of the existing level of EU-Turkish integration is not the most likely alternative. In Turkey, one can currently observe a popular disenchantment with
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what is perceived as a “humiliating” treatment by the EU. Even the annual progress reports which are to give orientation on Turkey’s path towards modernisation along EU standards create tepid reactions and enhance susceptibility to new political and geographic orientations. The Customs Union with the EU, though beneficial for both sides, but based on borrowed sovereignty and lacking strong enforcement mechanisms, is already being questioned by some Turkish politicians. Moreover, negotiations on a permanent settlement of the Cyprus issue will enter a decisive phase in 2012. A settlement would remove an important obstacle in EUTurkish relations, establish Turkish as an official EU language and transform Cyprus from an opponent to a bi-communal advocate of further Turkish integration into the EU. W hile a broader discussion of the key importance of this issue for EU-Turkish relations would exceed the scope of this paper,1 5 it can be safely said that the achievement of a settlement will be a litmus test for the seriousness of all sides concerned. A settlement should be agreed by July 2012, when Cyprus will assume the presidency of the Council of the EU; otherwise an indefinite division of the island and a further deterioration of EU-Turkish relations would loom. Turkey has already announced that it would freeze its relations with the Council Presidency in the second half of 2012, a move that has been regretted by both the Council and the European Council.1 6
G. A Cost-Benefit Analysis of Turkey’s Accession to the EU A broader vision of what drives Turkey’s union with the EU ever closer needs to look at its potential costs and benefits.
I. Potential Costs A Turkish EU membership would not come for free for the EU and it would not leave the EU unchanged. First, there are the potential costs to the EU budget: Turkey’s impact would be roughly comparable to the entire 2004 Eastern enlargement of the EU. However, the budgetary impact would be softened by the ongoing 15 See Frank Hoffmeister, The Cyprus Problem in 2009: Which Role for International and European Law?, in: Thomas Giegerich/Alexander Proelß (eds.), Krisenherde im Fokus des Völkerrechts – Trouble Spots in the Focus of International Law, 2010, 57, 65 et seq. 16 Press Release on the 3132nd Council meeting (General Affairs), 5 December 2011 18089/11, Presse 472, PR CO 76 (provisional version), para. 22. Conclusions of the European Council of 9 December 2011, para. 14.
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reforms of the common agricultural policy and other expensive EU policies. Moreover, Turkey’s sizable own budgetary contributions, the likely capping of some EU expenditure as well as the global limitation of overall EU expenditure are likely to mitigate the budgetary impact of Turkish accession. The potential political costs are less easy to determine. Formally, Turkey would have far less votes in the Council than, e.g. the W estern Balkan countries could claim together, although they have less than a third of Turkey’s population and GDP. Informally though, the Turkish vote would carry more self-consciousness and weight, so that Turkey’s current concept of national sovereignty would need to evolve substantially in order to fit in smoothly into a union of states that are jointly exercising important parts of their sovereignty.
II. Potential Benefits These potential costs could be offset by the potential benefits from a wellprepared Turkish accession. The increase in political and economic stability in Turkey would also yield important advantages for the EU. Economically, Turkey and the EU have enjoyed a tripling of mutual trade since the beginning of the Customs Union. The share of Turkish imports share coming from the EU-27 has doubled, and in spite of a recent surge in Turkish exports to the Middle East and China, the share of Turkish exports going to the EU-27 has remained roughly stable at almost 50 percent. Economically, full membership would mean that the Customs Union would be extended to the whole economy, including all manufactured goods, agriculture and services. Non-tariff barriers, which continue to exist in both directions, would be eliminated and substantial additional trade benefits could be reaped. However, these effects would be dwarfed by the likely qualitative increase in the predictability of Turkey’s political and economic climate. Given the strong Turkish entrepreneurial culture, an important economic expansion could be expected in Turkey in the final years before accession and thereafter. This would create an important additional boost for the EU’s trade potential with Turkey. The improvement in political stability in Turkey that results from a credible accession perspective will have positive effects on the integration of the 6 million EU citizens of Turkish origin, many of whom still identify themselves as Turkish. Acceptance of Turkey as an integral part of the European future would promote the self-perception of these groups as Europeans. Moreover, the EU membership of a large predominantly Muslim country would make a powerful statement for the universality of human rights and democracy. It could enhance democratic aspira-
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Rainer Emschermann
tions in the whole of the Middle East and Central Asia, regions that are important to the EU not only as close neighbours, but also as energy providers. A well-managed integration of Turkey into the EU would be an important indicator that Europe can still muster the internal strength to actively present itself as an important global player in an age which is marked by a shift in economic and political power from the W est to the East. Furthermore, Turkey’s EU integration could be one important element in addressing the often cited, if vague threat of a “clash of civilizations”, which many fear could originate from new “nationalisms” of a continental scale.
H. A Match or not a Match: We Need Each Other Russia and Turkey are currently re-defining their relation, and China is rapidly assuming an ever more important role in the resource-rich regions of the world. Turkish public opinion is shifting gradually away from the EU perspective, slowly exchanging its frustrations with the EU for the increasing sympathies Turkey is receiving in the Middle East. In this context the EU continues to disenchant proEuropean Turkish elites with cumbersome visa procedures and visa denials for students, researchers and businessmen: people who neither intend to stay permanently in the EU nor would pose any risk if they did. W ill Europe and Turkey muster the rationality needed to effectively respond to the challenges of the 21st century? In Europe, the attitude towards the Turkish question will largely determine the EU’s attitude towards other challenges. Defining itself as a cultural community of Christian heritage reduces the EU’s policy options. It would mark a policy shift from focusing on longer-term political challenges to short-term feel-good politics. Flirting with the fiction of European homogeneity would reflect the wrong vision for managing an already diverse EU. Advancing the EU’s internal stability and external capacity not only to defend but indeed to enhance its role in a rapidly changing world requires Europeans to be open. That sums up the domestic agenda for the Turkish society, too.
Autorenverzeichnis Rainer Emschermann, Europäische Kommission, Generaldirektion Erweiterung (Brüssel) Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M (Virginia), Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Ulrich Häde, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Kay Hailbronner, Universität Konstanz Prof. Dr. Martin Heger, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M., Universität Passau Prof. Dr. Stefan Kadelbach, Goethe-Universität Frankfurt Prof. Dr. Martin Nettesheim, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Direktor des Tuebingen University Center for International Economic Law Prof. Dr. Christoph Vedder, Universität Augsburg