Hélio Oiticica: Curating the Penetráveis 9783839437377

The Penetráveis are spectacular room installations created by the Brazilian artist Hélio Oiticica in the 1960s and '

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German Pages 192 [193] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
VORWORT / FOREWORD
EINLEITUNG: CURATING THE PENETRÁVEIS / INTRODUCTION: CURATING THE PENETRÁVEIS
„PROPOSE TO PROPOSE“ – ÜBERLEGUNGEN ZUR REALISIERUNG DES PENETRÁVEL PN 14 / “PROPOSE TO PROPOSE” – DELIBERATIONS ON THE REALIZATION OF PENETRÁVEL PN 14
GESPRÄCH ÜBER AUSSTELLUNGSFORMATE JENSEITS DES WHITE CUBE: PENETRÁVEIS – PAVILLONS – PLATTFORMEN / A CONVERSATION ON EXHIBITION FORMATS BEYOND THE WHITE CUBE: PENETRÁVEIS – PAVILIONS – PLATFORMS
ROLEX / ROLEX
INTERVIEW MIT CÉSAR OITICICA FILHO / INTERVIEW WITH CÉSAR OITICICA FILHO
MURMEL IM ANUS – DIE MUSIK DER „TROPICÁLIA“ / A MARBLE IN AN ANUS – THE MUSIC OF “TROPICÁLIA”
„ER MUSS EXPERIMENTIEREN“ – DIE KUNST IM GEGENWÄRTIGEN KAPITALISMUS / “HE MUST EXPERIMENT” – ART IN PRESENT-DAY CAPITALISM
QUASI MUSEUM, QUASI WELT – DER MAGIC SQUARE NO. 5 UND DAS PROJEKT MIT DEM TEATRO OFICINA IN INHOTIM / QUASI MUSEUM, QUASI WORLD – THE MAGIC SQUARE NO. 5 AND THE PROJECT WITH TEATRO OFICINA IN INHOTIM
PENETRÁVEL PN 14: PROPOSITIONEN ZUR TEILHABE 34 JAHRE SPÄTER / THE PENETRÁVEL PN 14: PROPOSITIONS FOR PARTICIPATION 34 YEARS LATER
Katalog / Catalogue
ARTY CHOCK
FÉLICIA ATKINSON
PAULINE BOUDRY / RENATE LORENZ
ALAN B. BROCK-RICHMOND / BERNHARD SCHREINER
SUNAH CHOI
VAGINAL DAVIS
JOCHEN DEHN
HANNAH DEWOR
RICARDO DOMENECK
ANNA MARGIT ERBER
TAMAR GUIMARÃES
BALZ ISLER
KOLLEKTIVMASCHINE
SANDRA KRANICH
HENNING FREDERIK MALZ
JONATHAN PENCA / CHARLOTTE SIMON / ZINK TONSUR UND CHOR
MIKA ROTTENBERG
POLA SIEVERDING
CHARLES SIMONDS
JACK SMITH
SIMON SPEISER
Autoren / Authors
Literatur / Bibliography
Impressum
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Hélio Oiticica: Curating the Penetráveis
 9783839437377

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HÉLIO OITICICA: CURATING THE PENETRÁVEIS

Stefanie Heraeus (Hg.)

07 Stefanie Heraeus VORWORT / FOREWORD 12 Stefanie Heraeus EINLEITUNG: CURATING THE PENETRÁVEIS /  INTRODUCTION: CURATING THE PENETRÁVEIS 25

Peter Gorschlüter

„PROPOSE TO PROPOSE“ – ÜBERLEGUNGEN ZUR REALISIERUNG DES PENETRÁVEL PN 14 /  “PROPOSE TO PROPOSE” – DELIBERATIONS ON THE REALIZATION OF PENETRÁVEL PN 14 31

Daniel Birnbaum / Jochen Volz

GESPRÄCH ÜBER AUSSTELLUNGSFORMATE JENSEITS DES WHITE CUBE: PENETRÁVEIS – PAVILLONS – PLATTFORMEN / A CONVERSATION ON EXHIBITION FORMATS BEYOND THE WHITE CUBE: PENETRÁVEIS – PAVILIONS – PLATFORMS 41

Adrian Williams

ROLEX / ROLEX 52

Marie Sophie Beckmann / Clare Molloy

INTERVIEW MIT CÉSAR OITICICA FILHO /  INTERVIEW WITH CÉSAR OITICICA FILHO 64

Jörg Heiser

MURMEL IM ANUS – DIE MUSIK DER „TROPICÁLIA“ / A MARBLE IN AN ANUS – THE MUSIC OF “TROPICÁLIA” 78

Christoph Menke

„ER MUSS EXPERIMENTIEREN“ – DIE KUNST IM GEGENWÄRTIGEN KAPITALISMUS /  “HE MUST EXPERIMENT” – ART IN PRESENT-DAY ­CAPITALISM

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Júlia Rebouças

QUASI MUSEUM, QUASI WELT – DER MAGIC SQUARE NO. 5 UND DAS PROJEKT MIT DEM TEATRO OFICINA IN INHOTIM / QUASI MUSEUM, QUASI WORLD – THE MAGIC SQUARE NO. 5 AND THE PROJECT WITH TEATRO OFICINA IN INHOTIM 102 Marie Sophie Beckmann / Marenka Krasomil

PENETRÁVEL PN 14: PROPOSITIONEN ZUR TEILHABE 34 JAHRE SPÄTER / THE PENETRÁVEL PN 14: PROPOSITIONS FOR PARTICIPATION 34 YEARS LATER 111 Katalog / Catalogue

112 ARTY CHOCK 116 FÉLICIA ATKINSON 119 PAULINE BOUDRY / RENATE LORENZ 122 ALAN B. BROCK-RICHMOND / BERNHARD SCHREINER 125 SUNAH CHOI 128 VAGINAL DAVIS 132 JOCHEN DEHN 136 HANNAH DEWOR 139 RICARDO DOMENECK 142 ANNA MARGIT ERBER

144 TAMAR GUIMARÃES 147 BALZ ISLER 150 KOLLEKTIVMASCHINE 154 SANDRA KRANICH 157 HENNING FREDERIK MALZ 160 JONATHAN PENCA / CHARLOTTE SIMON /  ZINK TONSUR UND CHOR 164 MIKA ROTTENBERG 166 POLA SIEVERDING 169 CHARLES SIMONDS 172 JACK SMITH 175 SIMON SPEISER 184 Autoren / Authors 187 Literatur / Bibliography 190 Impressum

Hélio Oiticica, Skizze zum Penetrável PN 14

VORWORT Das MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main hat im Spätsommer 2013 im Rahmen der Retrospektive „Hélio ­Oiticica. Das große Labyrinth“ drei Außeninstallationen des Künstlers im Frankfurter Palmengarten gezeigt. Das Penetrável PN 14, eine begehbare Rauminstallation, die Oiticica 1979 ­während seines Aufenthalts in New York konzipiert hat, wurde nach Originalplänen des Künstlers erbaut. Dies war der Anlass, sich mit dem von Oiticica entwickelten spezifischen Format des ­Penetrável und seinen besonderen kuratorischen Bedingungen, Möglichkeiten und Herausforderungen auseinanderzusetzen. In Diskussionen mit Künstlerinnen und Künstlern, ­Kuratoren und Kritikern wurde das Spezifische der temporären Aus­ stellungsformate ‚Penetrável‘, ‚Pavillon‘ und ‚Plattform‘ d­ abei in den Blick gerückt. Aus diesen Diskussionen sind die Essays der vorliegenden Publikation hervorgegangen. Im zweiten Teil der Publikation stehen die künstlerischen Beiträge im Zentrum, die für das Penetrável PN 14 in Frankfurt eigens konzipiert wurden, und die Filme, die für das Programm ausgewählt wurden. Das MMK Museum für Moderne Kunst, ­einer der Kooperationspartner der „Curatorial Studies“, hatte die Aufgabe gegeben, für diese Installation ein kuratorisches ­Gesamtkonzept künstlerischer Interventionen zu entwickeln. Über den Zeitraum von zwei Monaten hat es im Frankfurter Palmen­ garten stattgefunden. Insgesamt zwölf Künstlerinnen und Künst­ ler, darunter auch einige Künstlerkollektive, wurden eingeladen, ortsspezifische Arbeiten zu entwickeln und auf das Penetrável PN 14 und den Palmengarten als besonderen Ort künstlicher Exotik zu reagieren. Entstanden sind höchst unterschiedliche Propositionen: Experimente mit Sound, Sprache und Tanz, Projektionen, Salonabende und Begehungen, an einigen Abenden begleitet von einem eigenen Filmprogramm. Das Performance- und Filmprogramm, das die Studierenden gemeinsam als Gruppe mit Lehrenden aus Museum und Uni­ versität erarbeitet haben, war das erste kuratorische Projekt des Frankfurter Masterstudiengangs, der von Goethe-Universität und Staatlicher Hochschule für Bildende Künste – Städelschule zu­ sammen mit mehreren Museen durchgeführt wird. 2014 erarbei­ tete ein weiterer Jahrgang die Kabinettausstellung „­ Vergessene Körper: Helmut Kolle und Max Beckmann“ in Kooperation

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STEFANIE HERAEUS

mit dem Städel Museum und 2015 fand die vierteilige Aus­ stellungsserie „Doppelzimmer“ im Raum 3½ der KW Institute for Contemporary Art Berlin statt. Mein besonderer Dank gilt Peter Gorschlüter, der das kura­ torische Projekt initiiert und zusammen mit Bernd Reiß über ein Semester lang eng begleitet hat. Für die Betreuung vor Ort im Palmengarten waren Karin Wittstock und ihr Team, insbe­ sondere Julia Reiter, unsere geduldigen Ansprechpartner. Mit ­Daniel Birnbaum und Jochen Volz haben wir an der Städelschule das Programm eingehend diskutiert. Die Künstlerin Adrian ­Williams hat im Laufe des Semesters immer wieder an einzel­ nen Diskussionen teilgenommen und uns für den behutsamen Umgang mit dem Penetrável PN 14 sensibilisiert. Max J­ orge Hinderer Cruz, Marc Siegel und César Oiticica Filho haben uns mit Oiticicas Werk vertraut gemacht und Jörg Heiser mit der Musik der „Tropicália“-Bewegung. Als es schließlich um die Umsetzung des Programms und die Betreuung der eingeladenen Künstlerinnen und Künstler vor Ort ging, haben sich alle Studierenden über den gesamten Zeit­ raum von zwei Monaten hinweg sehr engagiert; einige von ih­ nen derart, dass sie hier eigens hervorgehoben werden sollen: Marenka Krasomil als Hauptverantwortliche für die gesamte Koordination des Projekts, Miriam Bettin, Nadine Droste und Clare Molloy für dessen Durchführung. Marie Sophie Beck­ mann und Elena Frickmann waren für die Pressearbeit von Sei­ ten der Studierenden verantwortlich, Marie Sophie Beckmann hat sich zudem stark bei der Redaktion der Publikation einge­ bracht. – Franziska von Stenglin hat die Ausstellung fotografisch dokumentiert. Judith Rosenthal, Alexandra Titze-Grabec und Clare Molloy haben die Übersetzungen angefertigt, Wanda Löwe hat die Texte äußerst sorgfältig redigiert, Christian Zickler hat sich um den Satz gekümmert, der transcript Verlag hat die Publikation dankenswerterweise in sein Programm aufge­ nommen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank – und ganz ­besonders: den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, mit denen die Zusammenarbeit sehr produktiv war. Stefanie Heraeus

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FOREWORD

FOREWORD In the late summer of 2013, within the framework of the ­retrospective “Hélio Oiticica: The Great Labyrinth”, the MMK ­Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main presented three outdoor installations by the Brazilian artist in Frankfurt’s Palmengarten. One of these works was the Penetrável PN 14, a walk-in room installation that Oiticica designed in 1979 ­during his time in New York. Its realization in the botanical ­garden provided an occasion to explore the specific format of the P ­ enetrável developed by the artist, and to investigate its ­specific curatorial conditions, potentials and challenges. Dis­ cussions on these matters were carried out with artists, curators and critics. The Penetráveis, pavilions and platforms as tempo­ rary e­ xhibition formats were a further topic of concern. All the many conversations conducted over the course of the project yielded the essays now filling this book. Part 2 of the publication documents the artistic contribu­ tions created especially for the Penetrável PN 14 in Frankfurt and the films selected for the accompanying film programme. The MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, one of the curatorial studies programme’s cooperation partners, assigned the task of developing an overall curatorial concept for artistic interventions to be carried out in and around the in­ stallation. The programme took place over a period of two months in the Palmengarten. Twelve artists, including a number of artists’ collectives, were invited to develop site-specific works and respond to the Penetrável PN 14, but also to the ­Palmengarten as a unique venue of artificial exoticism. A range of widely differing propositions was the result: experiments with sound, language and dance, projections, evening salons and encounters as well as a specially conceived evening film ­programme. The performance and film programme put together by the students in collaboration with their museum and university ­tutors, was the first curatorial project of the master’s programme in curating offered by Frankfurt’s Goethe-University and the Staatliche Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in cooperation with several museums. In 2014, a further group of students developed the cabinet exhibition “Forgotten Bodies:

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STEFANIE HERAEUS

Helmut Kolle and Max Beckmann” in cooperation with the ­Städel Museum, and in 2015 students of the Frankfurt pro­ gramme staged the four-part exhibition series “Double Room” in Raum 3½ at the KW Institute for Contemporary Art Berlin. I am especially indebted to Peter Gorschlüter for initiating the curatorial project and, along with Bernd Reiß, accompany­ ing it throughout one semester. For the supervision on loca­ tion at the Palmengarten, Karin Wittstock and her team, and in p­articular Julia Reiter, were our patient contact people. We ­discussed the programme in depth with Daniel Birnbaum and ­Jochen Volz at the Städelschule. The artist Adrian Williams took part in several discussions over the course of the semester and  sensitized us to the circumspect handling of the Penetrável PN 14. Max Jorge Hinderer Cruz, Marc Siegel and César O ­ iticica Filho acquainted us with Oiticica’s œuvre, and Jörg Heiser with the music of the “Tropicália” movement. Throughout the two-month stage of realizing the programme and accompanying the artists on site, all of the participating ­students showed great dedication to the undertaking. Especially deserving of mention here are Marenka Krasomil as the person in charge of the project’s overall coordination, Miriam Bettin, Nadine Droste and Clare Molloy for its realization. Marie ­Sophie Beckmann and Elena Frickmann were responsible for the press work on the part of the students, Marie Sophie B ­ eckmann also contributed substantially to the editing of the publication. Franziska von Stenglin documented the exhibition photogra­ phically; Judith Rosenthal, Alexandra Titze-Grabec and Clare Molloy provided the translations and Wanda Löwe edited the texts with the utmost care. Christian Zickler took care of the layout and the transcript Verlag thankfully included the publi­ cation in its programme. Our heartfelt thanks go out to all of them – and especially to the participating artists for their dedi­ cated corporation. Stefanie Heraeus

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Hélio Oiticica, Notizen zum Penetrável

STEFANIE HERAEUS

EINLEITUNG: CURATING THE ­PENETRÁVEIS Stefanie Heraeus

Künstlerische Praktiken wie Performance und Happening haben Ende der 1960er, ­Anfang der 1970er Jahre wesentlich dazu beigetragen, Kuratieren als ein Moderieren künstlerischer Ereignisse zu begreifen. Jenseits der objektbasierten Ausstellung, häufig außerhalb von Museum und Galerie, ging es darum, in der Öffentlichkeit Orte zu schaffen, an denen Interventionen in gesellschaftliche Diskurse stattfinden können, was bis heute die vielfältigen Formen des Kuratierens prägt. Mit den Penetráveis hat Hélio Oiticia, der auch selbst als Kurator an Ausstellungen beteiligt war, ein Format ­erfunden, das Raum für Propositionen (Angebote) und künstlerische Interventionen bietet. Es ging – um eine Formulierung von Jochen Volz in diesem Buch aufzugreifen – darum, „Situationen zu entwerfen, die eine aktive Teilnahme des Publikums ermöglichen; als ästhetisch-ethisches und politisch-soziales Ereignis“.1 Als Oiticica im Jahr 1960 sein erstes begehbares Penetrável PN 1 realisierte – dem rund 20 weitere, sehr unterschiedliche folgen sollten –, hat er seine Malerei in einen mehransichtigen, dreidimensionalen Farb-Raum transformiert. Mit Arbeiten wie ­diesen avancierte er zu einem der Protagonisten jenes entgrenzten Werkbegriffs, der sich seit den 1960er Jahren durchgesetzt hat.2 Mit der Bezeichnung Penetrável (Plural: ­Penetráveis) hat er die Konzeption der neuen Werkgruppe auf sprachlicher Ebene ­reflektiert: Sie sollten physisch und sinnlich „durchdringbar“ (portugiesisch penetrar = durchdringen) sein: „Die Arbeiten sind wie bewegliche Fresken in Lebensgröße, aber, und das ist das wichtigste, sie sind Penetráveis, ‚durchdringbar‘ [penetrable]. Die Struktur des Werks kann nur als ganze wahrgenommen werden, wenn alle beweglichen Teile enthüllt sind, die einen sind vor den anderen verborgen, es ist unmöglich, alles gleichzeitig zu sehen.“3 Die körperliche und taktile, die visuelle, bisweilen auch auditive Teilhabe des Publi­ kums war konstitutiv. In seinen zahlreichen Äußerungen über die Penetráveis hob ­Oiticica immer wieder ihre physische Erlebbarkeit, ihre Durchdringbarkeit und ihren „labyrinthischen Charakter“ hervor. 4 Das erste Penetrável PN 1 ist ein auf die Größe des menschlichen Körpers abge­ stimmter, etwa zwei Meter hoher und etwas mehr als zwei Quadratmeter kleiner Holz­ verschlag, der im Inneren viergeteilt ist. Seine monochromen Wände in Gelb und Orange lassen sich verschieben. Wer die Installation betritt, kann durch Bewegen der Wände verschiedene Farb-Raum-Konstellationen herstellen. Spätere Penetráveis sind größer und offener konstruiert, mit unbeweglichen Wänden, manche sind für den ­Innenraum, andere für den Außenraum gedacht, „um sie dann unter freiem Himmel umzusetzen und dem Publikum wie Gärten zugänglich zu machen“.5 Alle sind nach oben offen, in vielen ist der Boden mit Naturmaterialien bedeckt. Barfuß begeht das

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EINLEITUNG: CURATING THE PENETRÁVEIS

Publikum die mit Sand oder Kieselsteinen, Stroh, Laub oder Bananenblättern bedeckten Böden. Andere Räume sind mit monochromen Tüchern, Stoffvorhängen mit Pflan­ zenornamenten, farbigem Licht oder abgedunkelten Gängen ausgestattet. Insgesamt variieren Größe, Form und Material stark, gemein ist allen, dass sie sich nicht von ­außen, sondern erst beim Durchlaufen erschließen.6 Penetrável PN 14 aus dem Jahr 1979, das im Rahmen der Oiticica-Retrospektive des MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main im Jahr 2013 im Frankfurter Palmengarten nach den Originalplänen des Künstlers erbaut wurde, zeichnet sich durch eine einfache, klare Architektur aus weißen Wänden aus. Es hat einen quadra­ tischen Grundriss und besteht aus vier Räumen, die durch zwei schmale Gänge mit­ einander verbunden sind, mit Laub auf dem Boden der Gänge und mit schwarzen Fran­ senvorhängen an den Eingängen. Oiticica hat nur einige der Penetráveis baulich ausgeführt. Viele blieben bloße Idee und sind als detaillierte Grundrisse oder Konstruktionszeichnungen, zum Teil auch als Modelle formuliert. Ihre Nummerierung (als „PN“) ist nicht streng chronologisch, sie folgt wie bei seinen Bólides und Parangolés einer eigenen Systematik, die naturwissen­ schaftliche Systematisierungsverfahren zu paraphrasieren scheint – eine in den 1960er und 1970er Jahren verbreitete Haltung.7 Einige Penetráveis sind eigenständig, oft sind sie aber auch Teil einer größeren Installation, etwa PN 2 und PN 3 von Tropicália (1967). Die Penetráveis, wie Oiticicas Arbeiten insgesamt, sollten so ostentativ wie möglich den Eindruck von Offenheit, von „Angeboten“ erzeugen, so augenfällig wie möglich die Abwendung vom geschlossenen Werkbegriff erkennen lassen: „PN are penetrables : 1960 on : non-contemplative contact : spectator turned into participator : propositions instead of ‚pieces‘ : propose to propose : non-ritualistic practices : denial of the artist as a creator of objects : proposer of practices: open discoveries barely suggested: simple and general propositions: not yet completed : situations to be lived.“8 Die Penetráveis sollten Räume sein, die erst durch ihre Benutzung funktionieren, im Benutzen weitergedacht werden können und eine unbestimmte, durchlässige Beziehung zur Außenwelt unterhalten. Zeit seines Lebens hat Oiticica nach immer neuen Formen gesucht, künstlerisch im öffentlichen Raum zu agieren. Nicht zuletzt seine schier un­ überschaubare Masse an programmatischen Texten macht nachvollziehbar, wie er sich als Vordenker einer fundamentalen Transformation des Kunstbegriffs v­ erstanden hat. Er hat eine immense Textproduktion hinterlassen, kurze, manifestartige Statements ebenso wie Aufsätze, die zu Lebzeiten publiziert worden sind, darüber h­ inaus aber auch mehrere tausend Manuskriptseiten sowie zahlreiche Briefe und Tonbandaufnahmen. Letztere hat er an Künstlerkollegen, Freunde und Familie aus London und New York geschickt, wo er zeitweise im Exil lebte, um den Repressionen und der Zensur der seit 1964 in Brasilien herrschenden Militärdiktatur zu entkommen. B ­ islang ist nur ein Bruchteil dieser Texte ediert und transkribiert.9 Seine Stellungnahmen zur Konzeption der Penetráveis als Orte des Ausprobierens und Experimentierens, die ausdrücklich nicht auf Kontemplation zielten („non-

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contemplative contact“), sondern in denen „alle menschlichen Experimente erlaubt“ waren, lesen sich, als seien sie in Absetzung zu jenen Ausstellungskonventionen und -ritualen formuliert, die sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit den ersten öffent­ lich zugänglichen Gemäldegalerien und Kunstmuseen in Europa etabliert hatten.10 Im Katalog zu seiner ersten Einzelausstellung 1969 in der Londoner Whitechapel Gallery schreibt Oiticica über die Installation Éden, die mehrere Penetráveis enthält: „the EDEN – it is an experimental ‚campus‘, a kind of taba, where all human experi­ ments will be allowed – human ones, concerning human species possibilities. It is a kind of mythical place for feeling, for acting, for making things and constructing one’s own interior cosmos – so, for that, ‚open‘ propositions are given, and even raw materials for the ‚making of things‘, that the participator will be able to do.“11 Oiticicas Verfahren, die Wirkungsbereiche der Kunst durch partizipative Werkformate zu erweitern und sie einem größeren Publikum zugänglich zu machen, war auch eine Reaktion auf die spezifische Situation des brasilianischen Kunstbetriebs jener Zeit, als Museen nur der weißen Elite zugänglich waren. Sein Engagement für eine allumfassen­ de ästhetische Erfahrung und seine Versuche, die sinnlichen Wahrnehmungsfähigkei­ ten der BetrachterInnen zu erweitern bis hin zur Mobilisierung widerständiger Verhal­ tensweisen, gründeten in den politischen und sozialen Lebensbedingungen seines Heimatlands.12 Der einflussreiche brasilianische Kunstkritiker und -theoretiker Mário Pedrosa hat 1966 einen Artikel über Oiticicas „Environmental Art“ verfasst, in wel­ chem er ihn und Lygia Clark zu den Hauptvertretern der neuen brasilianischen Avant­ garde erklärt. Mit Rückbezug auf das Anthropophagische Manifest von 1928, in dem der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade die Einverleibung kolonialer Kultur zur Methode der Selbstbestimmung erklärt hatte, stellte Pedrosa die physische Präsenz von Oiticicas Penetráveis heraus. Sie böten die Möglichkeit „direkter Kommunikation durch Geste und Aktion“ und schüfen eine „neue Wirklichkeit“, deren subversiver poli­ tischer Gehalt offensichtlich sei.13 Dass sich Oiticica immer wieder auf Andrades Kan­ nibalismus-Konzept bezogen hat, ist hinlänglich herausgestellt worden.14 So hat er sein bekanntestes Environment Tropicália als brasilianische Avantgardekunst vorgestellt: „Die Tropicália ist der allererste, bewusste und objektive Versuch, ein verständliches Bild dessen, was ‚brasilianisch‘ ist, in den Kontext der akutellen Avantgarde und gene­ rell der nationalen Kunst einzuführen.“ Und: „Für die Erschaffung einer echten, eigen­ willigen und starken brasilianischen Kultur, zumindest im Ausdruck, muss dieses ver­ fluchte europäische und amerikanische Erbe anthropophagisch aufgesogen werden, durch das Schwarze und Indianische unseres Bodens […].“15 Wenn Oiticica das Penetrável PN 3 aus Tropicália als das „‚anthropophagischste‘ Werk der brasilianischen Kunst“ bezeichnet,16 dann reklamiert er seine Arbeiten als äs­ thetischen Widerstand gegen die Dominanz des westlichen Kunstdiskurses. Es ist der westliche Kunstbegriff mit seinen Raumkonzeptionen, denen PN 3 durch kannibalisie­ rende Aneignung entgegentritt.17 In ihrer provisorischen Gestaltung und mit den ver­ wendeten, oft einfachen einheimischen Materialien enthalten die Penetráveis vielfältige Elemente der marginalisierten sozialen Welt der Favelas.

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EINLEITUNG: CURATING THE PENETRÁVEIS

Solche radikalen Neuentwürfe des künstlerischen Raumes wie die von Oiticica r­ eagierten auf jene seit den 1920er Jahren übliche Ausstellungssituation im weißen ­Galerieraum, die aufs engste mit der Geschichte der westlichen Moderne verbunden und seit den 1960er Jahren für rund zwei Jahrzehnte Zielscheibe künstlerischer Kritik geworden ist.18 In Harald Szeemanns documenta 5 haben von Künstlern gestaltete ­alternative Erfahrungsräume und Präsentationsformen in Form von Museumsutopien und -fiktionen eine große Bühne bekommen, und in Brian O’Doherty’s Essay „Inside the White Cube“ von 1976 eine sprachliche Manifestation. Was O’Doherty in seinem kanonisch gewordenen Text am White Cube kritisiert hat – abgeschottet von der ­Außenwelt, nur scheinbar neutral, „schattenlos, weiß, clean und künstlich“, „nach G ­ esetzen errichtet, die so streng sind wie diejenigen, die für eine mittelalterliche K ­ irche ­galten“19 – das hatte Oiticica schon seit den frühen 1960er Jahren mit seinen ä­ sthetischen „Angeboten“ als Problem bearbeitet. Oiticica war einerseits Protagonist dieser breiten heterogenen Bewegung gegen Kunstbegriff und Raumsituationen der 1960er Jahre, andererseits aber in seiner Positi­ on als brasilianischer Künstler auch Stimme einer kolonialisierten Kultur. Anders als für seine Künstlerkollegen und -kolleginnen in New York, Paris und London, mit denen er und seine lateinamerikanischen Zeitgenossen in regem Austausch standen, ­verkörperten Museum und weißer Galerieraum für ihn die koloniale Tradition und kulturelle Hegemonie des Westens. Wie stark Museen und Ausstellungshäuser als ­zentrale Institutionen gesellschaftlicher Selbstentwürfe ideologisch geprägt waren, ­erlebte O ­ iticica unmittelbar 1965 bei einer Ausstellungseröffnung im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro. Als er seine Parangolés in der Ausstellung „Opinão 65“ ­(einer Gruppenausstellung zur brasilianischen Kunst) zeigen wollte, wurden die Sam­ batänzer, die seine Umhänge trugen, aus dem Museum ausgesperrt, Oiticica konnte den Umzug nur im Garten des Museums stattfinden lassen.20 Die Übersetzungsschwierigkeiten bei der Reinszenierung von Werken der 1960er Jahre in unsere Gegenwart, die ohne die Präsenz der Künstler und Künstlerinnen a­ uskommen und sich in einem völlig anderen gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext behaupten müssen, sind immer wieder diskutiert worden.21 Peter Gorschlüter und César Oiticica Filho, die beiden Kuratoren der Frankfurter Retrospektive, nehmen zu den besonderen Herausforderungen der postumen Rekonstruktion und Reaktivie­ rung von Oiticicas Penetráveis Stellung und erläutern, wie sich jenseits von Musealisie­ rung und Nostalgie neue Perspektiven und Konstellationen hervorrufen lassen.22 Penetrável PN 14, das Oiticica im Exil für den Central Park in New York in detail­ lierten Zeichnungen geplant, aber nie realisiert hat, funktioniert völlig anders als ein temporärer Bau im öffentlichen Raum, etwa ein Pavillon: Aufgrund des fehlenden ­Daches ist er den natürlichen Licht- und Witterungsverhältnissen vollkommen ausge­ setzt, nichts ist definitiv planbar und vorhersehbar. Improvisation ist in das Format ­eingeschrieben. Eine der eingeladenen Künstlerinnen in Frankfurt, Adrian Williams, hat die „zerbrechliche Struktur“ des Penetrável PN 14 und die Momente von Vergäng­ lichkeit in ihrer Kurzgeschichte „Rolex“ geschildert.23 Sie hat Oiticicas Aufforderung

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ernst genommen und sich über die gesamte Ausstellungsdauer der Rauminstallation immer wieder ausgesetzt, um sie zu erfahren und zu benutzen: „Ich saß, um darauf ­hinzuweisen, dass man auch sitzen könne. Ich las, um darauf hinzuweisen, dass man auch lesen könne. Ich schlief, um darauf hinzuweisen, dass man auch schlafen könne.“24 Dabei hat sie beobachtet, wie andere Besucher des Palmengartens mit dem Penetrável umgegangen sind, und auch erlebt, wie sich das ephemere Gebilde über den Zeitraum von zwei Monaten, im Wechsel der Jahreszeiten, zwischen Spätsommer und anbre­ chendem Herbst, verändert hat. Was die temporären Ausstellungsformate im öffentlichen Raum – ‚Penetrável‘, ­‚Pavillon‘ und ‚Plattform‘ – unterscheidet, was ihre Eigenheiten und kuratorischen Freiräume sind und welche Verbindungen sie zu Malerei, Landschaft und Architektur haben, diskutieren Daniel Birnbaum und Jochen Volz.25 Die Penetráveis, obwohl sie in Ausstellungen immer wieder gezeigt worden und auch in Sammlungspräsentationen vertreten sind, standen bislang weniger im Fokus des kunsthistorischen und kura­ torischen Interesses, anders als etwa Oiticicas Núcleos, Bólides und Cosmococas.26 Bis­ lang wurde erst einmal ein Penetrável nach dem Tod des Künstlers reaktiviert: 2010 fand im Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe im Instituto Inhotim eine Performance des Teatro Oficina statt unter Leitung des brasilianischen Regisseurs José Celso ­Martinez Corrêa, einem Freund Oiticicas, der dessen Auffassung radikaler Publikumsteil­habe teilte. Martinez Corrêa hat auf die Situation vor Ort reagiert. Jochen Volz und Júlia Rebouças, die das Spektakel von kuratorischer Seite betreut haben, schildern die Konsequenzen der Reaktivierung: Durch die Beteiligung aller Museumsmitarbeiter­ Innen am Teatro Oficina habe es nicht nur den Blick auf das Penetrável Magic Square no. 05 und dessen Position innerhalb der Sammlung stark verändert, sondern auch die Auffassung von der Institution in Inhotim.27 Mit der Musik der „Tropicália“-Bewegung setzt sich Jörg Heiser auseinander, jener linkspolitischen, populärkulturellen Gruppe aus Literaten, Musikern, Filmemachern und bildenden Künstlern. Er zeigt, wie stark die Ästhetik dieser Bewegung, eine ­„Verbindung aus politischer Renitenz und ästhetischer Verführung“, vom Militärre­ gime als politisch brisant eingestuft wurde, ohne dass politische Forderungen explizit formuliert worden sind.28 Er nimmt die „kurze, explosionsartige ästhetische und ­soziale Revolution“ in den Blick, die sich in Rio de Janeiro in der Musik vollzogen hat, in den Songs von Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa, Tom Zé und Os Mutantes. Dabei wurde für die 1968 produzierte Platte Tropicália ou Panis et Circensis nicht nur Oiticicas Werktitel Tropicália übernommen, sondern dessen Konzeption zum ­Programm erhoben. Christoph Menke befasst sich mit den ästhetischen Kategorien der Moderne, mit dem Unbestimmten, Unbestimmbaren in der modernen Kunst und legt dar, wie die Arbeiten nicht vom ausgeführten Werk, sondern von ihrer Konzeption erfahren wer­ den: „Produzenten und Rezipienten der Kunst sind gleichermaßen ästhetisch tätig oder als ästhetisch Tätige sind sie gleich. Aber ästhetisch tätig kann man nicht nur in

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EINLEITUNG: CURATING THE PENETRÁVEIS

der Kunst sein. Ästhetisch, also regellos, experimentell, un- oder asozial tätig, ist auch, wer einen neuen Gedanken denkt, eine neue Lebensweise erprobt, eine alte Ordnung umstürzt und eine neue erkämpft.“29 Dabei entwickelt er produktive Parallelen zu ­Oiticicas Generation, bezieht sich aber auch auf das Verständnis des Ästhetischen in der Gegenwart und leitet damit über zu jener Künstlergeneration, die sich in ­Frankfurt mit dem Penetrável PN 14 befasst hat. Welche Möglichkeiten und Freiräume die Penetráveis eröffnen, zeigt sich im Um­ gang mit dem Penetrável PN 14, der von den in Frankfurt eingeladenen Künstlern und Künstlerinnen höchst unterschiedlich genutzt wurde: als Innenraum, Resonanzkörper, Projektionsfläche oder als ein Ort, an dem utopisch anmutende Wesen auftraten, Schokoladenbrunnen aufgestellt wurden, Eisblöcke schmolzen oder eine Teezeremo­ nie stattfinden sollte. Auch wurde die Struktur des Penetrável sowie dessen Farb- und Formensprache als choreographische Anordnung auf die Fläche übertragen. Auf die Konzeption des Frankfurter Performance- und Filmprogramms, das im Sommer 2013 im Palmengarten stattgefunden hat, gehen Marie Sophie Beckmann und Marenka ­Krasomil ein, die einzelnen Projekte werden im zweiten Teil des Buches vorgestellt.30 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

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Mit den Worten von Jochen Volz im Gespräch mit Daniel Birnbaum in dieser Publikation, S. 32. Ich verweise hier nur auf die konzise Darstellung von Rebentisch 2013, bes. S. 9–24. Vgl. Oiticica, Hélio: Notizbucheintrag, 28. August 1961. Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 105. Ebd., S. 88, 105f. Oiticica, Hélio: „A transição da cor do quadro para o espaço e o sentido de construtividade“ (1962). Deutsche Übersetzung in: ebd., S. 130. Wie stark sich die Penetráveis im Verlauf der Jahre verändert haben, bemerkt Luciano Figueiredo, wenn auch nur kursorisch, in: Ausst.Kat. Houston / London 2007, S. 22. Zu diesen künstlerischen Verfahren sei nur verwiesen auf Metken 1977 sowie Metken 1996; mit Blick auf Oiticica vgl. Small 2009, S. 109f. Vgl. die Abb. auf S. 11 in dieser Publikation, Rio de Janeiro, Archiv des Projeto Hélio Oiticica, PHO Doc No. 0270.71-p4. Dazu Hinderer Cruz / Krümmel 2013. Dazu Hantelmann / Meister 2010, S. 7–18 (Einleitung); Hantelmann 2012a. Oiticica, Hélio in: Ausst.Kat. London 1969, o. S., wiederabgedruckt als Faksimile in: Ausst.Kat. London 2007, [S. 132]. Dazu Buchmann 2007, S. 252–261 (mit Bezug auf die Arbeit Tropicália). Vgl. Pedrosa, Mário: „Arte ambiental, arte pós-moderna, Hélio Oiticica“, in englischer Übersetzung und mit umfangreichem Kommentar von Michael Asbury in: Ausst.Kat. London 2005, S. 182f. Der Text endet mit der Bemerkung: „Beauty, sin, revolt and love confer to the work of this young artist a new accent in Brazilian art. […] Hélio ist the grandson of an anarchist.“ Dazu ausführlich Buchmann 2007, S. 230–239. Vgl. Oiticica, Hélio: „Tropicália“ (4. März 1968). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 227 und 230. Ebd. S. 229. Ebd., S. 228f. Die bislang umfangreichste Textsammlung von Künstlermanifesten, Interviews und Essays zu künstle­ rischen Interventionen und Aktionen, die sich mit der Ideologie von Museen, Galerien und der Figur des Kurators seit den 1960er Jahren auseinandersetzen, hat Christian Kravagna zusammengestellt, vgl. Krava­ gna 2001. So O’Doherty 1996, S. 10 und S. 84–88.

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20 Vgl. Dezeuze 2004, S. 59; zur politischen Brisanz der Ausstellung, die sich dezidiert gegen die neue Mili­ tärdiktatur richtete, äußert sich Luciano Figueiredo in: Ausst.Kat. Houston / London 2007, S. 22f. 21 Vgl. Breitwieser 2000 und Buchmann 2001, S. 77–79. 22 Vgl. Gorschlüter in dieser Publikation, S. 25–27, und das Interview mit César Oiticica Filho in dieser Publikation, S. 52–57. 23 Vgl. Williams in dieser Publikation, S. 41–46. 24 Ebd., S. 44. 25 Vgl. Birnbaum / Volz in dieser Publikation, S. 31–35. 26 Vgl. Buchmann / Hinderer Cruz 2013. 27 Vgl. Rebouças in dieser Publikation, S. 92–96. 28 Vgl. Heiser in dieser Publikation, S. 64–70, das Zitat S. 68 und das folgende Zitat S. 66. 29 Vgl. Menke in dieser Publikation, S. 78–84, das Zitat S. 80. 30 Vgl. Beckmann/ Krasomil in dieser Publikation, S. 102–105.

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INTRODUCTION: CURATING THE PENETRÁVEIS

INTRODUCTION: CURATING THE PENETRÁVEIS Stefanie Heraeus In the late sixties and early seventies, artistic practices such as the performance and the happening contributed greatly to a new conception of curating as the ‘emceeing’ of ­artistic events. Over and above the object-based exhibition and frequently outside the museum or gallery, the concern was with creating public venues for interventions in society’s discourses. This fundamental transformation of the late sixties still makes it­ self felt in the wide range of approaches to curating. With his Penetráveis, Hélio Oiticica, who himself participated in exhibitions as a curator, invented a format that offers scope for “propositions” and artistic interventions. The concern, as expressed by Jochen Volz elsewhere in this book, was “to design situations that enabled the public to participate actively – as an aesthetic-ethical and political-social event”.1 It was in 1961 that Oiticica realized his first walk-in Penetrável PN 1, of which twenty more, widely differing in character, were to follow. With this work, he transformed painting into a three-dimensional colour space viewable in many different ways. With works such as these, he was among the protagonists of the concept of the open, the ­unbounded artwork that became prevalent from the 1960s onward.2 With the term ­Penetrável (plural Penetráveis), he had reflected on the conception of the new workgroup: the new works were to be physically and sensorily penetrable (penetrável in ­Portuguese): “They are like movable frescos on a human scale except that (most importantly) they are penetrable. The structure of the work can only be grasped in motion after the complete unveiling of all of its parts, all of which are hidden from one another, and are impossible to be viewed simultaneously.”3 The physical, tactile, visual, and in some cases auditory participation of the public was constitutive. In his numerous statements about the Penetráveis, he repeatedly ­emphasized their physical experienceability, penetrability and “labyrinthine quality”.4 Penetrável PN 1 is a small wooden shed adapted to the size of the human body: it is approximately two metres high and has an area of just over two square metres, divided into four sections in the interior. Its monochrome yellow and orange walls can be moved by the viewer to create different colour-space constellations. Later Penetráveis also have movable walls, but are larger and more openly constructed. Some are for ­presentation indoors, others for the outdoors, “in order to be constructed in the open air and are accessible to the public in the form of gardens”.5 All are open at the top, and in many of them, natural materials cover the floor. The public tread barefoot on floors covered with sand, pebbles, or leaves, sometimes banana leaves. Other spaces are fur­ nished with monochrome fabrics, cloth curtains featuring plant ornaments, coloured light or darkened corridors. Overall, the size, form and material of the Penetráveis vary strongly; what they have in common is that visitors cannot comprehend them in full from the outside, but only by entering or walking through them.6

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Penetrável PN 14 of 1979, which was set up in the Frankfurt Palmengarten in 2013 on the occasion of the Oiticica retrospective staged by the MMK Museum für ­Moderne Kunst Frankfurt am Main, is distinguished by the white walls making up its simple, clear architecture. It has a square ground plan and consists of four spaces con­ nected to one another by two narrow corridors; leaves cover the floors of the corridors and black fringe curtains are attached at the entrances. Oiticica carried only a few of the Penetráveis to physical realization. Many have ­remained mere ideas, formulated in detailed ground plans or construction drawings or sometimes as models. Their numbering (as “PN”) is not strictly chronological. As in the case of the artist’s Bólides and Parangolés, they adhere to a system of their own that seems to paraphrase the systematization methods of natural science – an artistic ­approach widespread in the 1960s and ’70s.7 A number of the Penetráveis are indepen­ dent, but many of them are part of larger installations, for example PN 2 and PN 3, which are elements of Tropicália (1967). Like Oiticica’s works as a whole, the ­Penetráveis created the most ostentatious possible impression of openness, of “offers”, and made the abandonment of the self-contained artwork palpable: “PN are penetrables : 1960 on : non-contemplative contact : spectator turned into participator : propositions instead of ‘pieces’ : propose to propose : non-ritualistic practices : denial of the artist as a creator of objects : proposer of practices: open discoveries barely suggested: simple and general propositions: not yet completed : situations to be lived.”8 The Penetráveis were to be spaces cultivating a vague relationship of interpenetra­ tion with the outside world, spaces that function only when used, and that invite ­visitors to expand on the concept by using the space. All his life, Oiticica continued his search for ever new ways of intervening artistically in the public space. Not least significantly, his vast number of programmatic texts show how he conceived of ­himself as a pioneer in the fundamental transformation of the concept of art. He left an immense amount of written material behind: brief, manifesto-like statements, ­essays published during his lifetime, but also several thousands of further m ­ anuscript pages as well as numerous letters and tape recordings. He sent the latter to ­fellow ­artists, friends and family from his exiles in London and New York, where he lived for a time to escape the repressions and censorship of the military dictatorship in power in Brazil from 1964 onward. Only a fraction of these texts have been edited and transcribed to date.9 When he comments on the Penetráveis as places of trial and experimentation for “all human experiments”, explicitly aiming at a “non-contemplative contact” with the art­ work, it reads as if it had been formulated as a means of breaking away from the West­ ern exhibition conventions and rituals that had had become established from the end of the eighteenth century onward with the emergence of Europe’s publicly accessible painting galleries and art museums.10 In the catalogue accompanying his first solo ex­ hibition in 1969, staged in London’s Whitechapel Gallery, Oiticica wrote about the in­ stallation Éden, which contains several Penetráveis:

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“the EDEN – it is an experimental ‘campus’, a kind of taba, where all human experi­ ments will be allowed – human ones, concerning human species possibilities. It is a kind of mythical place for feeling, for acting, for making things and constructing one’s own interior cosmos – so, for that, ‘open’ propositions are given, and even raw materials for the ‘making of things’, that the participator will be able to do.”11 Oiticica’s method of expanding artistic spheres of impact through participatory for­ mats and in making those spheres accessible to large publics was also a reaction to the specific situation in the Brazilian art world of the time, when museums were acces­ sible only to the white elite. His dedication to art as an all-encompassing aesthetic ex­ perience and his endeavours to expand the visitors’ sensory perception to the extent of mobilizing resistant modes of behaviour were founded in the political and social liv­ ing conditions of his native country.12 In 1966, the influential Brazilian art critic and theorist Mário Pedrosa wrote an article on Oiticica’s “Environmental Art” in which he declared Oiticica and Lygia Clark the chief exponents of the new Brazilian avant-garde. With reference to the Anthropophagous Manifesto of 1928 – in which the Brazilian au­ thor Oswald de Andrade proclaimed the imbibition of colonial culture in a cannibalist manner a method of regaining self-determination – Pedrosa emphasized the physical presence of Oiticica’s Penetráveis. They offered a means of “communicating through gesture and action” and created “another reality” whose subversive political content was obvious.13 Oiticica’s repeated reference to Andrade’s cannibalism concept has been sufficiently pointed out.14 He described his most well-known environment Tropicália as an exam­ ple of Brazilian avant-garde art: “Tropicália is the very first conscious, objective a­ ttempt to impose an obviously Brazilian image upon the current context of the avant-garde and national art manifestations in general.” And: “For the creation of a true Brazilian culture, characteristic and strong, expressive at least, this accursed European and American influence will have to be absorbed, anthropophagically, by the Black and ­Indian of our land […].”15 When Oiticica referred to the Penetrável PN 3 in Tropicália as the “most anthro­ pophagic work of Brazilian art”,16 he was claiming that his works were a form of aes­ thetic resistance against the dominance of the Western art discourse. It is the Western understanding of art and its spatial conceptions that PN 3 counters with cannibalistic appropriation.17 In their makeshift designs and the often very simple native materials they use, the Penetráveis implement elements of the marginalized social world of the favelas. Radically new conceptions of artistic space such as Oiticica’s reacted to the exhibi­ tion situation in the white gallery space that had been en vogue since the 1920s, a form of presentation intimately linked with the history of Western modernism and a target of artistic criticism for about two decades starting in the sixties.18 Harald Szeemann’s documenta 5 offered a major stage to alternative experiential spaces designed by artists and presentations conceived as museum utopias and fictions, and Brian O’Doherty’s 1976 essay “Inside the White Cube” became their manifesto. What O’Doherty

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c­ riticized about the White Cube in his now canonical text was its seclusion from the outside world, its merely ostensible neutrality, its quality of being “unshadowed, white, clean, artificial” and “constructed along laws as rigorous as those for building a medi­ eval church”19 – aspects Oiticica had already been treating as problems in his aesthetic “offers” since the early 1960s. Oiticica was both a protagonist of the broad heterogeneous movement against out­ moded artistic concepts and – as a Brazilian artist - a voice of a colonialized culture. He differed from his fellow artists in New York, Paris and London – with whom he and his Latin American contemporaries cultivated lively exchange – in that, for him, the museum and the white gallery space embodied the colonial tradition and the cultural hegemony of the West. At an exhibition opening at the Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro in 1965, Oiticica experienced with all immediacy the extent to which muse­ ums and exhibition halls, as central vehicles of societal self-design, served ideological purposes. When he undertook to show his Parangolés in the exhibition “Opinão 65” (a group show on Brazilian art in Rio de Janeiro), the Samba dancers wearing his capes were barred from entering the museum. Oiticica was obliged to stage his parade in the museum garden instead.20 The translation difficulties that arise when works of the 1960s are restaged in the present, half a century after their inception – where they have to assert themselves with­ out the presence of the artists and in an entirely different sociopolitical and cultural con­ text – have been a subject of frequent discussion.21 In their contribution to this book, Peter Gorschlüter and César Oiticica Filho – the two curators of the Frankfurt retro­ spective – take a stance on the special challenges posed by the posthumous reconstruc­ tion and reactivation of Oiticica’s Penetráveis and discuss how new perspectives and constellations can be evoked above and beyond museification and nostalgia.22 Penetrável PN 14, which Oiticica planned in detailed drawings for New York’s ­Central Park (while living in that city in exile) but never realized, functions in a man­ ner entirely different from a temporary building in the public space, for example a ­pavilion. Owing to the lack of a roof, it is completely exposed to the natural light and weather conditions. Nothing can be reliably planned or predicted; improvisation is ­inscribed in the format. One of the artists invited to participate in the Frankfurt show, Adrian Williams, depicts the “fragile structure” of the Penetrável PN 14 and its ephem­ eral aspects in her short story “Rolex”.23 Taking Oiticica’s demand seriously, she sub­ jected herself to the spatial installation again and again throughout the show’s duration in order to experience and use it: “I sat, to suggest that one could sit. I read, to suggest that one could read. I slept, to suggest that one could sleep.”24 She also observed what other visitors to the Palmengarten did with the Penetrável, and experienced the chang­ es in the ephemeral construct over the course of two months as the season changed from late summer to early autumn. Daniel Birnbaum and Jochen Volz discuss what distinguishes the ‘Penetrável’, the ‘pavilion’ and the ‘platform’ – i.e. different types of temporary exhibition formats in the public space – from one another, what makes each of them unique, what scope they

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o­ ffer curators, and what relationships they have to painting, landscape and architec­ ture.25 Even though they have frequently been shown in exhibitions and are even ­included in permanent collection displays, the Penetráveis have hitherto hardly been the focus of art-historical and curatorial interest – quite unlike Oiticica’s Núcleos, Bólides and Cosmococas, for example.26 After the artist’s death and until the Frankfurt exhibition, only one Penetrável was ever reactivated: in 2010, under the direction of the Brazilian stage director José Celso Martinez Corrêa – a friend of Oiticica’s who shared his concept of radical audience participation – the Teatro Oficina carried out a spectacle in the Penetrável Magic Square no. 5, De Luxe at the Instituto Inhotim, re­ sponding to the situation there. Jochen Volz and Júlia Rebouças, who were in charge of the spectacle in the capacity of curators, describe the effects of the Penetrável’s reacti­ vation: through the participation of the entire museum staff in the Teatro Oficina, not only did the perspective on the Penetrável Magic Square no. 5 and its position with­ in the collection undergo radical change, but also the conception of the institution in Inhotim.27 Jörg Heiser explores the music of the “Tropicália” movement – a left-wing, popcultural group of writers, musicians, filmmakers and visual artists. He shows how ­clearly the military regime understood the aesthetic of this movement – in his words a “combination of political renitence and aesthetic allure” – as politically dangerous even though it did not voice explicit political demands.28 He takes a look at the “brief explosive aesthetic and social revolution” that came about in Rio de Janeiro in the songs of Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa, Tom Zé and Os Mutantes. The ­album Tropicália ou Panis et Circensis produced in 1968 not only adopted Oiticica’s work title Tropicália, but also his overall artistic approach as its own. Christoph Menke concerns himself with the aesthetic categories of modernism, with the undetermined, indeterminable in modern art, and describes how this art is ­experienced not on the basis of the finished product but of its conception: “Producers and recipients of art are equally aesthetically active or as aesthetic actors they are equal. But not only in art is it possible to be aesthetically active. Anyone who thinks a new thought, tries out a new lifestyle, overthrows an old order and carves out a new one is also aesthetic, i.e. rule-less, experimental, unsocial or asocial.”29 He develops ­productive parallels to Oiticica’s generation, while also making reference to our pres­ ent-day understanding of the aesthetic, thus forging a link to the generation of artists that concerned itself with the Penetrável PN 14 in Frankfurt. The manner in which artists and visitors treated the Penetrável PN 14 in the Palmen­ garten demonstrates the possibilities and scopes for action the Penetráveis create. It was used in widely differing ways by the artists invited to participate in the presenta­ tion: as an interior, sound box and projection surface, as a place where utopian-like creatures performed, chocolate fountains were erected, blocks of ice melted or a tea ceremony was to take place. What is more, the structure of the Penetrável as well as its language of colour and form were translated into a choreographic arrangement in the garden. Marie Sophie Beckmann and Marenka Krasomil discuss the concept of the

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performance and film programme carried out in the Frankfurt Palmengarten in the summer of 2013; the individual projects will be introduced in part 2 of the book.30

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As expressed by Jochen Volz in his conversation with Daniel Birnbaum in this publication, p. 37. A process concisely described by Rebentisch 2013, esp. pp. 9–24. See Oiticica, Hélio: notebook entry of 28 August 1961. English translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 85. Ibid. Oiticica, Hélio: “A transição da cor do quadro para o espaço e o sentido de construtividade” (1962). ­English translation in: ibid., p. 129. In Exh.Cat. Houston / London 2007, p. 22, Luciano Figueiredo comments, if only briefly, on how strongly the Penetráveis changed over the years. On these artistic methods, see Metken 1977 and Metken 1996; in reference to Oiticica see Small 2009, pp. 109f. See the figure on p. 11 in this publication, Rio de Janeiro, Archives of the Projeto Hélio Oiticica, PHO Doc No. 0270.71-p4. On this subject, see Hinderer Cruz / Krümmel 2013, pp. 46–48. On this subject, see Hantelmann / Meister 2010, pp. 7–18 (“Einleitung”); Hantelmann 2012b. Oiticica, Hélio in: Exh.Cat. London 1969, reprinted as a facsimile in: Exh.Cat. London 2007, [p. 132]. On this subject, see Buchmann 2007, pp. 252–261 (with reference to the work Tropicália). See Pedrosa, Mário: “Arte ambiental, arte pós-moderna, Hélio Oiticica”, in English translation and with extensive commentary by Michael Asbury in: Exh.Cat. London 2005, pp. 182f. His text ends with the remark: “Beauty, sin, revolt and love confer to the work of this young artist a new accent in Brazilian art. […] Hélio is the grandson of an anarchist.” For a detailed discussion of this subject, see Buchmann 2007, pp. 230–239. See Oiticica, Hélio: “Tropicália” (4 March 1968). Englisch translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 227 and 229f. Ibid., p. 228. Ibid., pp. 228f. The hitherto most extensive collection of artists’ manifestos, interviews and essays on artistic interven­ tions and actions examining the ideology of museums and galleries and the figure of the curator since the 1960s was compiled by Christian Kravagna, see Kravagna 2001. O’Doherty 1996, pp. 10 and 84–88. See Dezeuze 2004, p. 59. See Breitwieser 2000 and Buchmann 2011, pp. 77–79. See Gorschlüter in this publication, pp. 28–30, and the interview with César Oiticica Filho in this ­publication, pp. 58–63. See Williams in this publication, pp. 47–51. Ibid., p. 49. See Birnbaum / Volz in this publication, pp. 36–40. See Buchmann / Hinderer Cruz 2013. See Rebouças in this publication, pp. 97–101. See Heiser in this publication, pp. 71–77, quotation on p. 75 and the following quotation on p. 73. See Menke in this publication, pp. 85–91, quotation on p. 87. See Beckmann / Krasomil in this publication, pp. 106–108.

„PROPOSE TO PROPOSE“ – ZUR REALISIERUNG DES PENETRÁVEL PN 14

„PROPOSE TO PROPOSE“ – ZUR REALISIERUNG ­ DES PENETRÁVEL PN 14 Peter Gorschlüter Retrospektive Werkschauen radikaler künstlerischer Positionen führen unweigerlich zu einer kunstgeschichtlichen Einordnung, die dem avantgardistischen Geist des Werkes entgegenstehen mag. Vermeintlich progressive Kritiker des Museumsbetriebs bezeichnen dies oft abschätzig als Akt der Musealisierung. Während der Vorberei­ tungen der Frankfurter Hélio Oiticica-Retrospektive „Das große Labyrinth“ stellte sich für uns, die Kuratoren der Ausstellung,1 die Frage, wie sich das Prozesshafte, Unab­ge­ schlossene und Experimentelle, das seinem Werk innewohnt, in die Gegenwart ­überführen ließe. Oiticicas eigene Vorstellungen aus dem nicht realisierten Konzept Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects sollten den Ausgangspunkt bilden, um diesen zentralen Aspekten seines Wirkens im Kontext der Ausstellung neue Präsenz zu verleihen. Im Jahr 1969 verließ Hélio Oiticica im Zuge zunehmender politischer Repressi­ onen sein Heimatland Brasilien. Während seines mehrmonatigen Aufenthaltes in London formulierte er mit Subterrânia streitbare Ideen, die sowohl geprägt waren von der Erfahrung des Exils als auch eine kämpferische Ansage darstellten, seine univer­ sellen Überzeugungen in einen europäischen und nordamerikanischen Gesellschaftsund Kunstkontext einzubringen. Im Folgejahr verlegte Oiticica nach der Beteiligung an der legendären MoMA-Ausstellung „Information“ seinen Lebensmittelpunkt nach New York. Dort begann er wenig später die Arbeit an der neuen Werkgruppe Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects. Sie umfasste Modelle und Konstruk­ tionspläne für eine Vielzahl von Penetráveis (Durchdringbare Strukturen), die für den öffentlichen Raum – u. a. den Central Park – bestimmt waren, aber zu Oiticicas Lebzeiten nicht verwirklicht wurden. Die Anfänge dieser Entwicklung führen zehn Jahre zurück. Die ab 1960 zunächst aus der Idee der erweiterten und durchdringbaren Malerei im Raum entstandenen Penetráveis nahmen in Oiticicas künstlerischer Arbeit bald gesamtkulturelle und gesell­ schaftliche Dimensionen an. Bereits 1961 formulierte er in seinem ebenfalls nicht realisierten Projeto Cães de Caça (Projekt Jagdhunde) – das aus heutiger Sicht wie ein Vorläufer der später in New York konzipierten Werkgruppe erscheint – die Idee eines großen, labyrinthartigen Baus. Dieser sollte sich aus fünf Penetráveis sowie dem ­Poema Enterrado (Begrabenes Gedicht) von Ferreira Gullar und dem Teatro Integral (Integrales Theater) von Reynaldo Jardim, beide neo-konkrete Dichter und frühe Weggefährten Oiticicas, zusammensetzen. Das Eindringen in einen realen wie geisti­ gen Raum, die Idee der Zusammenarbeit sowie die Aktivierung des Ortes und der Kunst durch den Betrachter – Aspekte, die wesentlich sein sollten für Oiticica bis zu seinem frühen Tod 1980 – waren in diesem Projekt in Grundzügen bereits angelegt. Sie erschlossen ihm neue Möglichkeiten für die zukünftige Entwicklung seiner Arbeit.

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In den Anmerkungen zu dem Projekt formulierte Oiticica das Zusammenwirken der unterschiedlichen Beiträge der beteiligten Künstler wie folgt: „Es handelt sich in einem höheren Sinne um symbolische Werke, die ganz verschiedenen Ausdrucksfeldern ­entlehnt sind und in einer anderen, neuen und erhabenen Ordnung zusammenspielen. Es ist, als ginge es bei dem Projekt um die Reintegration des Raumes und des alltäg­ lichen Erlebens in diese andere raum-zeitliche und ästhetische Ordnung, aber, und das ist das Wichtigste, im Sinne einer Sublimierung des Humanen.“2 Während Oiticica in dem frühen Projeto Cães de Caça durch die Integration von Gullars und Jardims Werken als Künstler-Kurator Vorgaben zur Bespielung des Raumes machte, löste er sich mit den Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects von konkreten Vorschlägen für die Aktivierung seiner Penetráveis zugunsten einer offenen Struktur und konzeptuellen Erweiterung, die ungeplante wie spontane „Raumergreifungen“ durch den Betrachter nicht nur zuließ, sondern ge­ radezu forderte: „[…] von der Partizipation des Betrachters (Teilnehmers), der die eigentlichen Objekte anfasst, anzieht oder sie durchdringt, hin zu wirklichen Angeboten [propositons] (propose to propose) […].“3 Oiticica sprach von der „Abkehr und Verwandlung des Künstlers als Schöpfer von Objekten hin zu einem Anbieter von Praktiken, in denen Ideen und Entdeckungen offen und unmittelbar vorgeschlagen werden und sich im Prozess verwirklichen. Deshalb sind die Ange­ bote [propositions] in diesen Projekten so einfach und allgemein gehalten, nicht abgeschlossen, sie zeigen Situationen auf, die zum Leben erweckt werden sollen.“4 Uns, den Kuratoren der Ausstellung, war es ein zentrales Anliegen zu vermit­ teln, dass dieses Potenzial Oiticicas Werken bis in die Gegenwart innewohnt und dass sie eher als Angebote denn als abgeschlossene Werke zu verstehen sind. Wir wollten allzu enge museale wie kuratorische Festschreibungen vermeiden, im ­Bewusstsein, dass Oiticica sich solchen widersetzt hätte. Darüber hinaus war es uns wichtig, Oiticicas Vorstellung umzusetzen, die Kunst außerhalb des Museums in den öffentlichen Raum zu überführen. Bei der postumen Realisierung des Penetrável PN 14 aus der Werkgruppe Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects im Palmengarten der Stadt Frankfurt ging es daher um mehr als eine ­maßstabsgetreue Konstruktion des Raumes, nämlich um die Aktivierung und Inter-­ pretation von Oiticicas Konzept im Kontext der Gegenwart und seiner künstle­ rischen Produktion. Dies führte zur Einladung an den Masterstudiengang „Curato­ rial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik“, sich 42 Jahre nach Entstehung des Konzeptes mit Oiticicas Werk und seiner Relevanz für die zeitgenössische Kunst auseinanderzusetzen und war sowohl dem Wunsch geschuldet, die Installation im Sinne Oiticicas in all ihren Facetten zu realisieren, als auch eine Referenz an seine Idee des „Program in Progress“. In den Anmerkungen zu seinem Konzept schrieb Oiticica 1971: „Bezüglich der einfachen und allgemeinen Angebote [pro­ positions], die ich erwähne, stellen diese eine Art Fundgrube von Ideen dar, die ich einmal hatte; sie sollten selbstverständlich diskutiert und in Gruppenarbeit durch Partizipation an den Projekten weiterentwickelt werden.“5

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Oiticicas eigene Anmerkungen boten somit den Ausgangspunkt für die Idee, mit dem Studiengang ein Kuratorenkollektiv einzuladen, Oiticicas Proposition in der ­Gruppe zu diskutieren und ein Programm zu konzipieren, das zeitgenössische künst­ lerische Positionen und die Besucher zur Auseinandersetzung mit dem Werk Oiticicas einladen sollte. Neben den werkimmanenten Gründen und der Hommage an das ­universelle künstlerische Verständnis Oiticicas war dies gleichzeitig auch ein kurato­ risches Wiederaufnehmen und ein Experiment, sein Werk postum zu präsentieren und zu aktivieren. In seinem zentralen Text „Das Experimentelle wagen“ von 1972 schrieb Oiticica: „die losen fäden des experimentellen sind energien die eine unbegrenzte zahl von möglichkeiten hervorbringen.“6 Das von den Studierenden konzipierte und organisierte Programm aus Interventionen, Performances und Screenings hat exemplarisch e­inige dieser Möglichkeiten aufgezeigt und uns das Oiticicas Werk innewohnende und bis heute einzigartige Potenzial vergegenwärtigt. Im Namen der Kuratoren der Retrospek­ tive danke ich allen beteiligten Studierenden, Künstlerinnen und Künstlern und Pro­ jektpartnern, insbesondere der Leiterin des Studiengangs Stefanie Heraeus, der Leite­ rin des Kulturprogramms des Palmengartens Karin Wittstock sowie Bernd Reiß vom MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main für ihre Energien und ihre Hingabe an dieses gemeinsame Experiment. 1 2 3 4 5 6

Die Retrospektive, die 2013 im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main und im ­Palmengarten der Stadt Frankfurt stattfand, wurde kuratiert von César Oiticica Filho, Peter Gorschlüter und F ­ ernando Cocchiarale. Oiticica, Hélio: Notizbucheintrag, 28. August 1961. Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 105f. Vom Autor aus dem englischen Original übersetzt: Oiticica, Hélio: „Subterranean Tropicália Projects“, New York, September 1971. Erstmals veröffentlicht in: Ausst.Kat. Rotterdam / Paris / Barcelona / ­ Lissabon / Minneapolis 1992, S. 143. Ebd., S. 143. Ebd., S. 144. Oiticica, Hélio: „Experimentar o experimental“ (1972). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 289.

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“PROPOSE TO PROPOSE” – ON THE REALIZATION OF PENETRÁVEL PN 14 Peter Gorschlüter Retrospective exhibitions on radical artistic approaches inevitably lead to an arthistorical classification that may run contrary to the avant-gardist spirit of the approach. This process is often disdainfully labelled an act of “museification” by pur­ portedly progressive critics of museological methods. During our preparations for the Hélio O ­ iticica retrospective in Frankfurt, we – the show’s curators1 – found our­ selves confronted with the question of how the process-oriented, unfinished, experimental character inherent to Oiticica’s work could be carried forward into the ­present. The ideas Oiticica had formulated himself in his concept for the Newyorkaises, ­Subterranean Tropicália Projects, which never saw realization, were to form our point of departure for lending these key aspects of his work new presence within the context of the show. In 1969, Hélio Oiticica left his native Brazil in response to increasing political repressions. During a stay of several months in London, in a work entitled Subterrânia, he formulated militant ideas, on the one hand shaped by his experience of exile, and on the other hand representing a combative declaration of his intention to infiltrate the European and North American society and art context with his universal convictions. The following year, after his participation in the legendary MoMA show “Information”, he moved to New York. Not long afterward, he began planning his new workgroup, the Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects. He built models and drew construc­ tion plans for a large number of Penetráveis (Penetrable Structures) intended for public spaces, among others Central Park – works that were never realized within Oiticica’s lifetime. This development had commenced ten years earlier. Initially emerging from the idea of an expanded and penetrable form of painting in space, the Penetráveis soon took on pan-cultural and societal dimensions. As early as 1961, Oiticica formulated his Projeto Cães de Caça (Hunting Dogs Project; likewise never realized) – the idea of a large, labyrinthine structure which, in retrospect, seems to anticipate the workgroup later conceived in New York. It was to consist of five Penetráveis, enhanced by Ferreira Gullar’s Poema Enterrado (Buried Poem) and Reynaldo Jardim’s Teatro Integral (Inte­ gral Theatre). Gullar and Jardim were two Neo-Concrete poets and early artistic com­ panions of Oiticica’s. The penetration of a real as well as an immaterial space, the idea of collaboration, and the activation of the place and the art by the viewer were all aspects that would remain fundamental for Oiticica until his premature death in 1980 – and that in essence had already been present in the Hunting Dogs Project. They served to open up new possibilities for the further development of the artist’s work. In his notes on the project, Oiticica described the interplay of the participating artists’ contributions as follows: “In a higher sense, they are symbolic works, derived from var­

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ious fields of expression that are conjoined here within another order, new and sublime. It is as if the project provided a reintegration of space and of everyday lived experiences [vivências] within this other spatiotemporal and aesthetic order but, most importantly, as a human sublimation.”2 In the early Projeto Cães de Caça, Oiticica had acted as an artist/curator who deter­ mined how the space would be utilized by integrating Gullar’s and Jardim’s works. In the Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects, he then abandoned specific propos­ als for the activation of his Penetráveis in favour of an open structure and a conceptual expansion which not only permitted, but virtually demanded, unplanned, spontaneous “room apprehensions” on the part of the viewer: “[…] the participation of the spectator (participator) touching, dressing, penetrating the actual pieces, developed towards actual propositions (propose to propose) […].”3 Oiticica spoke of “the denial of the artist as a creator of objects, but turned into a proposer of practices in which ideas and discoveries are opened and nakedly suggested, and realize themselves in the course of such practices. this shows why the propositions in these projects are simple and ­general, not yet completed, shown as situations to be lived.”4 A major concern of ours, as the exhibition curators, was to convey that, to the very present, this potential is still inherent in Oiticica’s art, and that his works are to be understood as propositions rather than as completed pieces. We wanted to avoid alltoo-confining museological or curatorial codifications because we knew that Oiticica would have resisted them. We also wanted to put into practice his idea of taking art out of the museum and into the public realm. In the posthumous realization of Penetrável PN 14 from the workgroup Newyorkaises, Subterranean Tropicália Projects in the ­Frankfurt Palmengarten, the concern was accordingly with more than a true-to-scale construction of the room. The more important aim was to activate and interpret ­Oiticica’s concept within the context of the present and of his artistic production. It was in this context that we invited the “Curatorial Studies – Theory – History – ­Criticism” degree course to explore Oiticica’s œuvre forty-two years after the formula­ tion of the concept, and to examine its relevance for contemporary art. At the root of our efforts was the desire to realize the installation entirely in accordance with O ­ iticica’s vision in all its facets, and with reference to his idea of a “program in p­ rogress”. In 1971, Oiticica wrote in his notes on the concept: “concerning the simple and general propo­ sitions mentioned, I am making a kind of repertory of ideas that I eventually have for them; they should of course be discussed and participated with group-work on the projects.”5 Oiticica’s own notes thus inspired the idea of inviting the students of the degree course to form a curatorial collective that would discuss Oiticica’s Proposition as a group and design a programme that would in turn invite contemporary artists and the public to explore and respond to Oiticica’s œuvre. In addition to the reasons for this approach inherent to his œuvre and the wish to pay tribute to his universal artistic con­ ception, the students’ involvement also represented a curatorial revisiting of his work and an experiment consisting of presenting and activating his œuvre posthumously.

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In his key text “To Experiment the Experimental” of 1972, Oiticica wrote: “loosen threads the scattered roots of the experimental are scattered roots spring energies for an open number of possibilities.”6 Consisting of interventions, performances and screenings, the programme planned and organized by the degree course students revealed a number of these possibilities and demonstrated the potential inherent to Oiticica’s œuvre – a quality that has remained unique to this day. On behalf of the ­retrospective’s curators, I thank all of the participating students, artists and project partners, especially the director of the degree course Stefanie Heraeus, the director of the Palmengarten culture programme Karin Wittstock, and Bernd Reiß of the MMK, for their energy and their dedication to this joint experiment. 1 2 3 4 5 6

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The retrospective, which took place at the MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main and the Frankfurt Palmengarten in 2013, was curated by César Oiticica Filho, Peter Gorschlüter and Fernando Cocchiarale. Oiticica, Hélio: notebook entry of 28 August 1961. English translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 86. Oiticica, Hélio: “Subterranean Tropicália Projects”, New York, September 1971. First published in: Exh.Cat. Rotterdam / Paris / Barcelona / Lisbon / Minneapolis 1992, p. 143. Ibid., p. 143. Ibid., p. 144. Hélio Oiticica, “Experimentar o experimental” (1972). English translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 289.

AUSSTELLUNGSFORMEN JENSEITS DES WHITE CUBE

AUSSTELLUNGSFORMATE JENSEITS DES WHITE CUBE: PENETRÁVEIS – ­ PAVILLONS – PLATTFORMEN Daniel Birnbaum / Jochen Volz Daniel Birnbaum [DB]: Mit den Weltausstellungen, aber auch durch Biennalen und Großausstellungen wie die documenta haben sich ‚Pavillon‘ und ‚Plattform‘ zu Ausstellungsbauten bzw. -formaten etabliert. ‚Pavillon‘ bezeichnet ein ursprünglich zeltartiges, schnell zu errichtendes, leichtes Bauwerk, freistehend und zumeist rundum offen in einer Garten- oder Parkanlage. Einzelbauten, die im Allgemeinen einräumig sind und für Messen und Ausstellungen genutzt werden, werden – unabhängig von ihrer Bauweise – auch als Pavillons bezeichnet. ­Be­sonders prominente Beispiele sind etwa der Pavillon de l’Esprit Nouveau von ­ Le Corbusier, der 1925 in Paris errichtet wurde und der Deutsche Pavillon von Mies van der Rohe auf der Weltausstellung in Barcelona 1929. Der Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert, abgeleitet vom französischen pavillon in der veralteten Bedeutung für Militärzelt und vom lateinischen papilio, dem Schmetterling. ‚Plattform‘ wird in höchst unterschiedlichen Bereichen verwendet, im Kontext kuratorischer Projekte ist ‚Ausgangsbasis‘ oder ‚Forum‘ vielleicht eine passende Umschreibung, die auch deutlich macht, dass das Kuratieren inzwischen eher als ein Moderieren künstlerischer Ereignisse beschrieben werden kann: an unterschiedlichen Orten, in verschiedenen Diskursformen, nicht zwingend im Medium der Ausstellung. Penetrável ist eine Wortschöpfung von Hélio Oiticica, um seine labyrinthischen Rauminstallationen zu benennen, die er für den Außenraum, „unter freiem Himmel“ konzipiert hat, aber darauf kommen wir noch zurück. Du hast immer wieder Gelegenheit gehabt, mit Pavillons, Plattformen und ­Penetráveis zu arbeiten. So unterschiedlich diese drei Ausstellungsformate auch sind, was sie verbindet, ist, dass sie projektbasiert und temporär sind. Ihre zeitliche Begrenztheit ist geradezu in das Format eingeschrieben. Was reizt dich als Kurator daran, mit diesen Formaten zu arbeiten? Jochen Volz [ JV]: Ich denke, dass es in der Kunst letztendlich immer darum geht, neue Präsentationsformen zu finden. Definitionen werden dabei zeitweise schwam­ mig, und neue Bezeichnungen müssen gefunden werden. Es ist so gesehen nach­ vollziehbar, dass ein Begriff wie der des Pavillons von der Architektur in die bildende Kunst migriert, oder dass die Idee der Plattform sowohl physische wie auch ­konzeptionelle und organisatorische Dimensionen benennen kann. Hélio Oiticica war einer der praktisch und theoretisch aktivsten Künstler des 20. Jahrhunderts, ständig auf der Suche nach neuen Präsentationsformen in ­seiner Kunst. Wenige haben so viele neue und präzise Begriffe erfunden, um ihre

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­ rbeitsweise zu beschreiben. Seine Schriften sind wie eine Schatztruhe, in der man im­ A mer wieder eine neue Reihe von Konzepten entdecken kann. Definitionen wie Bólide, Núcleo oder Parangolé, unter anderen, beschreiben in Oiticicas Werk sehr genau seine künstlerische Vorgehensweise, sie sind gleichzeitig aber völlig verwurzelt in der Kunst­ geschichte des 20. Jahrhunderts und können uns helfen, bestimmte Entwicklungen, Versuche und Versehen zu verstehen. Oiticica hat den Begriff Penetrável geprägt im Zusammenhang seiner Suche nach ­einer nichtkontemplativen Kunstform oder besser nach einer aktiven Kunst. Seine ur­ sprüngliche Idee war, die Malerei in den Raum zu erweitern, das Publikum einladend, die Farbe begehen und erleben zu können. Ähnlich wie ein Labyrinth ist auch das ­Penetrável eine feste Form, die sich dem Individuum lediglich durch Interaktion er­ schließt. Der Betrachter wird also zum Teilnehmer. Das ist eine der wichtigsten Errun­ genschaften der Kunst der letzten 60 Jahre. Und darin sehe ich auch die Verbindung zwischen den Erfahrungen eines Pavillons, einer Plattform oder eines Penetrável. DB: Hier funktioniert das Eingreifen von Kunst im öffentlichen Raum anders als etwa im geschlossenen Raum einer Ausstellungshalle oder eines Museums. Wie würdest du das konkret beschreiben? JV: Oiticica entwirft für seine Arbeit eine übergreifende Einheit, die er Programa ­Ambiental nennt. Dabei steht nicht unbedingt der Schritt in den öffentlichen Raum im Vordergrund, sondern vielmehr der Gedanke, dass ein Kunstwerk sein Umfeld verän­ dert. Es geht dabei nicht darum, Werke für eine konsumierende Gesellschaft zu produ­ zieren, sondern Situationen zu entwerfen, die eine aktive Teilnahme des Publikums ­ermöglichen; als ästhetisch-ethisches und politisch-soziales Ereignis. Rirkrit Tiravanija, beispielsweise, versteht seine Bühnen, Plattformen, Pavillons und Räume als ‚Modelle‘, die er den Besuchern zur Nutzung anbietet und die nur durch Interaktion ihre volle Wirkung erreichen. Sie sind architektonische Formen, aber ­demonstrieren mögliche soziale Räume. Sie sind Vorschläge, die aufgenommen, negiert oder modifiziert werden können; Experimente irgendwo zwischen Leben und Fiktion, Realität und Kunst. Diese Suche nach einer Nähe von Kunst und Leben bei Tiravanija und Oiticica ­verstehe ich nicht als Ablehnung des Museums oder der Ausstellungshalle, sondern vielmehr als Versuch der Erweiterung des Wirkungsraums der Kunst. Viele andere Künstlerinnen und Künstler haben natürlich in die gleiche Richtung gearbeitet. Es ­fasziniert mich sehr, wenn Kunst Realität produzieren kann. DB: Du warst drei Jahre an den Serpentine Galleries in London und warst ­während dieser Zeit an der Konzeption und Planung der Sommerpavillons in ­Kensington Gardens mitbeteiligt. Die Pavillons sind spektakuläre temporäre Bauten von international sehr renommierten Architekten, in einem offenen ­Umfeld, dem man sich vom Park oder von der Straße nähern kann. Die ephemeren Architekturgebilde sind also, ähnlich wie in Oiticicas Konzeption der

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­ enetráveis, öffentliche Räume, die jeder betreten und sich zu eigen machen P kann. Dennoch sind sie ganz verschieden. Was sind für dich die wesentlichen ­Unterschiede zwischen Pavillon und Penetrável? JV: Die Serpentine-Pavillon-Serie ist bereits 2000 von Julia Peyton-Jones, Direktorin der Serpentine Galleries, ins Leben gerufen worden, als sie Zaha Hadid beauftragte, eine temporäre Eventstruktur für den Rasen vor der Galerie zu entwerfen. Daraus ­wurde schnell ein wichtiges jährliches Programm der Serpentine in der Kulturszene Londons. Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass die wichtigsten Positionen in der zeitgenössischen Architektur einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Als ich 2012 zur Serpentine kam, war die Pavillon-Serie bereits so etabliert, dass es möglich wurde, eine wesentlich jüngere Generation von Architekten einzuladen, wie Sou Fujimoto (2013), Smiljan Radic (2014) oder selgascano (2015). Die Ansprüche an den Pavillon sind klar definiert: Er muss zugänglich sein für alle, muss ein Café beherbergen und sollte als Veranstaltungsort für Konzerte, ­Performances, Workshops oder Empfänge mit bis zu 250 Gästen dienen können. Es war spannend, den Prozess zwischen ersten Ideen und einer gebauten Struktur aus nächster Nähe zu beobachten. Es dauert für die Architekten immer eine Weile zu reali­sieren, dass die Serpentine kein gewöhnlicher Auftraggeber ist, sondern ei­ gentlich den Pavillon genauso ‚kuratiert‘ wie andere Kunstwerke oder Ausstellungen. Es ist immer wichtiger, dass der Pavillon radikaler Ausdruck der Kreativität und ­Formensprache der Architekten ist, als dass er den praktischen Ansprüchen der ­Galerie entgegenkommt. Es war Smiljan Radic, der irgendwann zu uns kam und sagte, er habe nun ­verstanden, dass nicht die Galerie, sondern eigentlich er selbst sein eigener ‚Klient‘ ist. Man könnte also sagen, dass die Serpentine-Pavillons Architekten die Möglich­ keiten geben, in einem reduzierten Maßstab, dennoch sehr prominent und sichtbar, Formen zu entwerfen und zu bauen, die Ausdruck ihrer selbst sind. Vielleicht sind sie die bestmögliche Annäherung von Architektur an Kunst, ohne die Idee des Gebäu­ des komplett aufzugeben? Und vielleicht sind dementsprechend Oiticicas Penetráveis, vor allem der Magic Square, die bestmögliche Annäherung der Malerei an Architektur, ohne der pragmatischen Logik des Bauens zu erliegen? DB: Für Oiticica hat „die Erfindung des Penetrável […] einen völlig unerforschten Raum der Farbe in der Kunst“¹ eröffnet. Es ging ihm um eine Verwandlung der Alltagserfahrung, im Raum die Farbe zu erleben und das Publikum in die Farbstruktur eines Penetrável virtuell einzubinden. Bei dem 2015 realisierten Sommerpavillon des spanischen Architektenpaars José Selgas und Lucía Cano gewinnt man den Eindruck, als ginge es hier um etwas Ähnliches. Kann man das so sagen? JV: Vielleicht. Aber ich würde dennoch sagen, dass selgascano mehr an der Materialität von Farbe interessiert sind, während Oiticica vor allem an den sozialen Möglichkeiten interessiert war, die sie innerhalb seiner Arbeiten entfalten kann.

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DB: Im Jahr 2008 hast du mit deinen Kuratoren-Kollegen im Instituto Inhotim Oiticicas Arbeit Invenção da Cor, Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe im ­Freigelände aufgebaut. Das Penetrável nimmt seither einen zentralen Platz innerhalb der Sammlung ein und wird auf verschiedene Weise aktiviert. 2010 fand dort auch ein Spektakel des Teatro Oficina aus São Paulo statt unter der Leitung des brasilianischen Theaterdirektors José Celso Martinez Corrêa. Was war das Besondere an diesem Projekt? JV: Martinez Corrêa war ein Freund von Oiticica, und er hat im Bereich des Theaters Ähnliches verfolgt wie Oiticica in der bildenden Kunst. So investiert beispielsweise Martinez Corrêa bis heute in eine radikale Publikumsteilnahme. Die Idee dieser Zusammenarbeit und der Aktivierung des Magic Square entstand 2009 während eines Besuchs von Martinez Corrêa und einigen Schauspielern vom ­Teatro Oficina in Inhotim. Im folgenden Jahr kam es dann zur Macumba Antropófaga. Das Stück war eine Inszenierung des Anthropophagischen Manifests von Oswald de  ­Andrade aus dem Jahr 1928. Dieses Manifest ist der Kerntext der brasilianischen ­sozialkritischen und kulturrevolutionären Anthropophagie-Bewegung, die in der ­Metapher des Kannibalismus eine Alternative sah, wie Brasilien mit der dominie­ renden ­europäischen und nordamerikanischen Kultur, ihrem Einfluss und ihren ­Moden umgehen sollte; nicht ankämpfen, sondern auffressen. Dieser Text war auch für die Tropicalisten und Hélio Oiticica eine wichtige Inspiration. Das Besondere aber an der Zusammenarbeit zwischen Inhotim und dem Teatro Oficina war, dass die Inszenierung in einem 10-tägigen Workshop im Museum erarbei­ tet wurde, mit 60 Schauspielern des Theaters und der gleichen Zahl von Mitarbeitern des Museums. Kunsterzieher, Galeriepersonal, Verwal­tungsangestellte und Gärtner nahmen an den Vorbereitungen direkt teil. Die Routine des Museums wurde durch diese Zusammenarbeit völlig durcheinandergebracht, und Regeln und Gewohnheiten, die als gegeben angenommen worden waren, wurden plötzlich hinterfragt. Hierarchien wurden aufgebrochen, und auch die Konzeption einer internationalen zeitgenössischen Kunstsammlung im ländlichen Brasilien schien plötzlich durch das Theater und durch de Andrade eine andere Dimension zu bekommen. Die Skulptur des Magic Square, ­obwohl physisch unverändert, war danach nie mehr dieselbe. DB: Oiticica hat sich als „Anbieter von Praktiken“ verstanden. Es war ihm ein Anliegen, das Publikum zu aktivieren und in künstlerische Prozesse einzubinden, und zwar gerade das Publikum, das nicht ins Museum geht. Mit den Arbeiten im öffentlichen Raum hat sich auch sein Verständnis, was ein Werk ist oder sein kann, verändert. In einer Tagebuchnotiz vom 3. Juni 1962 schreibt er: „Beim Penetrável bedingt die Tatsache des freien und offenen Raums, dass nämlich das Werk im Raum stattfindet, eine andere Position, erzeugt ein anderes Verständnis dessen, was ein ‚Werk‘ ist.“² Ein Penetrável postum als performativen Ort erleb­bar zu machen, ist eine besondere Herausforderung. Wie würdest du deine Rolle als Kurator in diesem Fall beschreiben?

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JV: Im besten Fall sind Kuratoren Komplizen der Künstler. Und es war eine wunder­ bare Möglichkeit, in diesem Projekt verschiedene Ideen, Erwartungen und Aus­ drucksformen zusammenbringen zu können in einem einzigen Spektakel: von Oiticica, ­Martinez Corrêa, de Andrade, von Inhotim, vom Teatro Oficina, von den beiden Teams, dem Publikum und einer lokalen Geschichte im Landesinnern Brasiliens. DB: Bereits 2006, als du bei der São Paulo Biennale als Gastkurator mitgearbeitet hast, spielten Oiticica und sein Denken eine zentrale Rolle. Damals wurde die Biennale von Lisette Lagnado und einem internationalen Team von Ko-Kuratoren organisiert. Wie ist das mit Blick auf die anstehende 32. São Paulo Biennale, die du kuratierst? JV: Lisette Lagnado ist eine der wichtigsten Oiticica-Spezialistinnen weltweit, und ich habe sehr viel gelernt von ihr über Oiticica und auch über das Ausstellungsmachen. Das Denken von Oiticica hat in der 27. Biennale von São Paulo wie eine konzeptio­ nelle Matrix funktioniert. Es war ein großartiges Projekt. Für 2016 gehen wir unter dem Titel „Incerteza Viva“ (Lebende Ungewissheit) aber von einem anderen Gedanken­bild aus, nämlich dem des Gartens. Wie du weißt, befindet sich der Biennale-Pavillon ­Ciccillo Matarazzo inmitten von São Paulos größtem öffentlichem Park, dem Parque Ibirapuera. Und es interessiert uns, die Ausstellung als Fortsetzung des umliegenden Gartens zu verstehen und umgekehrt den Park als Kontinuum der Ausstellung. Der Garten soll hier nicht nur Metapher, sondern Methode sein. Konzeptionelles Kern­ stück des Projekts ist Oyvind Fahlströms Garden – A World Model (1973). Das ist eine wunderbare Installation des großartigen schwedischen Künstlers, den wir beide so schätzen, und der 1928 in São Paulo geboren wurde, also in dem Jahr, als de Andrade sein Anthropophagisches Manifest ebenfalls in São Paulo veröffentlichte. Das Gespräch basiert auf einem Mailwechsel der Autoren am 4. Januar 2016 und geht auf eine gemeinsame Seminarstunde im Juni 2013 zurück. 1 2

Oiticica, Hélio: „A transição da cor do quadro para o espaço e o sentido de construtividade“ (1962). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 130. Oiticica, Hélio: Notizbucheintrag, 3. Juni 1962. Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 114.

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EXHIBITION FORMATS ­BEYOND THE WHITE CUBE: PENETRÁVEIS – PAVILIONS – PLATFORMS Daniel Birnbaum / Jochen Volz Daniel Birnbaum [DB]: In the context of the world fairs, but also in connection with biennials and large-scale exhibitions such as the documenta, the ‘pavilion’ and the ‘platform’ have established themselves as exhibition structures or formats. The term ‘pavilion’ originally referred to a light, easy-to-build tent-like structure, freestanding, usually open all the way around, in a garden or park. Individual structures usually containing one room and used for fairs and exhibitions are also called pavilions, regardless of their design. Le Corbusier’s Pavillon de l’Esprit Nouveau, erected in Paris in 1925, and Mies van der Rohe’s German Pavilion at the 1929 World Fair in Barcelona are particularly prominent examples. Originating in the eighteenth century, the term derives from the French pavillon for military tent (a meaning now obsolete), and the Latin papilio, butterfly. ‘Platform’ is used in a wide range of different senses. In the context of curatorial projects, a fitting paraphrase might be ‘point of departure’ or ‘forum’ – terms that convey the fact that curating can meanwhile perhaps be described most aptly as an act of moderating artistic events: at various locations, in various forms of discourse, not necessarily in the exhibition medium. The word ­Penetrável was coined by Hélio Oiticica to refer to his labyrinthine room installations which he conceived for the outdoors, “under the open sky” – but we’ll come back to that a bit later. You’ve frequently had the opportunity to work with p ­ av­ilions, platforms and Penetráveis. However different these three exhibition formats may be, what they have in common is that they are project-based and temporary. Temporal limitation is virtually inscribed in their formats. What appeals to you, as a curator, about working with these formats? Jochen Volz [ JV]: I think in art the concern is ultimately with finding new presentation forms. Within that context, definitions sometimes get a bit hazy, and new terms have to be found. If we look at it in that light, it’s logical that a term such as ‘pavilion’ might migrate from architecture to the visual arts, or that the idea of the platform can be used to refer to physical as well as to conceptual and organizational dimensions. Hélio Oiticica was one of the most active artists of the twentieth century – both practically and theoretically. He was constantly in search of new forms of presentation in his art. Few artists have invented as many new and precise terms for describing their way of working. His writings are like a treasure trove in which you can discover new conceptual complexes again and again. In Oiticica’s work, terms such as Bólide, Núcleo or Parangolé, among others, describe his manner of proceeding as an artist very pre­

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cisely. At the same time, they’re totally rooted in the history of twentieth-century art and can help us understand certain developments, endeavours and accidents. Oiticica coined the term Penetrável in connection with his search for a non-contem­ plative art form, or, more specifically, an active form of art. His original idea was to extend painting into space and invite the viewers to ‘enter’ and experience the colour. In a manner similar to a labyrinth, the Penetrável is also a fixed form that becomes accessible to the individual only through interaction. The viewer thus becomes a par­ ticipant. That is one of the most important achievements of the art of the past sixty years. And there I also see the connection between the experience of a pavilion, that of a platform, and that of a Penetrável. DB: Here art’s intervention in the public space works differently from how it functions in, say, the enclosed space of an exhibition hall or a museum. How would you describe it, in concrete terms? JV: Oiticica designed an overarching schema for his works which he called the ­Programa Ambiental. The focus was not necessarily on moving outside into the public space, but rather the idea of an artwork changing its surroundings. The concern wasn’t with producing works for a consumer society, but to design situations that ­enabled the public to participate actively – as an aesthetic-ethical and political-social event. Rirkrit Tiravanija, for example, conceives of his stages, platforms, pavilions and rooms as ‘models’ which he offers the visitors for use, and which only take full effect through interaction. They are architectonic forms, but demonstrate possible social spaces. They are proposals that can be adopted, negated or modified; experiments somewhere between life and fiction, reality and art. I don’t regard this search for closeness between art and life in the work of Tiravanija and Oiticica as a rejection of the museum or the exhibition hall, but rather as an attempt to expand art’s radius of impact. Naturally, a lot of other artists have worked in the same vein. I find it very fascinating when art can produce reality. DB: You were with the Serpentine Galleries in London for three years, and ­during that time you were involved in planning the summer pavilions in ­Kensington Gardens. The pavilions are spectacular temporary structures by internationally highly renowned architects, situated in an open setting that can be approached from the park or the street. In other words, in a manner ­similar to Oiticica’s Penetrável concept, these ephemeral architectural entities are public spaces that anyone can enter and ‘appropriate’ for himself. Yet they are also very different. What do you consider to be the fundamental differences between the pavilion and the Penetrável? JV: The Serpentine Pavilion series was initiated back in 2000 by Julia Peyton-Jones, the director of Serpentine Galleries, when she commissioned Zaha Hadid to design a ­temporary event structure for the lawn in front of the gallery. That quickly evolved into

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an annual Serpentine programme of quite some significance in the London cultural scene. The point of departure was the conviction that the most important positions in contemporary architecture should be made accessible to a broad public. When I joined Serpentine in 2012, the pavilion series was already so firmly established that it was p­ ossible to invite a much younger generation of architects such as Sou Fujimoto (2013), Smiljan Radic (2014) or selgascano (2015). The demands made on the pavilion are clearly defined: it has to be accessible to all, has to accommodate a café, and should also be suited to serving as a venue for concerts, performances, workshops, or receptions for up to 250 guests. It was very exciting to witness, from a very close vantage point, the process from the architect’s initial ideas to the built structure. It always took the architects a while to realize that Serpentine wasn’t a typical architecture client, but actually ‘curates’ the pavilion in the way it curates artworks or exhibitions. It is always more important that the pavilion is a radi­ cal expression of the architect’s creativity and formal language than that it accommo­ dates the gallery’s practical needs. It was Smiljan Radic who eventually came to us and said he had now understood that not the gallery, but he himself was his own ‘client’. So you could say that the Serpentine pavilions give architects an opportunity to design and build forms that are expressions of themselves, on a reduced scale, but nev­ ertheless in a very prominent and visible setting. Maybe they are architecture’s best possible approximation to art without giving up the idea of a building altogether? And perhaps Oiticica’s Penetráveis, especially the Magic Square, are painting’s best possible approximation to architecture without succumbing to the pragmatic logic of building? DB: For Oiticica, “the invention of the Penetrable [opened] the field to a completely unexplored realm of the art of color”.¹ His concern was with a transformation of the everyday experience, with experiencing colour in space, and integrating the public into the colour structure of a Penetrável, in the virtual sense. In the summer pavilion realized in 2015 by the Spanish architect duo José Selgas and Lucía Cano, the aims seem to have been very similar, don’t you think? JV: Possibly. But still I would say that, whereas selgascano are more interested in the materiality of colour, Oiticica was primarily concerned with the social potentials that can unfold within his works. DB: In 2008, you and your fellow curators set up Oiticica’s Invenção da Cor, ­ enetrável Magic Square no. 05, De Luxe on the grounds of the Instituto Inhotim. P Ever since, the Penetrável has held a central position within the collection, where it is activated in different ways. In 2010, the Teatro Oficina from São Paulo staged a spectacle there under the supervision of the Brazilian theatre director José Celso Martinez Corrêa. What was special about that project? JV: Martinez Corrêa was a friend of Oiticica’s who pursued ideas in theatre similar to the ones Oiticica pursued in the visual arts. To this day, for example, Martinez Corrêa still invests in radical audience participation.

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The idea for the collaboration and the activation of the Magic Square was born in 2009 when Martinez Corrêa and a number of actors from the Teatro Oficina were ­v isiting Inhotim. The Macumba Antropófaga came about the following year. It was a production of Oswald de Andrade’s Anthropophagous Manifesto of 1928. This mani­ festo is the core text of the socio-critical and cultural-revolutionary anthropophagy movement. In the metaphor of cannibalism, they saw an alternative for how Brazil should deal with the dominant European and North American culture, its influence and its trends – not fight against it, but devour it. For the Tropicalists and Hélio ­Oiticica, the text was an important inspiration. But the special thing about the collaboration between Inhotim and the Teatro ­Oficina was that the production was developed in a ten-day workshop at the museum with sixty actors from the theatre and the same number of museum employees. Museum education staff, gallery personnel, administrative employees and gardeners participated directly in the preparations. The project completely disrupted the museum routine, and rules and habits that had previously been considered givens were sud­ denly questioned. Hierarchies were dismantled, and even the concept of an interna­ tional contemporary art collection in rural Brazil suddenly seemed to take on a different dimension through the theatre and through de Andrade. Even though it hadn’t changed physically, the sculpture of the Magic Square was never the same again. DB: Oiticica conceived of himself as an “offerer of practices”. His vision was to activate the public and involve it in artistic processes – above all the public that didn’t go to the museum. With his works in the public space, his conception of what a work is or can be also changed. In a diary entry of 3 June 1962, he wrote: “In a Penetrable, the fact that space is free – given that the work takes within it – implies a different perspective or position as to what a ‘work’ might be.”² To make a Penetrável experienceable posthumously as a performative place is a special challenge. How would you describe your role as a curator in this case? JV: Curators are, at best, artists’ accomplices. And that project was a wonderful opportunity to bring various ideas, expectations and forms of expression together in a single spectacle: those of Oiticica, Martinez Corrêa and de Andrade, of Inhotim, of Teatro Oficina, of the two teams, of the public, and of a bit of local history in the ­Brazilian interior. DB: Already back in 2006, when you worked as a guest curator for the São Paulo Biennale, Oiticica and his way of thinking played a key role. That biennale was organized by Lisette Lagnado and an international team of co-curators. How do you see that with regard to the coming 32nd São Paulo Biennale, which you are curating? JV: Lisette Lagnado is one of the most important Oiticica specialists in the world, and I learned a lot from her about Oiticica, but also about making exhibitions. At the 27th São Paulo Biennale, Oiticica’s way of thinking served us as a kind of conceptual matrix.

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It was a fabulous project. For 2016, however, where the title is “Incerteza Viva” (Live Uncertainty), we are proceeding from a different mental image, namely that of the gar­ den. As you know, the Ciccillo Matarazzo pavilion, where the Biennale takes place, is in the middle of São Paulo’s largest public park, the Parque Ibirapuera. And we’re inter­ ested in conceiving of the exhibition as a continuation of the surrounding park and, conversely, of the park as a continuation of the exhibition. Here the garden is to be not just a metaphor, but a method. The core conceptual work of the project is Oyvind Fahlström’s Garden – A World Model (1973). It’s a wonderful installation by that mag­ nificent Swedish artist, whom we both value so greatly, and who was born in São Paulo in 1928 – that is the year in which de Andrade published his Anthropophagous ­Manifesto, likewise in São Paulo. This conversation is based on e-mail correspondence between the authors on 4th January 2016 and goes back to a joint seminar session taking place in June 2013. 1 2

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Oiticica, Hélio: “A transição da cor do quadro para o espaço e o sentido de construtividade” (1962). Eng­ lish translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 130. Oiticica, Hélio: notebook entry of 3 June 1962. English translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 109f.

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ROLEX Adrian Williams Während mir der Dentalhygieniker die Salzwasserdüse in den Mund steckt, liege ich hilflos in dem hydraulischen Stuhl und starre auf einen Kunstdruck von M. C. Escher, der mitten durch den Rahmen an die Decke gebohrt ist. Das Bild stimmte mit der ­Position des früheren Stuhles überein. Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren noch gerade darauf geschaut habe. Als sie den neuen Stuhl anbrachten, ließen sie es einfach dort, also wirkt es aus meiner total horizontalen Perspektive irgendwie schief. Wenn es nicht gerade ein Treppenhaus von M. C. Escher wäre, das endlos hinauf- und hinunterführt, wäre es sehr wohl von Bedeutung, wie man es betrachtet. Ich kann mich in dem Bild nicht verlieren, weil ich weiß, dass es genau das ist, was es von mir will, also schließe ich die Augen. Wenn Kunst einen Job erledigen soll und du genau weißt, welcher das ist, zerstört das jegliche Neugierde. Man sagt ja, dass man, wenn man von Zähnen träumt, eigentlich vom Tod träumt. Ohne Zähne lebt es sich ganz sicher nicht mehr sehr lange oder sehr einfach, aber wenn man mit Zähnen stirbt, dann bleiben sie für immer da drinnen, während der Rest dei­ nes Körpers zerfällt. Komisch, dass man nur im Leben Gefahr läuft, seine Zähne zu verlieren, während sie im Tod wie Felsen im Mund stehen. Als ich ihn danach frage, er­ zählt mir mein Zahnarzt etwas über den menschlichen Schädel, den er im Regal stehen hat. Man kann einen echten Schädel von einem falschen unterscheiden, weil die echten immer kleiner sind, als man vermuten würde. Als er noch studierte, kannte er einen Totengräber, der unter der Hand Schädel an Studenten wie ihn verkaufte, für zehn bis zwanzig Mark, was ungefähr dem Preis für ein anständiges Mittagessen entsprach, sa­ gen wir mal: ein Schnitzel mit Pasta und einem Salat. So makaber es sich auch anhört, es war eine rein praktische Angelegenheit, meint mein Zahnarzt, da es einfach Dinge gibt, die man über den menschlichen Schädel wissen muss und die kein Bild vermitteln kann, Dinge, die ein Arzt über Knochen und Nerven wissen sollte, die nur der Kno­ chen ihm verrät. Der Typ grub die mit Erde gefüllten Schädel aus und gab sie in Plas­ tiktüten weiter. Die Studenten nahmen die Schädel mit in ihr Uni-Labor und kochten den Dreck ab. Die zehn oder zwanzig Mark waren wie eine stille Übereinkunft, dass Ethik hier nicht gefragt war. Für den Zahnarzt ist der leblose Schädel kein Mensch. Für den Zahnarzt ist er bloß ein Schädel, ein Knochen, der dazu dient, Konzepte zu verste­ hen, die ihm dabei behilflich sind, das Leben der Lebenden Schritt für Schritt zu ver­ bessern. Einmal vergaß ein Freund des Zahnarztes eine dieser Plastiktüten im Bus. Sie ward nie mehr gesehen. Die Familie, die die Leiche beerdigt hatte, sah es wahrscheinlich als ein Ende, aber sie kam zurück, um eine weitere Geschichte zu erzählen, und hier kommen wir zur Komplexität der Reproduktion temporärer Kunstwerke. Der Zahnarzt zieht den Schä­ del heran, die unmittelbare, kompliziert spezifische Version jedes originalen Kopfes, um – nach dem Tod – zu verstehen, wie er die Lebenden am besten behandelt. Als das

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MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt die Arbeiten von Hélio Oiticica nach seinem Tod präsentierte – einem Künstler, der sich oftmals auf die Umstände als Werk­zeug seiner Kunst verließ – schuf es ein Rahmenwerk, Situationen, Installationen und Objekte, in einer gewissermaßen kryogenen Herangehensweise, um so seine physisch abwesenden Vorstellungen zu erkunden. Hat man gute Zähne, müssen sie nur einen selbst überleben, um für die Ewigkeit zu bestehen. Das MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt errichtete im Palmengarten der Stadt Frankfurt eine große Penetrável-Skulptur, entsprechend den Originalplänen des Künstlers. Die Struktur, so sagte man mir, sei ein Vorschlag des Künstlers gewesen, als Raum, in dem Dinge geschehen könnten. Oiticica führte jedoch nicht aus, was seiner Ansicht nach dort geschehen oder wer die Sache in Angriff nehmen solle. Als Künstle­ rin, die sich oftmals mit temporären Situationen und Performances beschäftigt, wurde ich vom Masterstudiengang „Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik“ und vom MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt ersucht, mir zu überlegen, wie die­ ser Raum aktiviert werden könnte. Ich könnte dafür mit den Studierenden arbeiten oder auch selbst eine Arbeit schaffen, die der Situation angemessen wäre. Ich war nicht die einzige Künstlerin, die eingeladen wurde, und spürte schon in der Einladung, dass hier eine Festival-Atmosphäre in der Luft lag, als ob die Arbeit zu einem Ort vibrie­ renden Geschehens werden könnte. Ich machte mir Sorgen und fürchtete, dass das ­alles falsch lief, dass sie den Raum manipulieren oder verändern würden. Ich hatte Angst, dass man es verabsäumen würde, die Tatsache zu kommunizieren, dass die Struktur als Vorschlag konzipiert war, eine Frage, die eigentlich keiner Antwort bedurfte. Mir schien, als sei die Anregung des Künstlers auch die Erlaubnis, frei in diesen Raum ­einzutreten und dort das zu tun, wozu er die Inspiration lieferte. Für mich waren für die Umsetzung dieser Vorstellung lediglich einige Menschen nötig, die sie durchleben sollten, und die reine Organisation dieser Veranstaltung barg das Risiko, ihre Einsam­ keit aufs Spiel zu setzen. Ich mochte die Arbeit und den Vorschlag und ließ mich aus Neugierde und auch aufgrund der Tatsache darauf ein, dass nicht alles, was ein Künst­ ler schafft, auch ein Kunstwerk sein muss. Trotz meiner Angst, das Werk zu zerstören, beschloss ich, einfach anwesend zu sein und meine Erfahrung damit das Zeichen sein zu lassen, dass es in mir hinterließ. Dieser Text ist, so nehme ich an, der Ausdruck die­ ses Zeichens. Es ist kompliziert, Kunstwerke nachzubilden. Kompliziert aufgrund der zerbrech­ lichen Struktur, die ihnen ihre Wertigkeit verleiht. Man fragt sich, ob die Nachbildung tatsächlich das Werk ist. Ob das Werk das Objekt ist oder die Idee des Objektes. So­ bald man Arbeiten verkauft, wird es noch komplexer, da die endlosen, gesetzlosen Strukturen rund um die Themen Konservierung, Restaurierung, Auflagen, Multiples, Performance und Installation im besten Falle der Willkür überlassen bleiben. Manch­ mal frage ich mich, ob Reproduktionen der Existenz und der Intention eines Kunst­ werks nicht abträglich sind. Künstler, die sich mit temporären Arbeiten befassen, sind mit einer Reihe von Problemen konfrontiert – logistischer, finanzieller, theoretischer und praktischer Art –, die nichts mit den Fragen der Konservierung zu tun haben. Oft

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ist es dermaßen schwierig, die Dinge zum Laufen zu bringen, dass man einfach keine Zeit dafür hat, sich mit der Frage zu beschäftigen, was später mit ihnen passiert. Darin liegt eine gewisse traurige Schönheit. Weshalb auch so viele dieser Arbeiten im zarten Raum des Augenblicks stattfinden. Die schönsten Geschichten, die man bei einem Abendessen zu hören bekommt, sind stets dem Schwenk auf die Nacherzählung ge­ widmet. Zeitlich begrenzte Arbeiten haben so viel mit dem wahren Leben zu tun, sie sind so flüchtig, so schwer fassbar, dass sie geradezu als untrennbar davon zu betrach­ ten sind. Es ist einfach eines dieser Dinge. Wenn ein Objekt jedoch vergangen ist, wie stellt man es an, das Werk zu zeigen? Können wir die Ideen, die einem Objekt oder einer Situation innewohnen, kommuni­ zieren, ohne sie zu reproduzieren? Fotos können zeigen, wie die Arbeit ausgesehen hat, doch das ist nur ein Aspekt dessen, was eine Idee bewirken kann. Ich fragte mich, was die Arbeit Oiticicas kommu­ nizieren könnte, wenn sie unter veränderten zeitlichen und örtlichen Bedingungen ­reproduziert würde. Was geschieht unter dem deutschen Himmel, fern der brasilianischen Sonne und der Menschen, die die Dinge wohl anders betrachtet haben, mit dem nicht überdachten Gebäude? Ich maß der Vergangenheit oder der Geografie keine ­besondere Bedeutung bei, da die Relevanz eines Werkes stets relativ ist und die Erfah­ rung im Rückblick nicht notwendigerweise großartiger sein muss. Obwohl Zeit und Entfernung unseren wahrnehmenden Blick sehr effektiv mit Vaseline verschmieren und alles Vergangene so viel schöner, wenn nicht sogar äußerst verschwommen, ausse­ hen lassen. Einige Ideen sind beim zweiten Durchlauf allerdings noch interessanter. Zumindest eröffnet die Reproduktion dem Kunstwerk die Möglichkeit, in irgendeiner Form für andere Menschen an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit zu existieren. Es gewinnt ein weiteres Leben. Der Verlust eines Objektes kann zu der Geschichte werden, die ihm Wert verleiht, unsere Unsicherheit macht die Dinge kostbar. Doch lässt sich tatsächlich allein durch die physische Reproduktion die Frage beantworten, ob das Kunstwerk hier und jetzt funktioniert? Wie soll man das wissen, wenn man nicht einfach einen Hammer hervorholt und es versucht? Das Risiko, sich zu irren, macht ein Gutteil dessen aus, was die Erwartung interessant macht. Das riesige Penetrável ist eine enorm große, blockartige weiße Struktur mit verschie­ denen Stellen, an denen man eintreten kann, ein dachloses Labyrinth, das sich von ­außen nicht erschließt. Wäre man ein Vogel, dann könnte man auf dieser riesigen grü­ nen Rasenfläche ein rechteckiges Gebilde mit zwei senkrechten Gängen erkennen, die sich in der Mitte kreuzen und das Quadrat in vier Räume teilen. Es gibt keine Tü­ ren, jedoch Türöffnungen, zwei in jedem Raum und eine an der Außenseite, direkt am Ende eines Ganges. Diese Öffnungen sind so positioniert, dass man nicht direkt in ­einen Raum blicken kann. Erst wenn man um die Ecke geht, sieht man hinein, sodass eine Person, die den Raum betritt, gezwungen ist, sich Dingen anzuvertrauen, die sie nicht sehen kann. Mittels einer Fotografie lässt sich dies nicht begreifen, es verlangt nach Bewegung und Impuls. Sobald man um die Ecke biegt, übernimmt man in ge­ wisser Art und Weise Verantwortung für die eigene Erfahrung.

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Ich saß, um darauf hinzuweisen, dass man auch sitzen könne. Ich las, um darauf hin­ zuweisen, dass man auch lesen könne. Ich schlief, um darauf hinzuweisen, dass man auch schlafen könne. Ich wurde zum physischen Beispiel möglicher Aktionen, indem ich einfach dort war, ohne Anweisung oder Plan. Es war nicht meine Absicht, zu einem Kunstwerk zu werden oder jemand in eine Performance einzubinden. Indem ich dort war, bot ich eine Möglichkeit und versuchte gleichzeitig herauszufinden, wie das skulp­ turale Objekt für sich allein funktioniert. Und es funktionierte jenseits aller spezi­ fischen Gegebenheiten, es funktionierte im echten Leben. Oft kam ein alter Mann mit seiner Pflegerin. Sie half ihm die Treppe zu einer Tür­ öffnung hinauf, hob seinen Rollator auf das Podest und ließ ihn dann allein. Außer Sichtweite ging sie um das Gebäude herum und wartete auf der anderen Seite auf ihn. Manchmal saß ich da, wenn er kam, manchmal sah ich ihn von außen. Ich sprach ihn nie an oder hörte, wie er sprach. Woche für Woche kam er wieder, in demselben unver­ änderten, jedoch offensichtlich abnehmenden physischen Zustand, in seinen von Ho­ senträgern gehaltenen Hosen, und schob den quietschenden Rollator vor sich her, als die Elemente sich des Penetrável bemächtigten und der Raum um ihn herum begann, sich zu verändern. Zunächst waren die Wände weiß, zu hoch, um darüber sehen und zu fragil, um da­ rauf klettern zu können. Das Licht umströmte einen und – obwohl von außen unbe­ merkt – man selbst und auch alles andere war den Elementen innerhalb dieser Wände völlig ausgesetzt. Durch den Regen, der Tag für Tag am Werk war, schwoll das Sperr­ holz auf und der Boden wölbte sich, und von den Kanten der mit Wetterschutz behan­ delten Bretter rannen gelbe Rinnsale. In den silikonversiegelten Ecken, die den Regen vom Eindringen abhielten, bildeten sich Pfützen, in denen sich Mücken vermehrten, wie es an verwundbaren Orten stets der Fall ist. Obwohl ich darauf wartete und ob­ wohl es keine Aufseher gab, die den Ort davor hätten bewahren können, war die Struk­ tur keinen anderen vandalistischen Akten als denen des Regens ausgesetzt. Der Himmel begann dort, wo die Wände mit nichts als dem blauen Himmel darü­ ber endeten, oder natürlich mit Wolken. Im Penetrável fühlte es sich an, als stünde man auf einer Art von Erhöhung, als wäre man beim Betreten der Struktur vom Boden ab­ gehoben. Es erinnerte mich an den James-Turrell-Raum im MoMA PS1, nur rauer, die Schönheit hier erschien unbeabsichtigt. Turrells Räume sind Objekte des Trostes, wo Licht oft in sakraler Art und Weise präsentiert wird. Er schuf zahlreiche Räume. Im letzten Geschoss des PS1 in New York kann man auf dem Boden liegen oder auf einer Holzbank sitzen, die sich rund um den ansonsten leeren Raum zieht, und hinaufbli­ cken. Dort hat der Künstler ein exaktes Quadrat aus der Decke und dem Dach geschnit­ ten, um den Himmel mit solcher Präzision zu enthüllen, dass er beinahe unwirklich ­erscheint. Solche Werke sprechen nicht direkt zu dir, stattdessen vermitteln sie dir ein besonderes Gefühl, eines, von dem man sich nur schwer wieder lösen kann. Ich habe gehört, dass in einem von diesen Turrell-Räumen, in einem anderen Museum, irgend­ wo in Amerika, jetzt Hochzeiten stattfinden. Diese Arbeit wurde also zu einem Teil der hochzeitlichen Erinnerungsmaschinerie, in der Informationen in einem Zustand von

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Über-Bewusstsein absorbiert werden. Das Werk wird im Kontext eines Augenblicks erfasst, der dazu angetan ist, niemals vergessen zu werden. Und selbst wenn der Augen­ blick nur für einen Moment überleben sollte, so ist es nicht das Kunstwerk, das zeitlich begrenzt ist. Vielleicht erinnert uns das vergehende Werk an uns selbst, wie Fliegen in ihrer 24 Stunden dauernden Performance von Leben, Liebe und Dahinscheiden. Die kürzeste Saga der Welt. Ich las Dracula im Penetrável. Einige Tage unter einem Schirm. In Draculas Schloss führte Jonathan Harker – während er in seinem Zimmer eingesperrt war – Aufzeich­ nungen über die Geschehnisse, die er beobachtete oder von denen er vermutete, dass sie im Schloss vor sich gingen, Mutmaßungen, die wie eine Seuche in seinem Geist wuchsen und aus seinem Gastgeber ein Monster machten. Er war gefangen durch die Kraft der Suggestion, in einer halbreellen These, die er für sich selbst aufgestellt hatte. Ich saß da in der Kälte unter einem freien Himmel in der Ungestörtheit dieser hohen weißen Wände, während sich Schritte mit den Worten auf den Seiten vermischten, und manchmal war es schwierig zu trennen, was nun real war und was nicht. Zuweilen, aber nicht immer, fragte ich mich, wieso ich hergekommen war. Als das Objekt noch neu und unversehrt war, blieben Besucher stehen und fragten mich danach. Weniger Besucher fragten, als das Gebäude dann begann, auseinanderzu­ fallen. Es war fast so, als ob die Zersetzung irgendwie den Zweck oder vielleicht auch dessen Ende erklären würde. Im Zuge des Verfalls gab es keine Erwartungen mehr. Sie behandelten das Penetrável wie eine verlassene Baustelle: Versteckspiele in den Räu­ men, Küsse in den Ecken, Picknicks, die Suche nach Unterschlupf, wo man nicht wis­ sen konnte, dass es keinen gab, diskrete Telefongespräche und einmal eine Gruppe von Teenagern, auf die ich stieß, die in einem weiten Kreis, fast zeremoniell, Gras rauchten. Die Wände inspirierten eine Art von Freiheit, während die türlosen Räume rasche Flucht ermöglichten. Das Objekt wurde zu einem privaten öffentlichen Raum, in den die Menschen kamen, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie taten Dinge, von denen nur sie wussten. Dinge, die sich weder beurteilen noch analysieren ließen. Dinge, die auch anderswo hätten stattfinden können, es aber nicht taten. Ich war eine gelegentliche ­Zeugin. Für die Person, die den Schädel im Bus gefunden hat, nahm er eine neue Bedeutung an. Die Dinge bewegen sich weiter, jenseits von uns und ohne uns, hören jedoch nicht auf, eine Rolle in der Geschichte zu spielen, zeitlich begrenzt oder auch nicht, dauerhaft oder veränderbar. Aus diesem Grund setzt eine Reproduktion die Souverä­ nität des Temporären nicht aufs Spiel, weil sie es schlussendlich gar nicht kann. Sie kann kein Werk zerstören, das bereits vergangen ist, ein Werk, das im Grunde genom­ men gar nicht da sein muss. Der Verfall und die Abwesenheit sind manchmal alles, was uns bleibt, um zu beweisen, dass überhaupt jemals Leben vorhanden war. Ich kenne einen Typen, der eines seiner Gemälde gegen eine Rolex eingetauscht hat. Immer wenn er seine Miete nicht bezahlen kann, denkt er daran, sie zu verkaufen. Doch da er sie nicht zum Ladenpreis verkaufen kann und bei dem Handel eher Geld verlieren würde, behält er die Uhr und hat weiterhin kein Geld. Sie wird ihn wohl

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ü­ berleben, da er sie nicht verkaufen wird, wenn er verzweifelt ist, genau deshalb, weil er eben verzweifelt ist. Es ist fast so, als befände sich die Uhr in einem Wettstreit mit ihm, um ihren Wert zu erhalten. Natürlich ist ihr Wert ihre grundlegende Funktion, während der Gebrauch als Zeitmesser nur eine nebensächliche Rolle spielt. Sinnlos, ­einerseits, weil er sie nicht verkaufen wird, andererseits, weil er, obwohl er weiß, wie spät es ist, sowieso immer zu spät kommt.

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ROLEX Adrian Williams While the dental hygienist has the saltwater jet going in my mouth, I lie there helpless in the hydraulic chair staring at a framed M. C. Escher print that is screwed through the frame, to the ceiling. The picture is aligned with the position of the previous chair. I remember looking at it straight on some years ago. When they installed the new chair they left it there, so from my absolutely horizontal perspective the picture is stuck up there somewhat crooked. If it were anything but an M. C. Escher stairwell endlessly ascending and descending, it might actually matter how you looked at it. I can’t get lost in the image because I know that’s what it wants me to do, so I close my eyes. When art has a job to do and you know exactly what that is, it really spoils the fun of attending with inquiry. They say that when you dream of teeth, you dream of death. You certainly don’t live very long or very easily without them, but if you die with them they stay in there forever while the rest of you falls apart. Funny that you only stand to loose your teeth in life, when in death they hang in there like rocks. My dentist tells me about the human scull on his shelf when I ask him about it. You can tell a real scull from a fake one because the real ones are always smaller then you think they should be. Back when he was in medical school he knew a gravedigger who sold sculls on the sly for somewhere between ten and twenty Marks to students like him, about the price of a decent lunch, let’s say: a schnitzel with pasta and a house salad. As macabre as it sounds, it was a practical matter he said, because there are things you need to understand about the scull no picture reveals, things a doctor needs to know about bones and nerves that only bone can tell. The guy dug up the earth filled sculls and passed them on in plastic bags. The students took the dirty sculls back to the University lab to boil the mess off. The ten or twenty Marks, were a close-mouthed agreement that ethics would not take part in that conversation. To the dentist the lifeless scull is not a person. To the dentist it is just a scull, bone useful for under­ standing ideas on his pursuit to progressively improve the lives of the living. Once, one of the dentist’s friends forgot one of those plastic bags on a city bus. They never found it. The family that buried the body probably saw it as an end, but it was brought back to tell another story and this is where we come to the complexity of reproducing ­temporal works of art. The dentist goes for the scull, the hands on intricately specific ­version of every other original head to understand – after life – how best to address the living and when the MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt presented the works of Hélio Oiticica, an artist who often relied on circumstance as a tool in his art, after his death, they recreated frameworks, situations, installations and objects, in a somewhat cryogenic approach to exploring his physically absent ideas. If you have good teeth, they have only to survive you, to last forever.

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The MMK built a large Penetrável sculpture according to the original plans by the artist, at the botanical garden in Frankfurt. The structure, I was told, was a proposition by the artist as a space where things could happen. He did not specify what he wanted to have happen there, or who should go about doing it. As an artist who works often with temporary situations and performance, I was asked by the Curatorial Studies program and the MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt to consider how the space could be activated. I could work with the students or perhaps create a work myself that suited the situation. I wasn’t the only invited artist and felt the festival-vibe lingering in the invitation, as though the work might become a site for vibrant action. I worried that they’d gotten it all wrong, that the space would be manipulated or altered. I was afraid they would fail to communicate the fact that the structure was conceived as a proposi­ tion, a question that didn’t need to be answered. It seemed to me that the artists sugges­ tion was permission, to go freely into that space and do there what it inspired. To me, the realization of this idea required no more than people to experience it and event planning ran the risk of jeopardizing it’s solitude. I liked the work and the proposition and got involved out of curiosity and because not everything an artist does has to be a work of art. Despite my fear of destroying the work, I decided to just be there and let my experience with it be the mark it makes on me and I suppose these words are a record of that mark. It is complicated to recreate works of art. Complicated because of the fragile ­structures that give them value. You wonder if the recreation is really the work? If the work is the object or the idea of the object? When you start selling things it gets worse, because the endless lawless structures that surround preservation, restoration, editions, multiples, performance and installation are random, at best. Sometimes I worry that reproduction can be counterproductive to the life and intention of an art work. Artists that make temporal works have plenty of problems that don’t involve its preservation: logistical, financial, theoretical, and practical. It can be so hard to make things happen, that you just don’t have the time to worry about what happens to those things later. There is some sad beauty in that. Which is why so much of that type of work takes place in the tenuous space of the moment. The most wonderful stories told at a dinner are always destined to pan on the re-tell. Temporal work is so much like life itself, so elusive, so fleeting that it is literally inseparable from it. It is just one of those things. But how then, when an object is gone, do you go about showing the work? Can you communicate the ideas inherent in an object or situation without reproducing it? Photos show you what it looked like, but that is only one aspect of what an idea can do. When resurrected in another time and place, I wondered what the Oiticica work would communicate. What happens to the roofless building under the German sky, away from the Brazilian sun and people who might have once seen things differ­ ently. I put no specific value on the past, or geography, because the relevance of a work is always relative and experience is not necessarily greater in retrospect. Although time and distance do effectively smear Vaseline on our perceptive lenses making everything

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beyond us more beautiful, if not vastly out of focus. Some ideas are actually more inter­ esting the second time around. At least a reproduction gives a work of art the chance to exist in some form to some other people in another time and place. It gains another life. The loss of an object can become the story that gives it value, our precariousness makes things precious. But really, only through the physical reproduction can you answer the question, does the artwork function now, here? How would you know if you didn’t get out a hammer and try. The risk of being wrong is part of what makes the prospect interesting. The large Penetrável is an immense block-like white structure with various points of entry, a roofless labyrinthine form that can’t be understood from the outside. If you were a bird you would see on that great green lawn, a square building with two perpen­ dicular hallways that cross in the center, dividing the square into four rooms. There are no doors, but door openings two in each room and one to the outside directly at the end of one hallway. The openings are positioned at such angles that you can never look directly into any room. You have to turn a corner to see inside, so that a person enter­ ing the space is forced to commit themselves to things they cannot see. This can’t be understood in a photograph, it requires locomotion and impulse. When you turn that corner, you become somehow responsible for your experience. I sat, to suggest that one could sit. I read, to suggest that one could read. I slept, to suggest that one could sleep. I became a physical example of possible action, by being there without instruction or plan. It was not my intention to become a work of art or engage anyone in a performance. By being there I was both offering a possibility and trying to figure out how the sculptural object functioned on it’s own. And it worked outside of any specific conditions, it worked in real life. An old man came often with his nurse. She helped him up the step to one doorway, lifted his walker to the platform then left him alone there. Out of sight, she walked around the building and waited for him on the other side. Sometimes I was sitting there when he came by, sometimes I saw him from the outside. I never spoke to him, or heard him speak. He returned in the same unaltered but obviously diminishing physical state from one week to the next, in his suspender-held trousers pushing that squeaking wheel as the elements took hold of the Penetrável and the space began to change around him. The walls were white at first, too high to look over and too flimsy to climb. Light poured in around you and though unseen from the outside, you and everything else were fully exposed to the elements within those walls. The rain did it’s work, day-byday swelling the plywood and bowing the floor, bleeding yellow stains through the paint at the seams of the weather treated boards. Pools formed in silicone sealed cor­ ners that kept the rain from slipping through, where mosquitoes bread life, as they always do in vulnerable places. Although I waited for it and there were no guards to defend the space against it, nothing but the rain vandalized the walls of that structure. The sky began where the walls ended with nothing but blue above you, or clouds of course, respectively. In the Penetrável it felt like you were standing at some other

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e­ levation, as if you had lifted – by entering this structure – off the ground. It reminded me of the James Turrell room at MoMA PS1, only rougher, the beauty here felt acci­ dental. Turrell’s rooms are objects of solace where light is often presented in a holy manner. He has made many rooms. At the top floor of PS1 in New York, you can lie on the floor, or sit on a wood bench built the entire circumference of the otherwise empty space and gaze upwards. Above you the artist has removed a perfect square from the ceiling and roof, exposing the sky with such precision that it almost feels unreal. Works like that don’t tell you much directly, instead they leave you will a distinct feeling, one that is hard to walk away from. I heard they do weddings now in one of those Turrell rooms at another museum somewhere in America. So, his work has become part of the nuptial memory machine where information is absorbed in a state of hyperawareness. The work is understood in the context of a moment bound by the need to never be for­ gotten. And even if it only survives for an instant, it isn’t the artwork that’s temporary. Perhaps the fading work reminds us of ourselves, like flies in that 24-hour performance of life, love and demise. The shortest saga on earth. I read Dracula in the Penetrável. Some days under an umbrella. In Dracula’s castle, Jonathan Harker kept an account – while locked in his room – of events he’d observed or suspected went on in that castle, assumptions that grew like a pestilence in his mind and created a monster of his host. He was trapped by the power of suggestion, in a halfreal proposition he had laid out for himself. I sat there cold, under an open sky in the privacy of those great white walls while footsteps mingled with the words on the page and sometimes it was hard to tell what was and wasn’t real. Sometimes, but not always, I asked myself why I’d come. When the object was new and intact, visitors stopped to ask me about it. Less p­ eople asked about the space as the building fell apart. It was as if the decomposition somehow explained it’s purpose or maybe the end of it. On the downslide, there was nothing left to anticipate. They treated the Penetrável like an abandoned building site: playing hideand-go-seek through the rooms, kissing in the corners, picnicking, searching for shelter where they couldn’t have known they’d find none, taking up residence for discreet phone calls and once, I ran into a group of teenagers in a wide circle ceremoniously smoking weed. The walls inspired a sort of freedom, while the door-less rooms gave way to flight. The object became a private public place where people came and left no trace. They did things only they knew they did. Things that can’t be judged or analyzed. Things that could have happened elsewhere but didn’t. I was a sometimes witness. To the person who found the scull on the bus, it took on new meaning. Things move on beyond and without us, but do not cease to play a role in the narrative, ­temporary or not, solid or floppy. Because of that, a reproduction doesn’t jeopardize the sovereignty of the temporal, because in the end it can’t. It can’t ruin a work that is already gone, a work that in fact doesn’t even need to be there. The decay and it’s absence are sometimes all we have to indicate that there was ever life at all. I know a guy who traded one of his paintings for a Rolex. When he can’t pay his rent he thinks about selling it. But because he can’t sell it at sticker value and would

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loose money in the deal, he keeps the watch and stays broke. The watch stands to out­ live him due to the fact that he won’t sell it when he’s desperate, precisely because he’s desperate. It’s almost as if the watch were competing with him to retain it’s value. Of course it’s value is it’s primary function while it’s use as a watch is secondary. Useless at first because he won’t sell it and then again because even though he knows the time, he always comes too late.

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INTERVIEW MIT CÉSAR OITICICA FILHO

INTERVIEW MIT CÉSAR OITICICA FILHO Marie Sophie Beckmann [MSB]: Hélio Oiticica konzipierte das Penetrável PN 14 – für das wir ein Performance- und Filmprogramm entwickelt haben – 1979 für den Central Park in New York. Warum hast du dich dafür entschieden, die Arbeit jetzt im Frankfurter Palmengarten zu zeigen, also in einem institutionellen ­Kontext, obwohl sie ursprünglich für den öffentlichen Raum gedacht war? César Oiticica Filho [COF]: Als wir das Penetrável Magic Square [Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe] in Brumadinho zeigen wollten, fragte mich ein Kurator des ­Inhotim [Centro de Arte Contemporânea Inhotim], wie man es dort präsentieren könne, wenn es doch für São Paulo gedacht war. Ich weiß nicht, ob ihr São Paulo kennt. Der Rio Tietê ist einer der meistverschmutzten Flüsse der Welt. Es ist also eine ziemlich unangenehme Gegend, auch damals war es schon dreckig. Hélio entwickelte die Penetráveis aber tatsächlich so – und darüber spricht er auch in den Héliotapes –, dass sie überall und zu jeder Zeit aufgebaut werden können. Deshalb hat er sehr präzi­ se A ­ nleitungen für die Konstruktion der Penetráveis hinterlassen. Trotzdem ist es für uns jedes Mal ein Triumph, wenn wir ein Penetrável bauen können, weil es so schwierig ist, die richtigen Orte und Bedingungen dafür zu finden. Sogar im Palmengarten, der nicht wirklich öffentlich ist, kann man sehen, dass die Arbeiten mit der Zeit und durch das Wetter sehr gelitten haben. In São Paulo haben wir dieses Penetrável zum ersten Mal im Ibirapuera Park, wäh­ rend der Ausstellung „Hélio Oiticica – Museu É o Mundo“ [„Hélio Oiticica – Die Welt ist ein Museum“, 2010] im Itaú Kulturinstitut [Itaú Cultural] präsentiert, und es ist uns gelungen, auch in der Stadt Werke zu zeigen. Nach der Hälfte der Ausstellung oder zumindest einen Monat, bevor sie schließen sollte, haben mich die Leute vom Itaú a­ ngerufen und gefragt, ob sie die Arbeit abbauen dürfen. Ich wusste bereits, dass ­komische Dinge passiert sind. Die Arbeit wurde direkt neben dem Museu de Arte ­Moderna in São Paulo gezeigt, das mitten im Park liegt. Der Park ist wirklich für jeden zugänglich, man muss keinen Eintritt zahlen und kann einfach hineingehen. Die Leute sind also dorthin gegangen, wie sie es oft am Wochenende tun, und haben die Arbeit zerstört. Es war eine gewaltsame Form der Interaktion. Also baten sie mich, das ­Penetrável abzubauen. MSB: Bietet der Palmengarten einen sichereren Kontext für das PN 14 als der ­öffentliche Raum? COF: Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich finde es unglaublich, und sicher ist es für Forscher oder Soziologen interessant, denn je nachdem, wo wir eine Arbeit ­zeigen, im öffentlichen Raum oder in einem anderen Kontext, entsteht ein anderes Verhalten. Also finde ich es toll, die Arbeit hier in einem anderen Kontext zu haben. Um zu sehen, wie die Leute mit ihr interagieren. Am wichtigsten ist es, für diese

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Interview mit César Oiticica Filho

­ rbeiten die richtigen Bedingungen zu erzeugen, sodass eine Interaktion stattfinden A kann. Ich bin mir sicher, dass der Kontext des Palmengartens der richtige ist, da dort ja auch die ganzen Performances und Veranstaltungen von euch organisiert wurden und stattfinden konnten. Ich bin sehr froh, dass ihr dieses Programm gemacht habt, denn es ist das erste Mal, dass so etwas geschehen ist und allein das wäre wichtiger für Hélio als die Frage, wo es stattfindet. Clare Molloy [CM]: Als wir das Programm entwickelt haben, haben wir Hélio ­Oiticicas Texte als Ausgangspunkt genommen. Wir waren fasziniert von seinen Schriften über die Freiheit innerhalb einer Struktur wie der Penetráveis. Dies führte aber auch zu der Frage, was Partizipation in diesem Zusammenhang bedeuten kann. COF: Hélio Oiticica wollte in den Penetráveis Performances und Projektionen statt­ finden lassen, das betont er in seinen Aufzeichnungen immer wieder. Wenn es im ­öffentlichen Raum ist, kann natürlich alles passieren, auch schlechte Dinge. In Rio könnte es [das Penetrável] auch das Haus von jemandem werden. Es ist unglaublich! Manchmal fühlen sich Menschen von Regeln eingeschränkt, die nicht der Künstler, sondern sie selbst geschaffen haben. Hélio hat das selbst gesagt. Er war kein konzep­ tueller Künstler. CM: Oiticica hatte viele Kollaborateure und Freunde. Im Palmengarten ist zum Beispiel die Arbeit Penetrável Macaléia (Homenagem a Jards Macalé) von 1978 zu sehen, die seinem Freund, dem Musiker Macalé, gewidmet ist. Welchen Einfluss hat Oiticicas Freundeskreis heute noch auf sein Werk? COF: Ja, Hélio hatte viele Freunde und mit Lee Jaffe, der auch in meinem Film auftritt [Hélio Oiticica, 2012] oder mit Neville D'Almedia, mit dem er die Cosmococas gemacht hat, hat er wirklich kollaborativ gearbeitet. Ich denke, dass die gemeinsamen Projekte ein sehr wichtiger Teil seiner Arbeit sind. Sie sind die Vorläufer für die Kunstkollektive von heute. Hélio hatte ein Projekt namens Barracão, das er in Rio machen wollte, das dann aber in New York realisiert wurde. Viele Leute gingen nach New York, um in seinen nestar­ tigen Installationen zu wohnen, und es wurden Filme von Andreas Valentin gezeigt so­ wie die Cosmococas mit Neville oder das Neyrotika, eine eher sinnliche Arbeit. Seit dem Projeto Cães de Caça [Projekt Jagdhunde] in den frühen Sechzigern hatte Oiticica den Wunsch, Reynaldo Jardims Teatro Integral und die Arbeiten des Poeten Ferreira Gullar in seine Projekte zu integrieren. Er versuchte immer, möglichst viele gemeinsame ­Projekte zu machen. Das ist eine seiner großen Hinterlassenschaften. Es funktionierte nicht wie in Andy Warhols Factory, obwohl viele Leute oft diesen Vergleich ziehen, um den Künstler einzuordnen. MSB: Es ist beeindruckend, wie sehr Oiticicas soziales Umfeld nicht nur die Produktion, sondern auch die heutige Rezeption seiner Werke prägt. Als Oiticicas

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Neffe hast du die Ausstellung im MMK Museum für moderne Kunst Frankfurt ko-kuratiert [mit Peter Gorschlüter und Fernando Cocchiarale]. Während des Prozesses waren auch Lee Jaffe und Neville D’Almeida anwesend sowie diejenigen, die zu Oiticica forschen, wie Max Jorge Hinderer Cruz. Es scheint, als formiere sich ein neues soziales Feld um Oiticicas Arbeiten. Als Oiticica starb, warst du natürlich noch sehr jung. Wie hast du ihn als Künstler kennengelernt? COF: Ein wenig kenne ich ihn durch meine eigenen Erinnerungen, aber nicht sehr gut, weil er nach New York gegangen ist, als ich noch ein Kind war. Ich erinnere mich an ihn, aber natürlich habe ich jetzt, nachdem ich den Film produziert habe und das alles, das Gefühl, ihn besser kennengelernt zu haben. Es ist seltsam, aber ich glaube, ich lerne ihn auch durch seine Freunde besser kennen. Ich würde mich gern mit dem letzten Teil seiner Arbeit, den Propositionen, beschäf­ tigen. Bis jetzt haben wir keinen starken Fokus darauf gelegt, aber die Zeit rennt und viele Leute werden langsam alt. Natürlich kann man die Propositionen auch mit ande­ ren Leuten machen, aber ich denke, dass es wichtig ist, sie mit dieser Gruppe von Freunden und Verwandten zu realisieren. Mein nächstes Projekt wird es also sein, eine Ausstellung zu machen, die sich nur mit den Propositionen beschäftigt. CM: Wie geht man mit einem Nachlass um, der voller offener Fragen ist, vor allem bezüglich der Propositionen? Welche neuen Propositionen sind möglich und wo liegen die Grenzen? COF: Ich denke, dass Hélio ziemlich präzise war und dass wir nun entscheiden müs­ sen, ob wir alle nötigen Informationen haben. Wir bringen seine Arbeit nicht zu Ende, sondern produzieren seine Projekte nach seinen Instruktionen. Die Hauptaufga­ be b­ esteht darin, alles zusammenzubringen und zu entscheiden, ob es möglich ist. Manchmal lassen sich Projekte einfach nicht realisieren. CM: Wenn wir über das Ermöglichen von Projekten sprechen: Würdest du das Archivmaterial, vor allem das Super- 8-Material oder die Héliotapes, öffentlich zugänglich machen? COF: Bevor ich meinen Film gemacht habe, habe ich einen Kurzfilm mit Marcos ­Bonisson [Héliophonia, 2002] produziert. Es war sein Projekt, ein Kurzfilm mit einem Off-Ton aus den Héliotapes, die ich dann für meinen Film genutzt habe. Was das be­ trifft, sind wir sehr offen, aber manchmal ist es eine Frage der Zeit. Es gibt noch andere Projekte und wir sind eine kleine Institution [Projeto Hélio Oiticica wurde 1980 nach dem Tod des Künstlers von seinen Brüdern César und Cláudio Oiticica als Stiftung ­gegründet und widmet sich der Bewahrung und Präsentation seines Werkes], also kön­ nen wir nicht alles machen. MSB: Wir waren von der haptischen Qualität deines Films begeistert, weil sie sich sehr stark auf Oiticicas Idee des „Supra-Sensorischen“ bezieht. Er arbeitete multimedial und bezog Skulptur, Film, Fotografie, Installationen und Tanz in

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­seine Arbeit mit ein. Als wir das Programm für das Penetrável PN 14 entwickelt haben, haben wir versucht, ein breites Spektrum an Praktiken einzubeziehen. Die Performancegruppe Kristallo kreierte eine außerirdisch erscheinende Musikperformance mit einem Chor und bunten Kos­tümen. Der Künstler Simon Speiser entwickelte eine sinnliche Installation mit Kakaobrunnen und ScienceFiction-Geschichten, die auf kleine Papierrollen gedruckt waren. COF: Das ist fantastisch. MSB: Nach der gestrigen Premiere deines Films Hélio Oiticica im Deutschen Filmmuseum sprachst du über das Konzept der „Multi-Plattform“. Ist dieser ­Ansatz der geeignetste, um Oiticicas Denken zu übersetzen? COF: Ich mag es, dass ihr den Aspekt des „Supra-Sensorischen“ im Film wahrgenom­ men habt. Aber natürlich ist das nicht die gleiche Sache. Damit man es wirklich fühlen kann, ist es gut, Zugang zum Werk zu haben: Man kann in das Penetrável gehen und ins „Supra-Sensorische“ eintreten – das ist der Teil, den der Film nicht wiedergeben kann. Die „Multi-Plattform“ erschafft etwas um das Werk herum, und es ist gut, dass der Film hier zusammen mit der Ausstellung gezeigt wurde, weil der Künstler dann besser ­verstanden werden kann. MSB: Versuchst du im Rahmen einer Ausstellung oder eines Screenings immer, mehrere Veranstaltungen unterschiedlichen Formats zu organisieren, um diese Situation herzustellen? COF: Wir versuchen, immer anders vorzugehen und veranstalten nicht nur Gesprächsrunden oder Filmpräsentationen, sondern auch Konzerte. Zum Beispiel hat Jards ­Macalé schon in São Paulo und nun im Palmengarten gespielt. Wir versuchen, Musik und verschiedene Arbeiten, Bücher und Gespräche zusammenzubringen. Wenn ­Oiticicas Arbeiten im Rahmen einer Ausstellung gezeigt werden, ist es umso besser, wenn die Leute sehen können, wie die Dinge begonnen haben. CM: Plant Projeto Hélio Oiticica, das Archiv von Oiticica komplett zu digitalisieren? Seine Schriften sind bereits online, aber gibt es Pläne, das Werk in größerem Umfang aus dem Portugiesischen in andere Sprachen zu übersetzen und wird außerdem das Film- und Audioarchiv online gestellt? COF: Wir haben auf jeden Fall vor, das Archiv zu digitalisieren. Ich denke, es wäre hilf­ reich für Forscher oder Studierende und gibt einen besseren Zugang, als wenn man nach Brasilien fahren oder Portugiesisch lernen muss, um die Texte zu lesen. Wir hat­ ten immer den Wunsch, das Material den Menschen wirklich zur Verfügung zu stellen. Es wird wahrscheinlich eine App geben, wir sprechen gerade mit Itaú darüber. Ich denke, das wird eines der nächsten Projekte sein. MSB: Für viele der Künstler, die wir eingeladen haben, Arbeiten für das Penetrável PN 14 zu entwickeln, war Hélio Oiticica zuvor bereits prägend für ihre Praxis,

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etwa für Ricardo Domeneck und Félicia Atkinson. Hast du das Gefühl, dass ­Oiticica in den Köpfen dieser Generation an Künstlern, im Besonderen in Brasilien, sehr präsent ist? COF: In den Köpfen der Künstler ja, weil sie bereits vor langer Zeit angefangen haben, ihn wahrzunehmen. Kunststudenten kennen Hélio mit Sicherheit. Aber natürlich ist ein Künstler wie Hélio nicht dem breiten Publikum bekannt und ich denke, es ist eine Herausforderung, dies umzusetzen. Das hat nicht nur mit den Strukturen von Ausstel­ lungen zu tun, die durch ganz Brasilien reisen, sondern auch mit dem Problem der ­Bildung, der Trennung von Informationen und auch mit Geld. Was ich sehe, ist, dass Menschen, die jünger sind, ein besseres Verständnis von dem Werk haben. Manche Kuratoren und Wissenschaftler haben tatsächlich eine sehr kon­ servative Vorstellung von Kunst. Sie versuchen, Kunst in ein Museum oder in eine Box zu stellen und bemühen sich oft nicht darum, dass die Dinge funktionieren. Natürlich werden zeitgenössische Kunstinstitutionen immer offener gegenüber dem Werk und seinen Herausforderungen: es im Außenraum zu installieren, Performances zu zeigen, Parangolés zu fertigen, die getragen werden können und so weiter. CM: Um auf deine Aussage über den Film als multimediale Plattform, die Sound, Bild und Bewegung verbindet, zurückzukommen: Für uns war es wichtig, ein Filmprogramm als Teil der Propositionen für das Penetrável PN 14 zu entwickeln. Eine Künstlerin, Sandra Kranich, arbeitet oft mit Pyrotechnik und hat eine ­Serie von Filmen geschaffen, die sich auf den tragischen Brand in dem Lager bezieht, in dem so viele von Oiticicas Arbeiten verloren gegangen sind. Es war die direkteste Referenz auf Oiticica im Rahmen des Filmprogramms und warf viele Fragen auf nach den Möglichkeiten und Grenzen postumer Reproduktion oder – in Oiticicas Fall – postumer Produktion. Das Penetrável PN 14 wurde zu Lebzeiten Oiticicas niemals realisiert und komplett nach seinen exakten Plänen konstruiert. Wie gehst du in der Rolle des Kurators mit diesen Fragen von Produktion und Reproduktion um? COF: Mit den Parangolés zum Beispiel – ich erstellte immer neue Reproduktionen für Ausstellungen, wie sie im MMK gezeigt wurden. Ich denke, das ist originärer, als die Originale zu nutzen, besonders nachdem ihnen das [der Brand] zugestoßen ist. Der größte Fehler, der in manchen der bisherigen Ausstellungen passiert, wie der in der Ausstellung in der Tate Modern (2006), die auch im Museum of Fine Arts in Houston, Texas (2006–2007) gezeigt wurde, oder sogar auf Catherine Davids documenta X, ist, dass die P ­ arangolés an der Wand hängen. Ich sage nicht, dass ich die Arbeit, die sie dort gemacht haben, nicht mag, aber das ist nicht mehr original. Es ruiniert meiner Meinung nach die Idee des Künstlers, denn die Parangolés setzen sich nur um, wenn sie getragen werden. Wir wollen die kuratorische Arbeit nicht beeinflussen oder ändern, sie zeichnen verantwortlich für ihre Kuratorenschaft, es ist ihre Entscheidung. Doch meiner ­Meinung nach sind die Parangolés mehr eine Dokumentation oder ein Modell, daher

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bin ich wirklich froh, wenn die Besucher interagieren. Es ist die Herausforderung und der wesentliche Punkt der Arbeit. Heute Performancekünstler, junge Leute zu haben, die im Penetrável PN 14 neue Arbeiten schaffen, ist fantastisch – so wie Laura Limas Arbeit in Brasilien. Sie hatten diese Arbeit im Inhotim, eine Arbeit aus Plastik, die mehrere Male wieder hergestellt worden war. Sie gab ihnen die Anweisungen, um die Arbeit in alle Ewigkeit zu repro­ duzieren und ich denke, es ist das Gleiche mit den Parangolés. CM: Ist es das Gleiche mit den Penetráveis, können sie endlos produziert werden? COF: Es ist schwierig. Es ist nämlich schwierig, den großen Institutionen, Direktoren und Kuratoren den Punkt begreifbar zu machen. Erst diese neue Generation beginnt, das zu verstehen. Die Zeit kommt, hoffe ich, in der das Konzept des Remakes an ­Museen verkauft werden kann, sodass die Besucher mit den Arbeiten interagieren, die Parangolés nutzen können. Wir haben das Recht, den partizipativen Aspekt des Werkes zu reproduzieren, nicht nur die Objekte. Ich denke, das ist eine solche Heraus­ forderung aufgrund des Fetischismus gegenüber dem Original. Für Hélio begann es mit den Veränderungen, die mit der Bewegung der Neokonkreten einhergingen, des­ sen Theorie von Ferreira Gullar formuliert und stark von Mário Pedrosa beeinflusst wurde, sie nennt sich „Non-Objekt“-Theorie. Sie wandten sich von der Malerei ab und dem Raum zu und entwickelten die Propositionen. Und das ist auch der Grund, weshalb ich euer Performanceprogramm liebe. Es ist schwierig, den Leuten klarzumachen, dass es das ist, worum es geht, besonders ­Museumsdirektoren. Ihr seid von Peter [Gorschlüter, stellvertretender Direktor des MMK] eingeladen worden und er hat es wirklich verstanden. MSB: Es gibt diverse Projekte zu Hélio Oiticica, die anstehen, etwa ein Symposium in New York. Planst du neben deiner Tätigkeit als Kurator weitere Filme über Hélio Oiticica? COF: Ich würde gern den gleichen Film noch einmal machen im Sinne einer Fortfüh­ rung des Experiments. Aber ich hoffe, jemand anderes macht einen weiteren Film über Hélio. Mein Onkel kam zu mir und sagte: „Dein Film ist toll, aber ich glaube, wir brau­ chen jetzt einen akademischeren Film.“ Ich habe gesagt: „OK, aber nicht von mir.“ CM: Ich denke, einer der größten Erfolge des Films ist es, sensorisch, sexuell und unzensiert zu sein. War es schwierig, den Film der Familie zu zeigen? COF: Nein, nein, es war nicht schwierig für die Familie. Ich war ziemlich froh und sie sind sehr offen, wir sind eine Künstlerfamilie. Vielleicht war es schwierig für meinen Onkel, er ist Arzt. Aber Hélio – er war ein verrückter Typ in den Sechzigern. Das Interview hat am 30. September 2013 in Frankfurt stattgefunden, nachdem die Retrospektive eröffnet war. Es wurde von Marie Sophie Beckmann und Clare Molloy geführt und von Marie Sophie Beckmann, Nadine Droste und Clare Molloy bearbeitet.

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INTERVIEW WITH CÉSAR OITICICA FILHO Marie Sophie Beckmann [MSB]: Hélio Oiticica originally conceived Penetrável PN 14 – for which we were invited to develop a performance and film programme – for Central Park, New York, in 1979. How did you make the decision to show the work within the institutional context of Frankfurt's Palmengarten when it was intended for public space? César Oiticica Filho [COF]: One curator at Inhotim [Centro de Arte Contemporânea Inhotim] asked, when we were planning to show the Penetrável Magic Square [Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe] in Brumadinho, how it could be shown there when it was intended for São Paulo. I don't know if you know São Paulo. The Rio Tietê River is one of the most polluted rivers in the world. And so it's a very nasty area these days, at that time it was already not good. In truth Hélio made the Penetráveis – and we have him talking about this in the Héliotapes – so that they can be constructed anywhere, anytime. That's why he left very precise instructions of how to construct them. So of course, I think, every time that we construct a Penetrável it's really a victory because it's so difficult to find ways and locations. Even in the Palmengarten, which is not really public, you can see that the works have suffered a lot with time and the weather. In São Paulo we constructed this Penetrável for the first time at the Ibirapuera Park during the 2010 “Hélio Oiticica – Museu É o Mundo” [“Hélio Oiticica – The World is a Museum”] exhibition at the Itaú Cultural Institute and we managed to put works around the city. In the middle of the show, or at least one month before the show should have ended, the people from Itaú called me to ask me for the permission to dismount the piece. I already knew that strange things were taking place. It was [exhibited] just by the side of the Museu de Arte Moderna de São Paulo which is inside the park. The park is really public, anyone can go and they don't need to pay. What happened is, people went there, as they always do on their weekends and were destroying things. It was a violent interaction. So they asked me to take the ­Penetrável down. MSB: Does the Palmengarten offer a more secure context than public space for PN 14? COF: Yes, but to this question, I don't know the answer. I think it's incredible and it's really useful maybe for researchers, for even sociologists because every time we put a public work outside or in a different context different behaviour emerges depending on where you put it. So in a sense I think it's great to have another context here. So, that you can see how people interact with it. I think the most important thing for these works is that you can create the conditions so that interactions take place. I'm sure that the Palmengarten context was the best way, you know, as you had all the perfor­ mances and all the things that have taken place there. I am very happy that you have

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made this [programme], because it's the first time something like this has happened, and this I think would be more important for Hélio than where it took place. Clare Molloy [CM]: When curating the programme we took Hélio Oiticica's texts as our starting point. We were intrigued by his writings on freedom within structures like the Penetráveis, but there were also questions raised about what participation could mean within this context. COF: Hélio Oiticica wanted to have performances and projections, it's pointed out in his notes. And of course if it's in a public space, everything can happen in a split sec­ ond, even bad things. In Rio it [the Penetrável] could even become someone's house! It's incredible! Sometimes people are constrained by rules that they themselves create, not the artist. Hélio pointed this out himself. He was not a conceptual artist. CM: Oiticica had many collaborators and a large friendship group. In the Palmengarten for instance the work Penetrável Macaléia (Homenagem a Jards Macalé) (1978) is being exhibited and is dedicated to his friend the musician Macalé. How does Oiticica's peer group have a bearing on his works today? COF: Yes, Hélio had lots of friends and it really was collaborative work with Lee Jaffe who is in my film [Hélio Oiticica, 2012] or Neville D'Almedia with whom he made the Cosmococas. I think the collaborative projects are a very important part of his work. They point to art collectives which are now common place. Hélio had this project that he wanted to do in Rio called Barracão which eventually happened in New York. Lots of people going to New York stayed in his nests and works took place like films with Andreas Valentin, the Cosmococas with Neville or the ­Neyrotika which is a more sensual work. Since the Projeto Cães de Caça [Hunting Dogs Project] in the early sixties he had the desire to include Reynaldo Jardim's Integral Theatre and the work of the poet Ferreira Gullar in his projects. He was always trying to collaborate a lot, this is one of his great legacies. And not like Warhol's Factory, but of course people often make this comparison to try and classify the artist. MSB: Yes, it's fascinating how Oiticica's social environment didn't only affect the production of his work but how it also now affects its reception. As Oiticica's nephew you have co-curated the show at MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt [with Peter Gorschlüter and Fernando Cocchiarale] and during the process Lee Jaffe and Neville D'Almedia have been present, as well as several of the people who write critically about Oiticica, for instance Max Jorge Hinderer Cruz. There seems to be a new social environment forming around Oiticica's work. You were of course very young when Oiticica died, how did you first get to know Oiticica as an artist? COF: I knew him briefly from my own memories, but not so much because he left for New York and when he was there I was a child. I remember him, but of course after this process, the film and everything, I have the feeling that I really got to know

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him. It's strange but I feel that I can get to know him better through his friends as well. One thing that I would like to do is to go to the last part of the work, the Propositions. Until now, we didn't really put a great focus on this part of the work. Maybe because it was not the time, but I think that time is running and some people are get­ ting really old. Of course there are Propositions that you can make with other people but I think it's urgent to make this happen with the group of friends and relatives. So my next project with his work is trying to make an exhibition which focuses only on the Propositions. CM: How is it dealing with a legacy that is full of open questions, particularly in terms of the Propositions? Where do the boundaries lie in terms of what new ­Propositions are possible? COF: I think that Hélio was actually really precise, what we have to decide sometimes is if we have all the information or not. We don't finish the work, but produce the proj­ ects according to his instructions. The main work is to put everything together and to see if it's possible, sometimes the project is just not possible. CM: In terms of making projects possible, would you make the archive material, particularly the Super 8 footage or the Héliotapes accessible? COF: Yes, before my film, I produced a short film with Marcos Bonisson [Héliophonia, 2002] it was his project, a short film with voiceovers from the Héliotapes which I then used in my film. We are very open in this sense, but sometimes it's a matter of time, there are other projects going on and we are a small institution [Projeto Hélio Oiticica was established as a foundation in 1980, after the death of the artist, by his brothers César and Claudio Oiticica and is dedicated to the conservation and presentation of Oiticica's works] so we can't do everything. MSB: We were intrigued by the haptic nature of your film, it really picks up ­ iticica's idea of the “supra-sensorial”. He worked in a multimedia manner O ­incorporating sculpture, film, slide-photography, environments, installation and dance. When creating the programme for the Penetrável PN 14 we also tried to include a broad spectrum of practices. The performance group Kristallo, for instance,created an otherworldly music performance with a choir, dressed in brightly coloured, fantastic costumes. Or the artist Simon Speiser who created a sensual installation where fountains poured liquid cocoa and you could read science fiction printed on paper scrolls. COF: That's fantastic. MSB: Yesterday after the premier of your film Hélio Oiticica in the Deutsche ­ ilmmuseum you spoke about the concept of the “multi-platform”. Is this F approach the most appropriate with which to translate Oiticica's thinking?

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COF: I like that you recognised the “supra-sensorial” part in the film. But of course it's not the same thing. That's why it's good to have access into the work, so that you can feel it, so that you can really go inside the Penetrável, you can go to the “supra-sensorial”, the part that the film can't represent. The “multi-platform” creates something around the work itself, having the film shown here too is good together with the exhibition because you get to know the artist better. MSB: Is that always something you try to do when there's a show or a screening, to organise different events or different occurrences in various media in order to have this situation? COF: We always try to make it different, not just talks or films but maybe to have con­ certs. For instance Jards Macalé who performed in São Paulo and in the Palmengarten. We try to bring the music and these different works, books and talks together. When you put Oiticica's works in the context of an exhibition it's even better because people can see how things started. CM: Does the Projeto Hélio Oiticica plan to digitalise the Oiticica archive? His writings are already online, are there plans to extensively translate the works from Portuguese into other languages and will the film and audio archive be going online? COF: We definitely have the idea to digitise the archive. I think this would be really helpful for researchers, for students, and it would be more accessible than having to go to Brazil or having to learn Portuguese to read the texts. We always had the desire to make the material really accessible to people. It will probably turn into an app, we were talking to Itaú about it. I think this will be one of the next projects. MSB: For a lot of the artists who we invited to develop works for Penetrável PN 14, especially Ricardo Domeneck and Félicia Atkinson, Hélio Oiticica was already a big influence on their practices. Do you also feel that Oiticica is very present in the minds of this generation of artists, particularly in Brazil? COF: In the minds of artists yes, because he started to be recognised a long time ago. People who study art certainly know Hélio. But of course an artist like Hélio is not known by the general public, I think it's a challenge to make this happen. This has not only to do with the structure of exhibitions which travel to all the states in Brazil, but also with the problem of education and the separation of information in Brazil, and also money. What I see is that people who are younger have a greater understanding of the work. Some curators and scholars still actually have really old thinking about art. They try to put art in a museum or in a box and often they don't try to make the things work. But of course contemporary art institutions have become more and more open to the work and its challenges: to build outside, to have performances, to make wearable Parangolés and so on.

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CM: Going back to what you were saying about film as a potentially multi-media platform, one that deals with sound, image, movement, it was essential for us to create a film programme as part of the Propositions for Penetrável PN 14. One artist, Sandra Kranich, often works with pyrotechnics and made a series of films in response to the tragic fire in the storage where so many Oiticica works were lost. This was the most direct reference to Oiticica in the film programme and led us to many questions about the nature of posthumous reproduction or in Oiticica's case posthumous production. Penetrável PN 14 was never realised during ­Oiticica's life time and has been produced entirely according to his exacting plans. In your role as a curator how do you deal with these questions of production and reproduction? COF: With the Parangolés for instance, I always create new reproductions for shows, just as they appear at MMK. I think this is more original than using the originals, espe­ cially after what happened to the originals [they were lost in the fire]. The main mis­ take made by some of the exhibitions that have taken place, like the show at the Tate Modern [“Hélio Oiticica: The Body of Colour”, 2007] which was also shown in the Museum of Fine Arts, Houston, Texas (2006–2007) or even at Catherine David's doc­ umenta X, was to have the Parangolés hanging on the walls. I'm not saying that I don't like the work that they did, but it is not original anymore. This ruins the idea of the art­ ist in my opinion because the Parangolés only happen when they are worn. We don't like to influence or change people's curatorship, they sign their curator­ ship, it's their decision. But in my opinion they [the Parangolés] are more like a docu­ mentation or models, so for me I really am happy when people participate with the works. This is the challenge and the point of the work. Today to have performance artists, young people making new works in Penetrável PN 14 is fantastic. Like Laura Lima's work in Brazil. They had this work at Inhotim it was a work made from plastic and it had to be remade several times. She gave all the instructions to them to remake the work pretty much for eternity, and I think the Parangolés are the same. CM: Is it the same with the Penetráveis, can they be made endlessly? COF: It's difficult. It's even difficult to make these big institutions, directors and cura­ tors sometimes understand this point. Just this new generation is starting to get it. The time is arriving I hope, that you can sell this concept of remaking to museums, so that people can interact with the works, use the Parangolés. We have the right to remake it [the participative aspect of the work], not just the object. I think it is so challenging because of the fetishism of the original. For Hélio this started to change with the ­Neo-Concrete movement, whose theory was written by Ferreira Gullar and greatly influenced by Mário Pedrosa, it's called Non-Object theory. They moved from paint­ ing, into space, and then progressed to the Propositions. And that's why I love that you have made this performance programme. It's difficult to make people understand that this is what it is about, especially museum directors.

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You were invited to do this project by Peter [Gorschlüter, Deputy Director, MMK Museum of Modern Art, Frankfurt], and Peter really got it. MSB: There are several forthcoming Hélio Oiticica projects like the symposium in New York. Further to your work as a curator are you planning other film projects about Oiticica? COF: I'd like to make the same film in the sense of continuing the experimentation. But, I hope someone else will make another film about Hélio. My uncle came to me and said: “Your film is great, but I think we need to make a more academic film now.” I said: “Ok, but not from me.” CM: I think that's one of the triumphs of the film, that it is so sensual, sexual, uncensored. Was it difficult to show the film to the family? COF: No, no. It was not difficult for the family. I was pretty happy and they are very open, we are an artist family. Perhaps it was difficult for my uncle, he's a doctor. But, Hélio, he was a crazy guy in the sixties. This interview took place on 30th September 2013 in Frankfurt, after the retrospective had opened. It was conducted by Marie Sophie Beckmann and Clare Molloy and edited by Marie Sophie Beckmann, Nadine Droste and Clare Molloy.

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JÖRG HEISER

MURMEL IM ANUS – DIE MUSIK DER „TROPICÁLIA“ Jörg Heiser „Brasilien“ wird die kreativen Energien, die das Aufblühen von Forschung (oder das Erfinden neuer Gattungen) ermöglichen, nur freisetzen können, wenn Brasilien aufhört, von sich selbst eingeschüchtert zu sein, und wenn es seiner narzisstischen Lust den Vorrang vor der vernünftig erscheinenden Unterwerfung unter die internationale Ordnung gibt. Caetano Veloso¹ Irgendwann in den späten 1980ern drückte mir ein Frankfurter Freund eine Platte in die Hände, eine Doppel-LP, sie hieß A Arte de Caetano Veloso. Ich konnte kein Portu­ giesisch (ich kann es bis heute nicht, aber heute kann man sich dank Internet behel­ fen) und so hieß dieser Titel für mich „an die Kunst von …“ (und nicht, wie es richtig heißt: „die Kunst von …“). Der Klang einer huldigenden Hommage im Titel schien mir aber nur zu angemessen: Dieser brasilianische Songwriter war eine Offenbarung. Die Compilation versammelte Stücke aus den Jahren 1967 bis 1973. Vielleicht lag es an meinen fehlenden Portugiesisch-Kenntnissen, dass mir jene Stücke besonders im Gedächtnis blieben, die zumindest im Refrain ein bisschen Englisch hatten, etwa Baby, ein Song aus der Feder Caetano Velosos, der, wie ich später lernte, durch die eng mit ihm verbundene Sängerin Gal Costa Berühmtheit erlangt hatte, die wie er aus der nordöstlichen Provinz Bahia stammte, ein elegant komponierter leichter Pop­ song mit der denkbar einfachen Refrainzeile „Baby, baby / I love you“. Irgendwas mit ­„piscina“, Schwimmbad, und „melhor cidade da América do Sul“, die beste Stadt von Südamerika. Konnte nur Rio sein. Oder, vor allem, Maria Bethânia, ein Song, wie ich inzwischen herausgefunden hatte, für die eigene Schwester – ebenfalls eine berühmte Sängerin –, aus dem Londoner Exil geschrieben: „Maria Bethânia, please send me a letter, I wish to know things are getting better, better, better, beta, beta, Bethânia …“ Da spielte jemand mit der englischen Sprache. Aus dem Exil. Warum Exil? Wegen der brasilianischen Militärregierung. Was steckte dahinter? Was wollte er von seiner Schwester erfahren, die in Brasilien geblieben war? Es sollten noch viele Jahre ver­ gehen, bevor ich wirklich mehr erfuhr, aber bis dahin genügte mir, vielleicht allzu genügsam, die Vorstellung eines coolen brasilianischen Songwriters, den Schergen entronnen, im Londoner Exil Ende der 1960er, der mit großen Wuschelhaaren, im hippiesken Mantel mit Pelzbesatz, durch die Straßen geht und nach UFOs am Him­ mel schaut: „I’m wandering round and round, nowhere to go, I’m lonely in London, and London is lonely, so I cross the streets without fear … I’m wandering round and round, nowhere to go … While my eyes go looking for flying saucers in the sky.“ Damit konnte ich etwas anfangen, mir war es ja in den 1980ern auch so ergangen, allein auf der King’s Road in Chelsea oder im „Electric Ballroom“ in Camden transzendental obdachlos herumstolpernd auf der ­Suche nach Anschluss ans System Underground,

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an all das, was mit und nach Joy Division, Morrissey und Gun Club kam. Aber das verkannte natürlich die Unterschiede, ich war schließlich nicht auf der Flucht, son­ dern eben auf der Suche, nur transzendental, nicht aus wirklich existenzieller Not hierher gekommen. Oder Tropicália – was wusste ich schon, was das ist? –, ein Drei-Minuten-Drama, changierend zwischen Morricone-Soundtrack-hafter Strophe und sambaeskem Kurz­ refrain. Oder Alegria, Alegria – und an dieser Stelle muss man in die Youtube-Gegen­ wart und zugleich in die Vergangenheit ruckeliger brasilianischer Schwarzweiß-Fern­ sehbilder von 1967 springen – mit seinem mächtigen psychedelischen Rock-Anfang, der sogleich in eine süßliche Mitsingmelodie übergeht, die sich aber aus dem Süß­ lichen schnell in eine, ja, wiederum elegant einfache Weiterführung hochschwingt, die aus dem Süßlich-Einfachen zugleich etwas unprätentiös Komplexes und Tiefgründiges herausschimmern lässt. In den Fernsehbildern von damals jedenfalls, die mir erst vor zwei Jahren unterkamen, als ich mich auf eine längere Brasilienreise vorbereitete, wird endgültig klar, dass die brasilianische Popkultur der 1960er für mich noch jetzt eine Parallelwelt ist, deren Weite ich gerade erst zu begreifen begonnen habe. „Parallelwelt“ deshalb, weil sie in vielem so seltsam vertraut ist, eben nicht ein „un­ bekannter Kontinent“, der vom romantisch besitzergreifenden Forschergeist zu koloni­ sieren wäre. Sondern in der Ähnlichkeit zugleich mit scharfem, bewundernswertem Unterschied. Veloso kommt in diesen Schwarzweiß-Bildern mit Jackett und Rollkra­ genpullover auf die Bühne, ein wenig linkisch-verlegen, es ist ein nationaler Song-Con­ test, mit Publikum im Saal und an den Fernsehschirmen; er wird den Contest gewin­ nen mit Alegria, Alegria. Ein Jahr zuvor, 1966, gewann Chico Buarque – im Vergleich zu Veloso noch viel mehr in den 1950ern im Style, mit Tuxedo und Fliege, geölten und gescheitelten Haaren. Es erinnert in allem erst einmal an Udo Jürgens beim Eurovision Song Contest, ebenfalls 1966, diese Mischung aus zugewandter Sanftheit und Inner­ lichkeit, der Schwiegermuttertraum. Aber dann ist alles mindestens genauso sehr auch anders: bei Buarque wie bei Veloso. Die Regeln sind ganz andere, die Musik ist viel am­ bitionierter, bei Veloso und dessen Weggefährten aus Bahia, Gilberto Gil, dann auch affin zu anglo-amerikanischer Psychedelia dieser Zeit. Vor allem aber das Publikum: Es bekommt Text- und Notenblätter der Stücke, es singt mit. Allein das ist schon sehr be­ rührend. Denn es geht beim Contest in erster Linie um den Song, nicht um den Sän­ ger, um Kollektivität, nicht um den heroischen Einzelstar. Auch wenn das natürlich nie 100 Prozent stimmt; aber doch der Bewunderungsanteil nicht durch Beatles-FanSchreien eingelöst ist, sondern durch Mitsingen. Buarques Stück A Banda, einer der melodiös ausgefuchstesten und zugleich täu­ schend einfach klingendsten Ohrwürmer der Popgeschichte, kommt im Westdeutsch­ land des Jahres 1968, gesungen von France Gall, als „Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen“ an. Das Land steht an der Schwelle zur Studentenrevolution und zu den Veränderungen der 1970er, aber hier klingt es noch völlig und ausschließ­lich nach dem urlaubsseligen Nachkriegswirtschaftswunderdeutschland, nach ExotikKitsch.

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„Back in Brazil“ ist das ganz anders. Die Entwicklung erscheint rasant. Eben noch sind Buarque und Veloso die zwar großartig talentierten Sänger und Songschreiber, aber jetzt, nur ein, zwei Jahre später, blühen sie erst richtig auf in einer ästhetischen Revolution, der man den Namen „Tropicália“ oder auch „Tropicálismo“ gab. Buarque mit einigem Abstand allerdings. Denn wie er selbst im Rückblick sagt, ging es bei ­„Tropicália“ auch um einen Bruch mit „Bossa Nova“, dem elegant-gepflegten Weg des brasilianischen Popsongs, und Buarque wollte nicht mit „Bossa Nova“ brechen, viel­ mehr mit dessen Zentralgestirn – Tom Jobim – zusammenarbeiten.² Die anderen – neben Veloso vor allem die damals in Rio lebenden Musiker G ­ ilberto Gil, Gal Costa, Tom Zé, der Lyriker Torquato Neto sowie die Band Os M ­ utantes aus Saõ Paulo – stürzten sich gewissermaßen mitten in die Psychedelik, die Jimi Hendrix und die Beatles und die Kinks und die Small Faces verband, saugten sie auf, adap­ tierten deren Timbres und Sounds und luden sie zugleich mit anderen Inhalten und Timbres auf, lockten sie in andere Zonen und Sichtweisen. Das Ergebnis dieses Pro­ zesses ist die namensgebende Platte, das Manifest: Tropicália ou Panis et Circencis (1968), an dem alle Genannten mitwirkten. Es ist nicht nur das Manifest einer ästhe­ tischen Revolution, einer brasilianischen Postmoderne, sondern es ist zugleich das Porträt eines Landes, in dem sich die Postmodernität dieses Projekts scharf unterschei­ det von der Vorstellung eines bloßen ironischen Pastiche. Denn jedes dieser Versatz­ stücke erweckt ein Stück Brasilia, ein Stück Mina Gerais (die bodenschätzereiche Provinz), ein Stück Amazonas zum Leben, aber mindestens genauso die Spannung zwischen dem seit 1964 regierenden Militärregime und der linken Subkultur und Studentenbewegung, die die Bourgeoisie aus ihrer Lethargie aufrütteln will. 1969 setzt die Militärregierung all dem ein scharfes Ende. Veloso und Gil müssen ins Exil nach London, Buarque geht nach Italien. Was genau war es, das diese kurze, explosionsartige ästhetische und soziale Revolu­ tion auszeichnete (die noch in den 1970ern große Kunst anstieß und es auf eine Weise bis heute tut), worin ähnelte sie den Veränderungen zur gleichen Zeit in anderen Teilen der Welt, worin unterschied sie sich von ihnen? Hier zeigt sich eine Genealogie und Verzweigung, die bis in die 1920er Jahre der brasilianischen Moderne zurück­ reicht. Ein erster Anknüpfungspunkt ist die Tatsache, dass der Titel Tropicália 1968 für die Musiker um Veloso mehr oder minder durch einen Zufall ins Spiel kam. Veloso selbst hatte einen Song, für den er noch einen Titel suchte. Die Aufnahme beginnt mit einer Montage aus Perkussion, Vogelstimmen und nervös-hohem Geigen­ gezirpe, eine Kürzel-Evokation der ursprünglichen Natur und der Stammesgesellschaft, der im April 1500 die Flotte Pedro Álvares Cabrals zum ersten Mal begegnete, als sie im Auftrag König Manuels I. von Portugal Brasilien „entdeckte“. Eine Stimme setzt ein. Sie erzählt, dass damals der Gesandte Pero Vaz Caminha, als er feststellte, dass dieses neue Land fruchtbar und üppig war, einen Brief darüber an den portugiesischen König schrieb – einen Brief, der zuweilen „Geburtsurkunde“ Brasiliens genannt wird, so als sei alles davor ein sehr sehr langer fötaler Zustand gewesen. Hier aber, bei Veloso, endet dieses Intro mit dem Verweis auf einen gewissen Gauss, der das alles für die Nachwelt

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aufzeichnet – Rogério Gauss hieß der Tontechniker, der gerade hinter den Reglern saß. Die Zeile war vom Perkussionisten Dirceu improvisiert und nicht als endgültige Auf­ zeichnung gedacht. Aus der Geburtsstunde einer Nation wird ein Mikrofontest. Genau darin liegt die perfekte Allegorie für den wiederum allegorischen Nationalismus, der sich in der „Tropicália“-Bewegung ausdrückt: eine fortwährende Bezugnahme auf eine Art psychedelische Ursprünglichkeit der Natur und der Stammesgesellschaft Brasiliens vor Eintreffen der Kolonialisten, inklusive der Drogen (beispielsweise Ayahuasca), ­welche aber wie in einem elektrischen Regelkreis verbunden wird mit den Aufzeich­ nungs-, Klang- und Bilderzeugungstechniken sowie den damit verbundenen Schmerzen und Visionen einer modernistischen Gegenwart. Der Song, der dem Intro folgt, kleidet diese Verknüpfung wiederum in eine Allegorie, die einer surrealen Filmszene ähnelt: „Über meinem Kopf die Flugzeuge, unter meinen Füßen die Trucks … ich organisiere die Bewegung … Ich führe den Karnevalszug an … Ich weihe das Denkmal ein auf dem zentralen Plateau des Landes … Das Denkmal ist aus Krepppapier und Silberfolie ­gemacht … Die grünen Augen des Mulatto-Mädchens … und auf ihren Knien ein ­lächelndes Kind, hässlich und tot, es streckt die Hände aus …“ Für diesen Song – eine Mischung aus Klangcollage, Psychedelic-Rock, Filmmusik, Baião (der Samba des Nordostens Brasiliens gewissermaßen) – und für diesen Text also, der Brasilien in Bildern zum Sprechen brachte, in Zeit und Raum ein Panorama beschreibend, suchte Veloso noch einen Titel, der dieser weiten Perspektive gerecht würde. Der befreundete Filmproduzent Luiz Carlos Barreto schlug Tropicália vor, nach einer künstlerischen Arbeit von Hélio Oiticica, die 1967 zum ersten Mal im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro zu sehen gewesen war. Es war Oiticicas erste begeh­ bare Installation: Ausgangspunkt war Oiticicas Feststellung, dass „Reinheit ein Mythos“ sei – an Mondrians Suche nach reinen Formen und Farben denkend, trieb er klare geo­ metrische Formen und Farben in der Installation ins „Unreine“, indem er sie mit an ­Favela-Architektur angelehnten einfachen Hüttenkonstruktionen strukturierte, in de­ ren Zentrum ein Fernseher das gerade gesendete Programm übertrug. Indem Oiticica lebende Papageien, Sand und Pflanzen inkludierte, schuf er ein Environment, in dem man sich aktiv sensoriell bewegt. Im Grunde tat er in Bezug auf die Abstraktion der klassischen Moderne das, was die Musiker mit der „reinen“ Form der MPB (música popular brasileira) machten, indem sie sie verstärkt mit Psychedelia und ambitionierten filmmusikartigen Elementen „verunreinigten“, aktivierten, aus Klarheit und Strenge in multisensorische Schwingung überführten. Es gibt noch eine weitere Berührung mit Oiticica, die etwas mit dem vorläufigen Ende des „Tropicálismo“ zum Ende des Jahres 1968, unter dem Druck des Regimes, zu tun hat. In einer Diskothek namens „Boate Sucata“ hatten die Musiker von Woche zu Woche gespielt, neben Veloso vor allem Gilberto Gil und Os Mutantes als Band für beide. Ihre Musik bewegte sich zusehends in Richtung einer kreolisiert-brasilianisier­ ten Variation auf Hendrix. Gitarrennoise mit sambaeskem Hüftschwung. Die Musiker trugen bizarr-grelle Outfits aus Glitter und Plastik und Velosos lockige Haare konkur­ rierten längst mit dem Riesenafro des britischen Hendrix-Bassisten Noel Redding. Ein

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von Oiticica gestaltetes Poster zierte die Bühne: Darauf zu sehen der tote Körper des Favela-Banditen Cara de Cavalo, der von der Polizei erschossen worden war, darunter die Worte: „Sei ein Außenseiter, sei ein Held.“ Das Plakat sollte – so Veloso in seinen Erinnerungen Tropical Truth (1997) – unter­ streichen, was die „Tropicália“-Bewegung von Mainstream-Angelegenheiten wie dem Internationalen Song-Festival oder der MPB unterschied.³ Es genügte, dass eines Abends ein Richter im Publikum war und das gerade mal ein Meter hohe Plakat sah – er veranlasste nicht nur das Verbot der Show, sondern gleich auch die Schließung des Clubs. Doch das war erst der Anfang. Am 13. Dezember 1968 kam es zu einem Putsch innerhalb des Militärregimes, mit dem die Hardliner die Macht übernahmen und so­ fort eine Verschärfung der polizeistaatlichen Verhältnisse bewirkten.⁴ Am 27. Dezem­ ber wurden Gil und Veloso festgenommen. Nach mehreren Wochen Haft eröffnet ein Sergeant Veloso, dass die „Tropicálista“ dem Regime als ärgste Feinde gälten, „aber in diesem kleinen Raum der Militärpolizei hatte ich nicht die Stärke, darüber Stolz zu empfinden; ich hatte nur Angst“.⁵ Nach weiteren Monaten Haft und Hausarrest wird den beiden eröffnet, dass sie erstens nicht mit einer Arbeits- und Auftrittserlaubnis rechnen dürften und ihnen zweitens nahegelegt wird, das Land zu verlassen. Die auf­ strebenden Stars der brasilianischen Popszene werden offenbar als am wenigsten gefährlich eingestuft, wenn sie im Exil sind. Gil und Veloso, ebenso wie Buarque, haben einige ihrer allerbesten Platten während der Jahre zwischen 1969 und 1971 aufgenommen, der Jahre des Exils bzw. kurz nach ihrer Rückkehr dank einer relativen Entspannung der politischen Situation. Herausra­ gend ist besonders Buarques Construção (1971), ein Meisterwerk, das die Geschichte eines Bauarbeiters erzählt, der sich von einem Baugerüst in den Tod stürzt, eine von ei­ ner wahren Meldung ausgelöste Parabel auf die Zeit des Militärregimes. In der Musik verbindet sich verletzliche Romantik mit John-Barry-haftem Suspense. Was ließ die Großen der „Tropicália“-Bewegung Ende 1968 als so gefährlich er­ scheinen? Keiner von ihnen hatte bis dahin explizite politische Forderungen in seiner Kunst formuliert. Allenfalls in poetisch verklausulierter Form. Aber es genügte, dass sie eine dekonstruktive Ästhetik verfolgten. Das wurde von den Herrschenden offenbar als zersetzend empfunden. Es war gerade die Verbindung aus politischer Renitenz und ästhetischer Verführung, die sie als gefährlich erscheinen ließ. Sie waren auf politisierte Weise sexy. Es gibt ein Plattencover von Tom Zé, das diesen Zustand einige Jahre ­später selbst als camouflierten anzüglichen Witz abbildet, als eine Art komödiantische ­Vision von George Batailles Die Geschichte des Auges (1928). Auf Todos os Olhos (1973) starrt einen ein rundes, blindes Ding an, wie von wunden Lidern gefasst; doch was man für das seltsame Auge eines Alien halten könnte, ist in Wirklichkeit eine ­Murmel, die in einem Anus steckt. Das Bild passierte die Zensur, weil die Zensoren das Körperteil schlicht nicht erkannten. Die Dekonstruktion der anglo-amerikanischen ebenso wie der lateinamerikanischen Einflüsse, das unverblümt Grotesk-Sexualisierte, das Klischee oder die Anzüglichkeit nehmend und sie zur Waffe machend: all das stand im Grunde in der Tradition des anthropophagischen Manifests von Oswald de

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Andrade aus dem Jahre 1928. Jenes Manifests, das den Bogen spannt von den katho­ lischen Missionaren, die wie in den schlimmsten Kolonialistenträumen von nordostbrasilianischen Kannibalenstämmen verspeist werden, mitsamt ihrem Wissen und ih­ rer Macht und ihrer vermeintlichen Überlegenheit. Zu dem Jahr, eben 1928, in dem der erste Fernseher vorgestellt wird, von Andrade bereits einverleibt in seinen hochiro­ nischen, mit Anspielungen nur so gespickten Text. „Wir ließen Christus in Bahia zur Welt kommen“; „Gegen Goethe“. Dogmen werden also abgewandelt, bis es passt, ange­ eignet ohne falsche Rücksicht. Was de Andrade vor allem auch zurückweist, ist die blo­ ße Umkehrung der Dämonisierung der „fremden Völker“ durch die „gutmeinenden“ Fraktionen unter den Kolonisierern in das Motiv des edlen Wilden oder des kolonialen Opfers; stattdessen ein selbstbewusst sardonisches Auftrumpfen als hybrides Monster unvereinbar scheinender Eigenschaften von Natur und Industrie, Kolonisierer und Ko­ lonisiertem. Eine Revolte gegen den Sachzwang der Wirklichkeit. Als Filmreferenz in Sachen „Tropicália“ wird immer Terra em Transe (Erde in Tran­ ce, 1967) von Glauber Rocha angeführt, eine böse und mutige Satire auf den politi­ schen Populismus zu Zeiten des Militärregimes, kaum verschleiert als Allegorie über ein anderes Land. Als wichtiger Einfluss gilt ebenfalls die Theatergruppe Oficina, die 1967 Andrades jahrzehntelang vergessenes Stück O rei da vela (Der Kerzenkönig, 1933) mit expressionistischer bis psychedelischer Intensität aufführte. Vielleicht aber spürt man den Geist dieser neuen Anthropophagie, die erst in den 1960ern kulturell zur vollen Blüte kam (ähnlich wie Duchamp erst wirklich ab den 1960ern verstanden wurde) am eindrücklichsten und anschaulichsten in dem Film Macunaíma (1969) von Joaquim Pedro de Andrade, basierend auf einem Roman von 1928 von Mario de And­ rade – also aus demselben Jahr wie Oswald de Andrades Manifest (die drei sind nicht verwandt oder verschwägert). Eine moderne Parabel Brasiliens selbst: Ein Schwarzer wird von einer alten indigenen Frau geboren, in erwachsener Größe. Er geht in die Großstadt, absurde Potentaten und gutaussehende linke Aufrührerinnen kreuzen sei­ nen Weg, eine komödiantische Groteske über die Jahre der Diktatur, die im Bild eines mit Leichenteilen gefüllten Swimmingpools während eines Cocktail-Empfangs gipfelt. Surreal, psychedelisch, absurd-witzig, anthropophagisch. So sehr allerdings Veloso und Buarque (und Ähnliches gilt für Gil, Costa, Jorge Ben und andere) in der anthropophagischen Tradition der kannibalischen Absorption und Verdauung und Verwandlung kultureller Einflüsse stehen mögen, so sehr sind sie doch zugleich originäre lyrische Stimmen, vielleicht vergleichbar in Status und Intensität – wenn man den Vergleich mit Barden der nördlichen Hemisphäre denn sucht – mit ­Figuren wie Bob Dylan oder Leonhard Cohen. Zugleich waren sie vor allem in den späten 1960ern und in den 1970ern in Habitus und Bühnenpräsenz aber auch bunte Vögel wie David Bowie oder Bryan Ferry. In einem Fernsehspecial von 1978 sieht man Chico und Caetano sich treffen, miteinander reden, singen, im Studiosand sitzend wie am Strand, eine Hängematte im Hintergrund. Veloso ist camp, sexy, androgyn, mit sei­ nen Wuschelhaaren und einem knallroten Blousonhemdchen und grüner kurzer Hose; Buarque sanft, cool, nachdenklich, mit weichem Bariton. Jeder spielt ein Lied des

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a­ nderen auf der Gitarre, sie begleiten sich abwechselnd gegenseitig. Man findet nichts entfernt Vergleichbares von ähnlichen Größen bei den britischen oder US-amerika­ nischen Popstars: Dylan begleitet Cohen auf der Gitarre? Allenfalls noch Freddie Mer­ cury mit David Bowie, und das ging auch nur über den Modus des Pathos, nicht über Freundschaft, Nähe, Intimität. Und das alles wenige Jahre nach erzwungenem Exil. Vielleicht gerade deshalb. Man findet auf Youtube auch einen Fernsehauftritt von Veloso mit Gal Costa von 2011. Beide in Würde gealtert. Er spielt immer noch unglaublich elegant und zugleich unprätentiös Gitarre, begleitet sie. Sie singt ein von Veloso für ihr 2011er Solo-Album geschriebenes Stück, Recanto Escuro (Dunkle Ecke). Sie singt es, einfach so auf der Couch sitzend neben dem Gastgeber der brasilianischen Late-Night-Show, unpathe­ tisch, musikalisch feinfühlig. Mit ihrer rauer gewordenen, aber immer noch Gänsehaut verursachenden Stimme. Das Kraftzentrum „Tropicália“ strahlt bis in die Gegenwart. 1 2 3 4 5

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Veloso 2003, S. 159. Vgl. http://tropicalia.com.br/en/ilumencarnados-seres/depoimentos/chico-buarque [Stand 30.01.2015]. Vgl. Veloso 2003, S. 191ff. Vgl. ebd., S. 216. Ebd., S. 244.

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A MARBLE IN AN ANUS – THE MUSIC OF “TROPICÁLIA” Jörg Heiser “Brazil” can liberate the creative energies that will enable the proliferation of research (or the invention of new disciplines) only if Brazil refuses to feel intimidated by itself, and if it places its narcissistic pleasure above sensible submission to the international order. Caetano Veloso1 Sometime in the late eighties, a friend in Frankfurt gave me a record, a double LP called A Arte de Caetano Veloso. I didn’t speak Portuguese (and still don’t even now, but these days you can get by with the help of the Internet), so I thought the title meant “to the art of …” (it actually means, simply, “the art of …”). The idea of a payment of tribute in the title seemed more than appropriate: this Brazilian songwriter was a revelation. The record was a compilation of songs of the years 1967 to 1973. Maybe it was because I couldn’t speak Portuguese that the songs that stuck most in my memory were those that had a bit of English, at least in the refrain, for example Baby, which was written by Caetano Veloso and, as I later learned, had come to fame through the singer Gal Costa. Costa had close ties to Veloso; like him, she came from the north-eastern Brazilian province of Bahia. Baby was a light, elegantly composed pop song whose refrain could hardly have been simpler: “Baby, baby / I love you”. Something about “piscina”, swim­ ming pool, and “melhor cidade da América do Sul”, the best city in South America. It could only have been Rio. Or, above all, Maria Bethânia, a song to the composer’s own sister (as I later learned) – likewise a famous singer –, written in exile in London: “Maria Bethânia, please send me a letter, I wish to know things are getting better, bet­ ter, better, beta, beta, Bethânia …” Here someone’s playing with the English language. In exile. Why exile? Because of the Brazilian military government. What’s behind the song? What did he want to find out from his sister, who had stayed behind? Many years were to pass before I really learned more, but until then I was content – perhaps all too complacent – with the image of a cool Brazilian songwriter who had escaped the henchmen and was living in exile in London in the late sixties, with a big head of fluffy hair, wearing the hippest coat you could imagine, with fur trim, walking the streets and looking for UFOs in the sky: “I’m wandering round and round, nowhere to go, I’m lonely in London, and London is lonely, so I cross the streets without fear … I’m wan­ dering round and round, nowhere to go … While my eyes go looking for flying saucers in the sky.” That meant something to me, that’s how things seemed to me in the eighties too, alone in King’s Road in Chelsea or in the “Electric Ballroom” in Camden, stum­ bling around, transcendentally homeless, in search of access to the Underground sys­ tem, to everything that came with and after Joy Division, Morrissey, and Gun Club. But of course I was closing my eyes to the differences. After all, I wasn’t on the run but on a quest, had come there out of transcendental, not true existential, necessity.

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Or Tropicália – what did I know what that was? –, a three-minute drama oscillating between Morricone soundtrack-like verse and short, samba-esque refrain. Or Alegria, Alegria: and here you have to take a leap up to the YouTube present – and simultane­ ously back to the past of jiggly black-and-white Brazilian TV images of 1967. A power­ ful psychedelic rock intro immediately turns into a sweet sing-along melody; just as quickly, that melody swings up out of the syrupy to what could be called an elegantly simple continuation that allows something unpretentiously profound to shimmer out from within the syrupy-simple. In the TV pictures of back then, in any case, which I only discovered two years ago when I was preparing for an extended trip to Brazil, it became totally clear to me that, even today, the Brazilian pop culture of the sixties still appears to me like a parallel world whose expanses I am only now beginning to under­ stand. A “parallel world” because in so many respects it’s so strangely familiar, and not at all an “unknown continent” awaiting colonization by a romantically proprietary mind. But also, for all its similarity, a place with a distinct and admirable difference. In these black-and-white images, Veloso comes on stage in a suit jacket and turtleneck pullover, a bit awkward and abashed. It’s a national song context, with one public in the audito­ rium and another in front of the television screens; he will win the contest with Alegria, Alegria. The previous year, in 1966, the winner had been Chico Buarque. Compared to Veloso, Buarque was still far more fifties in style, with a tuxedo and bow-tie, his hair oiled and parted. At first sight it’s all reminiscent of Austrian singing legend Udo ­Jürgens at the Eurovision Song Contest, likewise in 1966, this combination of attentive softness and introspection: every mother-in-law’s dream come true. But then every­ thing is also just as different – with Buarque and Veloso alike. The rules are entirely ­different, the music is much more ambitious, in the case of Veloso and his fellow musi­ cian from Bahia, Gilberto Gil, there is an affinity to the Anglo-American psychedelia of the time. But above all, the audience. Sheets of paper with the lyrics and music of the songs have been passed out; the audience sings along. That alone is already very moving. Because the foremost concern of the contest is the song, not the singer, the collective, not the heroic star. Even if that is naturally never really one hundred per cent true, in any case the worship aspect does not manifest in Beatles’-fan screams but in singing along. Buarque’s song A Banda, one of the melodically cleverest and at the same time most deceptively simple-sounding catchy tunes in pop history, arrives in West Germany in 1968, sung by France Gall as “Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen” (two oranges in her hair, and bananas at her hips). The country is on the verge of the student revolts and the changes of the seventies, but here it still sounds entirely and exclusively like vacation-happy post-war economic-miracle Germany, like needy exotic kitsch. Back in Brazil, it’s an entirely different story. The development seems to be hap­ pening at breakneck speed. What felt like just a minute ago, Buarque and Veloso were still two wonderfully talented singer/songwriters, but it is only now, no more than a

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year or two later, that they’re really coming into their own, into full bloom, in the con­ text of an aesthetic revolution referred to as “Tropicália” or “Tropicálismo”. Buarque, however, from quite a distance. Because, as he himself said in retrospect, one of ­“Tropicália’s” aims was to break with “Bossa Nova”, the elegantly cultivated style of the Brazilian pop song, and Buarque didn’t want to break with “Bossa Nova”, but rather to work with its top star, Tom Jobim.2 The others – in addition to Veloso above all the musicians then living in Rio: ­Gilberto Gil, Gal Costa, Tom Zé, the poet Torquato Neto, and the band Os Mutantes from São Paulo – virtually flung themselves into the very midst of the psychedelia that connected Jimi Hendrix and the Beatles and the Kinks and the Small Faces, soaked it up, adopted its timbres and sounds while at the same time charging it with different contents and timbres, luring it into different zones and viewpoints. The result of this process was the record that gave the movement its name, the manifesto: Tropicália ou Panis et Circencis (1968), in which all of the above-named were involved. It is not only the manifesto of an aesthetic revolution, a Brazilian post-modernity, but at the same time a portrait of a country in which the post-modernity of this project differs distinctly from the conception of a mere tongue-in-cheek pastiche. Because every one of these set pieces brings a piece of Brasília, a piece of Mina Gerais (a province rich in natural resources), a piece of Amazonas to life, but also, to at least the same degree, the tension between the military regime in power since 1964 and the left-wing subculture and stu­ dents’ movement whose aim was to shake the bourgeoisie out of its lethargy. In 1969, the military regime brought the whole thing to an abrupt halt. Veloso and Gil had to go into exile in London, Buarque went to Italy. What was it exactly that distinguished this brief explosive aesthetic and social revo­ lution (which continued to bring forth great art in the seventies and in a sense is still doing so today); how did it resemble changes taking place at the same time in other parts of the world, and how did it differ from them? On closer examination we discover a genealogy that can be traced back to the 1920s and the era of Brazilian modernism. One initial thread we can pursue is the fact that, in 1968, the title Tropicália came into play for the musicians around Veloso more or less by coincidence. Veloso himself had a song for which he was still in search of a title. The recording begins with a montage of percussion, birdsong and the nervous, high-pitched chirping of a violin, an abbreviated evocation of the nature and tribal societies first encountered in April 1500 by the men arriving with Pedro Álvares Cabral when they “discovered” Brazil on behalf of King Manuel I of Portugal. A voice comes in. It recalls that, at the time, when the envoy Pero Vaz Caminha realized that this new land was fertile and rich, he wrote a letter about it to the Portuguese king – a letter sometimes referred to as Brazil’s “birth certificate” – as if everything before that had been a very, very long foetal state. In Veloso’s song, however, this intro ends with a reference to a certain Gauss, who recorded everything for posterity – Rogério Gauss was the name of the sound technician who happened to be sitting at the controls at that moment. The line had been improvised by the percussionist Dirceu and not intended for the final

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v­ ersion. The birth hour of the nation had become a microphone test. And that is the perfect allegory for what in turn was the allegorical nationalism expressed by the “Tropicàlia” movement: a constant reference to a kind of psychedelic originality of nature and Brazil’s tribal society before the arrival of the colonists, including the drugs (for example ayahuasca), all of which, however, as in an electrical loop, was linked with the recording and sound-and-image generation techniques as well as the related pangs and visions of a modernist present. The song that follows the intro, for its part, clads this association in an allegory resembling a surreal film scene: “Above my head the airplanes, beneath my feet the trucks … I organize the movement … I lead the ­carnival parade … I dedicate the monument on the central plateau of the land … The monument is made of crepe paper and silver foil … The green eyes of the mulatto girl … and on her knees a smiling child, ugly and dead, it stretches its hands out …” For this song – a combination of sound collage, psychedelic rock, film music, Baião (in a sense the samba of north-eastern Brazil) – and thus for these lyrics, which gave Brazil a voice in images describing a panorama in time and space, Veloso was still look­ ing for a title that would do justice to this broad perspective. A friend, the film pro­ ducer Luiz Carlos Barreto, suggested Tropicália after an artwork by Hélio Oiticica that had first been on view in 1967 in the Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro. It was Oiticica’s first walk-in installation: the point of departure had been his realization that “purity was a myth”. In the installation, with Mondrian’s search for pure forms and colours in mind, he drove clear geometrical forms and colours into “impurity” by structuring them with simple shack-like structures reminiscent of favela architecture at whose centre a television flickered with the programme being broadcast at that partic­ ular moment. By including live parrots, sand and plants, Oiticica created an environ­ ment in which the visitor moves around, making active use of his senses. Essentially he was doing with the abstraction of classical modern art what the musicians were doing with the “pure” form of MPB (música popular brasileira) by “contaminating” it with psychedelia and ambitious, film-music-like elements, activating it, robbing it of its clar­ ity and rigour and introducing a multi-sensorial vibe to it instead. There was another point of contact with Oiticica that has something to do with the end of “Tropicalismo” in late 1968 owing to pressure from the regime. The musi­ cians had been playing every week in a discotheque called “Boate Sucata” – apart from Veloso above all Gilberto Gil, with Os Mutantes serving both as a band. Their music had been developing rapidly towards a Creolized-Brazilianized variation on Hendrix. Guitar noise with samba-esque hip-swinging. The musicians wore bizarrely garish out­ fits made of glitter and plastic, and Veloso’s curly hair had long been competing with British Hendrix bassist Noel Redding’s huge afro. A poster designed by Hélio Oiticica decorated the stage: it showed the dead body of the favela bandit Cara de Cavalo, who had been shot to death by the police, with the text: “Be an outlaw, be a hero.” According to Veloso in his memoirs Tropical Truth (1997), the poster was meant to underscore what distinguished the “Tropicália” movement from mainstream phenom­ ena such as the International Song Festival or MPB.3 One evening, there was a judge in

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the audience and he noticed the poster, which measured no more than one metre in height. That was all it took for him not only to have the show outlawed but the club closed altogether. And that was just the beginning. On 13 December 1968 there was a coup within the military regime; the hardliners took power and immediately saw to the further toughening of the police-state conditions.4 Gil and Veloso were arrested on 27 December. After several weeks in custody, a sergeant informed Veloso that the regime considered the “Tropicálista” its worst enemies, “but in that little room of the military police, I didn’t have the strength to feel proud of that fact; I was just scared.”5 After a few more months of prison and house arrest, the two were told that they could no longer count on being permitted to work or perform on stage, and it was moreover suggested to them in no uncertain terms that they leave the country. The aspiring stars of the Brazilian pop scene were evidently considered the least dangerous when they were in exile. As it turned out, Gil, Veloso and Buarque recorded a number of their very best albums between 1969 and 1971, the years when they were in exile or shortly after their return thanks to a relative easing of political tensions. Buarque’s Construção (1971) is a particularly outstanding example ‒ a masterpiece that tells the true story of a con­ struction worker who leaps to his death from a scaffolding, a parable for the era of the military regime. The music combines vulnerable romanticism with John-Barry-like suspense. What made the leading figures of “Tropicàlia” seem so dangerous in 1968? Not one of them had ever yet formulated explicit political demands in his art, or if he had it was in poetically encoded form. The fact that they pursued a deconstructive aesthetic ­sufficed, was evidently considered subversive enough by those in power. It was pre­ cisely the combination of political renitence and aesthetic allure that made them appear d­ angerous. They were sexy in a politicized manner. A few years later, a Tom Zé record cover illustrates this state of affairs as a camouflaged lewd joke, a kind of come­ dic vision of George Bataille’s Story of the Eye (1928). On Todos os Olhos (1973), a round blind something stares out at you, surrounded by sore lids. But what you might take to be the strange eye of an alien is actually a marble stuck into an anus. The image made it past the censors because the latter simply did not recognize the body part in question. The deconstruction of the Anglo-American as well as the Latin-American influences, the bluntly grotesque sexualization, the adoption of a cliché or a lewd ges­ ture and turning it into a weapon: these were all strategies that essentially continued the tradition of Oswald de Andrade’s 1928 anthropophagic manifesto. The manifesto that forges a link between the Catholic missionaries devoured along with their knowl­ edge, power and supposed superiority by northeast Brazilian cannibal tribes, just like in the colonialist’s worst dreams, and the year ‒ 1928 ‒ in which, no sooner had the first television been introduced, it was already imbibed by de Andrade in an extremely face­ tious text fairly bristling with allusions. “We had Christ born in Bahia”; “Anti Goethe”. In other words, dogmas were cut to size, appropriated without false deference. And what de Andrade most pointedly repudiates is the mere reversal of the demonization

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of the “foreign peoples” into the motif of the noble savage or the colonial victim by the “well-meaning” factions among the colonizers, offering in its stead a self-confidently sardonic repartee in the form of a hybrid monster uniting the seemingly irreconcilable characteristics of nature and industry, the colonizers and the colonizees. A revolt against the practical constraints of reality itself. As a film reference to “Tropicália”, Terra em Transe (Entranced Earth, 1967) by Glauber Rocha is often cited, a courageous and vicious satire on political populism in the days of the military regime, poorly veiled as an allegory of a different country. The theatre group Oficina, which in 1967 performed de Andrade’s long-forgotten play O rei da vela (King of Candle, 1933) with an intensity ranging between the expressionis­ tic and the psychedelic, is also considered an important influence. Yet the spirit of this new anthropophagy – which did not come into full flower, culturally speaking, until the sixties (comparable to Duchamp, who also wasn’t really understood until the six­ ties) – is perhaps most strikingly and vividly conveyed by Joaquim Petro de Andrade’s film Macunaíma (1969), based on a novel by Mario de Andrade published in 1928 ‒ i.e. the same year as Oswald de Andrade’s manifesto (incidentally, the three de Andrades are related neither by blood nor by marriage). It is a modern parable of Brazil itself: An old indigenous woman gives birth to a fully grown black man. He goes to the big city, where absurd potentates and good-looking female left-wing insurgents cross his path. A comedic grotesque about the years of the dictatorship, it culminates in the image of a cocktail party at the side of a swimming pool filled with parts of dead bodies: surreal, psychedelic, absurdly comic, anthropophagic. Yet to whatever extent Veloso and Buarque can be seen in the anthropophagic tradi­ tion of the cannibalistic absorption, digestion and transformation of cultural influences (and the same applies to Gil, Costa, Jorge Ben and others), they are at the same time original lyrical voices, perhaps comparable in status and intensity (to the extent that comparison with bards of the northern hemisphere is even sought) to figures such as Bob Dylan or Leonard Cohen. At the same time, in demeanour and stage presence, they also bear resemblance to such colourful personalities as David Bowie or Bryan Ferry. In a television special of 1978, Chico and Caetano get together, talk, sing, as if on a beach, with a hammock in the background. Veloso is camp, sexy, androgynous with his mop of curly hair and a bright red blouse-like shirt; Buarque is gentle, cool, pensive, with a soft baritone. Each of them plays a song by the other on the guitar; they alternately accompany one another. There is nothing even remotely comparable to comparable greats among the British or U.S.-American pop stars: Dylan accompa­ nying Cohen on the guitar? The closest we come is Freddie Mercury with David Bowie, but that was only possible in pathos mode, not on the basis of true friendship, closeness, intimacy. And all just a few years after their forced exile. Maybe for that very reason. On YouTube you can find a television performance by Veloso and Gal Costa of 2011. Both of them have aged with dignity. He still plays the guitar with incredible ­elegance and modesty, accompanying her. She sings a song he wrote for her 2011 solo

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album – Recanto Escuro (Dark Corner). She simply sings it sitting on a couch next to the host of the Brazilian Late Night Show, a quiet and musically sensitive performance. Her voice is throatier than it used to be, but still gives you goose bumps. The impact of “Tropicália” still makes itself felt today. 1 2 3 4 5

Veloso 2003, p. 159. See http://tropicalia.com.br/en/ilumencarnados-seres/depoimentos/chico-buarque [accessed 12 April 2015]. See Veloso 2003, pp. 191ff. See ibid., p. 216. Ibid., p. 244.

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Christoph Menke

„ER MUSS EXPERIMENTIEREN“ – DIE KUNST IM GEGENWÄRTIGEN KAPITALISMUS Christoph Menke I. Das Paradox der Ästhetisierung Die gegenwärtige gesellschaftliche Lage der Kunst bildet ein Paradox: Die Kunst ist ­sozial und kulturell erfolgreich wie nie zuvor in der Moderne; eben deshalb ist völlig unklar, was die Kunst ist, ja, ob es sie überhaupt geben soll. Wohl noch nie war die Kunst so sichtbar und präsent wie heute. Die Kunst steht nicht am Rand der Gesell­ schaft, sondern Kunst steht überall, in ihren Zentren, herum, sie wird in allen Formen, an allen Orten und zu allen Zeiten gemacht. Dadurch aber ist die Kunst ein bloßer Teil des gesellschaftlichen Prozesses geworden, eine weitere der vielen Kommunikati­ onsformen, die die Gesellschaft ausmachen: eine ökonomische Ware, ein Beitrag zur politischen Meinung, eine kulturelle Veranstaltung zur Unterhaltung, Entlastung und Erholung. Dem entspricht, dass für die Gesellschaft, in die sich die Kunst aufzulösen beginnt, die Werte und Einstellungen des Ästhetischen, die an den Bereich der Kunst gebunden waren, zu bestimmenden Mustern geworden sind. Das Ästhetische bezeichnet nicht mehr die kulturelle Gegenfigur oder Gegenbewegung, es ist jetzt das Modell der Gesellschaft. Damit ist das Ästhetische zugleich ein Mittel im ökonomi­ schen Verwertungsprozess geworden, auf den die Gesellschaft sich zunehmend redu­ ziert. Die Krise der Kunst ist ihr Erfolg, der soziale und kulturelle Aufstieg des ­Ästhetischen zum Leitbild beraubt es seiner Kraft. Die Gegenwart der Gesellschaft, die damit beschrieben wird, kündigt sich in den Postismen der 1970er Jahre an: Die gegenwärtige Gesellschaft heißt „postfordistisch“, „postindustriell“, „postmodern“.1 Diese Ausdrücke registrieren in verschiedenen ­Registern eine tief greifende Veränderung der modernen, bürgerlichen oder kapitalisti­ schen Gesellschaft durch die Ästhetisierung des Fühlens, Erfahrens und Verhaltens. Ästhetische „Werte“ wie Kreativität, Selbstverwirklichung, Innovation, die vor allem in den Protestbewegungen der 1960er Jahre gegen die autoritären Strukturen dessen ­gerichtet waren, was damals im Überschwang der Hoffnungen (und des Glaubens an die eigene Stärke) „Spätkapitalismus“ genannt wurde, sind im postmodernen Kapita­ lismus zu entscheidenden Produktivkräften geworden. Die ästhetischen Ideale werden zu sozialen Imperativen: Kreativ und innovativ muss man jetzt sein; nicht, weil eine neue Ethik es vorschreibt, sondern weil davon das ökonomische und soziale Überle­ ben, der Einzelnen wie der Volkswirtschaften, im Wettbewerb abhängt. Damit steht die Kritik der Gesellschaft, und die Politik, die diese Kritik vorantreibt, vor einer ganz neuen Situation: Ihr ist die Orientierung abhanden gekommen, als sich die libertären Ideale eines freien und glücklichen Lebens, die sich von der Romantik

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bis zu den Avantgarden stets am Bild des Ästhetischen orientierten, in ökonomische Imperative verwandelten. Eine Moral bloß der sozialen Gerechtigkeit und der Men­ schenrechte wird diese Auflösung des politischen Ideals sicherlich nicht kompensieren können. Wenn der Grund für den Verlust des politischen Ideals aber nicht einfach Mut- und Fantasielosigkeit ist; wenn seine Auflösung ihren Grund darin hat, dass die Idee des Ästhetischen selbst, die seit dem Beginn der Moderne die Quelle der liber­ tären Ideale eines freien und glücklichen Lebens bildete, sich zersetzt – weil sie von der Gesellschaft absorbiert wurde, der sie sich entgegensetzte –, dann betrifft der Orientie­ rungsverlust von Kritik und Politik in verschärfter Weise auch die Künste. Denn die Künste sind die Praxis (oder die „Technik“) des Ästhetischen. Durch die postmoderne Ästhetisierung der Gesellschaft ist auch ihr lange gehegtes Selbstverständnis – das Selbstverständnis der Künste, zur Partei der Kritik und der Emanzipation zu gehören – zunichte geworden. So wie es immer die Künstler sind, mit deren Zuzug in ein armes und daher billiges Stadtviertel dessen Gentrifizierung beginnt, so sind es die Werte des Ästhetischen – die sich im künstlerischen Tun und in der künstlerischen Existenz ex­ emplarisch verkörpern –, die heute zugleich den fortgeschrittensten Produktionsformen und Konsumtionsformen des gegenwärtigen Kapitalismus zur Orientierung dienen. – Man kann dies ohne Untertreibung eine Situation äußerster Gefahr nennen: Die ­Künste drohen durch die einzige Macht zerstört zu werden, die dazu in der Lage ist – durch sich selbst; das ist die Ironie oder Tragik ihres Erfolgs. In der Situation der Gefahr hilft nur eins: die aufkommende Panik bekämpfen, der Flucht in den raschen Ausweg – also in die Resignation oder Nostalgie – die Tür ver­ sperren und in der „Eiswüste der Abstraktion“ (Adorno) die Abkühlung suchen, die ­einen wieder denken und vielleicht auch handeln lässt. Versuchen wir also zu begrei­ fen, was ist.

II. Ästhetisch und ökonomisch Worin besteht die Ästhetisierung der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft? Worin sind die postmoderne Kultur und die postindustrielle Gesellschaft „ästhetisch“? Eine geläufige Antwort lautet: weil die ästhetische Erscheinungsweise, die Darstellung für andere, die Selbstinszenierung so wichtig geworden ist für die Beurteilung von Dingen, Handlungen und Menschen; weil der ästhetische Schein, also die schöne oder interes­ sante Oberfläche, jetzt den ökonomischen Wert einer Ware, den politischen Wert einer Maßnahme und den moralischen Wert einer Person bestimmt. Auch das gibt es, aber dieses von der konservativen Kritik beklagte Phänomen der Oberflächlichkeit ist selbst vor allem eins: oberflächlich. Die Ästhetisierung der gegenwärtigen Kultur und Gesell­ schaft ist woanders zu suchen: Sie besteht darin, dass ästhetische Handlungsweisen, die ihrem modernen Verständnis nach den sozialen Praktiken entgegengesetzt waren, jetzt selbst von diesen gefordert werden. Das Ästhetische der gegenwärtigen Gesellschaft betrifft nicht nur und nicht vor allem ihre Erscheinungsweise (das Diktat des schönen

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Scheins, dem alles in dieser Gesellschaft unterworfen ist), sondern ihre Produktions­ weise. Die Idee des Ästhetischen ist eine moderne Idee – eine Idee, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Ästhetik gedacht und in den Künsten verwirklicht worden ist.2 Diese Idee bringt eine Revolution in Verständnis und Vollzug des menschlichen Tuns zum Ausdruck: Das Ästhetische sind nicht Eigenschaften von Dingen (wie Schönheit oder Vollkommenheit), sondern das Ästhetische ist ein besonderer Zustand des Men­ schen. Dieser ästhetische Zustand besteht darin, in einer bestimmten Weise tätig zu sein. Das Ästhetische ist die Idee einer anderen, einer nicht-praktischen und daher nicht-sozialen Aktivität. Für diese neue, ästhetische Weise des Tuns ist entscheidend, dass es ein Tun ohne Regeln ist. Es ist also nicht nur ein Tun nach eigenen Gesetzen oder Regeln – ein Tun, das die Regeln befolgt, die man sich selbst gegeben hat –, sondern ein regelloses Tun. Ästhetisch ist daher ein Tun, das in jedem Moment erst selbst herausfinden muss, was es will und wie es vorgehen kann. Deshalb ist alles ästhetische Tun im modernen Ver­ ständnis ein Versuch, ein Experiment ohne Rückversicherung, in dem nicht weniger als die Möglichkeit des Gelingens dieses Tuns selbst auf dem Spiel steht. Der ästhe­ tisch Tätige, beispiel- oder vorbildhaft der Künstler, ist im modernen Verständnis ei­ ner, der alle Gewissheiten außer Kraft setzt und mit allem experimentiert – mit Mate­ rialien, Formen und Situationen und darin immer auch mit sich selbst: „Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein“, lautet Nietzsches radikale Kon­ sequenz aus der modernen Idee des Ästhetischen.3 Diese ästhetische Idee einer anderen Tätigkeit, diesseits oder jenseits von Regeln und Gewissheiten, ja, jenseits von Zwecken und Mitteln (und daher auch jenseits der Gesellschaft und ihres Guten), findet in den modernen Künsten ihre konsequenteste Verwirklichung. Die Moderne versteht die Künste nicht von ihren Werken her, als For­ men der Vollkommenheit oder Darstellungen der Wahrheit, sondern die Werke von der ästhetischen Tätigkeit her, durch die sie hervorgebracht wurden und durch die sie aufgefasst und erfahren werden. (Produzenten und Rezipienten der Kunst sind glei­ chermaßen ästhetisch tätig oder als ästhetisch Tätige sind sie gleich.) Aber ästhetisch tätig kann man nicht nur in der Kunst sein. Ästhetisch, also regellos, experimentell, ­ un- oder asozial tätig, ist auch, wer einen neuen Gedanken denkt, eine neue Lebens­ weise erprobt, eine alte Ordnung umstürzt und eine neue erkämpft. Genau dies, das nach dem Selbstverständnis der Moderne das Ästhetische aus­ zeichnete – alle Gewissheiten und Regeln außer Kraft zu setzen und Experimente zu machen –, macht der postindustrielle Kapitalismus der Gegenwart zum ökonomi­ schen Imperativ. Das alles Verändernde, ebenso Destruktive wie Kreative – also: die ­ästhetische Natur – des Kapitalismus haben schon Marx und Engels im Kommunistischen ­Manifest beschrieben. Aber das ging im industriellen Regime des Kapitalismus noch mit strikter Disziplinierung – mit der moralischen Selbstdisziplinierung des Bourgeois und der militärgleichen Disziplinierung der Arbeiterheere – einher. Unsere postindustrielle, postmoderne Gegenwart beginnt genau in dem Moment, in dem

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der Kapitalismus erkennt, dass es mit der ästhetischen Handlungsform des Experiments besser geht. Ja, dass die Parole „Keine Experimente!“, mit der die durch sich selbst ­verschreckten Bürger in der Nachkriegszeit beruhigt wurden, dem Wesen der Kapita­ lismus zutiefst fremd ist und dass er dem ästhetischen Handeln, das die moderne Kunst praktiziert hat, zutiefst verwandt ist. Das ist die Einsicht, die der Ökonom und Jurist Franz Böhm in einem der wegweisenden Traktate des deutschen Neoliberalis­ mus bereits im Jahr 1966 festgehalten hat: Als die weltweite studentische Protestbewe­ gung die Idee des Ästhetischen gegen die bestehende Gesellschaft mobilisierte, er­ kannte Böhm, der Anti-Marcuse, dass das Ästhetische gar keine antikapitalistische Utopie, sondern ein gutes Modell für die Fortentwicklung der kapitalistischen Gesell­ schaft ist. Denn hier gilt für jeden: „Er muß experimentieren.“4 Damit ist die neue Rolle des Ästhetischen in der gegenwärtigen postindustriellen oder nachdisziplinären Gesellschaft bestimmt. Die Rolle des Ästhetischen in der ­klassischen bürgerlichen Gesellschaft, der Gesellschaft der Industrie und Disziplin, war die der Ideologie, des schönen Scheins. Seine Lust am Schönen bestätigte den ­Bürger darin, dass es in seiner Gesellschaft mit rechten Dingen zugehe – dass, wie Kant  schrieb, „der Mensch in die Welt passe“.5 Und zwar nicht deshalb, weil alles in dieser Welt richtig und gut ist; gerade das glaubte der Bürger ja nie, deshalb verändert er sie dauernd. Die ästhetische Lust am Schönen war vielmehr die Lust des Bürgers an sich selbst: Sie war nicht die Freude über ein vollkommenes (und daher wahres) Werk, sondern Ausdruck der inneren Harmonie des Menschen, des Zusammenpassens seiner gesellschaftlichen Form und seines natürlichen Seins oder Triebs – seines ­Verstandes und seiner Sinnlichkeit. Die Rolle der Kunst in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft bestand darin, dem Bürger ein Feld der Betätigung zu bieten, in dem er als versöhnt erfährt, was in seinem Alltag einander fremd gegenübersteht. Die Kunst ­versetzt uns aus der Entfremdung, die wir im Alltag von Ökonomie und Politik er­ leiden, in ein „drittes Reich“ (Schiller), in dem das Soziale und das Natürliche als ein­ ander entsprechend, füreinander gemacht erscheinen – also: indem sie so zu sein ­scheinen. Der neoliberale Imperativ „Du musst experimentieren!“ protokolliert einen funda­ mentalen Rollenwechsel des Ästhetischen in der bürgerlichen Gesellschaft: den ­Wechsel von der ästhetischen Ideologie der Harmonie und Versöhnung zur ästheti­ schen Produktivkraft von Flexibilität und Experiment, Innovation und Imagination. Niemand braucht mehr das Ästhetische als das Feld einer ebenso trügerischen wie utopischen Erfahrung der Versöhnung des in der Gesellschaft Entfremdeten. Die ­Gesellschaft ist jetzt selbst ästhetisch; sie operiert, und das heißt vor allem: produziert, auf ästhetische Weise. Der Künstler ist nicht das Gegen-, sondern das Urmodell des ökonomisch Produktiven. – Die gegenwärtige Krise der Kunst und des Ästhetischen ist selbst gemacht: eine Folge ihres Erfolgs.

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III. Experimente der Freiheit Kann die Kunst dieser gesellschaftlichen Aneignung des Ästhetischen etwas entgegen­ setzen? Eignet der Kunst eine Gegenkraft zu ihrer Inanspruchnahme als Modell so­zialer Produktivität? Worin liegt die Kraft der Kunst? Das ist die existenzielle Frage, vor der die Kunst heute steht – und die sie beantworten muss, wenn sie sich gegen die Ästheti­ sierung von Kultur und Gesellschaft behaupten können will. „Daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch im Verhältnis zum Gan­ zen, nicht einmal ihr Existenzrecht“ – diese grundsätzliche Infragestellung der Kunst, mit der Adorno vor über vierzig Jahren seine Ästhetische Theorie eröffnet hat6, hat sich heute noch einmal und entscheidend zugespitzt. Sie betrifft jetzt nicht mehr nur das Existenzrecht, sondern die schiere, bloße Existenz der Kunst: Gibt es noch Kunst? Das heißt, kann die Kunst in der nachdisziplinären Gesellschaft der Ästheti­sierung noch die Kraft der Differenz, die Kraft zu Differenz und Distanz zur Gesellschaft, aufbieten? Die Frage so zu stellen, legt eine bestimmte Antwort nahe und schließt andere Antworten aus. Das ist zum einen die „kritische“ Antwort, dass die Kunst zu einem Medium der sozialen Analyse und der politischen Aktion werden müsse, zum anderen die „mimetische“ Antwort, dass die Kunst die ästhetisierte Gesellschaft durch ihre ­bloße Verdopplung und Wiederholung vorführen könne. Und am allerwenigsten ist für die Kraft der Kunst von Nostalgien und Eskapismen zu erwarten, die die Kunst aus spirituellen, religiösen oder mythischen Quellen wiederbeleben wollen. Die Antwort dagegen, die die Frage nach der Kraft der Kunst, nach ihrer Kraft zur Differenz zur Gesellschaft, nahelegt, ist – immer noch oder wieder einmal – die Ant­ wort der Moderne; eine Antwort, die der modernen Idee des Ästhetischen treu bleibt. Ist es aber nicht exakt die moderne Bestimmung des Ästhetischen als einer regellos-ex­ perimentellen Tätigkeitsweise, die im postindustriellen Kapitalismus zur Produktions­ weise geworden ist? Diese gesellschaftliche Aneignung des Ästhetischen ist in Wahr­ heit eine Enteignung. Es geht also um eine Enteignung der Enteigner, um die Wieder­aneignung der radikalen Grundidee des Ästhetischen und ihrer Mobilisierung als ­Gegenkraft zur gesellschaftlichen Ästhetisierung. Die Parole dieser Wiederaneignung lautet: das Ästhetische gegen die Ästhetisierung. Aber dafür müssen wir sagen können, worin die moderne Idee des Ästhetischen sich von der gesellschaftlichen Ästhetisierung, die sich doch auf diese Idee beruft, ­unterscheidet. Dieser Unterschied ist zugleich klein und einer ums Ganze. Die Idee des Ästhetischen ist die Idee einer anderen Weise des Tätigseins. „Anders“ ist diese ­Tätigkeitsweise, weil sie nicht von einer (vor)gegebenen Regel, einem schon be­ stehenden Muster oder Modell geleitet ist. Die ästhetische Tätigkeitsweise bringt sich erst in ihrem Vollzug selbst hervor, sie ist also (im Wortsinn) anarchisch: Sie hat keine arché, kein Prinzip oder keinen Ursprung, der ihr vorweg geht und sie ­festlegt. Nichts anderes besagt, dass die ästhetische Tätigkeit experimentell ist. Zu experimentieren definiert die Tätigkeitsweise in der kapitalistischen Gesell­ schaft nicht weniger als in der Kunst: Beide gibt es nur als Experimente. Aber beide

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unterscheidet und scheidet, ja macht sie zu schärfsten Gegnern, dass die Experimente in der kapitalistischen Gesellschaft unter einer Bedingung stehen, die sie niemals in Frage stellen können; sie sind bedingte Experimente. All der Einsatz von Kreativität, Flexibilität, Fantasie und Engagement, den die postindustrielle Gesellschaft verlangt, untersteht immer weiter dem Kriterium sozialen Erfolgs, also dem Verwertungsimpe­ rativ des Kapitals, und damit der Drohung des Scheiterns.7 Um Experimente mit ­diesem Erfolgskriterium, mit dem Imperativ der Verwertung geht es niemals. Die ästhetischen Experimente der Kunst dagegen sind unbedingte Experimente. ­Jedes Kunstwerk ist in seinem ästhetischen Vollzug, der Hervorbringung oder der Er­ fahrung, ein Experiment mit der Kunst selbst – ein Versuch nicht nur, ob man Kunst so, sondern ob man sie überhaupt machen kann (ob man sie überhaupt machen und sie überhaupt machen kann). Jedes Kunstwerk ist also ein Experiment, weil jedes Kunst­ werk bei Null beginnt – ein Kunstwerk, das nicht bei Null beginnt, sondern die Kunst für gesichert und gegeben hält, ist keins. Allein in dieser Unbedingtheit, in der sie nichts, nicht einmal sich selbst, voraussetzt, liegt die Freiheit der Kunst. Die Freiheit der Kunst besteht nicht darin (wie häufig die Idee ästhetischer Autonomie verstanden wird), von äußeren Bedingungen und Vorschriften frei zu sein. Das ist die Kunst viel­ mehr nur dann und nur so lange, wie sie in einem radikaleren Sinne frei ist: frei von sich selbst, sich selbst gegenüber. So lange also, wie die Kunst sich selbst nicht für gege­ ben hält; so lange, wie das Experiment, das jedes Kunstwerk ist, ein Experiment mit der Kunst selbst ist. So frei kann die ästhetische Tätigkeit der Kunst nur sein, wenn sie jedes Mal in ­einen Zustand vor der Kunst zurückgeht: Die ästhetische Tätigkeit des Kunstmachen muss – buchstäblich – jedes Mal wieder bei Null beginnen. Dieser Nullzustand, bei oder in dem das Kunstwerk beginnt, ist der ästhetische Zustand: der Zustand, in dem die Kräfte des Subjekts nicht zu Zwecken gebraucht werden, sondern zwecklos spielen; ein Zustand des Spiels der Kräfte – in dem die Kräfte des Selbst nicht durch einen Zweck, also das Gute, bestimmt, sondern frei sind. Die ästhetische Tätigkeit der Kunst ist daher eine Hervorbringung von Formen aus dem und durch das freie Spiel der ­Kräfte. Diese Freiheit ist selbst formlos; sie ist das in sich unendliche Spiel, in dem jede Formbildung zugleich Formauflösung (und wieder Formneubildung und wieder Form­auflösung) ist. Die ästhetische Tätigkeit der Kunst besteht daher darin, Formen aus Formlosigkeit hervorzubringen. Das ist das Experiment, das die Tätigkeit der Kunst, will sie gelingen, stets wieder neu durchführen muss: Sie muss sich im Prozess der Formierung dem aussetzen, was ihr Ziel, die Form, aussetzt und in Frage stellt. ­ Das künstlerische Experiment ist ein Experiment mit dem Bruch der Form – nicht durch eine andere, neue Form, sondern durch keine Form, durch die Formlosigkeit oder Unform als dem Grund aller Form. Jedes Kunstwerk ist also ein Experiment, weil es die Möglichkeit der Kunst selbst erprobt. Es erprobt die Möglichkeit, aus dem Zustand ästhetischer Freiheit etwas, ein Werk, zu schaffen. Weil diese Möglichkeit ebenso sehr eine Unmöglichkeit ist – denn der ästhetische Zustand ist der Rausch entfesselter Kräfte (Nietzsche), die

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„Entwerkung“ (Foucault) aller Formen –, ist die Existenz des Kunstwerks und damit der Kunst grundsätzlich ungewiss. Jedes Kunstwerk ist ein Experiment mit der Kunst selbst, denn jedes Mal, wenn die ästhetische Tätigkeit der Kunst anhebt, ist erneut ­ungewiss, ob sie gelingen und damit, ob es die Kunst geben kann. Während die öko­ nomischen und sozialen Experimente, zu denen die postindustrielle Gesellschaft jeden Einzelnen zwingt, unter der Bedingung stehen, dass sie niemals diese Gesellschaft selbst, ihr Grundprinzip des Erfolgs, betreffen dürfen – sie sind keine Experimente mit der Gesellschaft, sondern Experimente der Notwendigkeit oder des Schicksals –, sind die ästhetischen Experimente der Kunst Experimente der Freiheit, weil sie unbe­ dingt oder absolut sind: Sie stehen unter keiner Bedingung, nicht einmal unter der, dass es Kunst gibt (und geben soll). Die Krise der Kunst, das Infragestehen ihrer Exis­ tenz, ist also die Kraft der Kunst. Die Krise und die Kraft der Kunst sind eins. Was kann und soll die Kunst in einer Gesellschaft tun, die die Potenziale des Ästhe­ tischen nicht mehr nur zu Spektakeln der Ablenkung und Erholung, sondern mehr und mehr als Produktivkraft nutzt, die sich also das Ästhetische, das ihr entgegenge­ setzt war, angeeignet hat? Wenn die Frage nach der Kunst in der gegenwärtigen Gesell­ schaft lautet: Was tun?, dann kann die Antwort auf die Frage nach dem Was nur im Wie liegen. Die Kunst widerstreitet der Ästhetisierung, der sozialen und ökonomi­ schen Aneignung des Ästhetischen, indem sie der Idee des Ästhetischen treu bleibt. Es kommt nicht darauf, was die Kunst sagt, zeigt, vor- oder darstellt, sondern wie sie es tut: Die Kraft der Kunst liegt im Wie ihres Tuns – in der ästhetischen Freiheit ih­ rer ­Tätigkeit. Dieser Beitrag ist gekürzt erschienen unter dem Titel „Krise und Kraft der Kunst sind eins. Die Kunst im gegenwärtigen Kapitalismus“, in: Frankfurt im Takt. Magazin der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, 2013/2, S. 14–19. 1 2 3 4 5 6 7

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Einige der einschlägigen Diagnosen versammelt Teil I in: Menke / Rebentisch 2010. Ich fasse im Folgenden Überlegungen zusammen, die ich ausführlicher erläutert habe in Menke 2008 und Menke 2014. Nietzsche 1988, Aphorismus 319, S. 551. Böhm 1966, S. 89. Kant 1924. Adorno 1974, S. 9. Franz Böhm sagt das ganz klar: „Die Nötigung für jeden Menschen sein individuelles Planen und Verhal­ ten auf die Pläne anderer und auf die gesellschaftlichen Daten abzustimmen, ist in der gesellschaftlichen Situation selbst gegeben: wer sich unter Gleichberechtigten bewegt und der Natur nicht autark gegenüber­ steht, sondern auf seinesgleichen angewiesen ist, der muß sich an die Gesellschaft anpassen. Der Zwang geht hier von einer Situation, nicht von einer politischen Autorität aus. Wer nicht autark ist, aber das Recht besitzt, autonom zu planen und zu handeln, dieses Recht jedoch in einer Gesellschaft von Men­ schen ausüben muß, die ebenso autonom sind, wie er selbst, muß die freien Reaktionen freier Mitmen­ schen auf sein eigenes freies Handeln in Rechnung stellen: die gleiche Freiheit aller übrigen setzt der Freiheit eines jeden eine immanente Grenze und bedeutet insofern für einen jeden freien Beteiligten eine Art von Zwang“ (Böhm 1966, S. 89).

“HE MUST EXPERIMENT” – ART IN PRESENT-DAY CAPITALISM

“HE MUST EXPERIMENT” – ART IN PRESENT-DAY CAPITALISM Christoph Menke I. The paradox of aestheticization Art’s current situation in society forms a paradox: from the social and cultural point of view, art has never been more successful since the advent of Modernism. For that very reason, it is completely unclear what art is – indeed, whether it should even exist. Art has presumably never been as visible and present as it is today. Art is not found in the margins of society; art is found everywhere in its centres, and is made in all forms, in all places and at all times. As a result, however, art has become a mere part of the social process, one more of the many forms of communication that ­constitute society: an economic commodity, a contribution to political opinion, a cultural event for the purpose of entertainment, relief and recreation. Accordingly, for  the society into which art is beginning to dissolve, the values and attitudes of the aesthetical – formerly confined the area of art – have become determinant patterns. The aesthetical no longer designates the cultural counter-figure or counter-move­ ment, but is now the model of society. The aesthetical has thus become a medium in the economic valorization process to which society is increasingly reduced. Art’s ­crisis is its success; the social and cultural ascent of the aesthetical to the status of guiding principle robs it of its force. The present state of the society thus described announced itself in the ‘postisms’ of the 1970s: present-day society is referred to as “post-Fordist”, “post-industrial”, “postmodern”.1 In various registers, these terms mirror a pervasive change in modern, civil or capitalist society through the aestheticization of feeling, experience and behav­ iour. Aesthetic “values” such as creativity, self-fulfilment, innovation, which above all in the protest movements of the 1960s were directed against the authoritarian struc­ tures of what at the time – in a surge of overly enthusiastic hope (and belief in one’s own strength) – was called “late capitalism” have meanwhile, in postmodern capital­ ism, become decisive productive forces. Aesthetic ideals are evolving into social imper­ atives: now, you must be creative and innovative – not because some new ethic is prescribing it, but because in this competitive world it is essential for the economic and social survival of individuals and national economies alike. The critique of society, and the politics that promote that critique, thus face an entirely new situation: that critique lost its orientation when the libertarian ideas of a free and happy life turned into economic imperatives – ideas that took the image of the aesthetical, from Romanticism to the avant-gardes, as their orientation. An ethic of mere social justice and human rights will undoubtedly be incapable of compensat­ ing for this dissolution of the political ideal. However, if the reason for the loss of the political ideal is not simply lack of courage and fantasy, if the reason for its dissolution

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is that the idea of the aesthetical itself is disintegrating (because it is being absorbed by the society it opposed), then the loss of critique’s and politics’ orientation pertains to art all the more acutely. Because the arts are the praxis (or the “technique”) of the aesthetical. Through the postmodern aestheticization of the society, the long-cher­ ished self-conception of the arts – the self-conception that they belong to the party of criticism and emancipation – has been shattered. It is always the artists whose arrival in poor and therefore inexpensive city districts triggers the gentrification of those ­districts. In like manner, it is the values of the aesthetical – exemplarily embodied in artistic action and in artistic existence – that today serve the most advanced produc­ tion and consumption forms of present-day capitalism as orientation. – It is no under­ statement to call this a situation of the utmost danger: the arts are threatened with destruction through the only power capable of destroying them – themselves. That is the irony or the tragedy of their success. In situations of danger, only one thing helps: to cope with the rising sense of panic, to lock the door on escape into an easy way out – i.e. resignation or nostalgia –, and to try to cool down in the “ice desert of abstraction” (Adorno) so as to be able to think, and perhaps even act, again. So let us try to understand what is.

II. Aesthetic and economic What does the aestheticization of present-day culture and society consist of ? In what way are the postmodern culture and the post-industrial society “aesthetic”? One typi­ cal answer is: because the aesthetic appearance, the presentation for others, the staging of the self, has become so important for the evaluation of things, actions and people; because the aesthetic exterior, i.e. the beautiful or interesting surface, now determines the economic value of a commodity, the political value of a measure and the moral value of a person. That holds true as far as it goes, but the phenomenon of superficiality lamented by conservative critique is, more than anything else, superficial. The aestheti­ cization of the culture and society of the present is to be sought elsewhere: it consists in the phenomenon that aesthetic courses of action which, according to their modern conception, opposed social practices, are now themselves demanded by those prac­ tices. The aesthetic quality of present-day society has to do not only, and not primarily, with its mode of appearance (the dictate of the beautiful appearance to which every­ thing in this society is subjected), but with its mode of production. The idea of the aesthetical is a modern idea, an idea that since the end of the eight­ eenth century has been thought in aesthetics and realized in the arts.2 This idea gives expression to a revolution in the conception and execution of human action: it is not the properties of things (such as beauty or perfection) that constitute the aesthetical, but rather the aesthetical is a special state of the human being. This aesthetic state con­ sists in being active in a certain manner. The aesthetical is the idea of a different, nonpractical and therefore non-social activity.

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Of decisive importance for this new aesthetic mode of action is that it is action without rules. It is thus not simply a mode of action according to its own laws or rules – action that follows rules it has stipulated itself – but rather rule-less action. Aesthetic action is therefore action that at every turn first has to find out for itself what it wants and how it can proceed. In the modern conception, all aesthetic action is therefore an endeavour, an experiment without reinsurance, in which the possibility of the action’s success, no less, is at risk. In the modern conception, the aesthetically active person, paradigmatically or exemplarily the artist, is someone who overrules all conscience and all experiments with everything – with materials, forms and situations, and thus always also with himself: “We want to be our own experiments and guinea-pigs” is for Nietzsche the radical consequence of the modern idea of the aesthetical.3 This aesthetic idea of a different activity, on this or the far side of rules and certain­ ties – indeed, beyond purposes and means (and therefore also beyond society and its good) – finds its most consequential realization in the modern arts. Modernism does not understand the arts on the basis of their works, as forms of perfection or depic­ tions of truth, but the works on the basis of the aesthetic activity through which they have been created, and through which they are grasped and experience. (Producers and recipients of art are equally aesthetically active or as aesthetic actors they are equal.) But not only in art is it possible to be aesthetically active. Anyone who thinks a new thought, tries out a new lifestyle, overthrows an old order and carves out a new one is also aesthetic, i.e. rule-less, experimental, unsocial or asocial. Precisely that which, in the self-conception of modernism, distinguishes the aestheti­ cal – the suspension of all certainties and rules and the performance of experiments – is what makes the post-industrial capitalism of the present an economic imperative. Already Marx and Engels described that all-changing nature, destructive and creative to equal degrees – i.e.: the aesthetic nature – in the Communist Manifesto. In the indus­ trial regime of capitalism, however, that still went hand in hand with strict discipline – with the moral self-discipline of the bourgeois and the military-like discipline of the workforces. Our post-industrial, postmodern present begins precisely in the moment in which capitalism recognizes that things go better with the aesthetic form of action: the experiment. Indeed, when it realizes that the slogan “No experiments!” – used to comfort the self-intimidated citizens in the post-war period – is utterly foreign to the fundamental nature of capitalism, and that it bears a profound affinity to the aesthetic action practiced by modern art. That is the insight set forth by the economist and jurist Franz Böhm as early as 1966 in one of the pioneering treatises of German neoliberal­ ism: when the worldwide student protest movement mobilized the idea of the aesthet­ ical against the existing society, Böhm – the anti-Marcuse – recognized that the aes­thetical is not an anti-capitalist utopia at all, but a good model for the further develop­ ment of the capitalist society. Because here it holds true for everyone: “He must ­experiment.”4 The new role of the aesthetical in the present-day post-industrial or post-discipli­ nary society is thus defined. The role of the aesthetical in the classical bourgeois

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s­ ociety, the society of industry and discipline, was one of ideology, of beautiful appear­ ances. The pleasure it took in the beautiful confirmed to the citizen that everything was being done properly in his society – that, as Kant wrote, “the human being fits into the world”.5 Not because everything in this world is right and good, however: the citi­ zen never believes that, and for that reason constantly changes the world. The aesthetic pleasure in the beautiful, rather, was the pleasure the citizen took in himself: it wasn’t delight over a perfect (and therefore true) work, but an expression of the inner har­ mony of the human being, of the compatibility of his social form and his natural being or instinct – his mind and his sensuality. The role of art in the classical bourgeois ­society consisted in offering the citizen a field of activity in which he finds reconciled what is otherwise, in his everyday life, mutually alien. Art moves us from the alienation we suffer in the everyday life of economy and politics to a “third empire” (Schiller) in which the social and the natural appear to correspond to one another, be made for one another – with the emphasis on appear to. The neoliberal imperative “You must experiment!” marks a fundamental change of the role of the aesthetical in bourgeois society: the change from the aesthetic ideology of harmony and conciliation to the aesthetic productive force of flexibility and experi­ mentation, innovation and imagination. No longer does anyone need the aesthetical as a field for the experience – as deceptive as it is utopian – of the conciliation of what is mutually alien in society. Society is now itself aesthetic; it operates, and that means, above all, it produces, in aesthetic manner. The artist is not the counter-model but the proto-model of the economically productive. – The present crisis of art and the aes­ thetical is of their own making: a consequence of their success.

III. Experiments of freedom Can art do anything about this social appropriation of the aesthetical? Does art possess an inherent counterforce to its utilization as a model of social productivity? Wherein lies art’s power? That is the existential question art faces today – the question it must answer if it wants to be able to hold its own against the aestheticization of culture and society. “It is self-evident that nothing concerning art is self-evident anymore, not its inner life, not its relation to the world, not even its right to exist” – this fundamental questioning of art with which Adorno opened his Aesthetic Theory more than forty years ago6 has today once again and decisively come to a head. It is no longer just art’s right to exist that is challenged, but its very existence: is there still such a thing as art? In other words, in the post-disciplinary society of aestheticization, can art still offer the power of difference, the power to differ, and distance from the society? To phrase the question in that way is to suggest a certain answer and rule out other answers: for example, on the one hand, the “critical” answer that art has to become a medium of social analysis and political action, or, on the other hand, the “mimetic” answer, that art can show up the aestheticized society merely by duplicating and

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repeating it. And as far as art’s power is concerned, the very least can be expected from nostalgias and escapisms bent on reviving art from spiritual, religious or mythical sources. On the contrary, the answer suggested by the question as to art’s power, as to its power to differ from society, is – still or once again – the answer of modernism, an answer that remains true to the modern idea of the aesthetical. But is it not precisely the modern purpose of the aesthetical as an experimental mode of action without rules that has become the mode of production in post-industrial capitalism? Society’s ­appropriation of the aesthetical is in actuality an expropriation. The concern here, in other words, is with the expropriation of the expropriator, the re-appropriation of the radical fundamental idea of the aesthetical and its mobilization as a counterforce to the aestheticization of society. The slogan of this re-appropriation is: the aesthetical contra aestheticization. If we take that route, however, we must be able to say how the modern idea of the aesthetical differs from the aestheticization of society that invoked this idea. That ­difference is both small and crucial. The idea of the aesthetical is the idea of a different mode of activity. This mode of activity is “different” because it is not guided by a ­prescribed rule or an already existing pattern or model. The aesthetic mode of activity only comes into existence through its performance; in other words, it is (literally) anarchical: it has no arché, no principle or origin to guide and determine it. That and nothing else signifies that the aesthetic activity is experimental. Experimentation defines the mode of activity in the capitalist society no less than in art. Both exist only as experiments. But what distinguishes and divides them – indeed, renders them the fiercest opponents – is that the experiments in the capitalist society are subject to a condition that they may never question; they are conditional experiments. All of the investment of creativity, flexibility, fantasy and dedication demanded by the post-industrial society is as subject as ever to the criterion of social success, i.e. the ­valorization imperative of capital, and thus to the threat of failure.7 Never is the con­ cern to experiment with this success criterion, with the imperative of valorization. The aesthetic experiments of art, on the other hand, are unconditional experiments. In its aesthetic execution, its production or experience, every artwork is an experiment with art itself – not just an experiment as to whether it is possible to make art in a certain way, but whether it can be made at all (whether it can be made at all and whether it can be made at all). In other words, every artwork is an experiment because every artwork starts at zero – an artwork that doesn’t start at zero but considers art a con­ firmed truth, a given, is not an artwork. It is in this unconditionality alone, in which it presupposes nothing, not even itself, that art’s freedom lies. The freedom of art does not consist (as the idea of aesthetic autonomy is often understood) in being free of outward conditions and regulations. Rather, art is free only when, and only as long as, it is free in a more radical sense: free of itself, towards itself. Art is free as long as it does not consider itself a given, as long as the experiment that constitutes every artwork is an experiment with art itself.

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The aesthetic activity of art can only be that free if it returns to a pre-art state every time: the aesthetic activity of making art must – literally – start at zero every time. This zero state at or in which the artwork begins is the aesthetic state: the state in which the forces of the subject are not used for purposes but come into play purpose­ lessly, a state of the play of forces in which the forces of the self are not determined by a purpose, i.e. the good, but are free. The aesthetic activity of art is therefore a pro­ cess of producing forms from and through the free play of forces. This freedom is itself formless; it is the inherently never-ending play in which every formation of form is at the same time dissolution of form (and again new formation of form and again dissolution of form). The aesthetic activity of art thus consists in producing forms from formlessness. That is the experiment that the activity of art, if it is to succeed, must ­perform anew, again and again: in the process of formation, it must subject itself to that which its goal – form – suspends and questions. The artistic experiment is an experi­ ment with the f­ racture of form – not by another, new form, but by no form, by form­ lessness or non-form as the basis of all form. Thus every artwork is an experiment because it tests the possibility of art itself. It tests the possibility of creating something, a work, from the state of aesthetic freedom. Because of the fact that this possibility is to equal degrees an impossibility – since the aesthetic state is the intoxication of unleashed forces (Nietzsche), the “unworking” (Foucault) of all forms –, the existence of the artwork and thus of art is fundamentally uncertain. Every artwork is an experiment with art itself, because every time the aes­ thetic activity of art commences, it is once again uncertain whether it will succeed, and thus whether art can exist. The economic and social experiments which the post-indus­ trial society forces every individual to perform are subject to the condition that they may never take this society itself, its basic principle of success, as their subject – they are not experiments with the society, but experiments of necessity or of fate. The aes­ thetic experiments of art, on the other hand, are experiments of freedom because they are unconditional or absolute. They are subject to no condition, not even the condition that art exists (and should exist). The crisis of art, the questioning of its existence, is art’s power. The crisis and power of art are one. What can and should art do in a society that no longer utilizes the potentials of the aesthetical as spectacles of diversion and recreation but more and more as a productive force, a society, in other words, a society that has appropriated the aesthetical that once opposed it? When the question of art in the present-day society is: “What should be done?”, then the answer to the question of “what” can only lie in the “how”. Art can interfere with aestheticization, with the social and economic appropriation of the aes­ thetical, by remaining loyal to the idea of the aesthetical. It doesn’t matter what art says, shows, presents or depicts, but how it does so: the power of art lies in the how of its action – in the aesthetic freedom of its activity.

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This contribution was published in an abbreviated German version as “Krise und Kraft der Kunst sind eins. Die Kunst im gegenwärtigen Kapitalismus” in: Frankfurt im Takt. Magazin der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, 2013/2, pp. 14–19. 1 2 3 4 5 6 7

Part I of Menke / Rebentisch 2010 assembles a number of the relevant diagnoses. In the following I will summarize the deliberations I elucidated in greater detail in Menke 2008 and Menke 2014. Nietzsche 2001, aphorism #319, p. 180. Böhm 1966, p. 89 (here trans. JR). Kant 1924 (here trans. JR). Adorno 1997, p. 1. Franz Böhm expresses this very clearly: “The necessity for every human being to tailor his individual plans and behaviour to the plans of others and to society’s data is a given in the social situation itself: anyone who moves among persons of equal rights and is not self-sufficient with regard to nature but dependent on his own kind must adapt to the society. The necessity arises here from a situation, not from a political authority. Anyone who is not self-sufficient but possesses the right to plan and act autonomously and is nevertheless compelled to exercise this right in a society of human beings who are just as autonomous as he himself must take into account the free reactions of free fellow human beings to his own free actions: the same freedom for all others sets each individual’s freedom an immanent limit and in that sense means a kind of constraint for every free individual involved” (Böhm 1966, p. 89; here trans. JR).

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Júlia Rebouças

QUASI MUSEUM, QUASI WELT – DER MAGIC SQUARE NO. 05 UND DAS TEATRO OFICINA IN INHOTIM Júlia Rebouças Im Jahr 2008 begannen meine Kuratoren-Kollegen Jochen Volz, Rodrigo Moura und ich mit der Installation von Invenção da Cor, Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe von Hélio Oiticica im Instituto Inhotim. Die Arbeit aus dem Jahr 1977 besteht aus einem Quadrat, das sich aus neun farbigen Zementwänden, einem Dach aus Metall und Glas und etwas Drahtgeflecht zusammensetzt. Diese in Gelb, Magenta, Orange, Weiß und Blau bemalten Wände bilden das, was Oiticica als Penetrável bezeichnet: eine Struktur, die den Besucher dazu einlädt, durch ihr Inneres zu gehen und die die Erfahrung von Raum, Form und Farben in menschlichen Maßstäben fördert. Oiticica entwickelte insgesamt sechs Projekte der Magic-Square-Serie, jedes eine einzigartige Kombination, was Raum und Farben betrifft. Der Künstler spielte dabei mit der Doppeldeutigkeit des Wortes square im Englischen, das sowohl eine geome­ trische Form als auch einen öffentlichen Platz bezeichnet. Die Magic Squares gehören zur Gruppe der Penetráveis, in denen die Erforschung des Raumes mittels Farbe durch den Künstler ein umweltgerechtes Maß annahm und eine Erneuerung des architekto­ nischen Raumes eröffnete: mit Aspekten eines Gartens, eines öffentlichen Platzes, ­eines Labyrinths, eines Freizeitparks oder eines Warenlagers. Diese Arbeiten begegnen den Betrachtern als Quadrate bzw. Plätze, auf denen sie Zeit verbringen können – ­entweder allein oder gemeinsam mit anderen, während sie in direkten Kontakt mit Formen, Farben und Materialien treten. Oiticicas detailliert ausgearbeitete Entwürfe bestehen aus Texten, Plänen, technischen Ausführungen, Diagrammen, Modellen und Mustern. Obwohl Oiticica Magic Square no. 05 zeit seines Lebens nie ausführte, ermöglichten die verfügbaren Unterlagen die präzise Konstruktion des Werkes.1 Besonders interes­ sierten ihn die Diskussion zur Farbgestaltung und die Frage, inwieweit Bemalung vom Raum Besitz ergreifen könnte. So gab er etwa detailliert an, wie jede Wand bemalt sein sollte, einschließlich der exakten Anzahl der Farbschichten und dem Hinweis, dass ein Besen anstelle eines Pinsels benutzt werden sollte. Um den gewünschten Farbton zu erreichen, beschrieb er genau, welche Mischung aufgetragen werden sollte. So sollte die gelbe Wand etwa aus neun Farbschichten auf einem weißen Grund bestehen, von denen die erste vertikal von unten nach oben aufgetragen werden sollte, anschließend von links nach rechts, von oben nach unten, dann wieder horizontal. Das Ergebnis ist ein dichtes Gelb mit erkennbaren malerischen Strukturen. Die anderen Wände, die den großen Platz bzw. das Quadrat bilden, sind in verschiedenen Farben gestrichen, entsprechend den ebenso detaillierten Anweisungen. In seiner künstlerischen F ­ orschung – von den konkretistischen Metaesquemas (1958), einer Gruppe von Gou­achen, zu den

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Relevos espaciais (Räumliche Reliefs, 1959) und den hybriden Núcleos (Kerne, 1960) – setzte Oiticica sich meisterhaft mit dem Thema der „Verräumlichung“ von Farbe ausei­ nander. Bewegt man sich durch und um Magic Square no. 05, nimmt man stets neue Farbeffekte wahr, eine Folge des sich ändernden Einfalls von Sonnenlicht, das etwa auf das Gelb trifft und das Magenta reflektiert. Dann wieder sieht man die blaue Spiege­ lung des lichtdurchlässigen Glasdachs auf der weißen Wand. Die Schwingung jeder einzelnen Farbe wird so aus der Entfernung physisch erfahrbar, eine körperliche Erfah­ rung, die für Oiticica weder auf das Auge noch auf eine einzige räumliche Fläche ­beschränkt bleibt. Ein Kunstwerk ist stets mit Zweifeln oder Mehrdeutigkeiten technischer und ­konzeptueller Natur aufgeladen, weshalb die Entscheidung, es permanent in einem musealen Kontext zu installieren, mit einer Reihe von Widersprüchen einhergeht. Wir sind gezwungen, dem kritischen Diskurs darüber zu folgen, wie ein Kunstwerk dieser G ­ röße der Öffentlichkeit am besten präsentiert werden sollte, ohne dabei ­seinen politischen und poetischen Gehalt zu mindern. Oiticica gehört zu einer Generation brasilianischer und lateinamerikanischer Künstler, die in den 1960er und 1970er Jahren tätig waren, als Länder wie Brasilien, Chile und Argentinien von diktatorischen Militärregimen beherrscht wurden. In die­ sem Kontext ging Oiticica in die Favelas, dekonstruierte Kleidung, tanzte, förderte den Karneval, entmaterialisierte künstlerische Themen, brachte den Samba an die Pforten des Museums, transformierte Malerei und Kino in multi-sensorische Erfahrungen, ­errichtete eine Art Baracke für Popkultur, um darin zu leben, begründete Namen und Geist der „Tropicália“-Bewegung, und schlug vor, dass das Museum die Welt sein sol­ le. All diese Lebendigkeit in einen museologischen Kontext zu stellen, erscheint gewis­ sermaßen als Verfremdung dieser Vorstellung. Als historische Referenz führe ich hier die Ausstellung „Global Conceptualism: ­Points of Origin, 1950s–1980s“ an, die 1999 im Queens Museum of Art in New York unter der kuratorischen Leitung von Luis Camnitzer, Janer Farver und Rachel Weiss stattfand.2 Aus einem gewagten kuratorischen Projekt hervorgegangen, hatte die Aus­ stellung es sich zum Ziel gesetzt, die Unterscheidung zwischen Konzeptkunst und an­ deren „Konzeptualismen“ zu etablieren. Während sich der Begriff Konzeptkunst auf die Produktion einer Periode von 1960 bis 1980 erstreckt, insbesondere in den Verei­ nigten Staaten, bezieht sich „Konzeptualismus“ auf Kunstwerke mit spezifischem kul­ turellem Hintergrund, welche die Pionierrolle der Nordamerikaner infrage stellen. Die Ausstellung vereinte Kunstwerke aus verschiedenen Regionen der Welt. Sie stellte – vielleicht zum ersten Mal öffentlich – die Vorstellung infrage, dass Kunst, die außer­ halb von Nordamerika und Europa entstanden ist, lediglich eine Variante mit regiona­ len Akzenten wäre. Heute wissen wir, dass Kunst, die auf Konzepten basiert, auf der ganzen Welt statt­ fand und auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihren Ausdruck fand. Wir stellen ­jedoch auch fest, dass es ganz unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was denn un­ ter „Konzeptkunst“ zu verstehen sei. Dies lässt sich in erster Linie auf den sozialen

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und politischen Kontext zurückführen, mit dem sich die künstlerische Produktion ­auseinandersetzen musste. Dies ist ein wesentlicher Beitrag der Ausstellung „Global Conceptualism“. Während die lateinamerikanische Produktion dieser Zeit eine Suche nach Utopia widerspiegelt und auf eine Zeit politischer Repression reagiert, bezieht sich die Konzeptkunst, die sich in den USA und Europa entwickelte, viel mehr auf ihre eigene Kunstgeschichte. Sie kritisierte die zum Fetisch übersteigerte Beziehung zum Markt und zu den Institutionen und zielte auf eine Zerstörung von Stil und Form ab, deren Ergebnis sich in der Kunst selbst entfaltete. Obwohl es der Ausstellung „Global Conceptualism“ gelang, den nordamerikani­ schen Pionierstatus in der Konzeptkunst infrage zu stellen, wurde sie doch stark ­kritisiert, da sie es unterlassen hatte, die Eigenschaften und Strategien der Produktion in anderen Teilen der Welt eingehender zu untersuchen. Stattdessen beschränkte sie sich darauf, lediglich zwei oder drei Künstler jedes Ortes zu präsentieren, die schlus­ sendlich als Ausnahmen genau jenes Kanons interpretiert wurden, dem die Ausstel­ lung doch vorgab sich entgegenzustellen. Überdies wurden die Kunstwerke ohne ­Bezug zum Kontext ihres Ursprungs gezeigt. Auf konservative Art und Weise wurden dort etwa die Objetos relacionais (Beziehungsobjekte) von Lygia Clark mittels Podest und Glasvitrine präsentiert. Der Katalog merkt dazu an: „Wir bedauern, dass […] die Sakralisierung vorsätzlich profaner Aktionen zwangsläufig im Interesse der Wieder­ herstellung dieser Geschichten erfolgte.“3 Es gibt genug Beispiele, bei denen Arbeiten von Oiticica oder anderer Künstler aus Brasilien und Lateinamerika in einem musealen Kontext gezeigt wurden, der dessen ­experimentelle und politische Eigenschaften völlig ignorierte. Es stellt sich die Frage, wie Museen und Ausstellungshäuser diese Art von Kunst präsentieren und wie sie diese etwa innerhalb der Sammlung und des Vermittlungsprogramms zum Sprechen bringen. Gehen wir einige Jahrzehnte zurück, in eine Zeit noch weit vor „Global Conceptu­ alism“. Um die Debatte zu verdeutlichen, verweise ich auf eine Geschichte der argen­ tinischen Wissenschaftlerin Ana Longoni. 1970 wurde ihr Landsmann Jorge Carballa eingeladen, eine Arbeit in der Ausstellung „Information“ zu präsentieren, die von ­Kynaston McShine im Museum of Modern Art in New York kuratiert wurde.4 Diese Ausstellung gilt heute als Meilenstein in der zeitgenössischen Kunstgeschichte, da dort unter dem Schlagwort Konzeptkunst zum ersten Mal nordamerikanische, euro­ päische sowie lateinamerikanische Künstler vertreten waren. Carballa zeigte dort die Arbeit Noches de tigres, noche de panteras. América llora, in der er drei Wahrsagerinnen ersuchte, vorauszusagen, wie die damaligen Präsidenten aller Länder auf dem amerika­ nischen Doppelkontinent sterben würden. An den Wänden hingen Bilder der Präsi­ denten, zusammen mit den Berichten der Vorahnungen. Auf dem Boden lag, als reli­ giöse Opfergabe, eine Tierhaut. Carballa dachte zunächst, dass die Ausstellung eine politische Plattform sein könnte, er war jedoch frustriert von dem, was er im Museum of Modern Art vorfand. „Bei der Ausstellungseröffnung herrschten so viel Dekadenz und skandalöser Luxus vor, dass es mich anwiderte. Die Frauen waren mit Schmuck behängt. Ich spürte, dass keinerlei Emotion zu diesen Menschen durchdringen

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­würde.“5 Schließlich entfernte der Künstler seine Arbeit aus dem Raum und warf sie in die Mülltonne vor dem Museum. Er war überzeugt, dass die Wirkung jeder künstleri­ schen Geste, so wie der seinen, egal wie gewichtig sie auch wäre, in einem Umfeld, wie er es in dem Museum angetroffen hatte, zerstört worden wäre. An diesem Abend be­ schloss er, die Kunst aufzugeben. Carballas Verzweiflung ist Ausgangspunkt für die Überlegung, wie diese Art von künstlerischer Produktion am Leben erhalten werden kann. Zugleich ist zu fragen, wie solche Arbeiten außerhalb des Kanons gelesen werden sollen, der darauf abzielt, ihren politischen Inhalt zu ignorieren. Diese Frage sollte – unabhängig von einer endgültigen Antwort – als eine Möglichkeit betrachtet werden, eine kritischere und sorgfältigere Position zu definieren. Damit kehren wir ins Jahr 2008 und nach Inhotim zurück. Meine Kollegen und ich waren überzeugt, dass Oiticicas Arbeiten wesentlich für das Verständnis zeitgenössi­ scher Kunst wären und dass ihre Präsenz in der Sammlung äußerst wichtig ist. Außer­ dem beschlossen wir, dass wir Magic Square no. 05 so aufbauen würden, dass es tat­ sächlich als eine Art Platz dienen könnte, ein Ort der Muße, ein Treffpunkt, ein Feld für Erfahrungen. Näher an der Utopie, die Oiticica im Sinn hatte, weit entfernt vom White Cube. Magic Square sollte die Welt und das Leben feiern. Unmittelbar nachdem der Aufbau beendet war, wurde die Inbesitznahme des Magic Square no. 05 zum Teil der Vermittlungsprogramme und -aktivitäten. Das Kunstwerk stellte neue Beziehun­ gen zur übrigen Sammlung her. Darunter etwa die Arbeit Through (1983) von Cildo Meireles, die nach Magic Square neue Bedeutung gewann. Sie aktivierte verschiedene neue Kraftfelder für das Museum als Sammlung, als Raum und als Institution. Es ist äußerst wichtig, Oiticicas Werk am Leben zu erhalten, um Passivität zu ver­ meiden. 2009 etwa besuchte der angesehene brasilianische Theaterdirektor José Celso Martinez Corrêa das Instituto Inhotim. Seit den 1960er Jahren führte Zé Celso mit dem Teatro Oficina sehr innovative und Grenzen überschreitende Arbeiten auf. Als er Inhotim besuchte, beschlossen wir, zusammenzuarbeiten. Das Teatro Oficina schrieb einen Text, der eigens im Rahmen des Magic Square und in Bezug zu diesem aufge­ führt werden sollte. Bei diesem Text handelte es sich um eine Adaption des Manifesto Antropófago (Anthropophagisches Manifest) von Oswald de Andrade, weshalb die Aufführung des Teatro Oficina auch Macumba Antropófaga hieß. Das Anthropophagische Manifest bietet eine poetisch-theoretische Betrachtung zum Kannibalismus als ­Bewegung des Einverleibens („essen“ oder „verschlingen und verdauen“) verschiede­ ner Kulturen, was in einer Transformation des Neuen resultiert. Die Beziehung zwi­ schen de Andrades Text und Oiticicas Schaffen ist eng und anregend. De Andrade, ­Oiticica und das Teatro Oficina kamen in einer „Macumba“ zusammen. Bei einer Macumba handelt es sich um ein Ritual afro-brasilianischer Religionen, in der den orixás, den afrikanischen Gottheiten, im Austausch für ein Ansuchen, eine Bitte oder als Dank für eine erwiesene Gunst, verschiedene Gaben dargebracht werden. Bei diesen Gaben handelt es sich für gewöhnlich um Lebensmittel, Blumen, Cachaça, Parfum oder Kerzen, die auf Keramiktellern in ganz eigener Zusammenstellung

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­präsentiert werden, je nach Vorliebe der jeweiligen orixá. Eine Macumba kann neben den Opfergaben auch die Darbietung von Musik und Tanz umfassen. Im Grunde ­genommen handelt es sich um ein synästhetisches Ritual. Das Ritual der Macumba, aufgeführt vom Teatro Oficina, verfolgte das poetische Ziel, Tabus umzuformen, eine der grundlegenden Ideen des Manifests von de Andrade. Jede Szene, jeder Tanz, jede Musik und jede Handlung diente dem Zelebrieren des wichtigsten Tabus: des Tabus der Freude. Die Synergie mit Oiticicas Werk war damit vollkommen. Die Gruppe nutzte die Arbeit nicht als Szenario, sie spielte damit. Mehr als vier Stunden lang wurde Magic Square von Indios, Farben, Kannibalismus, Mythen, Musik, Feijoada und Cachaça, Freiheit und Transformation beherrscht. Transforma­ tion mittels Freude. Andere kathartische Veranstaltungen folgten. So war Magic Square zum Beispiel Teil eines Konzerts des brasilianischen Komponisten Tom Zé, eines ­bedeutenden Namens der „Tropicália“-Bewegung. Die Installation des Magic Square im Inhotim bedeutete – mehr als der Aufbau des Werkes selbst – eine definitive Enthül­ lung der Institution, die Kunst als Begegnung, als Austausch, als Beziehung verstanden wissen will. Der Museumsraum sollte nicht Selbstzweck sein, sondern Raum für Experimente, Risiken und Freiheit bieten. Im Jahr 2010 eröffneten wir die fünf Cosmococas (1973), eine Zusammenarbeit von Oiticica und dem Filmemacher Neville D’Almeida. Doch dies ist eine andere interessante, die kuratorische Auseinandersetzung in höchs­ tem Maße anregende Geschichte. 1 2 3 4 5

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Neben einem Vintage-Modell bildet eine Gruppe von Skizzen, Notizen und Zeichnungen die ­ okumentation, die Teil der Sammlung des Centro de Arte Contemporânea Inhotim ist. D Ausst.Kat. New York / Minneapolis / Miami 1999/2000. Siehe ebd. und http://www.vividradicalmemory.org/htm/workshop/bcn_Essays/Re-writing_ Weiss_eng.pdf [Stand 15.12.2015] o. S. [27]. Ausst.Kat. New York 1970. Zit. in Longoni 2009, S. 174.

QUASI MUSEUM, QUASI WORLD – THE MAGIC SQUARE NO. 05 AND THE TEATRO OFICINA IN INHOTIM

QUASI MUSEUM, QUASI WORLD – THE MAGIC SQUARE NO. 05 AND THE TEATRO OFICINA IN INHOTIM Júlia Rebouças In 2008, together with my curator colleagues Jochen Volz and Rodrigo Moura, we began the installation of the Invenção da Cor, Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe, by Hélio Oiticica. The piece, dated to 1977, consists in a square formed by nine painted cement walls, a metal-and-glass roof and some wire fencing. Painted in yellow, magenta, orange, white and blue, the walls make up what Oiticica called Penetrável, a structure that invites the visitor to walk through its interior and ­promotes an experience with the space, the form and the colours at a human scale. Oiticica developed, in all, six projects of the Magic Square series, each one as a  unique combination in terms of space and colours. The artist played with the duplicity of the word square in English – which means a geometric shape and a public plaza. The Magic Squares belong to the group of the Penetráveis, in which the artist’s research about the occupation of space by colour took on an environmental scale, suggesting a renewal of the architectural space providing it with aspects of a garden, a public square, a labyrinth, a fun park or a warehouse. These artworks are offered to the viewer as squares where people can spend time either alone or in shared experience with others, while getting into live contact with forms, colours and materials. Fully detailed, his plans were composed of texts, blueprints, technical designs, diagrams, models and samples. Although he never executed during his lifetime the Magic Square no. 05, all the information available allowed the construction of the piece in a precise way.1 He was interested in discussing the colour in painting, and how painting could take over space. For instance, he gave details about how each wall should be painted with an exact number of paint layers, and that a broom should be used instead of a brush. In order to achieve the desired tonality, he described what mixtures should be applied to get the imagined colours. The yellow wall, for example, had to have nine layers of paint, applied over a white base, the first vertically from the bottom to the top. Diagonal layers from the bottom to the top, from the left to the right, from the top to the bottom, horizontally followed. The result is a dense yellow, with a noticeable painterly structures. The other walls forming the great square, painted in different colours were executed according to equally detailed instructions. In his artistic research, from the concretist Metaesquemas (1958), to the Relevos espaciais (Spatial Reliefs, 1959), and the hybridism of Núcleos (Nuclei, 1960), Oiticica dealt masterly with the subject of the spacializing of colour, among other issues. Moving through and around Magic Square no. 05, one perceives always new colour effect due to the changing sunlight, at times shining on yellow and reflecting the magenta,

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for example. At other times, one perceives the blue reflection of the translucent glass top, projecting itself over the white wall. One is able to physically feel the vibration of each colour, as a body experience that, for Oiticica, is not limited to the eye, nor one spatial plane, at a distance. An artwork always is charged with doubts or ambiguities of technical and ­conceptual nature, and therefore the decision to install it permanently in a museo­ logical context comes along with an interesting set of contradictions. We are impelled to follow the critical discussion about how to best present to the public an artwork of this magnitude without weakening its political and poetic content. Oiticica belongs to a generation of Brazilian and Latin-American artists who produced in the 1960’s and 1970’s, a period in which countries such as Brazil, Chile and Argentina lived under military dictatorial regimes. In this context, Oiticica went up to the favelas, deconstructed clothes, danced, promoted carnival, demateri­ alized arts matter, brought samba to the museum’s entrance, transformed painting and cinema in multi-sensorial experiences, built a shanty house for pop culture to live in, forged “Tropicalia’s” name and spirit, proposed that the museum be the world. It seems alienating the idea of putting all this liveliness in a traditional museum context. As a historical reference, I would like to remember the exhibition “Global Con­ ceptualism: Points of Origin, 1950–1980”, at the Queens Museum of Art in New York, in 1999, curated by Luis Camnitzer, Jane Farver and Rachel Weiss.2 Deriving from a risky curatorial project, the exhibition had the goal to establish the differ­ ence between Conceptual Art and other “conceptualisms”. While the term Concep­ tual Art refers to the production of a period of 1960 to 1980, notably in the United States, “conceptualisms” refer to artworks coming from distinct cultural backgrounds, questioning North American’s pioneering role. The exhibition brought together artworks from different regions of the planet. It questioned, maybe for the first time publicly, the idea that art developed outside North America and Europe was merely a ramification with regional accents. Today it’s clear for us all that art based on concepts was all over the world and rebounded in diverse ways. However, we also notice that in each place there are ­different notions and understandings of what was to be called “Conceptual Art”, this especially due to the social and political context that the artistic production had to deal with. This is a major contribution of the show “Global Conceptualism”. While the Latin-American production of the period points to a search for utopia and reacts to a time of political repression, the Conceptual Art that emerged in the United States and in Europe referred much more to art’s own history. It bent the fetichized relation with the market and the institutions and aimed at a stylistic and formal despoilment, whose result unfolded in art itself. Although the exhibition “Global Conceptualism” was able to criticize the idea of the North-American pioneering nature in Conceptual Art, still, it was criticized as fragile and conservative for not examining deeper the qualities and strategies of the

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production in other parts of the world, restricted to presenting just two or three ­artists from each place, who ended up being interpreted as exceptions in the canon. The canon to which the show itself intended to oppose. Moreover, the artworks were showed without any relation to the context of its origin. In a conservative fash­ ion, it imposed to Objetos relacionais (Relation Objects) by Lygia Clark, for instance, the enclosure of a pedestal and a glass display. The catalogue recognized: “We regret that, unavoidably, […] the sacralization of intentionally profane acts has occurred in the interest of recovering these histories.”3 It isn’t hard to remember several examples in which Oititica’s work specifically and Brazilian or Latin-American art in general were exhibited in museum contexts that ignored completely its experimental and political qualities. One needs to ques­ tion the way how museums show this sort of works as well as how they articulate it within the collection and the educational programs, for instance. Let’s go back some decades, to a period even before “Global Conceptualism”. ­ In order to illustrate this debate, I’d like to refer to a story told by the Argentinian researcher Ana Longoni. In 1970, her compatriot Jorge Carballa was invited to ­present an artwork in the show “Information”, curated by Kynaston McShine, at Museum of Modern Art in New York.4 This exhibition is today recognized as a true landmark in contemporary art history for showing for the first time, under the motif of Conceptual Art, North-American, European as well as Latin-American artists. Carballa took to “Information” the piece Noches de tigres, noche de panteras. América llora, in which he asked three future tellers to predict how the presidents of each country in the Americas, at the time, would die. Pictures of each country’s president were hung on the walls along with the premonitions narratives. On the floor, as a religious offer, laid an animal skin. Carballa thought the show could be a political platform, but he felt frustrated by what he found at Museum of Modern Art. “On the opening of the exhibition, it was so much decadence and such scandal­ ous luxury that I felt disgust. Women covered in jewellery. I felt that no emotion would reach that people.”5 The artist, then, took his work out of the room and threw it in the trashcan outside the museum. He thought that any artistic gesture as his, no matter how strong, would have its power aniquilated in an environment such as the one he had encountered in the museum. That night he decided to abandon art. Carballa’s desolation serves as matter to reflect on how to keep this sort of pro­ duction alive. At the same time, we must ask how one should read such production outside the canon that insists in ignoring its political content. This question, far from a final answer, should be seen as light to clarify a more critical and careful posture. Thus, we return to Inhotim in 2008. My colleagues and I were convinced that Oiticica’s work is fundamental for the understanding of contemporary art and that its presence in the collection is of great importance. Furthermore, we decided that we should install Magic Square no. 05 in such a way that it could actually be used as a square, as a space of leisure, a meeting area, as an experience field. Closer to the utopia Oiticica had in mind, far from the White Cube. Magic Square should

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c­ elebrate the world and life. As soon as its construction was finished, the occupa­ tion of Magic Square no. 05 immediately became part of educational programs and activities. The artwork established new relations with the rest of the collection. Among these, for example, one can point to Through (1983), by Cildo Meireles, which gained new meanings after Magic Square. It activated a series of force fields new to the museum as a collection, as a space and as an institution. It is fundamental to keep Oiticica’s work alive. The installation of Magic Square no. 05 in Inhotim did not finish with the conclusion of the construction. In 2009, for instance, renowned Brazilian theatre director José Celso Martinez Correa vis­ ited Inhotim. Since the 1960's, Zé Celso has performed with Teatro Oficina an immensely, innovative and irreverent work. When he visited Inhotim, we decided to work together. Teatro Oficina produced a text specially to be performed at Magic Square and in relation to it. This text was an adaption of the Manifesto Antropófago (Antropophagous Manifesto), by Oswald de Andrade. And the performance by Teatro Oficina was thus called Macumba Antropófaga (Anthropophagic Macumba). The Antropofagus Manifest theorizes poetically about anthropophagy as a movement of incorporating (“eating”, or “devoring and digesting”) different cultures resulting in the transformation of the new. The relation between Oswald de Andrade’s text and Oiticica’s production is close and stimulating. De Andrade, Oiticica and Teatro Oficina came together, then, in a “macumba”. In a briefly explanation, macumba is a ritual in afro-brazilian religions, in which several gifts are offered to the orixás, the African deities, in exchange for a demand, a request or in retribution to a grace received. The gifts are usually food, flowers, cachaça, perfumes, candles, offered in ceramic plates, in singular assemblages depending on the taste of each orixá. The macumba, besides, the offers, can also include the performance of music and dance. It’s basically a synaesthetic ritual. The ritual of the “macumba” performed by Teatro Oficina had the poetic inten­ tion of transforming tabus, one of the central ideas of de Andrade’s manifest. Every scene, dance, music and actions converged to the celebration of the most important tabu: the tabu of joy. The synergy with Oiticica’s work was complete. The group didn’t use the work as scenario, they played with it. For over four hours, Magic Square was occupied by Indians, colours, cannibalism, myths, music, feijoada and cachaça, freedom, transformation. Transformation through joy. Other cathartic events fol­ lowed. For instance, Magic Square had the presence in a concert of the Brazilian composer Tom Zé, a fundamental name of “Tropicália”. The installation of Magic Square in Inhotim, more than the construction of the work as such, meant a definite disclosure of the institution to think art as encounter, as exchange, as relationship. The space of the museum should not be fetichized, it should be a space of experi­ mentation, risks and freedom. In 2010, we opened the five Cosmococas, from 1973, by Oiticica in partnership with filmmaker Neville D’Almeida. This is another story, very interesting and instigating for the curatorial debate.

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A group of sketches, notes and drawings, besides a vintage model, composes the documentation that is part of Inhotim’s collection. Exh.Cat. New York / Minneapolis / Miami 1999/2000. See ibid. and http://www.vividradicalmemory.org/htm/workshop/bcn_Essays/Re-writing_Weiss_eng. pdf [accessed 15 December 2015] o. P. [27]. Exh.Cat. New York 1970. Quoted in Longoni 2009, p. 174.

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PENETRÁVEL PN 14: PROPOSITIONEN ZUR TEILHABE 34 JAHRE SPÄTER Marie Sophie Beckmann / Marenka Krasomil Unter dem Werkbegriff Penetrável, der sich aus den portugiesischen Begriffen penetrar (durchdringen, eindringen) und impenetrável (undurchdringlich) ableitet, schuf Hélio Oiticica mehrere Installationen, die ein Begehen und Erleben der Werke nicht nur er­ möglichen, sondern voraussetzen. So entstanden Architekturen der sinnlichen Erfah­ rung, in denen die Rezeption zur Interaktion und damit zum Teil des Kunstwerks wird. Das Penetrável PN 14, das Oiticica 1979 konzipierte, war ursprünglich für den Cen­ tral Park in New York bestimmt. Zu Lebzeiten des Künstlers wurde das PN 14 jedoch nie realisiert. Anhand von detaillierten Skizzen und Aufzeichnungen konnte die Au­ ßeninstallation 2013 für die Retrospektive „Hélio Oiticica. Das große Labyrinth“ im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main im Frankfurter Palmengarten aufgebaut werden. Über den Zeitraum von sechs Wochen kuratierten Studierende des Masterstudien­ gangs „Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik“ ein Performance- und Film­ programm für das Penetrável und luden KünstlerInnen ein, Werke zu entwickeln, die sich mit den spezifischen Strukturen sowohl des PN 14 als auch des Palmengartens aus­einandersetzen. Ziel war es, Oiticicas Werk an die Gegenwart zu binden und seine ­Aktualität auf die Probe zu stellen. Dabei traten wesentliche Fragen zur kuratorischen Praxis auf: Kann ein Kunstwerk zur Plattform weiterer künstlerischer Aktivitäten ­werden und wie verhält es sich dazu? Ganz im Sinne Oiticicas versuchten wir, Propositionen zu entwerfen, die seine Ideen von Partizipation und erfahrungsgeleiteter künst­ lerischer Arbeitsweise aufgriffen und weiterdachten. Nicht selten wurden wir durch die Arbeitsstruktur eines Teams von elf gleichberechtigten KuratorInnen an die Grenzen der Übereinstimmung und des Machbaren getrieben. Dabei stellten sich Kontroversen als Spannungsgeber, aber auch als produktive Momente heraus. Oiticicas Penetrável PN 14 und der Ort seiner Realisierung, der Palmengarten, führte auch zu Fragestellungen, die den öffentlichen Raum betreffen: Was bedeutet es, wenn von einem physischen Raum im Sinne eines Parks ausgegangen wird, der sich als Bil­ dungsangebot und Ausflugsziel versteht und nicht primär als Raum im öffentlichen und politischen Interesse? Ausgehend von der Ansicht, dass Kunst im öffentlichen Raum die Aufgabe zukommt, Debatten mitzugestalten und Fragen zur demokratischen Ge­ sellschaft aufzugreifen,1 sollte das Penetrável PN 14 durch den kuratorischen Eingriff zu Kunst im öffentlichen Raum werden. „Das Penetrável wird gleichzeitig von seinem Umraum durchdrungen und von ihm umgeben. Aber davon abgesehen, in welchen Zusammenhang lässt sich das Penetrável stellen? […] Welchen Sinn hätte es, ein Penetrável an irgendeinem Ort aufzustellen, auf einem öffentlichen Platz gar, ohne nach Möglichkeiten der

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Integration zu suchen und Vorbereitungen zu treffen, seiner Einheitlichkeit etwas ­entgegenzusetzen?“2 Oiticica schrieb über seine Penetráveis, dass diese zwar von dem sie umgebenen Raum eingeschlossen und durchdrungen werden, aber dennoch ihre spezifischen Eigen­ heiten beibehalten. Daraus ergab sich für den Künstler selbst die Frage, inwiefern der Ort der Präsentation, ob im Museum oder im öffentlichen Raum, auf die Struktur eines Penetrável einwirkt. Insofern dienten als Ausgangspunkt der kuratorischen Arbeit auch Oiticicas zahl­ reiche Texte und Manifeste sowie die intensive Auseinandersetzung mit den spezifisch performativen und partizipatorischen Aspekten seines Werkes. Oiticica verfasste kom­ plexe theoretische Schriften zu seinen eigenen Arbeiten, aber auch allgemein zum Ver­ hältnis von Kunst, Gesellschaft und Politik, und entwickelte einen ganz eigenen Kunst­ begriff. Schon zu Lebzeiten an seinen Nachlass denkend, archivierte er alles, was er schuf, in akribischer Manier. Dies ermöglicht heute einen umfassenden Einblick in sein Denken. Oiticica entwickelte Propositionen, die er sowohl in den musealen Kon­ text als auch in öffentliche Plätze, Straßen und Parks überführte. Hierbei ist sein Ver­ ständnis von Partizipation besonders progressiv: „Oiticicas Kunst ist als sozialkritische Milieudichtung und kulturelle Reflexion entstanden, sie verlangt nach einer steten Kommunikation von Objekt und Subjekt.“3 So wird die Teilnahme der Betrachter nicht nur in den Penetráveis zum integralen Bestandteil des Werkes und zur Vorausset­ zung für seine Realisierung: Gemeinsam mit dem Filmemacher Neville D’Almeida ­entwickelte Oiticica ein Quasi-Cinema: multimediale Environments aus MehrfachProjektionen und Sound, in denen die Betrachter sich auf Matratzen, in Hängematten oder gar Schwimmbecken niederlassen, und die als entrückte Erfahrungsräume Paral­ lelwelten entstehen lassen. Mit den Parangolés führte Oiticica das den Penetráveis inne­ wohnende Konzept einer räumlichen, erfahrbaren Struktur noch einen Schritt weiter: Die aus Stoff gefertigten Capes sollen am Körper getragen werden und erfahren erst in der Bewegung und im Tanz ihre vollständige Entfaltung. Der Ausgangspunkt des kuratorischen Konzepts war es, die spezifische Idee der Teilhabe, die Oiticica immer wieder formuliert hat, in die heutige Zeit zu übersetzen. Leitgedanke war, zeitgenössische KünstlerInnen einzuladen, deren Arbeitsweisen ­Anknüpfungspunkte an Oiticicas Kunstverständnis boten, wobei nicht alle von ihnen mit dem künstlerischen Werk des Brasilianers vertraut waren: So wurde unter anderem an Oiticicas Kunstverständnis angeknüpft, das sich vom rein materiellen Objekt hin ­ zu phänomenologisch-affizierenden Situationen öffnet und auch an die politische ­Relevanz von Oiticicas Werk erinnert, das Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität und sozialem Rang ins Wanken brachte. Wichtig war dabei zum einen, dass die zeitgenössischen Positionen ihre volle ­Autonomie bewahren konnten und nicht durch den vorgegebenen Rahmen dominiert ­wurden. Zum anderen mussten sowohl die physischen Grenzen von Oiticicas Werk als auch die Grenzen der Interpretation geachtet werden. Dazu wurden im Besonderen die folgenden Fragen diskutiert: Inwieweit kann in Oiticicas künstlerisches Werk

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e­ ingegriffen, inwieweit können materielle Interventionen zugelassen werden? Was ­bewirken permanente Eingriffe in die Architektur des PN 14? Einigung wurde darüber erzielt, dass keine Objekte als Ausstellungsstücke in das PN 14 gebracht und keine ­permanenten Veränderungen an der Struktur des Penetrável vorgenommen werden sollten. Der Fokus wurde darauf gelegt, die Installation durch ephemere Eingriffe und körperliche Präsenz zu beleben. Denn nur so konnte das PN 14 zur Bühne temporärer Ereignisse werden, auf der Berührungspunkte zu Oiticicas Werk in Performances, Tanz, Lectures und Filmen aufgezeigt werden konnten. Drei Leitsätze, die aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Oiticicas Werk re­ sultierten, gliederten das kuratorische Programm. Unter dem Titel Seja marginal, seja herói (Sei ein Außenseiter, sei ein Held) wurden Performances und Installationen vom Künstlerkollektiv Kristallo, von Jochen Dehn und von Simon Speiser präsentiert. Die Performance Kristallo – Fließen und Forschen zeigte alternative Lebenswelten, in der die Gesellschaft in homogener esoterischer Verbindung lebt. Im Sinne Oiticicas wurden hier gängige sozialpolitische Muster aufgegriffen und in einen anderen Kontext trans­ formiert. Im gemeinsamen Erleben der Performance wurde deutlich, dass Kristallos Welt zwar als reine Utopie zu verstehen ist, jedoch wie jede Utopie viel über real exis­ tierende Verhältnisse aussagt. An die Außenwände des Penetrável wurden zudem Filme von Mika Rottenberg, Pauline Boudry und Renate Lorenz, Pola Sieverding und Jack Smith projiziert. Unter dem Titel Para organizar deilirio (Um das Delirium zu organisieren) boten die Gruppe Arty Chock sowie die Künstlerinnen Félicia Atkinson und Sunah Choi Performances dar. Das Frankfurter Performance- und Theaterkollektiv Arty Chock be­ fragte mit pindorama // obra em progresso die Strukturen des Palmengartens und wies auf mögliche Formen von Exotismus und kolonialer Bereicherung hin. Ergänzt wurde das Programm durch weitere Filme von Pola Sieverding, Henning Frederik Malz, Anna Margit Erber und Jack Smith. Am Abend des MMK Sunset wurden Performances der Künstlerin Vaginal Davis und der Künstlergruppe Kollektivmaschine gezeigt. Wetterbedingt wurden diese an ­einen überdachten Ort verlegt. Im Tropicarium Trockene Tropen zeigte Kollektivma­ schine ihre Sound-Performance Dancing and Demonstrating, in der sie die völlige Auf­ hebung von Grenzen zwischen innen und außen, Form und Inhalt anstrebte. So wie Oiticicas Penetrável erst durch den Besucher eine Vollendung als Kunstwerk findet, so rekurriert Kollektivmaschine auf die Einbeziehung der BetrachterInnen. A pureza é um mito (Reinheit ist ein Mythos) brachte Tanz, Sound und LecturePerformances von Hannah Dewor, Ricardo Domeneck und Alan B. Brock-Richmond und Bernhard Schreiner. Domeneck erkundete den Körper in all seinen Funktionen: als bio­logischen Organismus, als Objekt der Lust und als politische Kraft. Ähnlich wie sich Oiticica mit dem Körper als künstlerischem Medium auseinandergesetzt hat, ­untersucht auch Domeneck dessen Prägungen durch Kultur und durch seinen sozialen Standpunkt in der Gesellschaft. Die Performances wurden durch Filmprojektionen von Tamar Guimarães, Charles Simonds, Jack Smith und Sandra Kranich ergänzt.

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Während der gesamten Laufzeit des Projekts wurden wir von der in Frankfurt leben­ den Künstlerin Adrian Williams begleitet. Gemeinsam gründeten wir das Kollektiv Blauschatten und überlegten, wie wir das PN 14 nutzen möchten und welche Propositionen zur Teilhabe daraus entstehen könnten. So kamen wir im Sommer zusammen, um im Penetrável zu tanzen oder zu picknicken. Durch die Interventionen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler konnte das PN 14 über sich hinaus wahrgenommen werden, denn in der Übersetzung fand Oitici­ cas Werk Anbindung an aktuelle Diskurse. Doch auch in seinen „Ruhephasen“ bot er den Besuchern die Möglichkeit, zusammenzukommen und sich auszutauschen, wobei die Kommunikation im leeren Penetrável tatsächlich meist weniger über Sprache als vielmehr über den Körper erfolgte. 1 2 3

Deutsche, Rosalyn: The Question of „Public Space“, http://iwalewapublicspace.files.wordpress. com/2012/02/rosalyn-deutsche-_-the-question-of-_public-space_.pdf, S. 1 [Stand 01.02.2014]. Oiticica, Hélio: Notizbucheintrag, 3. Juni 1962. Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 114f. Dunker 2001, S. 3.

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THE PENETRÁVEL PN 14: PROPOSITIONS FOR PARTICIPATION 34 YEARS LATER Marie Sophie Beckmann / Marenka Krasomil Under the conceptual form Penetrável, derived from the Portuguese terms penetrar (to penetrate, to enter) and impenetrável (impenetrable), Hélio Oiticica created several installations where entering into and moving through the artwork were not just enabled, but imperative in order to experience the work. They were architectures of sensory experience, where perception became interaction, and as a result participation became part of the art work itself. When Oiticica envisaged Penetrável PN 14 in 1979 it was intended for Central Park in New York. However, PN 14 was not realised during the artist’s lifetime. Using his detailed sketches and notes it was possible to construct the outdoor installation in Frankfurt’s Palmengarten in 2013, as part of the retrospective exhibition at MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main “Hélio Oiticica. Das große Labyrinth” (Hélio Oiticica. The Great Labyrinth). Students from the Master’s programme “Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik” curated a performance and film programme for the Penetrável over a six week period, inviting artists to engage with both PN 14 and the site of the Palmengarten. The objective was to situate Oiticica’s work in the present and to explore his contem­ porary relevance. During this process key questions of curatorial praxis emerged: can an artwork become a platform for further artistic activities, and if so, what happens to the artwork under these circumstances? We took up and thought through Oiticica’s ideas surrounding participation and experientially-led artistic practice. In the course of this process – and within a team which consisted of eleven curators – it was not unusual to encounter the boundaries of both what was possible and what it was possi­ ble to agree upon. Dissent proved to be a source of both tension and productive moments. Oiticica’s Penetrável PN 14 and the location where it was situated, the Palmengar­ ten, led to questions pertaining to the realm of public space: what does it mean when it is taken as rote that a park is a public space, and yet the space where the work was exhibited does not primarily understand itself as public space in an open or political sense, but as a place of learning and a destination for day-trippers? It was hoped that curatorial intervention could enable Penetrável PN 14 to be understood as art in public space, based on the view that art in the public realm has the task of shaping debates on and taking up questions surrounding the nature of democratic society:1 “A Penetrable is simultaneously penetrated and enveloped by environmental space. But aside from this, where does one situate a Penetrable? […] What would it mean to show a Penetrable somewhere, even in a public square, without seeking to inte­ grate or prepare to counter pose it to its unitary sense?”2

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Oiticica wrote this about the Penetráveis remarking that although they are enclosed and permeated by the space that surrounds them, they nevertheless manage to retain their own singularity. For the artist this raised the question as to if the site of presen­tation, whether a museum or public space, affected the structure of the ­Penetráveis. Examining Oiticica’s numerous texts and declarations, as well as looking particu­ larly at the performative and participatory aspects of his work served as the starting point our for curatorial approach. Oiticica wrote complex theoretical texts about his own works, but also about the wider relationship between art, society and politics, developing his very own definition of art. Already thinking about his legacy during his lifetime, Oiticica fastidiously archived all that he created. Today, this allows deep insight into his thinking. Oiticica developed Propositions, which he brought to the ­context of the museum, to public squares, streets and parks. His understanding of par­ ticipation is particularly progressive: “Oiticica’s art arose as socially critical milieupoetry and cultural reflection, it demands permanent communication between object and subject.“3 Thus the participation of the viewer became essential, not only for the Penetráveis, but as a prerequisite for works to fully unfold. Together with the film maker Neville D’Almeida, for instance, Oiticica developed Quasi-Cinema: multimedia envi­ ronments with multiple projections and sound where the viewer is transported via experiential rooms – reclining on mattresses, lounging in a hammock or even floating in a swimming pool – to the point where parallel worlds seem to emerge. Oiticica’s Parangolés take the Penetráveis’ integral concept of the spatial, experiential structure one step further: the capes must be worn on the body and it is first through movement and dance that they become fully developed works. Translating Oiticica’s specific idea of participation, which he formulated time and again, served as a point of departure for the curatorial concept. The central idea was to invite contemporary artists, whose working practices connect with Oiticica’s under­ standing of art, although, not all of the invited artists were familiar with the Brazilian’s œuvre. In this manner Oiticica’s understanding of art as the purely material object opening out into the phenomenologically affective situation, as well as the political rel­ evance of his work were drawn upon, in particular his shaking-up of fixed understand­ ings of gender, sexuality and social status. It was important, firstly, that the contemporary positions were able to maintain their full autonomy and not be compromised by the set framework. Secondly the phys­ ical boundaries of Oiticica’s artwork as well as the boundaries of interpretation had to be taken into account. With this in mind the following questions were debated: to what extent can an intervention, material or otherwise, take place within Oiticica’s ­artwork? What would be the effect of a permanent intervention upon in the architec­ ture of PN 14? An agreement was reached that no works should be displayed as perma­ nent exhibits in PN 14 and that no permanent changes should be made to the structure of the Penetrável. The focus was laid instead upon ephemeral interventions and bodily presence within the installation. In this way PN 14 became a platform for temporary

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occurrences, and connections to Oiticica’s work could be reflected upon via perform­ ance, dance, lectures and films. The programme was arranged under three headings, taken from Oiticica’s writings and works. Under the heading Seja marginal, seja herói (Be an outlaw, be a hero) ­performances and installations were presented by the collective Kristallo, Jochen Dehn and Simon Speiser. The performance Kristallo – Fließen und Forschen (Kristallo – ­Flowing and Researching) showed an alternative world, in which society lived in homogenous, esoteric conjunction with one another. Akin to Oiticica, Kristallo took whole socio-political paradigms and transformed them in another context. In the ­collective experience of the performance it became clear that Kristallo’s world was to be understood as pure utopia, but like every utopia it said volumes about real, existing circumstances. On the outer wall of the Penetrável films by Mika Rottenberg, Pauline Boudry and Renate Lorenz, Pola Sieverding and Jack Smith were projected. Under the title Para organizar deilirio (To organise delirium) performances took place by Arty Chock, and the artists Félicia Atkinson and Sunah Choi. With pindorama // obra em progresso (pindorama // work in progress) the Frankfurt-based perfor­ mance and theatre collective Arty Chock questioned the structure of the Palmengar­ ten, pointing out possible forms of exoticism and colonial legacy. The programme was completed by films from Pola Sieverding, Henning Frederik Malz, Anna Margit Erber and Jack Smith. For MMK Sunset an evening of performance by the artist Vaginal Davis and the artist group Kollektivmaschine took place. Due to inclement weather the performances were relocated indoors. In the Tropicarium Trockene Tropen (Tropicarium’s Dry Tropics Glass House) Kollektivmaschine’s sound-performance Dancing and Demonstrating explored eliminating boundaries between the inner and outer, between form and content. Simi­ larly to how Oiticica’s Penetrável first fully becomes an artwork through the action of the visitor, Kollektivmaschine also made recourse to the participation of the viewer. A pureza é um mito (Purity is a myth) brought together a programme of dance, a lecture-performance and sound, respectively from Hannah Dewor, Ricardo Domeneck and Alan B. Brock-Richmond and Bernhard Schreiner. Domeneck explored the body and its functions as a biological organism, an object of desire and as a political force. In a similar vein to how Oiticica investigated the body as a artistic medium, Domeneck also examined the body’s character as conditioned by culture, and its social standing within society. In addition to the performance, films from Tamar Guimarães, Charles Simonds, Jack Smith and Sandra Kranich were shown. The Frankfurt-based artist Adrian Williams accompanied us across the whole ­duration of the project. Together with Williams we founded the collective Blauschat­ ten (Five O’Clock Shadow) and considered together how we wanted to use PN 14 and which Propositions for participation might be possible. And so, we met over the summer in the Penetrável to dance or to picnic. Through the interventions of contemporary artists PN 14 could be perceived as more than just a structure, Oiticica’s artwork became connected to current discourse.

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During its “periods of rest” the Penetrável afforded visitors the opportunity to come together and the possibility of entering into exchange with one another. Even if, per­ haps, the communication within the Penetrável occurred mostly through body lan­ guage, rather than through words. 1 2 3

Deutsche, Rosalyn: The Question of „Public Space“, http://iwalewapublicspace.files.wordpress.com/ 2012/02/rosalyn-deutsche-_-the-question-of-_public-space_.pdf, p. 1 [accessed 1 February 2014]. Oiticica, Hélio: notebook entry of 3 June 1962. English translation in: Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, p. 110. Dunker 2001, p. 3 (here trans. CM).

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KATALOG / CATALOGUE

ARTY CHOCK

ARTY CHOCK PINDORAMA // OBRA EM PROGRESSO, 2013 Arty Chock ist ein Kollektiv freier TheatermacherInnen aus Frankfurt, das ortsspezi­ fische Choreographien, theatrale Installationen und performative In(ter)ventionen entwickelt. Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Praxis ist der spezifische Ort mit sei­ nen politischen Verflechtungen und repräsentativen Durchdringungen. In ihren ­Recherchen befragen sie den jeweiligen Raum, wer oder was sich in ihm wortwörtlich ‚Raum nimmt‘: Wer darf hier sprechen?, wer sich aufhalten?, wer was tun? Seit 2009 reagieren Arty Chock auf die Machtphantasien der Frankfurter Universitätspolitik ­genauso wie auf laut ausgerufene Leuchtturmprojekte. Sie agieren an Orten wie dem Kulturcampus in Bockenheim oder den Brachen des Frankfurter Ostends. Orte, die von Zukunftsversprechungen einer neoliberalen Stadtentwicklung zwischen EZBNeubau, Zwangsräumungen und Kreativwirtschaft künden. So sind sie mitunter mit­ tendrin in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um Stadt. In ihrer ­Aufführungspraxis verschränken sich heterogene Raum- und Zeiterfahrungen mit ­kollektiven Darstellungsformen; Bewegungen zwischen Stillstand und Wiederholung mit politischen Gesten; Vorgefundenes mit Imaginärem; kritische Theorie mit ästhe­ tischer Praxis; Textcollagen mit Soundfragmenten. In ihrer für die Performance-Reihe zu Hélio Oiticica entwickelten Choreographie pindorama // obra em progresso greifen Arty Chock die Farb- und Formensprache ­Hélio Oiticicas auf und übertragen die Struktur des Penetrável als choreographische Anordnung auf die Fläche. Mit dieser imaginären Folie vermessen sieben Performer Innen den Raum zwischen geometrischen und hierarchischen Strukturen der Land­ schaftsgestaltung, kolonialen Gesten der Landnahme und – das Motiv der Anthropo­ phagie hin- und herwendend – Vorstellungen von Exotismus und bürgerlicher Gefräßigkeit. Der zunächst klar definierte Ort der Aktion – eine sich in die Weite des Raumes ­erstreckende Rasenfläche, die Oiticicas weißem, zum Himmel offenem Penetrável PN 14 Platz gibt – verschiebt sich mit der Dauer der Choreographie laufend. Im Stechschritt markieren die in Camouflage gehüllten PerformerInnen Gebiete mit Fähnchen, rufen sich Koordinaten über die Entfernung zu und hissen monochrome Stoffbahnen an den Masten, die sonst von der Invasion der Neuen Welt künden. Beständig über­ kreuzen sich militärisch anmutende und (post)koloniale Zitate mit den sieben ihnen entgegengesetzten großen Leinwänden aus bunt leuchtenden Farben, die – in immer neuen Konstellationen – postiert, Achsen und Räume bilden, kräftige Farbreihen und Kontraste ergeben. Aus diesem Zusammenspiel entsteht eine Choreographie zwi­ schen Poesie und immer wieder aufscheinender Gewalt der Landnahme in einem imaginierten zerklüfteten Terrain (post)kolonialer politischer Landschaften.

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Arty Chock, pindorama // obra em progresso, 2013, Theater-Performance

ARTY CHOCK

Das Spiel zwischen Definitionen und deren Entzug setzt Arty Chock auch auf sprachlicher Ebene fort. Über fünf auf der grünen Fläche verteilte Lautsprecher tönt die kalte Stimme eines Navigationsgeräts mit Anweisungen, die auch die Zuschauer Innen betreffen könnten; exotisch anmutende Geräusche, die sich beim genaueren Hinhören stets als mit den eigenen Stimmen der PerformerInnen erzeugt erweisen; Fiktionen und Narrative über das wilde Frankfurter Westend, die Geschichte des ­Palmengartens und der ihm zugrunde liegenden Herrschafts- und Gartenarchitektur. In Texten und Soundflächen suchen die PerformerInnen einer Dramaturgie der ­angelegten Wege und Blickachsen nachzugehen und merken bei Parallelen zwischen Botanik- und Kolonialdiskurs auf, halten inne, brechen ab. Aus dem Rhythmus der ­Bewegung steigt immer wieder eine_r aus der Karto-Choreo-graphie aus und spricht von einer repräsentativen Position vor den Fahnenmasten ins Mikrofon: „Cut the whole space into four spaces and then and then is there a RED color, there is but it is smelled, it is then put where it is and nothing stolen. A remarkable degree of red means that a remarkable change is made.“ Anweisungen an die Landvermesser wechseln ab mit poetischen Wort(er)findungen, die an die Sprachpraxis Gertrude Steins erinnern. Es eröffnet sich nicht von ungefähr eine Analogie zur Theorie des landscape play, in welchem die Landkarte als ein Modell des Stückes gelesen werden kann: Alle Elemente – und dies ist auch auf der weiten ­R asenfläche des Palmengartens entscheidend – haben gleiche Wichtigkeit; Betonungen und Hervorhebungen erfolgen im Vollzug des Beobachtens und sind in keiner Weise vorherbestimmt. Die Live-Kartographie führt die fließenden Grenzen eines Ortes vor, der in seiner ständigen Neudefinition genauso wenig klar umrissen werden kann wie das, was der koloniale Blick über pindorama, das „Land der Palmen“ (so der indigene Name Brasiliens), verrät. Denn pindorama ist entgegen seiner exotischen Versprechungen und Vorstellungen – so ließen sich die im Titel hinzugefügten Worte obra em progresso lesen – immer in Bewegung, nie festzulegen auf die ihm vorauseilenden Bilder und ­Etikettierungen der visuellen Repräsentation. Auf der großen Rasenfläche entsteht ein in alle Richtungen offener Parcours, in dem sich die ZuschauerInnen zwischen den PerformerInnen frei bewegen können und auf die je eigenen Seh- und Hörerfahrungen vertrauen müssen.

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2013

Arty Chock sind: Anselm Buder, Sophie Burger, Fabian Eck, Florian Heller, Leon ­Gabriel, Lisa Gehring, Moritz Gleditzsch, Sara Örtel, Sophie Osburg, Julia Schade und Tim Schuster. Produktionen (Auswahl): Money Talks I–III, Hessisches Landestheater Marburg, Gessnerallee Zürich, LICHTER Filmfest Frankfurt International (2013–2015); Work in Progress, Frankfurt LAB (2012/13); Gentrifiction, zur Ausstellung „Ostend/­ Ostanfang“, Historisches Museum Frankfurt (2011); The Grand Opening Circus, mit Schwabinggrad Ballett und LALA°HEY, Bockenheimer Warte, Frankfurt am Main (2011); Kramer vs. Kramer, ehemaliges Philosophicum, Frankfurt am Main (2010); 60314, G ­ elände der ehemaligen Feuerwache am Ostbahnhof, Frankfurt am Main (2010); Which Site are you on, IG Farben Campus, Goethe-Universität Frankfurt am Main (2009). Fanti Baum / Olivia Ebert

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FÉLICIA ATKINSON

FÉLICIA ATKINSON MUSIK FÜR TON UND INSTRUMENTE, 2013 Den warmen, weichen Tonball in der Hand knetend, bewegt sich der Besucher durch das Kaktushaus – eine jener monoton manuellen Tätigkeiten, die beruhigen sollen. Die Blicke schweifen über die vielfältigen Pflanzenstrukturen und die durch das Glas­ dach hervorgerufenen Licht- und Schattenspiele. Es ist eine eigentümliche Welt dort drinnen: eine Naturerfahrung in all ihrer Unnatürlichkeit, tropische Vegetationen er­ schaffen und eingeschlossen in einem Gewächshaus. Die Kulisse des Palmengartens ist die Bühne für Félicia Atkinsons Sound-Performance. Mit ihrer Komposition aus dem Bereich Electronic, Avantgarde und Noise nimmt die auch als Musikerin und Kompo­ nistin tätige Künstlerin den Zuhörer mit auf eine Reise in andere akustische Dimensi­ onen. Durch ephemere Variationen verschiedener abstrakter Klangmuster lässt sie ­einen musikalischen Kokon entstehen. Zwischen den Pflanzenbeeten hockend, steuert Atkinson den an einen Verstärker angeschlossenen Kassettenplayer und ein Keyboard. Vor dem Musikequipment findet der Besucher zwei große Tonklumpen vor, an denen er sich bedienen darf. Die Künstlerin lädt dazu ein, den Raum zu begehen und ihn durch die Schwingungen der Musik neu zu erleben, inspiriert durch die Methode des Deep Listening. Den Begriff des Deep Listening prägte Pauline Oliveros, eine Pionierin der experi­ mentellen und elektronischen Musik in den 1950er und 1960er Jahren in San Fran­ cisco. In ihrer radikalen Neudefinition des Verhältnisses zwischen Komponist, Musi­ ker und Publikum ging es ihr um eine bewusstseinserweiternde Gruppenerfahrung als eine Sonic Meditation. Diese Methode des Hörens konzentriert sich vor allem auf die alltäglichen Geräusche, die allgegenwärtig sind, aber kaum wahrgenommen wer­ den. Inspiriert von buddhistischer Spiritualität, transformierte Oliveros die Orte ih­ rer Gruppenmeditation in offene Tempel des Zuhörens.1 In Atkinsons Performance ist der Zuhörer durch akustische und taktile Teilhabe ­aktiv am Prozess beteiligt und ein Bestandteil der gemeinsamen Hörerfahrung. Der sphärische tiefe Sound, der das Gewächshaus erfüllt und vibrieren lässt, verbindet Be­ sucher und Ort miteinander und nimmt auch die umgebenden Geräusche auf. Die ­Besucher werden zu stillen Musikern, der Ton zu Instrumenten, die Kakteen zu Zuhö­ rern: Musik für Ton und Instrumente. Die übliche Ordnung von Musiker – Instrument – Zuhörer löst sich auf. Jeder ist eingeladen, sich seine Rolle zu suchen und sich auf das kollektive sonare Erlebnis einzulassen. Atkinsons Gesamtwerk umfasst neben Musik­ performance auch Installation, Skulptur und Malerei. Die Besucher, die sich durch ihre raumgreifenden installativen Arbeiten bewegen, werden zu Protagonisten in ­einem Z ­ usammenspiel aus Zeichnung, Malerei, Skulptur und Musik. Aus vielfältigen Materialien wie Papier, Holz, Stoff, Ton und Pflanzen entstehen architektonische

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Félicia Atkinson, Musik für Ton und Instrumente, 2013, Sound-Performance

FÉLICIA ATKINSON

­R aumentwürfe, welche Elemente aus (Pop-)Kultur und Natur vereinen. Es sind ab­ strakte Erzählungen von den sinnlichen Beziehungen zwischen Mensch – Natur – ­Geschichte – Kultur und der Welt als Ausgangspunkt, die bei jedem Besucher unter­ schiedliche Erinnerungen und Assoziationen hervorrufen und sich in ihrer Ästhetik an kulturelle Rituale anlehnen. Die Künstlerin lässt das Private auf das Öffentliche ­treffen, ganz so, als verlagere sie ihr Atelier in den Ausstellungsraum. Den institutionel­ len Raum macht sie sich zu eigen, indem sie Wände, Decke, Boden und versteckte ­Ecken als Fläche nutzt, um mit größtmöglicher Freiheit zu agieren. Die scheinbar zu­ fällig entstandenen Arrangements wirken wie das Produkt einer Alltagshandlung, sind jedoch bis ins letzte Detail sorgfältig komponiert. In ihrer Fragilität und Unschuld ­wirken sie weder schwach noch naiv. Dünne Holzruten, deren Anfang und Ende mit kleinen Tonkugeln markiert ist, treffen auf grobe Malerei, die improvisiert an den Wänden oder auf dem Boden Platz findet. An der einen oder anderen Stelle bringt ­Atkinson die unterschiedlichen Materialien in ein direktes Abhängigkeitsverhältnis ­zueinander: etwa die ungerahmten Zeichnungen der Installation Doppelgänger – Muca Roma (2013) , die den Eindruck vermitteln, lediglich durch an die Wand gelehnte Holzbalken gehalten zu werden. Das Zerbrechliche, so Atkinson, besitze eine große Anziehungskraft für den Menschen. Félicia Atkinson (* 1981 in Paris) lebt und arbeitet in Rennes. Sie ist Mitbetreiberin des Verlags Shelter Press, unterrichtet an der École européenne superieure d’art de Bretagne und ist als Musikerin, Autorin, Kuratorin und freie Künstlerin tätig. Ihre ­Arbeiten zeigte sie in zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen, u. a: „Animals“, Hectoliter Gallery, Brüssel (2016); „& A Forest“, 8-11, Toronto (2016); „Manifolds“, Kunsthalle Charlottenborg, Kopenhagen (2016); „Ceramics and Graphite“, Chert, Berlin (2015); „Like Water Like Love“, Krets Gallery, Malmö (2015); „Cyan Whisper“, Land and See, Oakland, Kalifornien (2015); „Grey ­W hisper“, Saprophyt, Wien (2014); „The Last Frontier“, Oslo 10, Basel (2014); „Butte Magic of Ignorance“, Muca Roma, Unam, Mexico (2013); „Tabu“, im Rahmen der R ­ esidency Off Documenta 13, Tokonoma Apartment, Kassel (2012); „Je Suis Le Petit Chevalier“, Le Bon Accueil, Rennes (2012); „Things that Disappear in the Sun“, Rue Blanche, ­Antwerpen (2012). 2013 gewann sie den Émile & Stéphy Languy Prize des Young ­Belgian Art Prize. Miriam Bettin 1

Vgl. Overton 2013.

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CHARMING FOR THE REVOLUTION,

PAULINE BOUDRY / RENATE LORENZ CHARMING FOR THE REVOLUTION, 2009 Das Künstlerduo Pauline Boudry und Renate Lorenz erforscht Geschlechterrollen, Fragen der sexuellen Identität und Selbstermächtigung und beleuchtet die Geschichte sexueller Diskurse. Dabei bedienen sich die Künstlerinnen der Medien Installation, Film und Fotografie. Ihre Filme nehmen sie hauptsächlich mit 16-Millimeter-Filmma­ terial auf, oft nur ein einziges Mal, um den performativen Charakter zu bewahren. Häufig arbeiten sie dabei mit dem Performer und Drag-Künstler Werner Hirsch ­zusammen. So auch in Charming for the Revolution (11:00 Min.). Das Video wurde ursprünglich im Rahmen des Festivals „Live Film – Jack Smith“ produziert, das 2009 in Berlin zum zwanzigsten Todestag und zu Ehren des amerikani­ schen Regisseurs Jack Smith (1932–1989) stattfand. Angelehnt an die Werke des Fil­ memachers, mit denen sich auch Hélio Oiticica insbesondere während seiner Zeit in New York intensiv auseinandersetzte, lassen Boudry und Lorenz die Hausfrau als eine Figur nichteindeutigen Geschlechts erscheinen. Die Kulisse bildet zunächst ein unbe­ ackertes Feld, in dessen Hintergrund monotone Plattenbauten aufragen. Am Bildrand erkennt man das stählerne Gerüst eines Strommastes. Neben diesem taucht plötzlich der Performer auf. In grauer Bügelfaltenhose, weißem Hemd und schwarzer Biker-Leder­ jacke stellt er sich breitbeinig vor der Kamera auf. Um seiner Männlichkeit mehr Aus­ druck zu verleihen, kickt er kurzerhand einen auf dem Feld liegenden Müllsack aus dem Bild, zieht kräftig die Nase hoch und schaut herausfordernd in die Kamera. Sein Haar hat er seitlich über den Kopf gekämmt. Er glättet es noch einmal und zieht dann eine kleine Sammlung von Zetteln aus der Innentasche seiner Jacke. Mit angestrengt lauter Stimme liest er von diesen ab: „We housewives, they make us work for free, but in return, we don’t get anything for free!“1 Es sind Statements der „Wages for House­ work“-Kampagne, die an die feministischen Forderungen der 1970er Jahre erinnern. Die Zettelwirtschaft in der Hand des Mannes flattert ständig im Wind, dann fällt sie ihm aus der Hand. Er hebt sie mit einem genervten Stöhnen wieder auf und fährt fort mit seinen Kundgebungen. Plötzlich knistert es neben ihm. Die Kamera fokussiert einen anderen Mann links auf dem Feld. Es ist derselbe Performer, doch diesmal im eleganten cremefarbenen Anzug, mit Hut und Gehstock, den ein Entenkopf als Griff ziert. Auf seinem Arm trägt er eine Schildkröte wie einen Chihuahua. Das Tier ist ­angeleint. Wie ein Dandy des 19. Jahrhunderts im stillen Kampf gegen den immer schneller werdenden Zeittakt der Industrialisierung schreitet er gemächlich und wür­ devoll über das Feld. Der Mann, der die Rede der Hausfrauen hält, macht irritiert ­weiter. Indes zieht der Dandy farbige Tücher, Pareos, und prächtige Federboas aus dem Müllsack, den er gerade entdeckt hat. Mit weiß behandschuhten Händen legt er sich die Boa um den Hals und setzt einen pompösen mit Federn besetzten Hut auf.

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PAULINE BOUDRY / RENATE LORENZ

So ­zurechtgemacht, führt er seine Schildkröte über das Feld spazieren und erinnert ­dabei mehr an einen Travestie-Künstler als an einen Dandy. Die Kulisse wechselt in einen Tierpark. Der Dandy, der nun einen riesigen Vogel­ kopf und dazu eine Damenhandtasche trägt, hält den Pelikanen denselben Vortrag wie zuvor der Mann in der Lederjacke. Dieser platziert sich derweil auf dem Stahlgerüst des Strommastes, um dort von oben auf die Kamera herab zu dozieren. Auch der ­Vogeldandy hat es sich auf dem Gerüst gemütlich gemacht und fächert sich langsam mit einem großen Federfächer Luft zu, während er dem immer lauter werdenden ­Geschrei lauscht. Plötzlich setzt Rockmusik ein und der Mann in der Lederjacke tanzt ausgelassen über das Feld, während eine Frauenstimme zum Gitarrensound „I am a, you are a lover, fighter, mother, bitch!“ singt. Die Videoarbeit Charming for the Revolution ist eine augenzwinkernke Hommage an Smith, der seine Filme stets mit Zitaten aus der Popkultur anreicherte und häufig eben­ falls zeitgeschichtliche Bezüge in seinen Filmen herstellte. Boudry und Lorenz haben in Bezug auf ihre Filme dafür die Begriffe „Temporal Drag“ und „Queer Archeology“ ge­ wählt, da ihre Performer mithilfe von Posen und Objekten Verbindungen zwischen verschiedenen zeitgeschichtlichen Momenten herstellen.2 Gleichzeitig ist Charming for the Revolution ein Verweis auf Smiths eigene Form der Gender-Kritik. Die Figuren bil­ den auf den ersten Blick einen starken Gegensatz: die hart arbeitende Hausfrau und der gemütliche Dandy. Das Paradoxe ist ihre Erscheinung. Während die betont masku­ line Figur sich für die Rechte der Hausfrauen stark macht, wird der Dandy Schritt für Schritt immer weiblicher. Die schon fast ins Lächerliche gezogene Szenerie steht in der  Tradition der in den 1960er Jahren aufkommenden und von Künstlern wie Jack Smith, John Vaccaro oder Ronald Tavel beeinflussten „Theater of the Ridiculous“-Be­ wegung, die der überkommenen Polarität des ‚Männlichen‘ und des ‚Weiblichen‘ mit beißendem Spott gegenübertritt.

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2009

Pauline Boudry (* 1972 in Lausanne) arbeitet als Künstlerin und Musikerin und ist Teil der Band Rhythm King and her friends. Renate Lorenz (* 1963 in Bonn) arbeitet als Autorin und Künstlerin, lehrt Queerund Gendertheorie und ist Professorin für Kunst und Forschung an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Seit 1998 arbeitet das Duo an gemeinsamen Projekten, wie I want (2015) mit einer Performance von Sharon Hayes, Opaque (2014) mit Performances von Werner Hirsch und Ginger Brooks Takahashi und Toxic (2012), ebenfalls mit Performances von Werner Hirsch und Ginger Brooks Takahashi. Ihre Arbeiten wurden u. a. in der Kunsthalle Zürich, der Kunsthalle Wien, dem Badischen Kunstverein in Karlsruhe und dem Centre d’Art Contemporain in Genf gezeigt. Elena Frickmann 1 2

Boudry / Lorenz 2011, S. 1943. Stages: A Conversation Between Andrea Thal, Pauline Boudry, and Renate Lorenz, Berlin, September 2010. http://www.boudry-lorenz.de/static/files/Stages-%20A%20Conversation%20Between%20 Andrea%20Thal,%20Pauline%20Boudry,%20and%20Renate%20Lorenz,%20Berlin,%20September%20 2010.pdf [Stand: 07.10.2015].

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Pauline Boudry / Renate Lorenz, Charming for the Revolution, 2009, 16-mm-Film, HD, 11:00 Min. (mit dem Performer und Drag-Künstler Werner Hirsch)

Alan B. Brock-Richmond / Bernhard Schreiner, Galaxy Quadrant, 2013, Sound-Performance

GALAXY QUADRANT, 2013

ALAN B. BROCK-RICHMOND /  BERNHARD SCHREINER GALAXY QUADRANT, 2013 Resonanz- und Klangkörper, codierte akustische Signale, Soundarchitekturen: In ihren Arbeiten erforschen Alan B. Brock-Richmond und Bernhard Schreiner, die sowohl ­einzeln als auch zusammen als Künstler und Musiker tätig sind, die minimalistische Perspektive in der Konstruktion von Ton, Raum und Sound-Performance als ein im Hier und Jetzt zeitbasiertes audiovisuelles Experiment. Dadurch entsteht ein Spiel der gezielten Interventionen sowohl mit räumlichen Gesetzen als auch mit den Wahrneh­ mungskapazitäten der Rezipienten. Ihr Sound ist laut und flächig und inspiriert vom Minimalismus und von der Intensität der Drone-Musik. Beide denken Klang nicht nur als Hörerfahrung, sondern beziehen den spezifischen architektonischen Raum, den Körper und die Visualisierung von Sound in anderen Medien wie der Grafik mit ein. Schreiners künstlerische Praxis hat sich allmählich und fließend vom Film hin zum Sound entwickelt. In beiden Kategorien arbeitet er mit Found-Footage, das er zu ei­ nem neuen Ganzen zusammensetzt: bewegte Bilder, Klänge, Fotografien, Referenzen an die und Artefakte aus der Musikgeschichte. Das vorgefundene oder selbst aufge­ nommene Rohmaterial dient als Speicher von versteckten Inhalten und Bedeutungen. Durch Modulationen werden diese wieder aufgedeckt und neu interpretiert. So ent­ steht eine Plattform der audiovisuellen Dekonstruktion. Auch Brock-Richmond hinterfragt gegebene Strukturen und Beziehungen zwischen Orten und Zeiten. Der Moment als Ausschnitt aus einer Gesamtheit und als persönli­ che Erfahrung ist ein sich wiederholendes Motiv in seinen Kompositionen. Durch das Collagieren von ortsspezifischen Soundelementen – Rauschen, Murmeln, Grillenzir­ pen – und die Vermischung mit eigenen akustischen Signalen entstand zuletzt das Ge­ meinschaftsprojekt The Encryption Garden im Garten des Städel Museums in Frankfurt am Main. Für den Palmengarten entwickelten Brock-Richmond und Schreiner die improvisier­ te 4-kanalige Live-Sound-Performance Galaxy Quadrant, die die spezifischen struktu­ rellen Eigenschaften des Penetrável nutzte und erforschte. Der Begriff ‚galaktischer Qua­ drant‘ stammt aus der Astronomie und bezeichnet einen von vier Kreissektoren als Einteilung der Milchstraße. Durch ein im Raum verteiltes Soundsystem wurden kompo­ sitorische Elemente empfangen und weitergeleitet. Wabernde Soundteppiche, ein Kni­ stern, ein Plätschern, düstere Klänge wie aus einer nichtweltlichen Sphäre kombiniert mit verdichtetem Bass- und experimentellem Gitarrensound: Durch die Klangentwick­ lung in Echtzeit bot sich die Möglichkeit für einzigartige improvisierte Kompositionen, die je nach Position im Raum, aus Wettergründen in den überdachten Pavillon Haus Ro­ senbrunn verlegt, variierten und sich im galaktischen Koordinatensystem verorteten.

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ALAN B. BROCK-RICHMOND / BERNHARD SCHREINER

Alan B. Brock-Richmond (* 1970 in Fresno, Kalifornien) lebt und arbeitet in Sequim, Washington. Nach einem Kunststudium am Monterey Peninsula College in Monterey, Kalifornien, und einem Diplom für Audio Production an der University of Washington in Seattle studierte er von 2010 bis 2013 bei Douglas Gordon an der Staatlichen ­Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, Frankfurt am Main. Seine Performances waren in Museen und Theatern sowie auf internationalen Festivals zu sehen, u. a.: The Encryption Garden (mit Bernhard Schreiner), Städel Museum, Frankfurt am Main (2014); Abdominal Quadrant, Frankfurt Schauspiel (The Box), Frankfurt am Main (2014); „Pashmina“, Absolventenausstellung der Städelschule, MMK Zollamt, ­Frankfurt am Main (2014); „trace loops“, MMK Museum für Moderne Kunst Frank­ furt am Main (2014); Donau Festival Krems (2013); Club Transmediale Berlin (2013). Bernhard Schreiner (* 1971 in Mödling bei Wien) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in Berlin. Von 1991 bis 1998 studierte er bei Peter Kubelka an der Staatli­ chen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, Frankfurt am Main, wo er spä­ ter Lehrbeauftragter für Film und Video wurde. Er hat zahlreiche Filme im Bereich des Dokumentar- und Experimentalfilms produziert und Filmprogramme in Deutsch­ land, Österreich und Italien kuratiert. Von 2006 bis 2012 war Schreiner Kurator des Steirischen Herbstes. Zu sehen waren seine Arbeiten in Gruppen- und Einzelaus­ stellungen, u. a.: „presently“, Neugerriemschneider, Berlin (2016); „VOIDs“, Kai ­Middendorf Galerie, Frankfurt am Main (2016); „Old News, New Debts“, Kunsthalle Lingen (2012); „White Noise and Reveberation“ (mit Joep van Liefland), Kunstverein ­Augsburg (2011); „Stolen from my subconcious“, Kunst-Werke Berlin (2011); ­„Holding Patterns“, Galerie Kai Middendorff, Frankfurt am Main (2010). Miriam Bettin / Yanna Varbanova

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COMPOSITION T, 2013

SUNAH CHOI COMPOSITION T, 2013 In ihrer Performance aus der Reihe Composition T nutzte Sunah Choi die Wände des Penetrável PN 14 als Projektionsflächen, auf denen bewegte und unbewegte Bildele­ mente aus konstruierten und natürlichen Materialien aufeinandertrafen. So interagier­ ten lebende Insekten mit gesammelten Fundstücken auf der Arbeitsfläche eines Over­ headprojektors. Bunte Kunststoff- und Zuckerperlen wurden durch die kriechenden und hüpfenden Steppengrillen hin- und herbewegt. Choi selbst arrangierte und vari­ ierte die Bilder aktiv durch das Hinzutun oder Wegnehmen von Hölzern, Blättern, geo­ metrischen Grundformen und Projektionsfolien an einem zweiten Overheadprojektor, sodass eine choreographierte Abfolge von Schattenbildern entstand. Das Material er­ zählt dabei auch immer etwas über den Ort, an dem die Künstlerin gerade arbeitet. Sie ist eine Sammlerin von Formen und Strukturen im Stadtraum. Neben den Fundstü­ cken und ornamentalen Mustern verwendete sie in Composition T auch Naturstudien der Frankfurter Naturforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian (1647–1717). Darüber hinaus ließ Choi ein eigens erstelltes Dia-Archiv mittels Diaprojektor sichtbar werden, das fotografierte arrangierte Objekte umfasst, die an die Arbeiten László ­Moholy-Nagys (1895–1946) erinnern: geometrische Grundformen, Licht- und Schat­ tenspiele, aus der Tradition des Origami stammendes gefaltetes Papier, drapierte Seile, Spiegelscherben und Aufnahmen des Universums. In der Abenddämmerung des P­almengartens fand durch die Orchestrierung Chois ein stimmungsvolles Licht- und Schattenballett der Dinge unter freiem Himmel statt. Auch Hélio Oiticia schuf mit ­seinen Cosmococa-Installationen, bestehend aus Diaprojektionen und einem Sound­ track sowie wahlweise Hängematten, Sitzkissen, Matratzen oder auch Schwimmbe­ cken, besondere Orte der Ruhe und Sinneserfahrung. Das Komponieren, Zusammenstellen und Arrangieren von Beziehungen und ­Elementen ist ein Hauptmerkmal von Chois Arbeit. Indem sie Objekte in projizierte Bilder auflöst, verdichtet und überlagert, erforscht sie die ästhetische Qualität von ­Natur- und Alltagsgegenständen. Ausgangspunkt für Chois Materialrecherche ist ihre Auseinandersetzung mit kulturellen Aneignungsprozessen. In ihren Videos, Perfor­ mances, Installationen, Fotografien und Zeichnungen hinterfragt die Künstlerin Vor­ stellungen und traditionelle Wahrnehmungsmuster, im Besonderen, welche Bilder Kulturen im kollektiven Gedächtnis voneinander gespeichert haben. Dabei gibt Choi keine bestimmte Lesart vor. So ließ Choi beispielsweise Muster der jahrhundertealten asiatischen Wohnkultur mit der Ästhetik des Bauhauses und des Modernismus kollidieren. In ihren Studien untersucht Choi das Wesen kultureller Identifikations­ merkmale, Natur sowie Technologie und löst ästhetische, formale und inhaltliche Grenzen auf.

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SUNAH CHOI

Sunah Choi (* 1968 in Busan, Südkorea) lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, Frankfurt am Main (bei Thomas Bayrle) und an der Slade School of Fine Art, UCL, London. Zuletzt wa­ ren ihre Arbeiten in nationalen und internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, u. a.: CAB Contemporary Art, Brüssel (2015); Galerie Johann Widuaer, ­Innsbruck (2015); Ethnologisches Museum, Berlin (2015); Galerie Mezzanin Wien (2014); Nassauischer Kunstverein Wiesbaden (2013); Neuer Berliner Kunstverein /  TANAS, Berlin (2013); Istituto Svizzero Roma, Rom (2013); Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main (2012); Museum of Art, Busan (2012); KUMU Art Museum, ­Tallinn (2011); Kumho Museum of Art, Seoul (2011); Witte de With, Rotterdam (2010). Miriam Bettin / Marenka Krasomil

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Sunah Choi, Composition T, 2013, Performance

VAGINAL DAVIS

VAGINAL DAVIS LESBI TROPICÁLIA – TEA AND SYMPATHY, 2013 Anhand von Fakten, Verleumdung und ausgesprochenen Phantasien zerstört die Queer-Performance-Künstlerin Ms. Vaginal Davis normative Erwartungen. Bekannt wurde sie in der Punkszene der frühen 1980er Jahre in Los Angeles als Klartext ­sprechende Performerin, Videokünstlerin und Queercore-Zine-Macherin. Zu dieser Zeit gab sie durch ihre HAG Galerie, die sie von 1982 bis 1989 in ihrer Wohnung in Hollywood betrieb, Magazine (Zines) wie Fertile LaToyah Jackson und Shrimp ­heraus. Sie war entschlossen, jede ästhetische Norm zu durchbrechen. Seitdem unterwandert Ms. Davis mit einer Vielzahl von eigens erschaffenen ­Charakteren die Mainstream-Assimilierung der Drag-Kultur. Als Latina-Frontfrau der Band ¡Cholita! The Female Menudo oder als Sängerin der Popgruppe The Afro Sisters bringt Ms. Davis Theorien von Gender, Ethnie und Gesellschaftsschichten gründlich durch­ einander. Ms. Davis ist als unnachahmliche Gastgeberin bekannt. Im Berliner Arsenal – Insti­ tut für Film und Videokunst etwa ist sie in einer ihrer manierlicheren Inkarnationen als Dame des Hauses in der Kino-Serie Rising Stars, Falling Stars zur Legende geworden. In dieser Rolle ist Ms. Davis auch im Frankfurter Palmengarten aufgetreten. Im Rahmen des Performance- und Filmprogramms im Penetrável PN 14 präsen­ tierte Ms. Davis an einem Abend Lesbi Tropicália – Tea and Sympathy, eine „Lesbian ­Separatist“ Tee-Party im englischen Stil, wie sie die Performance selbst nannte.¹ Die Dame liebt Picknicks, sodass die Performance für das offene Penetrável PN 14 geplant war. Doch das Wetter spielte nicht mit und die Vorstellung nasser Kekse fand Ms. ­Davis höchst unappetitlich. Die Suche nach einem würdigen Ersatzort führte schließ­ lich zu den Trocken-Tropen-Räumen des Tropicariums – einem perfekten Gegenpol zum saftigen Stil der Performance. Die Sonne ging an einem Ort unter, der zugleich heißer als Miami und kühler als das Foyer des Ritz-Hotels war. Um Punkt 19 Uhr bildete das Publikum eine Schlange, aus der die Besucher zu einer fünfminütigen Privataudienz mit der Grande Dame des Terrorist Drag abgeholt wurden. Am Eingang des oktogonalen Warteraums stand der charmante Mr. Alex, gekleidet in Frack, Turban und türkisen Schal, und sorgte im Stil eines besoffenen Butlers für Ordnung. Wenn man glücklich an den Anfang der Schlange gelangt war, traf man auf die beeindruckende Türsteherin Ms. Johanna, die den beglückten socialistas und socialistos in einem stilvollen Abendanzug den Arm bot, um sie durch den „Dschungel“ zu geleiten. Es ertönte „Tropicália“-Musik aus den 1960er Jahren, ein Soundtrack, den Ms. Davis aus den Beständen ihrer „Tropicália“-Sammlung persönlich zusammenge­ stellt hatte.

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Vaginal Davis, Lesbi Tropicália – Tea and Sympathy, 2013, Performance

VAGINAL DAVIS

Tief im Inneren des Tropicariums trat schließlich Ms. Davis in Erscheinung. Bemer­ kenswert der großzügige Ausschnitt ihres roten Ballkleids sowie die maßgeschneider­ ten Rick-Owens-Schuhe. Ms. Johanna bot den Gästen an, auf einem reich verzierten Stuhl Platz zu nehmen. Der mit einer wilden Mischung aus feinem Porzellan gedeckte Tisch erstrahlte in diskretem Kerzenlicht, das einem möglicherweise errötenden Ge­ sicht die Chance bot, unentdeckt zu bleiben. Die zwei Plätze am Tisch waren jeweils mit einem Teller mit Blumenmuster, einer Teetasse, einer steifen Stoffserviette und ei­ nem edlen Teelöffel ausgestattet. Nun näherte sich die Baby-Dyke Ms. Sonja, gekleidet in Schwarz mit türkisen ­Accessoires, mit einer silbernen Teekanne und goss im Samowar gekochten Tee in die Tassen. Der Tee hatte Darjeeling zu sein, laut Ms. Davis „the champagne of tea“. Es bot sich an, etwas Milch zum Tee zu geben und sich mit einer silbernen Zange einen herzförmigen Zuckerwürfel auszusuchen. So tropisch das Setting, so auch die Tisch­ dekoration: Auf der weißen Tischdecke lagen Perlen, Feigen und Physalis. Eine Etagere war mit köstlichen Leckereien gefüllt: Gurken-Sandwiches ohne Kruste und Short­ bread, Kekse aus dem schottischen Hochland. Frankfurt erlebte zum ersten Mal eine englische Tee-Party in brasilianischem „Tropicália“-Stil in Gegenwart einer Gast­ geberin aus Los Angeles. Am besten ließ man seine Hemmungen im Warteraum, denn hatte man einmal Platz genommen, las Ms. Davis aus Requiem for Fanny Goldmann vor, einem aufreizen­ den Roman der österreichischen Autorin und Lesben-Ikone Ingeborg Bachmann, ­deren goldgerahmtes Porträt den ganzen Abend über auf dem Tisch stand. Tea and Sympathy, also Tee und Mitgefühl, für Ingeborg. Cheers! Während meiner eigenen Begegnung mit Ms. Davis sprachen wir über den Raum: „Do you like my forest? I'm not done with the place. But I did tidy up!“ und darüber, wie wichtig es im deutschsprachigen Raum ist, jemandem direkt in die Augen zu schauen, wenn man anstößt: „Don't want to risk 77 years of bad sex. I mean even 7 minutes would be too much!“ Ich genoss die schottischen Kekse und fragte sie, wie sie so fabulous geworden sei. Sie antwortete: „Oh, I was born this way! Fully sized and wearing high, high heels.“ Dann war plötzlich Ms. Johanna wieder da und brachte mich zurück zum Warteraum. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Geheimnis einer so intimen Begegnung für mich zu behalten, aber das entspräche nicht dem „Lesbi-Tropicália“-Stil: Dort gilt nichts als Tabu.

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LESBI TROPICÁLIA – TEA AND SYMPATHY, 2013

Vaginal Davis (* in Los Angeles) lebt und arbeitet in Berlin. Sie unterrichtet und hält Vorträge am Art Institute Chicago, an der Universität der Künste, Berlin, der Malmö Art Academy und der New York University. Ihre letzten Performances waren u. a.: Queer Lisboa/African Diaspora, Lissabon, 2015; Some Other Spring , Center for ­Contemporary Art, Glasgow, 2015; Sassafras, Cypress & Indigo – Vaginal Davis, Black Screen Images and the Notion of Freakiness, TBA21, Wien, 2013; Vaginal Davis is ­Speaking from the Diaphragm, Camp/Anti-Camp – The Queer Guide to Everyday Life, HAU Hebbel am Ufer, Berlin, 2012. Clare Molloy 1

Davis 2013.

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JOCHEN DEHN

JOCHEN DEHN DAS GROSSE RASENSTÜCK, 2013 Der Titel der Performance Das große Rasenstück verweist auf Albrecht Dürers Natur­ studie von 1503, auf der braune Erde, Löwenzahn und Knäuelgras zu sehen sind – eine sorgfältige Betrachtung von Blüten und Wurzeln jener Pflanzen, denen man in ­jedem Park, auf jeder Wiese begegnet. Ebenso eingehend nähert sich Jochen Dehn dem Frankfurter Palmengarten und seinen Bewohnern, Gegenständen und Gewäch­ sen. Eine Begehung des Palmengartens, ausgehend von Hélio Oiticicas Penetrável PN 14, wird thematisch durch das Nachdenken über die Linie und die Angst, über die Verzweigung eines geometrischen Konzepts und eines abstrakten Affekts und wie sich diese äußert, bestimmt. Denn, so Dehn: „Wenn eine Linie keine Angst macht, ist ­alles außerhalb voll davon.“ Erst sind es vereinzelte Personen, dann finden sich immer mehr neugierige Besu­ cher auf dem großen Rasen vor Oiticicas Penetrável PN 14 ein. Es regnet. Auf dem nas­ sen Gras wird großes, weißes DIN-A3-Papier ausgelegt, auf dem schwarze, pixelige ­Linien zu sehen sind. Manchmal sind diese elegant kurvig, manchmal überraschend abrupt, manchmal eher langweilig, immer tragen sie einen Frauennamen: Sie heißen Victoria, Rebecca oder Mary. Die Zeichnungen stammen von der Geologin Paula ­Messina, die im Death Valley National Park die Routen jener Steine vermessen hat, die von ihrem ursprünglichen Ort vom Wind in Bewegung gesetzt wurden, oft kilometer­ weit gewandert sind und auf dem lehmigen Boden eine Spur nach sich gezogen haben. Ein Junge aus der Gruppe wird aufgefordert, von einem Punkt auf dem Rasen eine möglichst präzise, gerade Linie bis zum ältesten Baum des Palmengartens, der Sen­ ckenberger Eibe, zu gehen. Er versucht sich auf seinen Orientierungssinn zu verlassen und etwaige Hindernisse möglichst nicht zu umgehen. Langsam und behutsam durch­ quert er einen Busch mit sehr vielen, sehr langen Ästen, die sich verzweigen und ein dichtes Netz bilden, nur mit Mühe und beinahe kriechend kommt er voran. Von außen jedoch ist nichts von der anstrengenden Bewegung im Inneren zu erkennen, nur ab und zu raschelt das Laub. Die Gruppe läuft weitere Linien, manche zielstrebig, manche zögerlich. Kurz wird verweilt, um Anekdoten und Geschichten zu erzählen oder um aus dem Inneren eines Mülleimers eine Skulptur zu formen. Rote Marmelade bedeckt die Wände, die zuck­ rige Masse lockt Wespen an, die den Mülleimer noch Tage später belagern. Aus einem Luftballon tritt die weiße Masse von Rasierschaum, die sich zu einer geschwungenen Form auftürmt. Immer wieder kommt die Gruppe von den kiesigen Parkwegen ab, um schwer atmend und laut knisternd den nächstgelegenen Bambusstrauch zu durchkreu­ zen. Hier wird die Linie nicht nur gegangen, sondern gesehen und gehört. Im großen Weiher, dem Ende der Reise, sind gierige Karpfen anzutreffen, die mit Brezeln, die an Dehns Kleidung festgenäht wurden, angelockt werden sollen. Auch

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Jochen Dehn, Das große Rasenstück, 2013, Performance

JOCHEN DEHN

wenn die Fische sich nicht beeindruckt zeigen, ist die Vorstellung von dem, was hätte passieren können, schön und merkwürdig zugleich. Dazu Dehn: „Die Fische, die ­vielen, vielen zappeligen Linien auf dem Bauch sind die Form von Linie, die am ­meisten Angst macht.“ Und darum geht es. Was passiert eigentlich, wenn wir nicht die vorgegebenen Wege gehen, sondern vom Weg abkommen und es unbequem wird? Oder auch: Was hätte passieren können? Welche Geräusche, welche Eindrücke entstehen? Dehn schlägt den Teilnehmern vor, neue Perspektiven einzunehmen. Er schafft kurze Momente des ge­ meinsamen Erlebens und Rätselns. Manche Gedankengänge lassen sich nicht zu Ende führen, genauso, wie manche Experimente nicht glücken. Doch Hindernisse bedeuten keineswegs ein Scheitern, sondern stellen vielmehr Ansätze für neue Ideen dar. Neue Ideen für eine künstlerische Praxis, die vom Geschichtenerzählen über quasi­ wissenschaftliche Experimentaufbauten bis zu theatralen Performances und conversa­tion pieces reicht. Kunstwerke sind nach Dehn keine statischen Objekte, sondern Dinge, die in ihrem Status variabel sind, oder Werkzeuge, mithilfe derer sich Wahrnehmung modifizieren und transformieren lässt. Durch die Einbeziehung des eigenen Körpers, der Umgebung und des Betrachters erforscht Dehn in seinen oftmals partizipativen Arbeiten Grenzen, Dimensionen, Phänomene und Sinneseindrücke. Dabei entstehen überraschende Perspektiven auf die Dinge, die uns im täglichen Leben umgeben. Stets ist der Betrachter eingeladen, in jene Experimente und Konversationen einzusteigen und den Verlauf der Aktion mitzubestimmen. Somit ist das Ziel der Performance auch nicht, zu einem konkreten Ergebnis zu gelangen. Angestrebt wird eher das Offenlegen und Erweitern von Formen und Mechanismen der Wahrnehmung. Oiticica verfolgte einen dynamischen Werk- und Wahrnehmungsbegriff, wonach die Qualitäten eines Kunstwerks nicht rein materiell sind. Vielmehr wirkt eine Arbeit als supra-sensorisches Wahrnehmungsfeld1 über sich hinaus und spricht jegliche sinn­ liche Fähigkeiten des Rezipienten an, der somit zum Teilhaber wird. Denn das Tasten, Riechen, Sehen und Hören verbindet das Werk mit den Betrachtern – der Körper wird zum Resonanzraum des Kunstwerks. Dehn rückt das Erfahren im Moment in den ­Fokus seiner künstlerischen Arbeit. Seine Arbeiten hinterlassen kleine Spuren, wie tropfenden Rasierschaum oder klebrige Marmelade – aber auch, wie er selbst es beschreibt, „ein Gefühl, da gewesen zu sein, mit Besuchern, und zu jedem ein Gefühl gehabt zu haben, nicht nur irgendetwas gemacht zu haben, sondern ein irgendwas, was alle aufgeho­ ben hat“.

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DAS GROSSE RASENSTÜCK, 2013

Jochen Dehn (* 1968 in Hamburg) lebt und arbeitet in Paris. An der Hochschule für bildende Künste Hamburg studierte er Kunst und Film, u. a. bei Dan Graham. Dehns Arbeiten und Performances wurden in zahlreichen internationalen Institutionen ­gezeigt, u. a.: Centre Georges Pompidou, Paris; Hayward Gallery, London; National ­Museum for Modern Art, Krakau; Volksbühne, Berlin; Kammerspiele, München; Schauspielhaus, Zürich; Deutsches Schauspielhaus, Hamburg. Er nahm an der 11. Biennale in Lyon und an der 51. Biennale in Venedig teil. Marie Sophie Beckmann 1

Vgl. z. B. Oiticica, Hélio: „O aparecimento do supra-sensorial“ (1967). Deutsche Übersetzung in: Ausst. Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 221–225, bes. S. 223.

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HANNAH DEWOR

HANNAH DEWOR RE.APPEAR, 2013 „Alle Materialien dürfen berührt und dem Tanz hinzugefügt werden.“1 Im gläsernen Saal des Frankfurter Palmenhauses wandelten die Besucher zwischen verschiedenen Ansammlungen von Objekten, die auf dem Steinboden lagen: losen Bücherseiten, Fe­ dern, Ästen, Kronkorken und Bierflaschen. Für Hannah Dewor stellt die Tanzdarbie­ tung re.appear einen weiteren Prozess beim Erkunden unserer Umwelt dar.2 Aus alltäg­ lichen Bewegungsabläufen der Menschen entwickelt sie ebenso eine tänzerische Ausdrucksweise wie aus der Untersuchung der uns umgebenden Gegenstände. In der Auf­ führung lässt sie diese „wieder-erscheinen“. Unerwartet hörte man ein leichtes Rascheln. Trockenes Laub wurde im Raum auf­ gewirbelt und zum Vorschein kamen die gestreckten Arme der Tänzerin. Die toten Blätter schienen wieder zum Leben erweckt zu werden. Erst bedacht und behutsam, dann neugierig und energisch waren die körperlichen Ausdrucksformen der Tänzerin. Nacheinander begegnete sie den verschiedenen Stofflichkeiten, so erspürte sie zum Beispiel eine grüne Bierflasche spielerisch mit ihrem ganzen Körper. Gleichzeitig schien es, als ob die Beschaffenheit der Flasche ihr die Aktionen quasi vorgab. Plötzlich fiel die Flasche um und zerbrach. Wie ein akustisches Signal löste dies sichtbare Verände­ rungen der Tanzbewegungen aus. Ein Komplex aus intuitiven und choreographischen Elementen entstand, die sich wellenartig entfalteten und zurückzogen. Dabei wurden die Bewegungsbilder, die aus der Form und Materialität eines Gegenstandes resultierten, auf einen anderen Gegenstand übertragen. Auf diese Weise verband Dewor die sepa­ raten Tanzeinheiten und die einzelnen Objekte harmonisch miteinander. So fügte sich  jedes Glied an das nächste, bis ein Kreislauf aus Anfang, Ende, Neubeginn und Wie­ derholung entstanden war. Mit der eigens für das Penetrável PN 14 kreierten Darbietung greift Dewor Überle­ gungen zum Tanz auf, die Hélio Oiticica einmal ähnlich geäußert hat: „Durch das Erle­ ben im Tanz (Samba) habe ich also eine genaue Vorstellung davon gewonnen, was die Schöpfung durch einen körperlichen Akt bedeuten könnte, nämlich andauernde Wan­ delbarkeit. Auf der anderen Seite jedoch hat es mir auch das eröffnet, was ich das ‚Da­ sein‘ der Dinge nenne, das heißt, der statische Ausdruck der Objekte, ihre expressive Immanenz, hier in Form der Geste der Immanenz des expressiven körperlichen Akts, der in stetiger Verwandlung begriffen ist.“3 Mit der Bewegung ihres Körpers löst Dewor die Gebilde aus ihrer materiellen Starre und geht eine symbiotische Verbindung mit ihnen ein. Auch wenn die Dinge fest und unflexibel erscheinen, ist alles stets im Wan­ del und im Fluss. Indem sie die alltäglichen Gegenstände anders verwendet, eröffnet sie uns neue Wahrnehmungswelten, und zeigt uns, wie flüchtig wir die Objekte oft ­betrachten. Obwohl die Performance aus witterungsbedingten Gründen im geschlos­ senen Palmensaal stattfand, hat Dewor diesen Ortswechsel problemlos in ihre

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Hannah Dewor, re.appear, 2013, Tanz-Performance

HANNAH DEWOR

­ arbietung aufgenommen. Sie erschafft ihren eigenen Kosmos und lässt uns ab der D ­ersten Sekunde daran teilhaben. Hannah Dewor (* 1986 in Biberach an der Riß) beendete 2009 ihr Diplomstudium für Modernen und Zeitgenössischen Bühnentanz an der Hochschule für Musik und Tanz, Zentrum für Zeitgenössischen Tanz, Köln und schloss 2012 mit dem Master of Arts in Zeitgenössischer Tanzpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main ab. Sie ist als freie Tanzpädagogin, Tänzerin und Choreografin in Frankfurt am Main tätig. 2013 war sie u. a. in ORTen, Petra Lehr/ Co.Lab Tanztheater, Frankfurt am Main, und in der Performance Currencies and ­Collectives, Richard Siegal/The Bakery im Rahmen der Frankfurter Positionen zu sehen. Carolin Schulz 1 2 3

Dieser Satz stand auf einem Hinweisschild zwischen den Objekten. Die Darbietung re.appear schließt an die ebenfalls 2013 aufgeführte Tanzperformance dis.appear auf dem Kurz.Schluss Festival in Frankfurt am Main an. Oiticica, Hélio: „A dança na minha experiência“ (1965/66). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 165.

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The Body is Penetrable, 2013

RICARDO DOMENECK THE BODY IS PENETRABLE, 2013 Andächtig hockt Ricardo Domeneck auf dem Boden der Ausstellungsgalerie des Palmen­hauses. Vor ihm ausgebreitet ein goldbraunes Tuch, ein Mikrofon, Musikequipment, eine Leselampe, ein Blatt Papier. Hinter ihm eine projizierte Videoarbeit des Künstlers Eugen Braeunig und der brasilianischen Band Tetine aus dem Bereich Electro Punk bzw. Baile Funk, in der sich urbane Architekturaufnahmen mit Gesten und Gebärden abwechseln. Domeneck trägt zwei seiner Gedichte vor: Mula (2008) und Quede Qaddish (2013). Er gehört zu einer neuen Generation brasilianischer Lyriker, die Le­ sung mit Kunstperformance verbindet. Nicht selten entsteht diese in Kooperation mit anderen Video-, Musik- oder Performancekünstlern. Musikalisch begleitet wird Quede Qaddish von Markus Nikolaus (Leadsänger der Band Lea Porcelain), der den schweren Text mit einem leichten elektronischen Klangteppich unterlegt. Mit fester Stimme liest Domeneck Zeile für Zeile: „The body is also penetrable: bullet, electroshock, rat, knife. The body is also flexible: you can freeze it, stretch it, bend it, cut it. […]“ Domeneck schreibt Gedichte, die er in sinnlichen multimedialen Spoken-Words-Perfor­ mances (Text, Sound, Projektion) präsentiert. Sein wiederkehrendes Motiv: der Körper. In einer collagierten Sprach- und Bilddichte untersucht der Künstler den Körper und sein Innen und Außen – den Körper als Objekt der Lust, als anatomische Studie, aber auch als politische Kraft und individuellen kulturellen Standpunkt in der Welt. Sein Ziel ist die Aufhebung der Trennung zwischen Körper und Geist. In Quede Qaddish wird der Körper zum Zeugen politischer Gewalt. In direkten Worten gibt Domeneck dem Zuhö­ rer eine Idee davon, auf welche Art und Weise der menschliche Körper geschunden wer­ den kann und verweist damit auf ein Ereignis aus der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien in den 1960er/70er Jahren. Die Desaparecidos Políticos sind Männer und Frauen, die da­ mals entführt wurden und nie zurückkehrten. Bis heute ist unklar, was mit den Betroffenen geschehen ist. Man sagt, sie seien getötet, zerstückelt und ins Meer geworfen worden, um  sich der toten Körper zu entledigen. Während Domeneck im Anschluss an das Gedicht jeden einzelnen Namen der Vermissten verliest, gibt er ihnen durch ein Screening aus etwa 40 Porträtfotos ein Gesicht und setzt den Opfern ein Denkmal. Seine Themen sind vielfältig: persönliche, philosophische, gesellschaftspolitische, alltägliche. Der fremde und der eigene Körper dienen ihm dabei als Material und als

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RICARDO DOMENECK

Ausgangspunkt, um aufzuklären über die Geschichte seiner Heimat Brasilien zu Zeiten Hélio Oiticicas und über gegenwärtige gesellschaftspolitische Missstände. Domeneck setzt politische Statements und entwirft gleichzeitig subjektive Narrative, in denen Pop und Poesie zu einer Einheit verschmelzen. Seine Stimme ist stark, ener­ gisch, eindringlich. Entscheidend für seine Arbeit sind der Klang der Wörter, das Vorle­ sen und das Zuhören. Dabei wechselt er flexibel zwischen Portugiesisch, Englisch und Deutsch hin und her. In ihrem präzisen formalen und semantischen Aufbau ähneln sei­ ne Gedichte Musikstücken, die nach einem sanften Einstieg einen fulminanten Höhe­ punkt erfahren und noch lange in den Ohren und Köpfen der Besucher nachhallen. Ricardo Domeneck (* 1977 in São Paulo) lebt und arbeitet als Künstler, Dichter und Übersetzer in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er die Gedichtbände Ciclo do amante ­substituível (2012) und Cigarros na cama (2011). Eine zweisprachige Ausgabe erschien 2013 unter dem Titel Körper: ein Handbuch, seine Gedichte sind auch in den zweispra­ chigen Anthologien VERSschmuggel/Contrabando de VERSOS (2009) und Überland und leuchtende Städte (2006) enthalten. Zudem ist er Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift Modo de usar & co. Er war mehrfach beim Poesiefestival Berlin zu Gast so­ wie bei Festivals in Barcelona, Brüssel, Buenos Aires, Córdoba, Dubai, Ljubljana, ­Madrid, Medana und Sevilla. Mit seiner Verbindung aus Lesung und Performance war er u. a. im Museum of Modern Art in Rio de Janeiro und im Reina Sofia Museum in Madrid zu Gast. Für das Poesiefestival der Literaturwerkstatt Berlin kuratierte er 2012 den „VERSschmuggel“ mit brasilianischen Dichtern. Miriam Bettin

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Ricardo Domeneck mit Markus Nikolaus, The Body is Penetrable, 2013, Lecture-Performance

ANNA MARGIT ERBER

ANNA MARGIT ERBER TRIGGER FACTOR, 2012 1973 erfand Hélio Oiticica in New York zusammen mit dem ebenfalls im Exil lebenden brasilianischen Regisseur Neville d’Almeida die Bezeichnung Quasi-Cinema.1 Damit hinterfragte er den herkömmlichen Begriff des Kinos und kombinierte Film und Projek­ tion miteinander. Die Besucher sollten auf Matratzen und in Hängematten liegen und so Umgebung und Film erleben, während die Projektionen raumübergreifend wirkten. Anna Margit Erbers surrealistisch anmutender Experimentalfilm Trigger Factor (11:00 Min.) spiegelt diesen abstrahierten Terminus Oiticicas wider. Erber wendet sich der Traumdeutung nach Freud zu. Dargestellt werden während des Tages entstandene Eindrücke – in Freud’scher Terminologie der „Tagesrest“. Durch Digitalisierung von ­ 8- und 16-Millimeter-Filmen, auf welche zuvor ausgeschnittenes Zeitungsmaterial mit einem Klebestreifen aufgebracht wurde, entsteht ein Wechselspiel zwischen am Tag gewonnenen Sinneseindrücken und deren Verarbeitung in der Nacht. So ergibt sich eine Überlagerung von ungeordneten Ausschnitten realer und surrealer Elemente. Das Video ist ähnlich wie Oiticicas Filme keine narrative Erzählung, sondern realisiert den Tagesrest bildlich. Erber geht dabei der Bedeutung des englischen Verbs to trigger, also dem Auslöser des Tagesrests nach. Eindrücke erscheinen nicht als lineare Erzählung, sondern als aneinandergereihte abstrakte Bilder mit eigens von der Künstlerin kompo­ niertem Ton. Wiederkehrende Motive sind: ein Flugzeug, Blitze am Himmel, Telefon­ geräusche, Menschenmengen, Sonne, Himmel, Farben, Vogelgezwitscher. Die Bilder wirken wie der Schlüssel zu einer verborgenen Geschichte. Symbole, Zeitungsmaterial und individuelle Eindrücke treten in Beziehung zueinander und lassen den Betrachter bis  zum Schluss im Ungewissen über Realität und Traum. Ihre visuell anspruchsvollen Experimentalfilme erzeugt Erber meist durch Colla­ gen. In ihrem Frühwerk Same Same But Different (2011) thematisiert sie etwa mittels eines Stop-Motion-Kurzfilms die Transformation, Austauschbarkeit und das Retu­ schieren von Gesichtern in der Werbung. Anna Margit Erber (* 1982 in Schwarzach im Pongau, Österreich) lebt und arbeitet in Linz. Von 2006 bis 2012 studierte sie Zeitbasierte und Interaktive Medien an der Kunstuniversität Linz. Bisher stellte sie hauptsächlich in Oberösterreich aus, 2010 be­ teiligte sie sich an dem Gruppenprojekt broadcasted, einem visualisierten Orchester­ konzert im Brucknerhaus in Linz. Désirée Hailzl 1

Small 2014.

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Anna Margit Erber, Trigger Factor, 2012, Digitalisate von 8- und 16-mm-Filmen, 11:00 Min.

TAMAR GUIMARÃES

TAMAR GUIMARÃES CANOAS, 2010 Die Kulisse der Videoarbeit Canoas (13:24 Min.) bildet das gleichnamige Haus Casa das Canoas des brasilianischen Architekten Oskar Niemeyer (1907–2012), das dieser in den frühen 1950er Jahren als Ferienhaus für sich und seine Familie nach seinen ­Plänen bauen ließ. Während der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek de Oliveira, auf dessen Regierungszeit von 1956 bis 1961 so fortschrittliche Projekte wie die Grün­ dung der Hauptstadt Brasília zurückgehen, war Niemeyers Haus ein populärer Anzie­ hungspunkt und Schauplatz für Partys politischer Würdenträger, Intellektueller sowie Angehöriger der brasilianischen High Society. Dadurch erhielt das Haus im Laufe der Geschichte eine geradezu mythische und auch erotische Aufladung. Dieser Mythos, so Tamar Guimarães, sei ebenso konstruiert wie die Vorstellung von Brasilien als tro­ pischem und erotischem Paradies. Besonders charakteristisch ist die Einbettung des Hauses in die landschaftliche Umgebung der Hügel um Rio de Janeiro. Niemeyer legte bei der Planung größten Wert auf die Verschmelzung der modernistischen Formge­ bung mit den vorgefundenen Felsen, Wasserläufen und der Vegetation des dortigen Regenwaldes. Durch den dichten tropischen Dschungel beobachtet die Kamera einige unifor­ mierte Hausangestellte, die das Haus gerade für eine Cocktailparty vorbereiten. Wäh­ rend eine Frau sich am Pool sonnt, werden eingetopfte Palmen platziert, die großen Fensterfronten noch einmal geputzt und das Essen in der Küche vorbereitet. Der Blick, der dem Betrachter gewährt wird, ist nie Teil des Geschehens, sondern zeigt dieses aus sicherer Entfernung. So sieht der Betrachter beispielsweise auf eine Glasscheibe, in der sich das Geschehen spiegelt. Begleitet werden die Szenen vom Rauschen eines nahe­ gelegenen Wasserfalls. Mit Einbruch der Dämmerung finden sich die distinguierten Gäs­te ein. Die Frauen sind auffällig glamourös gekleidet, jedes Outfit erinnert an eine andere Dekade: Lange mit Pailletten besetzte Kleider aus den 1920er Jahren, Teller­ röcke rufen Erinnerungen an die 1960er wach, auffällige Prints solche an die 1970er Jahre. Eine gezielte Anspielung von Guimarães auf die Vergangenheit, die sie als stets anwesende Realität, als immerwährenden Schatten empfindet und die daher stets eine entscheidende Rolle in ihren Werken spielt. Scheinbar kommentarlos beobachtet die Kamera die Gäste. Als Außenstehender blickt man auf die Tanzenden und die kleinen Gesprächsgrüppchen, die sich am Pool oder auf der Terrasse bilden. Ausgelassen ist in dieser Gesellschaft niemand, zu kon­ trolliert sind die Bewegungen, zu angestrengt und manieriert die Konversation. Die Gespräche kreisen um die früheren Pläne für den sozialen Wohnungsbau des Stadtplaners und Niemeyer-Freundes Lúcio Costa, dann um die Qualität des servierten Champa­ gners. Musik ist nicht zu hören. Eine Dame gibt Anekdoten aus dem Leben des Musi­ kers Jards Macalé aus der Zeit der brasilianischen Diktatur zum Besten. Unbemerkt

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Tamar Guimarães, Canoas, 2010, Digitalisate von 16-mm-Filmen, 13:24 Min.

TAMAR GUIMARÃES

b­ ewegen sich in dieser Szenerie die Kellner. Aufmerksamkeit schenken ihnen die G ­ äste nur in den kurzen Augenblicken, wenn sie mit neuen Getränken auf dem Tablett ihre Runden drehen. Tamar Guimarães arbeitet mit Film, Sound und Installationen und verwendet dafür Bildmaterial, Dokumente und Gegenstände, die sie vorab sorgfältig recherchiert. Das gesammelte Material wird anschließend neu zusammengesetzt, strukturiert und modi­ fiziert, sodass daraus häufig semidokumentarische Filme entstehen. Dabei untersucht Guimarães soziale und politische Strukturen. Die in Canoas dargestellte Situation lässt sich gut auf die zeitgenössische brasilianische Gesellschaft übertragen: Für die Ober­ schicht, in der besonders die modernistische Architektur eine wichtige Rolle als Aus­ druck des Wohlstands spielt, ist die untere Klasse der ‚Dienerschaft‘ eine ständig anwe­ sende, aber kaum beachtete Realität. Die Stratifizierung der brasilianischen Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen und Klassen ist ein Thema, das auch Hélio Oiticica stark beschäftigt hat. Er widmete sich der Marginalisierung und der Position des Außenseiters, die dem Betrachter auch in Canoas unweigerlich zugewiesen wird. Oiticicas Werke zielen auf den Wunsch nach völliger Abwesenheit eines ‚sozialen Standorts‘; eine Haltung, die sich durch seine zahlreichen Freundschaften mit Außenseitern und Minderheiten, Homosexuellen, ­Bewohnern der Favelas oder Personen aus dem Rotlicht- und Drogenmilieu, auch in seinem Privatleben manifestierte. Tamar Guimarães (* 1967 in Belo Horizonte, Brasilien) lebt und arbeitet in ­Kopenhagen, wo sie Bildende Kunst an der Royal Danish Academy of Fine Arts unter­ richtet. Sie studierte ebendort Kunsttheorie sowie Bildende Kunst an der Malmö Art Academy in Schweden und am Goldsmiths College, University of London. Guimarães’ Werke wurden weltweit in zahlreichen Ausstellungen sowie auf internationalen ­Filmfestivals präsentiert, u. a.: 56. Biennale, Venedig (2015); 31. Biennale, São Paulo (2014); Tate Modern, London (2010); Kurzfilmfestival Oberhausen (2009). Elena Frickmann

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#UNENTSCHLOSSEN#VERFÜHRT, 2013

BALZ ISLER #UNENTSCHLOSSEN#VERFÜHRT, 2013 #unentschlossen#verführt ist eine Lecture-Performance, die Balz Isler für das Perfor­ mance- und Filmprogramm „Hélio Oiticica im Palmengarten“ entwickelt hat. Der Künstler griff darin die Bedingungen und Raumgegebenheiten des Penetrável PN 14 auf, um über das Verhältnis von Bilderzeugung und -rezeption zu reflektieren. Isler wandelte mit einem portablen Video- und Soundsystem durch das Erfahrungsobjekt Hélio Oiticicas, interagierte mit den BetrachterInnen und übertrug so das Penetrável PN 14 – als einen Raum der Möglichkeiten – in seine assoziative Erzählung. Seine ge­ sprochenen und gesungenen Texte kombinierte er mit vorgefertigten und live erzeug­ ten Videoclips, um sie als Projektionen übereinanderzuschichten. Bilder wurden zu Trägern von Begehren, was sich in den Sequenzen eines Werbespots zeigte: Ein digita­ ler Reiseführer versprach etwa, per Navigationsgerät die größten Weltkulturerbestätten „leicht und bequem besichtigen“ zu können. Der Reisescout wurde bei Isler zum Zei­ chen für ein Erlebnis, das über Zuschreibungen und Abbilder definiert ist, lange bevor das Erleben einsetzt. Mit den Mitteln digitaler Medien transformierte der Künstler so Oiticicas Frage nach Wahrnehmungsformen und übersetzte sie in die Gegenwart. Indem Isler in ­seinen Arbeiten Eigendynamiken von Bildern aufgreift, schafft er eine eigene Welt, die aus synästhetischen Erfahrungen, komplexen Ordnungen und lieblichen Verbindun­ gen besteht. So wie Oiticica seine Propositionen alternativer Weltsysteme darbrachte, gibt Isler einen Einblick in sein intimes Weltverständnis. Isler gleicht damit einem ­Geschichtenerzähler und stellt in seinen Performances Parabeln über das Erzählen auf: Dem griechischen Verb parabállein folgend, das so viel bedeutet wie „nebeneinander werfen, daneben stellen, vergleichen“, setzt er verschiedene Bildmomente in Verhält­ nisse, die über das Gezeigte hinausweisen. Den Großteil seines Bildmaterials findet er auf Videoportalen: individuelle Darstellungen von Ereignissen, Schauplätze des Sub­ jektiven, die im Internet veröffentlicht wurden und somit einer allgemeinen Betrach­ tung ausgesetzt sind. Die Videoclips, die der Künstler herausfiltert, zeichnen sich durch formal wiederkehrende Elemente und Bewegungsabläufe aus, durch Spuren von Pro­ duktionsprozessen und nicht zuletzt durch eine Auseinandersetzung mit allgemeingül­ tigen Symbolen. In dieses Gefüge integriert sich der Künstler, indem er im Live-Mo­ ment der Performance eine Anordnung entwickelt, in der die einzelnen Elemente in wechselnde Beziehungen zueinander treten. Isler hinterfragt, auf welche Weise Kultur als eine notwendige Bedingung mensch­ lichen Daseins und als Orientierungssystem funktioniert, indem er die Zusammen­ hänge von Sprache, Musik und unterschiedlichen Ordnungssystemen untersucht. Im ­Sinne von Clifford Geertz erforscht er Zeichen und Kommunikationssysteme, die es dem Menschen ermöglichen „durch die Verwendung von Symbolen, seien es Worte,

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BALZ ISLER

Gesten, Zeichnungen, Geräusche oder mechanische Artefakte […] seinem Handeln eine Bedeutung zu geben“.1 Isler verweist auf die Entstehung von Bedeutungssystemen, in denen bekannte Zeichen durch Medien transformiert veränderte Sinnzusammen­ hänge generieren. Die simultane Projektion des eigenen Bildes steht für die Sehnsucht des Menschen, sich mittels des eigenen Abbilds in der Gegenwart zu verankern. Zu­ gleich zeigt Isler, wie sich das Bild als erklärende Instanz zwischen den Menschen und seine Lebenswelt schiebt und durch die Zirkulation im Internet den Anspruch auf ei­ nen Symbolwert und eine allgemeine Anerkennung erhebt. Indem der Künstler dem Abbild Eigenständigkeit zuspricht, zweifelt er die Autonomie des ursprünglichen Bil­ des an. Dadurch werden die Grenzen zwischen Live-Performance und dokumentari­ schem Videomaterial, künstlerischem Assoziationsgebäude und normativem Zeichen verwischt. Islers Performances offenbaren Strukturen der Wahrnehmung und der menschlichen Kommunikation, die nicht mehr nur Verständigung bedeuten, sondern vielmehr das Verständnis von unserer Kultur zur Diskussion stellen. Balz Isler (* 1982 in Zürich) lebt und arbeitet in Berlin. Er schloss 2011 sein Kunst­ studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg ab. Im Anschluss erhielt er das 14. Stipendium „Junge Kunst in Essen“. Einzel- und Gruppenausstellungen ­waren u. a.: Hamburger Kunsthalle (2016); Ludwig Forum Aachen (2015); PACT Zollverein Essen (2015); Galerie Conradi, Hamburg (2015); Dortmunder Kunst­ verein (2014); Skulpturenmuseum, Marl (2013); Museum Folkwang, Essen (2012). Nadine Droste / Marenka Krasomil 1

Geertz 2000, S. 220.

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Balz Isler, #unentschlossen#verführt, 2013, Lecture-Performance

KOLLEKTIVMASCHINE

KOLLEKTIVMASCHINE DANCING AND DEMONSTRATING, 2013 Keine Unterscheidung – keine Kompromisse. In ihren Sound-Performances strebt Kollektivmaschine die völlige Aufhebung von Grenzen an. Die Möglichkeiten der Trennung von Innen und Außen, Form und Inhalt, Werk und Prozess werden in kol­ lektiver Handlung herausgefordert. Der Name der Künstlergruppe verweist auf ihr Programm. In gemeinsamer Aktion stellen Ursula Döbereiner, Dirk Krecker und ­Thomas Rehnert die Idee des schöpferischen Genies massiv infrage, um schließlich die totale Auflösung von Autorschaft zu fordern. Eigens für „Hélio Oiticica im Palmengarten“ hat Kollektivmaschine die SoundPerformance Dancing and Demonstrating entwickelt. Rauschen, Knistern, verzerrte Gitarrenklänge, undefinierbare Störgeräusche, verhallende Stimmen. Die Gruppe er­ stellt Soundmaterial aus Nachrichtenbeiträgen, Fernsehsendungen, Youtube-Footage, eigens erzeugten E-Gitarrenklängen und bringt es mit komplex verschalteten Effektund Delaygeräten zusammen. Während der Auftritte schöpfen die drei KünstlerInnen aus einem vorab vereinbarten Materialarchiv und komponieren live und in Abhängigkeit vom Umgebungsraum eine allumfassende Klangskulptur. Deutlich sind Referenzen an technische Errungenschaften, den urbanen Lebens­ raum und die Schnelllebigkeit der scheinbar globalen Gesellschaft erfahrbar. So stand die Sound-Performance in spannungsreichem Kontrast zum Natur-Ort, dem Tropica­ rium Trockene Tropen. Beim Betreten des Glashauses erfasste blendend weißes Licht die BetrachterInnen. Auf einer Plattform über dem Wasserfall waren die Silhouetten der KünstlerInnen auszumachen, und zu ihren Füßen, in blaues, gelbes und rotes Licht getaucht, außergewöhnliche Pflanzen wie Leberwurst- und Affenbrotbaum. Aus allen Richtungen erklangen unterschiedlichste Geräusche, die erst durch den Standpunkt­ wechsel der BetrachterInnen in einem ganz eigenen Klangerleben zusammenfinden konnten. Die Laute des Publikums und des Ortes, mit seinen physischen und sozialen Qualitäten, wurden durch Feedbacks aufgenommen und zurück in Rehnerts Maschine gespielt, im System reflektiert und erneut ausgesendet. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die konstante Aktion und Reaktion ließ die BetrachterInnen zum integralen Bestandteil des Werkes werden – der Kontext wurde zum vierten Akteur. Die Sound-Skulptur erlangte erst durch die Beteiligung der ZuschauerInnen Vollkommenheit, so wie auch Hélio Oiticicas Penetráveis erst durch die BesucherInnen vollendet werden. Kollektivmaschine rekurriert durch die Betonung der aktiven Teilhabe der BetrachterInnen und durch ihren interaktiven Ansatz stark auf das partizipative Kunstverständnis Oiticicas. Die Raumstruktur, das gläserne Dach, die exotische Atmosphäre bildeten den Klangkörper für Dancing and Demonstrating. Der aufgeladene Raum – als Zeugnis des Kolonialismus – forderte eine Gratwanderung heraus, zwischen Werk und Kontext.

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Kollektivmaschine, Dancing and Demonstrating, 2013, Sound-Performance

KOLLEKTIVMASCHINE

Ursprünglich sollte das Penetrável PN 14 als musikalischer Resonanzkörper dienen. Die bestehende Raumstruktur hätte auf diese Weise inhaltlich und formal integriert werden können. Mit einem Abstand von ca. 40 Metern wollte Kollektivmaschine vor dem Pavillon agieren und ihre Klänge in die einzelnen Räume hineinschicken. Jeder Raum sollte mit anderen Klangeinheiten gefüllt werden. Das offene Dach hätte Über­ lagerungen und Vermischungen – bei gleichzeitiger Bewahrung der jeweils eigenen Soundnuancen – ermöglicht. Aufgrund der Wetterverhältnisse fand die Performance im Tropicarium Trockene Tropen statt. Im Gegensatz zu der abstrakten Architektur des PN 14 mit ihrer modernistischen White-Cube-Ästhetik wurde die Klangskulptur hier einem abbildhaften, nicht weniger dominanten Raum gegenübergestellt. Mit Methoden der Wiederholung und der Überlagerung trieb Kollektivmaschine Material­ zusammenhänge auf die Spitze und provozierte unerwartete Ausfälle, um die beson­ dere Ordnung der Dinge herauszustellen. Offen bleibt jedoch, ob sich der Anspruch, durch kollektive Handlung Grenzen und Zugehörigkeiten aufzulösen, überhaupt er­ füllen lässt – oder ob es sich hierbei um ein grundlegend utopisches Unterfangen han­ delt. Außer Frage steht, dass die KünstlerInnen im Strudel musikalischer Schichtung und Verwerfung ein synergetisches Raum-Klang-Erlebnis schufen.

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DANCING AND DEMONSTRATING, 2013

Kollektivmaschine sind: Ursula Döbereiner (* 1963 in München) lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Zeichne­ rin und erweitert das Medium in die Dreidimensionalität und arbeitet mit den Materi­ alien urban verdichteter Räume. Zusammen mit der Künstlerin Chris Dreier bildet sie die Band Burqamachines, die in immer wieder neuen Konstellationen auftritt, sehr häufig mit dem Autor und Performer D. Holland-Moritz. Einzel- und Gruppenaus­ stellungen u. a.: Temporary Artist Book Shop, Berlin (2015); Kunstmuseum Diesel­ kraftwerk, Cottbus (2014); September, Berlin (2013). Zu sehen war sie 2012 u. a. mit BURQADIZCOMASCHINE (Ursula Döbereiner / Chris Dreier / Dirk Krecker) in der Galerie September in Berlin. Dirk Krecker (* 1972 in Frankfurt am Main) lebt als freier Künstler in Frankfurt am Main. Er produziert Science-Fiction. In den letzten Jahren arbeitete er mit Schreib­ maschinen zur Herstellung seiner Typewriter-Drawings, ist Teil der Sound-Perfor­ mance-Gruppen Kollektivmaschine und mõnõraïn und kuratiert Ausstellungen. Zu ­sehen war er u. a. in Einzel- und Gruppenausstellungen: Laura Mars Galerie, Berlin (2016); G ­ alerie Lisi Haemmerle, Bregenz (2016); Schaufenster, Frankfurt (2015); ­Pérez Art Museum Miami (2014). Thomas Rehnert (* 1960 in Zeitz) lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Komponist, Schlagzeuger, Programmierer und Sounddesigner. Aus analogen Modularsystemen baut er autopoetische Klangmaschinen. Rehnert konzertiert als Schlagzeuger in ­­­­ Klein- und Großformationen und wirkt in diversen medienübergreifenden Projekten (Theater / Film / Radio / Bildende Kunst) mit. Meist arbeitet er mit Klangkünstlern, Ensembles, Solisten, Komponisten und Veranstaltern im Bereich der Neuen Musik zu­ sammen. 2012 brachte er die Doppel-LP „MACHT MAL EINEN KREIS!“ heraus. Marenka Krasomil

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SANDRA KRANICH

SANDRA KRANICH BACK 1–3, 2010 Erst ein lauter Knall, dann ein leises Zischen. Sandra Kranich fasziniert das Unkon­ trollierbare und Flüchtige. Aus sorgfältig arrangierten Feuerwerken lässt sie skurrile Skulpturen entstehen oder gestaltet Bilder aus der Wucht der Entladungen. Das Medi­ um V ­ ideo, dass sie für Back 1–3 von 2010 gewählt hat, stellt dabei eine Besonderheit im Verhältnis zum sonst so kurzlebigen Feuerwerk dar. In drei verschiedenen Sequen­ zen, jeweils etwa zwei Minuten lang, wird eine Explosion rückwärts abgespielt. Zu Be­ ginn der Aufnahme sind dichte Rauchwolken zu sehen, die Kamera ist frontal auf wei­ ßen Grund gerichtet, der sich an Oiticicas Gouachen anlehnt. Auf den Knall und das Zischen folgt eine Detonation. Mit dem Aufleuchten der Zündschnur wird das Bild immer klarer, bis am Ende ein weißes Bild mit schwarzen geometrischen Figuren sicht­ bar wird. Die Videoarbeit ist eine Hommage an einige Werke von Hélio Oiticica. Nach einem Brand 2009 wurden in den Archiven in Brasilien nahezu 90 % von Oiticicas gesamtem Nachlass zerstört.1 Zwar kann Kranich dieses Ereignis nicht umkehren, doch gelingt es ihr, einige Werke auf ihre Art und Weise für immer existent zu halten. In Back 1–3 be­ zieht sie sich auf Oiticicas Séco 11 (1957) und auf zwei Metaesquemas-Arbeiten (1959 und 1957). Ab den frühen 1960er Jahren reduzierte Oiticica sein Gestaltungsvokabular auf ­Papier radikal. So bestehen die stark abstrahierten Bilder der Metaesquemas-Serie aus monochromen Quadraten oder Rechtecken. Damit will Oiticica eine Zerlegung von Raum durch das Mittel von Farbe und Struktur erreichen. Durch die horizontale oder vertikale Spiegelung der geometrischen Figuren und den hellen Hintergrund ergibt sich eine dynamische Wechselwirkung zwischen Formen und Hintergrund.2 Diese Struk­ turen zeigen sich ebenfalls in Kranichs Video. Aus dem zweifarbigen Verhältnis ent­ steht ein Gegensatz von Bewegung und Instabilität in einem Spiel aus Zwei- und Drei­ dimensionalität.3 In der Metaesquemas-Serie versucht er einen „Meta“4-Status von Malerei zu finden, der über diese formale Struktur (esquema) hinausgeht. Nach Oiticica ist das Ergebnis ein „Dazwischen“: „[…] something that lies ‚in-between‘ that is nei­ ther painting nor drawing. It is rather an evolution of painting.“5 Beide Künstler versuchen, die Grenzen der Realität zu erweitern und einen Zustand zu erreichen, welcher die Parameter Raum und Zeit verschmelzen lässt oder gar über­ windbar macht. Diese Überwindung wird in den Arbeiten fixiert und auf unbestimmte Zeit wie in einem Vakuum konserviert. Auch in Back 1–3 wird ein „Zwischenzustand“ geschaffen: von der Zukunft zurück in die Vergangenheit, welche nun Gegenwart ist. Kranich, die Oiticica niemals kennenlernen konnte, schafft einen Austausch, eine Be­ gegnung, die nur auf der Metaebene stattfinden kann.

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Sandra Kranich, Videostill aus Back 2, 2010, 1:01 Min.

Sandra Kranich, Videostill aus Back 1, 2010, 1:33 Min.

SANDRA KRANICH

Sandra Kranich (* 1971 in Ludwigsburg) studierte zunächst an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach bei Manfred Stumpf und Heiner Blum. Ihren Meisterschüle­ rabschluss machte sie bei Thomas Bayrle an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main. Seit 2003 ist sie außerdem staatlich aner­ kannte Pyrotechnikerin für Großfeuerwerke. Kranich ist international in Einzelaus­ stellungen und Beteiligungen vertreten, u. a.: 32. São Paulo Bienale in Brasilien (2016); Torrance Art Museu, USA (2016); DZ Bank Kunstsammlung, Frankfurt am Main (2016); Opelvillen Rüsselsheim (2015); Schloss Wanas, Schweden (2015); Nassau­ ischer Kunstverein Wiesbaden (2014); Kunstverein Oldenburg (2013); Kunsthalle Darmstadt (2012); Art and City, Zürich (2012); Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main (2011); Kunsthalle Lingen (2011); Car Projects, Bologna (2010); Athens ­Biennale, Athen (2009); Westfälischer Kunstverein Münster (2009).

Carolin Schulz 1 2

Vgl. Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 14. gl. http://www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/helio-oiticica/helio-oiticica-exhibitionguide/helio-oiticica-8 [Stand: 08.10.2015]. 3 Ebd. 4 einen Ursprung hat das Präfix metá im Griechischen, es bedeutet „zwischen, nach, hinter“, vgl. Kluge 1999, S. 555. 5 Hélio Oiticica, zit nach Ausst.Kat. Houston, London 2007, S. 41.

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JOHN’S DESIRE, 2011

HENNING FREDERIK MALZ JOHN’S DESIRE, 2011 Die Spannung steigt, wenn vor dem Film, sogar vor dem Vorspann, die Logofilme der Produktions- und Verleihfirmen über die Leinwand flimmern. Damit beginnt jede Filmproduktion bis heute – am Anfang der Filmgeschichte zunächst mit Titelkarten, dann mit Bildsymbolen und spätestens seit Beginn des Tonfilms auch mit charakteris­ tischer Musik unterlegt, ist die Eröffnungssequenz längst nicht mehr nur Firmenken­ nung, sondern filmisches Mittel, das den Eintritt in ein Narrativ markiert. Henning Frederik Malz thematisiert in seinem Video John’s Desire (4:35 Min.) ­diesen Übergang, der zwischen Repräsentation und filmischer Einführung entsteht und eine eigene Bildsprache hat. Wolken, Lichtstrahlen, Sternbilder und sich drehende Globen, die Weite des Himmels und des Alls sind wiederkehrende Motive, die das ­Versprechen einer Filmindustrie übersetzen und den Blick über die bekannten Sphä­ ren h­ inaustragen. Malz entnimmt den animierten Filmen der Produktions- und Ver­ leihfirmen unterschiedliche Sequenzen, ohne ihre Logos abzubilden, schneidet sie in immer kürzeren Abständen aneinander, bis diese, unterbrochen von weiß flackerndem Licht, einer Explosion gleichkommen. Wenn Michelangelo Antonioni in Zabriski Point (USA, 1970) eine Luxusvilla in der Wüstenlandschaft des Death Valley in Zeit­ lupe zerbersten lässt, dann löst er die schöne Scheinwelt der Zivilisation in einer Apokalypse auf. Malz folgt in John’s Desire diesem Prinzip der Auflösung und eignet sich das Werbematerial der Filmindustrie an, um ihre Selbstdarstellung in einer Art Ekstase aufzuheben. Der Medienspezifität im Kontext ihrer eigenen Entwicklung widmet sich Malz auch in anderen Arbeiten. So kombiniert er in seinen Musikvideos, die er für Musikgruppen produziert, Phänomene analoger Medien, wie Formen des weißen TV-Schnees, mit unterschiedlichen Ausprägungen ebenjenes Signalrauschens als Flirren, Streifen oder feinkörnigen Schnee. Das Found-Footage-Material entnimmt der Künstler TV-Serien und Hollywoodfilmen und kombiniert es mit Computergrafiken sowie Stop-MotionAnimationen. Zugleich spielt die Musik eine entscheidende Rolle, die zusammen mit den Bildern auch das rauschhafte und ekstatische Moment fokussiert. Hier lässt sich eine deutliche Verbindung zu Hélio Oiticicas Block Experiments in Cosmococas – Programme in Progress ziehen, die in Kollaboration mit Neville D’Almeida entstanden sind. Dia-Projektionen, Hängematten und Kissen bilden den Raum, in dem sich die BetrachterInnen ganz dem Moment hingeben können. Verstärkt wird diese partizi­ pative Rezeption durch Oiticicas Darstellung von durch Drogen bedingten Rauschzu­ ständen, die häufig integraler Bestandteil seines Werkes sind. Die Verwendung von ­Kokain in seinen Arbeiten wurde von Oiticica selbst in vielen seiner Schriften thema­ tisiert und als Symbol des Widerstands und der Gegenkultur verwendet – eng ver­ knüpft mit der Musik von Jimi Hendrix, dem Samba und „Bossa Nova“.

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HENNING FREDERIK MALZ

Henning Frederik Malz (* 1982 in Duisburg) lebt und arbeitet in Toronto. Von 2008 bis 2014 studierte er an der Kunsthochschule für Medien Köln und erhielt 2016 das Arbeitsstipendium der Jungen Szene der Kunststiftung NRW. Mit seinen Filmen und Videoarbeiten war er in Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Screenings vertreten, u. a.: EMAF European Media Art Festival, Osnabrück (2016); B3 Biennale, Frankfurt am Main (2015); Basement Media Festival in den USA und Kanada (2015); Walzwerk Null, Düsseldorf (2014); 47. Art Cologne (2013); Kasseler Dokumentarfilm- und ­Videofest (2012); Images Festival, Toronto (2012). Nadine Droste / Marenka Krasomil

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Henning Frederik Malz, John’s Desire, 2001, Video, 4:35 Min.

JONATHAN PENCA / CHARLOTTE SIMON / ZINK TONSUR UND CHOR

JONATHAN PENCA / CHARLOTTE SIMON / ZINK TONSUR UND CHOR KRISTALLO – FLIESSEN UND FORSCHEN, 2013 Zum Auftakt des Programms „Hélio Oiticica im Palmengarten“ wurde die Perfor­ mance Kristallo – Fließen und Forschen präsentiert. In den Palmengarten brach eine ­andere Welt ein, das gesamte Penetrável PN 14 erstrahlte bei Einbruch der Dunkelheit hell leuchtend in psychedelisch schillernden Farben. Die Bewohner des Planeten ­Kristallo waren auf der Erde gelandet und stellten sich unter elektronisch-sphärischen Klängen als brain shifters und time drifters vor – als fremde Existenzen im fließenden Übergang zwischen Illusion und Realität, zwischen Zeit und Raum. Den Anfang des Film- und Performanceprogramms bildete damit ein Projekt, das verschiedene Genres sowie ästhetische Mittel miteinander verknüpft und nach den ­Bedingungen von Gemeinschaft fragt. Charlotte Simon, Jonathan Penca und Zink Tonsur haben eine Gesellschaftsutopie entworfen, in der soziologische und biologische Ge­ gensätze aufgehoben sind und subjektive Verfahren keine Gültigkeit mehr besitzen. Kristallo beschreibt ein Kollektiv an Neutren, die als homogene Existenzen die Mög­ lichkeit einer alternativen Lebensform vor Augen führen. Da den Bewohnern Ungleich­heiten und Differenzen zunächst fremd sind, erscheint Kristallo als eine ‚Insel der Glückseligen‘: Körperliche Gestalt konstituiert sich durch Geisteskraft und jede Form von Erscheinung ist fluid. Das Künstlertrio formuliert damit ein Gegenbild zu aktu­ ellen Individualisierungstendenzen unserer Gesellschaft und verweist zugleich auf das Problem, das die Vereinheitlichung in sich trägt: Die Reflexion der Bedingungen ist den Einzelnen fremd und lässt sie in einem esoterischen, nach außen hin abgeschlosse­ nen Moment verharren. In der Geschichte des Planeten Kristallo bahnt sich daher in dem Moment ein Bruch mit den ursprünglichen Lebensformen an, als zwei Kosmon­ auten ins All gesendet werden, um die endlosen Weiten zu erkunden und Forschung zu betreiben. Mit der Performance, die eigens für das Penetrável PN 14 entworfen wurde, wird genau dieser Aufbruch zelebriert, der die Konstitution der Kristallo-Gemeinschaft verändern wird. Die drei KünstlerInnen verdeutlichten dies gemeinsam mit ihrem sechsköpfigen Chor ( Janina Arendt, Martin Born, Anne Hoffmann, Johannes Lauxen, Oskar Ohlson und Meike Winter) durch ein Szenario der Gleichzeitigkeit: Musikalisch agierten die Performer simultan, räumlich allerdings bezogen sie alle Möglichkeiten des Penetrável mit ein und eröffneten eine differentielle Anordnung von Schauplätzen. Hélio ­Oiticicas Konzept, Räume durch Erfahrung entstehen zu lassen, erfuhr so eine Neuinterpre­ tation, denn in der Performance des Trios verwies jede Spielstätte auf die Existenz ­eines weiteren Geschehens, das von jeder Position aus anders wahrzunehmen war. Die Veränderung des Blicks, die sich daraus ergab, ermöglichte die Infragestellung von

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Jonathan Penca / Charlotte Simon / Zink Tonsur und Chor, Kristallo – Fließen und Forschen, 2013, ­ Theater- und Sound-Performance

JONATHAN PENCA / CHARLOTTE SIMON / ZINK TONSUR UND CHOR

­ aradigmen, die im Verhältnis von Kunst und gesellschaftlichen Strukturen herrschen: P Während Oiticica dem Betrachter die Teilhabe an dem Kunstwerk eröffnet und damit neue Ausdrucksformen etabliert hatte, setzen Simon, Penca und Tonsur eine Utopie um, die mehrdeutig und schräg ist, harmonisch und irritierend zugleich. Wenn sie au­ genzwinkernd verschiedene Kontexte miteinander verknüpfen, aufeinanderprallen las­ sen und miteinander versöhnen, entwickelt sich ein einnehmender Zauber und eine Ahnung von den unzähligen Möglichkeiten des Seins. Unterschiedliche Varianten des Projekts Kristallo wurden 2012 auf dem Rundgang der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, auf dem Lüften ­Mouson Arts and Music Festival sowie auf dem Festival der jungen Talente in F ­ rankfurt am Main gezeigt. Unter dem Titel Warum es ein Außen braucht zeigten Kristallo 2015 im Rahmen des Ausstellungsformats „New Frankfurt Internationals“ im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden ihre jüngste Fortsetzung des Projekts.

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KRISTALLO – FLIESSEN UND FORSCHEN, 2013

Jonathan Penca (* 1988 in Augsburg) studierte bis 2015 Freie Bildende Kunst an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main bei ­Judith Hopf. 2014 absolvierte er ein Gastsemester an der Akademie der Bildenden Künste Wien bei Julian Göthe. Seine Arbeiten waren zuletzt bei Camera Matteotti in Wien und in der Galerie der Stadt Schwaz in Tirol zu sehen. Penca wird von der Galerie Deborah Schamoni in München vertreten. Charlotte Simon (* 1986 in Mainz) ist Absolventin der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main und studierte bis 2012 bei ­Judith Hopf. Ihre Arbeiten überschreiten die Grenzen von bildender Kunst, Perfor­ mance, Theater und Musik und waren kürzlich im Nassauischen Kunstverein in ­Wiesbaden, im Centre Européen d’Actions Artistiques Contemporaines – CEAAC in Straßburg und auf Kampnagel in Hamburg zu sehen. Neben ihren musikalischen ­Projekten Les Trucs, Mutandini Karl und Host Stewart ist sie Teil des Labelkollektivs MMODEMM und initiiert regelmäßig Musikevents in Frankfurt am Main. Toben Piel (* 1980 in Frankfurt am Main) ist Musiker, Performer und Produzent. ­Unter dem Pseudonym Zink Tonsur komponiert er Musik für Theaterstücke, Perfor­ mances und Installationen. 2007 gründete er zusammen mit Charlotte Simon die ­Musik- und Performancegruppe Les Trucs. Mehr als 400 Auftritte im Kunst- und ­Theater­kontext in Europa, Japan und Israel sowie Veröffentlichungen auf internatio­ nalen Labels folgten. 2013 schuf er mit drei weiteren KünstlerInnen in einem alten ­Bürogebäude in Frankfurt am Main das Office du Pain und präsentiert hier Ausstel­ lungen, Vorträge sowie musikalische und performative Experimente. Piel ist Mitbe­ treiber des Labels MMODEMM und rief Anfang 2015 das Soloprojekt Rolande ­Garros ins Leben. Die drei KünstlerInnen leben und arbeiten in Frankfurt am Main. Nadine Droste

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MIKA ROTTENBERG

MIKA ROTTENBERG TROPICAL BREEZE, 2004 Beeinflusst durch Das Kapital von Karl Marx beschäftigt sich Mika Rottenberg im Film Tropical Breeze (3:45 Min.) mit dem produzierenden Subjekt und seinem Produkt. Sie greift auf ungewöhnliche Weise die Marx’sche Theorie des Warenwertes auf und thematisiert dabei den Arbeitsprozess einer Person in Relation zu ihrer Umgebung. Auf die Hauptdarstellerin von Tropical Breeze, die Bodybuilderin Heather Foster, stieß Rottenberg im Internet. Wie in etlichen anderen Arbeiten entstand die Idee für den Film erst nach dem Auswählen der Darstellerin, die Rottenberg durch ihr prägnan­ tes Aussehen und Auftreten zu einer Idee verhalf.1 In Tropical Breeze lenkt Heather Foster einen Lastwagen, in dem das Produkt – nämlich ihr eigener Schweiß als Lemon Scented Moist Tissue – unter der Marke Tropical Breeze produziert und von der Tänzerin Felicia Ballos verpackt wird. Mika Rottenbergs Videos sind keine linearen Erzählun­ gen, sondern ähneln räumlichen Konstruktionen. Sie stellen Orte dar, an denen e­ twas Exotisches, Rituelles und Inspirierendes geschieht. Ihre Videos sind surreal, komisch und meist Teil einer Installation, die im Falle von Tropical Breeze aus verpackten Produk­ ten und Kartons besteht. Im Rahmen des Performance- und Filmprogramms im ­Frankfurter Palmengarten wurde das Video als große Projektion an der Außenwand von Hélio Oiticicas Penetrável PN 14 gezeigt. Durch die lebensgroße Darstellung der Hauptcharaktere nahm die Herstellung eines fiktiven Produkts nahezu reale Züge an. Mika Rottenberg (* 1976 in Buenos Aires) lebt und arbeitet in New York. Sie wuchs in Tel Aviv auf und besuchte das Hamidrasha, Bait Beri College of Arts in Israel. 2000 erwarb sie ihren Bachelor of Fine Arts an der School of Visual Arts in New York und 2004 ihren Master of Fine Arts an der Columbia University. Sie stellte u. a. im Magasin 3 in Stockholm, im De Appel in Amsterdam und im KW Institute for Contemporary Art – Kunst-Werke Berlin aus. 2015 wurde ihre Videoinstallation NoNoseKnows auf der Biennale von Venedig gezeigt. Ihre Arbeiten befinden sich heute in zahlreichen Samm­ lungen, etwa in der Solomon R. Guggenheim Foundation, dem Museum of Modern Art in New York, dem La Maison Rouge in Paris und in der Sammlung von Julia S­ toschek in Düsseldorf. Désirée Hailzl 1

Hudson 2010.

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Mika Rottenberg, Tropical Breeze, 2004, Video, 3:45 Min.

POLA SIEVERDING

POLA SIEVERDING MAKE UP / CROSS METROPOLIS MACHINE, 2010 / 2012 Die Videoarbeit Make Up (31:28 Min.), die im Rahmen des Performance- und Film­ programms „Hélio Oiticica im Palmengarten“ auf die Außenwand des P ­ enetrável PN 14 projiziert wurde, zeigt den Performer LINK beim Schminken. Der Hinter­ grund ist in Dunkelheit getaucht, sodass nichts von seinem Gesicht ­ablenkt. LINK greift zielstrebig zu Pinseln und Applikatoren und platziert die ­Farben so gekonnt wie auf einer Leinwand. Sorgfältig verteilt er Limonengrün auf dem gesamten Lid, akzentuiert die Lidfalte mit einem dunklen Violett, zieht die Augenbrauen mit einem schwarzen Stift nach und gibt so seinem Gesicht mehr und mehr weibliche Konturen. Er beherrscht souverän das, was er tut. Mit seinen ­großen maskulinen Händen bringt er die filigranen künstlichen Wimpern an seinen Augen an. Immer wieder überprüft er das Ergebnis jeden Schrittes, indem er kurz innehält und sich – oder den Betrachter – kritisch anschaut, denn die Kamera fungiert auch als sein Spiegel. Mit einer rothaarigen Perücke perfektioniert er das Bild. Kinnlang umspielen die Haare, die er noch einmal mit einer Bürste in Form bringt, nun sein Gesicht. Lange betrachtet er sich, dann endlich der Anflug eines Lächelns. Als letzter Schliff noch etwas Glanz auf die vollen Lippen und ein verführerischer Blick in die Ka­ mera. Das Werk ist vollendet. Doch plötzlich greift LINK noch einmal zum Lippen­ stift, setzt ihn an und bemalt seinen Mund in immer größer werdenden Kreisen. Kinn, Lippen und Nase leuchten rot. Jegliche Erwartung wird mit einem Mal dekonstru­ iert. Er reißt die angeklebten Wimpern ab, zieht sich die Perücke vom Kopf und beginnt sich wieder abzuschminken. Was er zuvor mit so viel Präzision und Hin­ gabe tat, zerstört er nun umso gröber. Mit Gesichtscreme vermischt er sämtliche ­Farben und verschmiert sie unsanft in seinem Gesicht. Dann nimmt er alles mit einem Kosmetiktuch ab, reibt angestrengt damit über die Augen, bis keine Farbe mehr zu sehen ist und das Gesicht wieder so aussieht wie zu Beginn. Kaum hat LINK seine Maske konstruiert, zerstört er sie auch schon wieder und wechselt somit zwischen stereotypen Geschlechterrollen hin und her. Pola Sieverding lässt den Betrachter zum Beobachter werden, indem sie ihn an diesem intimen Akt des Sich-Veränderns teilhaben lässt und ihm die Position des Spiegels zuweist. „Beim Schminken“, so Sieverding, „tritt man in einen Dialog mit sich selbst, wird sein eige­ nes und ein für andere mögliches Gegenüber. Ein Moment, den ich dabei selbst erle­ be.“1 Hier scheint der Betrachter unmittelbar in einen Dialog mit dem Performer zu treten. Die Identitäten verschwimmen dabei. Dieses Spiel mit Identität, insbesondere mit geschlechtlicher Identität, ist ein von Sieverding häufig aufgegriffenes Motiv, das ihre Arbeiten durchzieht.

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Pola Sieverding, Make Up, 2010, Video übertragen auf DVD, 32 Min.

POLA SIEVERDING

Zu Beginn der Hochkant-Projektion Cross Metropolis Machine (14:02 Min.) setzt langsame elektronische Musik ein, ein Rauschen, Bässe so leise und konstant wie Herztöne. Die Videoarbeit wurde in einem Club in Prag gedreht. Laserlichter flackern über den blassen dünnen Körper der Performerin. Langsam beginnt sie sich der ­Musik hinzugeben. Zunächst folgen ihre Hände dem Staccato der Bässe. Mal fokus­ siert die Kamera ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen, dann lässt sie es wieder verschwimmen. Trotz der elektronischen Musik, für die der Künstler und Musiker Orson Sieverding sorgte, bleiben die Bewegungen der Performerin stets langsam und kontrolliert. Einzig ihr Gesichtsausdruck verrät, wie sehr sie mit der Musik verschmilzt. Während das Rauschen lauter und die Bässe voller werden, wächst auch die Hingabe, mit der sie die Kräfte der Musik aufnimmt und wiedergibt. Verstärkt durch die unge­ wöhnliche Hochkant-Projektion erwecken die Bewegungen den Eindruck einer räumlichen Vermessung. Die Arbeit basiert auf Sieverdings Auseinandersetzung mit der Herkunft elektronischer Musik. Das für dieses Genre typische Motiv der Wie­ derholung sowie die industriell anmutenden Klänge werfen die Frage auf, wie Kräfte auf den Körper wirken und welche Körper sich daraus ergeben. Die Videoinstallationen von Sieverding konzentrieren sich auf den Körper als Aus­ drucksmittel. Immer wieder befasst sie sich in ihren Arbeiten mit Fragen kultureller ­Zugehörigkeit, der Einschreibung von Kultur in den Körper, Geschlechterrollen und dem Machtverhältnis zwischen Betrachter und Betrachtetem. Insofern lassen sich un­ terschiedliche Anknüpfungspunkte zum Werk Hélio Oiticicas herstellen: der Körper als Ausdrucksmittel ist einer. Um sich aus der Beschränkung der Malerei auf die Lein­ wand zu lösen, hatte Oiticica zu Beginn der 1960er Jahre die sogenannten Parangolés kreiert: Kostüme, die er für die Sambatänzer der Schule Estação Primeira de Mangueira in Rio de Janeiro entworfen hatte. Die Farben, die er ursprünglich auf die Leinwand setzte, übertrug er mit den Parangolés auf die Körper der Tänzer, um sie mit ihren rhyth­ mischen Bewegungen zu vereinen. „Tanz“, so Oiticica, „ist die exemplarische Suche nach dem unmittelbaren Akt des Ausdrucks, die Suche nach seiner Immanenz […].“2 Pola Sieverding (* 1981) lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte an der Carnegie Mellon University Pittsburgh und am Surikov-Institut in Moskau. 2007 schloss sie ihr Studium als Meisterschülerin von Stan Douglas an der Universität der Künste in Berlin ab. Sie arbeitet im Bereich Fotografie und Video. Sieverdings Arbeiten wurden u. a. in Ausstellungen im Künstlerhaus Bethanien in Berlin, im Neuen Berliner Kunstverein sowie im Museum Abteiberg in Mönchengladbach gezeigt. Der NAK Neuer Aachener Kunstverein veranstaltete 2016 eine große Einzelausstellung der Künstlerin unter dem Titel „THE EPIC“. Elena Frickmann 1 2

Pola Sieverding im Gespräch mit der Autorin. Oiticica, Hélio: „A dança na minha experiência“ (1965/66). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frank­ furt am Main 2013, S. 161.

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DWELLINGS 1972

CHARLES SIMONDS DWELLINGS 1972 Bekannt ist Charles Simonds für seine Architekturen in Miniaturgröße, die er seit den 1970er Jahren in den Straßen von Manhattan baut. Der 16-Millimeter-Film Dwellings 1972 (13:37 Min.) in Schwarz-Weiß, der von David Troy gefilmt und geschnitten wurde, zeigt Simonds’ typische Arbeitsweise: Seine Dwellings sind winzig kleine Behausungen aus Lehm – Konstruktionen in Mauerspalten, auf Fensterbrettern, neben Randsteinen, am Gehsteig oder auf Baustellen – für little people, Simonds’ imaginäres Volk, das in den Straßen der Lower East Side in New York lebt. Die Dwellings spiegeln für kurze Zeit die Geschichte der little people wider, denn sie sind ephemere Konstruktionen, die den Gefahren der Stadt ausgesetzt sind. In ihrem Aussehen und in ihrer Struktur weisen die Behausungen Parallelen zu jenen des präkolum­ bianischen Volkes der Anasazi auf, das in Utah, Arizona, New Mexico und Colorado lebte und dort seine berühmten Felswohnungen – wie den Cliff Palace im Mesa Verde National Park – zurückließ. Die ephemeren Konstruktionen in Manhattan scheinen Tradition und Geschichte der realen Bevölkerung der Lower East Side widerzuspie­ geln. Gerade in einem Bezirk, in dem ursprünglich jüdische, polnische, ungarische und deutsche Immigranten sowie Angehörige der Arbeiterklasse lebten, können die ­Dwellings nicht losgelöst von ihrer unmittelbaren Umgebung betrachtet werden. Der Film zeigt Angehörige verschiedener Nationen, die in Simonds’ künstlerische Arbeit involviert sind. Das einem Ritual gleichende Vorgehen ist stereotyp: So be­ ginnt der Künstler seinen Tag direkt an jenem Ort, an dem ein neues Dwelling entste­ hen soll. Simonds arbeitet ebenso wie die Bewohner der Mesa Verde um 600 n. Chr. mit dem primitiven Material Ton, aus dem er einzelne Bausteine konstruiert, die er mittels einer Pinzette befestigt. Kein Dwelling gleicht dem anderen. So ungewöhnlich und fiktiv die Orte erscheinen mögen, so ausgefeilt sind sie in ihrer Ausführung, so­ dass sie auch bei ihren Betrachtern Beachtung finden. Mehrere Filme dokumentieren die kurze Existenz von Simonds’ Dwellings. Simonds hat eine phantasievolle Ge­ schichte rund um sein imaginäres Volk geschaffen. Die Prägung seiner Kindheit ist hier offensichtlich: Familienurlaube, in denen er Bekanntschaft mit Naturvölkern machte, ein älterer Bruder, der zu Hause mit Ton arbeitete, sowie seine Eltern, die als Psychoanalytiker tätig waren.1 Hélio Oiticica lebte – zeitgleich mit Charles Simonds – ab 1970 in New York, wohin er wegen der seit 1964 in Brasilien herrschenden Militärdiktatur ins Exil gegangen war. Dort produzierte er einen großen Teil seiner Arbeiten, vor allem Propositionen, ­Videotapes und Entwürfe auf Papier. In einem Brief an Lygia Clark vom 2. August 1970 schrieb er über seine Zeit in Manhattan: „Today I’m feeling awful, I have thou­ sands of problems to solve without knowing how; I feel like I’m in prison, on this infer­ nal island [Manhattan] I have to accept whatever exploitative job they wish to offer me

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CHARLES SIMONDS

[…] it’s irritating; this city lives from slavelabour; illegal Puerto Ricans, Brazilians, Portuguese, Irish and god knows who else.“2 Simonds baute seine Dwellings anfänglich in Soho, wo viele Afro-Amerikaner und Puertoricaner wohnten. Erst nach zwei Jahren zog er mit ihnen in die Lower East Side. Wie Oiticica negierte er die konventionellen sozialen Kanäle der Kunstwelt. Im Inter­ view mit Daniel Abadie erzählt er, wie er seine Ideen möglichst vielen Menschen zugän­ glich machen und durch Filme weitergeben wollte: „I do feel a commitment to making ideas available to as many people as possible, including art people, even if only as films, photographs, and other ‚reflections‘.“3 Vorstellungen von der Partizipation an Kunstwerken und der Weitergabe von ­Ideen und Vorschlägen sind beiden Künstlern gemeinsam. Simonds formulierte das so: „I am far more interested in taking what knowledge and understanding I gathered from art out into other contexts than I’m interested in dragging a part of the real world into ‚art‘ […].“4 Für Oiticica stellten die Jahre in New York seinen künstlerischen Höhepunkt dar, denn dort schuf er nicht nur das Subterranean Tropicália Project (1971), sondern drehte auch einige Super-8-Filme, darunter den unvollendeten Agripina é Roma Manhattan (1972). Ihn faszinierten die Straßen Manhattans in ihrem historischen Kontext. ­Agripina é Roma Manhattan zeigt einerseits Oiticicas individuelle Eindrücke der Archi­ tektur, andererseits die Performance einer Szene aus dem Gedicht O Guesa des brasi­ lianischen Dichters Joaquim de Sousândrade (1832–1902). So waren sich die beiden Zeitgenossen in ihrer partizipativen Kunst ähnlicher als gemeinhin angenommen. Charles Simonds (* 1945 in New York) studierte an der University of California in Berkeley und schloss sein Studium 1969 an der State University of New Jersey ab. Sein Œuvre bewegt sich zwischen Performance, Film, Skulptur, Land Art und Architektur. Heute sind seine Arbeiten weltweit in großen Sammlungen wie jenen des Whitney Museum und des Museum of Modern Art in New York oder des Centre Pompidou in Paris vertreten. Simonds stellte international aus: In der Fundación Bilbao Arte in ­Spanien, im Musée d’art moderne et contemporain in Toulouse, in der Fundación La Caixa in Barcelona sowie im Solomon R. Guggenheim Museum in New York und ­vielen mehr. Désirée Hailzl 1 Simonds 1977, S. 7. 2 Hinderer Cruz 2011. 3 Simonds 1977, S. 9. 4 Ebd.

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Charles Simonds, Dwellings 1972, 16-mm-Film, 13:37 Min.

JACK SMITH

JACK SMITH SCOTCH TAPE / JUNGLE ISLAND /  SONG FOR RENT, 1959–1962 / 1967 / 1969 Verblichenes Lametta, Papierblumen und kleine Katzen, die an Marihuana-Blättern ­knabbern. Eine glockenhelle Stimme singt God Bless America. Dramatische Drags räkeln sich in extravaganten Gewändern. Tanzende Körper, quietschende Töne, mit Klebeband zusammengehaltene Filmstreifen. Die drei Filme Scotch Tape, Jungle Island und Song for Rent zeugen von Jack Smiths improvisierter Low-Budget-Ästhetik. Smith liebte das Pompöse, den Stil und die Pose. Vor allem aber suchte und fand er Schönheit dort, wo man sie nicht vermutet: Auf der Straße entdeckte Sperrmüllschätze setzte er als Requisiten ein, Figuren des Untergrunds wurden zu schillernden Protagonisten seiner Filme. Diese sind reich an Zitaten aus der amerikanischen Popkultur und dem Hollywood-Kitsch der 1950er Jahre. Als Pionier des „American Underground“ prägte er mit Werken wie dem orgiastischen Film Flaming Creatures (1963) eine Ästhetik des „Camp“. Die amerikanische Kritikerin Susan Sontag bezeichnete „Camp“ in einem Essay von 1964 als Liebe zur Übertreibung und zum Thea­ tralen sowie als Erlebnisweise, die sich von den üblichen Schemata ästhetischer Erfah­ rung und Bewertung abwendet und neue Kategorien des Geschmacks erschließt.1 Bei Smith geht es jedoch nicht nur um den Reiz des Visuellen, sondern auch um das Perfor­ men queerer Identitäten. Denn die „Creatures“, die seine Filme bevölkern, sind nicht ­selten Drag Queens, Vampire, Meerjungfrauen oder andere magische Wesen. Als wich­ tigste Muse gilt jedoch María Montez, jene dominikanische Schauspielerin, die durch ihre Hauptrolle in der B-Movie-Produktion Cobra Wom­an von 1944 bekannt wurde. Smith verehrte sie wie eine Heilige. In der Rolle des Mario Montez ließ er den Performer René Rivera in seinen Filmen spielen, etwa in Jungle Island, wo Mario als exotische Schön­ heit María durch einen Dschungel aus Lametta lugt und die Betrachter betört. Drag, so die Philosophin Judith Butler, ist ein Ort der Ambivalenz: Einerseits kann Drag zur Destabilisierung von Geschlechterrollen führen, andererseits eine Re-Ideali­ sierung heterosexueller Normen hervorrufen, indem Stereotype von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit konstruiert werden.2 Smith und seine „Creatures“ streben jedoch keinerlei Ideal an. Natürlich ist Mario Montez nicht María Montez und auch Jack Smith ist als sein Alter Ego Rose Courtyard in Song for Rent mit roter Perücke und allerlei Kitsch-­ Memorabilien eher tragisch als elegant. Das Performen von Geschlecht stellt also viel­ mehr ein subversives Moment dar. Es geht nicht darum, mit Maskerade und Make-Up eine vermeintliche Authentizität oder Natürlichkeit zu erzielen, sondern um ein Spiel mit Identitäten, durch welches die Trennlinie zwischen Darstellung und Dargestelltem ver­ schwimmt und ein „wahres Ich“ letztlich nicht mehr auszumachen ist. Die Jahre von 1970 bis 1978, die Glanzzeit von Andy Warhols Factory, Pop Art und einer blühenden Untergrund-Szene, verbrachte Hélio Oiticica in New York. Oiticica traf

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Jack Smith, Filmstills aus Song For Rent, 1969, 0:04 Min.

JACK SMITH

Smith bei einer Performance in dessen Loft in Soho. Auf der Party des Künstlers und Schriftstellers Ira Cohen machten Oiticica und Mario Montez Bekanntschaft miteinan­ der. Aus der Faszination für Smiths exotisch-kitschige Ästhetik und die Filme mit Mario Montez entstand die Schrift Mario Montez, Tropicamp, in der Oiticica die Arbeit von Smith von der amerikanisierten Pop-Ästhetik anderer New Yorker Künstler absetzt: „[…] nach all dem, was ich gesehen und erfahren habe, betrachte ich JACK SMITH als gleichzeitig PRE- und POST-TROPICÁLIA, der auf beeindruckende weise tro­ pi-hollywood-camp-klischees miteinander verbindet – WARHOL hat sich eher zu dem entwickelt, was er schon ist: POP und POST-POP, verbindung von POP und klischee-HOLLYWOOD-AMERICA — für uns wichtig und interessant an der inkar­ nation-persönlichkeit MARIO MONTEZ ist, dass er eben genau das klischee-LA­ TEINAMERIKA als ganzes verkörpert […].“3 Die Thematik des Exotischen, Tropischen, ‚Anderen‘ beschäftigt Smith wie Oiticica glei­ chermaßen. Mit Palmen und blühenden Gewächsen, Kies und Sand, Papageien, architek­ tonischen Holzkonstruktionen, bunt gemusterten Stoffen und Plastikplanen lädt die In­ stallation Tropicália zum Begehen und Entdecken ein. Die tropisch-exotischen Elemente und Materialien stehen für eine kritische Reflexion eines klischeebesetzten Bildes von Lateinamerika. In den 1960er Jahren wurde die brasilianische Kunstproduktion vor allem von neo-konkreten Strömungen beherrscht. In einer sehr turbulenten Zeit – ein repressives politisches Regime löste in Brasilien immer mehr Proteste aus – wurde jener kühle, konstruktivistische Stil dem Lebensgefühl der Menschen nicht mehr gerecht und Oiticicas Tropicália wirkte als lebendiger Gegenentwurf. Hier werden die Rezipienten ­aktiver Bestandteil des Kunstwerks und begegnen ihm mit all ihren Sinnen. Oiticicas Kunstwerk wurde Namensgeber für eine kulturelle Strömung von Musikern, Poeten und Künstlern; sein Aufruf „Sei ein Außenseiter, sei ein Held“ – zum inoffiziellen Slogan. Denn es gilt nun, die eigene Kultur, die Kultur einer Dritten Welt, zu zelebrieren und die gängigen Vorstellungen von brasilianischem Lebensgefühl zu dekonstruieren. Jack Smiths Filme und vor allem Mario Montez stehen für Oiticica also als Sinnbild für die Verbin­ dung einer „Camp“-Ästhetik, die sich nicht (nur) eines nordamerikanischen Bildrepertoires bedient, sondern die sich auch lateinamerikanische, tropische Klischees und Symbole auf produktive Weise aneignet. Jack Smith (1932, Columbus, Ohio, bis 1989, New York) war ein Filmemacher. Sein queeres „Underground Cinema“ inspirierte New Yorker Zeitgenossen wie Andy Warhol und spätere unabhängige Regisseure wie George Kuchar oder John Waters. Marie Sophie Beckmann 1 2 3

Sontag [1964] 1991. Butler [1993] 1995. Oiticica, Hélio: „Mario Montez, Tropicamp“ (1971). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013, S. 263.

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FALLING FOR THE MATUHI, 2013

SIMON SPEISER FALLING FOR THE MATUHI, 2013 Simon Speiser schreibt Science-Fiction-Geschichten, die sich weigern, auf dem Papier zu bleiben. Stattdessen zeigen sie sich als Installationen aus Eis-Skulpturen, 3D-Dru­ cker-Objekten oder digital bedruckten Stoffbahnen. Zwischen den Zeilen der Kurzge­ schichten kommen Welten zum Vorschein, in denen Technologie, künftige Menschen und Natur nicht im Gegensatz zueinander, sondern ohne Widerspruch nebeneinander stehen. In diesen seltsamen neuen Welten dehnt sich Wahrnehmung zur Sinnlichkeit aus und es treten unerwartete Momente der Erotik auf. Speisers Proposition (Vorschlag) Falling for the Matuhi für das Penetrável PN 14 ver­ setzte Hélio Oiticicas Werk ins Reich der Matuhi, Lebewesen, die aus Speisers gleichna­ miger Geschichte stammen. Für Oiticica war es seit seinem allerersten Penetrável PN 1 (1961) klar, dass man in die labyrinthartigen Strukturen des Penetrável eindringen muss. Die Penetráveis waren keine Skulpturen nur zum Anschauen. Oiticica erklärte die aktive Partizipation, also das Betreten des Kunstwerks, zur Voraussetzung für eine ästhetische Erfahrung. Speiser führt diesen Ansatz fort und lässt den Inhalt seiner Installation hap­ tisch werden. Das Betreten des Penetrável PN 14 ließ jeden an einem imaginierten Ort teilhaben – an der hypersinnlichen, hyperkommunikativen Welt der Matuhi. Speiser platzierte geschliffene, mit Kakao-Nibs gefüllte Kristallschalen an allen vier Eingängen des Penetrável, um die Besucher zum Eintreten zu verführen. Mit gerö­ steten und gebrochenen Kakaobohnenstückchen in der Hand führte die Reise durch enge Flure und durch vier Räume. In drei von diesen Räumen waren immer wieder dieselben bildhauerischen Elemente zu entdecken: Plastikbrunnen, Gläser und Schrift­ rollen. Im Zentrum der Räume befanden sich industriell hergestellte Trinkbrunnen auf schimmernden Sockeln. Die Sockel waren mit goldenem Stoff verkleidet, der mit schwarzen Palmenmotiven geschmückt war. Auf dem Boden stand eine Vielzahl ge­ schliffener Kristallgläser mit kurzem Stiel, manche waren sauber, andere voll von Über­ resten bereits genossener Getränke. TeilhaberInnen des Werkes waren eingeladen, ein Glas zu nehmen, es zu füllen, daran zu nippen und weiter durch das Penetrável zu laufen – mit oder ohne Glas. Vor den weißen Wänden befanden sich mehrere aufgerollte Schriftrollen. Jede Schrift­ rolle war mit einem goldenen und einem schwarzen Faden zugebunden. Die Farben entsprachen den Farben des am Sockel befindlichen Stoffes. Auf den Schriftrollen war die Geschichte in einer kursiven Schrift zu lesen. Die erste Zeile lautete: „The Matuhi had become the centre of Andrés' life“ und beschrieb die filigranen, geflügelten Matuhi, die direkt mit der Vorstellungskraft kommunizieren können. Die drei Räume ähnelten sich so sehr, dass ihr Betreten einen Déjà-vu-Effekt aus­ lös­te. Im Kontrast dazu brach der vierte Raum mit dieser Logik. Dort stand ein mäch­ tiger Eisblock. Fast transparent gefroren und über einen Meter hoch wirkte er ähnlich

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SIMON SPEISER

­mystisch wie das Penetrável selbst. Doch wie war er hierhergekommen? Der Block hat­ te drei Kammern, in denen geflügelte Wesen eingefroren waren, klein genug, um auf ­einer Handfläche Platz zu finden. Silber- und goldbronzierte Flügel hüllten rot getönte Körper ein, am unteren Teil der Körper waren auch Schwänze zu erkennen. Dies waren die Wesen, nach denen Andrés, die Hauptfigur der Kurzgeschichte, suchte, Wesen mit „thin and delicate wings that break the light in such gorgeous shim­ mering tones“. Der Text sollte nicht einer „richtigen“ Lesart der Installation dienen, konnte jedoch die „erfinderische Partizipation des Betrachters“¹ anregen. Es gab auch keinen vorgegebenen Pfad durch das Penetrável, so konnte es sein, dass der Raum mit dem Eisblock zuerst betreten wurde. Die Installation war nicht statisch und veränderte sich im Laufe der 48 Stunden ihrer Existenz entscheidend. Die Installation performte ihre Materialität. Der grau gestrichene Fußboden war zunehmend mit Kakao befleckt, in den Fluren sammelten sich Kakao-Nibs, der Eisblock verwandelte sich in Wasser und die Matuhi wurden aus ihrer eisigen Gefangenschaft befreit. Speisers Untersuchung der Natur der Materialität wurde im Kontext des Palmen­ gartens ausgestellt. Im Palmengarten wird Natur als Konstrukt gefeiert. Hier wachsen Pflanzenarten in simulierten Biotopen, die ohne menschlichen Eingriff nie nebenei­ nander existieren würden, ausgewählt aufgrund ihres Aussehens, ihres Duftes und ih­ rer exotischen Herkunft. Das Tropicarium ist nicht mit den Tropen zu vergleichen, sondern eine künstliche Schöpfung des Menschen, ein von gelben Wasserschläuchen, Luftbefeuchtern und künstlichen Lichtern aufrechterhaltenes Konstrukt. Mit seiner Installation untersucht Speiser die Materialität neuer Wirklichkeiten: Die Matuhi waren nicht von Hand, sondern mit einem 3D-Drucker geformt, die Rol­ len nicht von Hand beschriftet, sondern digital bedruckt, die Trinkbrunnen nicht aus Stein gemeißelt, sondern in einer Fabrik hergestellt – und kein Wetterereignis hatte den Eisblock geformt, sondern ein Industriekühlsystem. Innerhalb des Konstrukts Pal­ mengarten wirkte Speisers bewusster Einsatz von digitalen und synthetischen Prozes­ sen ironischerweise erstaunlich natürlich. Simon Speiser (* 1988 in Regensburg) studierte Freie Bildende Kunst bei Michael Krebber und Willem de Rooij an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, Frankfurt am Main, und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Teilgenommen hat er zuletzt u. a. an den Gruppenausstellungen „The Big Scene: Seven Sights“, MMCA, Seoul, 2015, und „New Frankfurt Internatio­ nals“, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt am Main, 2015. Die Einzelausstellung „Hundstage“ war 2015 in der Galerie Croy Nielsen in Berlin zu sehen. Clare Molloy 1

Oiticica, Hélio: „A dança na minha experiência“ (1965/66). Deutsche Übersetzung in: Ausst.Kat. Frank­ furt am Main 2013, S. 166.

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Simon Speiser, Falling for the Matuhi, 2013, Installation (Eis-Skulptur, 3D-gedrucktes PIC100-Harz, ­Sprühfarbe)

Einladungskarte zur Theater-Performance „Macumba Antropofaga“ des Teatro Oficina im Penetrável Magic Square no. 05 im Instituto Inhotim, mit Porträt von Oswald de Andrade, 2010

Hélio Oiticica, Penetrável Magic Square no. 05, De Luxe, 1977, Installationsansicht im Instituto Inhotim in Brumadinho mit Theater-Performance des Teatro Oficina, 2010

Hélio Oiticica, Penetrável PN 14, 1979, Installationsansicht im Palmengarten in Frankfurt am Main, 2013

Hélio Oiticica, Penetrável PN 14, 1979, Installationsansicht im Palmengarten in Frankfurt am Main, 2013

Autoren / Authors Daniel Birnbaum ist Direktor des Moderna Museet in Stockholm und Mitglied der ­Redaktion der Zeitschrift Artforum. Von 2000 bis 2010 war er Rektor der Städelschule in Frankfurt am Main und Direktor der Kunsthalle Portikus. 2009 war er künstle­ rischer Leiter der Biennale in Venedig. Daniel Birnbaum is director of Moderna Museet in Stockholm and a contributing editor of Artforum. Between 2000 and 2010 he was rector of the Städelschule in ­Frankfurt am Main and director of its Kunsthalle Portikus. He was the director of the Venice Biennale in 2009. Peter Gorschlüter ist Stellvertretender Direktor am MMK Museum für M ­ oderne Kunst Frankfurt am Main und war Co-Kurator der Ausstellung „Hélio ­Oiticica. Das große Labyrinth“. Von 2008 bis 2010 war er Head of Exhibitions and D ­ isplays an der Tate Liverpool. 2010 war er Co-Kurator der Liverpool Biennale. Von 2002 bis 2007 war er Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunst­halle Düsseldorf. Peter Gorschlüter is deputy director of the MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main and co-curated the exhibition “Hélio Oiticica. The Great ­Labyrinth”. From 2008 to 2010 he was Head of Exhibitions and Displays at the Tate Liverpool. In 2010 he co-curated the Liverpool Biennial. From 2002 to 2007 he was ­curator and assistant director at Kunsthalle Düsseldorf. Jörg Heiser ist Co-Chefredakteur des Kunstmagazins frieze, Herausgeber von frieze d/e und schreibt für die Süddeutsche Zeitung. Er ist Gastprofessor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Letzte Veröffentlichungen: Plötzlich diese Übersicht. Was gute Zeitgenössische Kunst ausmacht (2007); Doppelleben. Kunst und Popmusik (2016). Er kuratierte u. a. die Ausstellung „Romantischer Konzeptualismus“ (2007, Kunsthalle Nürnberg und BAWAG Foundation Wien). Jörg Heiser is co-editor of frieze magazine, co-publisher of frieze d/e, and a critic writ­ ing for Süddeutsche Zeitung. He is a visiting professor at Hochschule für bildende Kün­ ste, Hamburg. Recent publications in English: All of a Sudden. Things that Matter in Contemporary Art (2008); Double Lives between Art and Pop Music (2016, forthcom­ ing). Exhibitions curated by Heiser include “Romantic Conceptualism” (2007, Kunst­ halle Nürnberg, BAWAG Foundation Vienna). Stefanie Heraeus ist wissenschaftliche Leiterin und Initiatorin des Masterstudien­ gangs Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik der Goethe-Universität ­Frankfurt am Main und der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschu­ le. Von 2004 bis 2008 war sie künstlerische Leiterin des Bielefelder Kunstvereins,

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von 1996 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Museumslandschaft Hessen ­K assel. Stefanie Heraeus is head and initiator of the Master Program Curatorial Studies – Theory – History – Criticism, run by the Goethe University Frankfurt and the Städel­ schule, State Academy of Fine Arts. From 2004 to 2008 she was director of Bielefelder Kunstverein, from 1996 to 2003 she was assistant curator at Museumslandschaft ­Hessen Kassel. Christoph Menke ist Professor für Praktische Philosophie am Institut für Philosophie und im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Uni­ versität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Politische und Rechtsphilosophie; Ästhetik. Letzte Veröffentlichungen: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie (2008); Recht und Gewalt (2011); Die Kraft der Kunst (2013); Kritik der Rechte (2015). Christoph Menke is Professor for Practical Philosophy in the Department of Philoso­ phy and the Research Cluster „The Formation of Normative Orders“ at Goethe-Univer­ sität Frankfurt am Main. Key research areas: Political Philosophy, Philosophy of Law, Aesthetics. Recent publications in English: The Sovereignty of Art. Aesthetic Negativity after Adorno and Derrida (1998); Reflections of Equality (2006); Tragic Play. Tragedy, Irony and Theater from Sophocles to Beckett (2009); Force. A Fundamental Concept of ­Aesthetic Anthropology (2012). César Oiticica Filho, ein Neffe von Hélio Oiticica, arbeitet als Maler, Fotograf, Kura­ tor und Filmregisseur. 2012 kam sein auf Found-Footage-Material basierender Doku­ mentarfilm Hélio Oiticica heraus. Zu den zahlreichen Ausstellungen, die er ko-kuratiert hat, gehören „Hélio Oiticica – Museu É o Mundo“ (Museu Coleção Berardo, Lissa­ bon) und „Hélio Oiticica. Das große Labyrinth“ (MMK Museum für Moderne Frank­ furt am Main). César Oiticica Filho, a nephew of Hélio Oiticica, works as a painter, photographer, exhibition curator, and filmmaker. In 2012 his found-footage documentary Hélio ­Oiticica came out. Exhibitions co-curated by Oiticica Filho include “Hélio Oiticica – Museu É o Mundo” (Museu Coleção Berardo, Lisbon) and “Hélio Oiticica. The Great Labyrinth” (MMK Museum für Moderne Frankfurt am Main). Júlia Rebouças ist Co-Kuratorin der 32. São Paulo Biennale 2016. Von 2007 bis 2015 war sie Kuratorin am Instituto Inhotim in Brumadinho, Brasilien. Sie war 2013 assoziier­ te? [adjunct] Kuratorin der 9. Mercosul Biennale in Porto Alegre und von 2012 bis 2015 Mitglied in der Komission der Videobrasil Association. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dis­ sertation an der Universität von Minas Gerais.

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Júlia Rebouças is a co-curator of the 32nd São Paulo Biennale 2016. She has worked as a curator at Instituto Inhotim in Brumadinho, Brazil, from 2007 to 2015. She was adjunct curator for the 9th Mercosul Biennial, Porto Alegre, 2013. From 2012 to 2015, she was part of the Videobrasil Association as a member of the curatorial commission. She is cur­ rently working on her doctorate in visual arts at the Federal University of Minas Gerais. Jochen Volz ist Kurator der 32. São Paulo Biennale 2016, war zwischen 2012 und 2015 Programmleiter der Serpentine Galleries in London und zwischen 2005 und 2012 Künstlerischer Direktor des Instituto Inhotim in Brumandinho, Brasilien. Von 2001 bis 2004 war Volz als Kurator des Portikus in Frankfurt am Main tätig. Jochen Volz is the curator of the 32nd São Paulo Biennale. Between 2012 and 2015 he served as the Head of Programmes of the Serpentine Galleries in London and between 2005 and 2012 as the Artistic Director of the Instituto Inhotim, Brumadinho, Brazil. From 2001 to 2004 Volz was curator of Portikus in Frankfurt am Main. Adrian Williams ist eine amerikanische Künstlerin, die zurzeit in Frankfurt am Main lebt und arbeitet. Sie hat an der Cooper Union School of Art in New York und an der Städelschule studiert. Ausgezeichnet wurde sie mit dem ars viva-Preis 2013/14. Ihre Arbeiten waren u. a. ausgestellt auf der Athen Biennale, bei ArtProduction Fund LAB in New York, Artpace in San Antonio, Texas, in der Kunsthalle Portikus, im Städel ­Museum und im MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main. Adrian Williams is an American artist. She currently lives and works in Frankfurt am Main. Graduate of The Cooper Union School of Art in New York, and the Städel­ schule, Frankfurt. She is a recipient of the ArsViva award 2013/14. Her work has been exhibited at the Athens Biennale, ArtProduction Fund LAB in New York, Artpace in San Antonio, Texas, at the Kunsthalle Portikus, at the Städel Museum, and at the MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main. Alle übrigen Texte stammen von Studierenden des Studiengangs Curatational Studies des Jahrgangs 2012. All other texts were contributed by students of the Curatorial Studies Programme of the year 2012.

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Literatur / Bibliography Adorno 1974 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1974 Adorno 1997 Adorno, Theodor W.: Aesthetic Theory, trans. Robert Hullot-Kentor, London et al. 1997 Ausst.Kat. Frankfurt am Main 2013 Hélio Oiticica. Das große Labyrinth, hg. von Susanne Gaensheimer / Peter Gorschlüter / Max Jorge Hinderer Cruz / César Oiticica Filho (MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main), Ostfildern-Ruit 2013 Ausst.Kat. Houston / London 2007 Hélio Oiticica. The Body of Colour, hg. von Maria Carmen Ramírez / Luciano Figueiredo / Hélio Oiticica (The Museum of Fine Arts, Houston; Tate Modern, London), Houston 2007 Ausst.Kat. London 1969 Hélio Oiticica. Whitechapel Experiment (Whitechapel Gallery, London), London 1969 Ausst.Kat. London 2005 Open Systems. Rethinking Art c. 1970, hg. von Donna De Salvo (Tate Modern, London), London 2005 Ausst.Kat. London 2007 Oiticica in London, hg. von Guy Brett / Luciano Figueiredo (Tate Modern, London), London 2007 Ausst.Kat. New York / Minneapolis / Miami 1999/2000 Global Conceptualism: Points of Origin, 1950’s–1980’s, hg. von Luis Camnitzer / Jane Farver / Rachel Weiss (Queens Museum of Art, New York; Walker Art Center, Minneapolis; Miami Art Museum, Miami), New York 1999 Ausst.Kat. Rotterdam / Paris / Barcelona / Lissabon / Minneapolis 1992 Hélio Oiticica (Witte de With, Rotterdam; Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris; Fundació Antoni Tàpies, Barcelona; Centro de Arte Moderna da Fundaçao Calouste Gulbenkian, Lissabon; Walker Art Center, Minne­ apolis), 1992 Böhm 1966 Böhm, Franz: „Privatrechtsgesellschaft und Marktgesellschaft“, in: Ordo 17 (1966), S. 75–151 Boudry / Lorenz 2011 Boudry, Pauline / Lorenz, Renate: Temporal Drag, Ostfildern-Ruit 2011 Breitwieser 2000 Breitwieser, Sabine: „vivências / Lebenserfahrung / life experience. Brüche in der Übersetzung“, in: Ausst.Kat. vivências / Lebenserfahrung / Life Experience. Luis Camnitzer, Lygia Clark, Alberto Greco, David Lamelas, Lea Lublin, Clido Meireles, Ana Mendieta, Marta Minujin, Hélio Oiticica, hg. von Sabine Breitwieser ­(Generali Foundation, Wien), Wien 2000, S. 13–34 Buchmann 2001 Buchmann, Sabeth: „Für dieses Happening verlange ich nichts, aber das nächste wird euch 100.000 Dollar kosten!“, in: Ausstellungen. Vom Display zur Animation. Texte zur Kunst 11(2001), H. 41, S. 77–92 Buchmann 2007 Buchmann, Sabeth: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin 2007 Buchmann / Hinderer Cruz 2013 Buchmann, Sabeth / Hinderer Cruz, Max Jorge: Hélio Oiticica and Neville D’Almeida. Block-Experiments in Cosmococa – Program in Progress, London 2013 Butler [1993] 1995 Butler, Judith [1993]: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1995 Davis 2013 Davis, Vagina: „Der Himmel ist im Oarsch“, in: Speaking from the Diaphragm – The Vaginal Davis Blog, 13.09.2013. URL: http://blog.vaginaldavis.com/2013_09_08_archive.html [Stand 25.03.2016]

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Dezeuse 2004 Dezeuze, Anna: „Tactile Dematerialization, Sensory Politics: Hélio Oiticica’s Parangolés“, in: Art Journal 63 (2004), Nr. 2, S. 58–71 Dunker 2001 Dunker, Hedda: „Hélio Oiticica“, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst 53 (2001) Heft 7 Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013 Hélio Oiticica. The Great Labyrinth, ed. Susanne Gaensheimer / Peter Gorschlüter / Max Jorge Hinderer Cruz / César Oiticica Filho (MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main), Ostfildern-Ruit 2013 Exh.Cat. Houston / London 2007 Hélio Oiticica. The Body of Color, ed. Maria Carmen Ramírez / Luciano Figueiredo / Hélio Oiticica (The Museum of Fine Arts, Houston; Tate, London), Houston 2007 Exh.Cat. London 1969 Hélio Oiticica. Whitechapel Experiment (Whitechapel Gallery), London 1969 Exh.Cat. London 2005 Open Systems. Rethinking Art c. 1970, ed. Donna De Salvo (Tate Modern, London), London 2005 Exh.Cat. London 2007 Oiticica in London, ed. Guy Brett / Luciano Figueiredo (Tate Modern, London), London 2007 Exh. Cat. New York / Minneapolis / Miami 1999/2000 Global Conceptualism: Points of Origin, 1950’s–1980’s, ed. Luis Camnitzer, Jane Farver und Rachel Weiss (Queens Museum of Art, New York; Walker Art Center, Minneapolis; Miami Art Museum, Miami), New York 1999 Exh.Cat. Rotterdam / Paris / Barcelona / Lisbon / Minneapolis 1992 Hélio Oiticica (Witte de With, Rotterdam; Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris; Fundació Antoni Tàpies, Barcelona; Centro de Arte Moderna da Fundaçao Calouste Gulbenkian, Lisbon; Walker Art Center, ­Minneapolis), 1992 Geertz 2000 Geertz, Clifford: „Kulturbegriff und Menschenbild“, in: Burkard, Franz-Peter: Kulturphilosophie, Freiburg i. Br. 2000, S. 205–231 Hantelmann 2012a Hantelmann, Dorothea von: „Notizen zur Ausstellung“, in: Christov-Bakargiev, Carolyn / Sauerländer, Katrin (Hg.): dOCUMENTA (13). Katalog. Das Buch der Bücher, Ostfildern 2012, S. 586–589 Hantelmann 2012b Hantelmann, Dorothea von: „Notes on the Exhibition“, in: Christov-Bakargiev, Carolyn / Sauerländer, Katrin (Hg.): dOCUMENTA (13). Catalog. The Book of Books, Ostfildern 2012, S. 548–551 Hantelmann / Meister 2010 Hantelmann, Dorothea / Meister, Carolin (Hg.): Die Ausstellung – Politik eines Rituals, Zürich / Berlin 2010 Hinderer Cruz 2011 Hinderer Cruz, Max Jorge: „TROPICAMP: Some Notes on Hélio Oiticica’s 1971 Text“, in: Afterall 28 (2011). URL: http://www.afterall.org/journal/issue.28/tropicamp-pre-and-post-tropic-lia-at-once-some-contextualnotes-onh-lio-oiticica-s-1971-te [Stand 05.01.2014] Hinderer Cruz / Krümmel 2013 Hinderer Cruz, Max Jorge / Krümmel, Clemens: „Notizen zu Übersetzung und Edition“ / „Notes on the Translation and the Edition“, in: Ausst.Kat. / Exh.Cat. Frankfurt am Main 2013, S. 43–45 / S. 46–48 Hudson 2010 Hudson, Judith: „Mika Rottenberg“, in: BOMB. Conversations between Artists, Writers, Actors, Directors, Musicians (2010), Nr. 113, S. 26–33 Kant 1924 Kant, Immanuel: „Reflexion 1820a“, in: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen ­Akademie der Wissenschaften, Abt. 3: Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3: Logik, Berlin / Leipzig 1924 (Bd. 16 der Gesamtausgabe), S. 127

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Impressum Die Publikation entstand anlässlich des Performance- und Filmprogramms „Hélio Oiticica im Palmengarten“, kuratiert von Studierenden der Curatorial Studies der Goethe-Universität und der Staatlichen Hochschule für ­Bildende Künste – Städelschule, unter der Leitung von Stefanie Heraeus, in Kooperation mit dem MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, Peter Gorschlüter. 31. August – 27. Oktober 2013 Herausgeberin: Stefanie Heraeus KuratorInnen: Fanti Baum, Marie Sophie Beckmann, Miriam Bettin, Nadine Droste, Elena Frickmann, Désirée Hailzl, Marenka Krasomil, Clare Molloy, Carolin Schulz, Milan Ther, Yanna Varbanova Projektkoordination vor Ort: Marenka Krasomil, Miriam Bettin, Nadine Droste, Clare Molloy Presse/Öffentlichkeitsarbeit: Marie Sophie Beckmann, Elena Frickmann Redaktion: Linda Baumgartner, Marie Sophie Beckmann, Clare Molloy Lektorat: Wanda Löwe Übersetzungen: Clare Molloy (Interview César Oiticica Filho, Beckmann / Krasomil), Alexandra Titze-Grabec (Rebouças), Judith Rosenthal (alle anderen Texte) Gestaltung: Surface, Frankfurt am Main/Berlin Satz: Druckwerkstatt, Staatliche Hochschule für Bildende Künste – Städelschule Druck: Imbescheidt, Frankfurt am Main Auflage: 250 Titelbild: Hélio Oiticica, Penetrável PN 14, 1979, Installationsansicht im Palmengarten in Frankfurt am Main, 2013, Foto: Axel Schneider, © MMK Museum fur Moderne Kunst Frankfurt am Main Bildnachweis: Archiv des Projeto Hélio Oiticica, Rio de Janeiro: S. 6, 11; Franziska von Stenglin: S. 113, 122, 127, 129, 133, 137, 141, 149, 151, 161, 177; Miriam Bettin: S. 117; Courtesy of Ellen de Bruijne Gallery and Galerie Marcelle Alix: S. 122; Courtesy of the artist Anna Margit Erber: S. 143; Courtesy Galeria Fortes Vilaça, São Paulo: S. 145; Wolfgang Günzel, Ausstellung „Short Ride in a Fast Machine“, Oldenburger Kunst­ verein, 2013: S. 155; Henning Frederik Malz: S. 159; © Mika Rottenberg, Courtesy Andrea Rosen Gallery, New York: S. 165; © Pola Sieverding, VG Bild-Kunst: S. 167; Courtesy of the artist Charles Simonds: S. 171; © Jack Smith Archive, Courtesy Gladstone Gallery, New York / Brüssel: S. 173; Courtesy Instituto Inhotim, Brumadinho: S. 178–179; Axel Schneider, © MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main: ­ S. 180–183

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Die Ausstellung wurde gefördert durch:

Das Performance- und Filmprogramm wurde gefördert durch:

Die Publikation wurde gefördert von:

Der Studiengang wird unterstützt von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; ­detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Print-ISBN: 978-3-8376-3737-3 PDF-ISBN: 978-3-8394-3737-7 Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik Goethe-Universität/Staatliche Hochschule für Bildende Künste – Städelschule Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt/Dürerstraße 10, 60596 Frankfurt am Main Staatliche Hochschule für Bildende Künste Städelschule Frankfurt am Main

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ie Penetráveis sind spektakuläre Rauminstallationen, die der bra­ silianische Künstler Hélio Oiticica in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte. Sie sind Orte des Ausprobierens und werden erst durch Benutzung aktiviert. Oiticica hat damit ein F ­ ormat erfunden, das bis heute immer neue Möglichkeiten für künstlerische Interventi­ onen bietet. Was unterscheidet ein ­Penetrável von anderen tempo­ rären Ausstellungsformaten? ­Worin liegen seine kuratorischen ­Herausforderungen? Im ersten Teil des Buches geht es um die politischen und künstlerischen V ­ oraussetzungen der Penetráveis. Der z­ weite Teil lotet ihre h­ eutigen Möglichkeiten aus – anhand des Performanceund ­Filmprogramms, das im Rahmen der Oiticica-Retrospektive des MMK ­Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main ­stattgefunden hat.

HÉLIO OITICICA: CURATING THE PENETRÁVEIS

T

he Penetráveis are spectacular room installations created by the Brazilian artist Hélio Oiticica in the 1960s and ’70s. They are ­experimental spaces that are only activated when used. Oiticica thus invented a format that continues to offer new potential for artistic ­interventions to this day. How does a Penetrável differ from other temporary exhibition formats? What challenges does it pose to cura­ tors? The first part of the book revolves around the political and ­artistic requisites for the Penetráveis. Part 2 explores the possibilities they offer today – based on the performance and film programme that took place as part of the Hélio Oiticica retrospective staged by the MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main.

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