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German Pages 406 [407] Year 2022
Der Autor Dr. Udo Witzens war Mitarbeiter am Südasieninstitut der Universität Heidelberg im Fachbereich Südostasien. Dort forschte er über die politischen Implikationen des Buddhismus auf historische Despotien, insbesondere in Sri Lanka und Birma (Myanmar). Bezüglich der der strittigen These vom „Kampf der Kulturen“ (Huntington) untersucht Witzens Fragestellungen zur Kompatibilität von orientalischer und westlicher Kultur. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Themen Gewalt und ethnische Säuberungen.
Udo Witzens
Helden oder Henker? Die dunklen Seiten der Nationalhelden
Verlag W. Kohlhammer
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Umschlagabbildung: Statue Alexanders des Großen in Thessaloniki (Foto: Herbert Frank, CC BY 2.0).
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-041694-9 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-041695-6
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ........................................................................................................
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Der Nationalheld Mythos und Wirklichkeit ........................................................................... 13 Der biblische Moses Prophet und gewaltsamer Eroberer ........................................................ 21 Alexander der Große Großer Eroberer und grausamer Tyrann ................................................ 35 Boudicca Eine rachsüchtige Kriegerkönigin ........................................................... 45 Karl der Große Reichsgründer und Sachsenschlächter ................................................... 57 Richard Löwenherz Glorifizierter Nationalheld und skrupelloser Kreuzritter ................... 63 Dschingis Khan Kluger Gesetzgeber und Schrecken des Okzidents ............................... 69 Tamerlan (Timur Lenk) Staatsikone und Massenmörder ............................................................... 83 Vlad Dracula Rumänischer Nationalheld und grausamer Despot .............................. 99
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Inhaltsverzeichnis __________________________________________________________
Christopher Kolumbus Mutiger Entdecker und goldgieriger Kolonisator ................................. 117 Napoleon Genialer Feldherr und Menschenverächter ........................................... 151 Otto von Bismarck Militarist, Kolonialist und Rassist? .......................................................... 173 Winston Churchill Gefeierter Kriegspremier und kolonialer Rassist .................................. 219 Mao Tse-tung Staatsgründer und brutaler Reformer .................................................... 261 Stepan Bandera Verehrter Nationalheld und verhasster Massenmörder ..................... 295 Mutter Teresa Fromme Nonne und umtriebige Geschäftsfrau ..................................... 311 Aung San Suu Kyi Freiheitsheldin und Regimeverteidigerin .............................................. 331 Anmerkungen .............................................................................................. 353 Literaturverzeichnis ................................................................................... 387 Abbildungsverzeichnis ............................................................................... 405
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Vorwort
Bristol, 7. Juni 2020: Aufgebrachte junge Leute reißen in Bristol mit Hilfe von Seilen eine menschenförmige Statue von ihrem Sockel, schleifen sie über die Straße und versenken sie jubelnd im Hafenbecken. Bei der Statue handelt es sich um ein Abbild des Sklavenhändlers Edward Colston, Teilhaber einer Handelsgesellschaft, die an der Versklavung von bis zu 100.000 Menschen beteiligt gewesen sein soll. „Was den Szenen von Bristol ihren revolutionären Wind einhaucht, ist der Kontext, dem sie entspringen. Sie sind ein Aufschrei gegen eine Ära der Ignoranz, des ‚Whitewashing‘ der Geschichte.“1 Doch der Sklavenhändler Colston ist nur einer unter vielen, die im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste vom Sockel gestoßen wurden.2 So wurde in London auch die Statue von Robert Milligan entfernt, einem Sklavenhändler aus dem 18. Jahrhundert; und in Oxford gibt es seit langem eine Kampagne mit dem Ziel, die Rhodes-Statue von der Fassade des Oxforder Oriel College zu entfernen. Cecil Rhodes, der in England hochgeehrte Kolonialist, steht laut Aussage der Demonstranten für die gewalttätige Vergangenheit des britischen Kolonialismus, für Imperialismus und Sklaverei.3 Auch Winston Churchill, britischer Nationalheld und einer der bedeutendsten Staatsmänner der Geschichte, ist ins Visier der Denkmalstürmer geraten. Im Juni 2020 beschmierten Demonstranten anlässlich von Antirassismus-Protesten die ChurchillStatue auf dem Parliament Square in London. Sie sehen in dem ehemaligen Kriegspremier einen brutalen Kolonialisten und aggressiven Imperialisten und bezichtigen ihn des Rassismus. Selbst jahrhundertelang geehrte historische Gestalten wie Christoph Kolumbus, der kühne Entdecker Amerikas, blieben nicht verschont. In Chicago wurde eine Kolumbus-Statue nach gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten entfernt, und in Boston köpften unbekannte Täter ein Kolumbus-Denkmal, dessen Rumpf bald darauf auf Anweisung des Magistrats entfernt wurde. In den USA und in England tobt ein erbitterter Kampf um die Deutungshoheit über Statuen und Denkmäler. Ein britischer Minister bezeichnete die Denkmalstürmer im Sunday Telegraph als „brüllenden Mob, dessen Ziel es sei,
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Vorwort __________________________________________________________________
die britische Geschichte auszulöschen, indem er Denkmäler niederreiße.“ Eine „revisionistische Säuberung“ drohe, das „stolze Erbe“ des Landes zu zerstören.4 In der Tat sind die Positionen der Gegner und Befürworter der umstrittenen Denkmäler unvereinbar. Das zeigt sich beispielhaft in den Südstaaten der USA, wo mit Gewehren bewaffnete Denkmalschützer konföderierte Mahnmale bewachen. Dabei kam es 2017 in Charlottesville zwischen Rechtsextremen und linken Demonstranten zu einer blutigen Straßenschlacht über den Abriss einer Bronzeskulptur des Südstaaten-Generals Robert Edward Lee, der die konföderierten Truppen im Kampf für den Erhalt der Sklaverei angeführt hatte. Während Rechtsextreme die Lee-Statuen als ihr kulturelles Erbe verteidigen, ist Lee für die Black-Lives-Matter-Bewegung ein Repräsentant der rassistischen Vergangenheit der Südstaaten. Seine Skulpturen sind von besonderer Bedeutung – symbolisieren sie doch den Kulturkampf zwischen den konservativen Südstaaten und dem progressiven Norden der USA. Im Juli 2021 wurde die Lee-Statue in Charlottesville unter dem Applaus der Zuschauer demontiert und abtransportiert. Ins Rollen gebracht hatte die Aktion die Schülerin Zyana Bryant mit dem Schulprojekt einer Petition, in der sie Entfernung der Bronzeskulptur verlangte.5 Vier Jahre später gelang den Denkmalstürmern ein weiterer Sieg: Nach der Entscheidung eines Gerichts wurde im September 2021 in Richmond eine vier Meter hohe Bronzestatue des Generals zersägt und weggeschafft. Auch bisher sakrosankte, über jede Kritik erhabene historische Gestalten der US-Geschichte gerieten ins Visier. So wurde im Oktober 2021 eine überlebensgroße Figur des Verfassers der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der USA, auf einstimmigem Beschluss des Magistrats aus dem New Yorker Rathaus entfernt. Nach Meinung des Stadtrats repräsentiere Jefferson eine der beschämendsten Seiten der USA: Jefferson ließ 600 Sklaven für sich arbeiten und hatte zusammen mit einer schwarzen Sklavin sechs Kinder. Die Liste einstiger Heroen, die heute einer kritischen Bewertung unterworfen werden, ist lang. In Rom gab es einen Anschlag auf ein Denkmal des italienischen Physikers und Funkpioniers Marconi. Es wurde im September 2021 bunt eingefärbt; der Nobelpreisträger sei ein Faschist gewesen.6 Auch in Deutschland wurden Denkmalstürmer im Zuge der von der Black-LivesMatter-Bewegung ausgelösten Antirassismus-Proteste aktiv: Im Juni 2020 beschmierten Aktivisten die Bismarckstatue im Hamburger Stadtteil Altona
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mit blutroter Farbe. Sie behaupteten, die Kolonialpolitik des Reichsgründers und gefeierten deutschen Nationalhelden sei rassistisch motiviert gewesen. Tatsächlich kam es bezüglich des deutschen Kolonialismus zu einer Neubewertung des Kaiserreichs, wobei die Rolle des „Eisernen Kanzlers“ ins Zwielicht geriet. Auch August von Mackensen, einer der ranghöchsten Militärs des Kaiserreichs und Sieger vieler Schlachten im Ersten Weltkrieg, genoss lange Zeit den Nimbus eines Nationalhelden. Viele Straßen und Kasernen wurden nach ihm benannt. Heute ist er aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen völlig verschwunden. Sein Name wurde vielfach aus dem Straßenbild getilgt, denn im postheroischen Nachkriegsdeutschland gibt es keinen Platz für Kriegshelden.7 In Deutschland, wo die Kolonialgeschichte im Rahmen von umstrittenen Restitutionsansprüchen (z. B. der Hereros) wissenschaftlich aufgearbeitet wird, ist die Debatte um die Existenz emblematischer Denkmäler moderater als im angelsächsischen Bereich. Die durch zwei verlorene Weltkriege geläuterte deutsche Erinnerungskultur neigt weder zu nationalistischer Hybris wie die amerikanische noch zu nostalgischer Glorifizierung ihres imperialen Erbes wie die britische.8 Nichtsdestotrotz hat sich an der Gestalt Otto von Bismarcks im Gefolge der Antirassismus-Bewegung erneut eine kontroverse Diskussion entzündet. Worum geht es den Denkmalstürmern und Kritikern? Die geschichtliche Bedeutung der Kolumbus-Statue könne später neu bewertet werden, hatte der Bürgermeister von Boston nach ihrer Entfernung gesagt. In der Tat geht es um Neubewertung der von Nationalismus und Chauvinismus verzerrten traditionellen Geschichtsschreibung. Dabei handelt es sich nicht um einen blinden Bildersturm geschichtsvergessener Fanatiker, sondern um die Korrektur nationaler Narrative. Der von der Antirassismus-Bewegung befeuerte Denkmalsturm ist sowohl das Resultat eines neuen historischen Verständnisses als auch eines Wechsels der Perspektive.9 Ein geschärftes Unrechtsbewusstsein hat den Blick auf die Geschichte verändert, mit gravierenden Auswirkungen auf die Erinnerungskultur. Jetzt sehen sich viele Staaten des Westens gezwungen, ihre blutige, vielfach verdrängte Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Dabei geraten auch bislang hochgeehrte Akteure jener Zeit als Symbolfiguren kolonialistischer Unterdrückung in den Fokus. Ihre damalige Rolle wird kritisch hinterfragt, wobei von der nationalen Historiografie meist ausgeklammerte ethisch-moralische Wertmaßstäbe zum Tragen kommen. Dieser Paradigmenwechsel entstand zum einen aus der Einsicht, dass
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Vorwort __________________________________________________________________
Scheusale der Geschichte wie Dschingis Khan, Tamerlan oder Vlad Dracula nicht wertneutral beschrieben werden können, zum anderen aus der Idee, dass man bislang glorifizierte historische Gestalten wie Kolumbus oder Napoleon auch aus einer anderen Perspektive als der der Sieger betrachten kann und beurteilen muss – nämlich aus der Perspektive der Unterworfenen. Die Idee der Um- und Neubewertung ist zwar nicht neu – spätestens seit 1945 sowie der 68er-Bewegung werden in Deutschland alte Autoritäten kritisch hinterfragt –, war aber noch nie so aktuell wie heute. Lange Zeit standen bei der traditionellen, faktenorientierten Historiografie Kriege, Dynastien und Herrscher im Zentrum – Ausdruck eines Zeitgeists, der auch die Aufstellung vieler heute umstrittener Statuen zur Folge hatte. „Sie werden als handfeste Manifestationen kolonialen und imperialen, im Falle der Sklavenhalter auch rassistischen Denkens gesehen. Gegen dieses Denken definiert sich die postkoloniale und postimperiale […] Geschichtsschreibung.“10
Die Geschichtspolitik ist in vielen Ländern Europas in Bewegung geraten. Es gehörte lange Zeit zum Codex der Historikerzunft, die Akteure ihres Forschungsgegenstands im Kontext ihrer Zeit zu beschreiben, sine ira et studio, also ohne subjektive Parteinahme, möglichst objektiv und wertneutral. „Er war ein Kind seiner Zeit“, hieß es oft entschuldigend, wenn kriminelle Handlungen vorlagen (die oft ignoriert oder beschönigt wurden). Insbesondere scheuten sich Historiker, ihre Helden moralischen Werturteilen zu unterwerfen. Doch diese Zurückhaltung ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften einer stärker wertenden Perspektive gewichen. Gerade in einem Buch wie diesem, das sich auf die Beschreibung der Schattenseiten historischer Persönlichkeiten (inklusive ihrer Verbrechen) fokussiert, ist die Heranziehung ethischer Bewertungskategorien notwendig – eine Forderung der Authentizität, der sowohl der Wissenschaftler als auch der Sachbuchautor verpflichtet ist. Im Rahmen einer kritischen Geschichtsreflektion ist es nicht nur legitim, sondern unerlässlich, die glorifizierten Helden der Vergangenheit nach wertorientierten Maßstäben zu beurteilen, wie sie in diversen Menschenrechtskonventionen konkretisiert wurden.11 Dabei handelt es sich um weltweit und überzeitlich gültige universalistische Prinzipien, wie sie in allen Hochkulturen anzutreffen sind. So war sich einer der größten Schlächter der Weltgeschichte, dem Mongolen Tamerlan (alias Timur Lenk), wohl bewusst, dass die Massenexekution von 100.000 Gefangenen eine Untat war, die er zu rechtfertigen suchte.
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Damit erheben sich einige Fragen: Kann der kühne Seemann Christoph Kolumbus, dem die spektakuläre Atlantiküberquerung glückte, der einen neuen Kontinent entdeckte und mit dieser Entdeckung ein neues Zeitalter einläutete, auch als Türöffner für Kolonialismus, Genozid und Sklaverei verstanden werden, wie es ihm die Denkmalstürmer vorwerfen? Warum gilt Napoleon Bonaparte den einen als Nationalheld, den anderen als Massenmörder? Ist es historisch korrekt und moralisch gerechtfertigt, den Reichsgründer Otto von Bismarck des Militarismus und Kolonialismus zu bezichtigen und den Staatsmann Winston Churchill als Rassisten und Kriegsverbrecher zu brandmarken, wie es Kritiker tun? Wie kann es sein, dass blutrünstige Scheusale der Geschichte wie Dschingis Khan, Tamerlan und Vlad Dracula noch heute in einigen Staaten als Nationalhelden gefeiert werden? Diesen Fragen soll in diesem Buch nachgegangen werden. Denn bevor man den Stab über diese vermeintlichen Heroen der Geschichte bricht und sie von ihren Podesten stürzt, sollte man sich ein möglichst genaues Bild von ihren Taten und Untaten machen. Dazu werden 16 Gestalten der Weltgeschichte auf den Prüfstand gestellt.12 Wo sie selbst zu Wort kommen, sind ihre Zitate kursiv wiedergegeben.
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Der Nationalheld Mythos und Wirklichkeit
Als Nationalhelden bzw. Nationalheldinnen1 bezeichnet man Personen, die Teil des politischen Mythos einer Nation sind – ungeachtet der Schattenseiten, die dieser Person anhaften mögen. Das Konzept des Nationalhelden ist ein Konstrukt, für das weniger die tatsächlichen Verdienste der Heldenfigur – oder auch nur ihre historische Existenz – entscheidend sind als vielmehr eine Vorstellung der Nation, mit der sie verknüpft wird. Nationalhelden, schreibt man zu, die Nation begründet, verteidigt oder ihr zu Macht und Ansehen verholfen zu haben. Es bedarf also zunächst einer als Nation imaginierten staatlichen Gemeinschaft oder zumindest der Idee einer solchen Nation, auf deren Grundlage dann einer bestimmten Person der Status eines Nationalhelden (oder Heldin) zugesprochen wird. Diese Zuschreibung ist oft umstritten und kann zeitlich variieren. Nicht nur die Konjunkturen von Na-
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Der Nationalheld __________________________________________________________
tionalhelden, sondern auch die Beurteilung der Verdienste, die ihnen zugeschrieben werden, können im Zuge des Wandels von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gravierenden Veränderungen unterliegen.2 Im Nationalhelden zeichnet die Gesellschaft ein Bild ihrer selbst, mit dem sie in die Geschichte blickt, um die Gegenwart aus der Vergangenheit zu legitimieren. In dem Bild, das man vom nationalen Heros entwirft, manifestieren sich die Eigenschaften, mit denen sich ein Staat nach innen definiert und mit denen er sich nach außen abgrenzt. „Im Angesicht des Nationalhelden entscheidet sich also, wer zur Nation gehört und wer nicht, wie sich diese Nation als Gesellschaft in ihrer Eigenheit bestimmt und was sie ausschließt. […] Wer einen Nationalhelden erschafft, wer festlegt, welche Tugenden er verkörpert, für welche Vergangenheit und Ziele er steht, darf hoffen, im Deutungskampf um das Selbstverständnis der Nation zu siegen. Bei der Erschaffung von Nationalhelden geht es also um Machtkämpfe. Gekämpft wird um die politische Symbolik, in der sich die Nation repräsentiert sieht.“3
Auf allen Kontinenten der Welt berufen sich viele Staaten auf nationale Heroen, um den Eindruck von historischer Tradition und Kontinuität zu erzeugen, „so dass die Gegenwart als Ergebnis der Leistung der mythisch verklärten Person gesehen wird“.4 Damit erfüllt der Mythos vom Nationalhelden (wie auch andere politische Mythen) eine identitätsstiftende Funktion für die Gemeinschaft. Als Vorbilder für das ganze Volk sollen die Nationalhelden mit ihrem stilisierten Idealbild und ihrer historischen Leistung bei den Mitgliedern der Nation ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und zugleich eine Handlungsorientierung bieten. Der Mythos um eine zum Nationalhelden idealisierte Person dient – neben der Einigung der Nation – auch der Personalisierung der Geschichte. Die Komplexität geschichtlicher und politischer Prozesse wird auf diese Weise aus dem Geschichtsbild einer Gesellschaft ausgeblendet und auf wenige persönliche Faktoren reduziert. In dieser geschichtsvergessenen Sichtweise werden die dunklen, manchmal kriminellen Seiten dieser Idealgestalten, die den Mythos gefährden oder zerstören könnten, bewusst ausgeklammert. Denn die Ikonisierung einer Person geht – neben der Idealisierung – immer einher mit Reduzierung, d. h., „wer zum Mythos wird, dessen Widersprüche, Konturen und Ambivalenzen verblassen. Je weiter dieser Prozess fortschreitet, desto größer wird die Gefahr einer Instrumentalisierung und gefährlichen Vereinnahmung.“5 So konnte es geschehen, dass blutige Tyrannen der
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__________________________________________________________ Der Nationalheld
Geschichte wie Tamerlan oder Vlad III. als Nationalhelden auf den Podest gestellt wurden. Eine möglichst lange Vorgeschichte, die sich idealerweise mit einer prominenten Person verbinden lässt, ist hilfreich für ihre Popularisierung. Der britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm hat für dieses Phänomen die Formel von der invention of tradition geprägt, der Erfindung einer Tradition. Die Berufung auf eine ehrwürdige und ruhmreiche Geschichte mittels eines Helden der Vergangenheit adelt den Einzelnen und die Gemeinschaft und erfüllt so das Bedürfnis nach einer großartigen Legende.6 Die Repräsentation einer Nation durch einen Helden basiert primär auf der Vorstellung, was diese Nation ausmacht, d. h. welches Volk und welches geografische Territorium sie umfasst und wer davon exkludiert ist. Auf dem Fundament dieser Vorstellung können dann Heldenfiguren jeglicher Art in die nationale Erzählung integriert werden. Dabei klaffen Mythos und Wirklichkeit, d. h. historische Wahrheit, oft weit auseinander. Jemand kann ungeachtet seiner geschichtlichen Existenz, seines realen Handelns und seiner Motive ein Nationalheld sein, „[…] wenn er gesellschaftliche Anerkennung erlangt; sobald ihm diese versagt wird, hört er auf, ein Nationalheld zu sein. Allerdings erweisen sich Nationalhelden bisweilen als hochgradig resilient. Sie können auch tiefgreifende Systemwechsel überstehen, die bisweilen mit Umdeutungen und Verdrängungen verbunden sind.“7
Doch das hat sich inzwischen geändert. Im Zuge von Black Lives Matter ist einiges in Bewegung geraten, was bisher als unerschütterlich galt: So manches Denkmal bislang glorifizierter Heroen geriet ins Wanken. Im Kampf um die Deutungshoheit über eine herausragende historische Figur spielen diverse Faktoren eine Rolle: Persönliche Interessen und politische Motive sind häufig, aber es sind vor allem neue Sichtweisen die zu einer Umwertung tradierter Werte führen. „Größere gesellschaftliche Umbrüche sind häufig davon gekennzeichnet, dass Helden fallen gelassen werden, Statuen stürzen,“ konstatierte Mareen Linnartz in der Süddeutsche Zeitung. „Zum Wesen steinerner Geschichtsschreibung gehört eben die Gefahr der Vergänglichkeit. Was einst hell leuchtete, wirft nun dunkle Schatten, was damals bei der Überhöhung zur Seite gewischt wurde, wird Gegenstand aktueller Debatte: […] War Churchill nicht eigentlich ein übler Kolonialist? Auch deutsche Denkmal-Heroen wie Luther oder Bismarck stehen ja nicht mehr ganz so stabil auf ihren Sockeln wie noch vor einigen Jahren.“8
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Der Nationalheld __________________________________________________________
Die Rolle des nationalen Epos Im Zeitalter der Nationenbildung im 19. Jahrhundert führte die Nationalidee und das Bedürfnis nach historischer Verwurzelung der eigenen Traditionen bei vielen jüngeren Nationen zur Neuschöpfung eines nationalen Heros oder einer Heroine, oft durch Rückgriff auf einen mythischen Helden. Denn nationale Epen spielen eine wichtige Rolle für die Identifikation eines Volkes. Manchmal haben sie eine so eminente Bedeutung für die Nation, dass sie als konstitutiv für deren Geschichte gelten können. Das Nationalepos handelt oft von der historischen Selbstbehauptung eines Heros, der stellvertretend das Selbstgefühl einer modernen Nation repräsentiert. Doch diese Funktion kommt den oft sehr alten Dichtungen meist erst in der Neuzeit zu. So wurde das mittelalterliche Nibelungenlied erst im 19. Jahrhundert zum deutschen Nationalepos. Beispiel für prähistorische Epen sind das sumerische Gilgameschepos, Homers Ilias und das indische Mahabharata. Geschildert werden die Taten vorgeschichtlicher Heroen wie z. B. in der Ilias des strahlenden Helden Achilles (in welchem Alexander der Große sein Vorbild sah). „Dabei ist die Unterscheidung zwischen mythologischen und historischen Heldenfiguren fließend. Die Bandbreite zwischen historisch nicht belegbaren Personen wie Wilhelm Tell und solchen Personen, deren Leben und Handeln bestens dokumentiert und weithin bekannt sind, ist groß. Die meisten Fälle der Nationalheldenverehrung dürften zwischen diesen Extremen angesiedelt sein: Historisch belegbare Personen erfahren eine Verehrung, die durch genau diejenigen Prozesse des selektiven Erinnerns und Verdrängens gekennzeichnet ist, die für das Konstrukt einer Nation charakteristisch sind. Die Heldenerinnerung wird medial geformt und das Erbe des Helden wird kanonisiert. Oft kommt es zu einer Ritualisierung der Heldenerinnerung.“9
Bei der Konstituierung von Nationen sind Helden als positive Identifikationsfiguren sehr nützlich. So ist die Liste der nationalen Heroen und Heroinen ziemlich lang. Ein Beispiel ist Roger Casement, der in Irland als Nationalheld gilt. Sein Zeitgenosse Sir Arthur Conan Doyle hat Casement bereits 1912 in seinem Fantasy-Roman Die vergessene Welt in Gestalt der Figur des Lord John Roxton ein literarisches Denkmal gesetzt. Oder der Schotte William Wallace, genannt „Braveheart“, der Bürger, Bauern und kleine Gutsbesitzer um sich scharte, um gegen England für die Freiheit Schottlands zu kämpfen. Mit dem Film Braveheart setzte Hollywood ihm ein mediales Denk-
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________________________________________________ Die Rolle des nationalen Epos
mal. In England wird die Kriegerkönigin Boudicca, die die römischen Okkupanten bekämpfte, verehrt. In Frankreich gelten Napoleon und Jeanne d’Arc als Nationalhelden. In den USA und der Schweiz sind es George Washington bzw. Wilhelm Tell. In Polen ist es Tadeusz Kościuszko, der bis heute als Sieger im Kampf gegen Russland und Preußen verehrt wird, Polens Freiheit freilich nicht erhalten konnte und im Schweizer Exil verstarb. Er wird allerdings nicht nur von den Polen als einer der ihren gesehen; auch die Bewohner des heutigen Belarus und Litauens sehen in ihm eine Symbolfigur für Freiheitskampf gegen übermächtige Gegner. Alexander Newski ist vielleicht der populärste russische Nationalheld, dessen Ruhm auf einem legendären Schlachtensieg im 13. Jahrhundert gründet. Seine Verehrung brach seither nie ab, sodass sowohl das zaristische Russland als auch die kommunistische Sowjetunion den Ruhm Newskis nutzten, ebenso wie das heutige Russland, das für das Jubiläumsjahr 2021 neue Denkmäler zu seinem Gedenken plante. In Ermangelung eines historischen Vorbilds wird notfalls auch eine Sagengestalt wie Siegfried der Drachentöter zum Nationalhelden stilisiert. Laut Legende ist dieser nordische Recke die Idealgestalt des Helden: Körperlich groß und im Besitz gewaltiger Kräfte, strahlt er im jugendlichen Tatendrang; er ist völlig furchtlos, redegewandt und stets hilfsbereit. Sein früher Tod durch heimtückischen Mord trägt noch zum höchsten Ruhm bei. Doch seine Schattenseite, der schändliche Verrat an Brunhilde (der Grund für seine Ermordung), wird bei seiner Glorifizierung gern übersehen. In Deutschland gehört die Erhebung des römischen Offiziers Arminius zum Nationalhelden Hermann der Cherusker zu den wichtigen Elementen der Herausbildung eines deutschen Nationalbewusstseins seit der Frühen Neuzeit.10 Zum Zweck der Identitätsstiftung glorifizierte die wachsende deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert diesen Sieger über eine römische Legion (mit deren Niederlage im Teutoburger Wald das Vordringen der Römer in das nördliche Germanien gestoppt wurde) zur überragenden Heldengestalt und errichtete ihm zu Ehren ein Denkmal, dessen Einweihung im Jahr 1838 als nationalpolitisches Ereignis gefeiert wurde. Die Stilisierung historischer Figuren zu nationalen Heroen erzeugt Nationalgefühl und Nationalstolz und vermittelt dem Einzelnen das Gefühl von kollektiver Geborgenheit und Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen. Damit hat die Glorifizierung solch charismatischer Gestalten eine durchaus staatstragende, integrierende Kraft. Besonders neu
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Der Nationalheld __________________________________________________________
gegründete Staaten neigen dazu, sich an den Helden der Vergangenheit zu orientieren. Wie werden Mythen und Heldenverehrung tradiert? Wie Kathrin Mayer schreibt, gibt es mehrere Formen der Vermittlung. „Die narrativ-extensive Form der Mythenvermittlung, d. h. die Erzählung des Mythos in verschiedenen Medien wie Geschichtsschreibung, Literatur, Theater und Film, ist die wichtigste. Diese narrative Vermittlung stellt das Fundament für die beiden anderen Formen der Mythen- und Legendentradierung – Malerei und Denkmal – dar, denn ein Narrativ zeichnet sich durch hohe Flexibilität aus und bietet Spielraum für kreative Veränderungen. Damit kann sich z. B. ein Gründungsmythos an die Legitimationsbedürfnisse der jeweiligen Generation anpassen.“11 Der bildlichen bzw. figürlichen Darstellung – z. B. dem in Stein gemeißelten oder in Bronze gegossenen Denkmal – kommt dagegen insofern eine wichtige Funktion zu, als durch die verwendeten Materialien „Ewigkeit der Erinnerung“ suggeriert wird.12 Meist sind es martialische Gestalten, die als nationale Heroen glorifiziert werden, strahlende Siegertypen; aber es gibt Ausnahmen. Ein heroisch-vorbildhaftes Leben wird auch manchen christlichen Märtyrern zugeschrieben, die niemals ein Schwert geführt haben, aber gewaltsam zu Tode kamen. So landeten der tschechische Reformator Jan Hus auf dem Scheiterhaufen, bevor er – freilich erst lange danach – zum Nationalhelden wurde. Jan Hus, der theologische Vorläufer Martin Luthers, wurde „zum Prototyp des nationalbewussten Tschechen – und damit zu einer Art tragischem Nationalheld.“13 Hier im Buch sind es Mutter Teresa und Aung San Suu Kyi, die wegen ihrer humanitären Grundhaltung als Nationalheldinnen verehrt werden.
„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ In Deutschland ist die Tradition der Heldenverehrung obsolet geworden. Der nach der Reichsgründung 1871 aufwallende Nationalismus hatte zur Glorifizierung von Staatsmännern wie Otto von Bismarck und Paul von Hindenburg geführt, die den Krieg ganz selbstverständlich als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz) betrachteten. Bismarck hatte das Deutsche Reich nach einem Krieg gegen Frankreich gegründet und Hindenburg im Ersten Weltkrieg siegreiche Schlachten geschlagen. Doch nach der Kata-
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strophe des Zweiten Weltkriegs änderte sich die Beurteilung beider Figuren radikal. Beide wurden jetzt als Repräsentanten einer preußisch-militaristischen Tradition wahrgenommen, die Deutschland ins Unglück gestürzt hatte. „Gewiss wurde das Deutsche Reich nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse geeint,“ konstatiert der Historiker Hagen Schulze, „sondern durch Blut und Eisen,“14 d. h. auf dem Hintergrund eines gewonnen Krieges. Das wird heute als der Geburtsfehler des Reiches angesehen, zumal die Kaiserproklamation auf französischem Boden im Spiegelsaal von Versailles stattfand – eine eklatante Demütigung des besiegten Frankreichs. Hindenburgs Verehrung beruhte vor allem auf dem Mythos als „Sieger von Tannenberg“, wo er als General im Ersten Weltkrieg ein russisches Heer eingekesselt und geschlagen hatte. Als Reichspräsident hat er Hitler zum Reichskanzler gemacht und diesem den Weg in den Krieg geebnet. Doch aus der Sicht einer wertebasierten Historiografie sind Bismarck und Hindenburg keine Helden, die eine Glorifizierung verdienen. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I)15
Diese radikale Abkehr von der traditionellen Heldenverehrung in Deutschland fand ihren Niederschlag auch in der Literatur. So sagt in Brechts Theaterstück, Leben des Galilei, Andrea, ein Schüler des Physikers: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“ Doch Galilei erwidert: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Abgestoßen vom Heldenkult der Nazis schrieb Brecht diese Zeilen 1938/39 im dänischen Exil. Hier drückt sich eine tiefe Skepsis gegenüber jeglicher Heldenverehrung aus.
Neonationalismus und Heldenverehrung Doch diese spezifisch deutsche Skepsis wird in anderen Ländern nicht geteilt. Im Gegenteil: In vielen, besonders neu gegründeten Staaten werden Nationalhelden offenbar zur Identitätsstiftung oder Legitimation benötigt und zu diesem Zweck auch aufgebaut – heroische Gestalten, die als Ikonen verehrt werden. Doch grundsätzlich gilt: Wer den Tod von Menschen verschul-
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Der Nationalheld __________________________________________________________
det, indem er als Staatenlenker Kriege vom Zaun bricht oder ideologisch rechtfertigt, wer Massaker, ethnische Säuberungen und Genozide begeht oder toleriert – also Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt – hat schwere moralische Schuld auf sich geladen. Ethische Maßstäbe und moralische Normen sind zeitlos, d. h. überzeitlich, universell und gelten global.16 Deshalb sind sie nicht nur für die Beurteilung von Akteuren der Gegenwart relevant, sondern müssen auch an historische Gestalten angelegt werden. Die Entschuldigung der Untaten dieser Gestalten mit dem Verweis auf den „Zeitgeist“ ist nach heutigem, geschärften Geschichtsverständnis obsolet. Schon Goethe war gegenüber diesem Begriff skeptisch und entlarvte ihn als Selbstbespiegelung der Akteure. Wohl kann man diese Taten auf ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund „verstehen“ und erklären, das heißt aber nicht, Verständnis für sie aufzubringen oder sie zu tolerieren. Der von konservativer Seite gegen eine werteorientierte Historiografie vorgebrachte Einwand des „moralischen Rigorismus“ ist angesichts der Dimension des Unheils und Leids, das diese Heroen mit ihren Handlungen verursacht haben, abwegig, um nicht zu sagen zynisch. Nationalheldentum wird nicht nur in höchst unterschiedlicher Form praktiziert, es wird auch in sehr unterschiedlichem Maße durch staatliche Institutionen definiert. In manchen Ländern wie z. B. Indonesien existiert ein streng formalisierter Heldenkult. Dort werden Personen posthum durch das Parlament zu nationalen Heroen erklärt; das Resultat ist eine Liste fest definierter Nationalhelden und Nationalheldinnen.17 Durch den neuen Nationalismus (außerhalb Deutschlands) hat die Historiografie für die Legitimation politischer Positionen an Bedeutung gewonnen, und staatliche Instanzen greifen immer stärker in Geschichtsdeutungen ein. Von Polen über Russland bis zur Türkei werden nationalistische Narrative gefördert, die die Bedeutung des eigenen Landes und der heimischen Kultur unterstreichen sollen. Hatten in der Türkei kemalistische Regierungen jahrzehntelang den Staatsgründer und Reformer Atatürk als Nationalhelden verehrt, so fördert Erdogans AKP-Regierung zur Stärkung des Nationalstolzes jetzt die öffentliche und mediale Popularisierung des osmanischen Sultans Mehmet II., des Eroberers von Konstantinopel (Istanbul). In der Ukraine wird Stepan Bandera heute von breiteren Bevölkerungsschichten als Nationalheld verehrt, obwohl ihm Pogrome an Juden und Polen im Zweiten Weltkrieg zur Last gelegt werden.
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Der biblische Moses Prophet und gewaltsamer Eroberer
Moses wird in allen drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – als der große biblische Gesetzgeber, Prophet und Religionsstifter verehrt. Mit der Befreiung seines Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft, seinem Exodus ins gelobte Land und als Gesetzgeber verbindlicher moralischer Normen erscheint er in der Heldenrolle eines von Gott geleiteten charismatischen Führers und nationalen Retters. Doch nimmt man die Bibel zur Hand und liest die Kapitel über den Einzug der Hebräer ins Gelobte Land, so erscheint der große Prophet in einem ganz anderen Licht. Wenn man (bei allem Vorbehalt) davon ausgeht, dass sich in den Berichten der Bibel historische Ereignisse widerspiegeln, dann beginnen die von Ägypten kommenden Israeliten um 1250 v. Chr. damit, gewaltsam in das Heilige Land einzudringen. Denn bei ihrer Ankunft mussten sie feststellen, dass hier eine Vielzahl von Völkern bereits sesshaft war. Da diese nicht
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Der biblische Moses ________________________________________________________
Abb. 1:
Moses mit den Gesetzestafeln.
bereit waren, ihr Land freiwillig aufzugeben, mussten sie nach und nach gewaltsam vertrieben oder beseitigt werden. Wie die Bibel berichtet, zogen die Israeliten bei ihrem Eroberungszug eine Blutspur der Ausrottung dieser Völker hinter sich.1 Der Historiker Michael Wolffsohn schreibt: „Vom Land der Kinder Israels ist im Buch Josua 11,22 die Rede. Hierhin führte Josua die Kinder Israels. Hier bekämpfte er die ansässigen Völker, ermordete und vertrieb sie allmählich. Die Tradition der gewaltsamen Landnahme begann.“2
Tatsächlich war es Josua, der Nachfolger des Propheten, der das Heilige Land eroberte, denn Moses durfte nach Gottes Ratschluss das Gelobte Land nur sehen, aber nicht betreten; aber es war Moses, der für den Eroberungszug den Auftakt gab und exemplarisch die Zeichen für Gewalt und Vernichtung setzte – alles freilich im Namen des Herrn.
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____________________________________ Kein Rechtsanspruch auf das eroberte Land
Kein Rechtsanspruch auf das eroberte Land Bereits im Buch Numeri des Alten Testaments erteilt der Herr Moses den Auftrag, Kanaan zu erobern und die Einwohner zu vertreiben. „Der Herr sprach zu Mose: Rede zu den Israeliten und sag zu ihnen: Wenn ihr den Jordan überschritten und Kanaan betreten habt, dann vertreibt vor euch alle Einwohner des Landes, und vernichtet alle ihre Götzenbilder […]. Dann nehmt das Land in Besitz, und laßt euch darin nieder, denn ich habe es euch zum Besitz gegeben.“ (4. Mose 33,50–53)3
Dann gibt der Herr genaue Anweisungen, wie das eroberte Land unter den Sippen zu verteilen sei. Doch es fällt auf, dass für die Israeliten kein Rechtsanspruch auf das eroberte Land besteht. Sie haben es von Gott nur als eine Art Lehen bekommen. Der Herr sprach: „Höre, Israel! Heute wirst du den Jordan überschreiten, um in das Land von Völkern, die größer und mächtiger sind als du, hineinzuziehen und ihren Besitz zu übernehmen. […] [D]er Herr, dein Gott, […] wird sie vernichten und er wird sie dir unterwerfen, so daß du sie unverzüglich vertreiben und austilgen kannst, wie es der Herr dir zugesagt hat. Wenn der Herr, dein Gott, sie vor dir herjagt, sollst du nicht meinen: Ich bin im Recht, daher lässt mich der Herr in das Land hineinziehen und es in Besitz nehmen; diese Völker sind im Unrecht, daher vertreibt sie der Herr vor mir. Denn nicht, weil du im Recht bist und die richtige Gesinnung hast, kannst du in ihr Land hineinziehen und es in Besitz nehmen. Vielmehr vertreibt der Herr, dein Gott, diese Völker vor dir, weil sie im Unrecht sind und weil der Herr die Zusage einlösen will, die er deinen Vätern […] mit einem Schwur bekräftigt hat. Du sollst erkennen: du bist ein halsstarriges Volk. Daher kann dir der Herr, dein Gott, dieses prächtige Land nicht etwa aufgrund eines Rechtsanspruchs geben, damit du es in Besitz nimmst.“ (5. Mose 9,1–6)
Hier wird offenbar zwischen Besitz und Eigentum unterschieden. Besitz ist mit physischer Herrschaft verbunden, Eigentum eher mit Rechtsansprüchen. Wie die Bibel ausführlich schildert, wurde das Heilige Land von den Juden Mitte des 13. Jahrhunderts v. Chr. gewaltsam in Besitz genommen. Sie erhalten das „Gelobte Land“ aufgrund eines Versprechens (Gelöbnis), das Gott ihren Vorvätern Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat; aber sie erhalten es nur unter Vorbehalt, d. h. mit der unterschwelligen Drohung, dass ihnen der Herr das eroberte Land jederzeit wieder wegnehmen kann, denn sie haben kein Recht darauf. Offensichtlich waren sich die Autoren der Bibel bewusst, dass aus dem Unrecht einer gewaltsamen Eroberung kein Eigentumsrecht erwachsen kann, zumal diese blutige Landnahme im direkten Widerspruch zum Tötungsverbot des Dekalogs, der Zehn Gebote, stand. Gelöst
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wird dieser Widerspruch in der Bibel letztlich dadurch, dass die gewaltsame Landnahme durch den Willen des Herrn legitimiert wird. Ohne auf obiges Bibelzitat direkt einzugehen, aber offensichtlich sich darauf beziehend, fragt der Historiker Michael Wolfssohn: „Wem gehört das Heilige Land? Wir suchen also den Eigentümer des Heiligen Landes, nicht den Besitzer […]. War diese Besitznahme auch rechtens?“ Nach Maßgabe des heutigen Völkerrechts natürlich nicht. Aber eine verbindliche Antwort, so Wolffsohn, sei unmöglich, weil es sich um „Heilsgeschichte“ und „Religion“ handelt, „für die die Kategorien des Völkerrechts nicht verbindlich sind.“4
Die Landnahme beginnt Im Buch Deuteronomium erteilt Gott dem Moses einen klaren Vernichtungsauftrag: „Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt […], sieben Völker, die zahlreicher und mächtiger sind als du –, wenn der Herr, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du sie der Vernichtung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen und dich nicht mit ihnen verschwägern. […] So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen.“ (5. Mose 7,1–5)
Der Herr gibt auch taktische Anweisungen für diesen Vernichtungsfeldzug und stärkt die Kampfmoral der Eroberer. Er ermahnt Moses, bei der Niederwerfung der Völker nichts zu überstürzen, sondern schrittweise vorzugehen und auf die Hilfe Gottes zu vertrauen. Man liest in der Bibel: „Doch der Herr, dein Gott, wird diese Völker dir nur nach und nach aus dem Weg räumen. Du kannst sie nicht rasch ausmerzen […]. Doch wird der Herr, dein Gott, dir diese Völker ausliefern. Er wird sie in ausweglose Verwirrung stürzen, bis sie vernichtet sind. Er wird ihre Könige in deine Gewalt geben. Du wirst ihren Namen unter dem Himmel austilgen. Keiner wird deinem Angriff standhalten können, bis du sie schließlich vernichtet hast.“ (5. Mose 7,22–24)
Das kann als Aufforderung zum Genozid verstanden werden. Moses wird dieses Vermächtnis an seinen Nachfolger Josua weitergeben. Doch der Prophet war nicht nur ein Verkünder von Gewalt und Vernichtung, er praktizierte
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____________________________________________________ Die Landnahme beginnt
sie auch selber. Wie die Bibel berichtet, war Moses beim Untergang der Midianiter, deren Land die Israeliten auf ihrem Weg ins Heilige Land durchqueren mussten, der Anstifter eines Genozids. „Der Herr sprach zu Mose: ‚Nimm für die Israeliten Rache an den Midianitern. Danach wirst du mit deinen Vorfahren vereint werden.‘ Da redete Mose zum Volk und sagte: ‚Rüstet einen Teil eurer Männer zum Kampf gegen die Midianiter, um die die Rache des HERRN an Midian zu vollstrecken. […]‘ Und sie zogen aus zum Kampf gegen die Midianiter, wie der HERR es Mose geboten hatte, und töteten alles, was männlich war. Als sie die Männer erschlagen hatten, brachten sie auch noch die fünf Könige von Midian um […]. Die Frauen von Midian und dessen kleine Kinder nahmen die Israeliten als Gefangene mit; all ihr Vieh, alle ihre Habe und alle ihre Güter raubten sie und verbrannten mit Feuer alle ihre Städte, wo sie wohnten, und alle ihre Zeltdörfer. […] Mose aber geriet in Zorn über die Befehlshaber und Hauptleute des Heeres […] und sagte zu ihnen: ‚Warum habt ihr alle Frauen leben lassen? Gerade sie haben auf den Rat Bileams hin die Israeliten dazu verführt, vom Herrn abzufallen […]. So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch am Leben.‘“ (4. Mose 31,1–18)
Demnach erscheint Moses, der verehrte Prophet und Gesetzgeber, als ein Kindes- und Frauenmörder und mithin grausamer als die Krieger seines Heeres, die die Gefangenen verschonen wollten. Hat sich kein Bewohner eines Nachbarvolkes „versündigt“, wird Moses von Gott zunächst nur die Vertreibung befohlen. Vor der Verschonung einzelner Menschen wird dabei aber ausdrücklich gewarnt: „So sollt ihr alle Bewohner vertreiben vor euch her und alle ihre Götzenbilder und alle ihre gegossenen Bilder zerstören und alle ihre Opferhöhlen vertilgen und sollt das Land einnehmen und darin wohnen; denn euch habe ich das Land gegeben, dass ihr’s in Besitz nehmen sollt. […] Wenn ihr aber die Bewohner des Landes nicht vor euch her vertreibt, so werden euch die, die ihr übriglasst, zu Dornen in euren Augen werden und zu Stacheln in euren Seiten und werden euch bedrängen in dem Lande, in dem ihr wohnt.“ (4. Mose 33,52–55) „Und als der König von Arad, der Kanaaniter, der im Südland wohnte, hörte, dass Israel herankam auf dem Wege von Atarim, zog er in den Kampf gegen Israel und führte etliche gefangen. Da gelobte [Moses] dem HERRN ein Gelübde und sprach: ‚Wenn du dies Volk in meine Hände gibst, so will ich an ihren Städten den Bann vollstrecken‘ [„Den Bann vollstrecken“ heißt, alle Bewohner umbringen.5] Und der HERR hörte auf die Stimme des [Moses] und gab die Kanaaniter in seine Hand und sie vollstreckten den Bann an ihnen und ihren Städten.“ (4. Mose 21,1–3)
Bei der nächsten Konfrontation mit den Bewohnern des Landes kommt dann der Befehl zur Ausmerzung aller Einwohner direkt von Gott, der zu Moses sagt:
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Der biblische Moses ________________________________________________________ „‚Fürchte dich nicht vor ihm [Og, dem König von Baschan], denn ich gebe ihn, sein ganzes Volk und sein Land in deine Gewalt, und du sollst mit ihm tun, wie du mit Sihon, dem König der Amoriter getan hast, der in Heschbon wohnte.‘ [Moses:] Und der Herr, unser Gott, gab auch Og, den König des Baschan und sein ganzes Volk in unsere Gewalt. Wir schlugen ihn und seine Söhne und sein ganzes Kriegsvolk, bis keiner mehr übrigblieb, und nahmen das Land ein. […] Wir weihten die ganze männlicher Bevölkerung und die Frauen, Kinder und Greise der Vernichtung. Alles Vieh und das, was wir in den Städten geplündert hatten, behielten wir als Beute.“ (5. Mose 3,2–7)
Allerdings fällt auf, dass Moses und Josua sich bei ihren blutigen Eroberungen stets auf Gott, den Herrn, berufen und ihre ‚Austilgungen‘ durch göttlichen Befehl legitimieren. Was nicht verwundert, standen diese „Bannweihen“ doch im diametralen Gegensatz zum Fünften Gebot von Moses’ Dekalog: „Du sollst nicht töten!“ Es entsteht der Eindruck, als versuchten die Verfasser der Bibel, den charismatischen Propheten und vorbildlichen Gesetzgeber aus dem blutigen Geschehen der Landnahme herauszuhalten, denn es ist – wie gesagt – letztlich nicht Moses, der das Heilige Land erobert, sondern sein Nachfolger Josua. Laut Bibel hat Moses den Israeliten bei der Einsetzung seines Nachfolgers Josua als eine Art Vermächtnis Folgendes gesagt: „Der Herr, dein Gott, wird selber vor dir hergehen. Er selber wird diese Völker vor dir her vertilgen, damit du ihr Land einnehmen kannst […]. Und der HERR wird mit ihnen tun, wie er getan hat mit Sihon und Og, den Königen der Amoriter, und ihrem Lande, die er vertilgt hat. Wenn sie nun der HERR vor euren Augen dahingeben wird, so sollt ihr mit ihnen tun ganz nach dem Gebot, dass ich euch gegeben habe [d. h. alle töten]. Seid getrost und unverzagt, fürchtet euch nicht und lasst euch nicht vor ihnen grauen; denn der HERR, dein Gott, wird selber mit dir ziehen und wird die Hand nicht abtun und dich nicht verlassen.“ (5. Mose 31,3–6)
Der Vernichtungsfeldzug des Josua Die Posaunen von Jericho Nach dem Tod des Moses setzt sein Nachfolger Josua (ab ca. 1220 v. Chr.) die Politik der ‚Vernichtungsweihen‘ fort, die Gott Moses befohlen hatte. Auftragsgemäß zieht Josua bei der Eroberung des Gelobten Landes auf seinen Feldzügen eine Blutspur hinter sich her. Zuerst erobert er die Stadt Jericho nach dem Vorbild der von Moses befohlenen ‚Vernichtungsweihe:‘
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___________________________________________ Der Vernichtungsfeldzug des Josua „Josua sagte zum Volk: Erhebt das Kriegsgeschrei! Denn der HERR hat die Stadt in eure Gewalt gegeben. Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des HERRN dem Untergang geweiht sein. […] Darauf erhob das Volk das Kriegsgeschrei, und die Posaunen wurden geblasen. […] Die Stadtmauer stürzte in sich zusammen, und das Volk stieg in die Stadt hinein, jeder an der nächstbesten Stelle. So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war dem Untergang. Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“ (Jos 6,16–21)
Abb. 2:
Die Posaunen von Jericho.
Als nächstes schildert die Bibel ausführlich Josuas Feldzug gegen Ai, die Zerstörung dieser Stadt und die Vernichtung ihrer Bewohner. Die militärischtaktischen Anweisungen des Feldherrn Josua zur Eroberung sind erstaunlich präzise: 30.000 Kämpfer, listiges Legen eines Hinterhalts, scheinbare Flucht, um die Aiter aus der Stadt zu locken, usw. Die Taktik ist vom Erfolg gekrönt und ihre Bewohner werden niedergemacht: „Die Israeliten schlugen sie so vernichtend, dass keiner von ihnen mehr übrigblieb […]. Als die Israeliten sämtliche Bewohner von Ai […] ohne Ausnahme auf freiem Feld und in der Wüste mit scharfem Schwert getötet hatten und alle gefallen waren, kehrte ganz Israel nach Ai zurück und
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Der biblische Moses ________________________________________________________ machte auch dort alles mit scharfem Schwert nieder. Es gab an jenem Tag insgesamt zwölftausend Gefallene, Männer und Frauen, alle Einwohner von Ai. Josua aber ließ seine Hand mit dem Sichelschwert nicht sinken, bis er alle Einwohner von Ai dem Untergang geweiht hatte. […] Dann brannte Josua Ai nieder und machte es für immer zu einem Trümmerhaufen und zu einem öden Platz, das ist es geblieben bis zum heutigen Tag.“ (Jos 8,22–28)
Die Eroberung von Hazor Josuas Feldzug war mit der Eroberung des Südens nicht abgeschlossen, denn danach erfolgte mit der Eroberung von Hazor der Sieg über die „Könige im Norden“, die sich mit einer gewaltigen Streitmacht „bei den Wassern von Merom“ gegen die Israeliten versammelt hatten. Doch diese starten einen Überraschungsangriff und überfallen das Heereslager. Im Buch Josua liest man: „Da rückte Josua mit dem ganzen Heer an den Wassern von Merom plötzlich gegen sie vor und überfiel sie. Der HERR gab sie in die Gewalt der Israeliten, und die Israeliten schlugen sie und verfolgten sie […]. Sie schlugen sie so vernichtend, dass keiner von ihnen übrig blieb, der hätte entkommen können.“ (Jos 11,7 f.)
Doch Josua begnügt sich nicht mit der Vernichtung der feindlichen Streitmacht. Wie Moses befohlen hatte, vollzieht er an allen Bewohnern der Königsstädte die ‚Vernichtungsweihe‘. Die Bibel berichtet: „Er kehrte um und nahm Hazor ein; ihren König erschlug er mit dem Schwert. Hazor hatte früher die Oberherrschaft über alle diese Königreiche. Die Israeliten erschlugen alles, was in der Stadt lebte, mit scharfem Schwert und weihten es dem Untergang. Nichts Lebendiges blieb übrig. Die Stadt selbst steckte er in Brand. – Aller dieser Königsstädte bemächtigte sich Josua; er erschlug alles mit scharfem Schwert und weihte es dem Untergang, wie Mose, der Knecht des HERRN, befohlen hatte. Alle Städte, die heute noch auf ihren Trümmerhügeln stehen, verbrannte Israel nicht; nur Hazor brannte Josua nieder. Den ganzen Besitz aus diesen Städten und das Vieh nahmen die Israeliten für sich, die Menschen aber erschlugen sie alle mit scharfem Schwert und rotteten sie völlig aus. Niemand ließen sie am Leben.“ (Jos 11,10–14)
Hier ist von völliger Ausrottung die Rede, d. h. hier wird ein Genozid geschildert – eine ‚Vernichtungsweihe‘, wie sie Mose befohlen hatte. Wie archäologische Befunde (z. B. in unzählige Teile zersplitterte Steinquader) ergeben haben, wurde Hazor in einer gewaltigen Feuersbrunst zerstört. Das stimmt mit dem biblischen Bericht überein, wonach Josua alle eroberten Städte zwar zerstörte, aber nur Hazor niederbrannte.
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___________________________________________________ Dichtung oder Wahrheit?
Abb. 3:
Josua, der Sohn Nuns, im Kampf mit dem König der Amalekiter.
Dichtung oder Wahrheit? Legt man die Bibel zugrunde, so muss man feststellen, dass Moses nicht nur der überragende Gesetzgeber war, der mit seinem Dekalog das ethische Fundament für ein friedliches Zusammenleben der Menschen schuf, sondern auch ein grausamer Kriegsherr und unbarmherziger Eroberer. Da drängt sich die Frage auf, ob Moses zum Nationalhelden taugt. Die Frage, welche die Historiker und Bibel-Exegeten umtreibt ist, ob es sich bei den biblischen Erzählungen vom Exodus und der gewaltsamen Landnahme um Legenden oder um historische Wahrheit handelt. Der britische Staatsmann Winston Churchill glaubte offenbar fest an die geschichtliche Realität des alttestamentarischen Propheten. Er schrieb: „Wir verwerfen jedoch mit Verachtung alle jene gelernten und ersonnenen Mythen, dass Mose bloß eine legendäre Gestalt war, auf die die Priesterschaft und das Volk ihre wesentlichen gesellschaftlichen, moralischen und religiösen Verordnungen gehängt haben. […] Wir glauben, dass die wissenschaftlichste Auffassung, das aktuellste und rationalste Verständnis, ihre vollste Zufriedenheit darin finden werden, indem sie die biblische Geschichte wörtlich nehmen und einen der großartigsten Menschen, mit dem entscheidendsten in der menschlichen Geschichte jemals feststellbaren Sprung nach vorn, erkennen. Wir können sicher sein, dass alle diese Dinge genauso geschahen, wie sie gemäß der Heiligen Schrift dargelegt sind. Wir können annehmen, dass sie Men-
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Der biblische Moses ________________________________________________________ schen widerfuhren, die gar nicht so viel anders waren als wir selbst, und dass die Eindrücke, die diese Menschen erhielten, gewissenhaft aufgezeichnet wurden und über die Jahrhunderte hinweg wesentlich genauer überliefert wurden, als viele der telegrafischen Mitteilungen, die wir über die heutigen Vorfälle lesen.“6
Doch der historische Wahrheitsgehalt des biblischen Narrativs von der israelitischen Landnahme ist in der Forschung umstritten. Man bewegt sich hier auf brüchigem Eis bzw. auf vermintem Gelände. Dazu schreibt der Historiker Michael Wolffsohn: „Viele, viel zu viele [Historiker] sind für den jeweiligen Zeitgeist zu anfällig. Als überzeitliche und objektive Instanz können wir sie getrost vergessen. Manchmal gleichen Historiker mehr abhängigen Hofdichtern als unabhängigen Richtern.“7
Churchills persönliche Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der biblischen Erzählungen über Moses war wohl inspiriert von dem Glauben, im Anführer und Feldherrn Moses einen Geistesverwandten zu erkennen, hatte er doch selber im Zweiten Weltkrieg als Premierminister die Rolle eines Anführers und Kriegsherrn inne. Doch im Unterschied zu Moses war Churchill kein Eroberer, sondern Verteidiger Englands gegen die Nazi-Aggression.8 Sicherlich ist es problematisch, das Alte Testamentes in dem Sinne als historische Quelle zu betrachten, wie es z. B. die Kreationisten tun, welche die Genesis wortwörtlich nehmen (womit sie sich freilich der Lächerlichkeit preisgeben). Die spärlichen authentischen Quellen erlauben kein abschließendes Urteil über die faktische Realität der israelitischen Landnahme, d. h. über den historischen Wahrheitsgehalt der biblischen Erzählungen. Der Exodus aus Ägypten und die blutige Eroberung des Gelobten Landes könnten durchaus Legenden sein, die im Laufe der Jahrhunderte immer stärker ausgeschmückt wurden. Im Standardwerk der bibelkritischen Theologie heißt es: „Das Josuabuch ist keine historische Quelle über die sog. Landnahme und darf deshalb auch nicht als solche gelesen werden. ‚Eine kriegerische Landnahme als Feldzug eines Zwölfstämmevolks Israels mit der Vernichtung aller Landbewohner hat es nie gegeben. […]‘“9
Auch die israelischen Antikenbehörde betrachtet aufgrund neuerer archäologischer Befunde große Teile der biblischen Erzählungen als Legenden: der Pentateuch, die fünf Bücher Mose, sei keine Primärquelle aus der Bronzezeit. Schriftkundige Fälscher hätten ihr nur eine künstliche Patina verpasst. Ebenso beschreiben die Geschichten der Erzeltern10 die Landnahme als ‚all-
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mähliches Einsickern‘ der Israeliten ins Gelobte Land. „Die Besiedlung Kanaans verlief in Wahrheit friedlich und langsam,“ so der Archäologe Israel Finkelstein von der Universität Tel Aviv, der auch den Exodus aus Ägypten in Frage stellt.11 Vor allem das Buch Josua mit seiner Schilderung der Ausrottung der Urbevölkerung verdrehe die Realgeschichte total; es handele sich eher um einen Mythos, „die glänzend gesponnene Sage einer Gebietseinnahme mit Gottes Segen und unter seinem direkten Befehl.“12 So ließen archäologische Befunde zur Datierung der Zerstörung der Städte Jericho und Ai an einem Vernichtungsfeldzug des Josua zweifeln. Die Zerstörungen seien viel früher erfolgt. Demgegenüber hielt der renommierte amerikanische Archäologe William Foxwell Albright die Taten Josuas für historische Realität. Die Archäologie habe die wesentliche Geschichtlichkeit des Buches Exodus und die Eroberung Kanaans bewiesen. Auch der israelische Archäologe Amnon Ben-Tor ist vom Wahrheitsgehalt des biblischen Berichts von der Eroberung des Gelobten Landes überzeugt, wenn dieser auch theologisch überformt sei. Die von ihm bei den Ausgrabungen von Hazor gewonnen Daten stimmen mit der durch die Merenptah-Stele (Israel-Stele) zeitlich verbürgten Präsenz der Israeliten um 1250 v. Chr. in Kanaan perfekt überein.13 Laut Amnon Ben-Tor kommen für die Zerstörung von Hazor nur die Israeliten in Frage. Michael Wolffsohn konstatiert nüchtern: „Die Kanaaniter ruhen auf dem Völkerfriedhof des blutgetränkten, unheilschwangeren Bodens des Heiligen Landes. Vor allem diesen Kanaanitern haben die Juden vor mehr als dreitausend Jahren das Land entrissen. Das geschah sehr irdisch, allerdings mit Hilfe einer religiösen Rechtfertigung. Den Philistern nahmen die Juden etwas später Land ab. Anderen Völkern auch, aber vor allem diesen beiden.“14
In der Tat spricht vieles für einen historischen Kern der biblischen Erzählung von der gewaltsamen israelitischen Landnahme. Zum einen sind Detaildichte und Genauigkeit in diesem Narrativ ungewöhnlich hoch. Wenn man z. B. die präzisen kriegstaktischen Befehle Josuas bei der Eroberung der Städte Jericho und Ai betrachtet und die detaillierten Angaben zu ihrer Erstürmung prüft, so sind sie aus militärischer Sicht professionell und plausibel. Diese Genauigkeit ist zwar kein Beweis, aber ein Indiz für die historische Faktizität der Eroberungserzählung. Zum anderen waren gewaltsame Landnahme, Vertreibung und Auslöschung von Völkern in der Antike nichts Ungewöhnliches. Physische Gewalt ist eine Universalie aller Kulturen und zu
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allen Zeiten zu beobachten. Nur die Formen und der Umfang, in dem sie ausgeübt wird, sind einem historischen Wandel unterworfen.15 Es ist unwahrscheinlich, dass sich das Volk der Israeliten bei seiner Suche nach einem Siedlungsraum anders verhalten hat als andere antike Eroberer. Apologetische Aussagen über eine friedliche Landnahme sind auch deshalb kritisch zu bewerten, weil sie möglicherweise interessengeleitet sind – wirft doch die biblische Ausrottungserzählung einen dunklen Schatten auf den Gründungsmythos Israels und bietet den palästinensischen Gegnern des jüdischen Staates propagandistische Möglichkeiten (obwohl die Palästinenser keine Nachkommen der vertriebenen Völker sind16). Wie gesagt, man bewegt sich hier auf schwierigem Gelände. Fakt ist: In der Bibel mischen sich Dichtung und Wahrheit zu einem kaum unentwirrbaren Geflecht. Ob Held oder Henker, selbst wenn Moses’ historische Existenz nicht sicher ist, so hat seine mythische Gestalt doch eine große Wirkmächtigkeit entfaltet. Als Schöpfer des Dekalogs mit der Aufstellung elementarer ethisch-moralischer Normen hat er maßgeblich zur Zähmung der ‚Bestie Mensch‘ und zum friedlichen gesellschaftlichen Leben beigetragen. Als Befreier der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft und als ihr Führer ins Gelobte Land erscheint Moses in der Heldenrolle eines „nationalen Retters, als integrer Befreier seines Volkes. Dadurch wird er, modern ausgedrückt, zum Begründer der Nation Israel.“17 Während Moses als Verkünder eines vorbildlichen moralischen Kanons auch heute noch große Verehrung genießt, gilt dies freilich nicht für seinen Nachfolger Josua, mit dessen Namen in der Bibel die blutige Landnahme der Israeliten verbunden ist. Heute wird von einigen Historikern der Feldzug dieses martialischen biblischen Eroberers in Frage gestellt. Im Mittelalter war es nicht Moses, sondern Josua, der mit David und Judas Makkabäus zu den drei jüdischen Helden gehörte, die zusammen mit je drei Beispielen aus dem Christentum (Artus, Karl der Große und Gottfried von Bouillon) und dem ‚Heidentum‘ (Hektor, Alexander der Große und Caesar) die exemplarischen Vorbilder der Weltgeschichte darstellen.18 Durch das exemplarische biblische Narrativ der gewaltsamen Landnahme des Heiligen Landes erschienen blutige Eroberungen aus christlicher Sicht als gerechtfertigt. So diente der siegreiche Feldherr Josua den Kreuzrittern bei der Eroberung des Heiligen Landes als Vorbild (► Richard Löwenherz).
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Auch Winston Churchill hat sich voller Hochachtung über Moses geäußert und glaubte, Parallelen zwischen Moses’ Widerstand gegen den Pharao und dem Abwehrkampf der Briten gegen Nazideutschland zu erkennen, wobei er sich selber als Retter der britischen Nation sah: „Die Schlussworte des 5. Buches Mose sind ein passender Ausdruck für die Wertschätzung des großen Führers und Befreiers des hebräischen Volkes, die ihm von den nachfolgenden Generationen entgegengebracht wurde. Er war der größte der Propheten, der persönlich mit dem Gott Israels sprach; er war der Nationalheld, der das auserwählte Volk aus dem Land der Knechtschaft durch die Gefahren der Wildnis führte und sie direkt bis zur Schwelle des Gelobten Landes brachte.“19
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Alexander der Große Großer Eroberer und grausamer Tyrann
Die nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991 entstandene Republik Nordmazedonien hat Alexander den Großen als Nationalhelden proklamiert – zum Ärger des benachbarten Griechenlands, das den großen Eroberer ebenfalls für sich beansprucht. Nach Erlangung der Unabhängigkeit knüpfte der neue souveräne Staat Nordmazedonien demonstrativ an die Tradition des antiken Reichs Makedonien an und betrachtet sie als einen wesentlichen Aspekt seiner nationalen Identität. Von offizieller mazedonischer Seite wird behauptet, es gebe eine ethnische und kulturelle Kontinuität vom antiken Makedonien zum heutigen Mazedonien. Im Rahmen dieser Traditionspflege förderten die Behörden die Verehrung Alexanders des Großen, was sich auf kommunaler Ebene unter anderem in der Errichtung von Alexander-Denkmälern und in der Benennung von Straßen äußert. Im Dezember 2006 wurde der Flughafen der Hauptstadt Skopje nach Alexander benannt (Aerodrom
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Alexander der Große _______________________________________________________
Aleksandar Veliki), aber 2018 zur Beilegung des Streits mit Griechenland um den Namen Mazedoniens wieder umbenannt. Wenige Jahre später wurde im Zentrum von Skopje auf einem zehn Meter hohen Sockel eine zwölf Meter hohe Reiterstatue errichtet, die Alexander nachempfunden war. Doch auch in Griechenland gilt Alexander als Nationalheld. Laut griechischem Narrativ ist die gesamte Alexander-Tradition ausschließlich ein Teil des griechischhellenischen Kulturerbes. Aber der von griechischen Lehrern (z. B. Aristoteles) unterrichtete Alexander war sowohl von Geburt wie von seinem Selbstverständnis her kein Grieche, sondern Makedone, wie er schon bei seinem ersten Feldzug bewies, als er das griechische Theben dem Erdboden gleichmachte und seine Einwohner massakrierte. Da das auf Völker- und Menschenrecht verpflichtete EU-Mitglied Griechenland und der EU-Kandidat Nordmazedonien diesen Kriegsherrn trotz seiner Schandtaten zu ihrem Nationalhelden erhoben haben, ist es notwendig, seine abstoßenden Züge zu thematisieren Kulturell und gesellschaftlich unterschieden sich die Makedonen recht deutlich von den Griechen: Sie pflegten keine städtische Kultur, hatten als Binnenreich kaum Kontakte zum mediterranen Kulturraum, besaßen ein Königtum, was es in Griechenland nur im homerischen Zeitalter, z. B. in mykenischer Zeit gab. In den Augen der Griechen wirkte die makedonische Gesellschaft deshalb vermutlich archaisch. Das von Alexanders Vater, Philipp II. regierte Makedonien war ein Land mit bäuerlicher Bevölkerung. Die wehrhaften Bauern bildeten das Heer, der Adel die Reiterei. Die Monarchie war vom guten Willen beider abhängig. Das Land spielte in der griechischen Geschichte eine seiner geografischen Lage entsprechende randständige Rolle. Anno 336 wurde Philipp, der einen Feldzug nach Kleinasien gegen die Perser vorbereitete, ermordet. Sein zwanzigjähriger Sohn Alexander trat in die Fußstapfen des Vaters und setze Philipps Pläne in die Tat um. Doch wer war dieser Alexander, um dessen Erbe sich heute Griechen und Mazedonier streiten? Alexander der Große (* 20. Juli 356 v. Chr. in Pella; † 10. Juni 323 v. Chr. in Babylon) war von 336 v. Chr. bis zu seinem Tod König von Makedonien und Hegemon des Korinthischen Bundes. Zahlreiche Mythen und Legenden ranken sich um die Gestalt des großen Eroberers. Viele Einzelheiten seiner Biografie, besonders seiner Kindheit, wurde legendenhaft ausgeschmückt oder frei erfunden. So berichtet der Geschichtsschreiber Plutarch, dass Alexander
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mit Gewissheit seinen Stammbaum väterlicherseits auf den Halbgott Herakles zurückverfolgen konnte, wodurch Plutarch implizit die Abstammung Alexanders vom Göttervater Zeus hervorhebt. Die vielen symbolischen Legenden, die dem jungen Alexander eine große Karriere prophezeien, reichen von der Zähmung seines unbändigen Pferdes Bukephalos im Knabenalter, dem Ausspruch seines Vaters Philipp: „Geh, mein Sohn, suche dir ein eigenes Königreich, das deiner würdig ist. Makedonien ist nicht groß genug für dich,“ bis zur Lösung des kunstvollen Gordischen Knotens, den Alexander mit einem Schwerthieb durchschlug (die Weissagung lautete, der werde Asien beherrschen, der den komplizierten Knoten lösen könne). In der traditionellen Geschichtsschreibung gilt Alexander als der Prototyp des genialen Militärstrategen und Staatsgründers, der er zweifellos auch war – ein glänzender Eroberer, der ein gewaltiges Imperium errichtete, das vom östlichen Mittelmeer bis nach Indien reichte. Er besiegte mit seiner Armee trotz Unterzahl die weit überlegenen Perser, unterwarf auf dem Eroberungszug nach Osten viele Völker seiner Herrschaft und gründete zahlreiche Handelsplätze und Städte, die bis heute seinen Namen tragen (z. B. Alexandria in Ägypten). Zwar existierte dieses Reich nicht lang. Nach seinem frühen Tod zerfiel es rasch und wurde unter seine Generäle, den Diadochen, verteilt und zerstückelt. Doch sorgte vermutlich gerade dieser frühe Tod des jugendhaften Helden dafür, dass sein Ruhm über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart strahlt. Alexander wurde schon zu Lebzeiten eine mythische Gestalt, wozu auch sein Anspruch auf Gottessohnschaft beitrug. Er war der Überzeugung, er sei ein Sohn des ägyptischen Gottes Ammon (Amun), der von den Makedonen mit Zeus gleichgesetzt wurde. Wesentlich zu seinem Ruhm hat auch der sogenannte „Alexanderroman“ beigetragen. Als Quelle für den historischen Alexander von relativ geringem Wert, ist er aber literarisch von außerordentlicher Bedeutung. Der Begriff ‚Alexanderroman‘ umfasst eine Vielzahl von antiken und mittelalterlichen Biografien, die Alexanders sagenhafte Taten schildern und verherrlichen. Das dort tradierte positive Geschichtsbild Alexanders als makellos strahlender Held schlägt sich bis in die Schulbücher und Lexika der Gegenwart nieder. So werden z. B. in der 2001 erschienen Brockhaus Weltgeschichte die glänzenden Siege Alexanders und seine geniale Militärstrategie breit und detailliert erzählt, aber seine Grausamkeit, die er nicht nur gegenüber seinen Feinden, sondern auch gegen-
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Alexander der Große _______________________________________________________
über seinen in Ungnade gefallenen Offizieren bewies, wird allenfalls angedeutet.1 Die Schwächen seines Charakters, sein Jähzorn, seine Grausamkeit und seine Hybris, bleiben völlig ausgespart. Sein Vorbild war Achilles, der große Held in Homers Ilias. Wie dieser neigte Alexander zu Zornesausbrüchen und Wutanfällen, bei denen er einige seiner Waffengefährten entweder selbst erschlug oder spontan exekutieren ließ (was er danach allerdings tief bereute). Ähnlich wie Achilles führte er seinen Stammbaum auf die Götter zurück, was seinem Charisma zwar zugutekam, aber seine Hybris zur Maßlosigkeit steigerte. So hielt Alexander es aufgrund seiner angeblichen göttlichen Abstammung für angebracht, dass seine Untertanen, sich ihm zu Füßen warfen – eine in der orientalischen Despotie übliche Unterwerfungsgeste, die man Proskynese nennt. Die Makedonen empfanden die Proskynese als entwürdigend, da sie nur den Göttern gebühre. Sie war – besonders in der Form der Prostration, bei der Untertanen sich mit dem Gesicht nach unten flach auf den Boden zu legen hatten – das „große Symbol totaler Unterwerfung.“2 Die Durchführung der Proskynese wäre somit einer Anerkennung von Alexanders Göttlichkeit gleichgekommen, die ihm seine Kampfgefährten jedoch verweigerten, wussten sie doch nur zu gut, dass er wie sie ein Mensch aus Fleisch und Blut war.
Alexanderkritik Der traditionellen Glorifizierung und Romantisierung der Gestalt Alexanders steht schon historisch früh, bereits in der Antike, Kritik an der Person Alexanders gegenüber. So hinterließ die Zerstörung Thebens in Griechenland einen sehr tiefen und dauerhaft negativen Eindruck. Sie wurde nicht nur von den Zeitgenossen, sondern jahrhundertelang (bis in die römischen Kaiserzeit) als unerhörte Grausamkeit empfunden, die man Alexander zur Last legte, und als historisches Musterbeispiel einer entsetzlichen Katastrophe zitiert. Es heißt, Alexander habe wie ein wildes Tier und als Unmensch gehandelt. Noch in byzantinischer Zeit wurde diese Beurteilung tradiert. Aus philosophischer Sicht, besonders aus der der antiken Stoiker, wurde Alexander negativ beurteilt, da seine Lebensweise einen Kontrast zu den philosophischen Idealen der Mäßigung, Selbstbeherrschung und Seelenruhe bildete. Die Stoiker kritisierten ihn heftig und warfen ihm Hochmut vor; ihre
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____________________________________________________________ Alexanderkritik
Kritik richtete sich auch gegen Aristoteles (den Gründer einer rivalisierenden Philosophenschule), der als Erzieher Alexanders versagt habe. Der römische Historiker Livius (* 59 v. Chr., † um 17 n. Chr.) schrieb, Alexander habe seine Siege nicht seiner strategischen Genialität, sondern der militärischen Untüchtigkeit seiner Gegner zu verdanken. Diese Einschätzung verband Livius mit einem vernichtenden Urteil über Alexanders Charakter, der durch die Erfolge des Königs verdorben worden sei. Ähnlich urteilte Curtius Rufus, ein römischer Historiker der Kaiserzeit und Verfasser einer zehnbändigen Geschichte Alexanders, der die Siege des Makedonen mehr auf Glück als auf Tüchtigkeit zurückführte und meinte, die Herausbildung tyrannischer Züge in Alexanders Charakter sei ein Ergebnis übermäßigen Erfolgs gewesen. Besonders drastisch äußerte sich der römische Philosoph und Stoiker Seneca, der Alexander als „wahnsinnigen Burschen, zum Bersten aufgeblasenes Tier, Räuber und Plage der Völker“ bezeichnete.3 Der philosophisch orientierte Kaiser Julian, der Alexander zwar als Feldherrn bewunderte, kritisierte ihn zugleich scharf wegen seiner Maßlosigkeit. Es fällt auf, dass zu den Verehrern und Nachahmern Alexanders unter den römischen Kaisern besonders blutrünstige tyrannische Gestalten wie Caracalla, Caligula und Nero zählen. Caligula ließ aus Alexandria den angeblichen Panzer Alexanders holen und legte ihn an, und Nero stellte für einen geplanten Kaukasusfeldzug eine neue Legion auf, die er „Phalanx Alexanders des Großen“ nannte. Im Mittelalter wird in der Vorauer Fassung seines Alexanderlieds (um 1150) des Dichters Lamprecht, genannt ‚der Pfaffe‘, deutliche Kritik geübt: Zwar handelt Alexander nach dem Willen Gottes, wird aber als hochmütig und herrschsüchtig dargestellt; die Zerstörung von Tyros wird als schweres Unrecht verurteilt, da die Tyrer als treue Untertanen des Perserkönigs nur ihre Pflicht erfüllten. Überdies erscheint er als mitleidlos, da er nicht über den Tod der vielen Gefallenen trauert. Andererseits verfügt er über Umsicht, die ihn seine Neigung zu jähzorniger Unbeherrschtheit überwinden lässt, womit er ein Beispiel gibt. Zwar entspricht Letzteres nicht den historischen Fakten – Alexander erschlägt im Streit voller Jähzorn seinen Freund, lässt den Chronisten Kallisthenes, einen Schüler des Aristoteles, wegen angeblicher Verschwörung hinrichten und seinen Leibarzt Plutarch grausam kreuzigen, weil dieser Alexanders an Fieber erkrankten homophilen Busenfreund nicht heilen konnte –, doch der mittelalterliche Dichter Lamprecht, der sich von der üblichen Heldenverehrung des Makedonen nicht völlig lösen kann, versucht
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Alexander der Große _______________________________________________________
bewusst, Alexander als zwiespältige Persönlichkeit zu zeichnen. Unter den Kirchenvätern gilt Orosius als radikalster Kritiker Alexanders. In seiner auf dem römischen Geschichtsschreiber Justin fußenden Historia adversus paganos („Geschichte gegen die Heiden“) schildert er ihn als blutdürstigen, grausamen Unmenschen und großen Zerstörer. Seine Zerstörungswut zeigte sich 330 v. Chr., nachdem ihm der Befehlshaber von Persepolis diese repräsentative persische Hauptstadt mit ihren herrlichen Bauten kampflos übergeben hatte: Alexander warf persönlich die erste Fackel und ließ die Stadt mit ihrem prächtigen Palast in Brand stecken.4
Die Belagerung von Tyros5 Diese Einschätzung als Unmensch wird durch ein Massaker bestätigt, das sich während seines Feldzugs durch die Levante in Richtung Ägypten ereignete. Während die Städte in der nördlichen Hälfte Phöniziens – Marathos, Byblos, Arados, Tripolis und Sidon – sich dem Makedonen bereitwillig ergaben, war die dominierende Handelsmetropole Tyros nicht bereit, sich bedingungslos Alexanders Herrschaft zu unterwerfen. Die Tyrer bauten dabei auf ihre Insellage ihre Flotte und die Unterstützung ihrer mächtigen Tochterstadt Karthago. Nachdem Alexander der Zutritt zur Stadt verwehrt worden war – sein Prüfstein war das Verlangen nach einem Opfer im Tempel des Stadtgottes Melkart, des tyrischen Herakles – brach er die Verhandlungen ab und beschloss, Tyros um jeden Preis einzunehmen. Denn er plante den Vorstoß nach Ägypten und wollte eine feindliche, mit den Persern verbündete Stadt nicht unbezwungen in seinem Rücken lassen. Vor dem Beginn der Belagerung bot Alexander den Tyrern Schonung an, falls sie kapitulierten. Sie töteten jedoch seine Unterhändler und warfen die Leichen von den Stadtmauern. Eine unerhörte Provokation, die der siegesgewohnte Feldherr grausam rächen würde. Die Stadt Tyros lag auf einer der Küste vorgelagerten Insel und befand sich daher in einer hervorragenden Verteidigungsposition. Sie galt als uneinnehmbar. Die Eroberung der Inselstadt gilt als frühes Meisterstück des genialen Strategen. Sieben Monate belagerte Alexander Tyros. Ohne Flotte blieb nur die Möglichkeit, durch das zumeist seichte Gewässer, das die Inselstadt von der Küste trennte, einen Damm zu bauen und dann zu versuchen,
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___________________________________________________ Die Belagerung von Tyros
mit Belagerungsmaschinen Teile der Mauern zu zerstören. Das war eine aufwendige und kostspielige Methode, die eine entwickelte Technik, viel Material und Fachkräfte sowie Zeit erforderte. Dennoch ließ Alexander vom Festland her den Damm bauen, der seinen Truppen den Zugang zu Stadtmauern verschaffen sollte. Immer wieder von Angriffen der Verteidiger gestört, die diese mit ihren Schiffen durchführten, begannen die Belagerer mit der Aufschüttung einer Mole. Doch der Dammbau wurde von den Tyrern erfolgreich bekämpft; es gelang ihnen, bei stürmischem Wetter die beiden Belagerungstürme an der Spitze des Dammes zu entzünden und durch Begleitschiffe mit Geschützen jeden Löschversuch zu vereiteln. Ein Sturm riss zudem den vorderen Teil des Dammes weg. Doch Alexander ließ sich dadurch nicht entmutigen. Der Damm wurde in größerer Breite wiederhergestellt und neue Türme gebaut. In der Zwischenzeit – nach den Winterstürmen – trafen die verbündeten phönizischen Flottenkontingente und die Geschwader der Könige von Zypern ein und standen nun Alexander zur Verfügung – insgesamt 250 Schiffe. Erst mit dieser Verstärkung von See konnten die Tyrer endgültig in ihrer Stadt eingeschlossen werden. Die Karthager, Verbündete der Tyrer, konnten nicht helfen, da sie sich im Krieg mit Syrakus befanden. Jetzt bereitete Alexander sich auf die Erstürmung der Stadt vor, die Tyrer auf ihre Verteidigung. Während die Verteidiger die Zeit zur Verstärkung der Mauern nutzten, führten die Angreifer zahlreiche Kriegsmaschinen ins Feld. Die Folge waren blutige Kämpfe, bei denen die Tyrer die Angreifer immer wieder zurückschlagen konnten. Nach mehreren Wochen verlustreicher Angriffe über den Damm entschied Alexander, dass die Mauer an dieser Stelle nicht zu nehmen sei. Er befahl, ein paar Frachtschiffe mit Belagerungstürmen auszurüsten,6 um auch vom Süden her die Stadt anzugreifen. Erst als diese Einkreisung mit Schiffen gelang, von denen aus Belagerungsmaschinen eingesetzt werden konnten, war die Zeit reif zur Erstürmung der Stadt. Alexander befahl einen kombinierten Land- und Seeangriff. Jetzt gelang es, auf der durch den Damm erreichbaren Seite Breschen in die Mauern zu schlagen und ein Landeunternehmen durchzuführen. Dasselbe geschah auch von Seeseite her: Die phönizischen Kriegsschiffe (Trireme) sprengten die Sperrketten im Südhafen und bohrten den dort liegenden Schiffe mit ihrem bronzeummantelten Rammsporn in den Grund, während die zyprische Flotte im Nordhafen ebenso verfuhr; nun gelang es auch dort den Angreifern, in die Stadt einzudringen.
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Alexander der Große _______________________________________________________
Die Mauer brach und Alexander konnte die Stadt erstürmen, wobei es zu blutigen Straßenkämpfen kam. Da Alexander befohlen hatte, jeden niederzumachen, der Waffen tragen konnte, veranstalteten die durch die lange, verlustreiche Belagerung aufgebrachten Makedonen ein Massaker: Die wütenden Eindringlinge erschlugen die Menschen auf der Mauer, in den Straßen und in ihren Häusern. Die überlieferte Zahl von 8.000 Gefallenen der Stadt soll sich auf die gesamte Belagerungszeit beziehen. Als Alexander durch Herolde verkünden ließ, dass alle Zivilisten verschont würden sowie jeder, der sich im Tempel des Melkart aufhalte, versuchten etliche Tyrer, sich in das heilige Bauwerk zu retten. Doch der siegreiche Feldherr brach sein Wort: Statt ihnen, wie versprochen, die Freiheit zu schenken, ließ er diese Bürger versklaven. Auch 13.000 Frauen und Kinder wurden in die Sklaverei verschleppt. Doch damit nicht genug: Der Feldherr wollte ein grausames Exempel statuieren, wie er mit jenen verfährt, die sich ihm widersetzen: Die überlebenden 2.000 Krieger der Stadt wurden über die Mole aufs Festland geführt und entlang der Küste an Kreuze genagelt bzw. gepfählt7 – eine Schandtat, die den Ruhm des glorreichen Eroberers trübt. Im Makedonischen Großreich wurde (wie im römischen Imperium) die Kreuzigung häufig praktiziert. Man schuf besondere Richtplätze – meist auf einem Berg oder Hügel – und benutzte eigens dafür vorgesehene Pfähle.
Held oder Henker? Auch in neuester Zeit steht der traditionellen Glorifizierung und Romantisierung der Gestalt Alexanders eine dezidiert negative Bewertung gegenüber, die Kernpunkte der antiken Alexanderkritik aufgreift. Grundsätzlich sehen Althistoriker den Eroberer primär als einen Zerstörer, dessen Fähigkeiten sich auf das Militärische beschränkten.8 Politisch sei er an seinen Fehlern gescheitert. Er habe impulsive, irrationale Entscheidungen getroffen und sich mit den Säuberungen unter seinen Vertrauten und Offizieren schließlich isoliert, da er niemandem mehr vertrauen konnte. Die militärischen Leistungen Alexanders, die früher einhellige Anerkennung fanden, werden von den modernen Kritikern ebenfalls relativiert; so charakterisiert der Althistoriker Ernst Badian den Rückmarsch aus Indien, bei dem Tau-
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_________________________________________________________ Held oder Henker?
sende Soldaten wegen fehlender Ressourcen umkamen, als eine von Alexander verschuldete militärische Katastrophe. Doch alle Kritik an der historischen Gestalt Alexanders konnte nicht verhindern, dass er auch heute noch – z. B. in Filmen – als großer Eroberer, militärisches Genie und glorreicher Held wahrgenommen wird. Die dunklen Seiten dieses antiken Feldherrn – seine Schwächen und Fehler – werden systematisch ausgeklammert, wie das Beispiel Mazedonien und Griechenland zeigt, die beide den makedonischen König als Nationalhelden reklamieren. Das verwundert umso mehr, als Alexander Angriffs- und Eroberungskriege geführt hat, (mit Ausnahme der Perser) friedliche Völker unterwarf und bei seinen Feldzügen eine Blutspur durch die damalige Welt zog. Aus heutiger Sicht, in der Angriffskriege völkerrechtlich geächtet sind, ist dieser grausame Kriegsheld in seinem unbändigen Eroberungsdrang alles andere als ein Vorbild. Freilich ist es problematisch, heutige Maßstäbe der Humanität und des Völkerrechts an eine antike Gestalt anzulegen, die unter völlig anderen Bedingungen und Wertvorstellungen gelebt und gehandelt hat. Doch bei aller Berücksichtigung des archaischen antiken Wertekanons bleibt die Kreuzigung der 2.000 Tyrer, denen Alexander Verschonung versprochen hatte – eine schändliche Tat, die schon in der Antike Abscheu hervorgerufen hat.
Abb. 4:
Alexander kämpft bei Issos Perser nieder, Detail vom „Alexandersarkophag“.
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Boudicca Eine rachsüchtige Kriegerkönigin
Boudicca (auch Boudica, Bodvica, Bonduca) war eine britannische Königin und Heerführerin, die im ersten Jahrhundert der römischen Besetzung Britanniens einen Aufstand gegen die Römer anführte (60/61 n. Chr.). Während des Aufstands zogen die keltischen Stämme der Icener und der Trinovanten unter der Führung von Boudicca gegen römische Siedlungen im heutigen Colchester, London und St Albans, brannten sie nieder und töteten schätzungsweise 70.000 römische Siedler und romanisierte Einwohner. Boudiccas Armee wurde schließlich von römischen Truppen unter Gaius Suetonius Paulinus vernichtend geschlagen. Die Rebellin Boudicca ist seit der Renaissance in England eine nationale Ikone und beliebte Figur in Kunst und Literatur. In vielen volkstümlichen Geschichtsdarstellungen ist sie eine Volksheldin, vergleichbar mit anderen historischen oder legendären Figuren der britischen Geschichte wie König Artus oder Alfred dem Großen. Historiker
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Boudicca _________________________________________________________________
ordnen sie in die Reihe der Persönlichkeiten ein, die sich in den frühen Jahren des römischen Imperiums gegen die römische Herrschaft auflehnten, darunter Vercingetorix in Gallien und Arminius in Germanien. Boudiccas Rolle bei der Führung der britannischen Stämme entsprach eher dem Status einer militärischen Anführerin (dux) als dem einer Regentin. Laut den römischen Historikern Tacitus und Cassius Dio waren Frauen als militärische Anführer bei den Britanniern durchaus üblich. Bekannt ist aus historischen Quellen zumindest eine weitere Herrscherin, Cartimandua, Königin der Briganten, die über ein Territorium im Norden Englands herrschte. Cassius Dio beschreibt Boudiccas äußere Erscheinung so: „Sie selbst war hochgewachsen, gar furchterweckend in ihrer Erscheinung, und ihr Auge blitzte. Dazu besaß sie eine rauhe Stimme. Dichtes, hellblondes Haar fiel ihr herab bis zu den Hüften, den Nacken umschlang eine große, goldene Kette, und der Leibrock, den sie trug, war buntfarbig und von einem dicken Mantel bedeckt, der durch eine Fibel zusammengehalten wurde. Damals nun ergriff sie eine Lanze, um auch auf diese Weise ihre sämtlichen Zuschauer in Schrecken zu versetzen“.1
Vorgeschichte – Ursachen des Aufstands In den Annalen von Tacitus wird Boudicca als Ehefrau des 61 n. Chr. verstorbenen Prasutagus beschrieben, König der Icener und ein Klientelkönig Roms. Fest steht also, dass Boudicca von königlicher Abstammung war. Die Icener waren ein keltischer Volksstamm, der im Gebiet des heutigen Norfolk siedelte. Als die Römer Südengland eroberten, waren die Icener anfangs mit ihnen verbündet. Sie waren stolz auf ihre Unabhängigkeit und hatten im Jahre 47 n. Chr. revoltiert, als der römische Gouverneur Publius Ostorius Scapula nach einigen lokalen Aufständen die Entwaffnung aller Stämme im Herrschaftsbereich der Römer plante. Die Icener blieben unter ihrem König Prasutagus unabhängig. Zu den von Tacitus in den Annalen genannten Ursachen für den Aufstand zählte auch die Vertreibung der Trinovanten aus ihrer Hauptstadt Camulodunum, dem heutigen Colchester. Dort sollte nach dem Abzug der XX. Legion im Auftrag des römischen Kaisers Claudius eine Veteranenkolonie für ehemalige Legionäre errichtet werden, um den römischen Einfluss in der Stadt zu erhalten. Den Römern war es erlaubt, Land der Trinovanten um die
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_______________________________________ Vorgeschichte – Ursachen des Aufstands
Stadt für Veteranen einzuziehen. Tacitus beschreibt das konfiszierte Land als agri captivi („erobertes Land“). Damit hatten die Trinovanten allen Grund die Römer zu hassen. Tacitus schreibt: „Ihr Hass richtete sich vor allem gegen die Veteranen in der Kolonie von Camulodunum, denn diese neuen Siedler warfen die Einheimischen aus ihren Häusern, vertrieben sie von ihren Farmen und nannten sie Gefangene und Sklaven“.2
Doch die Römer entfachten auch die Wut der Icener. Der unmittelbare Anlass für die Revolte war grobes Fehlverhalten der römischen Besatzer. Die Römer respektierten Prasutagus’ Testament nicht, wonach sein Königreich zu gleichen Teilen seinen beiden Töchtern und dem römischen Kaiser Nero vererbt werden sollte. Tacitus schreibt: „Der für seine lange prosperierende Herrschaft verehrte icenische König Prasutagus hatte den Kaiser zusammen mit seinen beiden Töchtern zu Erben bestimmt – ein Akt der Unterwerfung und Ehrerbietung, von dem er glaubte, dass er sein Königreich und seine Familie vor Übergriffen schützen würde. Doch das Ergebnis war das genaue Gegenteil: sein Reich wurde von den Zenturionen geplündert und seine Familie versklavt, so als wären sie Kriegsbeute. Boudicca wurde misshandelt, ihre beiden Töchter vergewaltigt, und der Besitz der icenischen Führungsschicht konfisziert.“3
Die Römer unter der Führung des Prokurators Catus Decianus zogen in das Land der Icener ein und behandelten das Reich des bisherigen Klientelkönigs von nun an als einen Teil der römischen Provinz. Wie Tacitus berichtet, wurde die Adelsschicht der Icener ihrer Ländereien beraubt, Prasutagus’ Witwe Boudicca ausgepeitscht und ihre zwei Töchter geschändet. Als fadenscheiniger Grund für diese Schandtat wurden Geldschulden angegeben, die die Icener den Römern nicht zurückbezahlt hätten. So hatte der römische Philosoph und Politiker Seneca ihnen in der Hoffnung auf gute Rendite 40 Millionen Sesterzen geliehen (die sie gar nicht wollten). Alsbald verlangte er die ganze Summe auf einmal zurück und ergriff drastische Maßnahmen, um sie einzutreiben. Cassius Dio sagt, dass Seneca bei seinem Kredit eine exorbitante Verzinsung erwartet hätte.4 Diese hätte dem Gegenwert von fast drei Tonnen Gold entsprochen.5 Nach römischen Recht war es durchaus möglich, nach dem Tod eines Klientelkönigs dessen Ländereien einzuziehen und in das Imperium einzugliedern. Was jedoch nicht legal war, war die brutale Behandlung der icenischen Elite sowie die Konfiszierung ihres privaten Eigentums. Sogar nach römischen Standards war die Misshandlung Boudiccas und die Vergewaltigung
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Boudicca _________________________________________________________________
ihrer Töchter ein Verbrechen.6 Mit diesem Verhalten schürten die Römer die in den keltischen Stämmen bereits schwelende Unzufriedenheit; sie machten Boudicca zur Anführerin des Aufstandes. Im Jahr 61, als der römische Gouverneur Gaius Suetonius Paulinus auf der Insel Mona (heute Anglesey) an der Nordwestküste von Wales auf einem Feldzug war, führte Boudicca die Icener und Trinovanten in den Krieg. Laut Tacitus ließ sich Boudicca von Arminius, dem Anführer der Cherusker inspirieren, der im Jahr 9 n. Chr. in Germanien ein römisches Heer vernichtend geschlagen hatte. Zudem berief sie sich auf ihre eigenen Ahnen, die Julius Cäsar aus Britannien vertrieben hatten. Sie vertraute Wahrzeichen und rief Andarte an, die britannische Siegesgöttin. Die beiden Quellen für den Aufstand des Jahres 61 n. Chr. – die Annalen des Tacitus und der Bericht des Cassius Dio – variieren stark, was die Darstellung Boudiccas angeht. Laut Tacitus sind Boudiccas Handlungen zwar irregeleitet, aber moralisch gerechtfertigt. Während Tacitus stark auf ihre Rolle als Mutter fokussiert, die gute Gründe hat, sich für das Unrecht, das ihr selbst, ihren Töchtern und ihrem Stamm angetan wurde, an den römischen Besatzern zu rächen, ist Boudicca bei Dio keine Sympathiefigur, sondern eine furchterregende Kriegerkönigin. Seine ausführliche Beschreibung zerstörter Städte und der Massaker, die sie und ihre Truppen verübten, dient vor allem dazu, Boudicca und ihre Anhänger als Barbaren darzustellen, deren völlige Vernichtung – ein Heer von über 200.000 Mann – somit gerechtfertigt schien.
Boudiccas Feldzug Boudicca zog mit ihrem Heer nach Süden, um die dortigen römischen Siedlungen anzugreifen. Ihr erstes Ziel war Camulodunum, damals eine römische Kolonie. Wie schon erwähnt, behandelten die römischen Veteranen, die sich dort niedergelassen hatten, die lokale Bevölkerung schlecht. Als zusätzliche Provokation errichteten die Römer auf Kosten der Trinovanten einen Tempel zu Ehren des 54 n. Chr. verstorbenen früheren Kaiser Claudius – für die Trinovanten ein „Symbol ewiger Tyrannei.“ Sie warfen den Priestern des Tempels vor, das Vermögen des Landes zu vergeuden. Diese massive Verärgerung machte die Stadt zum Brennpunkt des Widerstandes. Angesichts des
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_________________________________________________________ Boudiccas Feldzug
sich nähernden Heeres Boudiccas baten die römischen Bewohner den Prokurator Catus Decianus um Verstärkung, doch dieser schickte nur eine Hilfstruppe von 200 Mann, was die Stadt zu einem leichten Ziel für die Aufständischen machte. Sie fielen über die schwach verteidigte Stadt her, zerstörten sie und belagerten die letzten Verteidiger im Tempel zwei Tage lang, bevor er fiel. Eine dort aufgestellte Bronzestatue von Kaiser Nero wurde enthauptet und der Kopf von Boudiccas Armee als Trophäe mitgenommen. Der zukünftige Gouverneur Petilius Cerialis, der damals die neunte Spanische Legion kommandierte, versuchte, die Stadt aus ihrer Umzingelung zu befreien, erlitt aber eine totale Niederlage. Tacitus berichtet: „Der siegreiche Feind traf auf Petilius Cerialis, den Kommandanten der neunten Legion, als er zu Hilfe eilte, schlug ihn in die Flucht und vernichtete die ganze Infanterie. Cerialis flüchtete mit der Kavallerie in sein Lager, dessen Befestigungen ihn retteten.“7
Nachdem die Rebellen Camoludunum bis auf die Grundmauern niedergebrannt und alle Einwohner getötet hatten, zogen sie nach Londinium (das heutige London). Londinium war eine neue, nach der Eroberung von 43 n. Chr. gegründete Niederlassung, die sich mit ihren Händlern und römischen Beamten zu einem blühenden Handelszentrum entwickelt hatte. Statthalter Suetonius entschied sich mangels Soldaten und eingedenk der Niederlage des Petilius, die Stadt zu opfern, um die Provinz zu retten. Weder die Tränen noch das Jammern der um Hilfe flehenden Menschen hielten ihn davon ab, das Signal zum Aufbruch zu geben. Er nahm alle Männer in seine Armee auf, die mit ihm gehen wollten. Diejenigen, die durch Alter oder Geschlecht an den Ort gebunden waren und flüchten wollten, wurden vom Feind abgeschnitten.8 Boudiccas Armee brannte Londinium nieder, folterte und tötete die zurückgebliebenen Einwohner. Die Stadt Verulamium (heute St Albans) war die nächste, die zerstört werden sollte.9 Insgesamt sollen in diesen drei Städten zwischen 70.000 und 80.000 Menschen von Boudiccas Heer getötet worden sein. Tacitus berichtet, dass die Aufständischen kein Interesse daran hatten, Gefangene zu machen, sondern nur am Töten, sei es durch Erhängen, Verbrennen oder Kreuzigen. Der Bericht von Cassius Dio bringt mehr schaurige Details: Angeblich wurden die vornehmsten Frauen auf Spieße gepfählt, ihre Brüste abgeschnitten und an ihren Mündern angenäht – als „Begleitung für Opfer, Bankette und Ausschweifungen an heiligen Orten, besonders den Wäldern von Andraste.“10 Wären diese Berichte historisch zutreffend – sie stammen aus römischer
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Boudicca _________________________________________________________________
Quelle und sind mit Vorbehalt zu betrachten– so würde sich Boudicca als rachsüchtige Furie darstellen, welche die ihr und ihren Töchtern angetane Schmach mit unverhältnismäßiger Grausamkeit gerächt hat. Damit taugt sie wenig zu einer National- oder Volksheldin.
Feldschlacht und Niederlage Statthalter Suetonius sammelte die römischen Truppen – er vereinigte mehrere Legionen – und kommandierte bald eine Armee von beinahe 10.000 Mann. Er bezog einen Ort entlang einer Römerstraße mit einem Wald im Rücken. Boudiccas Armee soll zahlenmäßig weit überlegen gewesen sein (ca. 250.000 Mann), aber diese Zahl ist mit Skepsis zu betrachten, denn Dios Bericht stammt nur aus einer Zusammenfassung. Boudicca soll von ihrem Streitwagen aus eine kurze Ansprache an ihre Truppen gehalten haben, ihre Töchter an ihrer Seite. Wie Tacitus berichtet, sprach Boudicca zu ihrem Heer folgende Worte: „Nicht als Adlige aus vornehmem Geschlecht, die sich für ihren verlorenen Reichtum rächen wolle, sondern als normale Frau aus dem Volk räche ich die verlorene Freiheit, meinen geschundenen Körper und die Vergewaltigung meiner Töchter. Dies ist der Entschluss einer Frau.“11
Ihre Sache sei gerecht und die Götter seien auf ihrer Seite; die eine Legion, die es gewagt habe, ihnen entgegenzutreten, sei vernichtet worden. Sie, eine Frau, sei entschlossen zu gewinnen oder zu sterben; wenn die Männer in Sklaverei leben wollten, dann sei das deren Wahl. Was dann folgte, war trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Britannier für die schlachterprobten Legionäre eingespielte Routine: Anfangs, zu Beginn der Schlacht, warteten sie ab, mit dem Wald im Rücken als natürlichem Schutz. Dann, als Boudiccas Truppen in Reichweite der Bogenschützen waren, stürmten die Legionäre in keilförmiger Formation vorwärts, gefolgt von den Hilfstruppen. Gleichzeitig brach die römische Kavallerie mit gestreckten Lanzen eine Bresche in die Reihen der Feinde und machte jeden nieder, der sich ihnen entgegenstellte. Der Rest von Boudiccas Männern ergriff die Flucht, was jedoch schwierig war, weil ein Kordon von Wagen die Fluchtwege blockierte. Die römischen Truppen verschonten niemanden,
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___________________________________________ Glorifizierung und Vereinnahmung
auch nicht die Frauen; die Lasttiere wurden ebenfalls getötet und auf den Leichenberg geworfen. Tacitus berichtet stolz: „Der an diesem Tag erkämpfte Ruhm war bemerkenswert und glich dem früherer Siege: denn nach Berechnungen fielen fast 80.000 Britannier, während nur rund 400 Römer getötet wurden und eine nicht viel größere Anzahl verwundet.“12
Das von den Römern verübte Niedermetzeln der Frauen und Tiere war ungewöhnlich, denn beide hätten profitabel verkauft werden können. Das weist auf die tiefe wechselseitige Feindschaft hin und war wohl die Antwort auf Boudiccas erbarmungsloses Abschlachten der Bewohner in den von ihr eroberten römischen Kolonien.13 Die Umstände von Boudiccas Tod sind unklar. Laut Tacitus beging sie nach ihrer Niederlage Selbstmord durch Gift, während Dio berichtet, dass sie durch Krankheit starb und ein aufwändiges Begräbnis erhielt. Das Schicksal ihrer beiden Töchter ist unbekannt. Etwa 500 Jahre nach den Berichten der römischen Geschichtsschreiber taucht Boudicca in der Historiografie wieder auf: Der britische Mönch Gildas erwähnt in seinem Werk De Excidio et Conquestu Britanniae („Vom Untergang und der Eroberung Britanniens“) eine Anführerin, die er als „verräterische Löwin“ beschreibt, „die Statthalter niedermetzelte, welche die römische Herrschaft populär machen und stärken wollten.“14
Glorifizierung und Vereinnahmung Es dauerte weitere 1.000 Jahre, bis man Boudicca als wichtige Gestalt in der britischen Geschichte wahrzunehmen begann. Während der Herrschaft von Königin Elisabeth I. (Elisabethanische Ära) wurden die Werke von Tacitus wiederentdeckt und das Interesse an Boudicca und ihre Rebellion geweckt. Das war kein Zufall, denn 1588 sah sich Elisabeth I. gezwungen, England gegen einen Angriff der Spanischen Armada zu verteidigen. Einst hatte Boudicca Britannien gegen die Römer verteidigt. Doch anders als die keltische Rebellin war Königin Elisabeth I. erfolgreich und vernichtete die feindliche Flotte. Während ihrer Regierungszeit wuchs das Interesse an Boudicca erheblich an. Einige Autoren fühlten sich inspiriert, Boudicca und Elisabeth zu vergleichen, denn beide Frauen glichen sich darin, dass sie über Land
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Boudicca _________________________________________________________________
herrschten und Kriege führten. Boudicca wurde als Patriotin gesehen, die ihr Land tapfer gegen die römischen Invasoren verteidigt hatte. Nach Elisabeths Tod wurden die Darstellungen wieder kritischer. Nicht alle Autoren beteiligten sich an ihrer Glorifizierung. So beschreibt John Milton, der Verfasser der bekannten History of Britain (1670), Boudicca als ein „schamloses Weib, das seine traurige Geschichte von Misshandlung, Vergewaltigung und Erniedrigung hätte für sich behalten sollen.“15 Sie sei eine Wahnsinnige mit einer Horde Verrückter an ihren Fersen.16 Die Begeisterung für Boudicca fand ihren Niederschlag in Literatur und Musik. Sie inspirierte 1610 die Dramatiker Francis Beaumont and John Fletcher, jüngere Zeitgenossen Shakespeares, zu dem populären Trauerspiel Bonduca, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus aufgeführt wurde. Der Barock-Komponist Henry Purcell setzte ihr 1695 mit der Oper Bonduca, or the British Heroine ein Denkmal. Einer der Chöre darin – Britons, Strike Home! – wurde im 18. und 19. Jahrhundert zum patriotischen Lied. Doch erst in der Victorianischen Epoche nahm Boudiccas Ruhm legendäre Ausmaße an. Man sah in der Rebellin eine „Namenscousine“ von Königin Victoria, weil beide Namen die gleiche Bedeutung haben: „Sieg“. Victorias Hofdichter, Alfred Lord Tennyson, schrieb das Gedicht Boadicea; mehrere Schiffe wurden nach ihr benannt. 1850 und 1860 wurde die Statue Boadicea and Her Daughters von Thomas Thornycroft ausgeführt, angeregt von Prinz Albert, der seine Pferde als Modelle auslieh (► Abb. 5). Der Kopf wurde 1864 von Thornycroft separat ausgestellt und 1902 von seinem Sohn Sir John in Bronze gegossen, der die Statue dem Londoner Stadtrat schenkte. Boudicca erscheint als Teil einer Statuengruppe, die sie zusammen mit ihren Töchtern auf einem Streitwagen zeigt. Die Statue steht am linken Themseufer an der Westminster Bridge, gegenüber dem Big Ben unweit den Houses of Parliament. Der Sockel trägt eine Inschrift aus der Ode von William Cowper (1731–1800): „Regions Caesar never knew / Thy posterity shall sway“.17 Diese Ode hatte einen großen Einfluss darauf, dass sich das Bild der Boudicca ab dem 18. Jahrhundert zu einer britischen imperialen Ikone und Volksheldin wandelte. Cowpers Gedicht folgte dem Trend, Boudicca als Nationalheldin darzustellen und sie als Inspiration für nationale Literatur und Kunst zu verwenden. Es wurde von Tausenden von britischen Schulkindern im 19. Jahrhundert und noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts auswendig gelernt. Im Gedicht wurde Boudiccas Geschichte an den Zeitgeist angepasst, indem ihr
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Abb. 5:
Boudicca-Denkmal in London.
Widerstand gegen die Römer als Grundlage für den britischen Imperialismus und die Expansion des britischen Weltreichs dargestellt wurde. Diese Vereinnahmung der antiken Rebellin als imperiale Ikone bedeutete eine erstaunliche Umdeutung, um nicht zu sagen Verfälschung ihrer historischen Rolle: Denn jetzt waren es die Briten, die wie einst die Römer fremde Länder eroberten und in ihren Kolonien die Aufstände der dortigen Bevölkerungen gewaltsam niederschlugen (z. B. in Indien, Südafrika und Birma, ► Winston Churchill). Die Popularität Boudiccas als Volksheldin und Repräsentantin imperialer Größe hielt an. Im 20. Jahrhundert beschäftigten sich in Großbritannien zahlreiche Romane, Dramen, Filme und das Fernsehen mit der legendären Rebellin; auch in der Malerei war sie weiterhin ein beliebtes Motiv. Doch mit dem Zerfall des britischen Weltreichs ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Boudiccas Bild zunehmend vielfältiger: z. B. als Mutter, Volksheldin, Freiheitskämpferin und Kriegerkönigin; aber es gab jetzt auch negative Bewertungen, die ihre Rolle als grausame Rächerin bei der Vernichtung der römischen Veteranen-Siedlungen thematisierten. Darstellungen in Kunst,
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Literatur und Film schwanken häufig zwischen einer Darstellung als Opfer und mächtiger Königin.18 Die Legendenbildung um die Gestalt der keltischen Rebellin schritt weiter voran, genauso wie ihre Glorifizierung. So enthielt Lewis Spences Boadicea – Warrior Queen of the Britons (1937) eine Landkarte mit der Position der feindlichen Armeen – eine freie Erfindung, denn Historiker konnten den genauen Ort der Schlacht bis heute nicht ermitteln. Während der Bombardierung Londons im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Luftwaffe bezog sich Winston Churchill bei seinen Durchhaltereden wiederholt auf Boudicca als Vorbild und Ansporn für Widerstand.19 Angeblich liegt Boudicca zwischen den Bahnsteigen 9 und 10 des Londoner King’s Cross Bahnhofs begraben. Ab den 1980er Jahren kamen immer mehr populäre und wissenschaftliche Darstellungen der Boudicca auf den Markt; zudem erschien Boudicca als Titelheldin in historischen Romanen, z. B. in Rosemary Sutcliffs Song for a Dark Queen von 1978. In Charlotte MacLeods Kriminalroman Rolls Royce und Bienenstiche tragen viele Protagonisten die Vornamen historischer Freiheitshelden, so auch die entführte und später befreite Boadicea („Tante Bodie“). Boudicca ist auch die Hauptperson der 15-bändigen französischen Comic-Serie Vae victis! Beispielhaft für Darstellungen in der bildenden Kunst sind Boudiccas Porträt in den Glasfenstern der Stadthalle von Colchester von 1902 und die Skulptur von Boudicca und ihren Töchtern von J. Harvard Thomas für die Cardiff City Hall von 1916. Film und Fernsehen nahmen sich des Boudicca-Themas ebenfalls an, so in dem Film Boudica (auch unter dem Titel Warrior Queen bekannt) von 2003. Es entstanden TV-Dokumentationen über Boudicca und ihren Aufstand. Bedeutend ist die BBC-Fernsehserie In Search of the Dark Ages aus den Jahren 1978–1981, in der Boudicca in einer Folge vorgestellt wird; andere mythologische und historische Figuren in dieser TV-Serie sind König Artus, Alfred der Große und Wilhelm der Eroberer. Dem deutschen Publikum wurde die Geschichte Boudiccas in einer Folge der ZDFFernsehserie Terra X vorgestellt. Der Boudicca-Aufstand wurde in einer von drei Folgen über die Kelten in Europa thematisiert; die Folge wurde am 1. Mai 2016 erstmals ausgestrahlt.20 Boudicca und ihr Aufstand werden auch als Teil der englischen Regionalgeschichte in Museen Südostenglands präsentiert. Ausgrabungsstücke und historische Hintergründe zu Boudiccas Aufstand sind unter anderem in Dau-
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erausstellungen im Colchester Castle Museum, im Verulamium Museum in St Albans und im Norwich Castle Museum zu finden. Dort befindet sich auch eine Boudicca gewidmete Galerie mit der Reproduktion eines Iceni-Streitwagens. Ein 58 km langer Boudicca-Wanderweg erstreckt sich zwischen Norwich und Diss in Norfolk. Auch von der Suffragetten-Bewegung wurde Boudicca als Symbolgestalt für den Kampf um das Frauenwahlrecht vereinnahmt. Ein Boudicca-Banner wurde bei vielen Demo-Märschen der Nationalen Union der Gesellschaften für Frauenwahlrecht mitgeführt. In einer von Cicely Hamilton verfassten Parade großer Frauen erscheint sie 1909 als Bühnencharakter am Londoner Scala Theater. Im selben Jahr wurde sie in einem Flugblatt beschrieben als „ewig weiblich – die Hüterin des Herdes, die Rächerin der Übeltaten von Schändern und Plünderern.“21
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Karl der Große Reichsgründer und Sachsenschlächter
Um die Person des großen Herrschers ranken sich zahlreiche widersprüchliche Mythen. Man verehrt ihn als heroische Sagengestalt, heiligen Nationalhelden und Vater Europas, kennt ihn aber auch als grausamen Feldherrn und gnadenlosen Machtmenschen. Knapp ein halbes Jahrhundert lang, von 768 bis 814, regierte Karl der Große das Frankenreich. Als Wegbereiter des christlichen Abendlandes zählt der Kaiser zu den einflussreichsten Akteuren der europäischen Geschichte. „Jahrhundertelang sah man in ihm das Vorbild des gerechten, barmherzigen, siegreichen und untadeligen Herrschers“, so der Heidelberger Historiker Stefan Weinfurter.1 Auch seine Verdienste im Bereich der Bildung sind enorm, denn er setzte eine Bildungsoffensive in Gang, die unsere Wissenschaftskultur bis heute prägt. Karl dem Großen gelang es in einem beispiellosen Kraftakt seiner Gelehrten, antike Schriften zu retten, ohne die uns heute die Gedankenwelt der alten Griechen und Römer
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nur zu einem Bruchteil überliefert wäre, wie Weinfurter schreibt: „Unser universitäres System würde ohne Karl den Großen nicht existieren. Vielen Disziplinen wie beispielsweise den Altertumswissenschaften und der Philosophie würden die Grundlagen fehlen.“2 Mit dem Reich der Karolinger legte Karl ein zentrales Fundament für die künftige europäische Staatenwelt. Frankreich und Deutschland gingen aus dem fränkischen Kaiserreich hervor und bilden bis heute wesentliche Pfeiler Europas. Hier hat Karl der Große Entscheidendes geleistet. Doch gleichzeitig weisen Historiker auf die dunklen Seiten des Frankenkaisers hin: Seine Gegner ließ er samt Frauen und Kindern erbarmungslos töten; er hatte Tausende Opfer bei seinen blutigen Strafexpeditionen gegen die unbotmäßigen Sachsen zu verantworten, was ihm den Beinamen „Sachsenschlächter“ einbrachte. Die Sachsenkriege führte Karl mit grenzenloser Brutalität: Er hinterließ in vielen Regionen ein Land der verbrannten Erde, löschte Siedlungen und Dörfer aus und ließ seine Soldateska blutig unter Männern, Frauen und Kindern wüten. Neben seinem unbändigen Machtstreben war sein Antrieb auch religiöser Fanatismus. Gipfel dieser Vernichtungsorgien war das berüchtigte „Blutgericht von Verden“.
Das Blutgericht von Verden3 Als „Blutgericht von Verden“ (oder auch „Blutbad von Verden“) wird die Hinrichtung von 4.500 Sachsen bei Verden an der Aller auf Befehl Karls des Großen bezeichnet. Laut den Reichsannalen, der einzigen Überlieferung dieses Massakers, besiegten die Sachsen im Jahre 782 im Verlauf der Sachsenkriege ein fränkisches Heer in der Süntelschlacht. Daraufhin begab sich Karl nach Sachsen und versammelte die sächsischen Adligen an der Mündung der Aller in die Weser. Diese benannten Widukind als den Urheber des Aufstands. Karl forderte die Auslieferung der Rädelsführer und ließ diese an einem Tag hinrichten.4
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______________________________________________ Ein dreiunddreißigjähriger Krieg
Ein dreiunddreißigjähriger Krieg Probleme mit den Sachsen, die eine politische und trotz unermüdlicher Missionstätigkeit auch religiöse Abwehrhaltung gegenüber den Franken einnahmen, hatte es schon lange gegeben. Die von Karl veranlasste Zerstörung der Irminsul auf dem wichtigsten Versammlungsplatz der Sachsen führte 772 zum offenen Aufstand gegen die Franken. Die Irminsul war vermutlich ein hoher Baum oder Holzstamm und wurde als ein Sinnbild für die das Himmelsgewölbe tragende Weltsäule angesehen. Sie war ein religiöses Heiligtum und identitätsstiftendes Symbol der Sachsen. Dies mag der Grund für die Zerstörung der Irminsul durch den Frankenkönig gewesen sein, vergleichbar der Fällung der Donareiche durch den Missionar Bonifatius. Nach einer anderen Vermutung war die Irminsul das Wahrzeichen eines zentralen Thingplatzes der Sachsen, eines Versammlungsortes, an dem die sächsischen Adligen wichtige Beschlüsse fassten. Ihre Zerstörung war demnach vor allem ein Angriff auf die nordgermanische Verfassung der Sachsen, die ein Königtum wie bei den Franken nicht kannten. In diesem Sinne bedeutete die Zerstörung der Irminsul die Auflösung des sächsischen Parlaments. Anzunehmen ist eine Mischung sowohl religiöser als auch politischer Motive. Karls erster Sachsenzug, in dessen Verlauf 772 die an der Diemel gelegene Eresburg (beim heutigen Marsberg) erobert und die als Heiligtum verehrte Irminsul zerstört wurde, glich einer herkömmlichen Strafexpedition. Allerdings wurde mit diesem Unternehmen ein Ringen eröffnet, das Karls Zeitgenosse und Biograf Einhard als einen 33-jährigen Krieg charakterisierte, und an dessen Ende die Eingliederung des sächsischen Stammesgebietes in das Frankenreich und 802 die schriftliche Fixierung des sächsischen Volksrechtes (Lex Saxonum) standen. Laut Einhard waren Karls Feldzüge gegen die Sachsen die brutalsten und aufreibendsten Kampfhandlungen der Franken. Er sah in den Sachsen nur primitive Götzendiener: Der Krieg gegen die Sachsen sei „der langwierigste und grausamste und für das Frankenvolk anstrengendste, den es je geführt hat. Denn die Sachsen, die wie fast alle Völker auf dem Boden Germaniens wild von Natur, dem Götzendienst ergeben und gegen unsere Religion feindselig waren, hielten es nicht für unehrenhaft, göttliches und menschliches Recht zu schänden und es zu übertreten.“5
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Aber nicht Missionierung war das Ziel von Karls Feldzügen, sondern die militärische Sicherung der fränkischen Grenze. Der Kampf bis dahin war hart, aber er wurde nicht ununterbrochen geführt und auch nicht gegen die Gesamtheit der Sachsen; vielmehr war er in einem starken Maße auch von deren inneren Gegensätzen geprägt, die in der ständischen Gliederung der sächsischen Gesellschaft ihre Ursache hatten. Karl drang 775 mit einem großen Heer in Sachsen ein und erzwang die Unterwerfung der Engern und der Ostfalen; auch die Westfalen wurden geschlagen. Dabei ging der König mit großer Brutalität vor: So berichten die Reichsannalen für das Jahr 775 von drei Blutbädern, die Karl verüben ließ, und auch den Nordhumbrischen Annalen zufolge wütete er unter seinen Feinden. Von nun an betrachtete Karl die Sachsenfeldzüge auch als ein Missionierungsprojekt, denn in der Fassung der Reichsannalen, den sogenannten Einhardsannalen, ist vermerkt, dass der Krieg gegen die Sachsen so lange fortgeführt werde, bis sie sich zum christlichen Glauben bekehrt hätten oder vernichtet würden. 776 jedenfalls konnte Karl die Unterwerfung der Sachsen und ihre Verpflichtung, sich taufen zu lassen, entgegennehmen. Ein Jahr später fand in Paderborn, erstmals auf sächsischem Boden, eine Reichsversammlung statt, auf der die Unterwerfung erneuert und das Land in Missionsbezirke eingeteilt wurde. 778 kam es jedoch aus antifränkischen, aber offenkundig auch sozialen Motiven zu einer Rebellion der Sachsen unter ihrem Herzog, dem westfälischen Adeligen Widukind, die – vor allem von den unteren Ständen getragen – auslösendes Moment für die vollständige Eroberung des sächsischen Gebietes wurde. „Karls Reaktion auf den Vertragsbruch der Sachsen war die Losung, dass es nur noch Taufe oder Tod für die Sachsen geben könne.“6 In der Schlacht bei Laisa und Battenfeld 778 wurden sie von einem fränkischen Heer vernichtend geschlagen. Doch die nach Karls Ansicht treubrüchigen Sachsen ordneten sich neu und überfielen wiederholt chattische Orte und Festungen im heutigen Hessen. Angeführt von ihrem Heerführer Widukind stellten sich die Sachsen im Gegensatz zu früheren, eher schlecht organisierten Eroberungszügen nun in offenen Feldschlachten ihrem Gegner. Dessen ungeachtet trieb Karl die Konsolidierung seines Imperiums weiter voran: 782 erfolgte in Lippspringe durch Errichtung von Grafschaften, mithin von fränkischen Verwaltungseinheiten, die förmliche Einbeziehung der Sachsengebiete in den Reichsverband. Außerdem ließ Karl Abgaben eintrei-
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______________________________________________ Ein dreiunddreißigjähriger Krieg
Abb. 6:
Die Karlsbüste (nach 1349) in der Aachener Domschatzkammer.
ben, heidnische Bräuche unterdrücken und Zwangsbekehrungen zum Christentum vornehmen, was zur neuerlichen Empörung eines Teils der Sachsen vor allem aus bäuerlichen Schichten führte, während der Adel teils auf Seiten der Franken stand. Im Jahre 782 kam es zur besagten Schlacht am Süntelgebirge, in der Widukind ein fränkisches Heer vernichtete, während Karl sich auf einem Feldzug gegen die Sorben befand. Darauf folgte Karls furchtbares Strafgericht, das Massaker von Verden. Doch auch dieses Strafgericht vermochte den Widerstand nicht endgültig zu brechen, und der Aufstand loderte 783 heftiger denn je wieder auf. Erst nach schweren Kämpfen unterwarf sich Widukind 785 und empfing in der Pfalz Attigny die Taufe. Danach verliert sich seine Spur. In den Neunzigerjahren flammten die Kämpfe noch einmal auf und fanden erst 802 endgültig mit der Lex Saxonum ein Ende. Karls blutige Unterwerfung der Sachsen, vor allem die barbarische Exekution von 4.500 Gefangenen, mit der er sich den Titel „Sachsenschlächter“ erwarb und die christliche Ethik mit ihrem Tötungsverbot mit Füßen trat, wiegen bei der Beurteilung seiner Person umso schwerer, als Karl sich als
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Missionar des Christentums verstand. Zwangsbekehrungen mit Feuer und Schwert widersprechen dem Geist des Christentums, wie er sich z. B. in der Bergpredigt manifestiert, diametral. Anders als die antike Gestalt Alexander der Große, der bei seinen blutigen Eroberungskriegen archaischen vorchristlichen Wertvorstellungen anhing, war Karl der Große getaufter Christ, der die christliche Morallehre aus machtpolitischen Gründen bewusst ignorierte. Zieht man Bilanz und wägt seine Schandtaten gegen seine Verdienste auf, so muss man konstatieren: Karl der Große war mehr Henker als Held.
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Richard Löwenherz Glorifizierter Nationalheld und skrupelloser Kreuzritter
Richard I., genannt „Löwenherz“ (eigentlich Richard Plantagenêt, 1157– 1199), war von 1189 bis zu seinem Tod König von England. Richard Löwenherz gilt als einer der größten englischen Könige des Mittelalters. Er hat einen Ruf als gerechter, vorbildlicher Herrscher, glänzender Ritter und gläubiger Christ. Unzählige Legenden ranken sich um die Gestalt dieses Herrschers, dessen Reich England und weite Teile Frankreichs umfasste. In Filmen und Fernsehserien wird er als makelloser Ritter und großer Kriegsheld gefeiert. Ein beispielloser Mythos umgibt die Person Richards: charismatischer König, wagemutiger Kämpfer, heldenhafter Kreuzfahrer ins Heilige Land und berühmtester Gefangener der Weltgeschichte. Als Kreuzfahrer und Personifikation eines großen Ritters ist er in die Geschichte eingegangen und verkörpert das Ideal des Rittertums. Obwohl ihm die Rückeroberung
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von Jerusalem nicht gelang – Ziel und Zweck des Dritten Kreuzzug (1189– 1192) –, galt Richard Löwenherz schon zu Lebzeiten als genialer Feldherr. Er wurde in einem Atemzug mit sagenhaften Helden wie Hektor, Achilles, Alexander und Roland genannt. Noch zu Lebzeiten strickte Richard selbst an seinem Ruhm und förderte nach Kräften die Legendenbildung um die eigene Person, sowohl um seine Untertanen und Truppen zu beeindrucken als auch um seine Feinde einzuschüchtern. Um diese Feinde in Angst und Schrecken zu versetzen, setzte er das Gerücht in die Welt, die Plantagenêts würden vom Teufel abstammen. Patriotisch gesinnte britische Geschichtsschreiber stilisierten Richard Löwenherz zum englischen Nationalhelden und glorifizierten ihn als vorbildlichen, ritterlichen Herrscher. Doch das war er nicht. Zahlreiche von den Chronisten dokumentierte Vorkommnisse zeigen den problematischen Charakter dieses „edlen Ritters“. So beklagten sich im Jahr 1182 aquitanische Adlige bei König Heinrich über die Grausamkeit, mit der Richard bei der Niederwerfung von Aufständen vorging. Zudem habe er seine Untertanen unterdrückt und sich an deren Frauen und Töchtern vergriffen. Der englische Chronist Roger von Hoveden schreibt: „Er entführte die Frauen, Töchter und Mägde seiner Untertanen mit Gewalt und machte sie zu seinen Konkubinen. Wenn er seine Lust mit ihnen gehabt hatte, gab er sie an seine Soldaten zur Erfreuung weiter.“1
1183 kämpfte Richard bei Aix an der Vienne gegen Verbündete seines Bruders Heinrich und siegte. Er ließ die gefangenen Söldner in der Vienne ertränken – ein Massenmord, der wohl als Warnung verstanden werden sollte. Doch Richards Ruhm wird vor allem verdüstert durch ein weit größeres Verbrechen, das er während des Dritten Kreuzzugs beging.
Das Massaker von Akkon Im Juli 1187, knapp neun Jahrzehnte nach dem Fall Jerusalems, hatte der legendäre Sultan Saladin (Salah ad-Din Yusuf ibn Ayyub ad-Dawīnī) das Heer der Kreuzritter bei Hattin vernichtend geschlagen, und am 9. Oktober holten seine Soldaten das christliche Kreuz von der Kuppel des Felsendoms. Die Reste der in Bedrängnis geratenen Kreuzfahrer zogen sich unter Richards
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____________________________________________________ Das Massaker von Akkon
Abb. 7:
Akkon kapituliert vor Philipp und Richard.
Führung in Richtung Akkon an die Küste zurück, wo sie fast genau 100 Jahre nach dem Gemetzel der Kreuzritter in Jerusalem2 ein weiteres furchtbares Verbrechen verübten. Nach der Eroberung Akkons durch die Kreuzritter muss der dortige Statthalter verhandeln. Es kommt zu einem Vertrag zwischen Richard und Saladin. Der Sultan bietet 200.000 Goldstücke, die Freilassung seiner Gefangenen und die Rückgabe der Kreuzreliquie. Im Gegenzug garantiert Richard die Schonung der gefangenen Krieger. Richard wartet in Akkon auf das Lösegeld, aber als sich die Verhandlungen mit Saladin hinziehen, verliert er die Geduld und bricht den Vertrag: Am 20. August 1191 lässt er 2.700 gefangene muslimische Krieger mit 300 Frauen und Kindern vor der Stadt zusammentreiben und dann von seinen Leuten mit Lanzen, Schwertern, Säbeln und Steinen niedermetzeln. Der Augenzeuge Otto von Freising, Chronist der damaligen Ereignisse, schildert das auf Befehl von Richard verübte Massaker der Kreuzritter an den Muslimen:
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Richard Löwenherz ________________________________________________________ „2.700 Mann wurden mit Seilen gefesselt aus Akkon herausgeführt und auf dem Feld und vor den Zelten der Franken aufgestellt. Sie drängten sich verwirrt und furchtsam zusammen. Sollten sie etwa freigelassen werden? Dann machten sich die Franken wie ein Mann über sie her, und mit Schwertstreichen und -hieben metzelten sie sie kaltblütig nieder, während die muslimische Vorhut aus der Ferne zuschaute und nicht wusste, was sie tun sollte. Die Franken wichen nicht vom Platz, bis das ganze Gebiet um Akkon mit dem Blut der Heiden gedüngt war […]. Sie erschlugen […] alle Heiden, Männer und Frauen jeden Alters und Standes.“3
Zwar unternehmen die Männer des Sultans einen Gegenangriff, werden aber von Richards Truppen zurückgeschlagen. Als sich die Kreuzritter bei Sonnenuntergang in die Stadt zurückziehen, hinterlassen sie eine blutgetränkte, mit Leichen übersäte Ebene. Damit hatte Richard dem entsetzten Sultan signalisiert, wie er den Krieg zu führen gedachte: skrupellos und brutal. Keine Tat Richards hat mehr Widerspruch und Abscheu bei den Arabern hervorgerufen als dieses kaltblütig verübte Massaker. Ein Augenzeuge, Saladins Berater Baha ad-Din, schilderte, wie Muslime am nächsten Morgen das Schlachtfeld absuchten und über die Gründe für das Massaker nachdachten: „Sie fanden die Märtyrer, wo sie gefallen waren, und einige konnten sie identifizieren. Große Trauer und Verzweiflung überwältigten sie, denn der Feind hatte nur Männer von Ansehen und Rang verschont oder solche, die körperlich stark und leistungsfähig genug waren, um bei Aufbauarbeiten zu helfen. Es wurden verschiedene Gründe für das Massaker genannt. Es hieß, sie seien aus Rache für die eigenen Gefallenen getötet worden, oder der König von England habe beschlossen, nach Askalon zu marschieren, um es einzunehmen, und es für unklug befunden, eine so große Zahl von Gefangenen zurückzulassen. Gott allein weiß es.“4
Der englische Chronist Ambroise frohlockt: „Sie wurden alle abgeschlachtet, die nach der Christen Blut getrachtet. Die Rache konnten sie genießen. Der Schöpfer sei dafür gepriesen.“5
Richard bricht den ritterlichen Kodex Wie Baha ad-Din berichtet, war Richard Löwenherz wortbrüchig geworden. Die muslimischen Gefangenen hatten sich unter der Bedingung ergeben, dass sie in jedem Fall mit dem Leben davonkommen, schlimmstenfalls in die Sklaverei verkauft würden, falls Saladin das Lösegeld nicht zahlen sollte. Sultan Saladin reagierte auf das Massaker mit Entsetzen, aber auch mit Zorn, so
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__________________________________________ Richard bricht den ritterlichen Kodex
dass er in den Wochen danach alle Kreuzfahrer, die ihm in die Hände fielen, ebenfalls exekutieren ließ. Richards Gemetzel wurde in der islamischen Welt mit Abscheu registriert und in eine Reihe mit dem barbarischen Massaker von Jerusalem gestellt. Westliche Historiker beurteilten die Bluttat unterschiedlich. Nur wenige kritische Stimmen verurteilten Richards Massenmord, wie der deutsche Chronist Ansbert, jedoch weniger wegen der moralischen Verwerflichkeit dieses Massenmords, sondern vor allem deshalb, weil der englische König eklatant gegen sein Versprechen verstoßen hatte, das Leben der muslimischen Gefangenen zu verschonen. Damit erhob sich der schwere Vorwurf, Richard habe mit dem Bruch dieses Versprechens den traditionellen Kodex von Ritterlichkeit und Ehre missachtet.6 Denn mit dem furchtbaren Gemetzel an Wehrlosen verstieß Richard gleich gegen drei Tugenden des mittelalterlichen Tugendkanons: Ehre, Milde und Mäßigung. Die Frage nach Richards eigentlichem Motiv für das Massaker wurde in der abendländischen Historiografie gerne exkulpierend mit der militärischen Notwendigkeit beantwortet, die Richard zu der blutigen Tat gezwungen habe. Der englische König habe als ‚planvoll handelnder, klarsichtiger Befehlshaber‘ gewusst, dass ihm die Mittel zur Versorgung und Bewachung von mehreren Tausend Gefangenen nicht zur Verfügung standen. Dem widersprechen Historiker wie René Grousset, der Richards Tat als barbarisch und dumm beschrieb, verübt von einem Monarchen, der „ausschließlich von rasendem Zorn getrieben gewesen sei.“7 Die barbarische Kriegsführung des englischen Königs war letztlich nicht von Erfolg gekrönt, denn sein großes Ziel, die Rückeroberung von Jerusalem, konnte er nicht erreichen. Geschwächt von dem langen Kriegszug, schätzte Richard I. seine Chancen realistisch ein und verzichtete auf die Belagerung der Heiligen Stadt. Er beschränkte sich darauf, die Stellung in Akkon zu festigen. Er erlangte einen dreijährigen Waffenstillstand mit Saladin, wodurch die Küste von Tyrus bis Jaffa von den Kreuzfahrern kontrolliert wurde und der Pilgerweg nach Jerusalem wieder offenstand. Die Herrschaft der Kreuzritter in Palästina währte keine 100 Jahre. „Erst im 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, begannen Historiker wie David Hume die Kreuzzüge als absurde Besessenheit zu bewerten, die Menschen ohne jede rationale Begründung in Lebensgefahr brachte. Und von da an ging es auch mit Richards Ansehen abwärts.“8
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Richard Löwenherz ________________________________________________________
Damit begann die Dekonstruktion dieser Ikone eines idealen ritterlichen Helden, der Richard niemals war. Die Zeitung Die Welt titelte anlässlich einer Ausstellung zu Richard Löwenherz in Speyer: „Der Ritterkönig war ein Killer, Bankrotteur, Versager.“9 Doch Richard scheint auch Sinn für Humor gehabt zu haben. Als er 1199, erst 41-jährig, bei der Belagerung der Burg Chalus-Chabrol von einem feindlichen Armbrustschützen getroffen und tödlich verletzt wurde, gab ihm ein Priester ein paar Tage später die Letzte Ölung – nicht ohne dem sterbenden Feldherrn noch mal energisch ins Gewissen zu reden. Richard solle den „drei schlechten Mädchen, die er aushalte“, abschwören, „dem Ehrgeiz, dem Geiz und der bösen Wollust.“ Damit war der Herrscher einverstanden. Angeblich sagte er: „Ich hinterlasse meinen Ehrgeiz den Templern, meinen Geiz den Mönchen, meine Wollust den Prälaten.“10 Die am Mythos vom großmütigen Herrscher strickende Legende besagt ferner, dass Richard den feindlichen Schützen nach dessen Gefangennahme zu sich bringen ließ, um ihn mit den Worten zu begrüßen: „Wer fähig ist, mich, den König, zu töten, der ist es wert, zum Ritter geschlagen zu werden.“11 Dazu kam es freilich nicht: nach dem Tod des Königs wurde der Armbrustschütze von Richards Angehörigen grausam zu Tode gefoltert.
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Dschingis Khan Kluger Gesetzgeber und Schrecken des Okzidents
Vom russischen Schriftsteller Leo Tolstoj stammt der Ausspruch: „Das Wichtigste im Leben eines Mannes geschieht in seiner Kindheit.“ Der nach Dschingis Khans Tod von seinem Sohn und Nachfolger Ögedei beauftragte Epos Die geheime Geschichte der Mongolen1 berichtet von Dschingis Khans Kindheit, dass sein Vater vergiftet wurde und der Junge versklavt – Ereignisse, die seinen Charakter geprägt haben müssen. Wer war dieser berühmte mongolische Herrscher, an dem sich die Geister scheiden? Den einen gilt er als grausamer Völkermörder, der eine Blutspur von Asien bis nach Europa zog – den anderen als glorreicher Eroberer, der ein riesiges Imperium schuf, in dem Sicherheit und Ordnung herrschten und der Handel blühte. In der Mongolei und in Kasachstan gilt Dschingis Khan als Nationalheld. Er wurde um 1155 n. Chr. geboren und starb am 18. August 1227. 1206 gründete Dschingis
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Dschingis Khan ____________________________________________________________
Khan das Mongolische Reich, das sich über Asien bis nach Europa erstreckte und das größte territorial zusammenhängende Imperium der Menschheitsgeschichte darstellte. Sein Enkel, Kublai Khan, eroberte China und begründete die Yuan-Dynastie. Schon früh begann die Legendenbildung um Person Dschingis Khans: In der Geheimen Geschichte der Mongolen wird berichtet, dass er bei seiner Geburt einen Blutklumpen in seiner rechten Faust festgehalten habe – damals für die Mongolen ein prophetisches Zeichen für Stärke und Willenskraft. Als Geburtsort gilt der Berg Burchan Chaldun – der mongolischen Legende nach standen am Anfang des Stammbaums aller Mongolen ein Wolf und eine Hirschkuh, die sich nahe dem heiligen Berg Burchan Chaldun am Ufer des dort entspringenden Onon niederließen. Dieser Berg liegt etwa 170 km östlich vom heutigen Ulan Bator und ist Teil des Chentii-Gebirges. Dschingis Khan gehörte zum Stamm der Mongghol, zum Klan der Borjigin („WildentenLeute“) und zum Unterklan der Qiyat (Kijat). Er war der älteste Sohn des Klanchefs Yesügai und seiner Frau Hoe’lun-Ujin (auch Üdschin) und zudem der Urenkel des legendären Mongolenfürsten Qabul (auch als Kabul Khan bekannt), der um 1130–1150 die mongolischen Stämme vorübergehend vereinigt hatte. Von seinem Vater erhielt er den Namen Temüdschin (tatarisch „der Schmied“, falsch mit „der Eiserne“ übersetzt). Dieser Name stammte nach alter mongolischer Sitte von einem gefangenen Feind. Seine Regierungszeit als erster Großkhan der Mongolen dauerte von 1206 bis 1227.
Kindheit und Jugend In jener Zeit waren die Clans der Steppe in ständige Kämpfe untereinander verwickelt. Temüdschins Vater Yesügai hatte durch Raubzüge gegen die Tataren und Merkiten das Stammesgebiet stark vergrößert und Reichtum und Wohlstand angesammelt. In seiner Kindheit lernte Temüdschin schon früh das Reiten, Bogenschießen und Jagen, die damals entscheidenden Fähigkeiten für das Überleben in den Steppen Zentralasiens. Nach der Ermordung seines Vaters durch die Tataren wurde Temüdschin wegen seiner Jugend nicht als Nachfolger anerkannt. Die ehemaligen Gefolgsleute wandten sich von seiner Familie ab, und er blieb als ältester Sohn mit der Mutter, seinen drei halbwüchsigen Brüdern und einer kleinen
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_________________________________ Die Einigung der mongolischen Steppenvölker
Schwester zurück. Ohne den Schutz des Stammes verloren sie nach und nach ihr gesamtes Hab und Gut und lebten die nächsten Jahre in Armut. Zwischen ihm und seinen Brüdern gab es häufig Streit, der schließlich darin gipfelte, dass er einen Bruder im Kampf um die Beute eines Raubzugs tötete. Für andere Mongolenfürsten stellte er trotz seiner Jugend wegen seiner aristokratischen Abstammung eine Bedrohung dar, so dass die Familie immer wieder fliehen musste. Auf einer dieser Fluchten wurde er schließlich von den Taijut gefangen genommen, wie ein Sklave behandelt und schwer gedemütigt. Durch seine abenteuerliche Flucht aus dieser Gefangenschaft erlangte er bei seinen Altersgenossen großes Ansehen. Er fand auch seine Verlobte Börte wieder, die er schließlich heiratete.
Die Einigung der mongolischen Steppenvölker Nach all diesen Erfahrungen wusste Temüdschin, dass man in der Steppe nur überleben konnte, wenn man mächtige Verbündete hatte. Durch geschickte Diplomatie gelang es ihm, seine Gegner nach und nach für sich zu gewinnen oder auszuschalten. 1190 vereinte der charismatische Anführer so die mongolischen Stämme, die danach unter seiner Führung mit der Unterwerfung der benachbarten Steppenvölker begannen. Sein Charisma beruhte auf seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, seiner persönlichen Bescheidenheit, seiner Großzügigkeit sowie der Fürsorge gegenüber seinen Gefolgsleuten, deren Loyalität er mit der generösen Beteiligung an der reichen Beute bei den Eroberungszügen gewann, was auch ein Anreiz für den unbedingten Gehorsam seiner Kämpfer war. Bezeichnend für seinen Charakter war die großzügige Behandlung seines ehemaligen Schwur-Blutsbruders Gurkhan Dschamucha, der zu seinem schärfsten Rivalen geworden war und den er im Kampf besiegt hatte. Dieser konnte zunächst fliehen, wurde aber von seinen engsten Gefolgsleuten an Temüdschin ausgeliefert. Da diesem jedoch nichts so verhasst war wie Treulosigkeit und Verrat, ließ er die Häscher von Dschamucha und all ihre Familienmitglieder töten. Seinem ehemaligen Blutsbruder bot er hingegen erneut seine Freundschaft an. Dieser lehnte das Angebot ab und bat um einen standesgemäßen Tod, der ihm gewährt wurde. 1202, nach einem Sieg über die Merkiten im Norden, war Temüdschin stark genug, um an den Tataren im Osten Rache für die Ermordung seines
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Vaters zu nehmen. In blutigen Kämpfen besiegte er die vier Stämme der Tataren und nach den Angaben in der Geheimen Geschichte der Mongolen ließ er bei den Besiegten nur diejenigen am Leben, die nicht größer als die Achsenhöhe eines Ochsenkarrens waren. Falls dies nicht nur Legende ist, zeigt sich hier die andere, dunkle Seite des großen Eroberers Dschingis Khan, der vor Blutbädern an seinen Feinden nicht zurückschreckte.
Die Wahl zum Großkhan Im Jahr 1206 berief Temüdschin einen Reichstag ein, den sogenannten Kuriltai. Dort wurde er von den anwesenden Stammesfürsten zum „Dschingis Khan“, dem Großkhan aller Mongolen, gewählt und mit dem Titel „ungestümer Herrscher“ (wörtlich „ozeangleicher Herrscher“) inthronisiert. Dank seiner charismatischen Persönlichkeit vereinigte Dschingis Khan die mongolischen Stämme auf dem Territorium der heutigen zentralen und nördlichen Mongolei und führte sie von Sieg zu Sieg über zahlreiche benachbarte Völker. Sein wichtigstes Herrschaftsinstrument, die Armee, rekrutierte sich nach dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht aus allen mongolischen Stämmen. Es wurden mit wenigen Ausnahmen alle Männer zwischen 15 und 70 Jahren zum Wehrdienst herangezogen, wobei er darauf bedacht war, in allen Gruppen Männer von verschiedenen Stämmen zusammenzufassen. Neu war auch eine streng hierarchische Organisation der Armee und die Spezialisierung der Soldaten. Die Armee war in 96 Tausendschaften gegliedert, die wiederum in Hundertschaften und diese wiederum in Zehnertrupps eingeteilt waren. Jeder einzelne Soldat dieser Kohorten war für die Leistung seiner Gruppe verantwortlich: Zeigte ein Soldat Feigheit vor dem Feind, mussten alle seiner Kameraden dafür büßen und wurden exekutiert. Dies hatte eine eiserne Disziplin zu Folge – die conditio sine qua non für siegreiche Feldzüge. Wegen ihres durchschlagsstarken Reflexbogens (zielsichere Reichweite von bis zu 170 m), mit dem sie dank des von ihnen erfundenen Steigbügels auch aus dem Sattel schießen konnten, ihrer trickreichen Militärtaktik (z. B. vorgetäuschte Rückzüge) sowie ihrer wendigen Kavallerie waren die Mongolen ihren Gegnern weit überlegen. Im Tross der ca. 130.000 Mann starken Armee befanden
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sich 600.000 Pferde und vier Millionen Schafe und Ziegen zur Versorgung, was monatelange oder gar jahrelange Heereszüge ermöglichte.
Reformen Nach der Wahl zum Großkhan aller Mongolen begann Dschingis Khan mit der Eroberung weiterer Gebiete: im Osten bis an das Japanische Meer und im Westen bis zum Kaspischen Meer. Um seine militärische Organisation zu unterstützen, führte er Neuerungen wie eine Volkszählung und ein Kommunikationssystem mit Fahnen und eine berittene Post ein – wichtige Voraussetzungen für die Konsolidierung seiner Eroberungen und deren Organisation. Um dieses Riesenreich zu verwalten, ließ er eine eigene Schrift entwickeln und setzte schriftliche, für alle verbindliche Gesetze durch. Das von ihm erlassene Gesetzbuch Jassa umfasste traditionelle mongolische Gesetze, wurde jedoch um neue Gesetze, die die Erweiterung des Reiches verlangte, ergänzt. Die Gesetze sahen Strafen für Lügner vor, verlangten die Rückgabe von verlorenem Eigentum, beschränkten den Alkoholgenuss und errichteten ein soziales Sicherheitsnetz für die Hinterbliebenen von getöteten mongolischen Kriegern. Eine weitgehend einheitliche Rechtsordnung trug wesentlich zur Pax Mongolica2 vom späten 12. Jahrhundert bis ins 14. Jahrhundert bei. Die Legende spricht davon, dass zu den Glanzzeiten des Reiches eine Jungfrau mit einem Topf voll Gold sein Territorium von einem Ende bis zum anderen unbegleitet durchqueren konnte, ohne sich vor Belästigungen irgendwelcher Art fürchten zu müssen. Auf seinem Höhepunkt umfasste das Mongolische Reich mit ca. 33 Millionen Quadratkilometern rund 70 % Eurasiens. Eine politische Einheit für das gesamte Reich bestand freilich nur von 1190 bis 1307. Der Zusammenhalt manifestierte sich nach 1307 vor allem im kodifizierten Recht, das die Willkürherrschaft der Stämme beseitigte, dem Kommunikationssystem und dem gemeinsamen Kulturgut, insbesondere in Schrift und Sprache. Insofern glich das Mongolische Reich ab 1307 eher einem Staatenbund unter eher formeller denn faktischer Leitung durch den jeweiligen Großkhan als einem einheitlichen Zentralstaat im modernen Sinn.3 In seiner größten Ausdehnung erstreckte sich das Reich von Polen bis nach Vietnam und von Moskau bis
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nach Nordindien und beherrschte die gesamte Seidenstraße, den wichtigsten Handelsweg zwischen Europa und Asien. Die Kommunikation innerhalb des Reiches beruhte auf einem effektiven Relais-Postsystem, das pro Tag 700 km zurücklegen konnte – in zehn bis elf Tagen das ganze Reich von Ost bis West. Es war umgeben von zahlreichen Vasallenstaaten, die dem Mongolischen Reich tributpflichtig waren und ihre Politik nach den Wünschen der Khane ausrichten mussten. Nach Dschingis Khans Tod wurde das Reich unter seinen Söhnen aufgeteilt und noch weiter vergrößert, fiel aber zwei Generationen später wieder auseinander.
Verbrannte Erde Die innerhalb des Mongolischen Reiches herrschende Sicherheit der Pax Mongolica steht im Kontrast zu der Grausamkeit und Härte der mongolischen Kriegführung, die von Dschingis Khan und seinen Nachfolgern praktiziert wurde. So wurden fliehende Gegner im Nahkampf attackiert und extrem zäh bis zu ihrer Vernichtung verfolgt. Die Verfolgung geschlagener Gegner bis zum letzten Mann war ein Kernaspekt der mongolischen Kriegführung und zog sich häufig über mehrere Tage hin. Sie praktizierten erstmals das Konzept der „psychologischen Kriegsführung“, d. h., sie setzten Terror systematisch als Waffe ein. Mit der sogenannten Kharasch-Taktik trieben die Angreifer eine Anzahl gefangener Dorfbewohner als „lebendigen Schutzschild“ vor sich her, um sich vor Gegenangriffen zu schützen. Die Mongolen praktizierten die „Taktik der verbrannten Erde“, d. h. sie brannten die Stadt und die umgebenden Felder nieder. Falls sie sich rasch ergeben hatte, wurde normalerweise der Oberschicht einer eroberten Stadt die Umsiedlung in eine neue Gegend befohlen. Bei Ablehnung wurde die gesamte Stadtbevölkerung entweder vertrieben oder – bis auf eine Handvoll Spezialisten – massakriert. Da sie viele Gebiete nicht nachhaltig kontrollieren konnten, erzwangen sie eine dauerhafte Unterwerfung, indem sie immer wieder extreme Gemetzel verübten, die ihre Gegner vor Rebellionen abhalten sollten. Wenn auch die in den Chroniken genannten Zahlen über Massaker von Hunderttausenden meist übertrieben sind, ist es dennoch eine Tatsache, dass die Mongolen Massenmorde verübten und eine große Anzahl von Menschen gezielt und systematisch umbrachten. Die extrem hohen Opfer-
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_________________________________________ Dschingis Khan – ein Massenmörder?
Abb. 8:
Schädeltürme markierten die Routen der mongolischen Heere – Apotheose des Krieges von Vasily Vereshchagin (1871).
zahlen in den Chroniken basieren dabei teils auf mongolischer (Schreckens-) Propaganda, teils auf Schätzungen ihrer Gegner. Nach der Eroberung errichteten die Sieger Schädelpyramiden vor den Toren der zerstörten Stadt als Wahrzeichen ihres Durchzuges. Dann ließen sie einige Überlebende frei, damit diese den Schrecken in der Umgebung verbreiteten.
Dschingis Khan – ein Massenmörder? Dschingis Khan hat zahllose Völker und Stämme in Eurasien gewaltsam unterworfen und in sein Imperium eingliedert. Hat er auch selbst die traditionell brutale mongolische Kriegsführung ausgeübt? Wie aus den Quellen hervorgeht, hat Dschingis Khan diese Kriegsführung nicht nur selbst praktiziert, er hat sie auch weiterentwickelt und an seine Nachfolger wie z. B. Hülegü und Tamerlan quasi vererbt. Nach Aussage von Chronisten wird sein Name immer wieder mit Gräueltaten bei der Eroberung fremder Territorien in Verbindung gebracht. Im Urteil der Historiker ist der Name „Mongole“ pauschal ein Synonym für Grausamkeiten, Barbareien, Brutalitäten, Massenmorde, Vergewaltigungen sowie Auslöschungen ganzer Städte und Landstriche. Und dieser Megatöter wird heute in der Mongolei als Nationalheld gefeiert? Doch was ist historische Wahrheit, was Legende? Für welche Taten war Dschingis Khan persönlich verantwortlich? Wie sieht die historische
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Dschingis Khan ____________________________________________________________
Forschung die Rolle der Mongolen und ihres Großkhans? Fakt ist, dass Dschingis Khans Nachfolger wie Tamerlan, Hülegü (ein Bruder Dschingis Khans) und Tolui Khan (Sohn des Großkhans) bei der Eroberung der Städte Delhi, Merv und Bagdad furchtbare Blutbäder verübten (► Tamerlan). Können ähnliche Massaker auch dem „Stammvater“ Dschingis Khan zugeordnet werden? Als Dschingis Khan im Kontext der Eroberung Chinas Peking in die Hände fiel, nahmen die Mongolen „die Stadt, massakrierten die Bevölkerung“.4 „Unter der hilflosen Bevölkerung richteten die Eroberer ein Blutbad an; Tausende wurden niedergemetzelt, Frauen und Mädchen stürzten sich in Massen von den Festungsmauern in die Tiefe, um der Sklaverei zu entgehen. Vier Wochen dauerten die Plünderungen. Ein Großteil der Stadt ging in Flammen auf.“5
Im Krieg gegen das Chorezmische Reich kam es bei Buchara im Februar 1220 zu einer Belagerung, bei der die Mongolen offenbar differenziert vorgingen: „Die Zitadelle, in die sich 400 Mann geflüchtet hatten, wurde im Sturm genommen; alle Verteidiger fanden dabei den Tod. Die Stadt wurde einer systematischen Plünderung unterzogen. Die Bevölkerung wurde auf jede Weise ausgeraubt, misshandelt, brutalisiert und vergewaltigt; doch es wurden in der Regel nur diejenigen hingerichtet, die wie der muslimische ‚Klerus‘ versuchten, sich den Gräueltaten und Entweihungen der Sieger zu widersetzen. […] [Q]ualifizierte Handwerker[ ] wurde[n] in die Mongolei deportiert. […] Die türkische Garnison, die sich den Mongolen spontan ergeben hatte, wurde dennoch systematisch niedergemetzelt. […] [D]as Massaker war so gründlich gewesen, dass kaum genug Menschen übrigblieben, um ein einziges Viertel zu bevölkern.“6
Dabei zeigte sich ein typisches Muster der mongolischen Kriegsführung: „Leistete […] die Stadt einen hartnäckigen Widerstand und brachte den Mongolen hohe Verluste bei, wurden nach der Eroberung die Männer niedergemacht, mit Ausnahme der Handwerker, die – wie auch Frauen – unter den Siegern verteilt und in die Sklaverei verschleppt wurden.“7
Bei der Eroberung der Stadt Urgentsch in Choresam ereignete sich laut einem Chronisten Folgendes: „Schließlich gelang es den Angreifern, den Kampf zu entscheiden: Brennende Naphtabehälter ließen die Stadt in Flammen aufgehen, und nach siebentägigen Straßenkämpfen war der Sieg errungen. Die meisten Einwohner wurden umgebracht, und wer noch am Leben war, musste ertrinken: Die Eroberer leiteten den Fluss ein weiteres Mal um, und die Wassermassen ergossen sich nun auf die unterirdischen Verstecke der Überlebenden.“8
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________________________________________________ Dschingis Khans Vermächtnis
Als sich einige Städte Ostirans gegen die Mongolen erhoben, nachdem diese ein Armeekorps bei der Schlacht von Parwan verloren hatten, rechnete Dschingis Khan „[…] als erster mit den Bewohnern von Ghazna ab, die alle niedergemetzelt wurden, mit Ausnahmen der Handwerker, die er in die Mongolei schickte. Herat hatte sich nach der Schlacht von Parwan erhoben (November 1221). […] Die gesamte Bevölkerung wurde massakriert; das Gemetzel dauerte eine Woche.“9 „Das Land und die Bevölkerung mussten den Widerstand auf schreckliche Weise büßen. Chorasan wurde verwüstet; Herat, Nischapur, Merw und Balch, klassische Zentren einer uralten Zivilisation, fielen in Schutt und Asche, ihre Einwohner wurden dezimiert, wenn nicht ausgerottet. Bei der Belagerung Bamians wurde der junge Mütügen, der Lieblingsenkel Dschingis Khans, getötet. Daraufhin wurde nicht einmal Beute gemacht, sondern alles zerstört, jegliches Leben ausgelöscht.“10
Wie erwähnt, war es mongolischer Brauch, nach der Eroberung einer Stadt vor den Toren als Siegeszeichen und zur Abschreckung aus den abgeschlagenen Köpfen der Getöteten Schädelpyramiden zu errichten, getrennt nach Männern, Frauen und Kindern. Der Blutrausch der Eroberer machte auch vor den Haustieren nicht halt: „Man tötete alles, einschließlich der Hunde und Katzen.“11
Dschingis Khans Vermächtnis In den letzten Kriegstagen im Kampf gegen die Hsi-Hsia (Tanguten) erließ Dschingis Khan wenige Stunden vor seinem (natürlichen) Tod seine letzten Befehle, die als ein Vermächtnis an seine Nachfolger angesehen werden können: „Am 18. August 1227 […] ‚verließ Dschingis Khan die vergängliche Welt und hinterließ Thron, Habe und Herrschaft seiner berühmten Familie‘, wie [der Chronist] Raschid addin berichtet. Wenige Stunden zuvor hatte er seine letzten Anordnungen erteilt: ‚Gebt meinen Tod nicht bekannt, weint nicht und klagt nicht […]. Doch wenn der König der Tanguten und die Bevölkerung zur vorgesehenen Zeit die Stadt verlassen, dann vernichtet sie!‘ Sogar über den Tod hinaus wollte er dafür sorgen, dass das von ihm begonnene Werk zur furchtbaren Vollendung gelangte. Und wie im Leben gehorchte ihm sein Volk auch im Tode: Als die Einwohner von Chung-hsing mit Schidurgo [dem neuen Herrscher der Hsi-Hsia] aus den Toren ihrer Stadt strömten, hieben die Mongolen von allen Seiten auf sie ein. Wie in einer schaurigen Trauerfeier für ihren verstorbenen Khan hoben und senkten
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Dschingis Khan ____________________________________________________________ sie ihre schwertbesetzten Arme über den wehrlosen Menschen. […] Nun ging es heimwärts; die trauernde Armee brach aus Hsi-Hsia auf – und auf diesem Marsch wurde, wie es die schauerliche Tradition verlangte, kein Lebewesen verschont. Menschen, Wild und Vögel – alles, was den Kriegern begegnete, wurde niedergemacht [um dem Verstorbenen im Jenseits zu dienen].“12
Das schauerliche Resultat dieser Blutorgie wird vom Chronisten Rogerius von Torre Maggiore, so beschrieben: „Denn auf Feldern und Wegen lagen die Leichen von zahlreichen Gefallenen, hier enthauptet, dort verstreut in Dörfern und in Kirchen eingeäschert, wohin sie vergebens geflohen waren. Diese schrecklichen Leichenhaufen bedeckten die Straßen über eine Entfernung von zwei Tagesreisen, die Erde war dort ganz vom Blut gerötet und die Leichen lagen so [zahlreich] am Boden, wie sich Rinder, Schafe und Schweine an Weidestellen in der Wüste und Steine zu Hauf in Steinbrüchen sammeln. Das Wasser barg die Leichen der Ertrunkenen. Sie dienten Fischen, Würmern und Wasservögeln zum Fraß. Die Erde wurde zum Eigentum der Leiber, die durch vergiftete Lanzen, Schwerter und Pfeile gefällt worden waren; blutgierige Vögel und gefräßige Bestien, ob Haustiere oder wilde, verschlangen die Leichen bis auf die Knochen. Das Feuer verzehrte jene Toten, die in Kirchen und Dörfern verbrannten. Manchmal löschte das Fett, das bei den Verbrennungen zutage trat, das Feuer.“13
Augenzeugen berichteten laut einem chinesischen Chronisten über die Kriegführung Dschingis Khans: „Die Gebeine der Geschlachteten bildeten Berge, die Erde war fett vom Fett der Menschen, und das Verfaulen der Leichen rief eine Seuche hervor“.14
Der Mongolensturm hatte genozidalen Charakter Als Fazit der historischen Berichte lässt sich feststellen, dass die Mongolen grausame Eroberer waren und eine ungeheure Anzahl von Menschen – seien es feindliche Kämpfer, friedliche Zivilisten, wehrlose Frauen und Kinder – massakrierten, vergewaltigten und versklavten. In ihrem Selbstverständnis galt es als höchstes Glück, den Feind total zu besiegen und keine Überlebenden zu verschonen. Die Auslöschung ganzer Städte sowie die Errichtung von Schädelpyramiden vor deren Toren waren ihr Markenzeichen. Damit trägt die mongolische Kriegführung genozidale Züge, d. h., sie hat nach heutigen Begriffen den Charakter von Völkermord. Das übliche Niedermetzeln der
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___________________________________________ Dschingis Khan schafft die Folter ab
Stadtbevölkerung und von gefangenen Soldaten bis zum letzten Mann begründeten die Mongolen zum einen damit, keine Rächer zurückzulassen, die ihnen in den Rücken fallen würden, zum anderen mit der Unmöglichkeit, auf ihren langen Eroberungszügen Gefangene zu versorgen. Selbst diese bei den Militärführern beliebte Rechtfertigung für Massenmorde – auch Richard Löwenherz und Napoleon begründeten so ihre Massaker an gefangenen Soldaten – rechtfertigt jedoch nicht das bei den Mongolen übliche Abschlachten von Frauen und Kindern. Schon früh erhielten sie in Europa deshalb den Beinamen „Tataren“ da man aufgrund ihrer Brutalität und Grausamkeit annahm, sie kämen direkt aus der Hölle (Tartaros ist in der Strafort der griechischen Unterwelt, die „Hölle“).15 Sowohl Kaiser als auch Papst verbreiteten diese Bezeichnung in ihren Schriften. Die Nachrichten von den Gräueltaten der Mongolen in Persien schienen in solchen Berichten in ihrer Schrecklichkeit sogar die apokalyptischen Prophezeiungen zu übertreffen. Im Abendland galten die Mongolen als Geißel der Menschheit und ungeheure Gefahr für die westliche Zivilisation, hatte doch der 50 Jahre währende Mongolensturm im 13. Jahrhundert Mitteleuropa erreicht und wurde erst 1241 in der Schlacht bei Liegnitz gestoppt.16 Im Vorderen Orient setzten die ägyptischen Mameluken dem Vormarsch der Mongolen 1260 in der Schlacht bei Ain Dschalut ein Ende.
Dschingis Khan schafft die Folter ab Doch das Bild Dschingis Khans, das in der Geschichtsschreibung von den unbezweifelbaren Gräueltaten seiner aggressiven Reiterheere dominiert wird, ist vielschichtig. Der Großkhan, genialer Militärstratege und Gründer eines gewaltigen Imperiums, zeichnete sich nicht nur durch seine kriegerische Brutalität aus, sondern auch durch religiöse Toleranz und Großzügigkeit. Dazu stellte Sergej Bodrow, Regisseur des Films Der Mongole über Dschingis Khan, fest: „Er war sehr tolerant, was die Religion angeht. Ein Teil seiner Mongolen-Armee bestand z. B. aus Christen. Das war für Dschingis Khan völlig normal. Er war umgeben von Moslems, Buddhisten, Juden, Christen. Die Klöster unter seiner Herrschaft mussten keine Steuern zahlen. Er glaubte nicht an Götter, sondern an den blauen Himmel. Er hat auch die Folter verboten. Er hat im Kampf getötet, er hat entsprechend seiner Gesetze die
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Dschingis Khan ____________________________________________________________ Todesstrafe vollziehen lassen – aber er ließ nicht foltern, weder Menschen noch Tiere. Die Todesstrafe stand sowohl auf das Quälen von Menschen wie von Pferden. Und wir diskutieren, 800 Jahre nach ihm, immer noch, ob man mutmaßliche Terroristen foltern soll.“17
Dschingis Khans religiöse Toleranz sowie seine Abschaffung der Folter waren für die damalige Zeit (13. Jahrhundert) erstaunliche humanitäre Leistungen, besonders wenn man bedenkt, dass im Europa dieser Zeit ständig Kriege unter den Nachbarstaaten tobten, die Inquisition „Ketzer“ und „Hexen“ foltern und verbrennen ließ.18 Auch war die Schaffung seines Riesenreiches nicht nur eine militärische und logistische Meisterleistung, sie schuf auch das Fundament für die Pax Mongolica, einen rund 200 Jahre währender Frieden auf der Basis wirtschaftlicher Prosperität. Im Mongolenreich herrschten Sicherheit, Gesetz und Ordnung, was einen florierenden Handel auf der Seidenstraße quer durch Asien bis in den Vorderen Orient ermöglichte.
Der Nationalheld Auf dieser positiven Bilanz beruht die Heldenverklärung, die Dschingis Khan heute in der Mongolei erfährt. Das ihm bei seiner Wahl zum Großkhan verliehene Hoheitszeichen, die weiße Standarte, steht heute zusammen mit neun weiteren Standarten für die damaligen Kernstämme des Reiches als Symbol im Parlament. Die drei Zacken an der Spitze der Standarte stehen stellvertretend für Mond, Sonne und Flamme und sollen die Stärke der Mongolen symbolisieren. Dabei symbolisiert der Mond die Vergangenheit, die Sonne die Gegenwart und die Flamme die Zukunft des Mongolenreiches. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 war die Mongolei, das Land zwischen China und Russland, plötzlich befreit von Fremdherrschaft und begann, seine alte Geschichte neu zu entdecken. Unter sowjetischer Vorherrschaft war Dschingis Khan verpönt, eine Unperson. Ein mongolischer Staatsbürger erzählt: „Über Dschingis Khan haben wir gar nichts gelernt. Auch über den Buddhismus, Schamanismus, über das mongolische Reich, und so weiter. Wer über Dschingis Khan Gedichte geschrieben hat, ist sofort ins Gefängnis gegangen. Dschingis Khan war verboten.“19
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__________________________________________________________ Der Nationalheld
Heute sitzt der wiederentdeckte Nationalheld als riesige Bronzestatue vor dem neuen Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Ulan-Bator. Wie in einigen Ländern Europas auch haben Nationalhelden in Zentralasien wieder Konjunktur, besonders wenn es sich um neu gegründete Staaten wie die Mongolei und Usbekistan handelt.
Abb. 9:
Monumentales Reiterstandbild in Tsonjin Boldog, wo Dschingis Khan einer Legende zufolge eine goldene Gerte gefunden haben soll, hier in seiner rechten Hand. Die Statue selbst ist etwa 30 m hoch und steht auf einem rund 10 m hohen Gebäude.
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Tamerlan (Timur Lenk) Staatsikone und Massenmörder
„Es gehört zu den Torheiten der Europäer, die eigenen Kreuzzüge ins Heilige Land als einen Abgrund von Grausamkeiten und Zerstörungswut zu schildern. Gemessen an den Verbrechen Tamerlans nehmen sich die blutigen Exzesse, deren sich die christlichen Befreier des Heiligen Grabes schuldig machten, relativ bescheiden aus. Sie bleiben zudem auf einen engen geografischen Raum in der Levante beschränkt“, schrieb der Orientkenner Peter Scholl-Latour in seinen Memoiren. So problematisch diese Aussage ist – die Kreuzritter gaben ja vor, gläubige Christen zu sein, gebunden an das Tötungsverbot des Dekalogs – so sehr ist es richtig, dass mit der Invasion der Reiternomaden aus Asien eine neue Dimension massenhaften Tötens erreicht wurde. Der geläufige Begriff „asiatische Grausamkeit“ wird mit dem Ansturm der Hunnen und Mongolen assoziiert. Ähnlich wie die Kreuzritter ignorierte Tamerlan die ethischen Gebote seiner Religion.
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Tamerlan (Timur Lenk) ______________________________________________________ „Die Gräueltaten Tamerlans, Timur des Lahmen, zwischen Pamir-Gebirge und Mittelmeer erscheinen umso unverzeihlicher, als dieser Schlächter sich selbst als frommen Muslim betrachtete und im heutigen Usbekistan, wo er als Nationalheld gefeiert wird, die herrlichsten Moscheen und die unvergleichliche Pracht des Registan-Palastes von Samarkand errichten ließ.“1
Nicht zu vergessen andere Prachtbauten wie die nach Timurs Lieblingsfrau benannte Bibi-Khanum-Moschee oder das Gur-Emir-Mausoleum, wo Timur selbst begraben liegt. Tatsächlich wurde dieser 1405 verstorbene Schlächter vom neuen Usbekistan zum Nationalhelden erkoren. Das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entstandene Usbekistan ist ein Vielvölkerstaat, in dem neben den Usbeken unter anderem Tadschiken, Kasachen, Karakalpaken und Russen leben. Der heterogene Staat benötigte offenbar zur Stiftung einer nationalen Identität einen Helden, und sei es auch ein blutiger Eroberer der Vergangenheit. Timurs Andenken wird in ganz Zentralasien wieder in großen Ehren gehalten. Wer geglaubt hatte, das von den Kreuzrittern 1099 verübte Massaker von Jerusalem mit ca. 10.000 Toten sei an Umfang und Brutalität nicht zu überbieten, der irrt sich sehr. Die Mordexzesse der Mongolen bei ihren Eroberungsstürmen übertrafen die Schandtaten der Kreuzfahrer bei weitem, sowohl was ihre Grausamkeit angeht als auch in der Zahl der Opfer. Wer Widerstand leistete, bezahlte mit der Vernichtung.
Die Eroberung von Bagdad2 Timur Lenk (auch „Tamerlan“ genannt, 1336–1405) war nicht der erste Mongolenherrscher, der bei seinen Eroberungen eine Blutspur hinter seinem Heer her zog. So eroberte Tolui Khan, jüngster Sohn des Dschingis Khan, im Jahre 1221 die Stadt Merv, die blühende Metropole Afghanistans, und zerstörte sie völlig. Die Bevölkerung wurde fast vollständig ermordet. Dabei spielte sich laut einem Augenzeugen folgende Szene ab: „[F]ast die gesamte Bevölkerung der Stadt wurde ebenfalls hingerichtet (Ende Februar 1221). Tului saß dabei auf einem vergoldeten Stuhl in der Ebene vor der Stadt und leitete die Massenhinrichtung. Männer, Frauen und Kinder wurden getrennt in Gruppen den verschiedenen Bataillonen zugeteilt und enthauptet. ‚Man verschonte nur 400 Handwerker.‘“3
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__________________________________________________ Die Eroberung von Bagdad
Nach diversen Berichten wurde im Zuge der Belagerung von Merv mehr als eine Million Menschen systematisch getötet – davon mehrere Hunderttausend Flüchtlinge, die in der Stadt Schutz gesucht hatten.4 Damit ist diese Belagerung eine der blutigsten Eroberungen der Weltgeschichte. Doch anders als bei Merv hat sich die Zerstörung und Brandschatzung Bagdads viel tiefer in das kollektive Gedächtnis eingebrannt, denn Bagdad war das kulturelle Zentrum der islamischen Welt. Schon die erste Eroberung Bagdads im Februar 1258 durch das von Hülegü, einem Bruder des Großkhans, angeführte Mongolenheer kostete rund zehnmal mehr Menschen das Leben als die Einnahme Jerusalems durch die Kreuzritter. Den zeitgenössischen Chronisten zufolge war es eines der schlimmsten Massaker der Weltgeschichte. Angeblich wurden in den Tagen nach der Eroberung Bagdads rund 800.000 Menschen von den Mongolen vor den Mauern der Stadt hingerichtet; nachgewiesen ist, dass bei der Plünderung und Zerstörung der Stadt mindestens 250.000 Einwohner erschlagen wurden, denn nach der Erstürmung der Stadt wüteten die Mongolen mit größter Brutalität. Niemand wurde verschont, weder Wissenschaftler und Philosophen noch Adlige und Bürger noch Frauen und Kinder. Bürger, die fliehen wollten, wurden von den Mongolen abgefangen und niedergemetzelt. Schätzungen der Opferzahl variieren zwischen mehreren hunderttausend Toten und einer Million.5 Dass die Zahl der Toten riesig gewesen sein muss, zeigt die Tatsache, dass Hülegü wegen des starken Verwesungsgestanks sein Lager an einer anderen Stelle wieder aufschlagen ließ. Die Stadt wurde von den Siegern geplündert und in Brand gesteckt. Die Mongolen wollten ein Exempel statuieren, weil Bagdad heftigen Widerstand geleistet hatte. Doch es sollte Timur Lenk sein, der der islamischen Metropole den Todesstoß versetzte. 1401, vom Ägyptenfeldzug heimgekehrt, führte er ein Heer von 1.000.000 Mann gegen Bagdad. „Einen vollen Monat lang hielten die Mongolen Bagdad belagert. Während dieser Zeit legten sie die Ringmauern nieder und eroberten schließlich die Stadt und zündeten sie an. Timur hatte aber geschworen, er werde Bagdad so zerstören, daß niemand mehr erkennen könne, ob da einst Häuser gestanden hätten oder nicht. Darum gab er den Befehl, den Boden der Brandstätte umzuackern und Gerste darüber zu säen.“6
Bisherige Invasoren waren von der muslimischen Kultur Bagdads stets absorbiert und integriert worden. Die mongolische Eroberung und Zerstörung Bagdads beendete diese Periode. Der Fall Bagdads war für die islamische Welt
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Tamerlan (Timur Lenk) ______________________________________________________
ein großer Schock, ein Trauma. Bagdad sowie das südliche Mesopotamien wurden in das mongolische Verwaltungssystem eingebunden und bekamen einen Gouverneur. Das Zweistromland hat sich von den Folgen des Mongolensturms niemals mehr völlig erholt. Vor allem die Bewässerungsanlagen, die seit der Antike die Ernährung gesichert und die kulturelle Blüte ermöglicht hatten, blieben zerstört, weil das komplexe Bewässerungssystem nur von Fachleuten mit großem organisatorischem Aufwand und technischem Knowhow instandgehalten werden konnte.7 Das entvölkerte, seiner Experten beraubte Bagdad konnte dies nicht leisten. Teile des Landes kehrten zu einer nomadischen Lebensform zurück. Für die Schriftkultur hatten die Krieger aus Zentralasien offenbar noch weniger Verständnis als für die Landwirtschaft, denn die berühmte Bibliothek, das „Haus der Weisheit“, das unzählige wertvolle historische Dokumente über Themen von Medizin bis Astronomie enthielt, wurde völlig zerstört. Nach der Zerstörung der Bibliothek, soll der Tigris tagelang von der Tinte der in den Fluss geworfenen Bücher schwarz gefärbt gewesen sein. Immerhin pflegten die mongolischen Fürsten den Brauch, Handwerker und Künstler nicht zu töten, sondern sie stattdessen in ihre eigenen Dienste zu nehmen.8 Wie bei den Mongolen Usus, hatte bereits Hülegü als Zeichen seines triumphalen Sieges am Ufer des Tigris aus den Schädeln der erschlagenen Gegner riesige Pyramiden errichten lassen.9 Diesen perversen Brauch pflegte auch Timur Lenk. Mögen die Mordexzesse von Tolui Khan und Hülegü furchtbar gewesen sein, die Schandtaten des usbekischen Nationalhelden Timur Lenk übertrafen die seiner Vorgänger bei weitem. Timur, der berühmteste mongolische Heerführer nach Dschingis Khan, war sunnitischer Muslim, geboren in Shahrisabz. Er erstrebte die Wiederherstellung des mongolischen Großreichs unter seinem Supremat. Im Rang eines Emirs war er der Begründer der Dynastie der Timuriden, deren Reich im Zenit der Macht weite Teile Vorder- und Mittelasiens einschloss. Timurs Herrschaft war gekennzeichnet durch Brutalität und Tyrannei, während er gleichzeitig als großzügiger Kunst- und Literaturförderer bekannt war. Timur wird in persischen Quellen pejorativ als Timur-i Lang („Timur der Lahme“) bezeichnet, denn wegen einer Verwachsung an der rechten Kniescheibe war sein rechtes Bein gelähmt; hinzu kam eine Verwachsung an der rechten Schulter. Laut sowjetischen Forschern, die 1941 sein Skelett untersuchen konnten, handelte es sich um Knochentuberkulose. Überdies stellten
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____________________________________________________ Timurs Eroberungszüge
sie fest, dass ein Pfeilschuss die Beweglichkeit der rechten Hand eingeschränkt hatte. „Timur der Lahme“ wurde in Europa zu „Tamerlan“ verballhornt.
Timurs Eroberungszüge Seit 1380 begann Timur die Eroberung von Chorasan, Iran und Irak, wobei er die Herrschaften der lokalen Dynastien wie die der Kartiden, Sarbadaren, Muzaffariden und Dschalairiden beseitigte. In den Jahren 1391 und 1395 errang Timur entscheidende Siege über die mongolischen Herrscher der Goldenen Horde an der Wolga, deren Reich danach unaufhaltsam in einzelne Khanate zerfiel. Bereits 1394 erstreckte sich die Einflusszone von Timurs Macht über ein Gebiet, das sich über Teile des heutigen Iraks mit Bagdad, Irans, Aserbaidschans, Usbekistans, Armeniens, Georgiens, Syriens und der Türkei erstreckte. Im Osten grenzte sein Reich unmittelbar an das (östliche) Tschagatai-Khanat der Mongolen. 1398 eroberte Timur Delhi. 1401 fielen Damaskus sowie Bagdad in seine Hände. Am 20. Juli 1402 fügte er – zu dem Zeitpunkt schon fast blind – dem osmanischen Heer unter Sultan Bayezid I. (genannt „der Blitz“) in der Schlacht bei Ankara (Angora) eine der schwersten Niederlagen in der Geschichte des Osmanischen Reiches zu. Tausende von Soldaten waren verdurstet, noch ehe sie das Schlachtfeld erreichten, weil Timurs Soldaten alle Brunnen weit und breit zerstört hatten. Die tatarischen Truppen des Sultans liefen zu den Mongolen über. Nach beinahe zwanzigstündigem Kampf waren die Truppen des hinkenden Herrschers siegreich. Bayezid wurde gefangengenommen; angeblich führte Timur den Sultan in einem Eisenkäfig mit sich, den er als Schemel zum Besteigen seines Pferdes benutzte. Bayezid starb in mongolischer Gefangenschaft. Jedoch verließ Timur Anatolien, ohne auf das christliche Konstantinopel vorzustoßen. Die Gründe für diese Entscheidung sind nicht bekannt. Ein drastisches Beispiel von Timurs Grausamkeit schildert Hans Schiltberger (* 1380 in Freising, † nach 1427; manchmal auch Johann oder Hannes, auch „deutscher Marco Polo“ genannt), der als Kriegsgefangener an den Feldzügen Timurs teilnahm. Schiltberger hatte am Kreuzzug von Nikopolis teilgenommen, sechs Jahre in osmanischer Gefangenschaft verbracht und
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diente nach der Schlacht bei Ankara bis 1405 unter Timur und bis etwa 1417 unter seinen Nachfolgern im Heer. Er war auch bei der Eroberung von Damaskus anwesend. Auf Bitten des ägyptischen Sultans Al-Malik an-Nasir Faradsch hatte Timur Damaskus wegen seiner großartigen Moschee10 zunächst verschont. Doch Sultan Faradsch „zog mit 30.000 Kämpfern gegen Timur und sandte gleichzeitig 12.000 in die Stadt Damaskus.“ Als Timur dies vernahm und überdies wegen von Faradsch vergifteter Brunnen „große Verluste an Menschen und Vieh erlitten“ hatte, wie Schiltberger schreibt, zog er ergrimmt wieder vor Damaskus und belagerte die Stadt drei Monate, allerdings erfolglos. Als die ägyptischen Verteidiger erkannten, dass es sinnlos war, auf Hilfe aus Kairo zu warten, baten sie Timur um freien Abzug. Dies sagte er zu, und die Verteidiger „verließen eines Nachts die Befestigung und zogen zu ihrem Herrn. Jetzt begannen die Mongolen zu stürmen und eroberten die Stadt mit Waffengewalt.“ Was danach geschah, schildert der Augenzeuge so: „Der oberste Bischof kam zum siegreichen Timur, fiel ihm zu Füßen und flehte um Gnade für die Priesterschaft. Der Mongolenfürst befahl ihm, mit seinen Geistlichen in den Tempel zu gehen, und der Bischof folgte seinem Geheiß und nahm auch Weiber und Kinder und viele andere Leute dorthin mit, insgesamt wohl 30.000 Menschen, junge und alte. Da ließ Timur die Türen versperren und rund um das Gebäude Holz aufschichten und anzünden und überlieferte alle, die sich in dem Tempel befanden, dem Verderben. Seinen Soldaten gebot der Mongole, dass jeder ihm den Kopf eines Ägypters bringe, und dieses Morden währte drei Tage. Aus den Schädeln ließ Timur drei Pyramiden errichten und befahl, die Stadt dann zu zerstören.“11
Eine ähnliche Schandtat verübte der Mongolenherrscher bei der Eroberung, der persischen Hauptstadt Isfahan im Jahre 1388. Als Timur mit seinem Heer vor die Hauptstadt zog, ergab sie sich bald freiwillig. Schiltberger berichtet: „Die Einwohner zogen samt Weibern und Kindern heraus, um sich zu unterwerfen, und Timur nahm sie in Gnaden auf. 6.000 mongolische Soldaten blieben in Ispahan, während der Landesherr, Schah Schedscha, in das Reich Timurs folgen musste. Nach dem Abzug der Gegner aber erhob sich die Stadt von neuem, versperrte die Tore und erschlug die feindliche Besatzung. Auf die Kunde davon kehrte Timur zurück und hielt Ispahan 15 Tage belagert. Dann schloß er zum Schein Frieden mit den Bürgern, die ihm zunächst ihre Bogenschützen ausliefern und für einen anderen Feldzug leihen sollten. Doch kaum hatten sich die 12.000 Schützen bei Timur eingefunden, gebot er, ihnen allen die Daumen abzuschlagen, und schickte sie also verstümmelt nach Hause. Jetzt war es ihm ein Leichtes, die Stadt zu stürmen, und er überwältigte sie am nächsten Tage.
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_________________________________________________ Massaker und Schädeltürme Sämtliche Einwohner nahm er gefangen und befahl, die Knaben unter 14 Jahren abzusondern; die Männer ließ er alle enthaupten und aus ihren Köpfen einen Turmbau inmitten des Ortes errichten. Dann wurden die Weiber und Kinder auf ein Feld hinausgeführt, und die Kleinen unter sieben Jahren gebot er abseits zu stellen, und befahl seinem Heere, über sie wegzureiten. Die Frauen und selbst die mongolischen Räte fielen dem Herrscher zu Füßen und flehten, er möge absehen von dieser Grausamkeit. Doch Timur wollte sie nicht anhören und wiederholte sein schreckliches Gebot. Es mochte aber keiner der erste bei diesem Anritt sein, und darüber ergrimmte der Mongolenfürst und eilte an den Platz, wo die Kinder standen, wandte sich zu seinem Volk und sprach: ‚Nun möchte ich den wohl sehen, der sich weigern wird mir nachzureiten.‘ Da mußten sie ihm alle folgen. Zweimal ritt das ganze Heer über die Kinder, und die Kleinen wurden von den Hufen der Pferde zertreten – es waren ihrer wohl 7.000. – Ispahan wurde niedergebrannt, die übriggebliebenen Frauen und Kinder brachte man nach der mongolischen Hauptstadt Samarkand.“12
Angesichts solcher Grausamkeiten nimmt es nicht Wunder, dass Timur unter dem Namen Tamerlan auch in Europa zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Timur vollendete die Islamisierung der in Zentralasien eingewanderten Mongolen, die allerdings schon unter Tarmaschirin (ein Khan der Tschagatai-Mongolen) ihren Höhepunkt erlebt hatte. In der Theorie galt in seinem Reich die mongolische Jassa,13 in der Praxis jedoch eher die Scharia, das islamische Gesetz. Ein Khan wurde Timur Lenk nie, er hatte stattdessen zwei Prinzen aus dem Haus Tschagatai als Schattenherrscher zu Legitimation seiner Herrschaft eingesetzt. Persönlich war er von einer volkstümlichen Frömmigkeit, die sich damals in Derwischorden und Qalandaren (Sufi-Sekten) niederschlug; er wurde zu Füßen eines Derwischs begraben. Timur war Sunnit, aber seine Konfession ist widersprüchlich, denn in Syrien trat er als Schirmherr der Schia auf. Er hielt an turko-mongolischen Traditionen fest, auch wenn sie mit der Scharia im Widerspruch standen.
Massaker und Schädeltürme Fakt ist: dieser fromme usbekische Nationalheld war ein Megatöter der Geschichte. Timur schuf eines der größten, wenn auch der kurzlebigsten Reiche, die jemals in Zentralasien existierten. Er erlangte dabei den Ruf eines furchtbaren Eroberers, der die Bevölkerung in den unterworfenen Gebieten
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und Städten zu Hunderttausenden ermorden ließ. Seine Frömmigkeit hat seine brutale Kriegsführung selbst gegen muslimische Glaubensbrüder nicht gemildert. In der Stadt Isfizar ließ er 2.000 Menschen lebendig einmauern. Wie schon erwähnt, ließ er Bagdad und Damaskus verwüsten und die Bewohner gnadenlos niedermetzeln. Die Chroniken berichten von mehreren 100.000 Toten. Am Ufer des Tigris und vor den Toren von Damaskus wurden riesige Schädelpyramiden errichtet, quasi das Markenzeichen dieses blutrünstigen Despoten. Bei der Eroberung von Isfahan im November 1387 wurden 56 Schädeltürme gezählt, sodass man von über 70.000 Toten ausgeht. „Auf der einen Seite der Stadt zählten wir achtundzwanzig aus Köpfen errichtete Pyramiden, deren jede mehr als eintausend Schädel enthielt – bis zu zweitausend. Und auf der anderen Seite war es genauso“, berichtet Chronist Hafiz-i Abru. Die abgeschlagenen Köpfe wurden unter den Soldaten gehandelt. Zu Anfang der Mordaktionen kostete ein Kopf noch 20 Dinare, doch als alle Soldaten versorgt waren, wurden die besonders eifrigen Schlächter ihre überzählige Beute nicht einmal für einen halben Dinar los. Der Soziologe Gunnar Heinsohn nennt Timur den „zweiten mongolischen Megatöter der Geschichte mit mehreren Millionen Opfern“, was nicht übertrieben erscheint, wenn man die Exekution von 100.000 Hindus in Delhi im Jahr 1398, die Ermordung von bis zu 100.000 Arabern in Bagdad im Jahr 1401 und die gewaltigen Tötungszahlen bei seinen Eroberungszügen in Asien zusammenträgt.
Eine dreitägige Orgie des Mordens14 Nach der Eroberung Zentralasiens und des Vorderen Orients wandte Timur sich Indien zu und eroberte im Jahre 1398 Delhi. Spätestens hier erwarb er sich den Ruf eines der grausamsten Eroberer der Menschheitsgeschichte. Die Eroberung Delhis mündete in einer dreitägigen Orgie des Mordens und Plünderns, in der die gesamte hinduistische Bevölkerung Delhis niedergemetzelt oder versklavt wurde. Die Massaker waren derart furchtbar, dass selbst Timur die Verantwortung für das Blutbad ablehnte und die Taten der unkontrollierbaren Mordlust seiner Soldaten zuschrieb.15 Doch in seinen Memoiren, bekannt als Tuzk-i-Timuri, schildert er selbst die vielleicht grausamste
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____________________________________________ Eine dreitägige Orgie des Mordens
Tat der Weltgeschichte – die Exekution von ca. 100.000 Kriegsgefangenen – als sein Werk. Nachdem Timur in vielen Siegen rund 100.000 Gefangene gemacht hatte, rückte er mit den gefangenen Hindus im Tross gegen Delhi vor, die nächste Station seines Eroberungszuges. Ihm kam der Gedanke, er müsse nur damit drohen, sämtliche Gefangenen zu töten, und die Herrschenden der Stadt würden kapitulieren. Doch dieser Plan misslang, und Timur sah sich einer Situation gegenüber, die ihm selbst zuwider war, zumal die meisten Gefangenen bereits seinen Amirs, Generälen, Offizieren sowie den Beamten in seinem Gefolge als Sklaven versprochen worden waren. Doch nachdem sich Timur mit seinen Generälen beraten hatte, fasste er den Entschluss, sie zu töten: „Sie [die Generäle] sagten, dass an dem großen Tag der Schlacht diese 100.000 Gefangenen mit ihrer Ausrüstung nicht verschont werden könnten, und dass es den Regeln des Krieges völlig widersprechen würde, diese Götzendiener und Feinde des Islam frei zu lassen. Tatsächlich blieb kein anderer Weg, als sie dem Schwert zu opfern.“16
Er ordnete an, dass alle Gefangenen binnen einer Stunde enthauptet oder stranguliert werden sollten. Zwar schildert ein zeitgenössischer Chronist den Abscheu, den ein Gelehrter empfand, als er mit ansehen musste, wie seine 15 Sklaven stranguliert wurden, doch Timur berief sich zur Rechtfertigung seines monströsen Befehls gerade auf diesen Gelehrten, der angeblich seine Gefangenen persönlich erschlagen hatte. Er ließ im Lager verkünden: „Jeder, der ungläubige Gefangene hat, soll sie töten, und jeder, der dies unterlässt, soll selbst exekutiert und sein Besitz dem Informanten gegeben werden. Als dieser Befehl den muslimischen Kriegern bekannt wurde, zogen sie ihre Schwerter und töteten ihre Gefangenen. 100.000 ungläubige, gottlose Götzendiener wurden an diesem Tag erschlagen. Maulana Nasir-ud-din, ein Ratgeber und Gelehrter, der in seinem ganzen Leben noch keiner Fliege etwas zuleide getan hatte, erschlug in Befolgung meines Befehls mit seinem Schwert 15 gottlose Hindus, die seine Gefangenen waren.“17
Timur schildert auch minutiös die Grausamkeiten seiner Truppen bei der eigentlichen Eroberung Delhis: „In kurzer Zeit wurden alle Leute in der Festung Delhi dem Schwert übergeben, und im Verlauf nur einer Stunde wurden die Köpfe von 10.000 Ungläubigen abgeschnitten. Das Schwert des Islam wurde im Blut der Ungläubigen gewaschen, und alle Güter, Wertgegenstände, der Schatz und das Getreide, das für viele Jahre in der Festung gelagert worden war, wurde zur Beute meiner Soldaten. Sie setzten die Häuser in Brand und reduzierten sie zur Asche, und sie machten die Gebäude
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Tamerlan (Timur Lenk) ______________________________________________________ und die Festung dem Erdboden gleich […]. All diese ungläubigen Hindus wurden erschlagen, ihre Frauen und Kinder, ihr Eigentum und Güter wurde die Beute der Sieger.“18
Wie oben zitiert, versuchte Timur, die Verantwortung für das Blutbad auf seine Generäle abzuwälzen, die ihm geraten hatten, die Gefangenen aus militärtaktischen Gründen zu liquidieren, weil 100.000 freigelassene Soldaten im Rücken seiner Armee eine Bedrohung darstellten. Das erinnert an den Kreuzfahrer Richard Löwenherz, der ebenfalls aus militärtaktischen Erwägungen ein Massaker verübte und 2.700 gefangene Araber enthaupten ließ (► Richard Löwenherz), sowie an Napoleon, der aus ähnlichen Gründen die Exekution von 2.000 gefangenen Arabern befahl (► Napoleon). Das zweite Tötungsmotiv, das Timur nennt, die Hindus seien ungläubige „Götzendiener und Feinde des Islam“, dürfte von sekundärer Bedeutung gewesen sein und diente wohl nur dazu, das Massaker religiös zu bemänteln und vor sich selber zu rechtfertigen. Das entscheidende Motiv für die Brandschatzung Delhis und das Gemetzel war zweifellos die Gier nach Beute und die schiere Mordlust einer entfesselten Soldateska. Die Exekution der 100.000 Kriegsgefangenen hingegen war nüchtern kalkulierter Massenmord aus vermeintlichen militärischen Zwängen. Der Versuch Timurs, sich von dem Blutbad zu distanzieren, zeigt, dass ihm bei diesem ungeheuerlichen Gemetzel selbst Skrupel kamen. Aber seine Rechtfertigung überzeugt nicht, denn als unumschränkter Autokrat hätte er durchaus die Macht gehabt, seine Soldaten zu zügeln, genauso wie er sie zu dieser beispiellosen Bluttat anstacheln konnte. Obschon Timur sich zum Islam bekannte, war die Religion kein Motiv für die Ermordung der hinduistischen Einwohner Delhis.19 Zweck seiner blutigen Eroberungen waren nicht die Ausbreitung des Islam und die Missionierung der Andersgläubigen, sondern die Schaffung eines Großreiches in der Tradition von Dschingis Khan. Dabei ging er – ähnlich wie andere asiatische Eroberer – durchaus selektiv vor. Städte, die sich sofort ergaben, wurden zwar geplündert, die Einwohner aber meist verschont. Die Einwohner von Städten, die Widerstand leisteten, wurden jedoch erbarmungslos niedergemacht oder versklavt. Trotz aller skrupellosen Grausamkeit gab es dabei ein gewisses System: Die Spitzen der städtischen Aristokratie wurden für gewöhnlich verschont, die Geistlichkeit meist auch; Verhandlungen um Freikaufpreise, Tributeintreibungen und seltener auch Requisitionsscheine sind dokumentiert. Timur hatte offensichtlich die Absicht, das im 13. und 14. Jahrhundert versunkene kulturelle und wirtschaftliche Niveau Transoxaniens
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_______________________________________________ Das Ende des Mongolensturms
durch das Beutegut von Theologen, Gelehrten und Handwerkern sowie von Waffen, Lebensmitteln, Luxus- und Gebrauchsgütern zu heben. – Das gelang ihm; aber um welchen Preis? An den Stiefeln dieses blutrünstigen Despoten klebt das Blut von Millionen ermordeter Menschen. Die Erhöhung Timur Lenks zum Nationalhelden, wie sie ihm in Usbekistan zuteilwird, kann nur auf dem Hintergrund eines exzessiven Nationalismus und der Ignorierung sämtlicher ethisch-moralischer Normen verstanden werden.
Pax Mongolica Allerdings gibt es noch eine zweite Seite der mongolischen Herrschaft. Nicht selten hatten mit Gewalt eroberte Großreiche positive Auswirkungen auf Handel und kulturellen Austausch, weil äußere und innere Sicherheit vom Hegemon gewährleistet, grenzüberschreitende Handelswege ausgebaut und ein einheitliches Rechtssystem geschaffen wurden. So im Römischen Imperium und im Osmanischen Reich, aber auch im Mongolenreich, das weite Gebiete Eurasiens umspannte und neue Handelsrouten quer durch Asien eröffnete und sicherte. Erfüllt von einem rigorosen universellen Sendungsbewusstsein wollten die Mongolen mit ihren Eroberungszügen die gesamte Erde dem mongolischen Himmelsgott und seinem irdischen Vertreter, dem Großkhan, untertan machen. Auch Mittel- und Westeuropa wurden vom Mongolensturm heimgesucht, aber nicht in das Mongolen-Imperium integriert.
Das Ende des Mongolensturms Der Ansturm der asiatischen Reiterheere der Hunnen und Mongolen gehört zweifellos zu den größten Heimsuchungen des Abendlandes und Vorderen Orients. Sie haben sich tief in das historische Gedächtnis der Völker eingebrannt. In der mittelalterlichen Dichtung spiegelt sich der Hunnensturm im Nibelungenlied, in dem die Vernichtung des germanischen Stammes der Burgunder durch die Hunnen Attilas geschildert wird, der um 444/45 n. Chr. mit
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Abb. 10: Berittene Bogenschützen der Mongolen.
seinen Reiterheeren in Osteuropa einfiel, die Goten vertrieb und die Völkerwanderung auslöste. Rund 800 Jahre später waren es die Mongolen, die die europäischen Völker in Angst und Schrecken versetzten. Am 9. April 1241 stellte sich bei Liegnitz ein deutsch-polnisches Heer den heranstürmenden Mongolen entgegen und wurde vernichtend geschlagen, da die europäischen Ritterheere der Kampfkraft und Waffentechnik der Mongolen nicht gewachsen waren – deren berittene Bogenschützen verfügten über den panzerdurchschlagenden Reflexbogen. Es drohte eine Invasion ganz Mittel- und Westeuropas. Doch eine glückliche Fügung des Schicksals verhinderte diese Katastrophe, die den Verlauf der Geschichte Europas nachhaltig beeinflusst hätte: Trotz ihres Sieges drangen die Mongolen nicht weiter nach Westen vor, weil Großkhan Ögedei im Sterben lag und die Erbfolge neu geregelt werden musste. Die mongolischen Anführer zogen mit ihren Heeren ab, um einen neuen Herrscher zu wählen. Ähnliches geschah 1260 bei Ain Jalut, als es den Mameluken erstmals gelang, die bislang unbesiegbaren Mongolen militärisch zu schlagen. In dieser Entscheidungsschlacht in Palästina (nordwestlich des Bergs Gilboa in der Gegend des heutigen En Harod) besiegte der
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______________________ Der Megatöter Timur Lenk – heute usbekischer Nationalheld
ägyptische Mamelukensultan Baibars die durch den Abzug Hülegüs geschwächte mongolische Armee. Dieser Schlacht wurde welthistorische Bedeutung zugemessen, weil sie die mongolische Westexpansion gestoppt und den Nimbus der Unbesiegbarkeit der Mongolen gebrochen hat. Der Mongolensturm hinterließ in der politischen Theorie des Islam ein desaströses Vakuum. Seit damals ist das Recht und der Anspruch auf das Kalifenamt unter Muslimen umstritten.20
Der Megatöter Timur Lenk – heute usbekischer Nationalheld Berühmt ist Timur Lenk für das von ihm begründete Riesenreich, das 27 Länder umfasste und vom Mittelmeer bis nach Indien reichte. Die nach ihm benannte Dynastie der Timuriden regierte fast 100 Jahre lang. Timur, dem seine Hauptstadt Samarkand ihre bis heute währende Pracht verdankt, gilt als Gründungsvater Usbekistans. Im Herzen der heutigen usbekischen Hauptstadt Taschkent steht inmitten des vom Timuriden-Museum und dem Kongresszentrum umrahmten Platzes ein riesiges, bronzenes Reiterstandbild Timur Lenks (► Abb. 11). Es löste 1993, nach Erlangen der Unabhängigkeit, einen 1968 aufgestellten gigantischen Karl-Marx-Kopf ab und rehabilitierte den mittelalterlichen Tyrannen zu einem wahren Nationalhelden. Ironie der Geschichte: Einer der der größten Menschenschlächter, der je auf diesem Globus gemordet hat, wurde mit dem bis dahin größten Denkmal der Welt geehrt. Tatsache ist: Der grausame Despot Timur Lenk, „einer der größten und verheerendsten Eroberer Geschichte“,21 wird in Usbekistan als Nationalheld gefeiert; das Andenken dieses berüchtigten Herrschers wird heute in ganz Zentralasien in großen Ehren gehalten. Ethische oder moralische Bedenken gibt es offenbar nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Timur hat dem Land zu historischer Größe verholfen; er machte Usbekistan (und auch die Nachbarrepubliken) innerhalb kürzester Zeit zu einem bestimmenden Faktor der Weltpolitik und zur Großmacht in Zentralasien. Indem er die kulturelle Einigung von Persien und Transoxanien forcierte und das kulturelle Vermächtnis der Perser, Transoxanier und Mongolen in einem gemeinsamen Reich
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Abb. 11: Das Denkmal des Amir Timur in Taschkent.
zusammenführte, hat Timur sich als Einiger einen Namen gemacht. Er stiftete eine kulturelle zentralasiatische Identität, mit der sich das Land heute identifiziert. Timur gilt in Usbekistan als Beschützer der Kunst und der Wissenschaften sowie als Förderer von Bildung und Landwirtschaft. Er beeindruckte durch Führungsqualitäten wie Willensstärke, Tatkraft und strategische Klugheit, mit denen er sich vom bedeutungslosen Kleinfürsten zum Herrn der islamischen Welt und zum Eroberer von Zentral- und Südwestasien aufschwang. Er hat das Wohl seines Kernlandes um seine Hauptstadt Samarkand gefördert und dort eine beispielhafte wirtschaftliche und kulturelle Blüte hervorgebracht sowie einen eigenen Architekturstil kreiert –
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______________________ Der Megatöter Timur Lenk – heute usbekischer Nationalheld
heute eine Attraktion für Touristen aus aller Welt. In neuerer Zeit fungierte dieser Held einer eigenständig-usbekischen Nation als Gegenpol zum sowjetischen Imperialismus und Zentralismus. Großer Förderer des Islam, der er war, prägte er nachhaltig die usbekisch-islamische Kultur, was ihn in der säkularen ehemals sowjetischen Periode, aber auch heutigen Zeit zur kulturellen Identifikationsfigur macht. „[Doch] für die Geschichte Zentralasiens war die Rolle der Timuriden politisch von geringer Bedeutung. Der Begründer der Dynastie, so groß er auch als Führer war, zerstörte weit mehr, als er schuf. Seiner Persönlichkeit fehlte die unwiderstehliche Faszination, wie sie von Dschingis Kahn ausging. […] Auf kulturellem Gebiet war der Beitrag der Timuriden in Zentralasien jedoch hervorragend. […] Sie förderten die Entwicklung [von] Dichtung und Prosaliteratur. Den großen Förderern der Künste, die diese Dynastie hervorgebracht hat, verdankt die Welt die […] kostbare Ausstattung der Moscheen in […] Herat, Buchara und Samarkand. Von allen zentralasiatischen Herrschern haben die Timuriden die eindrucksvollsten Denkmäler hinterlassen.“22
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Vlad Dracula Rumänischer Nationalheld und grausamer Despot1
Vlad III. Drăculea, den wir heute als den blutsaugenden Graf Dracula kennen, gilt in Rumänien als Nationalheld und erfolgreicher Feldherr, der den osmanischen Eroberern empfindliche Niederlagen beibrachte. Doch wer war dieser Fürst der Walachei wirklich, den die Rumänen verehren, die Historiker jedoch als grausamen Tyrannen beschreiben? Vlad III. war von 1456 bis 1462 Woiwode2 des Fürstentums Walachei, südlich von Transsylvanien/Siebenbürgen gelegen. Er kam um 1431 im rumänischen Schäßburg als Sohn des adligen walachischen Großgrundbesitzers Vlad II. Dracul auf die Welt. Sein Beiname Drăculea („der Sohn des Drachen“, von lateinisch draco, „Drache“) leitet sich nach Ansicht der Historiker von der Mitgliedschaft seines Vaters im Drachenorden Kaiser Sigismunds ab. Dieser Beiname wurde bisweilen auch als „Sohn des Teufels“ verstanden (rumänisch drac, „Teufel“). Diese
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Vlad Dracula ______________________________________________________________
Deutung des Beinamens erscheint ebenfalls plausibel, wenn man die Berichte über die bestialische Grausamkeit Vlads III. in Betracht zieht, mit der er seine Feinde zu Tausenden umbrachte. Historische Berühmtheit erlangte Vlad III. Drăculea zum einen durch seinen Widerstand gegen die Expansion des Osmanischen Reichs auf dem Balkan, zum anderen wegen der ihm nachgesagten Gräuel. Seine Vorliebe für Hinrichtungen durch Pfählen brachte ihm posthum den Beinamen „Pfähler“ (Țepeș) ein. Aus dem gleichen Grund wurde er von den Osmanen Kaziklu Bey (oder Kazikli) genannt. Nikolaus Modrussa, Legat des Papstes am ungarischen Hof im 15. Jahrhundert, beschrieb Vlads äußere Erscheinung so: „Er war nicht sehr groß, aber untersetzt und muskulös. Sein Auftreten wirkt kalt und hatte etwas Erschreckendes. Er hatte eine Adlernase, geblähte Nasenflügel, ein rötliches, mageres Gesicht, in dem die sehr langen Wimpern große, weit offene, grüne Augen umschatteten; schwarze buschige Brauen gaben ihnen einen drohenden Ausdruck. Er trug einen Schnurrbart. Breit ausladende Schläfen ließen seinen Kopf noch wuchtiger erscheinen. Ein Stiernacken verband seinen Kopf, von dem schwarze gekräuselte Locken hingen, mit seinem breitschultrigen Körper.“3
Jugend und erste Zeit als Fürst Der Kaiser und ungarische König Sigismund hatte 1408 den Drachenorden gegründet. Aufgenommen wurden Persönlichkeiten, die sich wie Vlad II. beim „Sturz des Drachens“ ausgezeichnet hatten, d. h. im Kampf gegen Ungläubige (gemeint waren Muslime). Vlad II. regierte die Walachei, ein Fürstentum an der östlichen Grenze des damaligen ungarischen Königreiches, das heute zu Rumänien gehört. Durch die osmanische Eroberung und Annexion Bulgariens grenzte die Walachei seit Ende des 14. Jahrhunderts an das Imperium der türkischen Sultane und geriet trotz des erbitterten Widerstands des Fürsten Mircea des Alten gegen Sultan Bayezid I. nach den Schlachten bei Rovine 1395 und Nikopolis 1396 in ein Vasallenverhältnis zur Hohen Pforte. Im 15. Jahrhundert kam die Walachei vollends unter die Herrschaft der nach Europa drängenden Osmanen. Das hatte auch Auswirkungen auf den jungen Vlad Drăculea, denn der Sultan des Osmanischen Reiches verlangte von Vlad II. ein menschliches Pfand, das er jederzeit als Druckmittel
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_______________________________________________ Jugend und erste Zeit als Fürst
einsetzen konnte, sollte dieser sich den Wünschen der Hohen Pforte widersetzen. Deshalb musste Vlad Drăculea seine Jugend als Geisel am Hof des Sultans verbringen. Als sein Vater bei einem Aufstand getötet wurde, war die Geiselhaft am Hofe jedoch beendet, und der Sultan erklärte den jungen Vlad mit 17 Jahren zum Thronfolger in der Walachei. Als Fürst etablieren konnte sich Vlad allerdings erst Jahre später. Zunächst musste er sowohl Ungarn als auch dem Osmanischen Reich den Treueid leisten. Als Herrscher über das kleine rumänische Fürstentum Walachei war er gezwungen, gegen innere Gegner hart vorzugehen und eine riskante Schaukelpolitik zwischen dem christlichen Ungarn, den Nachbarn in Moldau und Siebenbürgen und den Osmanen zu betreiben Um von diesen Mächten unabhängig zu werden, reformierte er in den frühen Jahren seiner Herrschaft die feudalistischen Machtstrukturen in der Walachei zugunsten einer starken Zentralgewalt, baute Festungen und rüstete militärisch auf. Zur Festigung seiner Macht eliminierte Vlad rivalisierende bojarische Adlige oder beschränkte ihren wirtschaftlichen Einfluss. Die traditionell von führenden Bojaren in Beschlag genommenen Schlüsselpositionen der Ratsversammlung wurden durch Getreue Vlads besetzt. Auch minder wichtige Positionen blieben den alteingesessenen Bojaren nun verwehrt und wurden von zu Rittern geschlagenen freien Bauern übernommen. Da sie seinen Herrschaftsanspruch beharrlich in Frage stellten, musste Vlad einen ständigen Kampf gegen die alte Bojarenklasse in der Walachei führen. Getrieben von Rachedurst soll Vlad seinen ersten bedeutenden Akt von Grausamkeit bereits kurz nach seinem Machtantritt verübt haben: Im Jahre 1459 lud er die adligen Bojaren und deren Familien, die am Attentat auf seinen Vater und der Lebendigbegrabung seines älteren Bruders Mircea beteiligt gewesen waren, zur Feier des Osterfestes ein. Viele dieser Adeligen waren auch am Sturz zahlreicher anderer walachischer Prinzen beteiligt gewesen. Im Verlauf des Festmahles befragte Vlad seine noblen Gäste, wie viele Prinzen sie während ihres Lebens im Amt gesehen und überlebt hätten. Alle hatten mindestens sieben Prinzen überlebt, einer sogar dreißig. Vlad ließ alle Adligen festnehmen; die älteren wurden auf der Stelle mit ihren Familien gepfählt, die jüngeren und kräftigeren wurden zur Burg Poienari in den Bergen oberhalb des Flusses Argeș gebracht. Dort wurden sie gezwungen, die zerstörte Festung mit Materialien von einer nahegelegenen Burgruine wie-
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Vlad Dracula ______________________________________________________________
der aufzubauen. Die Chroniken berichten, dass die Zwangsarbeiter schufteten, bis ihnen die Kleider vom Leibe fielen und sie nackt weiterarbeiten mussten. Nur wenige von ihnen sollen diese Strapazen überlebt haben. Die Praxis des Pfählens hatte Drăculea am Hof des Sultans kennengelernt, auch wenn sie dort freilich nur selten, vor allem gegen Hochverräter angewandt wurde. Die Jahre als türkische Geisel formten die Persönlichkeit des jungen Vlad; so soll er während der Geiselhaft wiederholt wegen seines störrischen Verhaltens ausgepeitscht worden sein und eine starke Abneigung gegen seinen Halbbruder Radu und den späteren Sultan Mehmed II. entwickelt haben. Erst nach Ausschaltung der verbliebenen Brüder gelangte Vlad schließlich auf den Thron, wo er sich jedoch innenpolitischen Gegnern gegenübersah, gegen die er mit großer Brutalität vorging. Ob Adelige oder „Zigeuner“, erklärte Oppositionelle oder potenzielle Widersacher – sie alle ließ er hinrichten und konfiszierte nebenbei ihre Ländereien und Vermögen. Seine Feinde, darunter die Bewohner ungarischer und deutscher Städte in Siebenbürgen, die ihre Handelsprivilegien durch Vlad bedroht sahen, wehrten sich, indem sie ihn in den Histori von dem posen Dracol („Geschichte vom bösen Dracula“) verunglimpften, die 1462/63 zuerst als Flugblätter erschienen und sich aufgrund der Buchdruckkunst rasch verbreiteten. Dort wird er als ein noch grausamerer ‚Wüterich‘ als die schlimmsten Tyrannen der Christenheit dargestellt. „Der Wüterich hat sich noch größere Pein und Schmerzen ausgedacht als es sich die größten Tyrannen und Verfolger der Christen Herodes, Nero und Diokletian und alle anderen Heiden jemals ausgedacht haben.“4
Die meisten der Kaufleute in Transsilvanien und der Walachei waren Siebenbürger Sachsen, die von den einheimischen Walachen als Ausbeuter und Parasiten betrachtet wurden. Die deutschstämmigen Kaufleute machten sich zudem die Feindschaft der Bojarenfamilien untereinander und ihren Streit um den walachischen Thron zunutze, indem sie verschiedene Thronprätendenten unterstützten und gegeneinander ausspielten. Damit hatten sie aus Vlads Sicht ebenso wie die Bojaren ihre Illoyalität unter Beweis gestellt.
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_____________________________________________________ Die Praxis des Pfählens
Vlad Țepeș – der Pfähler Im Gegensatz zur russischen und insbesondere rumänischen Geschichtsschreibung, in der Vlad III. als tapferer Beschützer des Vaterlandes vor den Türken verklärt wird (obwohl er den Vormarsch der Osmanen letztlich nicht verhindern konnte), wird Vlad in der westlichen Literatur als sadistischer Despot beschrieben, dem das Foltern und Töten perverses Vergnügen bereitete. Man schätzt die Zahl seiner Opfer auf 40.000–100.000 Menschen, wobei diese Zahlen durch Addition aller angeblichen Opfer aus diversen Quellen beruhen.5 So berichtet beispielsweise die Konstanzer Chronik von exakt 92.268 Opfern, die Vlad zugeschrieben werden.6 Nicht mitgerechnet sind die Opfer, die durch Niederbrennen von Dörfern und Zerstörung von Festungen zu Tode kamen.7 In einem Dokument wird die Pfählung von 600 Kaufleuten in Kronstadt und die Konfiszierung ihrer Güter beschrieben, in einem anderen ist von 41 Pfählungen die Rede, auch die seines Rivalen Dan III. Im Gegensatz zu rumänischen Quellen, die die Gräueltaten Vlads herunterspielen, berichten westlichen Erzählungen von Pfählungen, Verstümmelungen, Häutungen und Verbrennen und anderen Bestialitäten des Pfählers, der seine Opfer auch zu Kannibalismus gezwungen haben soll. Niemand war vor seiner Mordlust sicher. Seine Opfer waren Männer und Frauen allen Alters (einschließlich Kinder und Säuglinge) sowie Angehörige aller Religionen und sozialer Schichten.
Die Praxis des Pfählens Die Pfählung war Vlads bevorzugte Art der Folter und Hinrichtung. Das Pfählen war als grausame Bestrafungsmethode keineswegs ungewöhnlich und wurde bereits in der Antike praktiziert. So liest man in den Gesetzen des babylonischen Königs Hammurabi (1728–1686 v. Chr.) im Artikel 153: „Wenn jemandes Ehefrau wegen eines anderen ihren Gatten hat ermorden lassen, so soll man sie auf den Pfahl stecken.“ Wie aus Prozessakten hervorgeht, wurden im Ägypten der Pharaonen gefangene Grabräuber gepfählt. Auch Berichte von den Assyrern und Persern zeugen von dieser Todesart. Ebenso soll Alexander der Große Gefangene gepfählt haben. Verbreitet war das
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Pfählen auch bei Indern, Mongolen, in Afrika sowie Amerika. Aber auch in Europa war diese Hinrichtungsart keineswegs unbekannt, so z. B. bei den Kelten, die Verbrecher zu Ehren der Götter erst pfählten und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Die Christianisierung beendete diese grausame Tötungsmethode keineswegs, wie man vielen mitteleuropäischen Stadtrechten entnehmen kann. In zahlreichen Quellen aus der Zeit vom 13. bis zum 18. Jahrhundert wird diese Strafmethode überliefert, und zwar für Verbrechen wie Mord, Gotteslästerung sowie Hexerei, wobei letztere freilich meist mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen geahndet wurde. Pfählen war z. B. möglich bei Hochverrat und Ehebruch. Im Artikel 131 der 1532 zum Reichsgesetz erhobenen „Peinlichen Gerichtsordnung“ Kaiser Karls V. (1500– 1558), der Constitutio Criminalis Carolina, stand auf Kindesmord die Todesstrafe des Pfählens. Erst der Habsburger Kaiser Joseph I. (1678–1711) hob diesen Passus auf, und seine Nachfolgerin auf dem Kaiserthron, Maria Theresia (1717–1780), übernahm dieses Verbot in ihrer Gerichtsordnung von 1769. In Russland geschah die letzte Pfählung 1718 auf dem Roten Platz, und noch 1800 verurteilte ein französisches Kriegsgericht in Kairo den Mörder eines Generals zum Tod durch Pfählung. Im Osmanischen Reich war Pfählen ebenfalls gebräuchlich, so bei Verbrechen gegen die islamische Religion, Blasphemie, bei sexuellen Vergehen, bei Mord und politischen Delikten wie Hochverrat. Einen Nachklang dieser Hinrichtungsart findet man in Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail (1782), wo der Diener des Paschas, Osmin, den gefangenen christlichen Diener Pedrillo u. a. auch durch Pfählen bestraft sehen will. Er singt im Ersten Akt (und noch einmal am Ende des Dritten Aktes): „Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heißen Stangen; dann verbrannt, dann gebunden und getaucht; zuletzt geschunden.“ In der Praxis kamen mehrere Varianten dieser Hinrichtungsart zum Einsatz: zum einen das Durchstoßen des Herzens, zum anderen das „Spießen“, d. h. das Durchstoßen des Körpers vom Anus oder der Vagina her, wobei der Spieß von Pferden durch den am Boden festgebundenen Köper des Delinquenten getrieben wurde. In einer zeitgenössischen Quelle heißt es: „Die Spieße von Holz mit Unschlitt oder Talk bestrichen; man bindet solchen Übeltätern Seile an die Füße, stößt ihnen den Spieß zu dem hinteren Leib hinein […]. Zuerst aber kniet der Delinquent mit in den Staub gedrücktem Haupte nieder, die angezogenen Oberschenkel gekreuzt […] und die Bahn hinreichend eingefettet, der Pfahl, aber nicht angespitzt, sondern abgestumpft die Organe beiseiteschiebt, und wird fünfzig bis sech-
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_____________________________________________________ Die Praxis des Pfählens zig Zentimeter in den Mastdarm eingeführt, dann mit dem Delinquenten senkrecht aufgerichtet. Und der Körper mit seiner Schwere drückt Mann oder Weib hinab, und langsam dringt der Pfahl durch den Körper, sucht den tödlichen Weg.“8
Durch den stumpfen und geölten Pfahl wurde verhindert, dass lebenswichtige Organe verletzt wurden und die Opfer durch Schock oder innere Blutungen schnell starben. Dieser Tod am Pfahl war langsam und qualvoll und sein Eintreten dauerte manchmal Stunden oder Tage. Nach anderen Berichten wurden die Opfer auch durch die Brust gepfählt, was einen relativ schnellen Tod zur Folge hatte. Kinder sollen manchmal gepfählt und dabei durch die Brust ihrer Mutter gedrückt worden sein. In anderen Fällen wurden die Opfer auf dem Kopf stehend gepfählt. Die Gepfählten lebten zum Teil noch vier Tage lang. „Angeblich ließ Vlad häufig die Pfähle nach verschiedenen geometrischen Mustern anordnen. Das gängigste Muster soll demnach ein Ring aus konzentrischen Kreisen gewesen sein. Die Pfahlhöhe entsprach dem Rang des Opfers. Zur Abschreckung ließ man die Leichname oft für Monate an den Pfählen verwesen. Tausende von Widersachern sollen zeitgenössischen Berichten zufolge auch bei anderen Gelegenheiten gepfählt worden sein, so z. B. ca. 10.000 Menschen in Hermannstadt […] im Jahr 1460, und im August des vorherigen Jahres [zahlreiche] Kaufleute und Offizielle der Stadt Kronstadt wegen subversiven Verhaltens gegenüber Vlad.“9
Doch den Großteil seiner Pfählungen verübte Vlad Țepeș an den vordringenden osmanischen Truppen. Vlad zugeschrieben wird folgender Kommentar seiner Pfählpraxis: „Pfählen lehrten sie mich [die Türken], gepfählt wurden sie.“ Bei seinen Grausamkeiten machte Vlad keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Er ließ Flugschriften verteilen, in denen sich sein Zorn auch auf Verstöße gegen die weibliche Sittsamkeit richtete. Unverheiratete Mädchen, die ihre Jungfräulichkeit verloren hatten, sowie untreue Ehefrauen wurden Opfer von Vlads Grausamkeit. Frauen mit derartigen Verfehlungen ließ er oft die Geschlechtsorgane heraus- oder die Brüste abschneiden. Zudem wurden sie mit glühenden Pfählen durch die Vagina aufgespießt, bis der Pfahl zum Munde der Opfer heraustrat. So berichtet ein Text von der Exekution einer untreuen Ehefrau, deren Brüste zuerst abgeschnitten wurden; danach wurde sie gehäutet und auf einem Platz in Târgoviște gepfählt, während ihre Haut auf einem Tisch daneben lag.10 Vlads Schreckenstaten gegen das walachische Volk galten nach Ansicht einiger Historiker dem Versuch, seinen eigenen Verhaltenskodex in seinem
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Land durchzusetzen. Er bestand auf Ehrlichkeit und Fleiß seiner Untertanen. Kaufleute, die ihre Kunden betrogen, fanden sich schnell neben gemeinen Dieben am Pfahl wieder. Vlads drakonische Strafen scheinen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben, wie eine Episode aus den Histori von dem posen Dracol zeigt: „Einst kam ein reicher Kaufmann aus Florenz, der nicht wusste, wem er sein Geld sicher anvertrauen sollte. Da gebot ihm Dracula, es zu zählen und über Nacht auf die Straße zu legen. Am nächsten Morgen fand der Kaufmann es wieder unangetastet vor. Da war kein Wald zu wild und ungeheuer, dass ihn nicht jedermann mit Gut und Geld sicher durchwandern konnte. Eine solche Furcht hatte Dracula mit seinen unerhört gräulichen Strafen und Martern aller Welt eingejagt.“11
Vlad betrachtete Arme, Kranke und Bettler als Schmarotzer. Eine Geschichte erzählt von seiner Einladung an Kranke und Arme zu einem Festmahl, während dem das beherbergende Gebäude geschlossen und angezündet wurde. Er wollte so die „Schmarotzer“, die lediglich auf Kosten anderer lebten und den Fleißigen das Essen wegnahmen, in seinem Land vernichten. Er wollte nicht, dass in seinem Land jemand arm und krank sei. Sein Motto: „Schaffen wir die Armut ab, indem wir die Armen abschaffen.“ Einmal wohnte er speisend einer Massenhinrichtung bei, wie ein Holzstich aus dieser Zeit zeigt (► Abb. 12). Man sieht Vlad bei einem Festmahl in einem Wald von Pfählen mit aufgespießten Leibern, während daneben ein Henker andere Opfer martert.
Abb. 12: Vlad III. speist im Anblick der Gepfählten. Holzschnitt von Markus Ayrer, Nürnberg 1499.
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______________________________ Guerilla-Taktik und Strategie der verbrannten Erde
Guerilla-Taktik und Strategie der verbrannten Erde Am 14. Januar 1460 hatte Papst Pius II. zu einem erneuten Kreuzzug gegen die Osmanen aufgerufen, der drei Jahre dauern sollte. Nur Vlad Țepeș konnte als einziger europäischer Führer für diesen Plan begeistert werden. Als Vlad sich weigerte, weitere Tribute an die Hohe Pforte zu zahlen, kam es zum Bruch mit dem Osmanischen Reich, das mit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Sultan Mehmed II. zur Weltmacht aufgestiegen war. Als eine Gesandtschaft Mehmeds die Begleichung ausstehender Tribute in Höhe von 10.000 Dukaten verlangte sowie eine Knabenlese von 500 Jungen forderte, die zu Janitscharen ausgebildet werden sollten, ließ Vlad – anstatt der Forderung nachzukommen – die Gesandten exekutieren. Türken, die auf walachischem Territorium aufgegriffen wurden, ließ er ebenfalls pfählen. Mit einem Schreiben vom September 1460 warnte er die Siebenbürger Sachsen in Kronstadt vor Mehmeds Invasionsplänen und warb um ihre Unterstützung. 1461 lud Mehmed den Prinzen zu Verhandlungen über die Beilegung des Konflikts nach Konstantinopel ein. Vlad lehnte die Einladung des Sultans mit der Begründung ab, dass in seiner Abwesenheit die Gefahr eines Angriffs der Ungarn gegen die Walachei drohte, weshalb er sein Land nicht verlassen könne. Im Übrigen könne er den Tribut wegen der Kosten des Krieges gegen Siebenbürgen vorerst nicht aufbringen. Er versprach Zahlungen in Gold und stellte zu gegebener Zeit einen Besuch in Konstantinopel in Aussicht. Der Sultan sollte ihm für die Zeit seiner Abwesenheit einen Pascha als Stellvertreter zur Verfügung stellen. Vlads Ablehnung der Einladung an den osmanischen Hof war ein Affront. Verärgert über diese Unbotmäßigkeit schickte Sultan Mehmed II. eine Gesandtschaft an Vlads Hof, um eine Unterwerfungsgeste des Fürsten einzufordern. Als die Gesandten sich weigerten, ihre Turbane abzusetzen, weil dies am Osmanischen Hof nicht Sitte sei, ließ er die Turbane der Gesandten mit kleinen Nägeln an deren Köpfen festnageln, damit sie die Kopfbedeckung nicht mehr abnehmen konnten. Ehe Mehmed II. auf diesen Affront reagieren konnte, griff Vlad 1461/62 osmanische Stellungen an und rückte bis Bulgarien vor. Der Sultan rekrutierte ein großes Heer und zog in die Walachei, um die große Entscheidungsschlacht zu schlagen, der sich Vlad freilich nicht stellte. Stattdessen begegnete er dem geplanten Rachefeldzug der Osmanen mit der Strategie der verbrannten Erde: Äcker wurden verwüstet, Ernten
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Vlad Dracula ______________________________________________________________
Abb. 13: Vlad III. Drăculea empfängt türkische Gesandte, Historiengemälde von Theodor Aman (1831–1891).
vernichtet, Brunnen vergiftet. Türken, die ihm in die Hände fielen, ließ Vlad auf veritablen Wäldern aus Pfählen aufspießen. Wie der serbische Janitschar Konstantin Mihajlović aus Ostrovitza in seinen Memoiren berichtet, ließ Vlad die Nasen gefangener türkischer Soldaten abschneiden, um damit am ungarischen Hof zu prahlen, wie viele Feinde er getötet hatte. Mihailović erwähnt auch den Wald aus Pfählen, der die Straßen mit Tausenden von gepfählten Türken gesäumt haben soll. Allerdings war Mihailović selbst nicht Augenzeuge dieser Ereignisse; seine Ausführungen beruhten auf Berichten von Frontsoldaten. Der vordringenden türkischen Armee unter Mehmed II. begegnete Vlad mit einer Art Guerillakrieg, d. h. durch permanente, meist überfallartig aus dem Hinterhalt durchgeführte Attacken. Um den Vormarsch der ihn verfolgenden osmanischen Truppen zu behindern, ließ Vlad mit Hölzern und Gestrüpp getarnte Fallgruben ausheben, Gewässer und Brunnen vergiften, kleinere Flüsse umleiten und auf diese Weise weite Landstriche in Sümpfe
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______________________________ Guerilla-Taktik und Strategie der verbrannten Erde
verwandeln. Die Bevölkerung samt ihrer Viehherden wurde in die Berge evakuiert, sodass Mehmed sieben Tage lang vorwärts zog, ohne Mensch oder Tier anzutreffen oder Proviant aufnehmen zu können, was für eine erhebliche Schwächung und Demoralisierung seiner Truppen sorgte. Den Quellen zufolge schickte Vlad auch Lepra-, Tuberkulose- und Pestkranke ins Feldlager der Türken, damit diese sich damit infizierten. Tatsächlich breitete sich die Pest in der osmanischen Armee aus. Die türkische Flotte attackierte auch die Hafenstädte Brăila und Chilia, ohne jedoch größeren Schaden anzurichten, da Vlad die meisten bedeutenden Häfen in Bulgarien vorsorglich zerstört hatte. Vlads Mut und Kampfgeist zeigt eine Episode, die sich am 17. Juni 1461 zutrug, als er – zahlenmäßig weit unterlegen und in strategisch fast aussichtsloser Position – den osmanischen Truppen empfindliche Verluste beibrachte. Nachdem sich Vlad vor der Schlacht als Türke verkleidet Zugang zum feindlichen Lager verschafft hatte und so unerkannt die Lage sowie das Zelt des Sultans ausspähen konnte, attackierte er nachts mit ca. 10.000 Reitern das türkische Lager. Nicolaus Machinensis, Bischof von Modruš und päpstlicher Gesandter am ungarischen Königshof, beschrieb die Ereignisse wie folgt: „Der Sultan belagerte Vlad am Fuße eines Hügels, der den Walachen aufgrund ihrer Position auf dem Hügel zum Vorteil gereichte. Țepeș hatte sich mit seinen 24.000 willig folgenden Truppen dort verschanzt. Als Țepeș erkannte, dass er entweder an Hunger verenden oder in die Hände eines grausamen Feindes fallen würde und dass beide Umstände für einen Krieger unwürdig waren, rief er seine Männer zusammen und erklärte ihnen die Situation und konnte diese so leicht dazu bewegen, das feindliche Lager anzugreifen. Er teilte seine Truppen in Gruppen auf, in denen sie entweder auf dem Schlachtfeld mit Ruhm und Ehre sterben würden oder aber, sollte die Fügung ihnen gewogen sein, sich an den Feinden auf vorzügliche Art und Weise rächen würden.“12
Nicolaus Machinensis schildert, wie es Vlad Țepeș mit Hilfe einiger türkischer Gefangenen gelang, bei Einbruch der Nacht mit einem Teil seiner Truppen in das osmanische Lager einzudringen und blitzschnell über seine Feinde herzufallen. „Wäre der andere walachische Kommandant, dem die verbleibenden Truppen anvertraut waren, ähnlich unerschrocken gewesen […] dann hätte der Walache unzweifelhaft den großartigsten und höchst glanzvollsten Sieg davongetragen. Aber der andere Kommandant (ein Bojare namens Galeș) wagte es nicht, wie vereinbart, das Lager von der
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Vlad Dracula ______________________________________________________________ anderen Seite aus anzugreifen. Țepeș richtete ein unglaubliches Massaker an, ohne dabei viele seiner Männer in dieser bedeutenden Begegnung zu verlieren, jedoch wurden viele verwundet. Er verließ das feindliche Lager vor Tagesanbruch und kehrte auf den Hügel zurück, von dem er gekommen war. Niemand wagte es, ihm zu verfolgen, da er einen solchen Aufruhr und Terror verbreitet hatte. Ich erfuhr durch Befragung derjenigen, die an der Schlacht teilgenommen hatten, dass der Sultan jegliche Zuversicht in die Situation verloren hatte. In dieser Nacht hatte er das Lager aufgegeben und war schändlich von dort geflohen. Er wäre auch noch weiter fortgelaufen, wäre er nicht von seinen Freunden gemaßregelt und zurückgebracht worden, fast gegen seinen Willen.“13
Der Wald der Gepfählten Die Türken setzten ihren Vormarsch bis Târgoviște mit dem Ziel fort, die Festung Bukarest und die befestigte Insel Snagov einzunehmen. Mehmed entschloss sich, die Hauptstadt zu belagern, fand aber bei seiner Ankunft die Stadt verlassen vor. Als das osmanische Heer an den circa 20.000 gepfählten türkischen Gefangenen und bulgarischen Muslimen vorbeizog, sahen die Türken Chronisten zufolge einen „wahren Wald mit Gepfählten.“ In ihrer Mitte befand sich auch der verwesende Leichnam von Hamza Pascha, den man auf dem am höchsten stehenden Holzpflock aufgespießt hatte, um seine ranghohe Stellung in der Armee zu symbolisieren. Beim Anblick dieser Tausende gepfählter und verwesender Leichname soll das osmanische Heer vor Entsetzen zurückgewichen sein. Viele dieser Opfer waren bereits vor dem osmanischen Einmarsch gefangen genommen worden. Insgesamt sollen sich die Verluste der Türken bei den Gefechten im Vorfeld der Invasion auf etwa 40.000 Mann belaufen haben. Andere Quellen hingegen berichten, dass die Stadt von Soldaten erfolgreich verteidigt wurde und dass gepfählte Körper nur außerhalb der Stadtmauern in einem Umkreis von 60 Meilen zu finden waren. Der byzantinische Geschichtsschreiber Laonikos Chalcondyles schrieb über die Reaktion des Sultans: „Der Imperator, überwältigt von dem Bild, welches sich ihm bot, stellte fest, dass er dieses Land nicht von dem Mann nehmen könne, der solche Dinge fertigbringen und die Herrschaft über seine Untertanen derart ausschöpfen konnte. Ein Mann, der dieses bewerkstelligt hatte, sei sicherlich zu Größerem berufen.“14
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____________________________________________________ Der Wald der Gepfählten
Andere Berichte besagen, dass der für seine eigene psychologische Kriegsführung bekannte Eroberer von Konstantinopel, Mehmed II., vom Anblick 20.000 gepfählter Leiber so erschüttert war, dass er, angewidert von dieser Art bestialischer Kriegführung, die Befehlsgewalt für den Feldzug seinen Generälen übergab und nach Konstantinopel zurückkehrte. Obwohl seine Armee den walachischen Truppen zahlenmäßig drei zu eins überlegen und besser ausgerüstet war, begannen die Türken am folgenden Tag, dem 22. Juni 1462, mit dem Rückzug. Ungeachtet dieses Rückschlags wurden wenig später Feierlichkeiten zum Anlass des „großen Sieges“ über Vlad abgehalten. Immerhin hatten die Türken bei ihrem Feldzug viele Einwohner des Kriegsgebietes versklavt und diese zusammen mit der Beute von Tausenden Rindern und Pferden Richtung Türkei verbracht. Aus seiner eigenen Sippe erwuchs Vlad jetzt ein gefährlicher Gegner: sein zum Islam konvertierter Halbbruder Radu. Dieser verbündete sich mit den walachischen Adeligen, die sich der Pfähler wegen ihrer Entmachtung und Ermordung von Verwandten zu Feinden gemacht hatte. Es gelang Radu, sie von den Vorteilen einer Unterwerfung unter den Sultan zu überzeugen. Im August 1462 beschlossen Radu und der Sultan einen Machtwechsel in der Walachei, wonach Radu an der Spitze einer türkischen Armee gegen Vlads Burg Poenari zog. Nun begann Vlads Stern zu sinken. Zwar konnte er nach Siebenbürgen entkommen und sich in die Obhut des ungarischen Königs Matthias Corvinus begeben; doch dieser inhaftierte Vlad zwölf Jahre lang in der Festung Visegrád wegen Hochverrats – mit der vorgeschobenen Begründung, Vlad habe den Sultan um ein Bündnis gegen Ungarn gebeten. Vermutlich wollte Matthias Corvinus auf diese Weise einen Konkurrenten ausschalten, der ihm die führende Rolle als Kämpfer gegen die Türken streitig machte. Nachdem Vlad zum Katholizismus konvertiert war, wurde er 1474 aus der Haft entlassen und heiratete eine Cousine des Matthias Corvinus. Vlad erhielt ein militärisches Kommando und eroberte mit einer ungarischen Armee bosnische Ortschaften und Festungen, wobei er letztmals seiner sadistischen Lust des Pfählens frönen konnte: 8.000 Muslime sind angeblich gepfählt worden.
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Das Ende des Pfählers 1476 formten Vlad Țepeș und Ștefan cel Mare, der Woiwode des Fürstentums Moldau, eine Allianz und eroberten, unterstützt von ungarischen Truppen, die Walachei. Im November desselben Jahres wurde Vlad letztmals zum Woiwoden der Walachei ausgerufen. Einer der Konkurrenten Vlads, Basarab Laiotă, den Mehmed II. inzwischen als rechtmäßigen Herrscher der Walachei anerkannt hatte, fiel mit osmanischer Unterstützung in die Walachei ein. Vlad stellte sich zum Kampf. Doch diesmal verließ ihn sein Glück. Vlad starb im Kampf gegen diese vereinten Türkisch-Basarabschen Truppen um die Jahreswende 1476/77.15 Nach vorgeblich „sehr verlässlicher Quelle“ wurde Vlads 2.000 Mann starke Armee eingekesselt und nahe Snagow vernichtet.16 Die genauen Umstände seines Todes sind unklar: Entweder er fiel im Gefecht oder er wurde von einem Attentäter getötet. Der russische Staatsmann Fyodor Kuritsyn, der Vlads Familie nach seinem Tod besuchte, berichtet, dass der Woiwode – als Türke verkleidet – von seinen eigenen Truppen während der Schlacht irrtümlich getötet wurde. Dies erscheint möglich, weil Vlad sich öfters der Kriegslist bediente, sich als türkischer Soldat zu verkleiden.17 Laut dem Mailänder Botschafter Leonardo Botta zerstückelten die Osmanen Vlads Körper und sandten seinen Kopf, in Honig konserviert, zum Sultan nach Konstantinopel.18 Dort soll er – aufgespießt auf einer Stange – zur Schau gestellt worden sein (wie es am osmanischen Hof zur triumphalen Machtdemonstration mit den Häuptern gefallener Feinde Usus war). Sein Leichnam soll im Kloster von Snagov beigesetzt worden sein. Doch 1933 vorgenommene Ausgrabungen unter dem angeblichen Grabstein brachten außer Pferdeknochen nichts zu Tage, so dass man annahm, der Leichnam sei von dort später an einen unbekannten Ort verbracht worden. Diesbezügliche Nachforschungen in neuerer Zeit blieben ohne Ergebnis. Der genaue Ort seines Grabes ist unbekannt. Laut dem Historiker Constantin Rezachevici wurde der Pfähler höchst wahrscheinlich in der Kirche des Comana-Klosters begraben, die sich in der Nähe des Schlachtfelds befindet, wo er getötet wurde.19
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________________________________________________________ Monster oder Held?
Monster oder Held? Je nach Quelle schwankt Vlads Charakterbild in der Geschichte, d. h. je nachdem, aus welcher Perspektive berichtet wird. Während westliche und osmanische Quellen ihn als blutrünstigen, grausamen Tyrannen schildern, beschreiben ihn russische und besonders rumänische Quellen meist als strengen, aber gerechten Herrscher, der kaum oder nie sinnlose Gewalt angewandt habe. „Russische Bearbeitungen des (Drakula-)Stoffes betrachten Drakulas Grausamkeiten als Recht und Pflicht des gerechten und durch Rechtgläubigkeit legitimierten Selbstherrschers, skizzieren in Drakula also einen Herrschertyp, wie ihn im 16. Jahrhundert Ivan IV. ausprägt. Die deutsche Prosaerzählung dagegen gibt sich als pamphletartige Abschilderung eines maßlos grausamen Menschenschlächters, ist offensichtlich politische Zweckschrift …“20
In der rumänischen Folklore erscheint Vlad schon früh als glorreicher Held und Retter der Nation. So beschrieben seit Mitte des 19. Jahrhunderts viele rumänische Dichter und Schriftsteller Vlad als gerechten Herrscher und „realistischen“ Tyrannen, der Kriminelle bestrafte und aufsässige adlige Großgrundbesitzer (Bojaren) exekutierte, um die Zentralregierung zu stärken. In seinem Nationalepos Țiganiada präsentiert der Poet Ion Budai-Deleanu Vlad als Helden, der an der Spitze einer Armee von Engeln gegen Bojaren, Osmanen und üble Geister gekämpft habe.21 Der Dichter Dimitrie Bolintineanu hob Vlads triumphale Siege gegen die Türken hervor und betrachtete ihn als Reformer, dessen Gewaltakte notwendig gewesen seien, um den Despotismus der Bojaren zu unterbinden.22 Einer der bekanntesten rumänischen Dichter, Mihai Eminescu, widmete ihm eine Ballade, worin er Vlad aufforderte, aus dem Grab aufzuerstehen und die Feinde der rumänischen Nation zu vernichten.23 Es waren aber nicht nur die Dichter, die den Pfähler glorifizierten – auch rumänische Historiker pflegten das Narrativ vom ‚gerechten Herrscher‘. Sie lobten seinen Kampf für die Unabhängigkeit Rumäniens von osmanischer Dominanz und entschuldigten seine Gräueltaten als rationale Akte im nationalen Interesse.24 So hob Alexandru Dimitrie Xenopol hervor, dass Vlad die internen Kämpfe der Bojaren nur durch Terror beenden konnte, und Constantin C. Giurescu konstatiert: „Die Folterungen und Exekutionen, die [Vlad] befahl, geschahen nicht aus Laune, sondern immer aus Staatsräson.“25 Nur wenige Historiker wie z. B. Ioan Bogdan
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strickten nicht an Vlads Heldenimage. In seinem 1896 erschienen Buch Vlad Țepeș und die Deutschen und Russischen Narrative schreibt er: Anstatt Vlad als ein Muster „von Mut und Patriotismus“ darzustellen, sollte sich die Rumänen seiner schämen.26 Schon für die Zeitzeugen verwoben sich die Erzählungen von Drăculeas Grausamkeit und Blutgier auf der einen Seite sowie seiner Tapferkeit und Umsicht auf der anderen zum unentwirrbaren Geflecht eines höchst widersprüchlichen Charakters.27 In der russischen Dracula-Tradition wird sein Gerechtigkeitssinn hervorgehoben: so in der Erzählung von den beiden Mönchen, „die, nach Drakulas Ruf befragt, wahre und falsche Auskünfte geben; wofür der eine freigelassen, der andre aber hingerichtet wird.“28 Dracula sei zwar ein wüster Tyrann gewesen, habe „aber fest und streng Treu und Glauben gehalten; dazu tapfer und aufrichtig.“29 In Rumänien gilt Vlad III. Drăculea, Fürst der Walachei, heute wegen seines Kampfes gegen die türkischen Invasoren als Nationalheld, als erfolgreicher Feldherr, der den muslimischen Eroberern empfindliche Niederlagen beibrachte (wenn er auch den osmanischen Vormarsch letztlich nicht verhindern konnte). Vlads Grausamkeit gegen seine Feinde, seine perverse Lust am Pfählen sowie seine drakonischen Strafen selbst bei kleinsten Vergehen werden von der nationalen rumänischen Geschichtsschreibung entweder geleugnet oder mit seinem Bestreben entschuldigt, die äußeren Feinde abzuschrecken und im Inneren Zucht und Ordnung herzustellen. In der rumänischen Tradition wird Vlad III. seit jeher als mutig und tapfer beschrieben und zum gerechten Fürsten und Freiheitskämpfer verklärt, der seine Untertanen gegen die Übergriffe des Adels verteidigte und den Türken erfolgreich Widerstand geleistet hat. Zur Entstehung des Bildes vom grausamen Pfähler trugen diverse, aus christlicher Sicht verfasste Geschichten bei, wie sie z. B. in die Chronik der Stadt Konstanz eingingen. Dort lesen wir: „Frauen und Männer und Kinder, Jung und Alt, hat er auf dem Berg bei der Kapelle aufspießen lassen, […] er ist mitten unter ihnen zu Tisch gesessen und hat seine Freude daran gehabt.“30
Schilderungen von Vlads brutalen Tötungsmethoden erschienen schon früh in Flugschriften, so in den in Wien gedruckten Histori von dem pösen Dracol, der vil wunders und ubels begangen hat,31 auf die sich auch die Anekdoten in der Kaiserchronik, der Chronica regum Romanorum des Wiener Historikers
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____________________________________________________ Vom Pfähler zum Vampir
Thomas Ebendorfer, beziehen. Diese vielfach verbreiteten Anekdoten trugen dazu bei, dass sich das Stereotyp vom blutgierigen, pfählenden Fürsten verfestigte. Trotz seiner militärischen Erfolge gegen die Türken sollte Vlad wegen seiner Gräueltaten nicht an der Spitze eines von Papst Pius II. geplanten Kreuzzugs gegen die Osmanen stehen, denn „wer eine solche Lust am quälenden Töten habe wie Vlad, könne nicht das christliche Abendland repräsentieren.“32 In einer Bulle des Papstes Nikolaus V., in der er 1453 zum Kreuzzug gegen die Türken aufrief, wird der angebliche Blutdurst des Religionsstifters Mohammed mit der Blutgier Vlads parallelisiert. Darin heißt es, „Mahomet habe es nach christlichem Blut gedürstet, er sei ‚ein überaus grausamer und blutrünstiger Feind der Erlösung der Seelen durch Christus gewesen‘, der große Drache aus der Apokalypse des Johannes. Doch jetzt hat sich ein zweiter Mahomet erhoben, der christliches Blut vergießt.“33
In der christlichen Kreuzzugspropaganda wurden Vlads militärische Verdienste gegen die muslimischen Türken schlicht ignoriert.
Vom Pfähler zum Vampir Die mysteriösen Umstände seines Todes und die Unauffindbarkeit seines Grabes mögen zur Legendenbildung um die Gestalt des Pfählers beigetragen haben. Doch wie wurde aus Vlad III. Drăculea, Fürst der Walachei, der blutsaugende, grauenerregende Fürst der Vampire? Möglicherweise kann über das Pfählen eine Beziehung zum Vampirismus hergestellt werden. Denn im Volksglauben kann ein Vampir dadurch getötet werden, dass man ihm einen Pfahl ins Herz treibt.34 Es war der irische Schriftsteller Bram Stoker, der 1897 mit seinem Roman Dracula, in welchem er Vlad III. als „Graf Dracula“ zum Herrscher über alle Vampire und Wiedergänger erhöhte, den modernen Vampir-Kult einleitete.35 Mit Stokers Schauerroman war eine Legende geboren: Die Geschichte des berühmten Vampirs wurde immer wieder verfilmt und das Bild des Blutsaugers geprägt.36 Die Verbreitung des von Stoker geschaffenen Dracula-Bildes vom blutrünstigen Vampir erfolgte vor allem über Theaterstücke und zahlreiche Verfilmungen. Bereits im 19. Jahrhundert entstanden die ersten Vampir-Dramen und -Opern. Mal war der Graf die
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monströse Bestie, mal eine tragische Figur, der man menschliche Züge verlieh. Friedrich W. Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, ein Stummfilm von 1922 mit Max Schreck in der Hauptrolle, war der erste exemplarische Vampirfilm. Drehort waren auch die Karpaten. Murnau griff Motive aus Bram Stokers Roman auf, veränderte aber Namen und Orte, teilweise auch die Handlung. Mit seiner expressionistischen Darstellung des Unheimlichen und seiner genialen Kameraführung schrieb Murnau Filmgeschichte. Mit Klaus Kinski in der Hauptrolle des Horrorfilms Nosferatu – Phantom der Nacht drehte Werner Herzog 1979 aus dem Dracula-Stoff eine Hommage an Murnaus Stummfilm. Andere berühmte Dracula-Darsteller waren Bela Lugosi, Christopher Lee und Gray Oldman, der 1992 in Coppolas Horrorfilm Bram Stokers Dracula die Hauptfigur spielte. Roman Polanski drehte 1967 mit Tanz der Vampire eine Gruselparodie, in die viele humorvolle Elemente einflossen und die später eine Musicalfassung erhielt. Ein wahrer Vampirkult war entstanden. Mit dem historischen Vlad III., der die Aggression der Osmanen zwar grausam, aber erfolgreich bekämpfte, haben diese Horrorfilme nichts zu tun. Der Fantasyfilm Dracula Untold von Regisseur Gary Shore aus dem Jahr 2014 unterscheidet sich von seinen Vorgängern: Er behandelt eine fiktive Vorgeschichte des Romans von Bram Stoker und basiert sehr frei auf der Geschichte des realen Vlad III. Die zahlreichen Verfilmungen des Romans zeichnen Graf Dracula fast alle als blutrünstiges Monster, was der historische Vlad III. in der Tat ja auch war.37 Ungeachtet der Glorifizierung dieses Fürsten in der national-rumänischen Historiografie bleibt es ein Faktum, dass Vlad Țepeș ein Scheusal war, an das im kollektiven Gedächtnis zu Recht als sadistischer Tyrann erinnert wird.
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Christoph Kolumbus Mutiger Entdecker und goldgieriger Kolonisator
Der italienische Seefahrer Christoph Kolumbus (Cristóbal Colón, 1451–1506) betrat am 12. Oktober 1492 mit seiner Mannschaft als erster Europäer den Boden der „Neuen Welt“ und gilt als Entdecker Amerikas.1 Dieser mutige Seemann, der mit drei kleinen Schiffen den Atlantik überquerte, ist im Zuge der ‚Black-Lives-Matter‘-Bewegung ins Visier der Denkmalstürmer geraten. So wurde in Chicago eine Kolumbus-Statue auf Anweisung der Bürgermeisterin entfernt, weil es an ihr Zusammenstöße zwischen Polizisten und Demonstranten gegeben hatte. In Boston köpften unbekannte Täter eine Kolumbus-Statue, deren Rumpf bald darauf auf Anweisung des Magistrats entfernt wurde. Denkmäler von Kolumbus fielen auch in den US-Städten Baltimore, Boston, Miami, Richmond und San Francisco den Denkmalstürmern zum Opfer, sei es, dass sie gestürzt oder beschädigt wurden. In Richmond,
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wo man eine Kolumbus-Statue in einen Teich warf, hinterließen die Täter auf dem Fundament der Statue die Aufschrift „Kolumbus steht für Völkermord“. Auch in Los Angeles ließ der Stadtrat ein Denkmal des Seefahrers aus einem Park entfernen. Über 100 Schaulustige und Nachfahren von Ureinwohnern bejubelten das Abräumspektakel und dokumentierten es mit ihren Smartphones. Kolumbus sei zu sehr mit Sklaverei und Brutalität verbunden, als dass man ihn mit einem Denkmal ehren könne, verlautete der Magistrat. Historiker, Bürgerrechtler und Latinos kritisieren den Entdecker für sein gewalttätiges Verhalten gegenüber den Ureinwohnern Amerikas und dafür, entscheidend zum Sklavenhandel beigetragen zu haben. Vertreter indigener Gruppen fordern in den USA schon seit langem, dass der Kolumbus-Tag (USFeiertag am 12. Oktober) in „Tag der indigenen Völker“ umbenannt werden soll, um auf den angeblich von Kolumbus begangenen Völkermord an der nativen Bevölkerung Amerikas hinzuweisen. „Warum ist das überhaupt ein Feiertag, was wird da gefeiert? Dass ein Kolonialherr Massenmord verübt hat, neben etlichen anderen Dingen?“, fragte eine US-Userin auf Twitter.2 Der ehemalige bolivianische Präsident Evo Morales twitterte Glückwünsche an den Stadtrat von Los Angeles, nachdem dieser die Kolumbus-Statue hatte entfernen lassen; er stimme mit dem Stadtrat überein, dass die sogenannte Entdeckung ein Völkermord und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen war.3 Doch an Christoph Kolumbus scheiden sich die Geister. In der spanischsprachigen Welt, wo man ihn seit jeher als Nationalheld verehrt, wehrt man sich, den Heros vom Sockel zu stoßen. So sagte schon im Jahr 2017 der Präsident des öffentlichen Fernsehens, José Antonio Sánchez Domínguez, bei einer Rede im Amerikahaus in Madrid, „die Unterwerfung Amerikas nach dessen Entdeckung 1492 sei keineswegs ein kolonialistischer Akt gewesen, sondern eine zivilisatorische Leistung. Spanien habe den ‚barbarischen Völkern‘ schließlich Kirchen, Krankenhäuser und Schulen gebracht.“4 Besonders verärgert reagierte Spanien auf die Demontage seines größten Nationalhelden in den US-amerikanischen Städten. Die Tageszeitung El País erging sich in geschichtlichen Belehrungen und zitierte eine Reihe von spanischen Historikern, die das Bild eines völkermordenden und brutalen Kolumbus relativieren sollten. In Spanien ergriff sogar ein Repräsentant der Kirche, Luis Javier Argüello, der Weihbischof von Valladolid, das Wort: Das Ereignis von 1492 habe nichts mit Sklaverei und Völkermord zu tun. Es sei vielmehr „ein
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gegenseitiges Kennenlernen“ und „ein Zusammentreffen der Kulturen“ gewesen.5 Dass dieses Zusammentreffen zur Auslöschung der indigenen Völker führte, erwähnte der Bischof freilich nicht. Die Auftraggeberin dieser Entdeckungsfahrt, der spanischen Königin Isabella, die Kolumbus die Überquerung des Atlantiks finanziell ermöglicht hatte, habe ausnahmslos „integre und wohltätige Motive“ gehabt. Das ist jedoch eine geschönte Sicht der Dinge. Königin Isabella I., die fromme Sponsorin des Entdeckers, und ihr Ehemann König Ferdinand II. hatten handfeste kommerzielle Interessen: Sie wollten den Westweg nach Indien erforschen, um eine neue Handelsroute nach Indien und China sowie zu den Gewürzinseln zu finden, weil der Landweg wegen der Zollschranken zu teuer und die Ostroute von Portugal blockiert war. Und von einem friedlichen ‚gegenseitigem Kennenlernen und Zusammentreffen der Kulturen‘ kann überhaupt nicht die Rede sein. Es war ein brutaler clash of civilizations, ein Zusammenprall der Kulturen, wie er heftiger und tödlicher nicht hätte sein können.6
Vorgeschichte Schon seit dem Mittelalter wurden auf der Seidenstraße kostbare Güter wie Gewürze aus Indien und Seide aus China nach Europa transportiert, eine Landroute, die diese Waren wegen der hohen Binnenzölle zu extrem teuren Luxusgütern machte. Um den langen und gefährlichen Landweg zu vermeiden, hatten die Portugiesen bereits unter Prinz Heinrich dem Seefahrer begonnen, eine Seeroute nach Indien und zu den Gewürzinseln zu suchen. Ab 1418 wurden große Abschnitte der afrikanischen Küste bis um das Kap der Guten Hoffnung herum, die Südspitze Afrikas, erschlossen. Doch erst 1498 gelang es Vasco da Gama mit der Umrundung Afrikas, den Seeweg nach Indien zu entdecken. Damit brachen die Portugiesen das Monopol der Venezianer, die bisher den Handel auf der Seidenstraße beherrscht hatten. Um das ersehnte Indien zu erreichen, entschied sich Christoph Kolumbus für den Seeweg Richtung Westen. Allerdings war er sich über den wahren Umfang der Erde nicht im Klaren, sodass er nicht mit einer zwischen Asien und Europa liegenden Landmasse rechnete. In der Antike galten die Kanaren westlich von Afrika als Ende der bekannten Welt. Doch schon Aristoteles (384–322) hatte vermutet, dass es einen Seeweg von Westeuropa nach Asien
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Abb. 14: Nachbau der Santa Maria vor Madeira.
geben müsse. Allerdings glaubte er, dass Asien von Gibraltar aus in nur wenigen Tagen zu erreichen sei. Es gab Indizien, dass westlich von Europa eine Landmasse vorhanden sein müsse, denn immer wieder wurden Holzstücke und unbekannte Pflanzen an die Küste der südwestlich von Portugal im Atlantik liegenden Insel Madeira gespült. Hinzu kamen Berichte, dass auf den 1.500 km vor Portugal im Atlantik gelegenen Azoren fremdartig aussehende Leichen an die Westküste angespült worden waren. All diese Hinweise motivierten Kolumbus, auf dem Atlantik einen Seeweg nach Indien zu suchen, zumal er aus Dokumenten seines Schwiegervaters und den Logbüchern portugiesischer Seefahrer wusste, dass er für seine Atlantiküberquerung die stetig aus Osten wehenden Passatwinde nutzen konnte. Doch Voraussetzung für sein Vorhaben war, dass die Erde keine flache Scheibe war (wie das Volk noch meist glaubte), sondern eine Kugel. Die Tatsache, dass die Erde eine Kugelgestalt aufwies, war schon seit der Antike bekannt. Was freilich nicht
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bekannt war, war die Größe der Erde. Kolumbus verließ sich bei seiner Berechnung der Länge des Seewegs auf die Kalkulationen des italienischen Astronomen und Mathematikers Paolo dal Pozzo Toscanelli (1397–1482), mit dem er in Korrespondenz stand. Toscanelli unterschätzte jedoch die Größe des Globus gewaltig; seine Berechnung ergab eine um rund ein Viertel zu kleine Größe. Er hatte sich auch mit dem westlichen Seeweg nach Asien beschäftigt und war der Meinung, dass Indien in westlicher Richtung geografisch näher liege als über die Ostroute um Afrika herum.7 Von diesen Fehlkalkulationen abgesehen, schienen alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Atlantiküberquerung gegeben, und für Kolumbus gab es genügend Gründe, sein Vorhaben den spanischen Monarchen zu unterbreiten. Mit großer Zähigkeit und Beharrlichkeit gelang es ihm schließlich, König Ferdinand und Königin Isabella für sein Unterfangen zu gewinnen. Wer war also dieser Entdecker, der heute die Gemüter so heftig erregt? Treffen die Vorwürfe der Denkmalstürmer zu? Ist Kolumbus verantwortlich für die Verbrechen, die die Konquistadoren in seiner Nachfolge an den Völkern Südamerikas begangen haben? Hat er selber Verbrechen an den Indigenen verübt? Wer war dieser kühne Seemann, der mit drei Segelschiffen auf einen unbekannten Ozean hinausfuhr und dabei sein Leben und das seiner Leute riskierte, besessen von der Idee, man könne Indien erreichen, wenn man nur weit genug nach Westen segelte? Christoph Kolumbus war ein italienischer Seefahrer in spanischen Diensten. Er sollte den Seeweg nach Westen erschließen und unterwegs neu entdeckte Länder im Auftrag der spanischen Krone in Besitz nehmen. Zwar erreichte Kolumbus auf seiner Entdeckungsreise nicht Indien, sondern die Inseln der Karibik (u. a. Kuba, Hispaniola, heute Haiti und Dominikanische Republik), aber der Bann war gebrochen. Die ‚Alte Welt‘ war alarmiert: ungeheure Möglichkeiten taten sich auf; jenseits des Atlantiks gab es Land, das es zu kolonisieren galt, mit der Aussicht auf Ruhm und Reichtum. Erst auf seiner vierten Reise über den Atlantik betrat Kolumbus amerikanisches Festland – noch immer ohne zu erkennen, dass es sich um einen bis dahin unbekannten Kontinent handelte. Diese Auffassung vertrat erst Amerigo Vespucci, nach dem die Neue Welt schließlich benannt wurde. Was trieb den kühnen Entdecker an? Was waren seine Motive? Waren es Entdeckerdrang, Ruhmsucht, die Gier nach Gold oder schlicht die pflichtgemäße Erfüllung eines Auftrags im Dienst der spanischen Krone? Oder war es
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der missionarische Eifer, die Heiden zum Christentum zu bekehren, wie ihm die fromme Königin Isabella ans Herz gelegt hatte? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich, die Eintragungen seines Bordbuches zu Rate zu ziehen.8
Das Bordbuch: Die Jagd nach dem Gold beginnt Am Samstag, den 13. Oktober 1492, also nur ein Tag, nachdem er den Fuß auf das neue Land gesetzt hat, schreibt er: „Ich bemerkte – und nicht nur ich –, daß manche Indianer die Nase durchlöchern und in die so entstandene Öffnung ein Stück Gold gesteckt haben. Sie tauschen das Gold, das sie offenbar für wertlos ansehen, gern gegen Glasperlen ein, doch verbot ich diesen Tauschhandel sofort; das Gold gehört der Krone allein! Ich fragte die Eingeborenen, woher das Gold stamme, und erfuhr, dass es auf ihrer Insel gefunden werde, in geringen Mengen nur, während es im Süden ein Reich gebe, wo ein König aus großen Gefäßen aus purem Gold esse und trinke.“9
Bei den im Bordbuch dokumentierten ersten Begegnungen mit den Eingeborenen geht es Kolumbus tatsächlich nur um eines: Gold. Wie er betont, gehört das eingetauschte Gold jedoch nicht ihm oder den Matrosen, sondern der spanischen Krone. Auf jeder Insel, auf der er landet, forscht der Entdecker sofort nach der Herkunft des Goldes, das die Eingeborenen oft als Schmuck tragen, freilich nur in geringen Mengen. Am Montag, den 15. Oktober landet er auf einer Insel, der er den Namen Maria de la Conceptión gibt. Auch dort fragt er sofort nach Gold. Er schreibt: „Knapp vor Sonnenuntergang warfen wir vor ihrer Küste Anker. Auch hier empfingen uns die Indianer mit Geschenken. Wir fragten sofort nach Gold und erfuhren, daß auf einer weiter im Süden gelegenen Insel die Eingeborenen goldene Fuß- und Armspangen trügen.“10
Und so geht es weiter: Am Dienstag, den 16. Oktober landet er auf der Insel Fernandina (das heutige Long Island) und findet auch dort kein Gold, ebenso am 18. Oktober auf Saometo. Am 21. Oktober lesen wir im Bordbuch: „Ich hörte von einer anderen großen Insel, die von den Indianern einmal Colba und dann wieder Cubagua genannt wird. Dort soll es nicht nur Überfluss an Gold, Perlen und Spezereien geben, sondern auch große Schiffe, die voll mit Waren beladen sind.“11
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________________________________ Das Bordbuch: Die Jagd nach dem Gold beginnt
Gemeint ist Kuba, wo es tatsächlich Goldvorkommen gibt. Freilich kann Kolumbus auch dort nur geringe Goldmengen auftreiben. Das von ihm auf verschiedenen Inseln eingetauschte Gold stammte wohl meist von dort. Da die indigenen Völker der Karibik kein Metallschmelzverfahren zur Erzverhüttung kannten, gewannen sie das Gold aus Goldwäscherei an den Flüssen der Insel. Die Kontakte verlaufen friedlich, wie Kolumbus vermerkt: „Die Eingeborenen sind ohne Zweifel gutmütig und sanft […]. Ihr Anblick ist für uns ebenso überraschend, denn sie unterscheiden sich von allen Menschenrassen, die wir bisher gesehen haben. […] Sie gehen umher, nackt wie Gott sie geschaffen hat, Männer sowohl wie Frauen, und bemalen ihre schöngeformten Körper mit grellen Farben“.12
Es sieht für Kolumbus und seine Leute so aus, als hätten sie das Paradies gefunden. Er verbietet seiner Mannschaft, irgendetwas an sich zu nehmen, denn er „will die Freundschaft der Bewohner gewinnen. Es gilt nun zu beweisen, dass wir keine räuberische Expedition des Groß-Khans sind.“13 Am 17. Dezember landet Kolumbus auf der Schildkröteninsel. Im Logbuch heißt es: „Es gelang mir auch, Glasperlen gegen zu dünnen Blättern geschlagene Goldstücke einzutauschen. Wieder hörte ich von der Insel Babeque und von ihren reichen Goldschätzen. Der Kazike der Schildkröteninsel versicherte mir, daß man mit einem guten Canoe bis Babeque nur vier Tage brauche“.14
Am 18. Dezember heißt es im Bordbuch: „Von dem alten Mann, der die Indianer anführte, bekam ich auf meine Frage nach Gold die Antwort, daß sich am Ostende der Insel ein Dorf namens Cibao befinde, wo die Bewohner goldene Fahnen besäßen. Und noch weiter ostwärts, versicherte er, liege eine Insel, die überhaupt ganz aus Gold sei.“15
Aber wegen völliger Windstille kann der eifrige Goldsucher weder Babeque noch Cibao anlaufen. Und so geht es weiter. Er wird von den Eingeborenen, die kein Gold oder nur geringe Mengen davon besitzen, von Insel zu Insel geschickt. Ein Muster ist erkennbar: Indem die Indigenen dem Goldsucher auf anderen Inseln gewaltige Vorkommen des begehrten Edelmetalls vorgaukeln und ihn dorthin schicken, gelingt es ihnen, die unheimlichen bärtigen Besucher mit ihren großen Schiffen möglichst rasch loszuwerden. Fakt ist: Die ersten Monate seit seiner Entdeckung der Neuen Welt waren völlig der Goldsuche gewidmet. Die großartige Pflanzen- und Tierwelt stand nicht im Fokus seiner Erkundungen, obwohl die Erschließung der neuen Route zum Ursprung der in Europa begehrten Gewürze (Pfeffer, Muskat, Anis, Zimt
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etc.) der eigentliche Zweck seiner Mission war. Doch die Entdeckung, dass es in der Neuen Welt Gold gab, vielleicht sogar in riesigen Mengen, änderte alles. Die Suche nach den ‚Spezereien‘ geriet darüber völlig in den Hintergrund. Der Goldrausch war erwacht. Am 25. Dezember ereignete sich eine Katastrophe: Das Flaggschiff, die Santa Maria, lief vor Hispaniola auf Grund und konnte nicht mehr flott gemacht werden. Kolumbus beschließt, hier an der Küste seine erste Siedlung zu gründen. Aus den Trümmern des gestrandeten Schiffes wird eine Festung mit Palisaden errichtet, La Navidad genannt. Laut Eintragung vom 26. Dezember verspricht der Kazike namens Guacanagari Kolumbus „große Mengen Goldes herbeischaffen zu lassen“. Alles leere Versprechungen; nur kleinste Mengen Gold können gegen wertlose Glasperlen eingetauscht werden. Am 10. Januar trifft Kolumbus auf einen anderen Eingeborenenstamm, angeblich Kannibalen: „Ich wartete darauf, daß uns die Kannibalen angreifen würden, doch der erwartete Angriff blieb aus. Die Wilden kamen zögernd näher und faßten Vertrauen zu uns. Ich erfuhr von ihnen, daß im Osten eine Insel namens Mantinino liege, die nur von Frauen bevölkert sei. Einmal jährlich darf diese Insel von Männern betreten werden, damit für den Nachwuchs gesorgt wird. Die Knaben werden den Männern übergeben, die Mädchen bleiben bei den Müttern. Der Häuptling versicherte mir auch, daß es sowohl auf Mantinino als auch auf anderen im Osten gelegenen Inseln – vor allem auf Guanin – so viel Gold gebe, daß wir außerstande sein würden, alles auf unsere Schiffe zu verladen.16
Doch auch diese Information erweist sich als Chimäre, genauso wie die Geschichte von den Amazonen. Kolumbus’ Jagd nach dem Gold und seine Suche nach dem ersehnten Eldorado, der Insel aus purem Gold, von der die Eingeborenen ständig sprachen, blieb vergeblich. Doch die Goldgier war erwacht, bei ihm genauso wie bei seiner Mannschaft.
„So gute Freunde, dass es eine helle Freude war.“ Kolumbus vermied Gewaltanwendung gegenüber den Indigenen, wie aus mehreren Stellen seines Logbuchs hervorgeht. Er berichtet: „Sofort sammelten sich an jener Stelle zahlreiche Eingeborene der Insel. In der Erkenntnis, dass es sich um Leute handle, die man weit besser durch Liebe als mit dem Schwert retten und zu unserem heiligen Glauben bekehren könne, gedachte ich sie mir zu Freunden zu machen und
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________________________________ „So gute Freunde, dass es eine helle Freude war.“ schenkte also einigen unter ihnen rote Kappen und Halsketten aus Glas und noch andere Kleinigkeiten von geringem Wert, worüber sie sich ungemein erfreut zeigten. Sie wurden so gute Freunde, dass es eine helle Freude war.“17
Doch an jenem 10. Januar bei den angeblichen Kannibalen kommt es zu einem Zwischenfall, bei dem erstmals Blut vergossen wird: „Ich sah selber vom Deck aus, wie rasch alles vor sich ging. Kaum hatten meine Matrosen – es waren sechs – das Land betreten, sprangen auch schon etwa fünfzig mit Keulen und Schwertern bewaffnete Wilde hinter den Bäumen hervor und griffen an. Zwei von ihnen schwangen Stricke, offenbar um meine Leute zu fesseln und fortzuzerren. Aber sie kamen schlecht an. Im Nu hatten die Matrosen ihre Schwerter gezückt und hieben auf die Angreifer ein. Schon nach wenigen Minuten gaben die Kannibalen Fersengeld, laut schreiend und ihre Waffen zurücklassend.“18
Davon abgesehen, dass es sich bei den Angreifern nicht um „Kannibalen“ handelte, sondern um den Stamm der Kariben (eines der vielen Missverständnisse, die Kolumbus mangels Dolmetscher bei seiner ersten Reise unterliefen), berührte ihn der Zwischenfall schmerzlich. Er fährt im Logbuch fort: „Nichts könnte mich mehr schmerzen, als daß heute zum ersten Mal auf diesen glücklichen Eilanden von weißen Männern das Blut der Eingeborenen vergossen wurde. Aber mich trifft keine Schuld, und ich weiß nun, daß es doch notwendig war, La Navidad zu erbauen und eine Kanone auf Hayti zurückzulassen.“19
Ob Kolumbus von diesem Blutvergießen tatsächlich tief berührt war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedenfalls war dies der Auftakt zu viel schlimmerem Blutvergießen durch weiße Männer in der Karibik. Kritiker sehen in dem für die spanische Krone bestimmten Bordbuch vor allem ein Instrument der Selbstdarstellung des Entdeckers. Seine Haltung gegenüber den Indios ist von Anfang an ambivalent. Jakob Wassermann, ein Biograf und früher Kritiker des Entdeckers, schreibt über die Indigenen: „Einerseits kann er ihre Naturhaftigkeit und Unverdorbenheit nicht genug rühmen, andererseits zerbricht er sich fortwährend den Kopf, wie er möglichst viel Profit aus ihnen ziehen kann, denn er betrachtet sie ja als sein Eigentum, in erster Linie als seines und dann erst als das der spanischen Krone. Am liebsten möchte er durch die Folter aus ihnen herausfragen, was er zu wissen begehrt.“20
Doch dieser angebliche Folterwunsch des Admirals ist eine Unterstellung. Er lässt sich aus den Quellen nicht erschließen. Was Kolumbus freilich zu wissen begehrt, ist die Herkunft des Goldes, von dem er nur kleine Proben zu sehen bekommt. Doch obwohl er von nichts
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anderem spricht und träumt als von Gold, nach dem er geradezu lechzt, versucht er nicht, dessen Ursprung aus den Indios gewaltsam herauszupressen – anders als seine Nachfolger in der Neuen Welt wie z. B. der Konquistador Pizzaro. Auch was seine vermeintliche Goldgier angeht, gibt es Zweifel: „Man kann auch nicht von der Habsucht des Columbus reden, wie es oft geschehen ist,“ schreibt Jakob Wassermann, „sein unstillbares Verlangen nach Gold hat eine andere Wurzel als die gemeine Gier. […] [E]r betrachtet es als Tribut, das ihm das Schicksal schuldig ist, er braucht es zu seiner Bestätigung.“21 Denn der Genuese durfte nicht mit leeren Händen, d. h. ohne Gold, nach Spanien zurückkehren: Es genügte nicht, exotische Tiere und Früchte mitzubringen und sie dem königlichen Paar, insbesondere seiner Gönnerin Königin Isabella, zu präsentieren. Zu hoch war die Investition in sein Unternehmen. Nur wenn er die Investoren schadlos halten konnte, wenn er das aufgewendete Kapital mit Zins und Zinseszins zurückerstattete, würde er die Zweifler und Neider zum Schweigen bringen. „Darum“, schreibt Wassermann, „scharrt er Gold zusammen mit allen Mitteln, auf allen Wegen, denn Gold ist die einzig sinnfällige Wirklichkeit, mit der er sich legitimieren und verständlich machen kann, Herzextrakt des entschleierten Mysteriums und Inbild seiner Tat.“22 Tatsächlich kann er bei seiner Rückkehr dem Hofstaat einiges Gold vorweisen, das er den Eingebornen gegen billigen Tand wie Glasperlen und Messingglöckchen abgehandelt hatte: Gold in Körnern, Gold in Erzstufen, Goldstaub und verarbeitetes Gold in Münzen, Ringen, Platten, Masken und Halsketten. Damit ist der Bann gebrochen. Es heißt, Königin und König prüften eigenhändig die Schwere des Metalls und wurden nicht müde, den Schilderungen des Entdeckers zu lauschen. Als Belohnung bestätigte der König alle dem Entdecker vertraglich zugesicherten Rechte; zudem erhielt er den erblichen Titel Don, den damals nur Adlige führen durften, und bekam ein eigenes Wappen. Die Entdeckung des neuen Erdteils war ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Ein neues Zeitalter war angebrochen: „Ganz Europa geriet in unbeschreiblichen Taumel,“ schreibt Wassermann, „das Bewährte wankte, tausendjährige Grenzen waren aufgehoben, Armut schien kein unbesiegliches Los mehr, es gab Raum, es gab Wege, es gab neue Erfüllungen, der Name Columbus wurde dem Bettler in Dänemark so geläufig wie dem Leibeigenen in Russland und der Dirne in Rom.“23 Kolumbus war am Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Neben seiner Erhebung in den Adelsstand
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wurde er zum Vizekönig der neu entdeckten Ländereien ernannt. Demgemäß gestaltete sich seine zweite Reise in die Neue Welt völlig anders als die erste, bei der er mit drei Karavellen unter größten Mühen ins Ungewisse gesegelt war. Als er am 25. September 1493 von Cádiz in See stach, hatte er eine stolze Flotte, bestehend aus drei großen Schiffen und 14 Karavellen. Die Flotte hatte ca. 1.300 Mann an Bord, darunter Beamte, Soldaten, Missionare und Siedler; auch Pflanzen, Saatgut und Nutztiere – alles Personal und Material zur dauerhaften Kolonisierung der neuen Ländereien. Kolumbus, der ohnehin von der Friedfertigkeit der Indios überzeugt war, erhielt die königliche Direktive, die Bekehrung der ‚Indios‘ gewaltlos zu erreichen und in Frieden mit ihnen zusammenzuleben. Diesmal ging die Fahrt nicht ins Ungewisse, sie hatte ein Ziel: Eldorado, die Inseln aus purem Gold, wie die Eingeborenen dem leichtgläubigen Admiral vorgegaukelt hatten. Ein wahrer Goldrausch brach an Bord der Schiffe aus: „El Dorado! Schon immer hat man von diesem Land geträumt, und nun hat es Kolumbus, der kühne Genuese, gefunden. Gold! Alle auf den siebzehn Schiffen denken an Gold, die Ritter ebenso wie die Glücksritter, die Seeleute ebenso wie die Kaufleute, die Abenteurer wie die königlichen Beamten. Gold! Sie glauben es schon greifen zu können, […] Gold! Am Ende einer unbekannten Wasserwüste liegt es, und Kolumbus kennt den Weg. Sie wissen alle nicht, daß kein Gold auf sie wartet.“24
Nicht nur würden sie kein oder nur sehr wenig des begehrten Edelmetalls finden; auf sie warteten Entbehrungen, Frustration und der Tod. Entscheidend für den weiteren Verlauf des großen Kolonisierungsprojektes war die Art und Weise, wie die ersten Zusammentreffen verlaufen würden. Und diese verliefen schlecht. Der Erstkontakt der Europäer mit der indigenen Bevölkerung war ein veritabler „Zusammenprall der Kulturen.“
Blutige Konfrontation Das Grundübel, das die gesamte Conquista Südamerikas überschattete und letztlich fast zur völligen Auslöschung der Urbevölkerung führte, war der Rassismus der spanischen Eroberer. Es war die abgrundtiefe Arroganz der ‚Weißen‘ gegenüber den ‚Farbigen‘, die als minderwertige Wilde eingestuft wurden. Der Dominikaner Las Casas, dem wir authentische Berichte der von den Spaniern an den Indigenen verübten Gräueltaten verdanken, bezeichnet
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dieses Ereignis als die „erste Ungerechtigkeit und den Anfang des großen Blutvergießens.“25 Die von Kolumbus in der ‚Festung‘ La Navidad zurückgelassenen Siedler, ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Abenteurern, ehemaligen Sträflingen und Glücksuchern – der Abschaum Europas – betrachteten die Indios von Anfang an als ihr Eigentum, als ihre Beute, mit der sie nach Gutdünken verfahren konnten wie „die Jäger mit herrenlosem Wild.“26 Diese Einstellung führte in La Navidad zur Katastrophe. Mit Gewalt vonseiten der Eingeborenen hatte Kolumbus nicht gerechnet, denn er war von ihrer Wehr- und Harmlosigkeit überzeugt. Im Kolumbus-Brief vom Frühjahr 1493 heißt es noch: „Doch selbst wenn sie ihre Haltung ändern sollten und den Männern, die in ihrer Festung zurückgeblieben sind, schaden wollten, wären sie dazu nicht in der Lage. Sie haben nämlich keine Waffen, laufen nackt umher und sind übertrieben furchtsam. Daher können auch schon die wenigen Männer, die in unserer Festung die Stellung halten, mühelos die gesamte Insel ohne irgendwelche Bedrohung für sich selbst beherrschen, solange sie nur die Gesetze und Verordnungen, die wir erlassen haben, nicht übertreten.“27
Doch genau dies geschah in Abwesenheit des Admirals. Als er am 28. November wieder auf Hispaniola landete, war die kleine Kolonie La Navidad zerstört und die 38 Kolonisten waren tot. Die ‚Gesetze und Verordnungen‘, die Kolumbus vor seiner Abfahrt erlassen hatte und die den Frieden garantieren sollten, waren offensichtlich missachtet worden. Was war geschehen? Biograf Jakob Wassermann schildert, wie die Bluttat aus den Quellen rekonstruiert wurde: „Da es ein symptomatischer Vorgang ist, braucht es nicht viel Scharfsinn, um die Gründe zu erraten, die zur Tötung der achtunddreißig Kolonisten geführt haben. Alles ist so klar, als sähe man es in einem Spiegel. Ein Haufen Kerle, ohne Zucht, ohne Gefühl, ohne sozialen Halt; vom ersten Tag an treten sie als Fordernde auf, frech und beleidigend. Sie fordern Nahrung, sie wollen bedient sein, sie wollen es bequem haben, und wenn sie nicht blinden Gehorsam finden, wenden sie Gewalt an. Was sind denn diese Indios in ihren Augen? Tiere, gutmütige dumme Tiere, man kann sich alles gegen sie erlauben, schon deswegen, weil es keine Christen sind.“28
Wassermann zeichnet ein scharfes Portrait der von Kolumbus auf La Navidad zurückgelassenen Siedler, ein Psychogramm, das ihre Mentalität treffend beschreibt. Deswegen sei es hier ausführlich zitiert, vor allem auch deshalb, weil es für die menschenverachtende Haltung der nachfolgenden Generationen von Kolonisatoren typisch ist. Weil es unsicher war, ob der Admiral,
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der sie fern der Heimat einem ungewissen Schicksal überlassen hatte, überhaupt zurückkehren würde, sollten ihnen, schreibt Wassermann, „die verachteten Wilden Entschädigung verschaffen für die Qual des Wartens und Ausgesetztseins im unendlichen Ozean. Der Preis, mit dem sie bezahlt sein wollen, ist Gold. […] Jede Geste, jeder Blick fordert Gold, jedes Wort, jede Handlung zielt darauf ab. Mit der Zeit macht sich daneben noch ein physischer Übelstand bemerkbar, und gerade der schwillt zur Katastrophe an und wird ihr Verderben. Sie sind ohne Frauen. Sie sind aber nicht gesonnen, wie heilige Mönche zu leben. […] [W]as man braucht, nimmt man einfach mit Gewalt […], wozu soll man sie denn schonen, diese Wilden, sind sie doch nicht besser als das liebe Vieh, sie müssen einem noch dankbar sein, wenn man ihre hübschen Weiber für wert hält, eines Europäers und katholischen Christen Bett zu teilen, sei er auch drüben aus einem Bagno ausgebrochen.“29
Was anfangs einzelne Vergewaltigung gewesen sein mag, heimlicher Übergriff, wurde allmählich zum täglichen Gewohnheitsverbrechen: „[M]an hat gar keine Angst mehr, daß diese Indios, die trotz des ihnen zugefügten Schimpfs immer noch artig grüßen und freundlich antworten, sich ernstlich zur Wehr setzen könnten.“30
Doch das können sie, und sie tun es. Ihrer sind Tausende, die Siedler nur 38 Mann; sie haben keine Chance, als die Indios über sie herfallen. Alle historischen Quellen stimmen darin überein, dass die Bluttat der Eingeborenen ein Resultat der Übergriffe der marodierenden Kolonisatoren war, die mordend, raubend und Frauen schändend durch die Insel gestreift waren. Doch es muss festgehalten werden: Kolumbus trifft hier keine Schuld. Die Bluttat geht nicht auf das Versagen des Admirals zurück, der ‚Gesetze und Verordnungen‘ erlassen hatte, um einen friedlichen Umgang mit den Indigenen zu gewährleisten.
Die Versklavung der Indigenen Nur wenige Historiker haben sich die Mühe gemacht, „diesen unheilvollen Beginn der Kolonisation Amerikas ehrlich und ungeschminkt darzustellen,“ schreibt Kolumbus-Biograf Wassermann, „alle sind mit ein paar nichtssagenden Phrasen darüber hinweggegangen, als ob es zu den zwar beklagenswerten, jedoch unvermeidlichen Übeln der Länderentdeckung ge-
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Aufschlussreich ist in diesem Kontext die Rolle der katholischen Kirche. In einem Dokument des Vatikans, das von Wassermann als „vollendete Vereinigung von abgründiger Verlogenheit und erpresserischer Offenherzigkeit“ bezeichnet wurde,32 verspricht der Papst den Indigenen, dass sie mit Liebe und Güte behandelt, frei von Knechtschaft und im Besitz ihres Hab und Guts bleiben werden, wenn sie sich zum ‚heiligen Glauben‘ bekehren lassen und ihre Gehorsamspflicht gegenüber dem König erfüllen. Doch dann lässt der Papst die Maske fallen und droht unverhohlen: „Wenn ihr euch aber weigert oder wenn ihr böswillig meinen Ermahnungen gegenübertretet, dann werde ich auf Befehl Gottes mit Gewalt über euch kommen und euch mit dem grausamsten Krieg überziehen. Ich werde euch unter das Joch der Kirche und des Königs beugen, eure Weiber und Kinder wegnehmen und darüber verfügen, wie es dem König beliebt. Außerdem nehme ich euer Eigentum weg und bereite euch alles Übel, was ich kann, wie rebellischen Untertanen, die sich weigern, ihrem legitimen Herrn Folgsamkeit zu erweisen. Ich erkläre im Voraus, daß alles vergossene Blut und alles Unheil, das eurer Widersetzlichkeit entspringt, euch allein zur Last fällt und nicht Seiner Majestät noch mir noch denen, die mir dienen. Deshalb ist euch diese Deklaration und Requisition gemacht worden, und ich ersuche den gegenwärtigen Notar, mir die nötige Bestätigung hierüber auszustellen.“33
Damit machte sich die katholische Kirche zum Handlanger der weltlichen Macht. Mit diesem amtlichen Dokument, das den Indios auf Spanisch vorgelesen wurde, legitimierte sie im Voraus alle Untaten der Kolonisatoren, die sich, wie man nach dem Vorfall von La Navidad wusste, beinahe zwangsläufig aus der gewaltsamen Landnahme ergeben würden. Der Versklavung der Eingeborenen stand nun wenig im Wege. Zwar wollte Königin Isabella von Kastilien die neuen Untertanen nicht versklaven, zumal dann, wenn sie sich taufen ließen, aber da es sich laut Kolumbus auf manchen Inseln um menschenfressende Wilde handelte, war der Versklavung der Eingeborenen Tor und Tür geöffnet. Unsere Leitfrage lautet: War Kolumbus für die Versklavung der Indigenen verantwortlich? Stimmt der Vorwurf seiner Kritiker, der Entdecker der Neuen Welt sei der Türöffner für Sklaverei in Lateinamerika gewesen? Fakt ist: Weil er die versprochenen großen Goldmengen nicht an die Krone liefern konnte, musste sich sein Kolonisierungsprojekt für den spanischen Hof auf
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andere Weise rentieren. Und da kamen die Eingeborenen ins Spiel: Er kann sie zu Handelsobjekten machen und so zur Konsolidierung des Staatsschatzes beitragen. Vorsichtig tastet er sich an das heikle Thema heran, wohl wissend, dass die fromme Königin der Versklavung ihrer neuen Untertanen abgeneigt ist. Heuchlerisch schreibt Kolumbus an den spanischen Hof: „Mit Recht wünschen Eure Hoheiten, daß wir den Indios die Lehren unseres heiligen Glaubens mitteilen, aber wir haben die Kenntnis ihrer Sprache nicht, und so schicke ich mit Senor de Torres eine Anzahl Männer, Frauen, Knaben und kleine Mädchen nach Spanien, die ihre Hoheiten solchen Personen anvertrauen mögen, die ihnen den besten Unterricht vermitteln und sie in allerlei Arbeit unterweisen können. Je nach ihrer Führung könnte man sie dann im Rang gegen die anderen Sklaven erhöhen und einen mit der Leistung des anderen anspornen. Da von den Inseln die der Kannibalen die größten und volkreichsten sind, scheint es ratsam, Leute von dorther nach Kastilien zu befördern, damit sie die barbarische Gewohnheit, Menschenfleisch zu verzehren, alsbald aufgeben. Je eher sie die spanische Sprache erlernen, je eher werden sie getauft, und je eher wird das Heil ihrer Seelen gerettet werden.“34
Hier spricht der Admiral offen von ‚Sklaven‘, sogar von einer Sklavenhierarchie. Scheinheilig empfiehlt er die Versklavung der ‚Kannibalen‘ und tarnt dies unter dem Deckmantel der Christianisierung als eine Art Zivilisationsprojekt. Stellte er die Versklavung der Eingeborenen zunächst als moralische Pflicht hin (Bekehrung zum Christentum), so kommt Kolumbus bald auf die ökonomische, sprich merkantile Seite des Projekts zu sprechen, sein eigentliches Anliegen. Da sie nicht so viel Gold liefern können, wie man von ihnen erwartet, sollen die Eingeborenen mit sich selber an Goldes statt Zahlung leisten. Als Kompensation für die ausbleibenden Goldlieferungen verweist der Admiral auf die lukrative Seite des Sklavenhandels. In einem weiteren Schreiben an den spanischen Hof lässt er die Katze aus dem Sack: „Zum Heile der Seelen hiesiger Einwohner ist uns eingefallen, daß es je besser ist, je weiter man sie fortbringt, und so könnte für den Dienst Ihrer Hoheiten auf folgende Weise gesorgt werden. Da das Bedürfnis an Vieh und Saumtieren hier sehr groß ist, könnten Ihre Hoheiten eine Anzahl Karavellen ermächtigen, jährlich Herden herüber zu bringen. Dies Vieh könnte den Überbringern zu angemessenem Preis abgekauft und mit indianischen Sklaven bezahlt werden, denn es sind zwar wilde, aber anstellige, kluge und gut proportionierte Menschen, die sich nützlicher als alle andern Sklaven erweisen werden. Sobald sie ihre Heimat aus dem Gesicht verlieren, werden sie sich ihrer Grausamkeit entwöhnen. Man kann sie zum Rudern der Galeeren verwenden, darauf verstehen sie sich trefflich, und Ihre Hoheiten können von ihnen einen Einfuhrzoll erheben.“35
Sogar als Galeerensklaven, der grausamsten Art der Sklaverei, will Kolumbus die Indigenen verwenden. Zunächst widersetzte sich Königin Isabella dem
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Ansinnen des Entdeckers, dem konzessionierten Menschenhandel Tür und Tor zu öffnen. Doch dem Druck der Investoren und deren Gier auf Lieferung billiger Arbeitskräfte kann sie nicht lange widerstehen. Der Vorschlag des Admirals wird aufgegriffen und die Spanier beginnen, Hunderte von Indios ins Mutterland zu verfrachten. Besonders der Bruder des Kolumbus, Atelandato Bartolomé, schickt alsbald zahlreiche mit Sklaven vollgeladene Schiffe nach Spanien. Doch die entwurzelten Eingeborenen starben alle binnen kurzer Zeit. Das Sklavenhandelsprojekt war gescheitert. Sklaverei war zu Kolumbus’ Zeiten nichts Ungewöhnliches. Schon der griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) hatte sich in einem Teil seines umfassenden Werkes zur Frage der Sklaverei geäußert. Aristoteles galt im Mittelalter bis in die Renaissance als absolute Autorität in allen Fragen der Philosophie, die damals Politik, Ästhetik, Ethik, Physik und Metaphysik umfasste. Seine Theorie der „Sklaven von Natur“, also der von Natur gegebenen Sklaverei, war jahrhundertelang eine grundlegende Idee in der europäischen Geistesgeschichte. Der Gedanke, dass gewisse Gruppen von Personen oder ganze Ethnien von Natur aus minderwertig seien, lässt sich von Aristoteles über Thomas von Aquin, die Sozialdarwinisten des 20. Jahrhunderts und die Nationalsozialisten bis zu Winston Churchill feststellen.36 War bereits in der griechisch-römischen Antike Sklaverei etwas ganz Normales, so wurde sie später von den Arabern praktiziert, dann auch von den Kolonialmächten (insbesondere in den afrikanischen Kolonien). Dennoch verfügte die spanische Krone im Jahr 1500 ein (vorübergehendes) Verbot des Sklavenhandels in der Karibik, freilich mit Ausnahme der vermeintlich kannibalischen Kariben, deren Versklavung 1503 von der Königin autorisiert wurde. Damit war dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, denn überall dort, wo wegen der klimatischen oder geografischen Verhältnisse keine Kolonisierung stattfinden konnte, wurden die Indios schlicht zu Kannibalen erklärt, die man ungestraft deportieren und versklaven konnte. „Der Kannibalismus-Vorwurf wurde zum wohlfeilen und weidlich genutzten Argument zur Legitimation des ‚gerechten Krieges‘ und damit für die Versklavung der Indigenen.“37 De jure blieben die Eingebornen allerdings dort frei, wo sich die Spanier dauerhaft niederließen, z. B. auf Hispaniola. Doch Zwangsarbeit im Encomienda-System, eine Form der Ausbeutung, die sich bald in ganz Südamerika verbreitete, unterschied sich kaum von der Sklaverei: Die spanische Krone übertrug den Kolonisatoren Encomiendas, d. h. ausgedehnte Landgüter
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(Latifundien), als Lehen samt den dort lebenden Indigenen. Die Übertragung schloss die Pflicht des Encomenderos ein, ‚seine‘ Indigenen zu taufen und zu schützen. Diese waren zur Arbeit für und zu Tributen an ihren Herrn verpflichtet, jedoch rechtlich keine Sklaven.38 1505 wurden erstmals afrikanische Sklaven auf Hispaniola eingeführt, um die durch Krankheiten und Massaker dezimierten Indios zu ersetzen. Doch das genügte nicht, und im Jahr 1509 wurden von den benachbarten Karibikinseln, den ‚Inseln der Kannibalen‘, offiziell Sklaven nach Hispaniola deportiert. Trotz der königlichen Erlasse ging die Sklaverei auf Haiti und den Nachbarinseln weiter, denn der König in Spanien war weit weg und das Motiv der Bereicherung war viel zu stark, als dass man auf die Indios als Arbeitssklaven hätte verzichten können.39 So schafften es die Nachfolger des Kolumbus, die Zahl der Indios auf Haiti-San Domingo von schätzungsweise 200.000 bis 300.000 im Jahr 1492 auf wenige Tausend im Jahr 1520 zu reduzieren. Wie später bei der Eroberung des Azteken- und Inkareiches auf dem südamerikanischen Festland war in den ersten Jahren der Herrschaft der Spanier auf Hispaniola und den Nachbarinseln die Suche nach Gold die Haupttriebfeder für die Knechtung der Indigenen. Die oft hungernden Indios wurden als Zwangsarbeiter beim Abbau und Waschen des Goldes, das auf den Inseln jedoch nur spärlich vorkam, buchstäblich zu Tode geschunden. Wer erschöpft zusammenbrach, wurde schnell durch neue Arbeitssklaven ersetzt – ein perfektes System der Massenvernichtung von Menschen, für das die Kolumbus nachfolgenden spanischen Gouverneure die Verantwortung trugen. Getrieben von der Gier nach Gold und Macht wollten die Kolonialherren möglichst schnell reich werden, und dafür waren ihnen auch perfide Methoden recht, mit denen sie ihre Indio-Sklaven behandelten. 1542 wurde die Versklavung der Indios durch das „Indianergesetz“ (Las Leyes Nuevas de las Indias) endgültig verboten. Die Eingeborenen durften nicht mehr versklavt werden, sondern galten als unmündige Schutzbefohlene. Doch dies geschah gegen den erbitterten Widerstand der spanischen Siedler und Landbesitzer. Zwar war die Sklaverei damit de jure verboten, existierte aber de facto weiter. Der bekannte Kapitalismus- und Globalisierungskritiker Jean Ziegler kommentiert: „Doch letztlich triumphierte auch am spanischen Hof des katholischen Königs der Mammon über die christliche Ethik. Hinter Juan Ginés de Sepúlveda [spanischer Hofhistoriker, d. Verf.],40 dem Vertreter der Encomienderos, standen die Reichen und das
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Wohl hatte die spanische Krone mehrmals halbherzig versucht, das ausbeuterische Encomienda-System zu verbieten, doch die massiven Interessen der Encomienderos setzten sich durch. Philipp II. sah in der Encomienda ein Übel, das jedoch angesichts der finanziell angespannten Lage des spanischen Hofs nicht revidierbar schien. Erst 1573, als es nichts mehr zu erobern gab, erklärte er die ‚Conquistas‘ für nicht mehr zweckmäßig. Bald nach der Ankunft der Spanier in der Karibik nahm das Verhängnis seinen tödlichen Lauf. Dabei waren es vor allem die von den Spaniern eingeschleppten Seuchen und Krankheiten wie Cholera, Masern, Typhus, Pocken oder Influenza, gegen die die Indigenen keine Abwehrkräfte besaßen, welche sie dahinrafften und zu ihrer Beinahe-Ausrottung führten. Wesentlich für ihre Dezimierung war aber auch der grausame, menschenverachtende in Massakern gipfelnde Umgang der Spanier mit den Eingeborenen. Sie wurden als Kannibalen bezeichnet, mit wilden Tieren verglichen, als „dreckige Hunde“ beschimpft und auch so behandelt. Der Kannibalismus-Vorwurf wurde zum zentralen Argument für die Rechtfertigung der Eroberung, Versklavung und Zwangsmissionierung der Indigenen. Dabei waren es weniger die Kolumbusbriefe, die das Bild von den „Menschenfressern“ verfestigten, sondern die Berichte anderer Kolonisatoren – wie die von Amerigo Vespucci, dessen Briefe nach 1503/04 in ganz Europa verbreitet wurden. Während der angebliche Kannibalismus in den Kolumbusberichten nüchtern beschrieben wird, schwelgen die Vespucci-Briefe in genüsslicher Schilderung der „barbarischen“ Indianer: ihrer Nacktheit, ihrer libidinösen Sexualmoral, ihrer ständiger Fehden und Kriege, ihrer Gottlosigkeit und vor allem ihres Kannibalismus. Auch in spanischen oder portugiesischen Diensten stehende deutsche Konquistadoren wie Ulrich Schmiedel und Hans Staden haben zur Verbreitung des Kannibalismus-Topos beigetragen. Stadens Bericht über seinen mehrmonatigen Aufenthalt bei den brasilianischen Tupinambá aus dem Jahr 1533 enthielt 30 Holzschnitte von Abbildungen kannibalistischer Szenen. Derartig als „ekelhafte Menschenfresser“ dämonisiert, konnte man mit
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ihnen nach Gutdünken verfahren. Dabei kam es zu unvorstellbaren Grausamkeiten. Sehr bald erhoben sich die ersten Stimmen des Protestes und der Anklage, die unverblümt die brutalen Kolonisierungspraktiken der Spanier anprangerten. Der erste, der versuchte den spanischen Siedlern ins Gewissen zu reden, war der Dominikanermönch Antonio de Montesinos. Zwei Jahrzehnte nach Ankunft des Kolumbus, als die Exzesse der Siedler gegen die Indigenen voll im Gange waren, donnerte er 1511 in der Kirche von Santo Domingo die versammelten Spanier am Sonntag vor Weihnachten von der Kanzel herunter an: „Ihr seid alle in Todsünde und lebt und sterbt in ihr wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die ihr gegen jene unschuldigen Völker gebraucht. Sagt, mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr jene Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft? Wer hat euch Vollmacht gegeben, so verabscheuungswürdige Kriege gegen diese Menschen zu führen, die ruhig und friedlich ihre Heimat bewohnten, von denen ihr unzählige durch unerhörte Mord- und Gewalttaten ausgelöscht habt? Wie könnt ihr sie so unterdrücken und plagen, ohne ihnen zu essen zu geben, noch sie in ihren Krankheiten zu pflegen, die sie sich durch das Übermaß an Arbeit, die ihr ihnen auferlegt, zuziehen, und sie dahinsterben lassen, oder deutlicher gesagt, töten, nur um täglich Gold zu graben und zu erschachern? Was tut ihr, um sie zu lehren, dass sie Gott, ihren Schöpfer, erkennen, getauft werden, Messe hören, Feiertage und Sonntage halten? Haben sie nicht vernunftbegabte Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst? Das versteht ihr nicht? Das fühlt ihr nicht? Was für ein tiefer Schlaf, welche Lethargie hält euch umfangen? Seid sicher, dass ihr in diesem Zustand, worin ihr euch befindet, genausowenig das Heil erlangen werdet?“42
Montesinos hatte Mut, denn er wetterte gegen die wirtschaftlichen Grundlagen des spanischen Kolonialsystems, und er provozierte den Gouverneur Hispaniolas, Diego Colón, den Sohn des inzwischen verstorbenen Kolumbus. Der Mönch verlangte von den Encomenderos, die ihnen zugewiesenen Indigenen freizulassen. Anderenfalls, so kündigte er an, werde er ihnen bei der Beichte die Lossprechung versagen. Ihr inhumanes, unchristliches Verhalten sei eine Todsünde; und zur Lossprechung bedürfe es tätige Reue. Mit dieser Drohung löste der Dominikanermönch bei den Siedlern Wut und Hass aus, die laut Las Casas „aufs äußerste aufgebracht [waren] zu vernehmen, dass sie die Indios nicht weiterhin tyrannisieren dürften“.43 Die Siedler versammelten sich im Haus des Gouverneurs und verlangten, Montesinos müsse seine Drohung widerrufen, andernfalls würden sie entsprechende Maßnahmen ergreifen. Doch in seiner Predigt am folgenden Sonntag nahm
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Montesinos nichts zurück, im Gegenteil: „Er hielt ihnen erneut das Unrecht der Unterjochung jener geplagten und heimgesuchten Völker vor und wiederholte seine Erkenntnis: Sie könnten jede Hoffnung auf ihr Seelenheil aufgeben.“44 Der über Montesinos’ Unnachgiebigkeit erboste Colón, der sein profitables Ausbeutungssystem in Santo Domingo in Gefahr sah, warf dem Dominikanermönch vor, dass er „Ärgernis verursache“, indem er „neue Ansichten verbreite“ und „Neues und Schädliches predige“ (so berichtet Las Casas). Novissima, d. h. etwas ganz Neues zu lehren, wie es z. B. Galilei getan hat (der seine Lehre vom heliozentrischen Weltbild widerrufen musste), wurde in jener Zeit vom Vatikan als höchst gefährlicher Angriff auf die katholische Orthodoxie verstanden und konnte einen wegen Häresie und Ketzerei vor der Inquisition auf den Scheiterhaufen bringen. Doch die Wahrheit, die Montesinos aussprach, war kein novissimum, sondern der Kern der christlichen Botschaft von der Barmherzigkeit. Dass er sie seinen Landsleuten zu predigen wagte, das war in der Tat neu.
Der Bericht des Bartolomé de Las Casas über die Gräuel an den Indios Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas (1474–1566), der 45 Jahre in der Neuen Welt lebte, war neben seinem Ordensbruder Montesinos der wichtigste Kronzeuge der spanischen Verbrechen in den Kolonien. Er geißelte die brutalen Ausschreitungen der Kolonialherren als „schändliche Ungerechtigkeit“ und „teuflische Tyrannei.“45 Es war eine heftige Kritik am spanischen System der Conquista und erbitterte Anklage gegen den Massenmord an den Indigenen. Über die Einstellung der Spanier zu den Indianern schrieb er: „Sie achteten und schonten sie weit weniger – und ich sage die Wahrheit, denn ich habe es die ganze Zeit über mit angesehen – nicht etwa bloß als ihr Vieh – wollte Gott, sie hätten sie nicht grausamer als ihr Vieh behandelt! –, sondern sie achteten sie nicht höher, ja noch weit geringer als den Kot auf den Straßen.“46
Las Casas verfasste die Brevísima relación de la destruición de las Indias („Ganz kurzer Bericht über die Zerstörung Westindiens“) als Anklage gegen die Sklaverei im System der Conquista und Encomienda. Las Casas war seit 1502
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_______________ Der Bericht des Bartolomé de Las Casas über die Gräuel an den Indios
selbst auf Kuba als Grubenherr und Plantagenbetreiber tätig gewesen, bevor er sich nach jahrelanger eigener Praxis der Repression vom Saulus zum Paulus wandelte. 1514 verzichtete er auf die ihm zugeteilten Indiosklaven. 1522 trat er in den Dominikanerorden ein und wurde Mönch. Nun begann sein Kampf um das Leben der Indios und sein Feldzug gegen die spanischen Kolonialgräuel. Er verfasste mehrere Schriften und Briefe und setzte sich in Audienzen und Streitgesprächen in Spanien (wie bei der Disputation in Valladolid) für die Indianer ein. Sein Bericht ist ein einziges Dokument der Anklage, in welchem er die einzelnen spanischen Kolonialgebiete auf den Inseln und auf dem Festland vorstellt und eine Bilanz der Massenmorde zieht. In der Einleitung zu dieser Bilanz aus dem Jahr 1543 lesen wir: „Bei diesen sanften Schafen [den Eingeborenen] sind die Spanier wie ungeheuer blutgierige, seit vielen Tagen ausgehungerte Wölfe, Tiger und Löwen eingefallen […]. Seit vierzig Jahren haben sie bis jetzt nichts anderes getan, als sie zu zerfleischen, zu töten, zu peinigen, zu kränken, zu martern, und zu vernichten, und das auf ungewöhnliche, neue und vielfältige Arten der Grausamkeit, dergleichen man nie zuvor gesehen, gelesen oder gehört hat und deren einige weiter unten genannt werden; und dies geschah in solchem Maße, daß von den mehr als drei Millionen Menschen, die es auf der Insel Hispaniola gab und die wir gesehen haben, heute nicht einmal mehr zweihundert Eingeborene übrig sind.“47
Las Casas bilanziert das Wüten der Spanier auch auf den anderen Inseln der Karibik wie Kuba, Jamaika, Puerto Rico, den Bahamas, aber auch auf dem Festland und kommt zu dem Schluss, „daß in den vierzig Jahren durch die erwähnten Gewalttaten und teuflischen Werke der Christen mehr als zwölf Millionen Seelen – Männer, Frauen und Kinder – getötet wurden; tatsächlich aber nehme ich an, ohne daß ich mich zu irren glaube, daß es mehr als fünfzehn Millionen gewesen sind.“48 Seine Kritik richtete er an den spanischen König, der politisch für die Unterdrückung der Indios verantwortlich war. Über das Wüten der Spanier auf Hispaniola schreibt Las Casas: „Die Insel Hispaniola war, wie gesagt, die erste, auf der die Christen einfielen, und dort begannen sie mit dem großen Metzeln und Morden unter diesen Leuten, und so wurde sie von ihnen zuerst zerstört und entvölkert, und dort fingen die Christen damit an, den Indios ihre Frauen und Kinder zu entreißen, um sich ihrer zu bedienen und sie zu missbrauchen. […] Sie bauten große Galgen, die so beschaffen waren, dass die Füße der Opfer beinahe den Boden berührten und man jeweils dreizehn von ihnen henken konnte, und zu Ehren und zur Anbetung unseres Heilands und der zwölf Apostel legten sie Holz darunter und zündeten es an, um sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen. […] Wieder anderen, und zwar allen, die sie am Leben lassen wollten, schnitten sie beide Hände ab,
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Christoph Kolumbus _______________________________________________________ hängten sie ihnen um und sagten: ‚Tragt diese Briefe aus‘, das heißt, ‚überbringt die Botschaft den Leuten, die in die Berge geflohen sind.‘ Gewöhnlich töteten sie die Herren und Adeligen auf diese Weise: Sie machten einen Bratrost aus Stäben, die sie auf Gabelstützen legten, darauf banden sie die Opfer fest, und unter ihnen entzündeten sie ein schwaches Feuer, damit sie ganz allmählich, während ihnen die Qualen verzweifelte Schreie abpressten, die Seele aushauchten.“49
Der Historiker Stefan Rinke kommentiert das Verhalten der Konquistadoren so: „Der fehlende Respekt, den schon Kolumbus und mehr noch seine Nachfolger der indigenen Bevölkerung entgegenbrachten, und die ausgeprägte Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei der Durchsetzung der hauptsächlich wirtschaftlich motivierten eigenen Ziele lösten eine der größten demografischen Katastrophen der Menschheitsgeschichte aus, bei der die Karibik nur die erste, wenn auch am härtesten betroffene Station war. Nachdem die Taino und die Lukayer viele Jahrhunderte die Karibik bevölkert hatten, wurden sie nun in weniger als fünfzig Jahren ausgelöscht. Ihre Kultur und Sprache gingen unter, und dennoch hatten sie direkt oder indirekt Einfluss auf die neu entstehende karibische Kultur und Bevölkerung, zum Beispiel in Landwirtschaft, Sprache und Religion – und nicht zuletzt als Symbol des Widerstands für die heutige karibische Bevölkerung.“50
Doch Montesinos und Las Casas’ Aufrufe zu Moral und Menschlichkeit verhallten ungehört. Sie blieben einsame Rufer in der Wüste. Ein Grund war, dass zur damaligen Zeit die Sklaverei überhaupt nicht in Frage gestellt wurde, sie war ja ein seit Jahrhunderten in Europa praktiziertes Instrument der Ausbeutung von Menschen. Die indigenen Völker in den eroberten Kolonien der Neuen Welt galten per se als minderwertige Menschenart, die man beliebig unterwerfen, ihrer Freiheit berauben und versklaven konnte. Selbst Las Casas, der die unmenschliche Behandlung der Indios anprangerte, kritisierte nicht das Faktum der Sklaverei an sich, auf der das koloniale Wirtschaftssystem basierte, sondern nur ihre inhumane brutale Praxis.51 Ab 1517, nachdem die Mehrzahl der Indianer auf den Antillen ausgerottet war, importierte man schwarzafrikanische Sklaven, die mit den mörderischen Arbeitsbedingungen besser zurechtkamen als die Indigenen.
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__________________________________________________________ Vorwurf Goldgier
Vorwurf Goldgier Kann man all die Verbrechen, derer sich die Siedler und Konquistadoren wie Cortez und Pizarro in der Nachfolge des Entdeckers schuldig machten – Versklavung, Zwangsarbeit, Gräueltaten, Massaker und Genozid – auch Kolumbus persönlich anlasten? Das kann man nicht. Dennoch waren diese Schandtaten in nuce bereits in seinen ersten Kontakten mit den Eingeborenen angelegt. Wie aus den Bordbuchberichten der ersten Begegnungen mit den Indigenen hervorgeht, ging es dem Entdecker im Grunde nur um Gold. Seinen eigentlichen Auftrag, die Erkundung des Westwegs nach Indien und zu den Gewürzinseln, behielt er zwar im Auge, aber das Thema Gold bestimmte alle seine folgenden Unternehmungen. Doch muss festgehalten werden, dass er das Gold offiziell im Auftrag der spanischen Krone requirierte und es bei seiner Rückkehr auch vollständig ablieferte; er behielt für sich nichts zurück – ein Faktum, das ihn von den späteren Konquistadoren unterscheidet. Auch das ihm vom rivalisierenden Kapitän Pinzón angebotene Gold nahm er nicht an. Im Bordbuch vom 6. Januar 1493 lesen wir: Pinzón „wollte mir eine handtellergroße goldene Figur schenken, aber ich nahm das Geschenk nicht an. Pinzón kann mir nicht schenken, was Eigentum der Krone ist.“52 Doch die Legende von Eldorado, der Stadt aus Gold, und den unermesslichen Schätzen in der Neuen Welt war geboren und dominierte die weitere Conquista.
Vorwurf Sklaverei und Zwangsarbeit Tatsache ist, Kolumbus hat den spanischen Monarchen die Versklavung der Indigenen zum Zweck ihrer Vermarktung vorgeschlagen. Mit ihrer Kommerzialisierung sollten mangels ausreichender Goldfunde die hohen Investitionskosten für die Atlantiküberquerungen gedeckt werden. Er verwies darauf, dass die Indios so viel wert wären wie die „schlechtesten Negersklaven“. Geschäftstüchtig, wie er war, kalkulierte Kolumbus nach Schätzungen für jeden westindischen Sklaven 5.000 Marevi, was bei jährlich 4.000 nach Spanien verschickten Indios einen Erlös von 20 Millionen Marevi ergeben würde. Obwohl die Versklavung der Indigenen schon 1500 durch königlichen Erlass verboten worden war, ging die Sklaverei auf den westindischen Inseln
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weiter – wie auch später auf dem südamerikanischen Festland. Das Beispiel des berühmten Entdeckers gab den Auftakt die Versklavung und Knechtung der indigenen Völker durch Konquistadoren wie Cortez und Pizarro. Wenn er auch nicht für deren Verbrechen verantwortlich war, so hat Kolumbus doch die Weichen dafür gestellt. Dieser Vorwurf der Denkmalstürmer ist berechtigt; doch richtig ist ebenfalls, dass auch ohne sein Vorbild die Ausbeutung der Indigenen durch Sklaverei und Zwangsarbeit im Encomienda-System stattgefunden hätte – zu gierig waren die neuen Kolonisatoren und zu groß war das materielle Interesse der spanischen Kolonialmacht.
Vorwurf Grausamkeit Wiederholt ermahnte Kolumbus seine Offiziere, die Indigenen gut zu behandeln und ihnen nicht das Geringste gegen ihren Willen wegzunehmen. Das klingt paternalistisch wohlwollend, aber die Praxis sah anders aus. Denn an anderer Stelle heißt es: „Weil es vorgekommen ist, dass die Wilden Diebstähle an uns verübt haben, bestimme ich, dass Ihr jedem, den Ihr dabei ertappt, die Nase und die Ohren abschneidet, weil dies Gliedmaßen sind, die sie nicht verbergen können. Hierdurch versichert man sich auch eines anständigen Tauschhandels mit ihnen, denn alle werden auf diese Weise verstehen, dass wir die Guten gut, die Bösen böse behandeln wollen.“53
Demnach sollten einfache Diebstähle durch körperlich sichtbare Verstümmelungen geahndet werden – eine groteske Missachtung des biblischen Talionsgebots.54 „Seht ja darauf“, ermahnt Kolumbus scheinheilig seine Offiziere, „dass die Gerechtigkeit nicht verletzt werde.“ Dass durch Grausamkeit ‚Gerechtigkeit‘ hergestellt werden sollte, war genauso zynisch wie die Aufstellung von 340 Galgen, die er von Zimmerleuten als Drohkulisse auf der Vega real errichtet ließ. Eine weitere Barbarei war das Hetzen von Bluthunden auf geflohene oder unbotmäßige Indios. Auf Kuba entstand das neue spanische Verb aperrear – „von Hunden zerreißen lassen.“55 Zwar lässt sich der genaue Zeitpunkt nicht feststellen, zu dem diese Praxis aufkam. Fest steht jedoch, dass der Admiral die blutrünstigen Hunde aus Spanien importieren ließ. Kolumbus-Biograf Wassermann schreibt:
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_________________________________ Die Massaker von Xaragua und an den Higueys „Der Hetz- und Schweißhund, perro corso, wurde, zur bequemeren Erlegung des indianischen Wildes, gewöhnlich losgelassen, wenn die Indios zu fliehen begannen. Er fiel ihnen dann mit gieriger Wut in den Rücken, riss sie zu Boden und zerfleischte sie. Auf diese Weise gewann die Jagd einerseits an Ergötzlichkeit, andererseits steigerte sie das Entsetzen der Gejagten und brach den letzten Rest ihres Widerstands. Bei derart erwiesener Dienlichkeit zögerte der Admiral auch nicht, ganze Koppeln der Tiere aus Spanien kommen zu lassen; einzelne, z. B. der Hund Bercerrico, erlangten als Würger eine grässliche Berühmtheit und wurden zu Stammvätern von Geschlechtern, denen besondere Meisterschaft im Aufspüren und Zerreißen der Indios zugeschrieben wurde und die deshalb hoch im Preise standen.“56
Damit hatte der Entdecker das Paradigma gesetzt, in dessen Zeichen die weitere Conquista erfolgen sollte. Spätere Konquistadoren wie Cortez und Pizarro konnten sich auf Kolumbus berufen, auch wenn sie den Entdecker mit ihren Schandtaten bei weitem übertrafen. Fest steht, dass Kolumbus der Verwaltung der neuen Gebiete nicht gewachsen war. Er verlor zunehmend die Kontrolle über die Kolonisten. So wütete die Mannschaft des Forts San Tomas, zu dessen Kommandanten Kolumbus einen Edelmann namens Pedro Margarite ernannt hatte, gegen die Eingeborenen mit „jener Brutalität, die keine angestammten Rechte achtete und die allmählich stumpfe Gewohnheit bei den zügellosen Horden wurde, die Spanien über die neue Welt losließ wie eine fressende Plage. Sie nahmen den Indios ihren Goldschmuck weg, sie leerten ihre Speicher, sie raubten und entführten ihre Frauen und Töchter, und die schmachvollsten Misshandlungen waren an der Tagesordnung“, schreibt Jakob Wassermann.57 Kolumbus war nicht in der Lage, sich auf Dauer dem Wüten der Siedler entgegenzustemmen. Die Übergriffe, denen sich die Eingeborenen durch die zügellosen Horden dieser beutegierigen Desperados ausgesetzt sahen, konnte er trotz seiner Verordnungen zum Schutz der Indigenen nicht verhindern.
Die Massaker von Xaragua und an den Higueys Ein Musterbeispiel brutalster Gewalt lieferte Nicolás de Ovando, ein Nachfolger des Kolumbus als Gouverneur von Hispaniola. Es heißt, Ovando habe es fertiggebracht, seinen Vorgänger Francisco Bobadilla an Grausamkeit in allem zu überbieten, was jemals Menschen anderen Menschen angetan hatten. Der neue Gouverneur war 1503 mit einer Flotte von über 30 Schiffen von
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Spanien gekommen, mit vielen Menschen an Bord, die alle in der Neuen Welt möglichst schnell ihr Glück machen wollten. Um die Indios in der Provinz Xaragua endgültig zu unterjochen, entsann sich Ovando einer Methode, die auch spätere Konquistadoren wie Hernando Cortéz erfolgreich praktizierten: die Liquidation der Führungselite. Er lud die Anführer der Indios, die Kaziken, zu einem Fest ein, das im Stil eines ritterlichen Turniers mit stumpfen Bambuslanzen abgehalten werden sollte. Die Ritter und Knappen wurden instruiert, ihre Schwerter verborgen bei sich zu tragen, und sobald das verabredete Zeichen gegeben werde, über die versammelten Indios herzufallen und sie zu töten. „Kaum hatte, unter dem Jubel der harmlosen Zuschauer, das Lanzenstechen begonnen, so trat Ovando an die Brüstung des Balkons und fasste das Kreuz des Alcantaraordens an, das er am Halse trug: Es war das Signal zum Massaker, dem weder Weiber noch Kinder noch Greise entgingen. Die Kaziken in dem umzingelten Haus wurden sämtlich ergriffen, mit auf den Rücken gebundenen Händen an die Querbalken gehängt und so lange gefoltert, bis sie gestanden, was man als Geständnis brauchte: dass sie gegen das Leben und die Regierung Ovandos im Komplott waren. Das Haus wurde an allen vier Enden angezündet, wobei vierzig, nach anderen Berichten achtzig Kaziken und vornehme Indios lebendig verbrannten.“58
Danach begann die systematische Vernichtung der ihrer Häupter beraubten Indios. Der Kron- und Augenzeuge Las Casas berichtet: „Einige Indios, die dem Blutbad von Xaragua entgangen waren, flüchteten auf ihren Kanus nach dem acht Leguas entfernten Eiland Guanabo. Sie wurden vom Governador zu ewiger Sklaverei verurteilt, und jedem Spanier war erlaubt, sie zu jagen und einzufangen. Ich habe sie lebendig verbrennen, zerfleischen, mit neuen ausgeklügelten Martern quälen sehen. Der einzelnen Schandtaten sind so viele, daß ich nicht imstande bin, sie niederzuschreiben. Nur dies eine will ich sagen und vor Gott und meinem Gewissen bezeugen, dass die Indios nicht die geringste Veranlassung gaben, noch die geringste Schuld hatten und dass sie sich gegen die Christen nie eines todeswürdigen Verbrechens schuldig gemacht haben. Sogar Rache und Vergeltung gegen so blutige Teufel, wie es die Christen waren, übten nur wenige, und die waren, ich habe ja die meisten gut gekannt, kaum wilder und unbändiger als zwölfjährige Knaben. Der Krieg wider sie hatte nicht den Schein eines Rechts, die Christen aber waren so infernalisch grausam und ungerecht (fueron todas diabolicos ed injustissimas), wie man es von keinem Schinder und keinem Tyrannen auf Erden sagen kann. Alle diese Dinge habe ich mit meinen Augen gesehen und fürchte, sie zu wiederholen, weil ich mir selber kaum traue und zweifelhaft bin, ob ich sie nicht bloß geträumt habe.“59
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_________________________________ Die Massaker von Xaragua und an den Higueys
Es gab in den Gebirgen einen kriegerischen Stamm, die Higueys, die sich im Südosten der Insel erhoben hatten, um die Tötung eines Anführers durch einen spanischen Kampfhund zu rächen. Weder den Kapitänen des Kolumbus noch Bobadilla war es gelungen, diesen Stamm zu unterwerfen. Gegen die schickte Ovando seinen Hauptmann Juan de Esquibel, der sie nach einigen Monaten bis auf den letzten Säugling ausrottete. Zuerst ließ er mit Hilfe von Bluthunden Frauen und Kinder aufspüren, die sich in den Wäldern und Felsschluchten versteckt hatten. „Dann wurden sie geschlachtet, gespießt, verstümmelt, verbrannt, zu Hunderten, dass es nur so rauchte. Die Männer, nach endlosen verzweifelten heroischen Kämpfen von Zuflucht zu Zuflucht gehetzt, flohen immer weiter in die Wildnisse, und eine letzte Schar von sechs- oder siebenhundert wurde von den verfolgenden Spaniern auf Esquibels Geheiß an den Rand eines tiefen Felsenabgrunds getrieben und samt und sonders hinuntergestürzt.“60
Nach diesem Massaker gründete Ovando an der Küste von Xaragua eine Stadt, der er den Namen Santa Maria de la Vera Paz verlieh („Heilige Maria vom wahrhaften Frieden“), womit er wohl den Kirchhoffrieden meinte. Zwar war Kolumbus für die Exzesse seiner Nachfolger nicht verantwortlich, doch er hatte diese Situation durch seine Passivität und Duldsamkeit gegenüber den Siedlern vorbereitet. Indem er ihren dreisten Forderungen immer wieder nachgab und ihre Übergriffe gegen die Indios tolerierte, ermunterte er sie zu weiterer Disziplinlosigkeit. So kam es auf Hispaniola zu einer Entwicklung, die selbst ein tatkräftigerer Gouverneur nur schwer hätte bremsen können. Wassermann vergleicht die Insel um 1500 mit Kalifornien und Alaska Jahrhunderte später, als dort der Goldrausch ausbrach. Die Folgen waren verheerend: „Europa schüttete seinen Menschenabschaum über das unglückliche Land, Tausende von Gescheiterten, Geächteten und um des Goldes willen zu jeder Schandtat Entschlossenen. Die Propaganda des Admirals hatte ausreichende Wirkung getan.“61
Ein weiterer Grund für die Eskalation der Gewalt war, dass Kolumbus bei seiner dritten Reise keine geschulte Mannschaft hatte finden können. Die an Bord befindlichen Gold- und Glücksjäger wollten auf eigene Faust handeln und sich nicht der Disziplin einer königlichen Flotte unterwerfen. Damit setzte der Admiral ungewollt ein Zeichen, denn jetzt liefen zahllose Schiffe heimlich aus den heimatlichen Häfen aus und setzten ihre Passagiere an der
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unbewohnten Küste von Hispaniola ab. Diese obdach- und mittellosen Desperados verbreiteten Furcht und Schrecken, indem sie marodierend durch die Insel zogen, mordeten, raubten und brandschatzten. „Manche hatten nichts auf die Reise mitgenommen als […] einen Spaten und eine Schaufel. Sie dachten, wenn sie ein wenig in der Erde gruben, müssten sie gleich auf blankes Gold stoßen, und wenn sich ihre Erwartung nicht erfüllte und sie in die ärgste Drangsal gerieten, rächten sie sich dafür an den Indios, überfielen deren Dörfer, machten alles nieder, was ihnen unters Schwert kam, und an den Gefangenen verübten sie ganz nach dem Beispiel der regulären Soldateska, jede Art von Erpressung.“62
Der Bericht des Bobadilla Es blieb nicht aus, dass die Missstände auf Hispaniola bis zum spanischen Hof drangen. Ein Kommissar, Francisco Bobadilla, wurde 1500 im Auftrag der Könige Isabella und Ferdinand nach Hispaniola gesandt, um über das Wirken von Kolumbus auf der Insel zu recherchieren. Nach Spanien zurückgekehrte Siedler, aber auch Priester hatten sich bei der Krone über Kolumbus beschwert und ihn und seine Brüder der Willkürherrschaft und Korruption bezichtigt. Bobadilla übergab Kolumbus sofort nach seiner Ankunft in Santo Domingo das königliche Dekret über dessen Absetzung als Vizekönig und begann mit 22 ausgesuchten spanischen Zeugen die Ermittlungen. Der schwerwiegendste, von Priestern erhobene Vorwurf lautete, Kolumbus habe die christliche Taufe vieler Eingeborenen systematisch verhindert. Dies sei in der verwerflichen Absicht geschehen, diese Ungetauften in Europa als Sklaven zu verkaufen, denn getaufte Indios kamen für den Sklavenhandel laut Gesetz nicht in Betracht. Der Historiker Roberto Zapperi kommentiert: „Das Verhalten von Kolumbus muß als besonders skandalös angesehen werden, wenn man bedenkt, daß er sich sein Leben lang als Vorkämpfer des Glaubens ausgab und das Verdienst für sich in Anspruch nahm, die Neue Welt entdeckt zu haben, um deren Ureinwohner zum Christentum zu bekehren. An der tiefen Religiosität des Entdeckers ist in der Tat nie gezweifelt worden.“63
Doch was Bobadilla in seinem Bericht nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass Kolumbus in punkto Taufe zwischen ‚seinen Indios‘ auf Hispaniola und den Kariben auf den Nachbarinseln unterschied. Nur diese vermeintlichen Men-
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___________________________________________________ Der Bericht des Bobadilla
schenfresser sollten versklavt werden – freilich eine höchst fragwürdige Unterscheidung. Königin Isabella missfielen die vielen Sklaven, die auf spanischen Märkten verkauft wurden; doch Kolumbus beruhigte sie, indem er versicherte, es handele sich ja nur um ungetaufte Rebellen, die man im Kampf gefangengenommen hatte. Laut Bobadillas Bericht sah die Wirklichkeit auf Hispaniola schlimm aus: Kolumbus hatte zusammen mit seinen Brüdern Diego und Bartolomeo ein regelrechtes Terrorregime errichtet. Der Vizekönig veranstaltete in den Dörfern der Insel Razzien, bei denen Bluthunde zur Jagd auf Indios eingesetzt wurden. Laut Untersuchungsbericht überschritt er ständig seine Vollmachten, „knauserte mit den Lebensmitteln und den Zahlungen für seine Untergebenen und ließ die Siedler buchstäblich verhungern. Lebensmittel waren auf der Insel knapp, und die aus Spanien mitgebrachten wurden eifersüchtig vom Admiral unter Verschluss gehalten. Außerdem beraubte er die Siedler regelmäßig ihrer Habe und bestrafte jeden Widerstand mit größter Härte, indem er die Aufsässigen manchmal sogar ohne Prozess hängen ließ. Oft wandte er dabei die Folter an und verhängte grausame Körperstrafen wie das Abhacken von Hand, Nase und Ohren.“64
Sogar einen Schwager ließ er laut Bericht so lange foltern, bis er starb. Der Schwager hatte einem französischen Missionar geholfen, dem spanischen Hof eine Anklage wegen der Untaten des Vizekönigs zu übermitteln. Bobadillas Bericht zeichnet ein Bild des Entdeckers, das von der traditionellen Historiografie erheblich abweicht. Allerdings basiert der Bericht auf den Aussagen unzufriedener Siedler, enttäuschter Missionare und neidischer Gegner des Entdeckers, von denen es nicht wenige am spanischen Hof gab. Viele der ihm zugeschriebenen Schandtaten gingen auf das Konto seiner Brüder, die in seiner Abwesenheit die Eingeborenen mit brutaler Willkür knechteten. Kolumbus sei verlogen, korrupt und grausam gewesen, heißt es in Bobadillas Bericht, habe schwere Strafen auch für die geringsten Vergehen verhängt, während Geiz, Habsucht und zügelloser Drang nach Bereicherung seinen Charakter dominierten. Tatsächlich ist in vielen seiner erhaltenen Schriften, besonders im Bordbuch, von der Suche nach Gold die Rede, aber stets mit dem Hinweis, dass bei Misserfolg die Gunst des Hofs und die Gelder für seine kostspieligen Entdeckungsreisen verloren wären. Dies relativiert Bobadillas Aussage von der persönlichen Goldgier des Entdeckers.
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Nach Abschluss der Untersuchungen ließ Bobadilla Kolumbus und seine beiden Brüder verhaften und schickte sie in Ketten nach Spanien, wo sie sich vor Gericht verantworten sollten. Doch es kam anders. Als Kolumbus am 20. November 1500 in Cádiz landete, veranlassten die örtlichen Behörden seine Freilassung aus Respekt vor seinem großen Prestige als Entdecker der Neuen Welt. Was war geschehen? Im Bordbuch lesen wir: „Das Volk begann zu murren,“ der Adel ebenso, selbst die hohe Geistlichkeit war unzufrieden. „Diese Behandlung hatte der Genuese nicht verdient. So darf man mit dem Entdecker einer neuen Welt nicht verfahren. Nur einer kann Vasco da Gamas große Tat in den Schatten stellen: Cristóbal Colón,“ wenn er den Weg zum Indischen Ozean findet. „Nun beugen sich auch die Souveräne. Der Befehl wird erteilt, Colón sofort die Freiheit wiederzugeben. König Ferdinand gibt dem Boten, der nach Las Cuevas reiten wird, zweitausend Dukaten als Geschenk für den Admiral. Nach elf Wochen Haft werden Colón die Ketten abgenommen.“65
Er erhält Gelegenheit, sich persönlich am Hof zu rechtfertigen. Am 17. Dezember wird er in Granada vom Königspaar empfangen; es gelingt ihm, die gegen ihn erhobenen Anklagen teilweise zu entkräften. Kolumbus wird rehabilitiert und erhält die von Bobadilla konfiszierten Latifundien auf Hispaniola wieder zurück. „Cristobal behält weiter die Würde eines Admirals der Weltmeere, er bleibt weiter Vizekönig von Indien. Aber er darf den Boden Santo Domingos nicht mehr betreten.“66 Denn dem Vorwurf der Terror- und Misswirtschaft auf Hispaniola wurde bei Hof Glauben geschenkt. Das Monopol für Entdeckungsfahrten in die Neue Welt, das er aufgrund königlichen Dekrets besaß, wurde ihm entzogen: Entdeckungsfahrten in die Neuen Welt wurden jetzt auch anderen Seefahrern erlaubt. Damit war Kolumbus recht glimpflich davon gekommen, und dies vielleicht nur aufgrund eines glücklichen Umstands: Bobadilla konnte seine Anklageschrift nicht persönlich am spanischen Hof vortragen, weil seine Flotte (auf der sich auch andere hochrangige Gegner und Neider des Entdeckers befanden) in einem Hurrikan unterging. Nur ein einziges Schiff überstand den Orkan, zufällig jenes, welches das Vermögen des Kolumbus an Bord hatte – einige tausend von Bobadilla beschlagnahmte Goldstücke. Zurückgekehrt in Spanien musste er jedoch lange juristisch um die Herausgabe seines Eigentums kämpfen.
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_______________________________________________ Kreuzfahrer oder Kolonialherr?
Kreuzfahrer oder Kolonialherr? Was waren die Motive dieses Entdeckers Amerikas, welches die Triebkräfte, die ihn alle Hindernisse und Schwierigkeiten überwinden ließen? Waren es Goldgier und Habsucht sowie das unbändige Bestreben, reich zu werden und im gesellschaftlichen Rang aufzusteigen, die ihn vorwärtstrieben? Oder ging es ihm schlicht um die Erfüllung des Auftrags der Spanischen Krone, einen Westweg nach Indien zu finden? Ging es Kolumbus primär um das Wohl und Wehe der ihm von den spanischen Königen anvertrauten Menschen in der Neuen Welt oder hatte er vielmehr das eigene Wohl im Auge? In einem Lexikon lesen wir: „Wenn es ein Motiv gibt, das sein gesamtes Bordbuch, das Tagebuch seiner ersten Reise, durchzieht und das sich auch an anderen Stellen immer wieder findet, dann ist es der materielle Wohlstand für Spanien und für sich selbst.“67 Das ist nicht falsch, aber zu kurz gegriffen, denn die kühne Entdeckungsfahrt des Christoph Kolumbus hatte viele Beweggründe und lässt sich nicht auf rein materielle Motive beschränken. Zwar stand im Vordergrund ein wirtschaftliches Motiv, nämlich das ihm von den spanischen Monarchen aufgetragene Ziel, den Westweg nach Indien und zu den Gewürzinseln zu finden, um das Handelsmonopol der Portugiesen zu brechen. Eine neue Handelsroute sollte eröffnet werden. Doch blickt man in den Prolog seines berühmten Bordbuchs, so erkennt man ein weiteres Motiv, nämlich ein religiöses. Dort heißt es: „Also erwogen Eure Hoheiten [Isabella und Ferdinand] in ihrer Eigenschaft als katholische Christen, als Freunde und Verbreiter des heiligen christlichen Glaubens und als Feinde der Sekte Mohammeds und jedes anderen Götzendienstes und Sektiererwesens ernstlich den Gedanken, mich, Christoph Kolumbus, nach den vorgenannten Gegenden Indiens zu entsenden, um jene Fürsten, Völker und Orte aufzusuchen und die Möglichkeiten zu erwägen, wie man sie zu unserem heiligen Glauben bekehren könnte.“68
Kolumbus sah sein Unternehmen als Teil der spanischen Reconquista, welche die muslimischen Mauren von der Iberischen Halbinsel vertrieben hatte, und stellte es in den Rahmen der Mission, das Christentum universell zu verbreiten. Fest steht: Kolumbus war ein tiefgläubiger Christ. Das Missionsmotiv ist klar bei ihm erkennbar und steht im Kontext der Suche nach dem ‚Priesterkönig Johannes‘, dessen Herrschaftsbereich Kolumbus in der Nähe des ‚Großkhans‘, des Kaisers von China, vermutete. Dahinter stand der Gedanke
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Abb. 15: Christoph Kolumbus, posthumes Porträt von Sebastiano del Piombo (1519).
eines Kreuzzugsunternehmens gegen den Islam zur Wiedereroberung des Heiligen Landes. Dabei waren die Schätze Indiens nur Mittel zur Befreiung Jerusalems von islamischer Herrschaft und sollten dem Christentum weltweit zum Sieg verhelfen. Als er bei einer seiner Reisen amerikanisches Festland betrat, glaubte er, im Mündungsgebiet des Orinoco das verlorene irdische Paradies wiedergefunden zu haben, dessen Reichtümer helfen würden, die Wiedereroberung des Heiligen Landes zu finanzieren. „In der Wiedereroberung Jerusalems und der Christianisierung der Welt sah er wohl das letzte Ziel seiner Bemühungen um die Westfahrt nach Indien. Franziskanische Spiritualität, Kreuzfahrermentalität und Goldhunger bildeten bei Kolumbus mithin eine Einheit; so war er verspäteter ‚Kreuzfahrer‘ und moderner ‚Konquistador‘ zugleich.“69
Folgt man dieser Charakterisierung, sollte man bedenken, dass sowohl Kreuzfahrer als auch Konquistadoren sich im Zeichen des Kreuzes schlimmster
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_______________________________________________ Kreuzfahrer oder Kolonialherr?
Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben. Kolumbus hat diese Verbrechen nicht unbedingt selbst begangen, aber er hat die Weichen dafür gestellt. Seine Jagd nach Gold und die von ihm partiell ausgeübte Sklaverei und Zwangsarbeit setzten ein Paradigma und bildeten den Auftakt zur Vernichtung der prä-kolumbianischen Kulturen und dem Genozid an der indigenen Bevölkerung. Seine Nachfolger praktizierten enthemmt, was bei ihm in nuce angelegt war. Aus imperialem Eroberungsdrang und religiösem Fanatismus, aber vor allem aus Goldgier wurden die hochentwickelten Kulturen der Azteken und Inkas von den Konquistadoren binnen weniger Jahre ausgelöscht. Die fatale Kombination von Habsucht und religiösem Eifer hatte eine vernichtende Gewalt entfaltet, die diesen einzigartigen Kulturen zum Verhängnis wurden. Die Konquistadoren fühlten sich als Angehörige einer überlegenen ‚weißen Menschenart‘ und als Vertreter des allein seligmachenden christlichen Glaubens berechtigt, diese Kulturen zu zerstören, zumal sie nicht das geringste Verständnis für deren Leistungen aufbringen konnten.
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Napoleon Genialer Feldherr und Menschenverächter
Fast auf den Tag genau 300 Jahre, nachdem Kolumbus auf Hispaniola (Haiti) die erste Kolonie der spanischen Eroberer gegründet hatte, erhoben sich dort die versklavten Indigenen gegen ihre weißen Unterdrücker. Es war der ‚Spartakus der Karibik‘, Toussaint Louverture, der – inspiriert von den Idealen der Französischen Revolution – zusammen mit Dutty Boukman 1791 den Sklavenaufstand anführte, deren Ausbeutung sich neben Spanien auch Frankreich und England teilten. 1697 hatte Spanien das westliche Drittel der Insel (Saint-Domingue) an Frankreich abgetreten, worauf dieses Gebiet bald zu den reichsten französischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent gehörte. Nach dem frühen Tod von Boukman organisierte Toussaint Louverture, der 1794 zu den Franzosen übergetreten war, eine Armee, mit der es ihm gelang, die spanischen und britischen Truppen zu vertreiben. Jetzt
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schien sich eine alte Weissagung zu erfüllen, wonach „einst ein Rächer kommen und die Weißen für die an seiner Rasse verübten Verbrechen zur Verantwortung ziehen würde.“1 Doch der von jesuitischen Missionaren ausgebildete Louverture unternahm keinen Rachefeldzug, sondern gründete Schulen sowie ein Lehrerseminar, wodurch Tausende junge Schwarze eine staatliche Schule besuchen konnten. Berauscht von seinen Erfolgen – „Ich bin aus der Region der Adler ausgeflogen […]. Ich kann nur auf einem Felsen landen, und dieser Fels soll der Bau der Verfassung sein, die meine Macht garantieren wird, solange ich unter Sterbliche weile“2 – entwarf Louverture eine Verfassung (Constitution Républicaine), die er an Napoleon schickte. Doch da geriet er an den Falschen: Napoleon sah in dem Verfassungsentwurf eine freche Verletzung der französischen Souveränität und in ihrem Urheber einen Rebellen, den es zu züchtigen galt. Er entsandte ein Expeditionskorps, das den ‚Spartakus der Karibik‘ gefangen nahm und nach Frankreich überstellte, wo er – ohne Prozess eingekerkert – am 7. April 1803 an den unmenschlichen Haftbedingungen starb. Seine Meinung bezüglich schwarzer Menschen äußerte Napoleon unverblümt: „Ich bin für die Weißen, weil ich weiß bin; einen anderen Grund habe ich nicht, und dieser ist gut genug. Wie konnten wir Afrikanern die Freiheit schenken, Menschen ohne jede Zivilisation?“3 Der kühne Versuch des heute auf Haiti als Nationalheld verehrten Louverture, das von den Kolonialmächten verübte Unrecht im Geiste der Ideale der Französischen Revolution zu beseitigen und die jahrhundertelange Suppression aufzuheben, scheiterte an der rassistischen Arroganz des großen Eroberers. „Napoleon hat die Freiheit ebenso verkörpert wie die Polizeigewalt. Er war zugleich die Seele der Welt und der Dämon Europas“, sagte Staatspräsident Macron am 5. Mai 2021 bei den Feierlichkeiten zum 200. Todestag Napoleons vor dessen Sarkophag im Invalidendom zu Paris. Damit umriss Macron treffend die ambivalente Persönlichkeit des Korsen. An Napoleon scheiden sich die Geister: War er der geniale Militärstratege und tatkräftige Reformer, als den ihn seine Verehrer preisen, oder ein anmaßender Kriegsherr und Verräter der Französischen Revolution, wie seine Kritiker meinen? In den Augen Johann Wolfgang Goethes war Napoleon Bonaparte ein Universalgenie und Heros. Er schrieb:
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________________________________________________________________ Napoleon „Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könnte man sehr wohl sagen, dass er sich in dem Zustande einer fortwährenden Erleuchtung befunden, weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird.“4
Auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schwärmte von Napoleon zunächst als vom ‚Weltgeist zu Pferde‘.5 Dagegen sah der Österreicher Franz Grillparzer in seinem Trauergedicht zum Tode Napoleons am 5. Mai 1821 den Korsen ambivalent: Er verglich ihn mit Alexander und Cäsar, porträtierte ihn zum einen als Geißel Gottes – „Das Schwert hast du gebracht und nicht den Frieden“ –, zum anderen als Übermenschen – „Er war zu groß, weil seine Zeit zu klein.“6 In Frankreich gilt der Kaiser als Nationalheld mit verschiedenen Gesichtern und Tugenden: als militärisches Genie und Sieger von Austerlitz, als Verfasser des Code Civil und als Schöpfer des modernen Frankreichs. Für viele Franzosen ist und bleibt der Korse ein zweiter Alexander, ein charismatischer Eroberer, dessen Schlachten im Stein des Triumphbogens verewigt sind. Seine Fans pilgern zur Krypta des Invalidendoms und erweisen ihm an seinem gewaltigen Grabmonument aus rotem Porphyr die letzte Ehre. Die einen feiern ihn als Retter der Revolution – die anderen, weil er Frankreich von ihr befreit hat. Als Revolutionsgeneral und Kaiser der Franzosen zeichnete Bonaparte die Landkarte Europas in blutigen Kriegen neu. Für viele Franzosen ist Napoleon das Symbol vergangener Größe; auf ihn gründet sich der nationale Mythos Frankreichs. Im November 1799 hatte sich Napoleon als Revolutionsgeneral zum Ersten Konsul der Republik an die Staatsspitze geputscht. Als der Usurpator sich fünf Jahre später die Kaiserkrone aufsetzte, verkündete er: „Ich folge nicht Ludwig XVI., sondern Karl dem Großen.“ Bonaparte sah sich als Erbe des Frankenkaisers, der um das Jahr 800 sowohl über Frankreich als auch über Deutschland herrschte. Zur Demonstration dieses Anspruchs – der Ausdehnung seiner Herrschaft auch über deutsches Gebiet – reiste Napoleon in die alte Krönungsstadt Aachen, um sich der Gestalt des Frankenkaisers symbolhaft zu bemächtigen, der sein Reich in den blutigen Sachsenkriegen gewaltsam nach Osten erweitert hatte (► Karl der Große). Der vom Revolutionsgeneral über einen Staatsstreich erst zum Konsul und dann zum Kaiser aufgestiegene Emporkömmling gedachte, wie sein großes Vorbild sein Imperium mit dem Schwert zu erobern.
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Angesichts solcher Egozentrik und Hybris konnte es nicht ausbleiben, dass sich schon zu seinen Lebzeiten Kritiker zu Wort meldeten, die die dunklen Seiten des Korsen beleuchteten und ihn als Ungeheuer, Usurpator und Despoten darstellten. Zeitgenossen wie François-René Chateaubriand, Benjamin Constant und Alexis de Tocqueville sahen in Napoleon nur den Antichristen und Tyrannen, der sich mit Attila dem Hunnenkönig und Dschingis Khan messen konnte – ein blutrünstiger Feldherr, der als Vater des totalen Kriegs in die Geschichte eingehen sollte. Auch in Deutschland sah man den Korsen kritisch. So der Komponist Ludwig van Beethoven, der – zunächst ein glühender Verehrer Napoleons – ihm seine Dritte Sinfonie, die Eroica, widmete. Nach der Kaiserkrönung von 1804 aber, als Napoleon die Republik verriet, zerriss Beethoven tief enttäuscht die Widmung, die der Symphonie beigegeben war. Eines der düstersten Kapitel Napoleons Laufbahn ereignete sich bei Napoleons Ägyptenfeldzug.
Der Ägyptenfeldzug
Abb. 16: Die Schlacht bei den Pyramiden am 21. Juli 1798.
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Die Schlacht bei den Pyramiden Wie viele seiner Zeitgenossen war Napoleon fasziniert vom Orient. Bereits 1795 schrieb er: „Der Orient ist das Geburtsland jedes großen Ruhmes […]. Ein Sterblicher kann dort zum Gott werden“7 – wobei er wohl an Alexander den Großen dachte, der nach der Erstürmung der Stadt Tyros und der erfolgreichen Belagerung von Gaza ohne Gegenwehr nach Ägypten einmarschiert war, wo er im Frühjahr 331 v. Chr. die Stadt Alexandria gründete (► Alexander der Große). Vor Alexandria landete auch Napoleon mit 38.000 Soldaten. Der Marsch durch die Wüste in Richtung Kairo erwies sich für die Soldaten angesichts der Hitze als äußerst beschwerlich: Napoleon hatte die klimatischen Bedingungen der Wüste nicht bedacht, ein schwerer taktischer Fehler. So wuchs sich der Feldzug durch das Nildelta von Alexandria nach Kairo zur Katastrophe aus: Bei einer Tagesration von vier Scheiben Zwieback und nur einer Flasche Wasser verhungerten und verdursteten viele Soldaten, zumal sie schweres Gepäck trugen und mit viel zu warmen Uniformen bekleidet waren. Hier zeigte sich, dass Napoleon das Wohl und Wehe seiner Soldaten – trotz gegenteiliger Beteuerungen – im Grunde egal war, wenn es seine strategischen Ziele erforderten. Nachdem der geniale Feldherr, der er in der Tat war, die Reiterheere der Mameluken besiegt hatte, stand er schließlich am Fuße der Pyramiden, wo er den berühmten Satz gesagt haben soll: „Soldaten! Bedenkt, dass von der Höhe dieser Pyramiden vier Jahrtausende auf euch herabsehen.“8 Wenig später zog er in Kairo ein, wo er sich nach Kräften um die Sympathie der Einwohner bemühte: Napoleon reorganisierte Gesetzgebung und Verwaltung, förderte Infrastruktur und Wirtschaft. Wohl wissend, dass der Islam potenziell der gefährlichste Gegner seiner Okkupationspläne war, gab er sich taktisch klug als Bewunderer des Koran aus (den er genau studiert hatte) und spielte sogar mit dem Gedanken, zum Islam zu konvertieren. Schon bei seiner Ankunft am 2. Juli 1798 in Alexandria hatte er der Bevölkerung verkündet: „Nous sommes les vrais musulmans.“9 – „Wir sind die wahren Muslime.“ Napoleon tat alles, um zu beweisen, dass er den Islam respektierte: Er ließ all seine Dekrete in koranisches Arabisch übersetzen und verpflichtete seine Armee gegenüber dem Islam zu größter Sensibilität. Seine Anbiederung an die Muslime ging so weit, dass er sich durch die Teilnahme an islamischen Gebeten und Riten als Muslim darzustellen versuchte. So pries der Erbe der religionsfeindlichen Französischen Revolution den Islam als
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den einzig wahren Weg zum Heil und erließ ein Dekret, in dem er versprach, ein auf den Grundsätzen des Koran beruhendes Regime zu errichten. Da es offensichtlich war, dass er für eine Alleinherrschaft in Ägypten nicht stark genug war – für eine dauerhafte Okkupation fehlten ihm die Truppen –, versuchte Bonaparte, die lokalen muslimischen Würdenträger (Imane, Muftis und Ulemas) auf seine Seite zu ziehen. So erklärte er im August 1798 öffentlich: „Ich hoffe, […] dass es mir gelingen möge, alle klugen, weisen und gebildeten Männer des Landes zu versammeln und ein Regime zu etablieren, das auf den Prinzipien des Koran beruht, welche einzig und allein die Wahrheit verkörpern und den einzigen Weg zum menschlichen Glück darstellen.“10
Sein (geheuchelter) Respekt vor dem Islam sowie die Wertschätzung gegenüber 60 muslimischen Ulemas von der Azhar-Hochschule, die Napoleon eingeladen und denen er volle militärischen Ehren erwiesen hatte, verfehlten ihren Wirkung zwar nicht, aber all diese taktischen Verbiegungen nützten ihm letztlich wenig. In den Augen der Ägypter waren die Franzosen fremde Eroberer, die man bekämpfen musste. So im Oktober 1798, als in Kairo eine Rebellion ausbrach, die von Napoleon blutig niedergeschlagen wurde. In seinem Zorn verkündete er, dass jede Nacht 30 Gefangene zur Abschreckung geköpft würden. Dass er zu noch schlimmeren Gemetzeln fähig war, zeigte sich bald darauf.
Napoleon lässt 3.000 Gefangene exekutieren11 Von Napoleon Bonaparte sind diese Sätze überliefert: „Ich habe Blut vergossen, ich musste es, ich werde vielleicht noch mehr vergießen, aber ohne Zorn, ganz einfach, weil der Aderlass zu den Mitteln der politischen Medizin gehört. Ich bin der Mann des Staates, ich bin die Französische Revolution und wiederhole, dass ich sie schützen werde.“12
Wie ernst diese Satz gemeint war, bewies der große Korse schon bald. Auf seinem weiteren Feldzug stieß er nach Syrien vor, das ebenso wie Ägypten zum Osmanischen Reich gehörte und das den französischen Eindringlingen alsbald den Krieg erklärte. Bei Jaffa traf Napoleon auf ein osmanisches Heer und besiegte es. Dort kam es zu einer blutigen Schandtat, die den Ruhm des
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Korsen besudelt: Während der Einnahme und Plünderung von Jaffa stellten die Franzosen fest, dass sich ca. 3.000 türkische Soldaten in voller Bewaffnung in einer gut geschützten Stellung verschanzt hatten. Als französische Offiziere sie aufforderten, sich zu ergeben, stimmten sie unter der Bedingung zu, dass man ihnen ihr Leben zusicherte; andernfalls würden sie sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Französische Offiziere versprachen ihnen, sie zu verschonen; die Türken kamen aus ihrer befestigten Stellung heraus, legten die Waffen nieder und ließen sich gefangen nehmen. Darüber geriet Bonaparte in Wut. Seiner Meinung nach war es völlig überflüssig gewesen, den Türken dieses Versprechen zu geben.13 Und er hielt sich auch nicht daran. Entgegen dem militärischen Codex, wonach solch ein Vereinbarung unter Kombattanten bindend ist, ließ er alle niedermachen, die sich ergeben hatten. Einige tausend Gefangene wurden an den Strand geführt, teils erschossen, erschlagen oder ins Meer gejagt. Ein Augenzeuge des Massakers berichtet: „Unter den Opfern entdeckten wir zahlreiche Kinder, die sich im Todeskampf an ihre Väter geklammert hatten.“14 Das barbarische Gemetzel war von Bonaparte persönlich angeordnet worden. Napoleon suchte dieses Kriegsverbrechen damit zu rechtfertigen, dass „er nicht gewusst habe, wie er die Gefangenen ernähren und bewachen sollte.“15 Am 21. Januar 1817 sagte er zu seinem Leibarzt Dr. O’Meara:16 „Hätte ich diesen Leuten nochmals das Leben geschenkt und sie wieder auf ihr Ehrenwort entlassen, so hätten sie sich sofort nach Akka begeben und es wäre nochmals geschehen, was sich hier ereignet hatte. Aus Gerechtigkeit gegen meine eigenen Soldaten und weil jeder Heerführer sich als Vater seiner Soldaten und diese als seine Kinder betrachten soll, durfte ich dies nicht hingehen lassen. Einen Teil meiner ohnehin schon stark zusammengeschmolzenen Armee als Wache für die Wortbrüchigen abzugeben, war unmöglich. Hätte ich anders gehandelt, als ich es tat, so hätte ich wahrscheinlich den Untergang meiner ganzen Armee verschuldet. Ich machte also Gebrauch von dem im Krieg geltenden Recht, Soldaten, die unter solchen Umständen in Gefangenschaft geraten, erschießen zu lassen. Ich befahl, dass von der türkischen Garnison von Jaffa diejenigen, die ich in Kalaat-el-Arisch zu Gefangenen gemacht hatte und trotz ihres gegebenen Wortes in Waffen gegen mich wiederfand, erschossen würden. Alle übrigen – es war noch eine beträchtliche Zahl – blieben am Leben. Ich würde das, was ich damals tat, befände ich mich heute in derselben Lage, wieder tun. Und ebenso würde auch Wellington und jeder andere General unter ähnlichen Umständen gehandelt haben.“17
Demnach sollten militärtaktische Überlegungen das barbarische Gemetzel rechtfertigen. Moralisch-ethische Bedenken spielten für Napoleon bei dieser
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Entscheidung über Leben und Tod von Tausenden keine Rolle, genauso wenig wie das von seinen Offizieren gegebene Ehrenwort der Verschonung. Ähnlich hatte in derselben Region ein anderer Feldherr gehandelt, Richard Löwenherz – allerdings einige Jahrhunderte zuvor, als er in einer vergleichbaren Situation und aus denselben Gründen rund 2.700 Gefangene bei Akkon enthaupten ließ. Auch Richard hatte sein Wort gebrochen und damit gegen den ritterlichen Codex verstoßen (► Richard Löwenherz). Möglicherweise hat sich Napoleon an dieses Ereignis erinnert und sich von diesem Präzedenzfall inspirieren lassen. Aus analogen Gründen hatte auch der Mongolenführer Timur Lenk, alias Tamerlan, in einem gigantischen Blutbad ca. 100.000 Gefangene niedermetzeln lassen (► Tamerlan).
Kritik an Napoleons Bluttat Der ehemalige Außenminister Vicomte de Chateaubriand verurteilt Napoleons Handlungsweise aufs schärfste und schreibt dazu Folgendes: „Jaffa wurde genommen. Nach dem Sturme ergab sich ein Teil der Besatzung, von Bonaparte zu zwölfhundert, von anderen zu zwei- bis dreitausend Mann angegeben, und es wurde ihnen Gnade zugesichert; zwei Tage später befahl Bonaparte, sie niederzumachen. Napoleon leugnet diesen Mord nicht, aber er schiebt die Schuld auf die Lage, in der er sich befand. Er konnte die Gefangenen so wenig ernähren, wie sie unter Bedeckung nach Ägypten schicken; sie auf Ehrenwort in Freiheit zu setzen, war ebenfalls nicht möglich, denn sie hätten gar keinen Begriff von einem solchen Versprechen und von diesem europäischen Verfahren gehabt. ‚Wellington würde an meiner Stelle ebenso gehandelt haben wie ich‘ sagte er. Waren denn die Massaker nötig zur Rettung unserer Armee? Wusste Bonaparte nicht, mit welcher Leichtigkeit eine Handvoll Franzosen die Streitkräfte des Paschas von Damaskus besiegte? Vernichtete er nicht mit einigen Reitern dreizehntausend Osmanlis?“
Dann kommt Chateaubriand auf den Kern seiner moralischen Verdammung des Korsen zu sprechen: „Wenn vom Rechte gesprochen wird, welches Recht hatten die Franzosen, Ägypten mit Krieg zu überziehen? Warum ermordeten sie Menschen, die sich nur des Rechtes der Verteidigung bedienten? Auf die Gesetze des Krieges aber konnte sich Bonaparte nicht stützen, da die Gefangenen in Jaffa die Waffen gestreckt hatten und ihre Unterwerfung angenommen war. Bonaparte wusste recht wohl, was Recht war, aber er lachte darüber; er bediente sich der Wahrheit, wie er sich der Lüge bediente; er hatte nur das Resultat
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Damit stellt Chateaubriand die entscheidenden Fragen: Mit welchem Recht überfiel Napoleon Ägypten?19 Und warum ließ er Gefangene exekutieren, die nur ihr Recht auf Verteidigung wahrgenommen hatten und denen freier Abzug versprochen worden war? Offenbar mit der Anmaßung des siegreichen Feldherrn, weil der skrupellose Eroberer es in seiner Hybris gewohnt war, seine Feldzüge mit Leichen zu pflastern. Freilich muss man einräumen, dass Napoleon in der imperialen Epoche des Kolonialismus lebte und in einer Zeit agierte, in der es für die europäischen Mächte ganz selbstverständlich war, Kolonien gewaltsam zu erobern und die indigene Bevölkerung zu unterwerfen. Briten, Holländer, Spanier, Italiener (später auch Deutsche) – sie alle besaßen Kolonien in Übersee, die sie als Ausdruck ihrer politischen Macht und zum Zweck der Ausbeutung meist gewaltsam annektiert hatten. Doch der koloniale Zeitgeist mag zwar Eroberungen und Annexionen erklären, aber er rechtfertigt keineswegs den Massenmord an 3.000 Gefangenen. Das Militärgenie Napoleon hatte mit seiner ihm treu ergebenen Armee ein besonders schlagkräftiges Instrument zur Unterwerfung der Völker an der Hand, und er nutzte es skrupellos. Die von der Französischen Revolution ausgerufenen Menschenrechte (die freilich bereits von ihren Urhebern verraten worden waren) scherten den Machtmenschen wenig. Das Massaker von Jaffa war jedoch erst der Auftakt zu dem „Aderlass“, d. h. dem Tod von Abertausenden Menschen während seiner Eroberungskriege. Bonaparte überzog Europa mit blutigen Feldzügen, in denen er zwischen 1806 und 1812 das europäische Machtsystem umgestaltete und das französische Kaiserreich mit neugegründeten Vasallenstaaten umgab. Seine Kriege waren total, sie stellten die Existenz ganzer Staaten in Frage und mobilisierten ganze Völker. Mit seinen raschen Angriffskriegen entwickelte Napoleon eine neue Kriegsphilosophie. Sein Zeitgenosse Carl von Clausewitz schrieb in Hinblick auf die Französische Revolution 1812: „Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten. […] Mit dieser Teilnahme des Volkes an dem Kriege trat statt eines Kabinetts und eines Heeres das ganze Volk mit seinem natürlichen Gewicht in die Waagschale. Nun hatten die Mittel, welche aufgewandt, die Anstrengungen, welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr; die Energie, mit welcher der Krieg selbst geführt werden konnte, hatte kein Gegengewicht mehr, und folglich war die Gefahr für den Gegner die äußerste.“20
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Die Seeschlacht von Abukir und Rückzug aus Ägypten Bereits im August 1798 fiel mit der ‚Seeschlacht von Abukir‘ die Vorentscheidung für Napoleons Ägyptenabenteuer: Während er noch kurz zuvor in der ‚Schlacht bei den Pyramiden‘ die Mameluken besiegt und deren jahrhundertelange Herrschaft über Ägypten gebrochen hatte, wurde seine Flotte vor Abukir an der Nilmündung von der englischen Flotte unter Admiral Nelson vernichtend geschlagen. Von 17 französischen Kriegsschiffen wurden 13 versenkt – inklusive des gewaltigen Flaggschiffs L’Orient mit Hunderten Soldaten und Admiral Brueys d’Aigalliers an Bord. Dieser Sieg der Briten war der erste größere militärische Rückschlag Napoleons, der sich zu dem Zeitpunkt in Kairo aufhielt. Von nun an strategisch bewegungsunfähig, beschloss er, den Ägyptenfeldzug abzubrechen und nach Frankreich zurückzukehren, zumal auch die Belagerung der Festung Akkon am hartnäckigen Widerstand der türkischen Besatzung gescheitert war. Er verließ im August 1799 seine Armee und segelte mit kleinem Gefolge nach Frankreich zurück. Seine durch Krankheiten dezimierten Soldaten mussten den Rückzug durch die Wüste antreten. Von 38.000 Soldaten kehrten weniger als 10.000 zurück. Ungeachtet von Aussagen wie der gegenüber seinem Leibarzt, dass „jeder Heerführer sich als Vater seiner Soldaten und diese als seine Kinder betrachten soll“, ließ Napoleon seine Truppen (wie später in Russland) im Stich und bewies erneut, dass ihn das Wohl und Wehe der Soldaten wenig interessierten. Trotzdem bereitete man ihm bei seiner Rückkehr in Paris Ovationen. „Als die [Menge] den Helden sah, überschlug sich die Begeisterung, die Luft hallte wider von Beifallsrufen und vom Schrei ‚Vive Bonaparte.‘“21 Nach rund drei Jahren wurde die französische Besatzung Ägyptens beendet, als sich die Franzosen am 18. Juni 1801 in Kairo einer anglo-osmanische Invasionstruppe ergaben. Doch obwohl – entgegen Napoleons politisch-strategischem Ziel – fortan die Briten die Geschicke am Nil bestimmen sollten, hat der gescheiterte Ägyptenfeldzug dem Nimbus des Volkshelden nicht geschadet. Ungeachtet des militärischen Scheiterns wurde der Ägyptenfeldzug dennoch als kultureller und wissenschaftlicher Erfolg gedeutet, als Meilenstein in der Erforschung des Orients. In der Tat hatte er einen entscheidenden Einfluss auf die Wissenschaft der Orientalistik. Napoleon hatte eine Gruppe von 167 Wissenschaftlern mit nach Ägypten genommen, die Commission des
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Sciences et des Arts, die nach Beendigung des Feldzugs eine monumentale Beschreibung der Altertümer Ägyptens in 30 Bänden mit rund 3.000 Illustrationen publizierte. Verwaltungstechnisch war diese Commission eher ein „Corps“ und wurde als fest integrierter Teil der französischen Invasionsarmee geführt. Damit wurde der europäischen Orientforschung, insbesondere der Ägyptologie, ein gewaltiger Schub verliehen, insbesondere durch den von französischen Soldaten bei Schachtarbeiten gefundenen dreisprachigen Stein von Rosetta, der die Entzifferung der Hieroglyphen ermöglichte. Das bislang nur romantische Interesse am geheimnisumwitterten Orient wich nun einer systematischen Erforschung desselben. Fakt ist: Napoleon sah sich bei seinem Ägyptenabenteuer nicht als Forscher oder Wissenschaftler, sondern als Feldherr im Stil eines Alexander des Großen. Die Experten kamen im Tross und unter der Schirmherrschaft eines Generals in das Land am Nil, eines Eroberers, der es gewaltsam seinem Kolonialreich einzuverleiben gedachte. Bezeichnend sind Napoleons Worte beim Anblick der Pyramiden, als er seinen Soldaten verkündete, er sei in das Land gekommen, um es „der Barbarei zu entreißen, [und] die Zivilisation in das Morgenland zu bringen.“22 Mit dem zynischen Vorwand, ein angeblich barbarisches Land zu zivilisieren, wurde die gewaltsame Unterwerfung und Okkupation Ägyptens vorbereitet – ein typisches Rechtfertigungsmuster, wie es von den europäischen Mächten bei ihrer kolonialen Expansion gern proklamiert wurde. Damit geriet die Orientalistik von Anfang an in den Ruch, als ideologisches Herrschaftsinstrument des Kolonialismus zu fungieren, als Dienstmagd der imperialen Ansprüche westlicher Mächte. Denn die französischen Wissenschaftler bewunderten nicht nur Tempel und Pyramiden oder beschrieben Fauna und Flora, sondern auch Kartografen vermaßen das Land und stellten Karten her (für die spätere Kolonialverwaltung), Chemiker und Geologen suchten nach Bodenschätzen. Dass Napoleon die Wissenschaftler mit nach Ägypten nahm, geschah keineswegs aus kultureller Beflissenheit oder rein wissenschaftlichem Interesse, sondern war auf die geplante Okkupation gerichtet. Ein viele Disziplinen umfassendes, wissenschaftlich fundiertes Wissen über Land und Leute sollte angehäuft werden, um die koloniale Besetzung zu erleichtern. Es war der Kulturwissenschaftler Edward Said, der in diesem Kontext scharfe Kritik an Napoleons Wissenschaftsexpedition übte und die französische Militärinvasion und ihr Forschungsprojekt als Paradebeispiel für das
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Streben des Westens nach totaler Kenntnis des Orients zum Zweck der Kontrolle und militärischen Unterwerfung anprangerte. Er erhob massive Vorwürfe gegen die westliche Orientalistik: In der durch Klischees und Stereotype verfälschten westlichen Wahrnehmung sei der ‚Orient‘ ein realitätsfernes Konstrukt, das er mit dem Begriff ‚Orientalismus‘ umschrieb. Der ‚Orient‘, so konstatiert Said in seinem 1978 erschienen Opus Magnum Orientalism, sei eigentlich „eine europäische Erfindung“, entstanden aus dem legitimatorischen Interesse, den durch den Kolonialismus unterworfenen orientalischen Völkern unter dem Paradigma des universalen Fortschritts die Überlegenheit der westlichen Zivilisation entgegenzuhalten. Said begriff den ‚Orientalismus‘ als ein interessegebundenes ideologisches Instrument des Westens zur Beherrschung des Orients.23 Statt einer objektiven Beschreibung liefere die westliche Orient-Forschung ein von kolonialen Interessen verfälschtes Zerrbild, das als ein „imperialistisches Kulturprojekt“24 verstanden werden könne. Laut Said beschrieben die europäischen Orientalisten den Orient arrogant von oben herab, verunglimpften seine Regierungssysteme als chaotische ‚orientalische Despotien‘ und kontrastierten dieses Zerrbild mit dem ‚wohlgeordneten Westen‘, dessen politische Mission es sei, den Orient zu zivilisieren. „Aus diesem Grund wies Said die 30 von Napoleons Wissenschaftsexpedition erstellten Bände […] als Ausdruck des Machtmissbrauchs gegenüber dessen, was von der Forschung beschrieben worden war, zurück. Diese Forschung galt ihm per definitionem als unwissenschaftlich.“25
Folgt man dieser Argumentation, wäre Napoleon mit seiner ägyptischen Wissenschaftsexpedition ein ideologischer Wegbereiter für die kolonialen Invasionen der europäischen Mächte im 19. Jahrhundert. Die Wissenschaft der Orientalistik als ideologisches Instrument des Kolonialismus? Eine gewagte, aber nicht von der Hand zu weisende These.
Levée en masse: Die Geburt des Volksheeres – Vorbote des totalen Krieges26 Die militärischen Erfolge Napoleons basierten nicht zuletzt auf einer bahnbrechenden Innovation der Französischen Revolution, dem Volksheer, das
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die stehenden Heere der Berufssoldaten ablöste (bzw. sie ergänzte). Als Großbritannien im Februar 1793 der Koalition der monarchischen Mächte beitrat und eine seit März geführte preußisch-österreichische Offensive das französische Revolutionsheer bis hinter die Grenzen Frankreichs zurückdrängte – und überdies neben der äußeren Bedrohung der Republik auch noch innere Unruhen aufflammten –, beschlossen Wohlfahrtsausschuss und Nationalkonvent am 23. August 1793 die Einführung der Levée en masse, der Allgemeinen Wehrpflicht. Die Levée en masse verpflichtete alle unverheirateten Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren zum Kriegsdienst. So konnte das französische Heer innerhalb kurzer Zeit bei einer Gesamtbevölkerung von 25 Millionen auf eine Stärke von einer Million Soldaten vergrößert werden, was maßgeblich zum Sieg Frankreichs im Ersten Koalitionskrieg beitrug. Ihren Mangel an Kampferfahrung glichen die Wehrpflichtigen durch ihren patriotischen Kampfesmut aus. Die Kehrseite waren enorme Verluste bei den militärisch schlecht ausgebildeten Rekruten, die den Generälen oft nur als Kanonenfutter dienten. Bei Napoleons Feldzug gegen Spanien kam es dort zu einer Volkserhebung. 120.000 Männer, Frauen, Mönche und Priester kämpften mit allen Mitteln des Guerillakrieges gegen die französischen Invasoren. Unmenschliche Gräueltaten geschahen auf beiden Seiten, wie sie der spanische Maler Francisco de Goya in seinen Bildern Desastres de la Guerra festhielt. Ein französischer Offizier berichtete vom Widerstand der Bevölkerung: „Das ganze Land war gegen uns aufgestanden, in jedem Bewohner trafen wir auf einen Feind. Burgos zeichnete sich durch eine alte Kathedrale aus. Die Turmspitze sitzt auf einer vierkantigen Mauer. Dort hatte eine Abteilung unserer Grenadiere ihre Pferde gebunden […]. Auf der Treppe sahen sie plötzlich [einen] Jungen eilig vor sich herspringen und in der Tür eines der kleinen Turmgelasse verschwinden. Sie wollten ihm nach, aber die Tür war verschlossen. Da machten sie kurzen Prozess und sprengten das Schloss mit Schüssen. Als sie eindrangen, sahen sie unsere Kameraden mit durchschnittenen Hälsen tot am Boden liegen und vor ihnen bewaffnete Kapuzinermönche, hinter denen sich der Junge verbarg. Der sich sofort entspinnende Kampf war kurz: In der Wut warfen unsere Grenadiere die Mönche samt dem Jungen zum Turmfenster hinaus.“27
Abgesehen von Russland unterwarf Napoleon fast das gesamte europäische Festland oder zwang dessen Souveräne zu Friedensverträgen. Ähnlich wie die von ihm bewunderten Helden der Vergangenheit, Alexander der Große oder Cäsar, wollte er mit seinen Eroberungen ein Großreich schaffen. Doch die sich unter Napoleon zu Volkskriegen auswachsenden Feldzüge forderten
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ungleich mehr Opfer als die von Berufssoldaten nach festen militärischen Regeln geführten Schlachten früherer Zeiten, sowohl unter den meist schlecht ausgebildeten eigenen Soldaten als auch unter der Zivilbevölkerung des attackierten Landes – nicht zuletzt deshalb, weil die Truppen ihren Unterhalt brutal aus dem eroberten Land bestritten. Warum führte Napoleon ständig Kriege, die auch für ihn verlustreich waren und für die Gegner verheerend? Aufschlussreich ist ein vertrauliches Gespräch, das er im Sommer 1902 führte. Dort erklärte er: „Halten Sie doch nur fest, dass ein Premierkonsul in nichts diesen Königen von Gottes Gnaden gleicht, die ihre Reiche wie ein ererbtes Gut betrachten. Ihnen kommt das Herkommen zugute, während es bei uns ein Hindernis ist. Von seinen Nachbarn gehasst zu werden, gezwungen, in seinem Inneren verschiedene Klassen Überwollender im Zaume zu halten und zugleich so vielen äußeren Feinden zu imponieren, bedarf der französische Staat glänzender Taten, und deshalb des Krieges. Er muss von allen Staaten der erste sein oder zugrunde gehen. Ich werde den Frieden ertragen, solange ihn die Nachbarn zu bewahren wissen, aber ich werde einen Vorteil darin sehen, wenn sie mich zwingen, zu den Waffen zu greifen, ehe sie durch Nachgiebigkeit und Untätigkeit stumpf geworden sind.“28
Realistischerweise sah sich Napoleon, der sich als Usurpator an die Macht geputscht hatte, im Inneren und Äußeren von Gegnern und Feinden umgeben, die er nur durch permanente Kriege und Kriegsdrohungen in Schach zu halten vermochte. Er durfte keine Schwäche zeigen, musste stets der erste und stärkste sein, sonst drohte sein Untergang. Er erkannte klar, dass zwischen den traditionellen Monarchien und der neuen Staatsform der Republik ein unüberbrückbarer Gegensatz herrschte, aber als politisch kluger Stratege wollte er die Rolle des Angreifers den Feinden überlassen: „Zwischen alten Monarchien und einer neuen Republik wird stets ein kriegerischer Geist herrschen. In unserer Lage sehe ich jeden Friedensschluss nur als kurzen Waffenstillstand an und halte mich während meiner Amtszeit für bestimmt, fast ohne Unterbrechung zu kämpfen. Dabei werde ich nicht die Rolle des Angreifers spielen, denn ich habe zu viel Interesse daran, den anderen die Initiative zu überlassen. Und ich kenne sie genau genug; sie werden gewiss zuerst zu den Waffen greifen oder mir doch gerechten Grund geben, dies zu tun.“29
Dies gelang ihm zwar bei der Völkerschlacht von Leipzig (die er freilich gegen eine Koalition europäischer Mächte verlor), aber nicht beim Russlandfeldzug, wo er selbst als Aggressor auftrat. Doch stets war es maßloser Ehrgeiz gepaart mit dem ausgeprägten Egozentrismus des Emporkömmlings, die den Korsen zu seinen Kriegen antrieben. Diese Kriege dienten ihm zum
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politischen Überleben sowie der Pflege seines Charismas und waren letztlich nur Mittel zum Machterhalt.
Das Russlanddebakel Was Napoleon mit seinem Russlandfeldzug anstrebte, war nicht mehr die europäische Hegemonie, sondern ein eurasisches Großreich im Stile Alexander des Großen, der bis nach Indien vorgedrungen war. Doch dieses größenwahnsinnige Projekt endete in einem totalen Fiasko. Obwohl er die größte Armee anführte, die es in Europa bis dato gegeben hatte, kamen wegen gravierender strategischer Fehlentscheidungen des ‚Militärgenies‘ Bonaparte von dem 500.000-Mann-Heer nur 16.000 Soldaten zurück. Als er am 24. Juni 1812 den Grenzfluss Memel nach Russland überschritt, war es sein Plan, wie in den bisherigen Blitzfeldzügen eine schnelle spektakuläre Entscheidungsschlacht herbeizuführen, die den Krieg bald beenden und Friedensverhandlungen einleiten sollte. Doch die hochmotivierten russischen Truppen – unter der Führung von Barclay de Tolly – wichen in die Weiten des Landes zurück. Tatsächlich war Napoleon auf einen Winterkrieg ebenso wenig vorbereitet wie 129 Jahre später die Wehrmacht beim „Unternehmen Barbarossa.“ Anders als Hitler erreichte Napoleon mit seiner Armee die russische Hauptstadt, doch es war ein Pyrrhussieg. Auch die bisherige Methode Napoleons, die Armee aus den Erzeugnissen des eroberten Landes zu versorgen, funktionierte nicht, weil die Russen die Taktik der verbrannten Erde anwandten und bei ihrem Zurückweichen alle Vorräte vernichteten. Schließlich stellte sich die russische Armee unter Fürst Kutusow am 7. September bei Borodino zu der von Napoleon ersehnten Schlacht; zwar gewann er sie, allerdings unter enormen Verlusten: es war eines „der schlimmsten Gemetzel der Geschichte“:30 28.000 Franzosen verbluteten auf dem Schlachtfeld und fast doppelt so viele Russen. Am 14. September rückte die französische Armee in Moskau ein. Dann ging Moskau, vermutlich angezündet von den Russen, in Flammen auf.31 Napoleon ließ es plündern, konnte aber keinen Sieg über den Zaren feiern, weil dieser – auf die Härte des russischen Winters vertrauend – sich mit seiner Entourage nach Osten zurückgezogen hatte und zu keinen Verhandlungen bereit war. Nach fünf Wochen zwecklosen Wartens verließ Napoleon Moskau. Jetzt ge-
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Abb. 17: Napoleons Rückzug aus Russland, Gemälde von Adolph Northen (1851).
riet der Feldzug vollends zum Desaster, denn das führerlose Heer wurde beim Rückzug durch eisige Kälte, Erschöpfung und Hunger in den riesigen Weiten des Landes zerrieben. Beim Rückzug der Grande Armée kam es vom 26. bis zum 28. November an der Beresina, einem Nebenfluss des Dnjepr, zu einem ähnlichen Desaster wie bei Borodino. Zwar konnte Napoleon mit seinem Garderegiment den Fluss noch rechtzeitig überqueren, doch Zehntausende seiner Soldaten wurden von der nachrückenden russischen Artillerie niedergemacht. „In den hallenden Donner der Geschütze mischte sich das Wehgeschrei Halbzerschmetterter, der Angstruf der in den Strom Versinkenden und das Toben und Fluchen derer, die mit verzweifelter Gewalt vorwärts zu dringen versuchten.“32
Im harten, bis zu - 30 Grad kalten Winter und ständig von der Wut russischer Milizen verfolgt, bezahlten die meisten der auf Seiten Napoleons in der Grande Armée kämpfenden Westfalen, Bayern, Schwaben, Sachsen, Österreicher und Italiener den chaotischen Rückmarsch mit ihrem Leben. Ein württembergischer Leutnant, Karl Kurz, schrieb über das Schicksal der in Wilna zurückgebliebenen Soldaten: 166
__________________________________________________ Verlust jeglicher Humanität „Säle und Zimmer […] lagen voll Toter und Sterbender, die in der Hungerwut ihre toten Kameraden benagten. […] Unbeschreiblich war das Elend der armen Gefangenen in den Tagen des 11. bis 15. Dezember, in welchen durch die Waffen des Feindes, durch Misshandlungen aller Art, durch Kälte und Hunger mehr als 1.000 Offiziere und 12.000 Gemeine aller Nationen zugrunde gingen.“33
Ein baltischer, in der russischen Armee dienender Offizier notierte in seinem Tagebuch: „Als ich ein Dorf durchschritt, um Lebensmittel zu requirieren, habe ich beobachtet, wie ein französischer Gefangener für 20 Rubel an die Bauern verkauft wurde; diese tauften ihn mit siedendem Pech und spießten ihn lebendig auf ein zugespitztes Eisenstück auf! Welch ein Gräuel! O Menschlichkeit – wie stöhnst du! Die russischen Frauen töten die Gefangenen und Marodeure mit Beilhieben, wenn sie bei ihren Behausungen vorbeikommen.“34
Angesichts dieser aussichtslosen Situation ließ Napoleon seine Armee im Stich (wie schon zuvor in Ägypten) und machte sich mit seiner Leibgarde in Eilmärschen davon nach Paris. Etwa 400.000 Franzosen und Verbündete hatten in den Weiten Russlands ihr Leben verloren und ca. 100.000 waren in Gefangenschaft geraten, von denen die meisten ebenfalls starben. Die meisten Opfer forderten aber nicht die Kämpfe (nach Schätzungen fielen 100.000 Soldaten), sondern Krankheiten, Hunger, Kälte und Erschöpfung – Opfer, die auf die Fehlentscheidungen des ‚großen Strategen‘ Napoleon Bonaparte zurückgehen, der seine Armee weder für einen Winterfeldzug ausgerüstet noch rechtzeitig den Rückzug aus Moskau befohlen hatte. Hinzu kamen Zehntausende Zivilisten aus dem Tross der Armee, die von marodierenden russischen Soldaten getötet wurden.
Verlust jeglicher Humanität35 Neuere Forschung zeichnet ein düsteres Bild des großen Korsen. So stellt Claude Ribbe eine lange Liste grauenvoller Verbrechen auf, die in den französischen Kolonien verübt wurden – offenbar mit Duldung Napoleons.36 Dort – fern von Paris und ganz auf sich gestellt – verloren Soldaten und Siedler offenbar jegliche Hemmungen. Im März 1803 brachte die napoleonische Armee 600 große Bluthunde von Kuba nach Santo Domingo auf Haiti – ähnlich wie es 300 Jahre zuvor schon Kolumbus für die Jagd auf Indios getan hatte
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(► Christoph Kolumbus). Der Kommandant Donatien Rochambeau gab folgenden schriftlichen Befehl an seine Offiziere aus: „Ich darf Sie nicht in Unkenntnis darüber lassen, dass Ihnen das Futter oder sonstige Kosten für die Verpflegung dieser Hunde nicht erstattet werden wird. Sie müssen ihnen Neger zu fressen geben.“37
Vor den Toren der Residenz des Generals, des Palais National, wurde darauf eine Arena nach antikem Vorbild errichtet, in dem täglich am Nachmittag die ausgehungerten Tiere auf an Pfähle gebundene Menschen losgelassen wurden. Soldaten, die ihre Teilnahme an diesen grausamen Ritualen oder anderen Massakern verweigerten, wurden bestraft. Napoleon wusste von den in der Karibik und andernorts verübten Bestialitäten und Massenmorden an Unschuldigen. Er schrieb an Rochambeau: „Ich will Sie sogleich des vollsten Vertrauens versichern, das die Regierung in Sie setzt, und Sie unterrichten über deren Zustimmung zu den unerlässlichen Maßnahmen, welche die Umstände Sie anzuwenden zwingen oder zwingen sollten.“38
Wiedereinführung der Sklaverei 1802 führte Napoleon auf Wunsch der Plantagenbesitzer die von der Französischen Revolution abgeschaffte Sklaverei und auch den Handel mit Sklaven wieder ein. In einem neuen Strafgesetzbuch, dem Code Pénal, das auf den von Ludwig XIV. eingeführten Code Noir zurückgeht, waren wieder eine Reihe drakonischer Maßnahmen für renitente Sklaven vorgesehen wie das Abhacken der Hand, die Brandmarkung, die Auspeitschung, die Ankettung mit eiserner Fußkugel, das Halseisen für Sträflinge sowie die Deportation unter Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Der Historiker Sebastian Sigler schreibt: „Es ist eine Spur von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sich durch die Biografie des Feldherrn und Tyrannen aus Korsika zieht. So hat Napoleon in Saint-Domingue Tausende von Antillanern ermorden lassen, und zwar durch Vergasung. Er ließ sie in Schiffsladeräume pferchen, in denen dann Schwefel, den man normalerweise zum Töten von Ratten verwandte, angezündet und zu Schwefeldioxid verbrannt wurde. Die Menschen wurden wie Ungeziefer ausgeräuchert, die Leichname wurden über Bord geworfen.“39
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______________________________________________________ Napoleons Verdienste
Der stets gut informierte Napoleon wusste nicht nur von diesen Gräueln, er hat sie toleriert oder selber angeordnet. Man müsse das im Kontext der damaligen Zeit sehen, in denen Grausamkeiten gegen Sklaverei ‚normal und üblich‘ waren, sagen die Napoleon-Fans heute; doch auch damals galten diese Untaten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (selbst wenn sie noch nicht völkerrechtlich definiert waren) und es waren klare Verstöße gegen den von Humanismus und Christentum propagierten Moralkodex.
Napoleons Verdienste Bevor man den Stab über den französischen Nationalhelden bricht, sollte man auch seine Verdienste erwähnen. Viele Franzosen sehen Napoleon positiv: Er sei der Staatsmann gewesen, der die gespaltene Nation nach der missglückten Revolution versöhnte, der Rechtssicherheit schuf und das Land in die Moderne führte. Über Frankreich hinaus steht Napoleon Bonaparte für sozialen Fortschritt und Säkularisierung in Europa. Er sah sich als Testamentsvollstrecker der Französischen Revolution (die er freilich mit der Restauration der Monarchie verriet). Seine Reformen atmen den Geist der Aufklärung: Mit dem 1804 eingeführten Code Civil – auch Code Napoléon genannt – schuf er ein Gesetzeswerk, das wesentliche Errungenschaften der Französischen Revolution festschrieb und als bedeutendstes Gesetzeswerk der Neuzeit gilt: Gleichheit vor dem Gesetz, Vertragsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, Abschaffung des Zunftzwangs – alles Voraussetzungen für die Errichtung eines modernen Staatswesens. Inquisition und Standesprivilegien wurden abgeschafft. Durch seine Verwaltungsreform wurde in vielen europäischen Staaten ein zuverlässiges Berufsbeamtentum herangebildet; Steuer- und Finanzreform bewirkten einen Aufschwung im Handel, und das Erstarken des Handels- und Finanzbürgertums legten das Fundament für breiten Wohlstand. Die Kapitalmärkte wuchsen, ebenso wie die Zahl der Anleger, denen durch das verbesserte Recht auf Eigentum, Garantien zum Wirtschaften gegeben wurde.
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„Ich bin ein Stück Fels, das in den Weltraum geschleudert wurde.“ Doch neben seiner Rolle als Reformer steht Napoleon zugleich auch für die Renaissance des Absolutismus und das neue, totale Gesicht des Krieges.40 Indem er die Republik beseitigte und sich zum Monarchen im Stile Ludwig XIV. krönen ließ, indem er die feudalen Territorialfürstentümer in Europa stärkte und zu Monarchien aufwertete und weil er die Sklaverei in den Kolonien wieder einführte, steht Napoleon auch für Stagnation und Rückschritt. Nachdem Bonaparte anfänglich die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – hochgehalten hatte (aus denen sich später Rechtsstaat und Demokratie entwickeln sollte), trat er sie später mit Füßen und errichtete eine auf seine Person zugeschnittene Autokratie. Seine Hybris kannte keine Grenzen. Zu seinem Polizeiminister Fouché sagte er: „Europa ist eine alte, verrottete Hure, mit der ich mit 800.000 Mann alles tun kann, was mir gefällt. Was kann ich dafür, wenn ein Übermaß an Macht mich zur Weltdiktatur mitreißt?“41 Offenbar war es im Rausch dieser absoluten Macht, dass er seinen fatalen Feldzug gegen Russland begann. Wenige Tage nach dem Debakel an der Beresina – mit über 10.000 Toten – schrieb der schon erwähnte baltische Offizier in sein Tagebuch: „Sein Ruhm glich einer Rakete, die in die Höhe steigt, dort einen Augenblick durch ihren Glanz blendet und dann verschwindet […]. Die Tapferkeit unserer Truppen hat die Verbrechen dieses Monstrums bestraft. Die Vorsehung hat seine Sklaven vernichtet. Aber wie viel unschuldige Opfer hat es gekostet!“42
Nichts bezeichnet Napoleons Hybris besser als dieser Satz aus seinem Munde: „Je suis une parcelle de rocher, lancée dans l’espace.“ – „Ich bin ein Stück Fels, das in den Weltraum geschleudert wurde.“43 Nichts charakterisiert den Korsen so perfekt wie dieser Ausdruck seines Größenwahns, höchstens vielleicht noch folgender Ausspruch nach seinem Putsch 1799: „Die Revolution ist zu Ende. Ich bin die Revolution.“44 Als gnadenloser Herrscher erwies sich Napoleon auch gegenüber dem Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer. Hofer wurde 1810 von französischen Besatzungssoldaten gefangengenommen und in Mantua inhaftiert, dem Sitz des für den südlichen Teil Tirols zuständigen französischen Vizekönigs von Italien, Eugène Beauharnais, einem Stiefsohn Napoleons. Beauharnais wollte
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_________________________________________________________ Held oder Henker?
Hofers Leben verschonen, doch der französische Kaiser ordnete die unverzügliche Aburteilung und Exekution Hofers an. Trotz der Bemühungen des Pflichtverteidigers verhängte das Gericht am 19. Februar 1810 nach kurzer Verhandlung das vom Kaiser diktierte Todesurteil, das am folgenden Tag von einem Erschießungskommando vollstreckt wurde. In Frankreich wuchs der Widerstand gegen Napoleon: Die ständige Rekrutierung neuer Soldaten, die Erhebung hoher Steuern, die Repression durch Polizei und Militär sowie der starke bürokratische Zugriff auf praktisch jeden Bürger schürten die Unzufriedenheit mit dem Regime des Korsen. Doch erst die desaströse militärische Niederlage bei Waterloo besiegelte sein Schicksal.
Held oder Henker? „Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, schrieb Friedrich Schiller in Bezug auf Wallenstein, der einerseits ein siegreicher Feldherr, aber auch ein Verräter am Kaiser war. Auch an Napoleon Bonaparte scheiden sich die Geister: War er der geniale Kriegsherr und große Staatsmann, als den ihn seine Verehrer sehen, oder ein Kriegsverbrecher und Schinder der Völker, wie seine Kritiker behaupten? Er war beides: glänzender Militärstratege und Reformer, aber auch rücksichtsloser Schlachtenlenker und Machtmensch, der für die Erreichung seiner Ziele einen hohen Blutzoll („Aderlass“) bewusst in Kauf nahm. Menschenleben galten ihm wenig. Er war in seiner Epoche, in der Kriege nichts anderes waren „als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz), ein Heros, ein bewunderter Nationalheld. Doch aus heutiger Sicht, der Perspektive der Menschenrechte und des Völkerrechts, war er ein menschenverachtender Henker, der den Tod von Hunderttausenden in Kauf nahm, wenn es seinen maßlosen Kriegszielen diente. Dass ihn viele Franzosen heute dennoch als Nationalhelden verehren, mag dem Faktum geschuldet sein, dass Napoleon wie kein anderer Franzose in seiner Person symbolhaft nationale Größe und Kriegsruhm der Grande Nation verkörpert – besonders in konservativen Kreisen blüht der Napoleonkult. Doch die Franzosen müssen nicht auf den umstrittenen Korsen rekurrieren, um einen Nationalhelden zu feiern. In der Gestalt der Jeanne d’Arc haben sie eine Heldin,
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die über jeden Tadel erhaben ist. Sie hat als Kämpferin an der Spitze der Truppen maßgeblich dazu beigetragen, die Engländer aus Frankreich zu vertreiben – es war ein Verteidigungskrieg – und sie gilt zu Recht als Ikone der französischen Freiheitsbewegung. Ihr Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen tat ein Übriges zur Glorifizierung dieser außergewöhnlichen Frau.
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Otto von Bismarck Militarist, Kolonialist und Rassist?
Zahlreiche Denkmäler erinnern in vielen deutschen Städten an den ersten deutschen Reichskanzler, Otto von Bismarck. Bis 1945 wurde der Reichsgründer als Nationalheld gefeiert. Noch heute ist er in jeder größeren deutschen Stadt präsent, sei es als Statue oder in Gestalt eines ihm gewidmeten Turms, sei es durch nach ihm benannte Straßen, Plätzen und Gymnasien. Doch im Juni 2020 wurde die Bismarckstatue im Schleepark im Hamburger Stadtteil Altona mitblutroter Farbe beschmiert, und im hessischen Offenbach forderte eine Petition, die dortige Bismarckstraße umzubenennen. Im Gefolge der weltweiten Antirassismus-Proteste wurde behauptet, dass die Kolonialpolitik Bismarcks rassistisch motiviert gewesen sei. Derselbe Vorwurf wurde auch im TV-Format ‚Kulturzeit‘ im Sender 3sat erhoben.1 Bismarck sei der „Geburtshelfer des deutschen Kolonialismus“ gewesen. Tatsächlich halten heute viele Historiker den hochverehrten Gründer des
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Otto von Bismarck _________________________________________________________
Deutschen Kaiserreichs für eine der fragwürdigsten Figuren der deutschen Geschichte. Den einen gilt der ‚Eiserne Kanzler‘ als großer Staatsmann, den anderen als „Dämon der Deutschen“ – genialer außenpolitischer Stratege einerseits, herrschsüchtiger und skrupelloser Machtpolitiker andererseits. Nicht wenige Kritiker halten Bismarck für einen Wegbereiter des deutschen Militarismus. Tatsächlich waren die Kriege gegen Dänemark (1864), gegen Österreich (1866) und vor allem der gegen Frankreich (1870/71), die alle der damalige preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck politisch vorbereitet hatte, ein wichtiges Präludium für die Reichsgründung. War Bismarck deshalb ein Bellizist, ein Kriegstreiber, der den Krieg als selbstverständlichen Teil der Politik betrachtete? Doch auch das Narrativ vom „deutschen Sonderweg“ und von Deutschland als „verspäteter Nation“ ist fragwürdig und wird kontrovers diskutiert, also die These, es gebe aufgrund struktureller Ursachen wie Militarismus und autoritärem Obrigkeitsstaat eine direkte Entwicklungslinie vom Kaiserreich zur Nazidiktatur – von Bismarck zu Hitler. Sind diese Vorwürfe berechtigt, und war der berühmte Reichseiniger tatsächlich ein Wegbereiter der Nazis? Oder ist es nicht vielmehr so, dass der Reichsgründer ein Beispiel gab, wie man in einem verfeindeten Europa durch kluge Bündnisdiplomatie einen lange währenden Frieden bewahren Konnte? Fakt ist: Um einen deutschen Nationalstaat zu gründen, führte er Kriege, hielt dann aber 20 Jahre lang Frieden. Otto von Bismarck, der bedeutendste deutsche Staatsmann des 19. Jahrhunderts, ist bis in die Gegenwart hinein so umstritten wie kein zweiter deutscher Politiker. Heute geraten die dunklen Seiten dieses Politikers immer schärfer in den Fokus.
Gegner der Demokratie Am 1. April 1815 wurde Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen bei Stendal an der Elbe geboren. Als Spross eines altpreußischen Adelsgeschlechts verfügte er über große Ländereien und genoss in jungen Jahren das feudale Leben eines wohlhabenden Landjunkers. Im preußischen Vereinigten Landtag, der aus Vertretern der Stände zusammengesetzt war, gehörte er dem konservativen Lager an und war ein entschiedener Verfechter der Monarchie. Dementsprechend stand er im Revolutionsjahr 1848 auf Seiten des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV., bekämpfte die Demokraten
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_____________________________________________________ Gegner der Demokratie
und machte sich einen Namen als „erzreaktionärer Junker.“2 In einer Rede im Dezember 1850 vor dem preußischen Abgeordnetenhaus sagte er: „Ich suche die preußische Ehre darin, daß Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte.“3 Und in seinen Memoiren schreibt er: „Niemals […] bin ich darüber in Zweifel gewesen, daß der Schlüssel zur deutschen Politik bei den Fürsten und Dynastien lag und nicht bei der Publizistik in Parlament und Presse“.4 In den Einigungskriegen (Deutsch-Dänischer Krieg und Deutscher Krieg zwischen 1864 und 1866) löste Bismarck die Deutsche Frage im kleindeutschen Sinne unter der Vorherrschaft Preußens und unter Ausschluss Österreichs. Doch sein großes Ziel war der geeinte deutsche Nationalstaat. Dazu bedurfte es nach Bismarcks Überzeugung eines militärischen Siegs über Frankreich, das diesen Staat als Bedrohung empfinden und bekämpfen würde. Auch Frankreich hatte den 1870/71 geführten Deutsch-Französischen Krieg gewollt – in fataler Fehleinschätzung der militärischen Kräfteverhältnisse –, aber die den besiegten Gegner demütigende Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles samt der gewaltsamen Annexion französischen Territoriums (Elsass-Lothringen) war der Geburtsfehler des Kaiserreichs, und man fragt sich, warum der politisch sonst so weitsichtige Kanzler diesen Kardinalfehler begehen konnte und damit das gedemütigte Frankreich zum Todfeind des Deutschen Reiches machte.5 Der Krieg selbst kam Bismarck sehr gelegen: Er hatte Paris mit der von ihm redigierten Emser Depesche zur Aggression provoziert. Fest steht, Bismarck wusste, dass der deutsche Nationalstaat nur gegen den Widerstand des Erbfeindes zu haben war, denn Frankreich wollte keinen starken deutschen Zentralstaat als Nachbarn dulden, der seine Sicherheit gefährdete. Im März 1870 ließ Bismarck verlauten, er sehe „einen baldigen Krieg mit Frankreich als eine unabweisbare Notwendigkeit an.“6 Man muss man berücksichtigen, dass der Krieg zur damaligen Zeit als gerechtfertigtes Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte betrachtet wurde. „Es galt bei den entscheidenden Männern als ausgemacht, dass das Instrument des Krieges die Ultima ratio der Politik und ein, wenn auch äußerstes Mittel zur Konfliktlösung sei, das man entsprechend anwenden könne.“7
Bereits als preußischer Ministerpräsiden hatte Bismarck in seiner berühmten ersten Rede am 30. September 1862 vor dem preußischen Abgeordnetenhaus verkündet: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen
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Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.“8 – wie es ja dann auch bei der Lösung der Deutschen Frage geschehen ist. Unter Politikern und Militärs der europäischen Länder war die Meinung weit verbreitet, dass die nahe Zukunft eine Reihe von unvermeidbaren Kriegen bringen werde, eine Position, die auf dem zu jener Zeit allgemein akzeptiertem ius ad bellum („Recht, Krieg zu führen“) beruhte, insbesondere wenn ein Kriegsgrund vorlag. Deshalb konstruierte Bismarck Kriegsgründe, die er für die Erreichung seiner politischen Ziele brauchte. „Es ging ihm darum, für das eigentliche Ziel und Ergebnis dieses Krieges, die Begründung eines kleindeutschen Nationalstaates, eine Art europäischen Konsens zu erlangen und das neue politische Gebilde in ihm einigermaßen dauerhaft zu verankern.“9
Bismarck wollte den Krieg gegen Frankreich aus mehreren Gründen, außenpolitischen wie innenpolitischen. Unter anderem wollte er mit der Annexion von Elsass-Lothringen die seit Jahrhunderten währende Ostexpansion Frankreichs stoppen. In einem Brief vom 21. August 1870 an den preußischen Botschafter in London Graf Bernstorff begründet er die deutschen Annexionsabsichten: „Wir stehen heute im Felde gegen den 12. oder 15. Überfall und Eroberungskrieg, den Frankreich seit 200 Jahren gegen Deutschland ausführt. […] Wir müssen dem Druck ein Ende machen, den Frankreich seit zwei Jahrhunderten auf das ihm schutzlos preisgegebene Süddeutschland ausübt, und der ein wesentlicher Hebel für die Zerstörung der deutschen Verhältnisse geworden ist. Frankreich hat sich durch die konsequent fortgesetzte Aneignung deutschen Landes und aller natürlichen Schutzwehren desselben in den Stand gesetzt, zu jeder Zeit mit einer verhältnismäßig kleinen Armee in das Herz von Süddeutschland vorzudringen, ehe eine bereite Hilfe da sein kann“.10
Es sei nötig, „daß die nächsten Nachbarn Frankreichs gegen diesen alleinigen Friedensstörer Europas mehr als bisher gesichert werden.“ „Die einzig richtige Politik ist unter solchen Umständen, einen Feind, den man nicht zum aufrichtigen Freunde gewinnen kann, wenigstens etwas unschädlicher zu machen und uns mehr gegen ihn zu sichern, wozu nicht die Schleifung seiner uns bedrohenden Festungen, sondern nur die Abtretung einiger derselben genügt.“11
Die mit der Abtretung von Elsass-Lothringen verbundene schwere Kränkung der Franzosen erkennt Bismarck wohl, setzt sich aber darüber hinweg. Im Brief heißt es, es sei die Niederlage an sich, welche die französische Nation niemals verzeihen würde. Selbst wenn man jetzt ohne Gebietsabtretungen, ohne irgendwelche Vorteile aus Frankreich abzöge, „so würde doch derselbe
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Hass, dieselbe Rachsucht wegen der verletzten Eitelkeit und Herrschsucht in der französischen Nation zurückbleiben, und sie würde nur auf den Tag warten, wo sie hoffen dürfte, diese Gefühle mit Erfolg zur Tat zu machen.“12 Eine gravierende Fehleinschätzung des großen Staatsmannes, denn es war gerade die Annexion von Elsass-Lothringen, die auf französischer Seite unversöhnlichen Hass erweckte und den Wunsch nach Vergeltung sowie Revision der neuen Grenzen. Anders als beim Sieg über Österreich 1866, als Bismarck in weiser Beschränkung die vom preußischen König geforderte Gebietsabtretungen verhindert und den Gegner fair behandelt hatte, verzichtete er diesmal auf Schonung des besiegten Feindes, weil er die Gegnerschaft zwischen Frankreich und seinem Nachbarn Deutschland auch in Zukunft für unüberwindlich hielt. Bismarck glaubte an die alte ‚Erbfeindschaft‘ zwischen Deutschen und Franzosen und war der festen Überzeugung, dass bei der „gegenwärtigen und künftigen machtpolitischen Situation in Europa ein dauerhafter Gegensatz zwischen Paris und Berlin so oder so unvermeidbar sei.“13 – „Man hat uns Sadowa nicht verziehen und wird unsere jetzigen Siege nicht verzeihen, mögen wir beim Frieden noch so großmütig sein.“14 Aus militärischer Perspektive war Elsass-Lothringen gedacht als Sperrgürtel und Pufferzone gegen zukünftige französische Aggressionen. Bismarck hatte ursprünglich nur an die Abtretung von Elsass und Belfort gedacht, sich dann aber dem Argument der Militärs gebeugt, dass Deutschland an den Vogesen und mit den lothringischen Festungen besser zu verteidigen sei als am Rhein.15 Hinzu kam der Druck der öffentlichen Meinung; man forderte eine territoriale Siegesprämie mit der Begründung, Elsass und Lothringen seien alte, zum deutschen Kulturraum gehörende Gebiete, die einst Ludwig XIV. raubte (und dabei die Pfalz und Nordbaden verwüstete). Man habe ein Recht darauf, sie zurückzufordern. Mit der Annexion würde vergangenes Unrecht wiedergutgemacht; mit Eroberungspolitik habe dies nichts zu tun. „Wenn man allerdings auf diese Weise ‚historisch‘ argumentiert,“ kommentiert der Politikwissenschaftler Christian Graf von Krokow, „bleibt in Europa kaum ein Stein auf dem anderen.“ Im Übrigen, so hieß es, seien die Elsässer blutsverwandt, weil „im Ursprung Alemannen, also deutschstämmig; man müsse sie zu ihrer Herkunft zurückführen.“16
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Doch zumindest dieses ethnisch-völkische Argument war für Bismarck ohne Belang; es war nur flankierende Begleitmusik im allgemeinen Siegesrausch. Aber er hatte auch ein persönliches Motiv für den Krieg: Revanche. In seinen Memoiren schreibt Bismarck: „Beim Blick auf die Landkarte ärgerte mich der französische Besitz von Straßburg, und der Besuch von Heidelberg, Speyer und der Pfalz stimmte mich rachsüchtig und kriegslustig.“17 Der Kanzler wollte diesen Krieg, weil er ihn für sein großes Ziel brauchte: die Vereinigung der in viele Kleinstaaten zersplitterten deutschen Lande zu einem zentralen Nationalstaat (den die anderen großen europäischen Mächte schon längst hatten). Erst der gemeinsame Kampf und Sieg über den Erbfeind werde die Voraussetzung für die Gründung eines großen gesamtdeutschen Reiches schaffen. So zog 1870 nicht mehr wie früher (z. B. 1866) ein preußisches, sondern ein deutsches Heer in den Krieg, eine Armee, die sich aus Sachsen, Bayern, Badenern und Württembergern rekrutierte. „Man kann diese Tatsache kaum hoch genug einschätzen. Das gemeinsam vergossene Blut war ein Siegel der Einheit.“18 Und es war die Basis für die Gründung des ersehnten deutschen Nationalstaats.
Primat der Politik Man kann sagen, die Annexion Elsass-Lothringens war – neben der demütigenden Kaiserproklamation in Versailles – die politische Ursünde Bismarcks in seiner sonst so glänzender Karriere – ein Kardinalfehler, der seine Außenpolitik 20 Jahre lang weitgehend darauf reduzieren sollte, das revanchelüsterne Frankreich durch ein kompliziertes Bündnissystem in Schach zu halten. Doch innenpolitisch fiel im 1870er-Krieg eine Grundsatzentscheidung, die fortan das Verhältnis zwischen Politik und Militär maßgeblich bestimmen sollte. Als der Krieg sich hinzog und auf deutscher Seite die Verluste an Menschen und Material beträchtlich wurden, drang Bismarck auf eine schnelle Beendigung des Krieges – nicht zuletzt aus Angst vor einer ausländischen Intervention auf französischer Seite sowie der Wandlung des „Kabinettkriegs“ zu einem langdauernden Volkskrieg wegen der in Frankreich praktizierten Levée en masse.19 Um die Franzosen zu einem raschen Friedensschluss zu bewegen, verlangte er die Belagerung und den Artilleriebeschuss von Paris, um die Moral der Verteidiger zu brechen. Mit seinem Drängen auf
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__________________________________________________________ Primat der Politik
diese harte militärische Maßnahme griff Bismarck in den Kompetenzbereich des Militärs ein, was ihn in Konflikt zu den Generälen um den Generalstabschef des Heeres Helmuth von Moltke brachte, die einen Beschuss von Paris als unehrenhaft und inhuman ablehnten. Ein Artillerieangriff würde vor allem die Zivilbevölkerung treffen, damit die gegen den Geist des Militärkodex verstoßen sowie Drittstaaten gegen Deutschland aufbringen. Zudem machte Moltke geltend, dass eine schnelle französische Kapitulation die neu rekrutierten französischen Truppen unbesiegt zurücklassen würde, was den Franzosen schon bald die Möglichkeit gäbe, einen neuen Krieg zu beginnen. Moltkes strategisches Ziel war die völlige Vernichtung des Feindes auf dem Schlachtfeld in einem „Exterminationskrieg“. Er war überzeugt, dass die Franzosen erst nach einer totalen Niederlage ihrer Armeen auf „hundert Jahre“ kampfunfähig sein und einem Diktatfrieden zustimmen würden. Da sich beide Parteien stritten und nicht einigen konnten – Bismarck und Moltke verkehrten nur noch schriftlich miteinander – entschied König Wilhelm I. den Konflikt zugunsten von Bismarck. Der Politiker Bismarck hatte sich gegen das Militär durchgesetzt und damit eine für die Zukunft wichtige Grundsatzentscheidung herbeigeführt: den Primat der Politik. Zum Antagonismus zwischen Politik und Militär schrieb er in seinen Memoiren: „Aufgabe der Heeresleitung ist die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte; Zweck des Kriegs die Erkämpfung des Friedens unter Bedingungen, welche der von dem Staate verfolgten Politik entsprechen.“20 Weiter heißt es: „Namentlich zu beurteilen, wann der richtige Moment eingetreten sei, den Übergang vom Krieg zum Frieden einzuleiten, dazu sind Kenntnisse der europäischen Lage erforderlich, die dem Militär nicht geläufig zu sein brauchen, Informationen, die ihm nicht zugänglich sein können. Die Verhandlungen in Nikolsburg 1866 beweisen, daß die Frage von Krieg und Frieden auch im Krieg stets zur Kompetenz des verantwortlichen politischen Ministers gehört und nicht von der technischen Armeeleitung entschieden werden kann.“21
Letztlich dürfe nur die politische Führung darüber entscheiden, wann die Zeit zum Krieg und wann die Zeit zum Friedensschluss gekommen sei, denn nur sie könne beurteilen, ob die Intervention neutraler Mächte drohe und der Abbruch der Kriegshandlungen notwendig sei. Die Subordination des Militärs unter die zivile Exekutive bedeutete eine Weichenstellung, welche die Politik des Kaiserreichs fortan bestimmen sollte – eine conditio sine qua non für Bismarcks zukünftige Bündnisdiplomatie. Und nicht nur für diese: Der
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Primat der Politik wurde eine konstitutive Voraussetzung für alle liberal-demokratischen Rechtsstaaten schlechthin. Der Politiker Bismarck hatte die Generäle auf den zweiten Rang verwiesen. Doch um welchen Preis!
Heiligt der Zweck die Mittel? Die Belagerung begann am 19. September 1870. Mit dem Ziel der schnellen Beendigung des Krieges sollte Paris von der Artillerie sturmreif geschossen und dann erobert werden. Dies lehnte Moltke entschieden ab, wobei er, wie gesagt, neben militärtaktische auch humanitäre Gründe anführte. Er wollte stattdessen die Kapitulation durch Aushungerung erzwingen. Ihre Einwohner sollten, wie es der Generalstabschef des Kronprinzen, Graf Blumenthal, in brutaler Landsknechtsprache formulierte, „wie tolle Hunde krepieren. Es kann uns ganz gleichgültig sein, was aus den Parisern wird, die es ja doch selbst so haben wollen.“22 Bismarck schreibt rückblickend: die Generäle und „unsere maßgebenden Kreise“ bevorzugten die Methode des Aushungerns, d. h. „die Übergabe von Paris sollte nicht durch Geschütze, sondern nur durch den Hunger herbeigeführt werden.“ Lakonisch kommentiert er: „Ob dieser Weg der menschlichere war, darüber kann man streiten.“23 In der Tat war die von den Militärs bevorzugte Methode zwar nicht so destruktiv und blutig, aber aus humanitären Gründen nicht minder verwerflich. Für Bismarck war die Haltung der Militärs völlig unverständlich. In seinen Memoiren schreibt er von „menschenfreundlicher Heuchelei, durch welche die Festung Paris gegen eine ernste Belagerung gedeckt wurde.“24 Er mokiert sich über den „Glanznebel“, „der die englischen resp. westmächtlichen Schlagworte ‚Humanität, Zivilisation‘ in deutschen, namentlich weiblichen Gemütern am große Hofe umgab“.25 Ebenso ärgert er sich über die „Redensart“ von Paris als dem „Mekka der Zivilisation“26 Durch „das zögernde Hinhalten“ der Beschießung von Paris „könnten unsere politischen Interessen schwer geschädigt werden. Eine weltgeschichtliche Entscheidung in dem jahrhundertelangen Kampf zwischen den beiden Nachbarvölkern stand auf dem Spiel und in Gefahr, durch persönliche und vorwiegend weibliche Einflüsse ohne historische Berechtigung gefälscht zu werden, durch Einflüsse, die ihre Wirksamkeit nicht politischen Erwägungen verdanken, sondern Gemütseindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Zivilisation, die aus England bei uns importiert werden, auf deutsche Gemüter noch immer haben.“27
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_________________________________________________ Heiligt der Zweck die Mittel?
Zu Recht verwies Moltke auf den verhängnisvollen Eindruck, den eine Artilleriebeschuss auf die internationale Öffentlichkeit machen müsse. Bismarck hingegen denunzierte diese Einwände als „Phrasenbeweihräucherung“, die auf eine „Intrige, angesponnen von Weibern, Erzbischöfen und Gelehrten“ zurückgehe.28 Doch für Bismarck waren ‚Humanität und Zivilisation‘ offenbar inhaltslose Schlagwörter und Phrasen, ohne tiefere Bedeutung, bloße Bremsklötze für sein großes Ziel. Dies erinnert fatal an das Schlagwort von der ‚Humanitätsduselei‘, mit dem Jahrzehnte später Pazifismus und christliche Nächstenliebe verspottet wurden. Und es wirft ein bezeichnendes Licht auf den Charakter des großen Staatsmannes, der – besessen von seinem Ziel der Reichseinigung sowie der Furcht vor der Einmischung anderer Mächte – alle vorgetragenen humanitären Einwände und Bedenken beiseiteschob, Bedenken, die er selbst offensichtlich nicht im Geringsten teilte. Hinter dem Zögern der Generäle vermutete Bismarck groteskerweise „weibliche Einflüsse“ und ignorierte zynisch, dass schon der preußische Militärkodex die Tötung von Zivilisten durch militärische Maßnahmen untersagte. Die moralischen Vorbehalte gegen die Beschießung von Paris waren für Otto von Bismarck bloß störende emotionale Phrasen und daher irrelevant für die pragmatischen militärstrategischen Entscheidungen. Es war für ihn offenbar eine völlig fremde Vorstellung, dass Humanität und Zivilisation Errungenschaften der abendländischen Kultur sind – überzeitliche ethische Werte. Wie von den Generälen befürchtet, hatten Belagerung und Beschießung verheerende Auswirkungen auf die Pariser Zivilbevölkerung: „Wo die schweren Granaten einschlugen, sorgten sie für Tod und Entsetzen. So wurde ein junger Bote, der für das Lazarett der Schauspielerin Sarah Bernhardt Medikamente abholte, vor ihren Augen buchstäblich ‚in zwei Stücke zerrissen … keine Augen, keine Nase, kein Mund waren mehr zu sehen, nur noch Haare am Ende eines blutigen Fetzens, der einen Meter von seinem Kopf entfernt lag‘.“29
Jeden Tag feuerten die schweren deutschen Geschütze bis zu 400 Granaten auf die französische Hauptstadt, Geschosse, die stärkstes Mauerwerk zertrümmerten und zahlreiche Brände entfachten. Zwar waren die Verluste unter der Zivilbevölkerung durch die Beschießung selbst, die sich vor allem auf militärische Anlagen konzentrierte, relativ gering (ca. 400 Menschen), aber Kälte, Hunger und Krankheiten forderten ungleich mehr Opfer. Es kam unter
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den Bewohnern der eingeschlossenen Hauptstadt zu einer schweren Hungersnot, die die Menschen zwang, Pferde, Hunde, Katzen und Ratten zu verzehren. Auch die Tiere des Pariser Zoos, darunter zwei Elefanten, wurden geschlachtet. Im Durchschnitt starben pro Woche etwa 800 bis 1.000 Menschen, Ende Januar waren es rund 5.000. Insgesamt fielen der Belagerung ca. 30.000 Menschen zum Opfer – Männer, Frauen und Kinder. Nach monatelanger Blockade war die Widerstandskraft der Pariser schließlich gebrochen: Der Hunger zwang die französische Regierung Ende Januar 1871 zur Kapitulation. Rückblickend erwies sich der Beschuss von Paris als doppelter Fehler: Zum einen erwies sich der Artilleriebeschuss als völlig unwirksam, die Moral der Eingeschlossenen zu brechen – die Pariser hielten viel länger durch als erwartet –, zum anderen kippte die Stimmung in Europa gegen Deutschland. Wie Moltke gewarnt hatte, wandte sich die öffentliche Meinung in Europa „gegen die Brutalität der Deutschen – ein Ruf, der seither an der Nation haften blieb.“30 Die preußische Militärführung und Bismarck hatten sich beim Kampf um Paris einer militärischen Taktik bedient, wie sie im Mittelalter üblich war und auch noch im Dreißigjährigen Krieg mit äußerster Grausamkeit praktiziert wurde: das Belagern und Aushungern einer mit Zivilisten überfüllten Stadt.31 Um den Krieg zu verkürzen, hatte sich Bismarck nach dem Grundsatz: „Der Zweck heiligt die Mittel“, über alle humanitären Bedenken hinweggesetzt – Bedenken, wie sie sogar die schlachtgewohnten Militärs erhoben hatten – und auf der Beschießung der Stadt bestanden. Dies – Artilleriebeschuss und Belagerung – war ein Rückfall in die Barbarei. Damit rückt Bismarck in die Nähe von Despoten wie dem Mongolen-Khan Timur Lenk oder Feldherren im Dreißigjährigen Krieg.32 Wenn nicht nach damaligen juristischen Standards, so war die Belagerung von Paris doch nach moralischen Maßstäben ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zwar gab es noch kein Völkerrecht und keine Haager Landkriegsordnung, die jegliche militärische Maßnahmen gegen Zivilisten verbieten, aber es gab bereits Bestrebungen zur Humanisierung des Krieges gemäß ethischer Normen und es gab den preußischen Militärkodex, der die Schonung von Zivilpersonen gebot. Dort wurde ausdrücklich zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterschieden.33 Im August 1870 hatte König Wilhelm I. einen Armeebefehl herausgegeben:
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_________________________________________________ Heiligt der Zweck die Mittel? „Ich erwarte, dass die Mannszucht, durch welche Ihr [die deutschen Soldaten] Euch bisher ausgezeichnet habt, sich auch besonders auf feindlichem Gebiete bewähren werde. – Wir führen keinen Krieg gegen die feindlichen Bewohner des Landes, es ist vielmehr die Pflicht jedes ehrliebenden Soldaten, das Privat-Eigenthum zu schützen und nicht zu dulden, dass der gute Ruf unseres Heeres auch nur durch einzelne Beispiele von Zuchtlosigkeit angetastet werde.“34
Das war nötig, denn mit zunehmender Dauer des Krieges wuchs der Hass zwischen Franzosen und Deutschen. Ein deutscher Offizier stellte mit Bestürzung fest: „Man rächt sich für gräuelhafte Angriffe durch Gräueltaten, die an den Dreißigjährigen Krieg erinnern.“35 Der Soldat Clovis Hardy erlebte am 6. August 1870 hautnah das Grauen des Krieges in einer Schlacht, die von morgens zehn bis abends um acht Uhr dauerte: „Die Verwundeten stöhnten und brüllten wie Schweine, die man ausbluten ließ. Die Ambulanz befand sich im Pfarrhaus, und der Arztmajor hatte viel zu tun. Die Verletzten kamen mit Karren an, zusammen mit den Sterbenden und denjenigen, die den Transport vom Schlachtfeld nicht überlebt hatten. […] Hinter der Kirche war ein riesiges Grab ausgehoben worden. Wenn ein lebloser Körper in die Grube gelegt wurde und ihm ein Gliedmaß oder mehrere fehlten, Bein oder Arm, Hand, Fuß oder Finger, hat einer der Gehilfen aus einem eher professionellen Verständnis heraus die fehlende Gliedmaße den Toten zugeordnet, die der Arzt amputiert hatte. […] Welch ein Elend!“36
Doch schon einen Monat später ignorierte der König seine eigene Maxime und gab auf Bismarcks Drängen den Befehl zur Beschießung der französischen Hauptstadt. Dabei wurde entgegen dem Kodex weder das Leben noch das Privateigentum der Pariser Bürger geschont. Bereits im August 1864 hatte in Genf eine Konferenz von zwölf Staaten stattgefunden, Resultat war die erste Genfer Konvention „betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen.“ Darin geht es um den Schutz der auf dem Schlachtfeld verwundeten Soldaten (was auf Vorschlag von Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes führte). „Aus dem Erfolg der Genfer Konferenz von 1864 resultierte bei vielen führenden Persönlichkeiten in Politik und Militär in Europa die Haltung, dass – auch unter militärischen Gesichtspunkten – eine Regulierung und ‚Humanisierung‘ des Krieges durch ein ‚ius in bello‘ (‚Recht im Kriege‘) sinnvoll wäre.“37
Wie sich bei der Belagerung von Paris gezeigt hat, gehörte Bismarck nicht zu diesen verantwortungsbewussten Persönlichkeiten. Bismarck handelte gemäß der Maxime: „Der Zweck heiligt die Mittel“, wobei er massiv gegen ethi-
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sche Prinzipien verstieß, wie sie sich in der abendländischen Kultur entwickelt hatten und z. B. von Immanuel Kant maßgeblich formuliert wurden.38 Fakt ist: Die barbarische Hungerblockade von Paris wirft einen schwarzen Schatten auf den lange als Nationalheld gefeierten Reichsgründer. Bismarcks wichtigstes Motiv für den Krieg war, wie gesagt, das politische Zusammenschmieden der in zahlreichen Kleinstaaten zersplitterten Deutschen durch den gemeinsamen Kampf gegen einen äußeren Feind. Diese durch Krieg erzwungene Einigung sah er als Vorbedingung für die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Die allgemeine Begeisterung über den Sieg war in der Tat so groß, dass sich die bis dato zögerlichen süddeutschen Staaten Bismarcks großem Ziel, der Gründung eines deutschen Zentralstaats unter preußischer Führung, nicht mehr verschlossen. Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles die Gründung des Deutschen Reiches mit der „Kaiserproklamation“ als monumentales Ereignis inszeniert. Doch diese Ausrufung des Preußenkönigs zum deutschen Kaiser in der alten Residenz der französischen Könige, einer Art Nationalheiligtum der Franzosen, war eine unerhörte Demütigung, eine Schmach, welche die Besiegten niemals vergessen würden. Die Gefühle der französischen Nation wurden aufs Tiefste verletzt und schürten den Hass auf die deutschen Sieger. Die französische Historikerin Hélène Miard-Delacroix kommentiert: „Das war kein Zufall, dass diese Kaiserproklamation in diesem Ort stattfand, insbesondere an diesem Tag. Denn der Spiegelsaal ist der schönste Saal in dem Schloss der französischen Könige und des Sonnenkönigs. Insofern ist es etwas Sakrales […]. Die Proklamation eines deutschen Nationalstaates im Kontext eines deutsch-französischen Krieges, die Proklamation eines militärisch geprägten Staates war aus französischer Sicht eine symbolische Aggression und eine Demütigung, eine Erniedrigung […] mehr noch als die Niederlage, und insbesondere in diesem Krieg, wo es auf beiden Seiten um die nationale Ehre ging. Auf der deutschen Seite gesehen war es eine Rache für die im Spiegelsaal dargestellte Zerstörung der Pfalz früher mal. Insofern ist es der Beginn einer Art Vendetta zwischen beiden Ländern.“39
Diese Erniedrigung Frankreichs habe zur deutsch-französischen Erbfeindschaft geführt und den Keim für weitere Kriege gelegt, konstatiert die an der Sorbonne lehrende Historikerin.40 Allerdings, und das übersieht die Historikerin, hatte diese ‚Erbfeindschaft‘ viel ältere Wurzeln, nämlich, wie schon erwähnt, die Verwüstung der Pfalz und Teile Badens durch die Truppen Ludwig XIV. im Pfälzischen Erbfolgekrieg. Dies hat man in den betroffenen Regionen nie vergessen.41
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_________________________________________________ Heiligt der Zweck die Mittel?
Abb. 18: Otto von Bismarck (rechts) mit Napoleon III. nach der Schlacht von Sedan, Gemälde von Wilhelm Camphausen (1878).
Hélène Miard-Delacroix verweist darauf, dass 1870/71 eine neue Dimension der Kriegsführung erreicht worden war: der nationale Volkskrieg. In allen Ländern habe sich eine sozialdarwinistisch geprägte Form des Nationalismus entwickelt, „mit der Vorstellung, dass es ein Kampf ums Überleben und um die Vorherrschaft gegenüber den Nachbarn ist“, womit die Gegnerschaft zu einer „Erbfeindschaft“ stilisiert wurde, die nicht nur die Kabinette und die Militärs einbezog, sondern auch die Völker, denen man erklärte, dass sie bis zum Äußersten gegen den Feind, gegen den Nachbarn kämpfen müssten. Mit dieser Wende am Ende des 19. Jahrhunderts sei der Erste Weltkrieg vorprogrammiert worden, „auch weil mit dieser Demütigung des französischen Staates, dieser Bevölkerung, der Geist der Revanche gepflegt wurde.“42 Die nationale Begeisterung der Deutschen über den Sieg kannte hingegen keine Grenzen.43 Die Kaiserproklamation markiert die Gründung des ersten deutschen Nationalstaats. Sie wurde im Spiegelsaal von Versailles vollzogen, weil dessen Deckengemälde Eroberungen deutscher Länder durch Frankreich verherrlichten. Der französische Historiker Jacques Bariéty sieht im Schloss von
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Versailles zum damaligen Zeitpunkt einen „der heiligsten Orte im Geschichtsbewusstsein Frankreichs“, nicht zuletzt, weil die große Mehrheit der Franzosen mit dem Schloss immer noch den Glanz einer vergangenen Epoche verband.44 Dass die durchdachte Inszenierung der Kaiserproklamation „viel Ähnlichkeit mit den Kaisererhebungen vergangener Jahrhunderte“ hatte, verstärkt den Eindruck von einer „Instinktlosigkeit ohnegleichen“.45 Doch Bismarck triumphierte: Er war am Ziel und hatte mit der Reichsgründung den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreicht. Der preußische Ministerpräsident avancierte zum Reichskanzler. Er wurde in den Fürstenstand erhoben und Wilhelm I. machte ihm den Sachsenwald in der Nähe Hamburgs zum Geschenk. Bismarck gehörte nunmehr zu den Großgrundbesitzern des Reiches und war, auch dank der geschickten Verwaltung seiner Gelder, bald ein reicher Mann.
Innenpolitik im Obrigkeitsstaat Der ‚Eiserne Kanzler‘, wie er im Volksmund bald genannt wurde, prägte als Reichskanzler über zwei Jahrzehnte die Politik des neu geschaffenen Reiches entscheidend. In Bismarcks System kontrollierte die Regierung das Parlament, den Reichstag, der nur zur Akklamation der Regierungsbeschlüsse fungierte; Regierungsverantwortung war den Parlamentariern verwehrt. Es war Herrschaft von oben, von der monarchischen Spitze her, exekutiert von einer staatshörigen Bürokratie, ohne jegliche Gewaltenteilung.46 Freilich gab es zu dieser Zeit im übrigen Europa auch keine echten Demokratien, auch nicht in England, obwohl dort das Parlament die Krone schrittweise entmachtet hatte, wodurch diese nur noch eine weitgehend repräsentative Funktion besaß.47 Im Gegensatz dazu war das Deutsche Reich ein autoritärhierarchisch strukturierter Obrigkeitsstaat. Die liberaldemokratische nationale Einheits- und Unabhängigkeitserhebung von 1848/49 war gewaltsam von preußisch-österreichischen Truppen unterdrückt worden – ganz im Sinne des damals jungen Krautjunkers Bismarck, der sich einen deutschen Nationalstaat nur als von Preußen dominierten monarchischen Fürstenbund vorstellen konnte, in welchem er auch seine Standesprivilegien am besten gewahrt sah.
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_______________________________________________ Innenpolitik im Obrigkeitsstaat
In der Tat war das neu entstandene Kaiserreich formal ein föderaler Fürstenbund unter preußischer Hegemonie, in welchem der Bundesrat (die Vertretung der Gliedstaaten) das höchstes Staatsorgan darstellte. Die aus Kaiser und Reichskanzler (Bundespräsidium) bestehende Staatsspitze beruhte auf den tragenden Säulen des absolutistischen Staates – Heer und Bürokratie – und besaß damit die entscheidenden politischen Machtmittel. Das Parlament, der Reichstag, hatte keinerlei Gestaltungs- oder Kontrollrechte, zumal auch das Recht zu seiner Auflösung bei Regierung und Bundesrat lag. Trotz Wahlrecht und Reichstag gab es keinen demokratischen Prozess, der die gesellschaftliche Spaltung und Konflikte hätte überwinden können. Der Zusammenhalt der Nation und die innere Einheit des Reiches musste stattdessen durch die Abwehr äußerer und die Ausgrenzung vorgeblicher innerer Feinde bewerkstelligt werden. Da die erste Hauptphase des Kaiserreiches von 1871 bis 1890 politisch völlig im Zeichen der Herrschaft des charismatischen Reichskanzlers Bismarck stand, ist von einer „Kanzlerdiktatur“ gesprochen worden. Versierter Innenpolitiker, der er war, gelang es ihm durch manipulative Herrschaftspraktiken wie die populistische Aktivierung kaisertreuer Mehrheiten (appel au people) sowie durch Androhung von Reichstagsauflösung und Neuwahlen, seine Ziele durchzusetzen. Innenpolitisch bekämpfte er im sogenannten Kulturkampf die katholische Kirche und mit den berüchtigten Sozialistengesetzen die aufkommende Arbeiterbewegung, führte aber gleichzeitig die fortschrittlichsten Sozialgesetze der Welt ein (z. B. die Zivilehe). In einer Reichstagsrede am 9. Oktober 1878 befürwortete Bismarck – wenn auch unter Vorbehalt – die Gründung von Gewerkschaften: „Ich habe […] mir erlaubt zu bemerken, daß ich eine jede Bestrebung fördern werde, welche positiv auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter gerichtet ist, also auch einen Verein, der sich den Zweck gesetzt hat, die Lage der Arbeiter zu verbessern, den Arbeitern einen höheren Anteil an den Erträgnissen der Industrie zu gewähren und die Arbeitszeit nach Möglichkeit zu verkürzen, soweit die Grenzen, die durch die Konkurrenz und die absatzfähige Fabrikation gegeben sind, beide Bestrebungen noch gestatten.“48
Bismarcks großes Verdienst, die Sozialgesetzgebung, hatte freilich in erster Linie den Hintergrund, die wachsende Anhängerschaft der Sozialisten zu befrieden und einzudämmen. Er bekämpfte die aufkommende Arbeiterbewegung vehement, wenn auch letztlich vergebens. Gleichzeitig schuf er die
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Grundlagen für die Sozialversicherungssysteme, die mit der anteiligen Finanzierung durch Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern richtungsweisend waren: 1883 kam die gesetzliche Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Rentenversicherung.
Diplomatie statt Krieg Außenpolitisch setzte Bismarck auf einen Ausgleich der rivalisierenden europäischen Mächte. Diplomatie sollte fortan den Krieg als Mittel der Politik ersetzen. Sein strategisches Ziel war ein Bündnissystem zur Einhegung des revanchelüsternen Nachbarn Frankreich. War er zu Beginn seiner Karriere noch ein Bellizist, der drei Kriege geführt hatte, so mutierte Bismarck nach der Reichsgründung zum „Pazifisten“, dem es durch eine kluge Bündnisstrategie gelang, in Europa mehrere Jahrzehnte den Frieden zu bewahren. Der Reichskanzler sah das Deutsche Reich als „saturiert“; kein imperialer Ländererwerb schwebte ihm vor. Noch im Januar 1887 erklärte er in einer Reichstagsrede: „Wir haben keine kriegerischen Bedürfnisse, wir gehören zu den – was der alte Fürst Metternich nannte: saturierten Staaten, wir haben keine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert erkämpfen könnten.“49 Um die alten Mächte nicht zu provozieren, zog der Reichskanzler es vor, sich mit dem Erreichten zu begnügen. Mit der deutschen Reichsgründung hatten sich die europäischen Machtverhältnisse, die sich in den letzten hundert Jahren herausgebildet hatten, grundlegend verändert, besaß doch das Kaiserreich eine gänzlich andere machtpolitische Qualität als das kleine Preußen. Daher galt das Deutsche Reich als Störenfried der internationalen Ordnung. Bismarck war klar, dass das allgemeine Misstrauen europäischer Staaten gegenüber Deutschland nur durch Selbstbeschränkung und den Verzicht auf weitere territoriale Gewinne abgebaut werden konnte, auch in Übersee. „Wir verfolgen keine Macht-, sondern eine Sicherheitspolitik“, bekräftigte er 1874.50 Bismarcks außenpolitisches Hauptziel nach 1871 war die Sicherung des neuen Reiches durch eine Bündnispolitik gegen Frankreich, die dem gedemütigten Nachbarn jede Möglichkeit nehmen sollte, selbst Bundesgenossen zu gewinnen. Auf seine Initiative unterzeichneten im Oktober 1873 Zar Alexander II., Kaiser Franz Joseph von Österreich und Kaiser Wilhelm I. das sogenannten Dreikaiserabkommen, einen Konsultativpakt geschlossen, um
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„den gegenwärtig in Europa herrschenden Friedenszustand zu befestigen“, um ihn „gegen alle Erschütterungen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, zu sichern, und wenn nötig zu erzwingen.“51 Neben der Isolation Frankreich diente das Abkommen Bismarck, die Isolation des Kaiserreichs zu durchbrechen. Seine Absicht war es, wie er im Sommer 1877 erklärte, „eine politische Gesamtsituation zu schaffen, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.“52 Dieses strategische Ziel erreichte Bismarck laut dem Historiker Christopher Clark mit Bravour. Clark resümiert: „Im Jahr 1887, auf dem Höhepunkt des Bismarck’schen Bündnissystems, war Deutschland in der einen oder anderen Form mit so gut wie jeder Kontinentalmacht über Abkommen verbunden. Der Dreibund mit Österreich und Italien und der Rückversicherungsvertrag mit Russland gewährleisteten, dass Frankreich isoliert blieb. Es war ihm nicht möglich, eine antideutsche Koalition zu schmieden.“53
Hinzu kam das durch Bismarcks Vermittlung geschlossene Mittelmeerabkommen zwischen Großbritannien, Italien und Österreich, welches das Kaiserreich indirekt (über den Dreibund) sogar mit England verband. Es war das bewunderte virtuose Artistenspiel mit den vielen Kugeln. Fakt ist: Bismarcks Außenpolitik mit seinem austarierten Bündnissystem konzentrierte sich auf die Erhaltung des europäischen Friedens. Ein massiver Kurswechsel erfolgte erst nach seiner erzwungenen Abdankung im März 1890, als seine diplomatisch unfähigen Nachfolger das komplizierte System auflösten. Doch Kritiker erheben Zweifel bezüglich des Narrativs vom großen Friedensstifter Bismarck. Der Politikwissenschaftler Christian von Krockow schreibt: „Was die Wahrung des Friedens angeht, muss man fragen, ob sie wirklich eine überragende Leistung darstellte. Selbst Bismarcks Nachfolger, obwohl sie keine ebenbürtigen Staatsmänner waren und schreckliche Fehler begingen, haben den Frieden für noch mehr Jahre erhalten als Bismarck in seiner Amtszeit als Reichskanzler seit 1871. Als Kaiser Wilhelm II. 1913 sein 25jähriges Amtsjubiläum beging, wurde er als ‚Friedenskaiser‘ gefeiert.“54
Dagegen kann man einwenden, dass der lange Frieden in Europa nach Bismarcks Entlassung auch eine Langzeitwirkung seiner weitsichtigen Friedensstrategie war. Ein anderer Kritiker, der britische Schriftsteller Edward Crankshaw, schreibt: Der Behauptung von Bismarcks Verteidigern, er habe
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zu seinen Lebzeiten durch seine Politik den Frieden in Europa bewahrt und Deutschland vor einem Zweifrontenkrieg gerettet, „stehe entgegen, dass niemand außer Frankreich auch nur die geringste Absicht hatte, mit Deutschland einen Krieg anzufangen, und es bedurfte keines Genies, alles so zu regeln, daß Frankreich keinen Krieg wagen würde, so lange Deutschland sich anständig benahm.“55
Doch auch das ist Spekulation. Die jahrzehntelange Isolierung Frankreichs durch eine ausgeklügelte Bündnisdiplomatie war zweifellos eine strategische Meisterleistung. Was den oft kolportierten Topos vom ‚Friedensstifter‘ Bismarck angeht, so muss man jedoch daran erinnern, dass er 1870/71 überhaupt erst den Keim für einen künftigen Krieg mit dem Nachbarland gelegt hat. Die skrupellose Annexion von Elsass-Lothringen, die instinktlose Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles sowie die barbarische Belagerung von Paris waren Kränkungen, die Frankreich niemals vergessen würde. Dies war eine schwere Hypothek, die der Reichskanzler seinen Nachfolgern hinterließ; das neu geschaffene Reich hatte schlimme Geburtsfehler, die den Keim zu Unfrieden und künftigen Kriegen bereits in sich trugen.
Bismarcks Kolonialpolitik – kein Platz an der Sonne Der Machtpolitiker Otto von Bismarck – weithin berühmt als Reichseiniger, Bündnisstratege und Begründer einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung – war in seiner Rolle bezüglich des deutschen und europäischen Kolonialismus lange Zeit, abgesehen von einigen Historikern, kaum bekannt. Doch das hat sich geändert. SPD-Kommunalpolitiker im bayerischen Landshut stellten im Juni 2020 im Stadtrat den Antrag, Bismarck sollte aus dem Stadtbild verschwinden und der dortige Bismarckplatz umbenannt werden. Der vormalige Reichskanzler habe diese Ehre nicht verdient. Bismarck sei, so berichtet der Landshuter Stadtgucker, zwar selbst kein Freund von Kolonien gewesen, aber er habe diese Gebiete zu Schutzgebieten erklären lassen und damit „den Grundstein für die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika und für den späteren Genozid ab 1904 gelegt, den der Kaiser Wilhelm II. zu verantworten hat.“56 Der Antrag wurde abgelehnt. Allerdings sind in der Tat auf diesem
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Gebiet Spuren seines Handelns zu finden, gilt doch der Reichskanzler manchem Kritiker nicht nur als Geburtshelfer des modernen, nationalstaatlich organisierten Afrikas, sondern auch als Begründer des deutschen Kolonialreiches. War er das? Dass ihm der Erwerb von Kolonien nicht so wichtig war, zeigte sich schon bei den Friedensverhandlungen 1870, als Bismarck das Angebot Frankreichs, anstelle von Elsass-Lothringen seinen vollen Kolonialbesitz in Cochinchina abzutreten, eine Region im Süden von Vietnam, spöttisch ablehnte: „O! O! Cochinchina! Das ist aber ein sehr fetter Brocken für uns; wir sind aber noch nicht reich genug, uns den Luxus von Kolonien leisten zu können.“57 Unmittelbar nach der Reichsgründung, als der politische Rahmen für eine nationale Kolonialpolitik bestand und die Stimmen nach einer Teilhabe Deutschlands an der kolonialen Aufteilung der Welt immer lauter wurden, wiederholte der Reichskanzler seine Ablehnung kolonialer Erwerbungen apodiktisch. So erklärte er im Februar 1871: „Ich will auch gar keine Kolonien. Die sind bloß für Versorgungsposten gut. […] Diese Kolonialgeschichte wäre für uns genauso wie der seid(e)ne Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben.“58
Die letzten drei Dekaden des 19. Jahrhunderts waren geprägt durch die imperiale Rivalität europäischer Kolonialmächte. Eine multipolare Mächtekonstellation hatte sich herausgebildet und war an die Stelle des bislang dominierenden Britischen Königreichs getreten, das sich nach der Niederlage Napoleons 1815 bei Waterloo als einzige Weltmacht herauskristallisiert hatte. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg, der die Kräfteverhältnisse in Europa zugunsten Deutschlands verschoben hatte – was die anderen Mächte, vor allem England, alarmierte – erklärte Bismarck zu deren Beschwichtigung das Deutsche Reich für territorial „gesättigt“. Er hatte kein Interesse, seine Friedensstrategie durch koloniale Aneignungen zu gefährden, von deren Nutzen er nicht überzeugt war. Tatsache ist: Bismarck war kein Kolonialenthusiast. Er wollte keine Kolonien, dafür war er viel zu sehr Pragmatiker. Schon 1868, am Vorabend der Reichsgründung, versuchte er, sich gegen die immer stärker werdende koloniale Begeisterung in deutschen Landen zu stemmen: „Einerseits beruhen die Vortheile, welche man sich von Colonien für den Handel und die Industrie des Mutterlandes verspricht, zum größten Theil auf Illusionen. Denn die Kosten, welche die Gründung, Unterstützung und namentlich die Behauptung der Colonien veranlaßt, übersteigen […] sehr oft den Nutzen, den das Mutterland daraus zieht, ganz abgesehen davon, daß es schwer zu
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Auch um die anderen europäischen Mächte, die das aufstrebende Kaiserreich mit Argwohn betrachteten, nicht zu provozieren, wollte der weitsichtige Außenpolitiker seine Strategie der Selbstbeschränkung nicht durch koloniale Abenteuer gefährden, die ein hohes Konfliktpotenzial mit anderen Staaten beinhalteten. Noch 1881 versicherte er: „So lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik. Wir haben eine Flotte, die nicht fahren kann, und wir dürfen keine verwundbaren Punkte in fernen Erdteilen haben, die den Franzosen als Beute zufallen, sobald es losgeht.“60
Wenig später erklärte er: „Solange das Reich nicht finanziell konsolidiert ist, dürfen wir an so teure Unternehmen nicht denken.“61 Selbst rund zwanzig Jahre später, im Dezember 1888, als das Kolonialfieber und die Sehnsucht nach einem „Platz an der Sonne“ die deutsche Öffentlichkeit längst erfasst hatten, bekräftigte Bismarck seine geopolitische Maxime gegenüber dem Afrikareisenden Eugen Wolf. Dessen Bitte, der Reichskanzler möge sich des Schicksals eines in Ägypten verschollenen deutschen Forschers annehmen, lehnte er entschieden ab: „Schicke ich einen preußischen Leutnant dahin, so muss ich unter Umständen noch mehr nachschicken, um ihn herauszuholen. Das führt uns zu weit. Die englische Interessenssphäre geht bis zu den Quellen des Nil, und das Risiko ist mir zu groß. Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Russland und hier […] liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte. Das ist meine Karte von Afrika.“62
Doch dem national-imperialistisch motivierten Drang der europäischen Mächte nach Kolonien konnte auch das Bismarckreich nicht widerstehen. Es waren zunächst privatwirtschaftliche Initiativen, die außereuropäische Besitzungen als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten anstrebten. So gründeten finanzkräftige Industrielle und Bankiers 1882 den ‚Deutschen Kolonialverein‘, und im März 1884 kam es zur Gründung der ‚Gesellschaft für deutsche Kolonisation‘, die es sich zur Aufgabe machte, Kapital zu beschaffen und geeignete Regionen für Kolonisationsprojekte zu prospektieren und zu erwerben. In einem vom deutschen Afrikapionier Carl Peters63 verfassten Aufruf appellierte die Gesellschaft an die Öffentlichkeit: „Es gilt, das Versäumnis von Jahrhunderten gutzumachen; der Welt zu beweisen, daß das
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deutsche Volk mit der alten Reichsherrlichkeit auch den alten deutsch-nationalen Geist der Väter überkommen hat!“64 Der Kolonisationsvorsprung der anderen europäischen Nationen sollte so schnell wie möglich aufgeholt werden.
Der Berliner Kongress – Vorspiel zur Afrikakonferenz Schon bald nach der Reichsgründung bot sich Bismarck die Gelegenheit, als Vermittler in einem schwelenden Konflikt den Argwohn der europäischen Mächte gegenüber dem Deutschen Kaiserreich zu zerstreuen. Es war der wegen der Balkankrise 1878 einberufene Berliner Kongress (nicht zu verwechseln mit der Berliner Konferenz von 1884/85), auf dem Bismarck sein diplomatisches Talent ausspielen konnte. Der Berliner Kongress, der die Koloniefrage in Afrika nur streifte, kann als Vorspiel zu der einige Jahre später stattfindenden Kongokonferenz angesehen werden, welche die Interessen der Kolonialmächte in Afrika regelte. Eigentlicher Hintergrund des Berliner Kongresses waren die Unabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Völker auf dem Balkan gegen die Hegemonie des Osmanischen Reiches. Russland unterstützte diese Freiheitsbewegungen mit militärischen Mitteln, weil es – getragen von der Idee des Panslawismus – sich als Schutzmacht der slawischen Völker auf dem Balkan und der orthodoxen Christen verstand und dort politischen Einfluss gewinnen wollte. Strategisches Ziel der russischen Außenpolitik war zudem der freie Zugang zum Mittelmeer am Bosporus, den die Osmanen kontrollierten. Andere europäische Mächte wie Großbritannien und Österreich-Ungarn schalteten sich ein, weil sie die Machtausweitung des Zarenreichs auf dem Balkan missbilligten. Als sich der Konflikt verschärfte und britische Flottenverbände in das Marmarameer einliefen, wurde auf Vorschlag des österreichisch-ungarische Außenministers Gyula Andrássy ein Kongress zur Regelung aller strittigen Fragen auf dem Balkan einberufen. Da das deutsche Kaiserreich auf dem Balkan keine Interessen hatte und Bismarck sich bereit erklärt hatte, als ‚ehrlicher Makler‘ einen Friedenskongress zu leiten, einigten sich die Großmächte auf Berlin als Tagungsort. Christopher Clark kommentiert: „[Bismarck] verringerte das Risiko, sich die Briten zum Feind zu machen, indem er sich aus dem Wettlauf um die kolonialen Besitztümer in Afrika und im Pazifik heraushielt.
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Otto von Bismarck _________________________________________________________ Er wahrte eine Haltung des absoluten Desinteresses an den Angelegenheiten auf dem Balkan und erklärte in einer berühmten Rede vor dem Reichstag im Dezember 1876, dass die Balkanfrage nicht ‚die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre.‘“65
Bismarck gelang es, die Mächte auf dem Berliner Kongress zu überzeugen, dass Deutschland die Rolle eines neutralen Hüters des kontinentalen Friedens spielen könne. In der Rolle des uneigennützigen Vermittlers im Balkankonflikt wollte der Reichskanzler demonstrieren, „dass der europäische Frieden und die deutsche Sicherheit in Wirklichkeit ein und dasselbe seien.“66 Bismarck erkannte das politische Potenzial, das in der Vermittlerrolle lag. Er erklärte im Reichstag: „Die Vermittlung des Friedens denke ich mir nicht so, dass wir nun bei divergierenden Ansichten den Schiedsrichter spielen […], sondern […] mehr die eines ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zustande bringen will.“67
Indem er sich als über den Parteien stehender ‚ehrlicher Makler‘ präsentierte, bedeutete dies für ihn auch innenpolitisch Prestigegewinn.
Bismarck plädiert für die Gleichstellung der Juden Als Gastgeber der Konferenz verwies Bismarck auf die „in Deutschland bestehenden Prinzipien bezüglich der öffentlichen Rechte“ und betonte, dass Deutschland großen Wert darauflege, seine rechtsstaatlichen Prinzipien auch „auf die äußere Politik“ auszudehnen.68 Er unterstützte den französischen Vorschlag, die Anerkennung der Balkanstaaten Rumänien, Bulgarien und Serbien von der rechtlichen Gleichstellung der Juden abhängig zu machen. Im Kern ging es darum, Diskriminierungen der südosteuropäischen Juden zu beseitigen. Wer „in die europäische Familie in derselben Weise wie die anderen Staaten eintrete“, so Bismarck, und die damit verbundenen Vorteile genießen wolle, müsse erst „die Prinzipien anerkennen, welche die Basis des sozialen Aufbaus in allen Staaten Europas bilden.“69 Antijüdische Gesetze seien daher nicht mehr zeitgemäß. Als der russische Außenminister Alexander Gortschakow diese Forderung mit dem Hinweis, die Juden des Balkans seien ‚eine Plage‘, vehement ablehnte, konterte Bismarck mit dem Argument, ob es nicht sein könne, dass „der bedauerliche Zustand der Israeliten vielleicht gerade auf die Be-
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schränkung in den politischen und bürgerlichen Rechten zurückzuführen“ sei.70 Damit verwies der Kanzler auf die eigentlichen Ursachen sozialer Probleme, eine moderne Erkenntnis, die bis heute das grundlegende Argument aller Antidiskriminierungsmaßnahmen ist. Damit steht fest: der ‚Eiserne Kanzler‘ war kein Antisemit.71 Weil das Deutsche Reich auf dem Balkan keine Interessen hatte und in Afrika keine Kolonien besaß, konnte Bismarck auch bei der Aufteilung Afrikas in europäische Interessensphären eine Vermittlerrolle übernehmen. Die auf Lösung drängende ‚Orientalische Frage‘ verknüpfte die Interessenpolitik der Großmächte in Europa mit jener in Afrika, da auch dort das zerfallende Osmanische Reich, ‚der kranke Mann am Bosporus‘, mit seiner Erbmasse in Ägypten und im Sudan koloniale Begehrlichkeiten weckte. Am 13. Juli 1878 wurde der Berliner Vertrag unterzeichnet. Die wichtigsten Verhandlungsergebnisse waren: Die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro wurde anerkannt; Österreich-Ungarn erhielt das Recht zur Okkupation von Bosnien und die Herzegowina (um den russischen Vorstoß auf dem Balkan zu kompensieren); Groß-Bulgarien wurde aufgeteilt in das Fürstentum Bulgarien, die Provinz Rumelien und das osmanische Mazedonien, was den Frieden von San Stefano zu Ungunsten Russlands revidierte. Der Kongress war erfolgreich: Er bannte die drohende Kriegsgefahr zwischen Russland, Großbritannien und Österreich-Ungarn, und Bismarck konnte sich als Friedensstifter inszenieren. Der größte Profiteur des Berliner Kongresses war Großbritannien, das nicht nur die zentrale Sperrung der Dardanellen für russische Kriegsschiffe im Kriegsfalle durchsetzte, sondern sich auch die Herrschaft über Zypern sicherte. Um den alten Rivalen Frankreich zu saturieren, bot London Paris die Herrschaft über Tunesien an, womit Afrika erstmals in den Fokus geriet. Bismarck machte den Handel perfekt und sicherte so den Erfolg des Kongresses. Nur Russland sah sich als Verlierer. Die Großmächte beurteilten Bismarcks Kongressleitung unterschiedlich. Bei den Briten erwarb sich der Reichskanzler Respekt, auch weil er darauf verzichtet hatte, für Deutschland Vorteile herauszuschlagen. „Bismarck und der in England populäre Premier Disraeli hatten sich zunächst skeptisch gegenübergestanden. Die anfängliche Ablehnung schlug jedoch bald in Sympathie um: Die ‚Illustrated London News‘ sprachen von ‚Dizzy‘ (Disraeli) und ‚Bizzy‘ (Bismarck). Der
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Otto von Bismarck _________________________________________________________ deutsche Reichskanzler erwarb sich in London nachhaltig den Ruf eines vertrauenswürdigen Außenpolitikers.“72
Doch der russische Staatskanzler und Außenminister Gortschakow und die russische Öffentlichkeit urteilten ganz anders: Sie machten Bismarck für die Preisgabe ihres ‚Siegfriedens‘ von San Stefano verantwortlich. Gortschakow, der die Ergebnisse des Berliner Kongresses später als seine größte diplomatische Niederlage bewertete, war nachhaltig verärgert. Die deutsch-russischen Beziehungen verschlechterten sich nach Juli 1878 merklich.
Die Kongokonferenz (auch Berliner Konferenz, Afrikakonferenz) Nach dem Erfolg des Berliner Kongresses bot sich dem deutschen Reichskanzler einige Jahre später noch einmal die Gelegenheit, als Vermittler und ‚ehrlicher Makler‘ aufzutreten. Die Kongokonferenz fand im Winter 1884/85 auf Bismarcks Einladung in Berlin statt und sollte die Machtverhältnisse und den Handel an Kongo und Niger regeln. Ihr Schlussdokument, die Kongoakte, bildete die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien der konkurrierenden europäischen Mächte – freilich mit der Ausnahme des Deutschen Reiches. Als auf der Berliner Kongokonferenz die europäischen Großmächte Afrika-Fragen verhandelten, war die koloniale Besetzung Afrikas längst im Gange. Zwar kontrollierten Europäer kleinere Gebiete des Kontinents, aber noch gab es keine national klar abgegrenzten Gebiete. Erkundung und Erschließung Afrikas entwickelten sich im 19. Jahrhundert immer mehr zum nationalen Wettlauf der europäischen Mächte. Triebfedern dieses Wettlaufs waren spektakuläre geografische Entdeckungen wie die langgesuchten Quellen des Nils durch britische Forschungsreisende. Kühne Abenteurer wie David Livingstone oder Henry Morton Stanley hatten den Weg ins Innere Afrikas gebahnt, auf dem sich die neue Landnahme abspielen sollte. Diese Forschungsreisenden hatten für aufklärerische Ideale wie den Respekt vor indigenen Kulturen wenig übrig. Ihnen ging es um persönlichen Ruhm und nationales Prestige. Der Afrika-Experte Andreas Eckert schreibt: „Geografische Entdeckungen zu machen und die weißen Flecken auf der Landkarte zu tilgen, verhieß dem Entdecker Ruhm und seinem Land zugleich ein koloniales Projekt.
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______________________________ Bismarcks Kolonialpolitik – kein Platz an der Sonne Aus den Entdeckungen wurden nicht selten territoriale Ansprüche der jeweiligen Nationen abgeleitet, denn die Berichte über tyrannische indigene Sklavenhalter lieferten den auf koloniale Expansion drängenden Kräften in Frankreich und England den Vorwand, die Aufteilung Afrikas als humanitären Kreuzzug gegen die Sklaverei auszugeben.“73
Humanitäre Gründe wurden vorgeschoben, doch in Wahrheit ging es um nationale Machtausdehnung und wirtschaftliche Interessen, sprich: die Ausbeutung der riesigen Ressourcen des afrikanischen Kontinents. Da mit freundlichem Entgegenkommen der unterdrückten Völker nicht zu rechnen war, musste mit harter Hand durchgegriffen werden. Dazu schreibt Andreas Eckert: „Die starke Hand des Kolonialstaates schien vonnöten, ja sie schien die einzige Chance zu sein, um die Afrikaner gleichsam vor ihrer eigenen Gewalt zu schützen und nebenbei den Kontinent auch wirtschaftlich für Europäer zu ‚öffnen‘. Öffnen war damals ein bevorzugtes Wort für die vermeintlichen Wohltaten des rechtmäßigen Kommerzes“.74
Zwar stand das 19. Jahrhundert im Zeichen der Aufhebung von Sklaverei und Sklavenhandel, doch auch nach dem offiziellen Verbot verschwand die innerafrikanische Sklaverei nicht, sondern nahm regional sogar noch zu, insbesondere in Westafrika, wo wegen der personalintensiven Produktion von Erdnüssen und Palmöl ein hoher Bedarf an Arbeitskräften bestand. Die über Jahrhunderte andauernde Tradition des Sklavenhandels in Afrika hatte die Sklaverei zu einer üblichen Form von Arbeitskraft und weithin akzeptierten Institution gemacht und nebenbei bestimmten Ethnien zu jener Dominanz verholfen, die notwendig war, um andere zu versklaven. Daher hatten viele afrikanische Herrscher kein Interesse an der Abschaffung. Doch letztlich war die Sklaverei wegen des englischen Verbotes des Sklavenhandels (Slave Trade Act, 1806/07) und des Risikos von Sanktionierungen durch die Kolonialmacht unattraktiv geworden. Nachdem Henry Morton Stanley mit der Erforschung des Kongobeckens 1874–1877 den letzten großen weißen Fleck auf der Landkarte Afrikas getilgt hatte, nahm Anfang der 1880er Jahre das europäische Interesse an Afrika stark zu.75 Mehrere europäische Staaten starteten nun ihren ‚Wettlauf um Afrika‘, einen Wettlauf, der in den 1880er Jahren zur Besetzung Tunesiens sowie Guineas durch Frankreich führte, während Großbritannien das nominell osmanische Ägypten okkupierte, das wiederum über den Sudan und Teile Somalias herrschte. Auch Italien war dabei und nahm Teile Eritreas in
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Besitz. Das Kongogebiet, das an Ressourcen reiche Herzstück Afrikas, war unter den rivalisierenden Großmächten besonders umstritten. Es weckte auch die Begehrlichkeit des belgischen Königs Leopold II., der 1876 die Internationale Afrika-Gesellschaft (Association Internationale Africaine, AIA) mit dem Ziel der Erforschung und ‚Zivilisierung‘ Afrikas gegründet hatte. Es folgte bald die Gründung der unter der Schirmherrschaft der AIA firmierenden Internationalen Kongogesellschaft, deren Anteile Leopold aufkaufte und sich so seine Herrschaft über das Kongobecken sicherte. Während die AIA zumindest nominell philanthropische Ziele verfolgte, war die Kongogesellschaft ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen des belgischen Königs. Mit diesem Täuschungsmanöver gelang es Leopold, sein koloniales Ausbeutungsprojekt unter den Deckmantel „der europäischen wissenschaftlichen Erkundung des Kontinents, der Zivilisationsmission und der Beendigung des Sklavenhandels zu stellen.“76 Diese zynische Täuschung sollte für die Bewohner der belgischen Kolonie fatale Folgen haben. Doch war das rohstoffreichste Gebiet Afrikas, der Kongo, nicht in den Besitz einer Großmacht gelangt, sondern in den des Königreichs Belgien, das für die europäische Kontinentalpolitik von geringer Bedeutung war. Deutsche Handelsgesellschaften betrieben die Gründung von Kolonien in Afrika und im Pazifik, die Bismarck als ‚Schutzgebiete‘ bezeichnete, weil er den Begriff ‚Kolonie‘ vermeiden wollte. Deutschland stellte das Lüderitzland (später Deutsch-Südwestafrika) sowie die Küsten Togos und Kameruns unter seinem ‚Schutz‘. Im Juli 1884 hissten Beauftragte Bismarcks in Togo die schwarz-weiß-rote Flagge des Deutschen Reiches, nachdem sie zuvor mit dem dortigen König Verträge abgeschlossen hatten. Das wirft die Frage auf, warum Bismarck seinen Kurs der kolonialen Abstinenz verließ und mit der Gründung von Schutzgebieten eine Konfrontation mit England riskierte, dessen Kapkolonie in direkter Nachbarschaft an Deutsch-Südwestafrika grenzte. Es war der starke Druck der öffentlichen Meinung, die nationale Sehnsucht nach dem ‚Platz an der Sonne‘, der sich der Reichskanzler nicht länger entgegenstemmen konnte. Dieser ‚Wettlauf um Afrika‘ war der Hintergrund, vor dem die Kongokonferenz stattfand. Was waren Bismarcks politische Ziele dabei? Der Historiker und Afrikaexperte Helmut Bley fasst zusammen, Bismarcks Hauptmotivation habe darin bestanden,
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______________________________ Bismarcks Kolonialpolitik – kein Platz an der Sonne „die rasante Okkupation afrikanischer Regionen durch Frankreich und Großbritannien abzubremsen und die Ansprüche anderer europäischer Mächte zur Geltung zu bringen. So erfolgte allein durch die Annahme der Konferenzeinladung nach Berlin die Anerkennung der deutschen Kolonialerwerbungen. Zugleich versuchte sich Reichskanzler Bismarck im spannungsreichen Verhältnis des deutschen Kaiserreiches zu Frankreich und England als Vermittler einzuschalten.“77
Kritiker werfen Bismarck vor, er habe mit dieser Konferenz den europäischen Kolonialismus begründet. Afrika sei unter seiner Ägide wie ein ‚Schokoladenkuchen‘ unter den Großmächten aufgeteilt worden. Das ist falsch. Der Reichskanzler war weder ein Begründer noch Verfechter des Kolonialismus, sondern im Gegenteil ein entschiedener Gegner kolonialer Landnahme. Tatsächlich „ging es ihm weniger um Afrika als um das Prestige des zur Supermacht avancierten Deutschen Reichs und um die Chance, Schiedsrichter zu spielen auf internationalem Parkett. Die Kongo-Konferenz sollte dem Interessenausgleich dienen sowie der Vermeidung von Kriegen.“78
Ohne eigene koloniale Ambitionen wollte Bismarck die Rolle eines Mediators übernehmen und den in Afrika chaotisch wuchernden Kolonialismus der Großmächte durch ein Regelwerk in geordnete Bahnen lenken. Zudem wollte er Frankreich kolonial saturieren und so die französischen Revanchegelüste wegen des verlorenen Krieges von 1870/71 beschwichtigen; und er wollte Großbritannien zur Anerkennung der deutschen Überseepräsenz bewegen. So lud Bismarck die Vertreter der europäischen Mächte zu einer Konferenz nach Berlin ein, ebenso Repräsentanten der USA und des Osmanischen Reiches. Die Konferenz begann am 15. November 1884 im Reichskanzlerpalais und endete am 26. Februar 1885 mit der Unterzeichnung der Kongoakte. Darin wurden die Interessensphären der Kolonialmächte abgesteckt und Regeln für die koloniale Praxis aufgestellt. Die Kongoakte regelte in 38 Artikeln u. a. folgende Punkte:79 – Die 14 Signatarstaaten genossen Handelsfreiheit im gesamten Einzugsgebiet des Kongos sowie des Njassasees und östlich davon im Gebiet südlich des 5. nördlichen Breitengrades. Es umfasste die heutigen Staaten Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Uganda, Kenia, Ruanda, Burundi, Tansania und Malawi sowie den Großteil von Zentralafrika, den Süden von Somalia, den Norden von Mosambik und Angola sowie kleinere Teile von Gabun, Kamerun, Südsudan, Äthiopien und Sambia.
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– Die Flüsse Niger und Kongo wurden für die Schifffahrt freigegeben. – Das Verbot des Sklavenhandels wurde international festgelegt. – Der Grundsatz wurde festgeschrieben, dass nur jene Macht das Recht auf Erwerb einer Kolonie haben sollte, die sie tatsächlich in Besitz nahm (Prinzip der Effektivität). – Für den Fall bewaffneter Konflikte zwischen Vertragsstaaten wurde die Möglichkeit der Neutralität der „im konventionellen Kongobecken einbegriffenen Gebiete“ vorgesehen (Art. 10–11). Die Begrenzung des Gültigkeitsbereiches ist im Artikel 1 genau geregelt. Bei den Verhandlungen ging es auch darum, das riesige Kongogebiet im Zentrum Afrikas nicht aufzuteilen, sondern als eine Art Freihandelszone zu etablieren. Deshalb wurde in der Abschlusskonferenz der Kongo-Freistaat als Privatbesitz der belgischen Kongogesellschaft bestätigt. Damit gehörte das Territorium der heutigen Demokratischen Republik Kongo mit mehr als zwei Millionen Quadratkilometern de facto dem triumphierenden Leopold II., der seinen Privatstaat bekam. Durch diese Privatisierung wurde das Herzstück Afrikas machtpolitisch neutralisiert und damit der Kontrolle der europäischen Öffentlichkeit entzogen. Unter Leopolds Schreckensregime wurde das blutigste Ausbeutungsprojekt des europäischen Kolonialismus etabliert und ist unter dem Stichwort ‚Kongogräuel‘ in die Kolonialgeschichte eingegangen.80 Knechtung und Versklavung der Bewohner des Kongobeckens fanden erst mit dem Tod es Königs 1908 ein Ende, als der belgische Staat auf internationalen Druck das Kongobecken übernahm. Die Folgen der Konferenz für die weitere Kolonialisierungsgeschichte Afrikas waren tiefgreifend. Nach Festlegung der rechtlichen ‚Spielregeln‘ beschleunigte sich der ‚Wettlauf um Afrika‘, so dass binnen drei Jahrzehnten der Kontinent fast völlig unter europäischer Herrschaft stand. Wie ein Blick auf die Landkarte zeigt, wurde bei Grenzziehung keinerlei Rücksicht auf die lokale Bevölkerung genommen. Bismarck hatte sich bei der Kongokonferenz wieder einmal als ‚ehrlicher Makler‘ bewährt, doch sein Interesse an der Kolonialpolitik blieb dominiert von innenpolitischen und europäisch-strategischen Überlegungen. Als hauptsächlich kontinentale Macht ohne Kolonialbesitz konnte sich Deutschland aus den Konflikten der großen Kolonialmächte um Afrika, den Nahen und Mittleren Osten sowie China heraushalten und war immer in der Lage, die rivalisierenden europäischen Großmächte England, Frankreich und
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Russland gegeneinander auszuspielen – ein Strategie, die Bismarcks oberstes Ziel, die Sicherheit des Reiches, beförderte. Doch diese Strategie hatte auch ihren Preis: Das industriell erstarkte Deutschland musste sich trotz seiner Möglichkeiten dem Wettlauf der europäischen Mächte um die ‚Futterplätze‘ in Afrika und Asien enthalten und die Aufteilung dieser Regionen den imperialen Großmächten überlassen. Dazu schreibt der Historiker Christopher Clark: „Die Konsequenz war ein Gefühl der nationalen Lähmung, das bei den Wählern gar nicht gut ankam, deren Stimmen über die Zusammensetzung des Reichstags entschieden. Der Gedanke an koloniale Besitzungen – die man sich als Eldorado mit billigen Arbeitskräften und Rohstoffen vorstellte sowie als boomenden Exportmarkt, in dem eine wachsende Bevölkerung aus Einheimischen und Siedlern fleißig Waren aus dem Mutterlande kaufte – war für die deutsche Mittelschicht ebenso verführerisch wie für die etablierten europäischen Reiche.“81
Diese sich ausbreitende Stimmung im Reich setzte Bismarck mächtig unter Druck, so dass er sich im Nachgang der Kongokonferenz 1884/85 genötigt sah, die kolonialen Ambitionen des aufstrebenden Bürgertums zu befriedigen, indem er den Erwerb einiger kolonialer Besitzungen billigte. So den Versuch, in Namibia Fuß zu fassen, wo der Bremer Kaufmann Heinrich Vogelsang im Jahr 1883 Land entlang der Küste des heutigen Namibia gekauft hatte, was jedoch prompt zur Konfrontation mit England führte. Auf Bismarcks offizielle Anfrage bei der britischen Regierung, ob sie Ansprüche auf dieses Gebiet erhebe, kam aus London die schroffe Antwort, dass Großbritannien nicht gewillt sei, irgendeinem anderen Land zu gestatten, in dieser Region (gelegen zwischen dem portugiesischem Angola und der britischen Kapkolonie) territorial Fuß zu fassen. Bismarck schäumte vor Wut, weil Großbritannien sich das Privileg einer „afrikanischen Monroe-Doktrin“ anmaßte.82 Er erhöhte den politischen Druck, so dass London, abgelenkt durch Spannungen mit Russland und Frankreich über Kolonialfragen in Afghanistan und Afrika, schließlich nachgab. Es wurde jedoch deutlich, wie schwierig es für die letzte Großmacht in Europa war, an den kolonialen ‚Futtertrögen‘ noch einen Platz zu ergattern. Es zeigte sich, dass Berlins Versuche, deutschen Interessen außerhalb Europas nachzugehen, unweigerlich auf britischen Widerstand stoßen würden. So beim Großprojekt der Bagdadbahn, als der türkische Sultan Abdul Hamid
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der deutschen Bagdadbahn-Gesellschaft den Auftrag erteilte, eine Abzweigung der anatolischen Bahnlinie von Konja bis Bagdad zu bauen, das damals noch offiziell zum Osmanischen Reich gehörte. Es kamen lautstarke Proteste seitens der britischen Regierung, die in dem von der Deutschen Bank finanzierten Projekt ein unbefugtes Eindringen in die englische Sphäre sah. Doch das Projekt wurde realisiert.83 Christopher Clark kommentiert: „Bei dieser Episode gingen britische Politiker wie in vielen anderen Streitfällen von der Annahme aus, dass britische imperiale Interessen ‚vital‘ und ‚unverzichtbar‘, die deutschen hingegen lediglich ‚Luxus‘ seien, deren tatkräftiges Anstreben von anderen Mächten zwangsläufig als Provokation gewertet wurde.“84
So auch beim Streit um den britisch-kongolesischen Vertrag von 12. Mai 1894, durch den England einen 25 km breiten Landstreifen erhielt, der den Effekt hatte, dass Deutsch-Ostafrika von einem Kordon britischen Territoriums umgeben war. Zwar musste England auf massiven Druck der deutschen Regierung in diesem Fall nachgeben, doch es war klar, dass weitere Konfrontationen mit dem imperialen Großbritannien kaum zu vermeiden waren, wenn das Deutsche Reich territoriale Ansprüche in Afrika erhob.
Kolonialist wider Willen Bismarck, der diese Konflikte bei einer forcierten deutschen Kolonialpolitik vorausgesehen und dessen koloniale Zurückhaltung solche Konfrontationen lange Zeit vermieden hatte, musste nachgeben, denn der Ruf nach deutschen Kolonien erscholl im Volk immer lauter. Widerwillig stellte er Schutzbriefe aus, um private Investitionen abzuschirmen; so am 24. April 1884, als der Kanzler den deutschen Konsul in Kapstadt telegrafisch anwies, die Besitzungen des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz in Südwestafrika unter deutschen Schutz zu stellen. Das Telegramm gilt heute als „Geburtsstunde des deutschen Kolonialismus“,85 und dies, obwohl Bismarck keine staatliche Kolonisierung betreiben wollte. Doch Kolonialagitatoren wie Carl Peters wurden nicht müde, ihre Argumente vorzutragen: Kolonien würden nach ihrer Erschließung Absatzmärkte für deutsche Industriewaren bieten. Sie würden ein Auffangbecken für die deutsche Auswanderer bieten und so das Problem die Überbevölkerung lösen helfen. Überdies habe Deutschland eine ‚KulturMission‘, denn es sei berufen, seine ‚überlegene Kultur‘ auch in Übersee zu
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verbreiten. Zudem biete der Erwerb von Kolonien eine Möglichkeit zur Lösung der sozialen Frage, denn die Arbeiter würden sich, fasziniert von der nationalen Aufgabe der Kolonisierung, von der Sozialdemokratie abwenden, wodurch der Zusammenhalt der Nation gestärkt würde. Doch Bismarck zeigte sich diesen Argumenten unzugänglich. Er betrachtete die Kolonien als Fehlinvestitionen, die viel mehr kosten als einbringen würden (womit er Recht behielt).86 Doch seine restriktive Kolonialpolitik wurde heftig kritisiert, so von dem bekannten Historiker, Publizisten und Antisemiten Heinrich von Treitschke, der 1890 in einer Vorlesung an der Berliner Universität erklärte, Deutschland sei bei der Verteilung der nichteuropäischen Welt unter die europäischen Mächte „bisher immer zu kurz gekommen.“87 Dabei gehe es doch „um unser Dasein als Großstaat bei der Frage, ob wir auch jenseits der Meere eine Macht werden können.“ Sonst eröffne sich die „grässliche Aussicht, dass England und Russland sich in die Welt teilen, und da weiß man wirklich nicht, was unsittlicher wäre, die russische Knute oder englische Geldbeutel.“88 Bismarck gab nach, und im selben Jahr folgten staatliche Schutzbriefe für Togo und Kamerun, und im Februar 1885 erhielt die ‚Gesellschaft für deutsche Kolonisation‘ des Kolonialpioniers und Afrikareisenden Carl Peters förmlichen Reichsschutz für die von ihr erworbenen Gebiete in Ostafrika. Rund drei Monate später stellte Kaiser Wilhelm I. die Pazifik-Territorien der kurz zuvor ins Leben gerufenen Neuguinea-Kompanie unter den Schutz des Reiches. Fakt ist: Obwohl Reichskanzler Bismarck kolonialen Erwerbungen im Grunde sehr skeptisch gegenüberstand, wurden dennoch unter seiner Kanzlerschaft die meisten Kolonien des Deutschen Reichs erworben. Die Kolonialbewegung wurde zu einem ernstzunehmenden Faktor in der deutschen Innenpolitik, den auch Bismarck auf Dauer nicht ignorieren konnte.
Kritik der Afrikakonferenz Mit der Kongokonferenz verbindet sich die heute weitverbreitete Vorstellung, dass die Grenzen der Kolonien in Afrika willkürlich festgelegt wurden. Tatsächlich erfolgte diese Aufteilung ohne Rücksicht auf ethnische oder religiöse Gegebenheiten der indigenen afrikanischen Völker. Doch „keines-
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wegs zogen die europäischen Diplomaten in Berlin (wie viele Afrikaner hartnäckig meinen) mit dem Lineal Grenzen kreuz und quer durch den Kontinent“, schreibt der Politologe und Historiker Franz Ansprenger.89 Hingegen sehen afrikanische Intellektuelle häufig in der Kongokonferenz das Fanal von Fremdherrschaft und kolonialer Gewalt. Aus ihrer Sicht war die Konferenz eine „konzertierte Aktion der europäischen Großmächte, deren Folgen bis in die krisenhafte Gegenwart hineinreichten und auf die (pan-)afrikanische Antworten erforderlich seien.“90 Diese Konferenz habe das ‚freie Afrika‘ zugunsten eines kolonialen Systems zerstört, habe willkürlich Grenzen gezogen und die afrikanischen Völker brutal unterdrückt. Davon habe sich der Kontinent bis heute nicht erholt. Wenn auch diese Kritik zum Teil berechtigt ist, ist es doch keineswegs so, dass Afrika vor dem Kolonialismus ein Kontinent ohne Konflikte und Fremdherrschaft gewesen wäre. Schon in der Antike haben die ägyptischen Pharaonen Schwarzafrikaner für den Tempelund Pyramidenbau im großen Stil rekrutiert und versklavt; genauso wie arabische Sklavenhändler über Jahrhunderte mit Unterstützung einheimischer Potentaten ihrem schmutzigen Geschäft der Sklavenjagd nachgegangen sind. Auch haben nicht wenige afrikanische Völker ihre Nachbarn unterworfen und geknechtet, wie es z. B. die Hirtenvölker der Tutsi und Watussi mit den sesshaften Hutus und Bantus getan haben.91 Der elementare Gegensatz zwischen den dominanten Hirtenvölkern und den Ackerbau treibenden Ethnien durchzieht die südöstlichen Regionen des Kontinents bereits seit dem 16. Jahrhundert, als eine Migrationswelle hamitischer Viehzüchter aus dem Norden im Zwischenseengebiet eintraf. Der uralte Gegensatz zweier verfeindeter Ethnien (Tutsi und Hutus) hat in jüngster Zeit zum grauenhaften Völkermord in Ruanda geführt. Auch die Behauptung, Afrika sei auf der Kongokonferenz wie ein Kuchen unter den imperialistischen Mächten aufgeteilt worden (mit Bismarck als Geburtshelfer), hält einer näheren Betrachtung nicht stand, denn nur der Kongo-Freistaat ging als (halbwegs) klar umrissener Staat aus der Konferenz hervor. Zum Zeitpunkt der Konferenz war die koloniale Aufteilung des Kontinents längst im Gange, die europäischen Mächte hatten ihre ‚Claims‘ in Afrika schon früh abgesteckt. Portugal war bereits seit dem 16. Jahrhundert in Mozambique und Angola präsent; die Holländer seit der Besetzung der KapHalbinsel in Südafrika ab 1652; die Franzosen seit der Besetzung Ägyptens
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durch Napoleon (1798, ► Napoleon Bonaparte) sowie seit 1830 nach der Eroberung Algeriens; England war schon seit der Annexion von Lagos in Nigeria im Jahr 1861 vor Ort. Auch imperialistische, mit Waffengewalt einhergehende koloniale Landnahme war bereits im Gange: England hatte in den 1870er Jahren das Zulu-Königreich im südlichen Afrika, das Königreich der Asante in Ghana und in den 1890er Jahren das Königreich Benin92 erobert sowie Sansibar unter seine Kontrolle gebracht. Als das Deutsche Reich im Südwesten des Kontinents Fuß zu fassen versuchte, stieß es auf massiven Widerstand der Briten. Sie betrachteten die Deutschen als Eindringlinge in ihre Interessenssphäre. Ähnlich militärisch aggressiv operierten die Franzosen in Westafrika und im Sahelgebiet. Erst in den drei folgenden Dekaden legten die Europäer im Wettstreit um Afrika (Scramble for Africa) jene internationalen Grenzen fest, die noch heute weitgehend Geltung haben.
Das Ende von Bismarcks Kolonialpolitik Nach der Entlassung Bismarcks 1890 verfolgte Kaiser Wilhelm II. eine imperialistische Kolonialpolitik, mit der er in scharfe Konkurrenz zu den anderen europäischen Großmächten trat. Der Besitz von Kolonien sollte jetzt der deutschen ‚Weltgeltung‘ dienen. Während der wirtschaftliche Nutzen der deutschen Kolonien äußerst gering war, erwiesen sich die politischen Konsequenzen der deutschen Kolonialpolitik als extrem negativ (beides hatte der Reichskanzler vorausgesagt). Bereits 1891 wurde unter der Ägide Kaiser Wilhelm II. der ‚Alldeutsche Verband‘ gegründet, dessen Ziel „die Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen in allen Ländern war, wo Angehörige unseres Volkes um die Behauptung ihrer Eigenart zu kämpfen haben.“93 Deutschland sollte aus seiner ‚Isolation‘, d. h. Begrenzung auf Europa, befreit werden und in den Rang einer Weltmacht aufsteigen. Jetzt ging es nicht mehr nur um Schutzbriefe für Kaufleute zur Förderung privater Investitionen im Ausland. Während Bismarck die deutschen Kolonien lediglich als Handelsstützpunkte betrachtet hatte, sah der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein in ihnen vor allem eine Erweiterung des deutschen Herrschaftsbereichs und die Voraussetzung für die angestrebte Weltmachtpolitik. Ein schärferer Kontrast zu Bismarcks verhaltener Kolonialpolitik ist kaum denkbar. Nach seiner Abdankung musste der Altkanzler von seinem Ruhesitz
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aus grollend zusehen, wie sein Nachfolger im Amt, Caprivi, und Kaiser Wilhelm II. nicht nur sein sorgfältig geschmiedetes, zwischen den Großmächten austariertes Bündnissystem auflösten, sondern auch seine Zurückhaltung in Sachen Kolonien völlig aufgaben, weil sie dem Deutschen Reich aus Nationalprestige unbedingt einen „Platz an der Sonne“ verschaffen wollten – koste es, was es wolle.94 Es genügte nicht mehr, den Status einer europäischen Großmacht errungen zu haben, man wollte jetzt auch Weltmacht werden. Um koloniale Besitzungen in Übersee zu gründen und zu verteidigen, bedurfte es logischerweise auch einer bewaffneten Hochseeflotte, was unvermeidlich die Gegnerschaft Englands hervorrief, das sich durch den Bau einer großen konkurrenzfähigen deutschen Flotte provoziert fühlte, weil diese seine Monopolstellung als führende europäische See- und Weltmacht gefährdete. All dies war unter Bismarcks Kanzlerschaft vermieden worden. Nach seiner Abdankung traten nationalistische Großmannssucht, Streben nach Weltgeltung und imperialistische Ambitionen an die Stelle kluger Bündnisdiplomatie und kolonialer Abstinenz – mit verheerenden Folgen, wie sich im Ersten Weltkrieg zeigen sollte.
Bismarcks Nationalitätenpolitik Die Aktualität der Kritik an der ehemaligen Kultfigur Bismarck zeigt die Diskussion um die Wiedererrichtung eines 1950 zerstörten Bismarckdenkmals auf dem Gipfel des Czorneboh in der Oberlausitz. Nach anfänglicher fast einstimmiger Genehmigung durch den Stadtrat von Bautzen im Oktober 2021 wurde das Projekt im November auf Protest der Gegner gestoppt. Die Kritik kam vom Sorbischen Institut in Bautzen und von der Domowina. In einem offenen Brief an den Stadtrat verurteilten die Autoren Bismarcks Politik als autoritär, nationalistisch und minderheitenfeindlich.95 Die Entscheidung der Wiedererrichtung des Bismarckdenkmals zeuge von beispielloser Geschichtsvergessenheit. Der Beschluss hebe „eine historische Persönlichkeit auf den Sockel, die nicht im Geringsten als positiver Bezugspunkt der Erinnerungskultur einer demokratischen, solidarischen und weltoffenen Gesellschaft“ tauge.96 Hintergrund dieser Kritik war Bismarcks Politik gegenüber ethnisch-nationalen Minderheiten, bei denen er auf kompromisslose Ger-
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manisierung zielte. „Die preußische Politik gegenüber sorbischen, polnischen, dänischen und französischen Staatsbürgern“ sei „durch permanentes Misstrauen und anhaltende Repressionen gekennzeichnet“ gewesen – „von der Verdrängung und dem Verbot ihrer Sprachen im öffentlichen Raum (namentlich im Schulunterricht), der Überwachung und Inhaftierung bis hin zur Enteignung und Ausweisung einzelner oder ganzer Gruppen“, heißt es in dem offenen Brief des Sorbischen Instituts.97 So wurde auch die Ausweisung von Polen ohne preußische Staatsangehörigkeit beschlossen. Zwar hegte Bismarck keinen persönlichen Hass gegen die Polen, aber Sympathie hatte er für sie auch nicht. 1861 schrieb er an seine Schwester: „Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen; ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts andres thun, als sie ausrotten; der Wolf kann auch nicht dafür, daß er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür todt, wenn man kann“.98
Diese fatalistische, um nicht zu sagen sozialdarwinistische Sichtweise erlaubte es ihm, die Interessen der Polen – besonders ihren Wunsch nach Selbstständigkeit und einem eigenen Staat – jederzeit den strategischen Zielen seiner Politik unterzuordnen. So bei der Alvenslebenschen Konvention, einer formelle Militärkonvention zwischen dem Russischen Reich und dem Königreich Preußen zur gegenseitigen Unterstützung bei der Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1863, womit Bismarck, damals noch preußischer Ministerpräsident, den Weg für die Tolerierung seiner Einigungspolitik durch Russland bahnte.99 Kritiker behaupten sogar, die Germanisierungspolitik des Reichskanzlers sei ‚rassistisch‘ gewesen.100 Doch der inzwischen inflationär gebrauchte Begriff ‚rassistisch‘ ist in diesem Kontext deplatziert. Ebenso wie bei seiner Westpolitik gegenüber Frankreich (Annexion von Elsass-Lothringen) ist die Unterstellung rassistischer Motive bei seiner Ostpolitik gegenüber Polen völlig abwegig. Es waren machtpolitische Erwägungen, die seine Polenpolitik bestimmten, wie dieses Zitat belegt: „Man kann Polen in seinen Grenzen von 1772 herstellen wollen, ihm ganz Posen, Westpreußen und Ermland wiedergeben; dann würden Preußens beste Sehnen durchschnitten. Andererseits kann eine Wiederherstellung Polens in einem geringeren Umfange beabsichtigt werden, etwa so, daß Preußen nur den entschieden polnischen Teil des Großherzogtums Posen hergäbe. In diesem Fall kann nur der, welcher die Polen gar nicht kennt, daran zweifeln, daß sie unsere geschworenen Feinde bleiben würden, solange sie nicht die Weichselmündung und außerdem jedes polnisch redende Dorf in West- und Ostpreußen, Pommern und Schlesien von uns erobert haben würden. Ein rastloser Feind würde geschaffen, viel gieriger als der russische Kaiser.“101
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Ähnlich wie im Falle von Frankreich glaubte Bismarck auch bei Polen an eine quasi naturgegebene Gegnerschaft, die auf Dauer nur durch eine repressive Eindämmungspolitik zu kontrollieren wäre. Doch mag seine Politik der Germanisierung und Ausgrenzung der polnischen Minderheit aus taktisch-nationalpolitischem Interesse logisch gewesen sein, aus strategischer Perspektive war sie verfehlt, weil sie das deutsch-polnische Verhältnis nachhaltig vergiftete.
Bismarck-Denkmäler beseitigen? Schon seit der Antike manifestiert sich der Kult um Heroen in Denkmälern und eingemeißelten Inschriften. Besonders das national gesinnte 19. Jahrhundert bescherte den europäischen Staaten, allen voran dem neu entstandenen Deutschen Reich, eine Flut von Denkmälern im öffentlichen Raum. Bald nach Bismarcks Tod entstand ein beispielloser Kult um seine Person. Das Lexikon der Bismarck-Denkmäler zählt etwa 240 Bismarcktürme, rund hundert monumentale Standbilder und zahllose Büsten, Gedenksteine und Wandtafeln.102 Damit nicht genug: Nach dem Reichsgründer wurden auch ein Farbstoff (Bismarckbraun Y), eine Palmenart (Bismarckia nobilis) sowie eine Zubereitungsart von Heringsfilets (Bismarckhering) benannt. Historiker glorifizierten den Reichsgründer als außenpolitisches Genie, charismatischen Staatsmann und begnadeten Schöpfer des nationalen Einheitsstaates. „Bismarck wurde zur Leitfigur eines brachialen Nationalismus und eines Weltmachtstrebens, das gar nicht im Sinne des Reichsgründers war.“103 Die bald nach seinem Tod entstandene national-imperialistische Bewegung bemächtigte sich des ‚Eisernen Kanzlers‘ als dem „deutsch-nationalsten Manne unseres Vaterlandes […] unserem Nationalheros, unserem Bismarck.“104 Er wurde zur Identifikationsfigur der Deutschen, zum ‚Helden‘, der mit der Gründung des Kaiserreichs Deutschland zur Großmachstellung verholfen hatte – glückliches Ende einer langen von Kleinstaaterei und Niederlagen geprägten deutschen Geschichte. Der Bismarck-Mythos, an dem der Reichskanzler schon zu Lebzeiten mit seinen geschönten Memoiren selbst fleißig gestrickt hatte, wurde im Ersten Weltkrieg zum „mobilisierenden Propagandainstrument“, als der Eiserne Kanzler in zahlreichen Gedächtnisfeiern zum Schutzpatron der deutschen Truppen ausgerufen wurde.105 Dieser Krieg ging
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bekanntlich verloren, ein Krieg, den dieser ‚Schutzpatron‘ mit Sicherheit vermieden hätte. Soll man Bismarck aus dem kollektiven Gedächtnis löschen, indem man seine Statuen beseitigt, wie es die Bilderstürmer fordern? Bismarck-Denkmäler zu stürzen, sei „geschichtslos“, kommentiert der Schriftsteller Uwe Timm.106 Die bis zum Zweiten Weltkrieg jährlichen Erinnerungsfeiern an seinen Monumenten fänden ohnehin nicht mehr statt. In der Tat: Denkmäler gehören zum kulturellen Erbe einer Nation; sie sind Dokumente, die mehr über die Gesellschaft und die Menschen, die sie errichten, aussagen als über die ‚Helden‘ und ihre Taten, für die sie errichtet wurden. So spiegelt sich in der Denkmäler-Inflation zwischen 1871 und 1914, als fast wöchentlich in jedem Ort ein Denkmal eingeweiht wurde, der nationalistische Zeitgeist der Bismarck-Ära. Keine andere historische Gestalt ist in Deutschland heute so umstritten wie der Eiserne Kanzler – eine komplexe Persönlichkeit voller Widersprüche. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich das positive Bismarck-Bild. Eine schärfer sehende kritische Geschichtsreflektion begann nun, den Nationalhelden zu demontieren: Man stilisierte den ‚Eisernen Kanzler‘ zum „Dämon der Deutschen“, der Hitler den Weg geebnet habe. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Außenpolitik neigte man jetzt dazu, die Frage der historischen Kontinuität neu zu stellen und Bismarck als den verantwortlichen Urheber hinzustellen, der die Deutschen auf die verhängnisvolle Bahn der Eroberungspolitik geführt habe. Doch diese These wurde widerlegt. So hat der Historiker Lothar Gall in seiner profunden Bismarck-Biographie darauf hingewiesen, dass es nicht Bismarck war, der auf die Annexion von Elsass-Lothringen gedrängt hatte, sondern dass „von verschiedensten Seiten in der deutschen Öffentlichkeit die Forderung nach einem territorialen Siegespreis, nach Wiedergewinnung der ‚alten deutschen Reichsgebiete im Westen‘ erhoben wurde.“107 Bismarck habe nur ausgeführt, was allgemeiner Wunsch der Öffentlichkeit war – was selbst problematisch genug ist, wenn man bedenkt, wie schwankend dieser ‚Volkswille‘ ist und wie leicht er manipuliert werden kann. Fakt ist, dass Bismarck gegen die Eroberung dieser Territorien trotz der zu erwartenden französischen Revanchegelüste und trotz des negativen Eindrucks im europäischen Ausland keinerlei Einwände erhob.
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In diesem Kontext richtete man den Fokus auch auf Bismarcks charakterliche Defizite, seine Skrupellosigkeit, seinen unbedingten Machtwillen sowie seinen Opportunismus. Daneben kritisierte man seine Demokratiefeindlichkeit und die negativen Aspekte seiner Innenpolitik (Kulturkampf, Sozialistengesetze). Tatsächlich war Bismarck der Kanzler eines illiberalen autoritären Obrigkeitsstaates, ein überzeugter Verfechter der Monarchie unter preußischer Hegemonie, der den republikanischen Parlamentarismus entschieden ablehnte. Andererseits hat er als Reichseiniger und Schöpfer des deutschen Zentralstaats, als Initiator der Sozialgesetzgebung und als Garant eines jahrzehntelangen Friedens in Europa zweifellos seine Meriten. Auch im Bereich der Gesundheitspolitik hat der Reichskanzler Verdienste: So setzte er gegen den erbitterten Widerstand fanatischer Impfgegner im Reichstag eine ‚Pflicht zur Vaccination‘ gegen die Pocken durch, was zweifellos vielen Menschen das Leben rettete und zur Eindämmung der gefährlichen Seuche beitrug.108 Diese Pflicht musste allerdings z. T. mit Polizeigewalt durchgesetzt werden. Letztendlich hat Bismarck, der Demokratiefeind, den Parlamentarismus gefördert, wenn auch wider Willen. Sein Durchsetzungsvermögen und seine große politische Gestaltungskraft nötigen Respekt ab, während andererseits seine Skrupellosigkeit (z. B. beim Artilleriebeschuss von Paris) und sein unbedingter Machtwille abstoßend wirken. Und er war ein Opportunist. Lothar Gall spricht von einem „vorwiegend machtorientierten, oft bis zur völligen Grundsatzlosigkeit gehenden Opportunismus“ Bismarcks.109 So paktierte der konservative Realpolitiker – obwohl eingefleischter Monarchist – zeitweise mit den Nationalliberalen von 1848, weil sie ebenfalls den nationalen Einheitsstaat anstrebten. Es kam zu einem „paradoxen Bündnis Preußens mit der deutschen Nationalbewegung.“110 Allerdings nur vorübergehend, denn der Realpolitiker Bismarck war flexibel – man könnte auch sagen: pragmatisch – und verbündete sich, falls politisch zweckmäßig, mit einstigen Gegnern (1848er) genauso wie er auch mit konservativen Weggenossen brach, wenn es die Politik erforderte. Bismarck-Biograf Jonathan Steinberg schreibt, dass Bismarck „völlig skrupellos in der Wahl der Mittel“ war.111 Bismarck konstatierte, „Preußen sollte sich, wenn nötig, mit jeder Kraft und jedem Staat verbünden können“; Politik habe „nichts mit Gut und Böse, Tugend und Sünde zu tun, sondern allein mit Macht und Eigennutz“.112 Dazu passt ein Zitat,
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das Charles de Gaulles zugesprochen wird, aber auch als Bismarcks Maxime gelten kann: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“
Held oder Dämon? Jede historische Gestalt sollte nach den Maßstäben ihrer Epoche beurteilt werden, verlangt so mancher Vertreter der Historikerzunft. Auch kriegerische Nationalhelden seien ‚Kinder ihrer Zeit‘, die man aus ihrer Zeit heraus beurteilen sollte, heißt es.113 Demgegenüber mahnt der Nestor der Historiografie, der große Historiker Jakob Burckhardt, dass jede Generation die Quellen neu lesen, anschauen und interpretieren muss. Welche Kriterien sollten bei der Auswertung historischer Quellen, die zur Bewertung der Leistung der Protagonisten entscheidend sind, berücksichtigt werden? Es sei aus der Sicht des Geschichtswissenschaftlers unangemessen, historische Figuren nach Kategorien der Gegenwart zu beurteilen, verkünden konservative Historiker und sprechen von ‚Geschichtsvergessenheit‘ – so als gäbe es keine universal gültigen ethischen Wertmaßstäbe und Beurteilungskriterien, denen auch Wissenschaftler verpflichtet sind. In ihren scheinbar objektiven Historiooder besser: Hagiografien, erscheinen z. B. Bismarcks moralische Defizite als marginal, unerheblich für die Würdigung der Lebensleistung des Reichsgründers. Aber diese lange Zeit praktizierte, vermeintlich wertneutrale Geschichtsschreibung ist obsolet; sie genügt nicht zur Beurteilung historischer Akteure. In Anbetracht der Katastrophen und des menschlichen Leids, das diese oft als Helden gefeierten Gestalten in der Vergangenheit verursacht haben, muss deren Beschreibung ergänzt werden durch ethische Kriterien, welche die Auswirkungen und Konsequenzen ihrer Aktionen ins Visier nehmen. Dies gehört genauso zur historischen Wahrheitsfindung wie die akribisch-chronologische Aufzählung historischer Fakten. Unterlässt man dies, könnte ebenfalls der Vorwurf der ‚Geschichtsvergessenheit‘ erhoben werden, wie es z. B. die Kritiker der Wiedererrichtung eine Bismarckstatue jüngst in Bautzen getan haben. Wenn Jakob Burckhard fordert, dass jede Generation die Quellen neu lesen muss, was bedeutet das für den ‚Zeitgeist‘ in Bismarcks Epoche? Was war sein Wertekanon, was waren die dominierenden Wertvorstellungen seiner Zeit? Sie waren geprägt von preußischer Militär-
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tradition, d. h. einer Mischung aus „Realpolitik, Primat des Krieges, Clausewitz, Sozialdarwinismus und [...] Denken in Kriegskategorien“ sowie von der Vorstellung, dass der Krieg „ein Kampf ums Überleben und um die Vorherrschaft gegenüber den Nachbarn ist“, resümiert die französische Historikerin Hélène Miard-Delacroix.114 Auf dem Hintergrund dieser – aus heutiger Sicht fatalen – Tradition war der ostelbische Junker sozialisiert worden; sie bestimmte die Richtschnur seines Handelns. Will man der Person Bismarck gerecht werden, muss man aber auch berücksichtigen, dass der Reichskanzler diese martialische Prägung überwunden hat, weil er den Primat der Politik gegenüber den Militärs durchsetzte, eine conditio sine qua non für seine auf Frieden zielende Bündnisdiplomatie in den Folgejahren. Stringente moralische Maßstäbe an Bismarck anzulegen, würde freilich bedeuten, den Stab über den Reichsgründer zu brechen, hat er doch in den von ihm betriebenen Einigungskriegen und im deutsch-französischen Krieg den Tod zahlreicher Menschen billigend in Kauf genommen. Als ‚Kind seiner Zeit‘ war für ihn das Führen von Kriegen ein legitimes Mittel zum Erreichen politischer Ziele, eine „bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, wie es Carl von Clausewitz formuliert hat.115 Man kann das wohl verstehen – sogenannte Kabinettskriege waren üblich und wurden allgemein toleriert. Es war nicht der Krieg an sich, der als verwerflich galt. Krieg wurde noch zu Bismarcks Zeiten als legitimes Mittel zur Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten angesehen; das „Recht zum Krieg“ (ius ad bellum) war unbestritten, insbesondere wenn ein Kriegsgrund vorlag. Doch nationale Einigung und Gründung eines Reiches waren schon damals nach moralischen Maßstäben keine legitimen Kriegsgründe. Aber es war vor allem die Praxis der preußischen Kriegsführung 1870/71 (für die Bismarck Hauptverantwortung trug), d. h. die skrupellose Beschießung und Hungerblockade einer mit Zivilisten überfüllten Metropole, die als brutale Schandtat des großen Staatsmannes in die Geschichte eingeht. Dass der Krieg traditionell Usus war, exkulpiert den ‚Eisernen Kanzler‘ also nicht. Fakt ist, die europäische Geschichte, besonders die preußische, ist eine Geschichte arroganter Aggressionen. Seit jeher maßen sich Staatenlenker in ihrer grenzenlosen Hybris an, über Leben und Tod Hunderttausender Soldaten und Zivilisten zu verfügen, indem sie über andere Völker herfielen, sei es, um ihre Herrschaftsgebiete durch Eroberungen zu arrondieren oder
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um neue Reiche zu gründen.116 Auch Bismarck gehört zu diesen Machtpolitikern, denen das unermessliche Leid, das den Menschen im Krieg zugefügt wird, gleichgültig war. So ignorierte der „Machiavellist der Machtpolitik“117 in den Einigungskriegen dieses Leiden ganz selbstverständlich, weil ja Zerstörung, Elend und Tod seit jeher zu den üblichen Kriegsbegleiterscheinungen zählten, aber vor allem – und das ist viel gravierender – weil der ‚Eiserne Kanzler‘ keinen moralischen Kompass besaß, keinerlei humanitäre Werte verinnerlicht hatte. ‚Menschlichkeit‘ war für ihn eine hohle Phrase, bloß irrelevante „weibliche“ Emotionalität. Das zeigte sich exemplarisch beim Beschuss von Paris: Aus ethischer Perspektive war dies ein Kriegsverbrechen, auch wenn als Rechtstatbestand de jure damals noch nicht so definiert; es war eine ruchlose Schandtat, die schon bei Bismarcks Zeitgenossen Kritik und Abscheu erweckte. Artilleriebeschuss und Belagerung einer Großstadt zwecks Aushungerung der Bevölkerung waren barbarische Untaten, jenseits des seit der Aufklärung tradierten ethischen Kodex, wie ihn z. B. Immanuel Kant formuliert hat. Eine wertebasierte Historiografie muss diese Schandtat verurteilen. Ludwig Bamberger, ein Zeitgenosse Bismarcks und bedeutendster Vertreter des deutschen Liberalismus, warf dem Reichskanzler vor, für die zunehmende Brutalisierung der politischen Umgangsformen verantwortlich zu sein. Sich auf Bismarcks Bestseller Gedanken und Erinnerungen, das meistverkaufte Memoirenwerk des 19. Jahrhunderts, beziehend, schreibt er: „Wenn ein Buch wie dieses von der Jugend verschlungen zu werden bestimmt ist, in welchem auf vielen Blättern die Worte ‚Humanität‘ und ‚Zivilisation‘ nie anders erwähnt werden als im Sinne der unbedingten Verspottung und der hohlen Phraseologie, so scheint die Befürchtung nicht unbegründet, dass das fragwürdige Ideal der soldatischen ‚Schneidigkeit‘ mit all seinen Auswüchsen zum höchsten Ausdruck des Nationalcharakters ausgebildet werde.“118
Bamberger sprach von den „Verwüstungen, welche das Bismarcksche System im Geiste und in der Gesetzgebung des Landes anrichtete.“ Ein weiterer Zeitgenosse Bismarcks, der Althistoriker Theodor Mommsen, zog eine niederschmetternde Bilanz: „Der Schaden [der Bismarckschen Epoche] ist unendlich viel größer gewesen als ihr Nutzen. Die Gewinne an Macht waren Werte, die bei dem nächsten Sturme der Weltgeschichte wieder verlorengehen; aber die Knechtung der deutschen Persönlichkeit, des deutschen Geistes, war ein Verhängnis, das nicht mehr gutgemacht werden kann.“119
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Es ist dies wohl die gravierendste Kritik an Bismarck, ein Vorwurf, den auch der Soziologe Max Weber erhob. Er resümierte, der Reichskanzler habe „eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung“ hinterlassen, „tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre zuvor bereits erreicht hatte.“ Die Nation „ohne allen und jeden politischen Willen“ sei es daher „gewohnt, dass der große Staatsmann an der Spitze für sie die Politik schon besorgen werde.“120 Dies war Grundsatzkritik am demokratiefernen Obrigkeitsstaat, wie ihn Bismarck verkörperte. Während andere westliche Staaten wie Frankreich schon in der Revolution von 1789 die Grundwerte Freiheit und Gleichheit proklamiert und die Monarchie abgeschafft hatten (die Napoleon freilich restituierte) oder wie England nach langem zähen Ringen die Krone durch das Parlament entmachtet hatten, scheiterte in Deutschland die liberal-demokratische Bewegung, die 1848 so hoffnungsfroh begonnen hatte, am Widerstand der konservativen deutschen Fürstenhäuser, nicht zuletzt an dem des preußischen. Es folgten Restauration und Stagnation. Deutschland blieb ein Staat, in welchem das Volk von einer monarchischen Spitze mit Hilfe eines Beamtenapparats regiert wurde, ohne Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten der Regierten. Ein solcher Staat konnte nach Gutdünken Kriege führen, ohne Rücksicht auf militärische oder zivile Opfer. Zum Vermächtnis Bismarcks gehört somit auch, dass er die preußische Tradition des militanten autoritären Obrigkeitsstaates im Kaiserreich fortgeführt und verfestigt hat. Indem dieses rückständige System sich in seiner glorifizierten Person manifestierte, überlebte es dieses Reich und wirkte noch lange Zeit fort. Auch die Nationalsozialisten hatten zunächst versucht, Bismarck zu vereinnahmen, aber für ihre Wahnidee eines germanischen Großreiches taugte Bismarcks kleindeutsche Lösung nicht als Vorbild.121 Nach 1945 bekam das positive Bismarck-Bild Risse. Zwar blieb er für viele der Repräsentant der ‚guten alten Zeit‘ und Symbolfigur eines geeinten Deutschlands (das jetzt wieder geteilt war), doch andere suchten nach Gründen, warum die Deutschen der Ideologie des Nationalsozialismus verfallen waren. Sie glaubten in Bismarck den Urheber gefunden zu haben: Aus dem einstigen Heros wurde jetzt ein Dämon. Doch die These einer linearen Kontinuität vom Kaiserreich bis zur Nazi-Diktatur und Bismarck als einem der Hauptschuldigen an der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat die historische Forschung längst widerlegt.122
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Abb. 19: Beschmiertes Bismarckdenkmal im Berliner Tiergarten, Juli 2017.
War der lange Zeit als Nationalheld glorifizierte ‚Eiserne Kanzler‘ ein Bellizist, ein Kriegstreiber und Befürworter des Krieges mit der Neigung, internationale Konflikte grundsätzlich durch militärische Gewalt zu lösen? Mitnichten. Nach dem ‚Sündenfall‘ des Krieges gegen Frankreich schmiedete der Reichskanzler mit Erfolg ein Bündnissystem, das Kriege in Europa mehrere Dekaden verhindern sollte.123 Fakt ist jedoch, dass die Gründung des Deutschen Kaiserreichs auf dem Hintergrund eines gewonnenen Krieges als verletzende Demütigung Frankreichs inszeniert wurde – eine ‚Kriegsgeburt‘ (E. Conze), der das Militärische quasi in die DNA eingeschrieben war. „Der Neue Staat wurde in einem Heerlager auf fremdem Boden, im blutenden Herzen von Frankreich, in Versailles proklamiert“, schreibt der Historiker Gustav Seibt124 und verweist darauf, dass schon damals Zeitgenossen diesen Vorgang problematisch fanden. So der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm, der am 31. Dezember 1870 in sein Tagebuch ‚düstere Visionen‘ von fortan unheilbarer Feindschaft notierte: „Man hält uns jeder Schlechtigkeit für fähig […]. Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde, die Sympathien der Welt und – unser gutes Gewissen.“125
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Der Mainstream der internationalen Historikerzunft sieht heute Bismarck als einen Mann mit Widersprüchen, der weder Held noch Dämon war. Zwar hat der ‚Eiserne Kanzler‘ zu Beginn seiner Karriere mehrere Kriege geführt, aber man kann einen Staatsmann, der durch kluge Bündnisdiplomatie einen Jahrzehnte währenden Frieden in Europa bewerkstelligte und in mehreren Konferenzen als ‚ehrlicher Makler‘ zwischen den europäischen Großmächten auftrat, schlecht des Militarismus und Bellizismus bezichtigen. Auch Bismarcks fortschrittliche Sozial- und Rechtspolitik, seine Zurückhaltung beim Erwerb von Kolonien sowie die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei durch die Gründung eines nationalen Zentralstaats (den die anderen europäischen Staaten längst hatten) muss seinen Verdiensten zugerechnet werden, ebenso wie sein progressives Gesetz der ‚Pflicht zur Vaccination‘, das er im Reichstag durchsetzte. Der Reichstag selbst hatte zwar keine echte politische Macht, wurde aber immerhin nach einem im damaligen Europa fortschrittlichen Wahlrecht gewählt – jeder erwachsene Mann hatte gleiches Stimmrecht. Ebenso fortschrittlich waren Bismarcks Gesetze zur rechtlichen Gleichstellung der Juden, die er sowohl in Deutschland als auch in den Balkanstaaten realisierte (Berliner Konferenz). Fakt ist: Bismarck war kein Antisemit. Zieht man Bilanz, so überwiegen jedoch die dunklen Seiten dieser komplexen Persönlichkeit. Die Beschießung von Paris war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das einen schwarzen Schatten auf die Gestalt des großen Staatsmannes wirft. Die folgenschwere Annexion von Elsass-Lothringen sowie die als Demütigung Frankreichs inszenierte Kaiserkrönung in Versailles waren politische Kardinalfehler, die den ‚Erbfeind‘ zum Erzfeind machten und die Zukunft überschatteten. Als eingeschworener Monarchist und hartgesottener Feind der Demokratie bekämpfte er liberale und sozialdemokratische Bestrebungen; als rücksichtsloser Machtpolitiker unterdrückte er ethnische Minderheiten an der Peripherie des Reiches. Um die durch Kriege gegründete Nation zu stabilisieren, stempelte er Katholiken und Sozialdemokraten zu Reichsfeinden und bekämpfte sie, was aber statt zur Einigung der Nation eher zu deren Spaltung beitrug. Eines steht ebenfalls fest: Ein Kolonialenthusiast war Otto von Bismarck nicht; und völlig abwegig ist die Behauptung der Denkmalstürmer, er sei ein Rassist gewesen und habe den Grundstein zum Genozid an den Hereros gelegt. „Bismarck sind, obwohl befangen in den Vorurteilen seiner Zeit, keine
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rassistischen Äußerungen nachweisbar,“ konstatiert die Neue Zürcher Zeitung.126 Die Ambivalenz der Politik Bismarcks hat Bundespräsident FrankWalter Steinmeier bei seiner Rede zum 150. Jahrestag der Reichsgründung so formuliert: „Tatsächlich entfaltete ja die lange ersehnte und zuvor gescheiterte Reichseinigung, wie Bismarck sie schließlich im Sinne Preußens erzwungen hatte, eine beindruckende Dynamik – die Revolution von oben begünstigte Fortschritt in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur. In der Gesetzgebung und Rechtsprechung steht auch die Bundesrepublik Deutschland noch in der Tradition des Kaiserreichs. […] Sie alle kennen das Zitat: ‚Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden […], sondern durch Eisen und Blut‘, so hatte Bismarck seine Haltung und auch seine Verachtung für Parlament und Demokratie einst formuliert. Nun ist es vielleicht eine List der Geschichte, dass sich Bismarcks Intention nur zum Teil erfüllt hat. Das Wahlrecht trug damals wesentlich zur Politisierung der Gesellschaft bei, zur Stärkung der Opposition, zur Herausbildung des Parteiensystems und auch zur parlamentarischen Entwicklung Deutschlands.“127
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Winston Churchill Gefeierter Kriegspremier und kolonialer Rassist
Winston Churchill gilt als einer der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Er plädierte für ein vereintes Europa und motivierte die Briten zum Kampf gegen Hitlerdeutschland. An seinem entschlossenen Widerstand und Durchhaltewillen scheiterte der NS-Diktator. Nicht wenige Biografen und Historiker, seien es britische oder deutsche, ergehen sich deshalb in Lobeshymnen über diesen herausragenden Staatsmann. Doch hinter der glänzenden Fassade dieser bewundernden Hagiografien verschwindet die reale Person Winston Churchill fast völlig – doch seine Schattenseiten und Fehler waren beachtlich. So liest man z. B. bei Sebastian Haffner wenig oder nichts über Churchills Verantwortung für das Gallipoli-Debakel, das Zehntausenden britischen Soldaten das Leben kostete; man liest nichts über die militärisch sinnlose Bombardierung deutscher Innenstädte im Zweiten Weltkrieg oder über die Vertreibung von 13 Millionen Menschen aus den
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deutschen Ostgebieten – die größte ethnische Säuberung der Geschichte – eine Zwangsumsiedlung, die er mit Stalin verabredet hat.1 Und man erfährt nichts über Churchills kolonialen Rassismus. Auch der Film Die dunkelste Stunde (2017) glorifiziert Churchill lediglich als den Mann, der Hitler standgehalten hat, als die Wehrmacht 1940 kurz vor dem Sieg gestanden habe – zweifellos sein größtes Verdienst. Doch inzwischen wird der Blick auf die dunklen Seiten der Person Winston Churchill schärfer, auf einen Politiker, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg in England wegen seines Bellizismus und seines ungezügelten Ehrgeizes umstritten war. Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung beschmierten Demonstranten im Juni 2020 das Churchill-Denkmal auf dem Parliament Square in London. Auch in den früheren Kolonien des Empires gibt es eine ganz andere Sichtweise auf den berühmten Staatsmann. Dort sieht man in ihm einen überzeugten Rassisten, eingefleischten Kolonialisten und arroganten Imperialisten. Inzwischen ist der Nationalheld auch im englischen Mutterland ins Visier der Kritiker geraten. Tatsächlich bieten sein egomanischer Charakter und seine rassistischen Äußerungen viel Anlass zur Kritik. Der britische Soldat Victor Gregg, ein Weltkriegsveteran, der als Gefangener in Dresden die Luftangriffe der Royal Air Force überlebte, bezeichnete Churchill als Kriegsverbrecher. Was waren die Schattenseiten dieses außergewöhnlichen Politikers? Wer war dieser Mann, den die Briten als nationalen Heros und viele Europäer als großen Staatsmann verehren?
Die Schlacht von Omdurman Sebastian Haffner betont mehr bewundernd als kritisch, dass Churchill eine tiefe Affinität zum Krieg hatte. Er „wollte den Krieg um des Krieges willen; er war ein unersättlicher Krieger. […] Der Gedanke an Krieg spannte seinen Geist zu höchster lustvoll-inspirierter Anstrengung.“2 Fest steht: Winston Churchill war keine friedliebende Natur, sondern ein Mann des Krieges. Er suchte und fand den Krieg, der im Britischen Empire wegen der Unabhängigkeitsbewegungen der unterjochten Kolonialvölker Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder aufflackerte. Bereits in jungen Jahren hatte Churchill an drei Kolonialkriegen auf verschiedenen Kontinenten des Empires teilgenommen und sich die ersten
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Sporen erworben. So in der Schlacht von Omdurman im Sudan, als im September 1898 eine waffentechnisch stark überlegene anglo-ägyptische Armee unter Lord Kitchener die Anhänger des 1885 verstorbenen Mahdi Muhammad Ahmad in einem beispiellosen Gemetzel vernichtete.3 Die hauptsächlich mit Speeren und Schwertern bewaffneten Mahdisten hatten sich gegen die britisch-ägyptische Herrschaft erhoben und versuchten, die verhassten Besatzer aus ihrem Land zu vertreiben. Doch damit gefährdeten sie die imperialen Ambitionen der Engländer, die den Sudan ihrem Kolonialreich einverleiben wollten. In den Reihen der Briten kämpfte der damals 24-jährige Churchill als Leutnant – in seinem The River War (1899) hat er den Sudan-Feldzug als Augenzeuge detailliert beschrieben. Er schildert, wie die mit modernen Maschinengewehren und Artillerie ausgestatteten Truppen Kitcheners „eine Armee von fünfzehntausend Mann umschlossen – wie eine riesige Schafherde in einem Gatter.“4 Die Mahdisten wurden zu Tausenden niedergemäht. „Es war“, wie John Ellis bilanziert, „keine Schlacht, sondern eine Exekution […]. Die Körper der Getöteten und Schwerverletzten […] waren gleichmäßig über viele Hektar Land verstreut.“5 Churchill schreibt: „Sie lagen so dicht aufeinander, daß sie den Boden ganz bedeckten. Da und dort hatte sich eine gräßliche Bedeckung in zwei Schichten übereinandergeschoben […]. Allein auf einem Abschnitt von nicht mehr als hundert Yard im Quadrat lagen mehr als vierhundert Leichen, der Verwesung überlassen.“6
Laut britischen Zählungen wurden 9.700 Sudanesen im Laufe eines Tages getötet und ca. 13.000 verwundet; die britisch-ägyptischen Kräfte verloren nur 482 Soldaten. Churchill interpretiert diese Vernichtungsaktion als Sieg eines disziplinierten anglo-ägyptischen Heers über einen chaotischen Haufen von fanatischen ‚Wilden‘, die er „Derwische“ nennt. Er resümiert: „So endete die Schlacht von Omdurman – der bemerkenswerteste Triumpf, der je durch die Waffen der Wissenschaft über die Barbarei erlangt wurde.“ Innerhalb von nur fünf Stunden sei die „stärkste und best-bewaffnete Armee von Wilden, die je gegen eine moderne europäische Macht aufgestellt wurde, vernichtet und zerstreut worden.“7 Unter ‚Waffen der Wissenschaft‘ verstand Churchill Maschinengewehre und Artillerie und unter ‚best-bewaffnet‘ Speere und Schwerter; zynisch interpretierte er den Sieg zum ‚Triumpf über die Barbarei‘. Wegen der nach der Schlacht erfolgten Erschießung zahlreicher Verwundeter durch britische und ägyptische Soldaten – aus ethischer und völkerrechtlicher Perspektive ein barbarisches Kriegsverbrechen – rügte Churchill in der ersten Auflage
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seines Buches den Oberbefehlshaber Lord Kitchener, der es versäumt hatte, seine Truppen zur Schonung der verwundeten Gegner aufzurufen. Doch mit Rücksicht auf die negative Wirkung, die diese Kritik am populären Lord Kitchener auf seine politische Karriere haben könnte, nahm er in der zweiten Auflage (1902) des Buches Abstand von der Rüge und verteidigte Kitchener. Er persönlich müsse festhalten, dass unter den Soldaten „der sehr weit verbreitete Eindruck bestand, die Befriedigung des Oberbefehlshaber könne nur zunehmen, je geringer die Zahl der Gefangenen ausfallen würde [… D]ie mit so viel Energie verbreitete Vorstellung, es gehe darum Gordon zu rächen, hatte ihre Leidenschaften entfacht und sie zu dem Glauben verleitet, dass es nicht mehr als recht sei, den Feind als Ungeziefer zu betrachten […]. Das Ergebnis war, dass sehr viel Derwische getötet wurden.“8
Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf diesen Mann, dessen Charakter in kriegerischen Blutbädern ‚gestählt‘ wurde: Es zeigt, dass der ehrgeizige Churchill ein Opportunist war, der seinen ethischen Kompass nach seinen Karrierechancen ausrichtete.
Das Gallipoli-Fiasko Die Schlacht von Omdurman war nicht das einzige Blutbad, das Churchill miterlebte. 17 Jahre später, im Ersten Weltkrieg, war er – diesmal in verantwortlicher Position – an einer Katastrophe beteiligt, bei der er seine Indifferenz gegenüber dem Massensterben von Soldaten erneut unter Beweis stellen sollte. Churchill war, wie Sebastian Haffner schreibt, der „geborene Krieger“ und Stratege: „Er war der einzige Mann in England, der 1914 die Kriegslage in ihrer Gesamtheit übersah, und der Einzige, der klare Ideen hatte, wie der Krieg zu gewinnen sei.“9 Doch er war nicht unfehlbar, wie sich bald zeigen sollte. Churchill war beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 39 Jahre alt, voller Selbstvertrauen und auf dem Höhepunkt seiner physischen und geistigen Kräfte. Als Chef der britischen Admiralität, d. h. als Marineminister, stand er am Hebel eines der gewaltigsten Kriegsinstrumente der damaligen Welt, der britischen Flotte. Aber sein kriegerischer Höhenflug war kurz und endete 1915 mit einem jähen Sturz und einer bösen Niederlage. Was war geschehen?
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________________________________________________________ Das Gallipoli-Fiasko
Churchills plante, mit einer riesigen Flotte den Durchbruch durch die Dardanellen zu erzwingen. Die Entente-Mächte wollten in einer gemeinsamen Operation die Halbinsel Gallipoli besetzen und sie als Ausgangsbasis für die Eroberung der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel nutzen. Doch Minen und massiver türkischer Widerstand führten in ein Fiasko. Die auf Gallipoli (türkisch: Gelibolu Yarımadası) ausgetragene Schlacht endete mit einer spektakulären Niederlage der Entente-Mächte; und sie beendete Churchills Karriere abrupt. Die Schlacht, die acht Monate bis zum Januar 1916 dauerte, war für beide Seiten – Osmanen und Briten – extrem verlustreich: Das Gemetzel forderte insgesamt 100.000 Tote. 44.000 Soldaten auf Seiten des Empire verloren beim vergeblichen Versuch, die Halbinsel zu erstürmen, ihr Leben. Zwar waren auch andere Kommandeure wie Kriegsminister Lord Kitchener und General Ian Hamilton, welche die Landstreitkräfte befehligten, an dem Desaster beteiligt, aber es war der Erste Lord der Admiralität, Winston Churchill, den man für diese vernichtende Niederlage verantwortlich machte. Hinzu kam, dass Admiral de Robeck vernünftigerweise zum Rückzug der in die Meerenge eingedrungenen Restflotte blies (fünf britische Kreuzer und ein Schlachtschiff waren durch Minen bereits untergegangen), während Churchill trotz der hohen Verluste den nutzlosen Kampf zur See und auf dem Lande fortsetzen wollte. Churchill wurde kaltgestellt, und im Dezember 1915 befahl Kitchener den endgültigen Rückzug. Der Name Gallipoli wurde zu Churchills Menetekel, denn der ehrgeizige Marineminister hatte auf ganzer Linie versagt. Er hatte die Stärke und den Kampfgeist der vom brillanten Kriegsstrategen General Mustafa Kemal geführten osmanischen Truppen unterschätzt.10 Anstatt die aussichtslose Invasion abzubrechen und sinnlose Opfer zu vermeiden, hetzten Churchills Kommandeure ihre Soldaten in die Salven der türkischen Maschinengewehre – mit entsetzlichen Folgen. Es war eine der größten Niederlagen der Entente im Ersten Weltkrieg. Für Australien und Neuseeland, deren Soldaten an den Ufern Gallipolis, dem Nordufer der Dardanellen, zu Tausenden niedergemäht wurden, war es ein Trauma.11 Mit seinem ausgeprägten Siegesund Durchhaltewillen war es Churchill nicht möglich, rechtzeitig den Rückzug anzutreten. Aufgeben und Zurückweichen – und sei es auch nur aus taktischen Gründen – waren für ihn keine Option, waren seiner Kampfnatur zuwider. Zu Recht wurde er für die Niederlage verantwortlich gemacht und
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musste als Marineminister zurücktreten. Während der charismatische Sieger Mustafa Kemal (der später als Atatürk zum Begründer der Türkei und deren erster Präsident wurde) zum türkischen Kriegshelden avancierte, wurde Churchill zum Bataillonskommandeur an der Westfront degradiert. Fortan galt er als „waghalsiger Amateurstratege mit einer gefährlichen Passion für Krieg und Blutvergießen“, wie sein Biograf, der Historiker Paul Addison schreibt.12 Beim Gallipoli-Debakel zeigte sich eine besonders problematische Seite seines Charakters: Churchill war bedenkenlos bereit, um taktischer militärischer Vorteile willen Tausende Menschen zu opfern. Selbst als die militärische Sinnlosigkeit dieser Opfer offenbar wurde, machte er weiter – und dies mit derselben Hybris, wie sie sich auch die Generäle anmaßten, die ihre Soldaten in endlosen Stellungskriegen an der Westfront verbluten ließen. Diese negative Seite von Churchills Charakters wurde auch im Zweiten Weltkrieg in fataler Weise sichtbar, als er die militärisch sinnlose Bombardierung deutscher Innenstädte anordnete, mit dem ausdrücklichen Ziel, die Zivilbevölkerung zu vernichten (s. u.). Da verwundert es nicht, dass Churchill ein großer Bewunderer der biblischen Gestalt des Moses war, mit dem die gewaltsame Landnahme der Israeliten im ‚Gelobten Land‘ ihren Anfang nahm, die mit Vertreibung und Ausrottung der dortigen Völker einherging (► Der biblische Moses). Es wird berichtet, dass Churchill am Abend des Septembertags im Jahre 1911, als ihm die Ernennung zum Chef der Admiralität angekündigt wurde, auf seinem Nachttisch eine Bibel liegen hatte, in der das Kapitel ‚Landnahme‘ im 5. Buch Mose aufgeschlagen war: „Höre, Israel! Du wirst heut über den Jordan gehen, daß du hineinkommest, einzunehmen das Land der Völker, die größer und stärker sind denn du, große Städte, vermauert bis in den Himmel, ein großes, hohes Volk, die Enakiter, die du kennst, von denen du auch gehört hast: Wer kann wider die Kinder Enak bestehen? So sollst du wissen heute, daß der Herr, dein Gott, vor dir hergeht, ein verzehrendes Feuer. Er wird sie vertilgen und wird sie unterwerfen vor dir her, und du wirst sie vertreiben und umbringen bald, wie dir der Herr geredet hat.“ (5. Mose 9,1–8)
Churchill war nicht bibelgläubig, aber diese Stelle im Alten Testament gefiel dem ‚geborenen Krieger.‘
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______________________________________________ Kritik an Churchills Innenpolitik
Kritik an Churchills Innenpolitik Nicht nur als Marineminister hatte Churchill als Stratege kläglich versagt, auch innenpolitisch regte sich bald Kritik an seiner Person. Konservativ bis in die Knochen, wie er war, wandte er sich gegen jeden gesellschaftlichen Fortschritt. So war er ein Feind der Arbeiterbewegung. Walisische Gewerkschafter werfen Churchill bis heute vor, dass er 1911 als Innenminister das Militär nach Wales schickte, um mit Hilfe der Polizei einen Streik der Minenarbeiter zu niederzuschlagen. Ebenso war er ein erbitterter Gegner der Suffragetten-Bewegung und des Frauenstimmrechts. In Londoner Kreisen galt Churchill als schamloser Egoist und prinzipienloser Opportunist. In der Tat war der Politiker Churchill ein ausgebuffter Opportunist, der mehrmals seine Parteizugehörigkeit wechselte: von den Konservativen zu den Liberalen und wieder zurück zu den Konservativen, je nachdem, wo er am ehesten glaubte, an Machtpositionen zu gelangen. Churchill galt in der politischen Szene Londons als „dynamischer, gefährlicher, nicht totzukriegender Mann“, dem es eine Horrorvorstellung war, „in machtloser tatenloser Opposition zu verkümmern. Sein Macht- und Wirkungswille war allezeit von einer gewissen […] Rücksichtslosigkeit, und er empfand es innerlich immer […] als sein gutes Recht, mit jedem Wind zu segeln, der gerade wehte; die Parteitreue und abstrakt-ideologische Prinzipienstrenge des bürgerlichen Parlamentariers waren ihm im Grunde fremd.“13
Rab Butler, Staatssekretär im Außenministerium hielt Churchill für den „größten politischen Abenteurer der Neuzeit“ und erklärte „der neu Premierminister sei ‚eine Katastrophe.‘“14 Der kanadische Premierminister Mackenzie King schrieb im Juni 1939: „Ich halte Churchill für einen der gefährlichsten Männer, die mir je begegnet sind.“15 Mit seinen abrupten Parteiwechseln machte sich Churchill viele und erbitterte Feinde. Er hatte keine wirklichen Anhänger und besaß keine Hausmacht. Lloyd George, unter dem Churchill viele Jahre als Minister gedient hatte, erklärte das so: „Niemand bestritt sein blendendes Talent und seine persönliche Faszinationskraft. Mut, unermüdliche Arbeitskraft – alles zugegeben […] Der Parteiwechsel erklärt nicht alles […] Churchills Gegner fragten oft selber: Was war der Grund für das allgemeine Misstrauen?“
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Es war die Furcht vor den Konsequenzen seines unbändigen Vorwärtsdranges, für den Fall, dass etwas schieflief: „Dann machte gerade seine Kraft die Folgen verheerend – nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Sache und auch für seine Partner.“16
Genau das hatte sich beim Gallipoli-Fiasko gezeigt. Seinen Kritiker, die ihm seine häufigen Standpunkt- und Standortwechsel vorwarfen und ihn ‚Judas‘, ‚Renegat‘ und ‚Klassenverräter‘ nannten, antwortete er: „Wer sich verbessern will, muss sich wandeln, und wer vollkommen werden will, muss sich sehr oft wandeln.“17 Lloyd George, der Chef der Liberalen, hatte Churchill einmal mit grober Deutlichkeit gewarnt: „Seien Sie vorsichtig, Winston! Eine Ratte kann zwar ein sinkendes Schiff verlassen; aber wieder einsteigen, wenn das Schiff dann doch nicht sinkt, kann sie nicht.“18 Doch diese „ganz besondere Ratte bewies, dass sie es doch konnte,“ schreibt Sebastian Haffner. Der wenig schmeichelhafte Vergleich mit Ratten, die jedoch intelligent, zäh und mit starkem Überlebenswillen ausgestattet sind, traf ins Schwarze: Als Großbritannien von Hitlerdeutschland angegriffen wurde, waren es gerade diese Eigenschaften – Hartnäckigkeit und ein ausgeprägter Überlebens- und Siegeswille – mit denen der spätere Premierminister Hitler erfolgreich die Stirn bot. Nach dem Gallipoli-Debakel schien Churchills politische Karriere beendet. Er zog sich ins Privatleben zurück. Doch auf Dauer konnte man in London auf den ehrgeizigen, dynamischen Machtpolitiker nicht verzichten. Nach zwei kurzen Jahren wurde er wieder Minister und Schatzkanzler; er übernahm nacheinander Ministerämter wie Rüstungsminister, Luftfahrtminister und Kolonialminister. In dieser Position spielte er, wie noch gezeigt wird, eine unrühmliche Rolle. Doch bald brillierte er in der Rolle seines Lebens, der des Kriegspremiers.
Der Kriegspremier – Churchills unbedingter Durchhaltewille Im Dezember 1941 fielen die Würfel: Parallel zum Überfall der Japaner auf Pearl Harbour erklärte Hitler den USA den Krieg. Churchill hatte schon länger versucht, den US-Präsidenten Roosevelt zum Kriegseintritt zu bewegen,
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_______________________ Der Kriegspremier – Churchills unbedingter Durchhaltewille
wozu es mit Hitler Kriegserklärung nun kam. Der erfahrene Kriegsstratege wusste: England im Bündnis mit den USA und der UdSSR würde den Krieg gewinnen. Der Sieg über Nazideutschland war gewiss. In der Tat brachte der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg die entscheidende Wendung, und es waren in erster Linie die Amerikaner und Russen, die mit ihren materiell und personell weit überlegenen Landstreitkräften die Wehrmacht in die Zange nahmen und niederkämpften, Hitlerdeutschland besiegten und von der Diktatur befreiten. Wenn man von Montgomerys Sieg über Rommels Panzerarmee in Afrika absieht, war Großbritanniens Part in diesem Krieg eher subsidiär. Bis Ende 1941, dem Kriegseintritt der USA, spielte Großbritannien in diesem Kampf keine aktiv-militärische Rolle, die die Existenz des Naziregimes hätte gefährden können, sondern beschränkte sich auf psychologische Kriegsführung. Das war für die Moral der Briten wichtig, aber nicht kriegsentscheidend. Als Winston Churchill im Mai 1940 als britischer Premierminister in die 10 Downing Street einzog, befand sich sein Land in einer schwierigen Lage. Die Truppen Nazideutschlands hatten Belgien, Luxemburg und die Niederlande besetzt, und die Kapitulation Frankreichs ließ nicht lange auf sich warten. Innenpolitisch nahm der Druck auf Churchill zu, einen Friedenspakt mit Hitler auszuhandeln, um das im nordfranzösischen Dünkirchen festsitzende britische Expeditionskorps zu retten. Doch Churchill, der schon früh vor Hitlers Aufstieg gewarnt hatte, wollte weiterkämpfen. Das lag in seinem Charakter: Jetzt waren militärische Tugenden gefragt, Eigenschaften, mit denen der ‚geborene Krieger‘ reichlich aufwarten konnte: Mut, Kampfbereitschaft, unbedingter Durchhaltewille und aggressive Rhetorik. Aufgeben, gar kapitulieren kam für ihn nicht in Frage. Und der Erfolg gab ihm Recht: In einer riskanten Aktion gelang es, 338.000 britische Soldaten über den Ärmelkanal zurückzuholen („Das Wunder von Dünkirchen“). Über ein Jahr lang hielt England als letzte Bastion der freien Welt in Europa die Stellung gegen Nazideutschland. In aufrüttelnden Radioansprachen schwor der Premierminister die Bevölkerung auf Kampf und Widerstand ein. In seiner berühmten Blut-, Schweiß- und Tränenrede vom 13. Mai 1940 erklärte Churchill, seine Politik erschöpfe sich darin, Krieg zu führen – „Krieg gegen eine monströse Tyrannei, wie sie nie übertroffen worden ist im finsteren Katalog der Verbrechen der Menschheit“ – und sein einziges Ziel sei der Sieg – „Sieg um jeden Preis.“19 Nach
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Dünkirchen, als es möglich erschien, dass Hitler sich jetzt gegen das fast entwaffnete England wenden würde, verkündete er im Parlament: „We shall fight on the seas and oceans, we shall fight with growing confidence and growing strength in the air, we shall defend our Island, whatever the cost may be, we shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender, and even if, which I do not for a moment believe, this Island or a large part of it were subjugated and starving, then our Empire beyond the seas, armed and guarded by the British Fleet, would carry on the struggle, until, in God’s good time, the New World, with all its power and might, steps forth to the rescue and the liberation of the old.“20
Einsatz von Giftgas Auch der Einsatz von letalen chemischen Waffen – obwohl vom Genfer Protokoll geächtet21 – war im Ernstfall kein Tabu für Churchill. „Ich kann diese Zimperlichkeit (squeamishness) bezüglich des Einsatzes von Giftgas nicht verstehen“, erklärte er 1919 als Kriegsminister: „Ich bin sehr für Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Stämme.“ Das eingesetzte Gas müsse ja nicht tödlich sein, sondern nur „große Schmerzen hervorrufen und einen umfassenden Terror verbreiten.“22 So befürwortete Churchill im Ersten Weltkrieg den Gebrauch von nicht-letalen chemischen Waffen gegen Kurden und Afghanen, aber auch den Einsatz von tödlichem Senfgas gegen osmanische Truppen. Als Nazideutschland die Invasion des britischen Festlands plante („Operation Seelöwe“), erklärte er im Mai 1940 seine Entschlossenheit, in diesem Falle gegen deutsche Truppen tödliches Giftgas einzusetzen: „Wir sollten nicht zögern, unsere Strände mit Giftgas zu verseuchen.“23 Doch dazu kam es nicht, denn das Blatt hatte sich gewendet: Die Royal Air Force gewann die „Luftschlacht um England“ gegen die deutsche Luftwaffe – ein strategisch wichtiger Sieg, denn damit waren Hitlers Invasionspläne gescheitert. Endlich geschah auch das, worauf Churchill schon lange hingearbeitet hatte, und das den Krieg entscheiden sollte: der Kriegseintritt der USA. Churchill hatte insgeheim eine intensive private Korrespondenz mit Franklin D. Roosevelt geführt, in der er den zögerlichen US-Präsidenten zum Kriegseintritt bewegen wollte. Doch das gelang ihm erst, nachdem Japan den US-Stützpunkt Pearl Harbour angegriffen und Hitler gleichzeitig den USA den Krieg erklärt hatte. 228
____________________________________ Die Vernichtung der deutschen Innenstädte
„Woher dieser eisenharte, verbissene Vernichtungswille, der den Churchill von 1940 zu einer Sagengestalt gemacht hat – einem vorweltlichen Kriegsdämon, der mit nackter Faust die Weltkugel stemmt, umloht von den Feuern des brennenden London?“, schwärmt Sebastian Haffner, dessen Churchill-Biografie Maßstäbe für spätere Autoren setzte, was den Respekt und die kritiklose Bewunderung des großen Staatsmannes angeht.24 Was waren die Wurzeln von Churchills erbittertem Widerstands gegen die HitlerTyrannei? Es war schlicht die Tatsache, dass Churchill (im Gegensatz zu vielen seiner britischen Kollegen, die mit Hitler verhandeln wollten) Adolf Hitler als den durchschaute, der er war: ein skrupelloser, im Innersten krimineller Mensch, ein verlogener Diktator, mit dem man keine Verträge schließen konnte, weil er sie immer brach, ein Rassist und Dämon des Bösen, den man vernichten musste, sollte ganz Europa nicht im Faschismus ersticken. Im Stil der Anführer archaischer Zeiten, die am Tag vor der entscheidenden Schlacht ihre Truppen mit großen Reden in Hass und Wut gegen den Feind einschworen und anspornten, beschimpfte Churchill Hitler unflätig: „Dieser üble Mensch, diese Verkörperung des Hasses, dieser Brutherd von Seelenkrebs, diese Missgeburt aus Neid und Schande; das Richtschwert in der Faust werden wir uns an seine Fersen heften.“25
Es waren gerade diese Eigenschaften – unbedingter Sieges- und Durchhaltewillen (die sich in Gallipoli noch desaströs ausgewirkt hatten) – mit denen der Kriegspremier Churchill 1940/41 England vor der Invasion der Wehrmacht bewahrte und Hitlerdeutschland in die Schranken wies. Die Briten mit Churchill an der Spitze kämpften und erduldeten die deutschen Luftangriffe, bis sich das Blatt zu wenden begann. Doch die Maßlosigkeit des von ihm zwecks Vergeltung angeordneten Bombenterrors verdunkelt seine Verdienste.
Die Vernichtung der deutschen Innenstädte „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“, lässt Goethe seinen Götz von Berlichingen sagen. Dieses zum Sprichwort geronnene Zitat trifft auch auf Churchill zu. Noch zu Beginn des Krieges hatte der damalige Premierminister Chamberlain im Unterhaus erklärt: „Wie weit auch andere gehen mögen,
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Seiner Majestät Regierung wird zu Zwecken des Terrors niemals zu bewusstem Angriff auf Frauen und Kinder und andere Zivilpersonen Zuflucht nehmen.“26 Mithin gab es in England ein klares Bewusstsein von einem barbarischen Krieg und seiner Vermeidung. Doch Fakt ist, dass diese Einschränkung für den britische Nationalheld Winston Churchill keinerlei Bedeutung hatte. Schon früh war er ins Visier von Kritikern geraten, die seine moralische Prinzipienlosigkeit geißelten. So schrieb der Historiker Paul Addison in seiner Churchill-Biografie wenig schmeichelhaft, Churchill habe als „schamloser Egoist, prinzipienloser Opportunist […] und waghalsiger Amateurstratege mit einer gefährlichen Passion für Krieg und Blutvergießen“ gegolten.27 Die skrupellose Vernichtung der mit Zivilisten überfüllten deutschen Innenstädte durch Bombenterror zeugt von diesem Hang des Kriegspremiers zu Gewalt und Blutvergießen. Die von Churchill abgesegnete Area Bombing Directive („Anweisung zum Flächenbombardement“) wurde am 14. Februar 1942 vom britischen Luftfahrtministerium herausgegeben. In dieser Direktive wurde dem neuen Oberkommandierenden des Bomber Command der Royal Air Force, Arthur Harris, der unbeschränkte Einsatz seiner Luftstreitkräfte erlaubt. Harris glaubte fest daran, der Krieg gegen Deutschland könne durch exzessive Bombardierung der Städte gewonnen werden, und zwar an der Heimat- wie an der Kampffront. Es gelte, die Moral der Deutschen zu brechen – eine fatale Fehleinschätzung, wie sich erweisen sollte. Im Oktober 1943 erklärte Harris in einer streng geheimen Denkschrift, das Ziel sei „Die Zerstörung der deutschen Städte, die Tötung deutscher Arbeiter und die Zerschlagung des zivilisierten sozialen Lebens in ganz Deutschland. Es sollte unterstrichen werden, dass die Zerstörung von Gebäuden, öffentlichen Einrichtungen, Transportmitteln und Leben, die Schaffung eines Flüchtlingsproblems von bislang unbekanntem Ausmaß und der Zusammenbruch der Moral an der Heimat – wie der Kampffront durch die Furcht vor noch umfassenderen und heftigeren Bombenangriffen akzeptierte und beabsichtigte Ziele unserer Bombenpolitik sind. Keinesfalls sind sie Nebeneffekte von Versuchen, Fabriken zu treffen.“28
Es gelang Harris, Churchill von dieser Strategie zu überzeugen. In der General-Direktive wurde explizit darauf hingewiesen, dass das primäre Ziel der Einsätze sich auf die Moral der Zivilbevölkerung „zu konzentrieren“ habe – insbesondere auf die der Industriearbeiter.29 Damit bekam Harris grünes
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____________________________________ Die Vernichtung der deutschen Innenstädte
Licht für die Vernichtung der deutschen Innenstädte durch Flächenbombardements – und damit eine Lizenz zum Massenmord. Am Beispiel von Hamburg soll gezeigt werden, welch verheerende und tödliche Wirkung diese Bombardements hatten.
„Operation Gomorrha“ – Feuersturm über Hamburg Der militärische Codename „Operation Gomorrha“ bezeichnete die Serie alliierter Luftangriffe auf Hamburg zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943. In einer Dokumentation des NDR wird geschildert, was am 27. Juli 1943 geschah: „Um 23.40 Uhr ertönt Fliegeralarm. Die Einwohner der 1,5-Millionenstadt reagieren sofort und suchen die vermeintlich schützenden Keller und Bunker auf. Doch was die Menschen in der Nacht zum 28. Juli erleben, übertrifft alles bislang Vorstellbare. Das Inferno des Feuersturms zerstört weite Teile im Osten der Elbmetropole – die Spuren sind bis heute sichtbar. 739 britische Flugzeuge brechen am 27. Juli abends in Richtung Hamburg auf. In den folgenden Stunden werfen sie mehr als 100.000 Spreng- und Brandbomben ab. Orientierungspunkt für die Piloten: die Nikolai-Kirche. Der Bombenteppich trifft die dicht besiedelten Arbeiterviertel Hohenfelde, Hamm, Billbrook, Borgfelde, Rothenburgsort, Hammerbrook und das östliche St. Georg. Mehr als 400.000 Menschen halten sich zum Zeitpunkt des zweiten Großangriffs in diesem Gebiet auf, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung. […] Eine Fläche von 250.000 Quadratmetern steht in Flammen.“30
Ein erster Großangriff durch britische Bomber hatte bereits in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli zu Flächenbränden in den Stadtteilen Altona, Hoheluft und Eimsbüttel geführt. Doch dies war nur der Auftakt für etwas viel Schlimmeres. In der Nacht zum 28. Juli kommt es – begünstigt durch wochenlange Hitze und Trockenheit – erstmals im Luftkrieg gegen Deutschland zum Phänomen eines Feuersturms, der über fünf Stunden über Hamburg tobte, ein Feuersturm, der die zuvor dicht besiedelten Arbeiterviertel fast völlig zerstörte. „Zehntausende Brände vereinen sich minutenschnell zu riesigen Flächenbränden. In den schmalen Straßen wird die Luft wie in einem riesigen Kamin angesogen. Die fünfstöckigen Wohnblocks und die Speicher entlang der Kanäle bieten den Flammenwalzen, in deren Zentrum bis zu 1.000 Grad herrschen und die zeitweise Orkanstärke erreichen, reichlich Nahrung. Der Feuersturm reißt Menschen zu Hunderten in die Flammen,
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Winston Churchill __________________________________________________________ fängt sich in den schmalen Terrassen und Hinterhöfen der Wohnblocks und lässt kein Entrinnen zu. Schutzräume werden zur Todesfalle.“31
Ein Augenzeuge, damals Feuerwehrmann, schildert das Inferno: „Viele reißen ahnungslos die Türen auf und geben den Weg für die reißenden Flammen frei, anderen versperren Trümmer die Kellerausgänge. Die Menschen ersticken in ihren Kellern, verbrennen und verglühen auf der Straße, werden von umherfliegenden Holzteilen und herabstürzenden Dächern erschlagen.“32
Was war es, was diese Luftangriffe so für die Zivilbevölkerung so tödlich machte?
Planmäßige Erzeugung von Feuerstürmen33 Britische Feuerwehr- und Bomben-Experten hatten bereits in den 30er-Jahren zahlreiche Studien und Experimente über die Brennbarkeit von Baustoffen durchgeführt, um die Bombentechnologie zu perfektionieren. Ziel war die Entwicklung einer Technik, die eine möglichst große Zerstörung von Gebäuden mit vielen zivilen Opfer gewährleisten sollte. Das Ergebnis war eine Mischung von Luftminen, Spreng-, Phosphor- und Stabbrandbomben, welche die Royal Air Force bei ihren Flächenbombardements verwendete, nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen deutschen Großstädten wie Dresden. Es war in der Tat eine effiziente, besser gesagt teuflisch-perfide Zerstörungsmethode, die den in den Häusern schutzsuchenden Menschen keine Chance ließ: „Zunächst wurden Luftminen und Sprengbomben abgeworfen, welche die unter den Straßen verlaufenden Wasser-, Gas- und Kommunikationsleitungen zerstören sollten, wodurch die Koordinierung von Feuerwehreinsätzen und die Bekämpfung von Bränden zum Teil unmöglich wurde. Um die Sprengbomben möglichst tief eindringen zu lassen, wurden diese häufig mit einem Verzögerungszünder ausgestattet, so dass sie nicht sofort beim Aufschlag, sondern erst tief im Erdreich bzw. in Hauskellern detonierten. Gleichzeitig wurden durch den ungeheuren Luftdruck der Luftminen (‚Wohnblockknacker‘) Dächer abgedeckt und sämtliche Fenster und Türen umliegender Häuser zerstört. Die dann eingesetzten Phosphor- und Stabbrandbomben konnten die nun freiliegenden hölzernen Dachstühle entzünden und schlugen durch die zerstörten Fenster auch direkt in die Wohnungen, wobei sich die Brände über die fast ausschließlich aus Holz bestehenden Treppenhäuser rasch auf die weiter unten liegenden Etagen ausbreiteten und – begünstigt durch die zerborstenen Fensterscheiben – auch genügend Sauerstoff
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____________________________________ Die Vernichtung der deutschen Innenstädte erhielten. Letztendlich führte dies zum vollständigen Ausbrennen der Gebäude. Löschversuche wurden dadurch vereitelt, dass etwa eine Viertelstunde nach dem Hauptangriff eine weitere Welle von Bombern eintraf, um die Löschkräfte in den Schutzräumen zu halten. Erst durch die dadurch viel zu spät einsetzenden Lösch- und Rettungsmaßnahmen wurden die großen Flächenbrände möglich.“34
Die Feuerwehr war machtlos. Rettungskräfte konnten weder löschen noch bergen – genauso wie es die britischen Brandexperten geplant hatten. „Menschen wurden in die Feuer gerissen, brennende Balken und Gegenstände durch die Luft gewirbelt, Bäume bis zu einem Meter Dicke entwurzelt, Flammen und Funkenflug zogen wie Schneegestöber durch die Straßenzüge. Die Geschwindigkeit des Feuersturms erreichte Orkanstärke bis zu geschätzt 75 Meter pro Sekunde (270 km/h). Der Feuersturm kam zwischen 5 und 6 Uhr morgens zum Erliegen. Eine sieben Kilometer hohe Rauchwolke, die die Sonne unsichtbar machte, lag am 28. Juli 1943 über der Stadt.“35
Die Straßen in den betroffenen Ortsteilen lagen unter Trümmern begraben, Telefonleitungen waren unterbrochen. Wolken aus Rauch, Staub und Asche zogen über die Stadt und erst gegen Mittag schimmerte Tageslicht durch. Am Tag setzen amerikanische Flugzeuge das Bombardement fort. Zurück blieb eine glühende Trümmerlandschaft, aus der 900.000 Menschen fliehen mussten. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge bargen Zehntausende Leichen und brachten sie zum Ohlsdorfer Friedhof, um sie dort in Massengräbern zu begraben.36
Opferbilanz – 40.000 Tote in Hamburg Zehn Tage und Nächte dauerte das Inferno in der zweitgrößten Stadt des Deutschen Reiches. Siebenmal zwischen dem 25. Juli und dem 3. August warfen 2.592 britische und 146 US-Bomber insgesamt 8.344 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Stadt. Etwa 40.000 Menschen kamen ums Leben, darunter 22.500 Frauen und 7.000 Kinder. Rund 750.000 Hamburger wurden obdachlos. Fast genau die Hälfte aller 357.360 Wohnungen waren zerstört. Es war dies der verheerendste und an zivilen Opfern reichste Luftangriff auf eine deutsche Stadt im Zweiten Weltkrieg. Die „Operation Gomorrha“, als Verweis auf die Geschichte im Alten Testament, in der zwei Städte am Toten
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Meer durch Feuer und Schwefelregen vernichtet wurden, hat die Elbmetropole in Schutt und Asche gelegt. Man könnte dies als das größte LuftkriegMassaker der Geschichte bis zum Mai 1945 bezeichnen, wenn man den Begriff „Massaker“ auf die Massentötungen von Zivilisten durch Distanzwaffen ausdehnt. Der britische Leutnant Philip Dark beschreibt den apokalyptischen Anblick, den Hamburg bei Kriegsende bot: „Wir bogen ins Zentrum ab und kamen in eine Stadt, die unvorstellbar verwüstet war. Es war mehr als schockierend. Soweit das Auge blickte, Quadratmeile auf Quadratmeile leerer Häuserschalen, in denen verbogene Stahlträger wie Vogelscheuchen emporragten, Heizkörper an einer noch stehenden Wand in der Luft hingen wie das gekreuzigte Skelett eines Pterodaktylus. Furchtbare, abscheuliche Formen von Kaminen sprossen aus dem Gerüst einer Wand. Über dem ganzen hing eine Atmosphäre zeitloser Stille. […] Solche Bilder kann niemand verstehen, der sie nicht gesehen hat.“37
Ähnliches spielte sich in vielen anderen Städten ab, so in Berlin, München, Köln, Würzburg und Pforzheim. Im kollektiven Gedächtnis ist besonders die Bombardierung Dresdens gespeichert, wo Feuerstürme ähnlich tödlich gewütet haben wie in Hamburg. Die Opferzahl reicht in dem ehemaligen ‚Elbflorenz‘ von 25.000 bis 45.000 Getöteten (wenn man die geschätzte Zahl getöteter Flüchtlinge einrechnet).38 In der Kölner Altstadt war so gut wie kein einziges Haus oberirdisch mehr bewohnbar. Aber nicht nur die deutschen Großstädte gingen im Zweiten Weltkrieg im Bombenhagel unter. Mehr als tausend Ortschaften und Stadtgemeinden waren ebenfalls Ziel britischer und amerikanischer Kampfflieger, darunter fast jede Stadt mit mehr als 50.000 Einwohnern. Doch in keiner deutschen Stadt verloren relativ zur Einwohnerzahl mehr Menschen durch Luftangriffe ihr Leben als in Pforzheim – nämlich fast jeder dritte Einwohner (etwa 17.600 Getötete). Fast überall wurden die historischen Innenstädte vernichtet, wo die auf hölzernem Fachwerk basierende Altbausubstanz sich für die Erzeugung von Feuerstürmen besonders gut eignete. Mehr als eine Milliarde Tonnen Gestein und Schutt an Trümmern hinterließ der Bombenkrieg gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Aber das ist nur eine Schätzung, hochgerechnet aus dem einigermaßen genau dokumentierten Gewicht einiger Schuttberge in Berlin, München und Köln. Aber auch 850 kleinere Orte bis hinunter zu Dörfern wurden bombardiert, und in vielen davon gab es schwere Verluste unter den zivilen Einwohnern. Über eine halbe Million deutsche Opfer forderte der Luftkrieg – darunter ca. 50.000 Kinder.
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Der britische Historiker Keith Lowe zitiert verschiedene Augenzeugen, die das Zerstörungswerk beschrieben: „In vielen Beschreibungen deutscher Städte aus dem Jahr 1945 klingt schiere Verzweiflung durch. Dresden hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem ‚Florenz an der Elbe‘, sondern wirkte eher wie eine ‚Mondlandschaft‘, und die Planungsstäbe waren der Ansicht, es werde ‚mindestens 70 Jahre‘ dauern, die Stadt wiederaufzubauen. München war derart verwüstet, dass ‚man sich kaum des Gedankens erwehren konnte, das letzte Gericht stehe unmittelbar bevor‘. Berlin war ‚vollkommen zerschlagen – nichts als Schutthaufen und Hausskelette‘. Köln lag in Trümmern, ‚ohne Schönheit und Gestalt, einsam in völliger physischer Vernichtung‘. – Zwischen 18 und 20 Millionen Deutsche verloren durch die Zerstörung ihrer Heimatstädte das Dach über dem Kopf – diese Zahl entspricht der gemeinsamen Bevölkerung der Beneluxstaaten vor dem Krieg.“39
Die Motive der Alliierten – „Moral bombing“ Was waren die Motive der Alliierten für das grausame Bombardement der deutschen Städte? Zunächst muss festgehalten werden, dass der brutale Bombenkrieg von Nazi-Deutschland begonnen worden war. Beginnend mit der Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch deutsche Kampfflugzeuge der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg sowie der Bombardierung und brutalen Zerstörung von Warschau, Coventry und weiteren britischen Städten durch die Luftwaffe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, hatte das Nazi-Regime demonstriert, dass im Luftkrieg auf Zivilisten keinerlei Rücksicht genommen wurde. Später setzte Hitler das Bombardement mit dem Abschuss von V1- und V2-Raketen auf London fort, die große Zerstörungen anrichteten und viele zivile Opfer forderten. Insgesamt hatten die Engländer ca. 60.000 Bombenopfer zu beklagen. Der Luftangriff auf Coventry am 14. November 1940, bei dem die Innenstadt mit der gotischen Kathedrale zertrümmert wurde, wurde zum Symbol für den Bombenterror (die NaziPropaganda sprach zynisch von ‚Coventrieren‘), weil mit der Methode des Flächenbombardements auch der Tod vieler Zivilisten billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar beabsichtigt war. Diese menschenverachtende Terror-Strategie des Nazi-Unrechtsregimes wurde zum Vorbild für die Luftangriffe der Royal Air Force, die blutige Vergeltung übte. Der britische Historiker Frederick Taylor schreibt zu Coventry:
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Wie oben geschildert, übernahmen Britische Bombenexperten diese perfide Methode und entwickelten sie weiter. Mit dem Verlust der deutschen Lufthoheit änderte sich das Blatt. Nun waren es die Alliierten, die sich die deutschen Städte als Ziele für ihre Bomberflotten aussuchten. Jetzt sollte mit gleicher Münze heimgezahlt und das Nazi-Regime in die Knie gezwungen werden. Während die Amerikaner primär für die Zerstörung militärstrategischer Ziele wie der deutschen Infrastruktur zuständig waren, konzentrierten sich die Engländer auf die Bombardierung der Städte. Nachdem Arthur Travers Harris ab Februar 1942 Oberbefehlshaber von Bomber Command geworden war, wurde die Strategie des Flächenbombardements zum Programm: Mit verheerenden Luftangriffen sollte die Moral der Deutschen gebrochen und der Krieg auf diese Weise verkürzt werden. Doch diese Rechnung ging nicht auf, im Gegenteil: die Nazi-Propaganda nutzte diese Strategie der verbrannten Städte für ihre Durchhalteparolen. Propagandaminister Josef Goebbels unterstellte den Alliierten in seinen Radioansprachen, das deutsche Volk ausrotten zu wollen, wodurch sich die Reihen wieder schlossen, sodass die Menschen – obwohl ausgebombt und traumatisiert – durchhielten, zumal sie in der totalitären NS-Diktatur keine Alternative hatten. Genauso wenig, wie sich die Bevölkerung von Coventry durch die deutschen Bombenangriffe hatte einschüchtern lassen, ließen sich die deutschen Stadtbewohner vom englischen Bombenterror demoralisieren. Dessen ungeachtet blieb es das erklärte Ziel der britischen Terrorangriffe, die Moral der deutschen Bevölkerung zu brechen, wobei nach dem Grundsatz ‚der Zweck heiligt die Mittel‘ vorgegangen wurde. „Dabei hätten sie das doch alles aus eigener Erfahrung wissen können – aus Coventry“, dass das nicht funktionieren würde, konstatiert der Amerikaner Frederick Taylor bezüglich der Bomberstrategen um Harris.41 Man muss deshalb davon ausgehen, dass die wahren Motive von ‚BomberHarris‘ für die bis zum Frühjahr 1945 dauernde Zerstörung deutscher Städte Rache und Vergeltung waren, denn Deutschland hatte den Krieg längst ver-
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loren. Insbesondere die erbarmungslose Bombardierung des militärisch unwichtigen, von Flüchtlingen überfüllten Dresden muss diesem Motiv zugeordnet werden – eine Schandtat sondergleichen. Wegen solcher exzessiven Vergeltungsaktionen gehört Harris zu den umstrittensten Figuren des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg (wurde aber dennoch in London mit einem Denkmal geehrt). Neben den Motiven der Demoralisierung und Vergeltung gab es noch ein weiteres für die komplette Zerstörung der deutschen Innenstädte: nämlich die Absicht, mit der Ausradierung der Stadtzentren auch das vermeintlich spezifisch deutsche Kulturerbe, den ‚preußischen Militarismus‘, auszulöschen. Indem man die meist in den Stadtzentren gelegenen Museen, Bibliotheken und Universitäten, in denen das kulturelle Erbe der Deutschen aufbewahrt und gepflegt wurde, dem Erdboden gleichmachte, hoffte man, dem deutschen Militarismus die ideologische Basis zu entziehen und ihn damit endgültig auszumerzen. Da aber im ‚Land der Dichter und Denker‘ ‚preußischer Militarismus‘ in Museen und Bibliotheken allenfalls eine marginale Rolle spielte (was Churchill wohl bewusst war), ist dieses Motiv besonders verwerflich. Dass es sich auch bei dieser Intention der britischen Regierung juristisch um ein Kriegsverbrechen handelte, ergibt sich aus dem damals maßgeblichen Artikels 25 der Haager Landkriegsordnung, wo es heißt: „Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.“ Außerdem steht eine nicht-spezifische Anordnung wie die Area Bombing Directive im Widerspruch zu Artikel 27, der eine Schonung von entsprechend gekennzeichneten und nicht militärisch verteidigten Kulturgütern verlangt, „um die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die geschichtlichen Denkmäler, die Hospitäler und Sammelplätze für Kranke und Verwundete soviel wie möglich zu schonen“.42
Dass der Diktator Adolf Hitler mit der Bombardierung von Coventry den Bombenterror angefangen und als erster gegen die Haager Landkriegsordnung verstoßen hat, entschuldigt die exzessiven Vergeltungsaktionen der britischen Regierung unter Churchill nicht, denn das kriminelle NS-Regime war eine inhumane totalitäre Diktatur, welche Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit mit Füßen trat, während die Alliierten, besonders die Amerikaner, vorgeblich im Zeichen dieser Werte in den Krieg gezogen waren. Doch um diese ging es dem Kriegspremier Churchill im Grunde nicht,
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sondern um die Schicksalsfrage, ob Hitlers geplante Invasion des englischen Festlands stattfinden und ob Großbritannien diesen Machtkampf überleben würde: „Letztlich trat Britannien in Krieg ein, weil es einer existentiellen Bedrohung gegenüberstand – und nicht primär, weil es die Nazi-Ideologie ablehnte.“43
Kriegsverbrechen Die eigentliche Verantwortung für das zynische moral bombing trug nicht das Militär mit ‚Bomber-Harris‘ an der Spitze, sondern die politische Führung, d. h. die britische Regierung unter Premierminister Winston Churchill. Obwohl Churchill anfangs noch humanitäre Bedenken hatte und auch bald erkannte, dass das Flächenbombardement bezüglich der beabsichtigten Demoralisierung der Deutschen ineffektiv war, ließ er Arthur Harris bis zum Ende des Krieges freie Hand. Dies wirft einen weiteren dunklen Schatten auf die Person des Karlspreisträgers. Die Briten hatten ein bereits in der Antike formuliertes Prinzip missachtet: den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der im Codex Hammurabi als lex talionis erstmalig schriftlich fixiert worden war. Auch der Philosoph Immanuel Kant verwies auf das Talionsprinzip, wonach die Strafe der Tat entsprechen, d. h. Gleiches mit Gleichem vergolten werden müsse. Ebenso sollte das im Alten Testament anzutreffende, oft missverstandene Gebot „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ exzessive Vergeltungs- und Racheaktionen unterbinden und unangemessene Sanktionen verhindern. Während die deutsche Luftwaffe rund ein Dutzend englische Städte zerstört und ca. 60.000 Menschen getötet hatte, zerstörten US-Bomber und die Royal Air Force Hunderte deutsche Städte, wobei rund 600.000 Menschen den Tod fanden. Mithin wurden die durch deutsche Luftangriffe in England verursachten Menschenverluste zehnfach vergolten. Mit den exzessiven Vergeltungsschlägen der Alliierten wurde die Talionsformel, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, massiv verletzt. Auch was die Vernichtung des Wohnraumes anbelangt, ging in Deutschland fast 20-mal mehr Wohnraum verloren als in Großbritannien. Rund 3,6 Millionen deutsche Wohnungen wurden von den alliierten Luftstreitkräften zerstört – etwa ein Fünftel des gesamten Wohnraumes, was nach dem Krieg zu einer dramatischen Wohnungsnot in
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Deutschland führte, zumal zusätzlich ca. 13 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene untergebracht werden mussten. Zur Bewertung des britischen Vorgehens schreibt der Historiker Christian Graf von Krockow: „Es besteht kein Zweifel daran, dass Churchill sich in Schuld verstrickt hat. Es sei an die Entfesselung des Luftkrieges gegen die deutsche Zivilbevölkerung erinnert. Sie erwies sich als barbarisch – und als unwirksam, wenn es darum ging, Hitlers Herrschaft zum Einsturz zu bringen. Sie war Verbrechen und Fehler zugleich. Bei der Vertreibung von Millionen von Menschen sieht es nur um Nuancen besser aus.“44
Doch der Vorwurf ‚Kriegsverbrechen‘ kommt nicht nur von deutscher Seite, auch von britischer. Anlässlich des 68. Jahrestags der Bombardierung Dresdens sagte der Augenzeuge und Weltkriegsveteran Victor Gregg, Premier Winston Churchill hätte dafür „an die Wand gestellt werden sollen … Das Flächenbombardement war ein Kriegsverbrechen. Ich werfe den Jungs von der Royal Air Force überhaupt nichts vor. Sie haben 55.000 Männer verloren, sie hatten ihre Befehle. Aber Churchill hätte man dafür erschießen sollen. Er hat das im Namen des britischen Volkes angeordnet. Ich finde, dass wir für etwas Besseres stehen als für Krieg gegen Zivilisten. Wir waren doch die Guten!“
Von den furchtbaren Geschehnissen traumatisiert, konnte Gregg lange Zeit nicht beschreiben, was er gesehen hatte. Man sah Frauen, „die ihre Kinder umklammern und vom Wind in die Luft gehoben und ins Zentrum des Brandes gesaugt werden […]. Dann waren da ungefähr 20 Menschen jenseits der Straße, und um dem Feuer zu entkommen, mussten sie auf unsere Seite. Ein paar versuchten zu rennen. Aber der Asphalt war geschmolzen, so dass sie auf halbem Weg steckenblieben. Irgendwann explodierten ihre Körper von der Hitze. Das Gehirn kann so etwas nicht verarbeiten.“45
Doch viele Engländer sehen Churchills Bombardierungsstrategie nach wie vor als gerechtfertigt an. Als ‚Hitler-Bezwinger‘ genießt er den Ruf eines britischen Nationalheiligen. Doch sein ‚Kettenhund‘ Arthur Harris ist umstritten: „Ein Denkmal, das ‚Bomber-Harris‘ 1992 in der Londoner City gesetzt wurde, hat Proteste ausgelöst, wurde mehrfach beschädigt und musste monatelang bewacht werden. Bis heute sind die Diskussionen über die Ethik – und den militärischen Erfolg – von Harris’ Strategie nicht abgeschlossen.“46
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Abb. 20: Blick vom Turm der Kreuzkirche auf die durch die Luftangriffe zerstörte Innenstadt Dresdens.
Die unter seinem Befehl stehenden Piloten der Royal Air Force gelten jedoch nach wie vor als Helden, die unter Lebensgefahr die Freiheit der Welt verteidigten. Den 55.573 im Krieg gefallenen Mitgliedern des Bomberkommandos der Royal Air Force wurde 2012 ein Denkmal gesetzt. Der britische Historiker Richard Overy, der den strategischen Bombenkrieg der 1940er-Jahre umfassend analysierte, kommt – im Widerspruch zu einem alliierten Mythos – zu dem Schluss, dass die Zerstörung deutscher Städte ineffizient und kontraproduktiv gewesen sei. Er widerlegt die Behauptung, die strategischen Bombardements gegen die deutsche Zivilbevölkerung hätten entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen. Er kritisiert Harris, die von ihm befohlenen Flächenbombardierungen bei Nacht hätten wegen der Zielungenauigkeit den Zweck der Vernichtung von Arbeitskräften zur Schwächung der deutschen Kriegswirtschaft verfehlt.47 Nach der Zerstörung Dresdens kamen Churchill wegen des Bombenterrors gewisse Zweifel. In einem Memorandum vom 28. März 1945 an General Ismay, den Vorsitzenden des britischen Generalstabs, fragt er, ob „die Bombardierung deutscher Städte, einfach zum Zwecke der Erhöhung des Terrors […], überprüft werden sollte. Sonst werden wir die Kontrolle über ein total verwüstetes Land übernehmen […]. Die Zerstörung Dresdens bleibt eine ernste Frage an die alliierte Bombardierungspolitik. […] Ich glaube, es ist nötig, dass wir uns mehr auf militärische Ziele konzentrieren wie Öllager und Kommunikationszentren hinter der unmittelbaren Kampfzone, statt auf reine Akte des Terrors und der mutwilligen Zerstörung, wie beeindruckend sie auch immer sind.“48
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____________________________________ Die Vernichtung der deutschen Innenstädte
Demnach hatte Churchill weniger humane Bedenken als vielmehr die Sorge, als Besatzer ein völlig zerstörtes Land übernehmen zu müssen. Doch auf das Insistieren von Bomber-Harris zog Churchill das Memorandum kurz darauf wieder zurück. Auch an der Wirkung des Bombenterrors, die Moral der Deutschen zu brechen, kamen ihm Zweifel, denn britische Studien über die Reaktion der Bevölkerung auf die Bombardierung von Coventry und London hatten gezeigt, dass die Moral der Menschen in den Monaten des permanenten Bombardements nicht gelitten hatte. Bei den Zweifeln blieb es, waren doch die vom German Blitz und V2-Raketen traumatisierten Briten mit dem Bombenterror ihrer Luftflotte voll einverstanden.49 Eine Ausnahme machte der Bischof der Church of England (Anglikaner) und führender Vertreter der Ökumene, George Kennedy Allen Bell, ein strikter Gegner der alliierten Luftkriegsstrategie. Am 9. Februar 1944 beschrieb er die Bombardierung deutscher Städte als unverhältnismäßig und damit völkerrechtswidrig: „Ich möchte die Regierung herausfordern wegen ihrer Politik der Bombardierung feindlicher Städte im gegenwärtigen Umfang, besonders hinsichtlich von Zivilisten, Non-Kombattanten, sowie von nichtmilitärischen und nichtindustriellen Zielen. […] Ich bin mir bewusst, dass bei den Angriffen auf Zentren der Kriegsindustrie und auf Militärtransporte der Tod von Zivilisten unvermeidbar ist, soweit er aus einer im guten Glauben durchgeführten Militäraktion rührt. Aber es muss eine Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem erreichten Zweck bestehen [Herv. v. Verf.]. Eine ganze Stadt auszulöschen, nur weil sich in einigen ihrer Bereiche militärische und industrielle Einrichtungen befinden, heißt die Verhältnismäßigkeit abzulehnen.“50
Die Rede bezog sich sowohl auf das Talions-Prinzip als auch auf Artikel 22 der Haager Landkriegsordnung, der ausdrücklich zwischen Kombattanten (Soldaten) und Nichtkombattanten (Zivilisten) unterscheidet. Doch Bischof Allen Bell blieb in England ein einsamer Rufer in der Wüste. Auch auf amerikanischer Seite gab es vereinzelt Kritik am Bombenterror, z. B. von John Kenneth Galbraith, Mitglied der Roosevelt-Regierung und einer der Direktoren des United States Strategic Bombing Survey. In einer späteren Kriegsphase äußerte er Zweifel an der moralischen Legitimität der Flächenbombardements gegen Nazi-Deutschland. Er schrieb: „Die unglaubliche Grausamkeit der Angriffe auf Dresden, als der Krieg bereits gewonnen war – und der Tod von Kindern, Frauen und Zivilisten – das war äußerst gravierend und nutzlos.“51
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Erst viel später haben sich britische Intellektuelle mit den Flächenbombardements kritisch auseinandergesetzt. Der Kriegsreporter und Militärschriftsteller Max Hastings konstatierte in seinem Klassiker Bomber Command: „Die Auslöschung der deutschen Städte im Frühjahr 1945 ist ein bleibender Schandfleck“ und beschrieb „das wachsende Entsetzen der okkupierenden Truppen über die physische Vernichtung Deutschlands.“52 1980 bezeichnete John Griggs in seinem Buch 1943: The Victory That Never Was die Flächenbombardierung als „ebenso nutzlos wie barbarisch.“ Andere britische Autoren stuften den Bombenterror sogar als Kriegsverbrechen ein, so Gregory Stanton, Rechtsanwalt und Präsident von Genocide Watch: „Jedes menschliche Wesen hat die Fähigkeit sowohl für Böses als auch für Gutes. Der Holocaust gehört zu den größten Völkermorden der Geschichte. Aber der Feuersturm der Alliierten auf Dresden und die atomare Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki waren auch Kriegsverbrechen – und [...] auch genozidale Aktionen.“53
1993 wurde der britische Förderverein Dresden Trust gegründet, dessen Aufgabe laut Satzung es ist, die Kriegswunden zu heilen. Das nach historischem Vorbild gefertigte Kuppelkreuz der Dresdner Frauenkirche wurde in England vom Sohn eines Bomberpiloten über Dresden angefertigt und als Geste der Versöhnung vom Dresden Trust finanziert.
Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten Die Zwangsumsiedlung der 13 Millionen Deutschen aus den Ostgebieten sollte die größte ethnische Säuberung der Weltgeschichte werden. Dazu schreibt der US-amerikanische Historiker R. M. Douglas, der die Vertreibung der Deutschen akribisch beschrieben und das gewaltige Vertreibungsprojekt kritisch beleuchtet hat: „Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nicht nur die größte Deportation, sondern vermutlich auch die größte Bevölkerungsbewegung der Weltgeschichte. Es gab keinen Präzedenzfall für Festnahme, Transport und Neuansiedlung einer so gewaltigen Zahl von Menschen in so kurzer Zeit.“54
An diesem gewaltsamen ‚Bevölkerungstransfer‘ – aus heutiger Sicht eine ruchlose Schandtat – war Winston Churchill maßgeblich beteiligt. Die Staatschefs der ‚Großen Drei‘ – Roosevelt, Churchill und Stalin – „wussten,
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dass die unmittelbare Nachkriegszeit ihnen nur ein kleines Zeitfenster bot, um die politische und demografische Karte Mitteleuropas neu zu zeichnen und dabei neben einer politischen auch eine soziale Revolution zu bewirken.“55 Obwohl ihre Vorstellungen von dieser Neuordnung sich stark unterschieden – Stalin wollte ein autoritär-kommunistisches Nachkriegseuropa, die Westmächte ein kapitalistisch-demokratisches –, betrachteten sie alle das Vertreibungsprojekt als zentrales Element der geplanten Veränderungen. Als bei einigen Vertretern der westlichen Siegermächte Bedenken gegen das Riesenprojekt der Umsiedlung von 13 Millionen Menschen aufkamen, verwies Churchill wiederholt auf einen Präzedenzfall, um die Vertreibung der Deutschen zu rechtfertigen: Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch von Lausanne56 war für Churchill und die anderen Führer der AntiHitler-Koalition das Musterbeispiel, das die Zuversicht verlieh, man könnte ein für alle Mal mit dem Problem der deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa fertig werden. Churchills Unterhausrede am 15. Dezember 1944 drückte die Absicht unverhohlen aus: „Denn die Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen, wie zum Beispiel im Fall Elsaß-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden. Ich bin von der Aussicht einer Entflechtung der Bevölkerung nicht beunruhigt, auch nicht von diesen umfangreichen Umsiedlungen, die durch moderne Hilfsmittel jetzt besser möglich sind als früher.“57
Doch die nach dem 30. Januar 1923 in Lausanne unterzeichnete „Konvention über den Bevölkerungsaustausch“, auf die sich Churchill wiederholt bezog, und in welcher die Religionszugehörigkeit als einziges Kriterium des ‚Transfers‘ gegolten hatte, stellte „eine radikale Abkehr von den Intentionen dar, die den Minoritäten-Verträgen von 1919 zugrunde lagen, nämlich Minderheiten in Vielvölkerstaaten rechtlich zu schützen und ethnisch-religiöse Pluralität im post-imperialen Europa zu erhalten.“58 Wie Churchill wohl wusste, war dieser Bevölkerungsaustausch keineswegs friedlich verlaufen, sondern mit blutigen Vertreibungsaktionen und ca. 100.000 Opfern verbunden. Der britische Außenminister Lord Curzon, der die britische Delegation bei der Konferenz geführt und erfolglos dagegen gekämpft hatte, ganze Völker zu entwurzeln, kritisierte den zwangsweisen Austausch der Griechen und Türken als „eine durch und durch üble und grausame Lösung, für die die Welt in den kommenden hundert Jahren einen hohen Preis zahlen würde.“
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Es „widere ihn an, irgendetwas damit zu tun zu haben.“59 Anders als der von der Idee des ethnical engineering besessene Churchill bewies sein Kabinettskollege Lord Curzon humane Weitsicht und sah das mit der Entwurzelung verbundene Leid der vertriebenen Menschen. Hingegen propagierte Churchill die Vorstellung, dass ein ‚wahrer‘ Nationalstaat auf dem Fundament religiöser und ethnischer Homogenität gründe und dass nur so ein dauerhafter Frieden zu garantieren sei. Diese Homogenität müsse deshalb auch um den Preis von Zwangsumsiedlung und gewaltsamer Vertreibung erreicht werden. Aus der kritischen Einstellung gegenüber Minderheiten erwuchs zunehmend die Ansicht, es gelte ‚volksfremde‘ Elemente zu entfernen, bevor ein funktionierender Nationalstaat entstehen könne, und somit all jene auszusiedeln, die als schädlich für das Gleichgewicht der Gesellschaft galten.60 Die von Churchill und Stalin propagierte Politik der Zwangsumsiedlung gab Polen und der Tschechoslowakei grünes Licht für die Vertreibung der Deutschen. So war es z. B. auch die lang gehegte Überzeugung des tschechischen Präsidenten Beneš, dass nur ein ethnisch homogener, von der störenden Minderheit der drei Millionen Sudetendeutschen gereinigter Staat in der Lage sei, Stabilität zu bewahren.
Unterscheidung: Ethnische Säuberung und Genozid61 Um die Bedeutung des neuen Konzepts des ‚homogenen Nationalstaats‘ zu erfassen, bedarf es einer Begriffsklärung. Ethnische Säuberung bezeichnet das gewaltsame Entfernen einer ethnischen oder religiösen Gruppe aus einem bestimmten Territorium. Bei den ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts, die von ihren Protagonisten auch euphemistisch ‚Umsiedlung‘, ‚Aussiedlung‘ oder ‚Abschub‘ genannt wurden, handelte es sich in der Regel um Zwangsumsiedlungen, oft begleitet von Mordaktionen, die manchmal auch Massaker bis hin zu genozidalen Vorkommnissen einschlossen. Wie die historischen Beispiele zeigen, bedeutet ethnische Säuberung in der Praxis immer gewaltsame Vertreibung oder Deportation. Dabei ist die Grenze zum Genozid fließend – oft auch umstritten.62 Die in den Jahren 1945/46 vollzogene Vertreibung von ca. 13 Millionen Deutschen aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reichs und der damaligen ČSR, wobei insgesamt bis zu 2,3 Millionen Menschen umkamen (die Zahl ist umstritten), wird allgemein
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– abgesehen von einigen Historikern, die mit Hinweis auf die zahlreichen Vertreibungsopfer den Begriff Genozid verwenden63 – als Zwangsumsiedlung bezeichnet, mithin de facto als ethnische Säuberung. Heute sind ethnische Säuberungen – also gewaltsame Umsiedlungen zum Zweck der ethnischen oder religiösen Homogenisierung – geächtet und ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Doch Churchill, einer der Hauptverantwortlichen für die Vertreibung der Ostdeutschen, hielt das Konzept der Zwangsumsiedlung für die beste Methode, verfeindete Gruppen voneinander zu trennen, wie er im Unterhaus verkündet hatte. Dazu bemerkt der Historiker Norman Naimark: „Die gewaltigen Bevölkerungsbewegungen während des Krieges ließen weitere Massenverschiebungen unproblematisch erscheinen, insbesondere die der verhassten Deutschen. Die Erfahrungen der Sowjetunion mit der Deportation großer Menschengruppen vor und besonders während des Krieges machten auch die Vertreter der Westmächte für die Bitten der Polen und Tschechoslowaken geneigt.“64
Trotz ihrer Differenzen bezüglich des Verlaufs ihrer gemeinsamen Grenze in Mähren waren sich die polnische und die tschechische Regierung völlig darin einig, dass die Deutschen vertrieben werden sollten, hatten doch beide Völker massiv unter der Okkupation von Nazideutschland gelitten (freilich die Polen wesentlich mehr als die Tschechen). Auch die Alliierten stimmten vollkommen darin überein, dass die Deutschen nach dem Krieg das von Stalin nach Westen in die deutschen Gebiete Schlesien und Pommern verschobene Polen verlassen müssten, so wie die Sudetendeutschen die ČSR.
Die drei Streichhölzer und die Westverschiebung Polens Im November 1943 fielen die Würfel. Da die Sowjetunion von allen Kriegsparteien im Zweiten Weltkrieg die höchsten Verluste zu beklagen hatte, forderte Stalin Genugtuung und Reparationen. Der Diktator wollte seine Kriegsbeute, die annektierten ostpolnischen Gebiete, die er im Zuge des HitlerStalin-Paktes seit 1939 erobert hatte, behalten. Churchill signalisierte Entgegenkommen. Mit drei Zündhölzern demonstrierte er eine Verschiebung der Staatsgrenzen. „Das Streichholz ganz links stand für Deutschland, daneben in der Mitte ein Holz für Polen, rechts lag eins für Russland. Churchill schob das russische Streichholz nach links
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Stalin gefiel das Gedankenspiel. Wie von Churchill mit den drei Streichhölzern symbolisch demonstriert, wurden die künftigen Territorien Polens und Deutschlands und deren Grenzen festgelegt. Polens Landesgrenzen wurden westwärts verschoben: Ostpolen fiel an Stalin und wurde in die Sowjetunion eingegliedert, während Polen mit den ostdeutschen Gebieten entschädigt wurde. Deutschlands neue Ostgrenze wurde entlang der Flüsse Oder und Neiße gezogen. Ostpreußen wurde teils russisch, teils polnisch, Pommern und Schlesien fielen an Polen. Die Polen mussten ihre Heimat, die ostpolnischen Gebiete, für die Russen räumen und wurden in die deutschen Ostgebiete umgesiedelt. Das bedeutete: Millionen Deutsche in Schlesien, Pommern und Ostpreußen mussten den Platz für die umgesiedelten Ostpolen freimachen und wurden ins restliche Deutschland zwangsausgewiesen. „Der englische Premier und der russische Diktator legten hier, im November 1943, den Grundstein für eine der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts: die gewaltsame Vertreibung von Millionen Polen und Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs.“66
Es hieß, die ‚Aussiedlung‘ sollte in ‚geregelter und humaner Form‘ erfolgen. Abgesehen davon, dass dies meist nicht geschah, sondern mit brutaler Gewalt, „muss man es nicht schon als unmenschlich bezeichnen, wenn Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden, in welcher Form auch immer?“, fragt Christian Graf von Krockow und fährt fort: „In den für Krieg und Frieden besseren Zeiten des 18. und 19. Jahrhunderts wäre allein der Gedanke an solch einen Gewaltakt als barbarisch erschienen.“67 In der Tat: in den damaligen Kriegen wurden zwar die Grenzen verschoben, aber die Bevölkerung verblieb in ihrem angestammten Territorium. Churchills Vergleich mit Lausanne als scheinbar erfolgreicher Austausch hinkt insofern, als es dort keinerlei territorialen Verluste für die Vertragsparteien Griechenland und Türkei gegeben hat. Und anders als beim Vertrag von Lausanne dachten die Alliierten im Falle der Deportation der Deutschen nicht an Unterstützung oder Entschädigung. Der Historiker R. M. Douglas schreibt:
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_____________________________ Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten „Die Großen Drei machten sich keine Illusionen darüber, wieviel Chaos selbst im besten Fall durch die Vertreibung verursacht würde. Sie schufen vor allem deshalb kein internationales System zur Überwachung der Transfers und zur Minimierung des Leidens der Deportierten, weil sie diesem Ziel keine große Bedeutung beimaßen. Vielmehr betrachteten sie das Leid der entwurzelten Bevölkerung als Möglichkeit, um der Masse gewöhnlicher Deutscher nahezubringen, welches persönliche Risiko in der Unterstützung extremistischer Regime und Angriffskriege lag.“68
Das heißt, den Deutschen sollte eine Lektion erteilt werden: Sie sollten für ihre Hitlertreue bestraft und für alle Zeiten daran gehindert werden, die Welt jemals wieder in einen Krieg zu ziehen, zum einen durch territoriale Verluste (deutsche Ostprovinzen), zum anderen durch Vertreibung der dort lebenden Millionen Menschen aus ihrer angestammten Heimat. In diesem Kontext ist die Haltung Churchills aufschlussreich. Während die Amerikaner zwar keine moralischen Skrupel, aber dennoch Zweifel hegten wegen der möglichen negativen Auswirkungen von Massendeportationen auf die Wirtschaft des besetzten Deutschlands, „behandelte Churchill das Thema besonders ungerührt“, wie der Historiker Naimark schreibt: „Schon am 9. Oktober 1944 bemerkte er zu Stalin, sieben Millionen Deutsche würden im Krieg umkommen, damit wäre im Rumpfdeutschland genug Platz für die Deutschen aus Schlesien und Ostpreußen. Während eines Gesprächs mit Stalin in Jalta im Februar 1945 erklärte Churchill, er sei ‚keineswegs schockiert von der Idee, Millionen von Menschen gewaltsam umzusiedeln.‘ Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagte er, es sei kein Problem, was man in Deutschland mit den (Vertriebenen) macht. ‚Wir haben sechs oder sieben Millionen getötet und werden bis Ende des Krieges wahrscheinlich noch eine Million töten.‘ Stalin: ‚Eine oder Zwei?‘ Churchill: ‚Oh, ich ziehe da keine Grenze nach oben. Es wird also Platz genug in Deutschland für die sein, die die Lücke füllen müssen.‘“69
Solche Äußerungen sind entlarvend: Sie zeigen einen Staatsmann, der einen beispiellosen Zynismus an den Tag legt, wenn es um Menschenleben geht. Churchill war es offenbar egal, ob eine Million Zivilisten mehr oder weniger getötet wurden. Schon 30 Jahre zuvor, beim verlustreichen Gallipoli-Desaster, hatte er seine Indifferenz gegenüber dem Leben von Soldaten demonstriert. Der ‚geborene Krieger‘, der freilich kein General, sondern Politiker war, demonstrierte eine erschreckende Gleichgültigkeit nicht nur gegenüber den Opfern auf dem Schlachtfeld, sondern auch als Kriegspremier gegenüber Hunderttausenden zivilen Opfern, die in den Luftschutzkellern erstickten oder bei der Vertreibung umkamen.
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Der Rassismusvorwurf Nach seinem Einzug 2009 ins Weiße Haus ließ US-Präsident Barack Obama umgehend eine Büste von Winston Churchill entfernen, die sein Vorgänger George W. Bush dort platziert hatte. Anders als viele Menschen weltweit, denen Churchill als größter britischer Staatsmann gilt, wusste Obama um das grausame Schicksal seines Großvaters Hussein Onyango Obama, der 1951 beim Mau-Mau-Aufstand, dem Freiheitskampf der Kenianer gegen die britischen Kolonialherren, umgekommen war. Die Unabhängigkeitskämpfer wollten das Joch der Briten abschütteln und in Kenia einen eigenen Staat gründen. Doch der damalige britische Premierminister Winston Churchill ließ den Aufstand mit brutaler Gewalt niederknüppeln und zahlreiche Internierungslager bauen, wo er große Teile der Bevölkerung einsperren ließ. Nach heutigen Schätzungen starben in diesen Lagern zwischen 20.000 und 100.000 Menschen: Sie wurden erschossen oder erlagen den schrecklichen, menschenverachtenden Bedingungen. Im Juni 2020 beschmierten Demonstranten während der Black-Lives-Matter-Proteste die Statue Churchills vor dem Parlament in London mit dem Wort: „Rassist“. Das Denkmal musste mit Brettern geschützt werden. Der Rassismusvorwurf kam nicht von ungefähr. 1937 hatte Churchill zur Palestine Royal Commission gesagt: „Ich bin nicht der Meinung, dass den Indianern Nordamerikas oder den Schwarzen in Australien Schlimmes angetan wurde. Ich denke nicht, dass diesen Völkern Unrecht geschehen ist aufgrund der Tatsache, dass eine stärkere Rasse, eine höherrangige Rasse, oder um es so auszudrücken: eine welterfahrenere Rasse gekommen ist und ihren Platz eingenommen hat.“70
Der britische Historiker John Charmley schreibt, dass Churchill die im Britischem Empire manifestierte englische Vorherrschaft rund um den Globus als natürliche Konsequenz des Sozialdarwinismus ansah.71 Ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen habe Churchill eine hierarchische Sicht der sog. ‚Rassen‘72 besessen, mit den Weißen an der Spitze, gefolgt von Indern und Chinesen, während die Schwarzen ganz unten rangierten. „Churchill sah sich und Britannien als die Gewinner in der darwinistischen Hierarchie“,73 d. h. im sozialdarwinistischen ‚Kampf ums Dasein‘ (survival of the fittest). Seine rassistischen Vorurteile machten sogar bei einer alten Kulturnation wie den
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Chinesen nicht halt: „Ich hasse Menschen mit Schlitzaugen und Zöpfen, ich mag sie weder sehen noch riechen.“74 Und in einem Interview erklärte er: „Ich denke, wir werden die Chinesen unter Kontrolle bringen müssen. […] Ich glaube fest an die endgültige Aufteilung Chinas. […] Die Welt wird nicht geneigt sein, die Existenz großer barbarischer Nationen zu ertragen, die sich jederzeit bewaffnen und die zivilisierten Nationen bedrohen können. Die arische Rasse wird triumphieren.“75
Diese Zitate sind nicht seine einzigen diskriminierenden Äußerungen über Menschen anderer Hautfarbe als weiß. So bezeichnete er die Inder als „tierischstes Volk nach den Deutschen“76 und äußerte sich abwertend über Schwarze.
Drei Millionen Hungertote in Bengalen Der gegen Churchill erhobene Rassismusvorwurf bezieht sich besonders auf seine Rolle bei der bengalischen Hungersnot im Jahre 1943, in der ca. drei Millionen Menschen starben. Der Hunger war ausgebrochen nach Missernten, die teils auf Naturereignisse zurückzuführen waren, teils darauf, dass die Briten nach der japanischen Besetzung des benachbarten Birma (Myanmar) im Grenzgebiet alle Felder zerstören ließen, um eine Invasion Japans zu erschweren. In der Folge lieferte London nur ein Viertel der angeforderten Nahrungsmittel nach Bengalen, was zu einer dramatischen Hungersnot führte. Schon im Dezember 1942 hatten hochrangige britische Regierungsbeamte und Militärs Churchills Kriegskabinett um Nahrungsmittelimporte ersucht, doch dies wurde mit dem Hinweis auf angeblich fehlende Verschiffungskapazitäten zurückgewiesen. Nachdem der neue Vizekönig Viscount Archibald Wavell 1943 mehrmals vergeblich die Lieferung einer größeren Getreidemenge beim Kriegskabinett angemahnt hatte, beklagte er die Situation „als eine der größten Katastrophen, die jemals Menschen unter britischer Herrschaft heimgesucht haben, und der Schaden für unsere Reputation sowohl bei Indern und Fremden in Indien ist unkalkulierbar.“77 Churchill wurde vorgeworfen, er habe dem Land, in welchem die Straßen mit Hungerleichen übersät waren, noch die letzten Reste von Vorräten abgesaugt, um damit das britische Mutterland zu ernähren. Doch dieses, weil gut versorgt, war auf Nahrungsmittellieferungen überhaupt nicht angewiesen. Churchill habe, so der Vorwurf, die in den indischen Vorratsspeichern
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lagernden Lebensmittelvorräte bewusst nicht freigegeben, um den hungernden Indern zu helfen. Der Churchill-Biograf und ehemalige Chefredakteur des Daily Telegraph, Max Hastings, spricht vom „unsäglichen Versagen“ und führt die Hungerkatastrophe direkt auf Entscheidungen Churchills zurück.78 Zu Recht, denn der Kriegspremier lehnte das Angebot der USA und anderer Länder, Getreide auf britischen Schiffen in die Hungerregion zu schaffen, kategorisch ab. Das Schicksal der Inder war ihm offenbar völlig egal. Gegenüber einem Kabinettskollegen äußerte Churchill: „Ich hasse Inder … sie sind ein tierisches Volk mit einer abscheulichen Religion.“ Die Hungersnot sei doch ihre eigene Schuld, eine Folge davon, dass sie sich „wie die Karnickel vermehren“.79 Einen besonderen Hass hegte er gegen den Friedenskämpfer Gandhi. Churchill nannte Gandhi einen „armen, heiligen Mann“, dessen Tod er bewusst in Kauf nehmen würde. „Wenn das Futter so knapp ist, warum ist Gandhi dann noch nicht gestorben?“, fragte Churchill.80 Er machte sogar den Vorschlag, man solle „Gandhi an Händen und Füßen gefesselt vor die Tore von Delhi legen, damit ein riesiger Elefant mit dem britischen Statthalter im Sattel auf ihm herumtrampeln kann.“81 Mit Mahatma Gandhi, der seit 1920 mit seinem Konzept des gewaltlosen Widerstands und zivilen Ungehorsams die britische Kolonialherrschaft bekämpfte, hatte der indische Freiheitskampf eine unangreifbare moralische Autorität gewonnen. Churchills fatale Weigerung, die in Bengalen dringend benötigten Lebensmittel den Hungernden zu überlassen, wird von Biografen damit erklärt, dass Churchills Hauptinteresse dem europäischen Kriegsschauplatz gegolten habe. Doch es drängt sich der Verdacht auf, dass die Wurzel dieser Schandtat Churchills Rassismus war. Für ihn waren die Inder eine minderwertige ‚Rasse‘,82 denen zu helfen ihm nicht besonders wichtig schien. Die indische Historikerin Madhusree Mukerjee urteilt: „Es war nicht die Frage, ob es möglich war. Hilfe nach Bengalen wurde wiedergeholt angeboten, [doch] Churchill und seine engen Vertrauten vereitelten jeden Versuch.“83 Neben den bereits genannten Schmähungen war Churchill der Ansicht, britische Soldaten müssten vor indischen Offizieren nicht salutieren, denn Weißen sei die „Erniedrigung, von einem braunen Mann herumkommandiert zu werden“, nicht zumutbar.84 Leo Avery, Churchills Staatssekretär für Indien, bezeichnete dessen Haltung gegenüber den Indern gar als „Hitler-ähnlich“.85 Churchills Glaube an die Überlegenheit der Weißen, speziell der Angelsachsen, war unerschütterlich, womit er den britischen Imperialismus
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ebenso rechtfertigte wie den Kolonialismus. Noch 1954, als bereits viele Länder des ehemaligen Britischen Kolonialreichs in die Unabhängigkeit entlassen worden waren, sagte er – hartgesottener Rassist der er war –, er „glaube nicht, dass Schwarze gleich fähig und effizient sind wie Weiße“.86 Demgegenüber betont der Historiker Steven Fielding, Churchill habe farbige Völker zwar als unterlegen eingestuft, „doch habe sich dies nie in einer Vernichtungsideologie geäußert, sondern eher in kolonialem Paternalismus.“87 Es ist richtig, dass sich Churchill nie im Sinne einer Vernichtungsideologie geäußert hat, aber von ‚Paternalismus‘ kann angesichts seines schändlichen Handelns bei der Bengalischen Hungersnot, als er Millionen Inder dem Hungertod preisgab, nicht die Rede sein. Im Falle des um seine nationale Freiheit kämpfenden Indiens musste Churchill erkennen, dass der Verlust dieses Kronjuwels des britischen Empire unausweichlich war. Deshalb hegte einen besonderen Groll gegen Gandhi, dessen friedliche Unabhängigkeitsbewegung er nicht militärisch bekämpfen konnte. Gegen die von Gandhi praktizierte gewaltfreie Form des Widerstands war der ‚Krieger‘ Churchill machtlos, was ihn gewaltig frustrierte, konnte er doch trotz überlegener englischer Waffentechnik diesen Widerstand nicht brechen (wie es ihm z. B. beim Mahdi- und Mau-Mau-Aufstand gelungen war). Die großartigen kulturellen Leistungen der Inder, die er offenbar nicht zur Kenntnis nahm, spielten für diesen britischen Kolonialisten keine Rolle.88
Imperialist, Kolonialist, Rassist und Eugeniker Im Jahre 2005 bezeichnete der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki in einer Rede vor dem sudanesischen Parlament Churchill als einen Mann von üblem Vorurteil, der die kolonialen Grausamkeiten der Briten rassistisch legitimiert hatte. Er sagte: „[W]enn diese wichtigen Vertreter des britischen Kolonialismus nicht im Sudan waren, so waren sie in Südafrika, und umgekehrt, und sie taten furchtbare Dinge, die sie damit rechtfertigten, indem sie die indigenen Völker Afrikas als Wilde definierten, die zivilisiert werden mussten, sogar gegen ihren Willen.“89
Der Journalist Sudhanva Shetty von der indischen Nachrichtenseite The Logical Indian schreibt: „Churchill war einer der am meisten überschätzten ras-
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sistischen, genozidalen, kriegstreiberischen Imperialisten der Menschheitsgeschichte“.90 Ein zu hartes Urteil? Keineswegs. Wie gezeigt wurde, gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Churchill ein hartgesottener Rassist, eingefleischter Kolonialist und Erzimperialist war. Er war von der Überlegenheit der weißen Rasse überzeugt und betrachtete die Menschen in den britischen Kolonien als minderwertig. Armin Fuhrer listet Churchills Vorurteile auf: „Ganz gleich, ob im brutalen Burenkrieg der Briten 1899 bis 1902 in Südafrika, wo die Engländer die ersten Konzentrationslager einrichteten, in denen mindestens 14.000 Menschen umkamen, oder mit Blick auf die Inder, die unter ihrer kolonialen Knute standen – vor allem auf sie blickte er voller Verachtung. Im Ersten Weltkrieg war er ein eifriger Befürworter des Einsatzes von Chemiewaffen gegen aufständische Stämme in Indien.“91
In seinem Überlegenheitsdünkel ging Churchill sogar weit über das hinaus, was selbst radikale Kolonialisten von sich gaben. Er hielt die Inder für eine „zurückgebliebene, unterlegene Rasse, die zivilisiert werden müsse – etwas, was er als moralische Pflicht des britischen Empire ansah.“92 Aus der anmaßenden Sicht des Kolonialisten sah Churchill es als die Pflicht der Briten, ja als ihre Mission, vermeintlich unmündige, rückständige Völker zu zivilisieren – „The white man’s burden“, wie es der britische Schriftsteller Rudyard Kipling einmal formuliert hatte. Churchill folgte damit dem klassischen Muster, mit dem die Kolonialmächte die Unterwerfung der indigenen Völker stets rechtfertigten – ihre angebliche zivilisatorische Mission – obgleich es im Grunde stets um imperiale Expansion und Ausbeutung ging. Der Historiker Terje Tvedt schreibt, Churchills Perspektive sei „nachdrücklich paternalistisch, nicht rassistisch“ gewesen, die Briten hätten am besten gewusst, wie Afrika zu entwickeln sei, aber nicht „aufgrund einer rassistischen Überlegenheit,“ sondern aufgrund „einer historisch bedingten Überlegenheit in Kultur und Wissen.“93 Dem widersprechen jedoch Churchills Äußerungen in seinem Erstlingsbuch The River War über die Sudanesen. Er schreibt:94 „Klar zu unterscheiden sind zwei Hauptrassen: die eingeborenen Ureinwohner und die arabischen Siedler. Die Einheimischen sind Neger so schwarz wie Kohle.“ Sie seien „kräftige Wilde von einfachem Gemüt“ und lebten „wie wir uns prähistorische Menschen vorstellen […] ohne über ihr leibliches Wohl hinauszudenken.“ Der Hexerei und dem Geisterglauben verfallen, vegetierten sie „wie für Menschen auf niedriger Entwicklungsstufe charakteristisch.“ Ihre bar-
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barischen Gewohnheiten würden „mit ihrer bescheidenen Intelligenz entschuldigt.“ Ihre Geschichte sei „ein Legendengewirr aus Zwietracht und Elend“, und sie „sind alle ihrer Natur nach liederlich und grausam (uniformly cruel and thriftless)“. Churchill konstatiert: „Obwohl die Neger zahlreicher sind, übertreffen die Araber sie an Stärke. […] Die stärkere Rasse zwang den Negern ihr Brauchtum und ihre Sprache auf. […] Die dominierende Rasse der arabischen Eindringlinge sorgte unter der Urbevölkerung unaufhaltsam für die Ausbreitung ihres Bluts“.
Aus der ‚Kreuzung‘ (interbreeding) von Negern und Arabern seien die Araber des Sudan als eigene ‚Rasse‘ hervorgegangen, wobei Churchill mit seinem Vorurteil über diese ‚Mischlinge‘ (mongrels) nicht zurückhält: „Selten sind die Eigenschaften von Mischlingen bewundernswert, und die Mischung von Arabern und Negern hat eine verderbte und grausame Art (debased and cruel breed) hervorgebracht“.
Das ist die Sprache von Rassisten, wie sie z. B. vom Protagonisten des britischen Rassismus, dem Philosophen Herbert Spencer gepflegt wurde, für den die Vermischung der ‚Rassen‘ ein Gräuel war (s. u.). Bezüglich Churchills Afrikapolitik schreibt Terje Tvedt: „Einflussreiche Staatsmänner und mächtige Politiker wie Churchill können es nicht vermeiden, Kinder ihres Zeitalters zu sein“, und fügt hinzu, dass sie dennoch zu „großen Persönlichkeiten heranreifen würden.“95 Tvedt bezieht sich auf Churchills My African Journey (1908), in welchem er das gerade englische Kolonie gewordene Uganda am Oberlauf des Nil beschreibt. Dabei fällt auf, dass Churchill die Völker Afrikas unterschiedlich beurteilt. Im Falle Ugandas lobt er die dortige schwarze Bevölkerung: „Unter einem dynastischen König, mit einem Parlament und einem mächtigen Feudalsystem, lebt ein liebenswürdiges, gekleidetes, höfliches und intelligentes Volk zusammen mit einer gut organisierten Monarchie auf dem Gebiet zwischen dem Viktoria- und Albertsee.“96
Die Völker im Sudan hingegen achtete er gering. Das lag offenbar an der unterschiedlichen kolonialistischen Perspektive, denn so Tvedt: „Churchill sah Uganda mit den Augen eines Kolonialisten mit einer zivilisatorischen Entwicklungsmission.“97 Während er im Sudan nach dessen Niederwerfung in der Schlacht von Omdurman (an der er selbst teilgenommen hatte) keine Basis für koloniale Erschließung sah, stand die Region am Oberlauf des Nils Anfang des 20. Jahrhunderts zur Freude des jungen Churchill für die briti-
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Abb. 21: Eher zufällig beschmutzte Churchill-Statue.
sche Kolonialisierung zukunftsträchtig offen. Es sei „schwierig ein Land zu finden, in dem die Bedingungen für ein praktisches Experiment in Staatssozialismus günstiger sind als in Uganda.“98 Dies ist ein weiterer Beleg für Churchills Opportunismus, der seine kolonialen Prioritäten an seinen ambitionierten ökonomischen Zielen ausrichtete: Im entwicklungsträchtigen Uganda gab er den paternalistischen Kolonisator, der kriegsverwüstete Sudan hingegen war kolonialspezifisch uninteressant; und im ‚abtrünnigen‘ Indien mutierte er 40 Jahre später zum frustrierten Rassisten. Während jedoch der Großteil der öffentlichen Meinung in England diese antiquierte Sichtweise in der Zwischenkriegszeit aufgab, pries Churchill die Ideale des Imperialismus, die er seit den 1890er Jahren vertreten hatte, noch in den 1940er Jahren. Doch angesichts der Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien wiesen britische Intellektuelle jetzt die Vorstellung von einer durch Moral und Charakter zum Herrschen prädestinierte Rasse zurück – nicht zuletzt deshalb, weil sich das britische Empire seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 in Auflösung befand.99 Was das britische Mutterland anbelangt, war Churchill strikt gegen Einwanderung von Menschen aus den Kolonien. 1955 unterstützte er den Slogan „Keep England White“ bezüglich der Einwanderung aus der Karibik.100
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Überdies war Churchill auch Eugeniker, der als Politiker für die Segregation und Sterilisierung von ‚Geistesschwachen‘ und ‚Verrückten‘ eintrat,101 weil er in ihnen eine Bedrohung für Wohlstand, Vitalität und Kraft der britischen Gesellschaft sah: damit der „Fluch mit diesen Menschen ausstirbt und nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.“102 Solche Äußerungen erinnern daran, dass dieser privilegierte Spross der britischen Hocharistokratie eine problematischere Figur war, als es der bewundernde Heldenmythos suggeriert. Sudhanva Shetty bilanziert und fällt ein vernichtendes Urteil über den großen Staatsmann: „[Churchill] war Rassist und Kolonialist im höchsten Grad. Abgesehen davon, dass er brutale Gewalt gebrauchte, um in vielen Ländern friedliche Demonstrationen niederzuschlagen, war er ein Ultra-Nationalist, der England ‚weiß halten‘ wollte und sich darüber beklagte, dass die Iren ‚sich weigerten‘ britisch zu werden. [Er war] [x]enophob, elitär und beleidigend […]. Ja, er war ein großer Redner. Aber das waren Hitler und Mussolini auch. Rhetorik sollte kein Maßstab für Moral sein. Churchill schrieb und sprach brillant, aber das ist keine Absolution für seine Verbrechen. Die Geschichte war zu großzügig mit Churchill. Wir waren zu großmütig mit ihm. Es ist Zeit, dass wir ihn als den Imperialisten bezeichnen, der er war, anstatt ihn als Helden zu verehren, der er nicht war.“103
Der britische Rassismus im Viktorianischen Zeitalter Es war der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer, der als erster Darwins Evolutionstheorie mit ihrem Konzept des survival of the fittest auf die gesellschaftliche Entwicklung anwandte und damit als Begründer des Sozialdarwinismus gilt. Spencer sah in der ‚Rassenvermischung‘ bei Indiens Eurasiern ein Beispiel rassischer Degeneration und wünschte ein Verbot von Ehen zwischen verschiedenen ‚Rassen‘.104 Der für den Sozialdarwinismus konstitutive Glaube an eine Hierarchie der ‚Rassen‘ sowie die vermeintliche natürliche Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ war zu Churchills Lebzeiten in seinem Ursprungsland England als dominierende Ideologie im Schwange und beförderte das kolonial-britische Sendungsbewusstsein. So sprach z. B. Benjamin Disraeli, britischer Premierminister von 1874–1880 (mit dem sich Bismarck bei der Berliner Konferenz prächtig verstanden hatte, allerdings ohne dessen rassistische Vorstellungen zu teilen), vom „britischen Blutadel, bestimmt zur Herrschaft über andere Rassen.“ Er erklärte: „Alles ist Rasse;
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es gibt keine andere Wahrheit.“105 In seiner berühmte Rede im Crystal Palace von London erklärte er, dass die Briten als „überlegene weiße Rasse“ das natürliche Recht hätten, andere Länder zu unterwerfen, um den Interessen Großbritanniens gerecht zu werden. Dies war auch die tragende Ideologie von Cecil Rhodes (1853–1902), dem Pionier des britischen Kolonialimperialismus in Afrika, dessen Denkmal am Oxford College laut der Forderung der Denkmalstürmer entfernt werden soll. Er postulierte „die Kolonisierung aller Länder, besonders die Inbesitznahme des ganzen Afrikas […]. Als Rasse sind wir aus bestem nordischen Blut […]. England muss von jedem Stück freier fruchtbarer Erde Besitz ergreifen.“ Für Rhodes „war es Gottes Absicht, dem angelsächsischen Volk die Vorherrschaft zu geben […] und an der Vorherrschaft der angelsächsischen Rasse mitzuarbeiten.“106 Churchill, der in der Viktorianischen Ära sozialisiert worden war, einer Epoche, als die Briten ihre eigene nationale und moralische Überlegenheit als selbstverständlich erachteten, glaubte ebenfalls an die Höherwertigkeit der ‚weißen Rasse‘ und ihre zivilisatorische Mission Er war in der Tat ein Kind seiner vom Kolonialimperialismus geprägten Zeit.107 Trotz dieser in England dominierenden Ideologie gab es auch zu Churchills Lebzeiten vereinzelt Kritiker des britischen Rassismus wie den bekannten Schriftsteller H. G. Wells, der die Theorie des Sozialdarwinismus als Pseudowissenschaft entlarvte. In seinem 1905 erschienen utopischen Roman A Modern Utopia („Jenseits des Sirius“) entwirft Wells das Konzept eines Weltstaates, in dem es keine rassistischen Vorurteile gibt und alle Völker und ‚Rassen‘ friedlich zusammenleben. Scharfsinnig stellt er den Rassenbegriff in Frage und kritisiert die britischen Sozialdarwinisten als ignorante Pseudowissenschaftler. „Diese sozialen und politischen Anhänger Darwins sind in eine deutlich erkennbare Verwechslung von Rasse und Nationalität und in die natürliche Falle patriotischer Eitelkeit geraten.“108
Eine „wild spekulative Ethnologie“, die in der sprachlichen Verwandtschaft eine Blutsverwandtschaft zu erkennen glaubt, habe zu der „Entdeckung“ geführt, dass es eine „keltische, teutonische und eine indo-europäische Rasse gebe […]. Und jetzt rast die Welt in eine Art Delirium über Rassen und Rassenkampf. […] Alle Europäer, Engländer, Deutsche, Italiener sind besessen von der merkwürdigen Reinheit ihres Blutes und von der Gefahr der Befleckung, die in der bloßen Fortdauer anderer Rassen liegt.“109
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Wells weist darauf hin, dass die Ideologie des Sozialdarwinismus, die er „Bastardwissenschaft“ nennt, zu „schlimmen, willkürlichen und unbegründeten Rassenvorurteilen führt, die Gesetze und Politik beeinflussen.“ Es sei falsch, aus der gegenwärtigen politischen Schwäche von Völkern wie Ägyptern und Indern auf deren rassische und zivilisatorische Minderwertigkeit zu schließen, denn diese Völker hätten in der Vergangenheit Hochkulturen hervorgebracht. Weitblickend warnt Wells, dass diese Vorurteile „verantwortlich sein werden für einen großen Teil der Kriege, Härten und Grausamkeiten, welche die unmittelbare Zukunft für uns bereithält.“110 Zu solchen Einsichten war der in der kolonial-imperialen Großmachtideologie befangene Churchill nicht fähig. Allerdings blieb Wells in seinem Land ein einsamer Rufer in der Wüste. Wahr ist aber auch: Der britische Rassismus unterschied sich grundlegend vom Rassenwahn der Nationalsozialisten: Er war nicht eliminatorisch, zielte nicht auf systematische Ausrottung von Völkern oder Ethnien. Zwar gab es in britischen Kolonien durchaus genozidale Vorkommnisse wie z. B. in Australien und Tasmanien, wo eine staatlich geduldete gewaltsame Dezimierung der Indigenen durch britische Siedler stattfand; auch gab es in der britischen Kolonialverwaltung einen radikal-darwinistischen Flügel, dem der Gedanke der Ausrottung vermeintlich minderwertiger Rassen nicht fremd war. Doch dieses in der fernen indischen Kolonie entwickelte Konzept des planmäßigen Verwaltungsmassenmordes konnte im britischen Mutterland nicht fußfassen und blieb eine Minoritätenmeinung.111 Der Historiker und Politologe Manuel Sarkisyanz schreibt: „Mögen auch wichtige Inhalte nationalsozialistischer Theorien auf englische Vorbilder zurückgehen, so sind die rassistischen Praktiken Hitlers (welche sowohl in Ausmaß wie in Systematik einmalig bleiben) mit denen der Briten völlig unvergleichbar. Obschon durch aus England stammende Gedanken angeregt, welche Hitler ins Extrem radikalisierte, übertraf sein Deutschland den britischen Imperialismus bei weitem an Grausamkeiten. […] So rassistisch ‚The White Man’s Burden‘ auch war, so entbehrte der britische Imperialismus doch nicht völlig einiger Persönlichkeiten mit Sinn für moralische Verpflichtung gegenüber den ‚niedere Rassen‘.“112
Nun zählte Churchill sicherlich nicht zu diesen Persönlichkeiten. Doch Churchills Rassismus zielte weder auf die Vernichtung vermeintlich minderwertiger Völker (also Genozid), noch richtete er sich gegen die Juden.
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Churchill war kein Antisemit, sondern überzeugter Philosemit.113 Er unterstützte den Zionismus und trat für die Gründung eines jüdischen Staates ein. Fakt ist: Churchills rassistische Überzeugungen sind mit den mörderischen Interpretationen der NS-Rassenideologie nicht zu vergleichen. Richard Toye, Autor von Churchill’s Empire, stellt fest: „Obwohl Churchill glaubte, dass weiße Völker überlegen seien, bedeutete das nicht, dass er es in Ordnung fand, nicht-weiße Menschen inhuman zu behandeln.“114 Diese Aussage steht freilich im Widerspruch zu seinem schändlichen Handeln in der Bengalischen Hungersnot.
„I personally welcome Germany back“ Anerkennen muss man, dass sich Churchill – ganz weitsichtiger Staatsmann – nach dem Zweiten Weltkrieg massiv für ein vereintes Europa einsetzte. Am 19. September 1946 forderte er in Zürich die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa: „Therefore I say to you ‚Let Europe arise!‘“115 Ebenso plädierte er in der berühmten Züricher Rede für eine enge Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich.116 Am 10. Oktober 1953, als der ‚Eiserne Vorhang‘ (angeblich seine Wortschöpfung) gefallen war und der Kalte Krieg begonnen hatte, berief sich Churchill auf den Vertrag von Locarno (1925), bei dem sich die Außenminister von Frankreich und Deutschland gemeinsam für die Versöhnung beider Völker eingesetzt hatten.117 An diesen Vertrag wollte er anknüpfen, um einen dauerhaften Frieden in Europa zu erreichen. Darüber hinaus wollte er, dass Deutschland in die Reihen der ‚großen Weltmächte‘ zurückkehrt. Diese großzügige Geste beruhte jedoch weniger auf Wertschätzung der Deutschen (für die er keine Sympathien hegte), sondern vielmehr auf der pragmatischen Einsicht, dass der Westen den freien Teil Deutschlands aus strategischen Gründen in der NATO brauchte, um der expansiv-aggressiven Sowjetunion Paroli zu bieten und den Kommunismus einzudämmen (policy of containment). Möglicherweise plagten ihn auch Skrupel wegen der exzessiven Bombardierung deutscher Innenstädte, für die er als Kriegspremier die Verantwortung trug – nach dem humanitären Völkerrecht ein Kriegsverbrechen, wie ihm wohl bewusst war. Deshalb ist es formaljuristisch und aus ethischer Perspektive korrekt, Churchill als ‚Kriegsverbrecher‘ zu bezeichnen.
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Churchills widersprüchliche, facettenreiche Persönlichkeit hat schon zu seinen Lebzeiten die eigenen Landsleute in glühende Anhänger und entschiedene Gegner gespalten. Wie aus zahlreichen Quellen hervorgeht, kann man mit Fug und Recht sagen, dass Winston Churchill rassistisch, inhuman, fremdenfeindlich, opportunistisch, arrogant und elitär war. Menschenleben galten ihm wenig oder nichts, wie er in Gallipoli und Bengalen bewiesen hatte. Er war zudem ein im weißen Überlegenheitsdünkel befangener Kolonialist und Imperialist. Sein vielschichtiger Charakter oszilliert zwischen dem zupackenden charismatischen Staatsmann, der Hitler Paroli bot, und dem menschenverachtenden Politiker, der Millionen Inder verhungern ließ und mit Stalin die größte ethnische Säuberung des 20. Jahrhunderts verabredete. Die Antwort auf die Frage: „Held oder Henker?“, ist – wie so oft – eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der Briten war er zweifellos ein Held – Retter der Nation in ihrer dunkelsten Stunde. Aus der Perspektive der ehemaligen britischen Kolonialvölker war Churchill hingegen ein arroganter Kolonialist und Rassist. Aus deutscher Sicht war er beides, Held und Henker: Held, weil er half, das kriminelle Nazi-Regime zu beseitigen – Henker, weil er mit Flächenbombardements den Tod Hunderttausender Zivilisten in Kauf nahm – ein Henker freilich, der nach dem Krieg den besiegten Deutschen die Hand bot. „Ich persönlich heiße Deutschland unter den großen Weltmächten willkommen.“118
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Mao Tse-tung Staatsgründer und brutaler Reformer
„China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen! Wenn er aufwacht, verrückt er die Welt!“ (Napoleon Bonaparte)
Maos Portrait prangt auf einem über 30 Quadratmeter großen Plakat am ‚Tor des Himmlischen Friedens‘; jährlich besuchen dort Hunderttausende Chinesen sein Mausoleum. Doch das einst – auch in Europa1 – verklärte Bild vom Bauernführer Mao, der China in die Moderne katapultierte und das Fundament für den Aufstieg Chinas zur Weltmacht schuf, ist außerhalb der Volksrepublik einer nüchternen Sicht des Staatsmannes gewichen. Eine neue Perspektive sieht den Nationalhelden als machtbesessenen Egomanen und Zerstörer der jahrtausendealten chinesischen Kultur. Auf über 70 Millionen schätzen Experten die Zahl der Menschen, die der Despot liquidieren ließ.
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Mao Tse-tung _____________________________________________________________
Damit übertrifft Mao die anderen großen Megatöter des 20. Jahrhunderts – Hitler und Stalin – bei weitem.2 So endete z. B. der ‚Große Sprung nach vorn‘, eine rigorose Industrialisierungskampagne, in der größten Hungersnot der Menschheit mit Millionen von Toten; und die ‚Proletarische Kulturrevolution‘, ein von Mao angeordneter Terror zur Ausschaltung seiner innenpolitischen Gegner, stürzte China ein Jahrzehnt lang ins Chaos und machte Millionen Chinesen sowohl zu Opfern als auch zu Tätern. Dennoch wird Mao Tse-tung heute in China als Nationalheld verehrt. Obwohl es eigentlich der Philosoph, Arzt und Politiker Dr. Sun Yat-sen (1866–1925) war, der nach dem Sturz der kaiserlichen Qing-Dynastie am 1. Januar 1912 erster Präsident der Republik China wurde und damit die Jahrtausende währende Ära des chinesischen Kaiserreichs beendete (und deshalb ‚Vater der Republik China‘ genannt wird), ist es Mao, der als Gründungsvater und Schöpfer des modernen China gilt. Denn es war nicht Sun Yat-sen, der China einte und zu einem funktionierenden Staat machte, sondern der kommunistische Revolutionär Mao Tse-tung (Zedong; 1893–1976), der 1949 in einem blutigen Bürgerkrieg gegen die Truppen Chiang Kai-sheks, seinen politischen und ideologischen Gegner, als Sieger hervorging. Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao in Peking auf dem ‚Platz des Himmlischen Friedens‘ (Tienanmen-Platz) die Volksrepublik China. Damit war Mao Gründungsvater der Kommunistischen Volksrepublik China, die er als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) bis zu seinem Tod regierte. Ideologisch war er Anhänger des Marxismus-Leninismus, den er für chinesische Verhältnisse zu einem System modifizierte, das allgemein als Maoismus bekannt wurde. Die zentralistisch-hierarchisch konzipierte Volksrepublik zeigte bald ihr wahres Gesicht – das einer kommunistischen Diktatur, denn der ‚Große Vorsitzende‘ entpuppte sich bald als Despot, der keinen Widerspruch duldete und unsägliches Leid über das Reich der Mitte brachte.
Die Ungleichen Verträge und der chinesische Bürgerkrieg Mao wurde 26. Dezember 1893 in Shaoshan in einer wohlhabenden Bauernfamilie geboren. Zu dieser Zeit war China ein Armenhaus. Die im Reich der Mitte herrschende Dynastie der späten Kaiserzeit war dekadent, korrupt und
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unfähig, was landesweit zur Verelendung der chinesischen Bevölkerung führte. Militärisch schwach und wirtschaftlich bankrott, wurde China zum Spielball der Kolonialmächte, ausgebeutet und gedemütigt. In den sogenannten Ungleichen Verträgen wurden China Zugeständnisse insbesondere auf handelspolitischem Gebiet abgepresst.3 Das Deutsche Reich, Italien, England, Frankreich, die USA und Japan hatten China fest im Würgegriff. Der im sogenannten Boxeraufstand (1900) von Aufständischen gemachte Versuch, diese Repression abzuschütteln, wurde von den Kolonialmächten brutal niedergeschlagen. So tönte der bornierte deutsche Kaiser Wilhelm II. bei der Verabschiedung des deutschen Expeditionscorps nach China: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“4
Als junger Mann ging Mao nach Changsha, wo er vor dem Hintergrund der Xinhai-Revolution 1911 (durch welche die Republik China entstand) begann, revolutionäre Gruppen aufzubauen und Schriften herauszugeben. Mao war des Hochchinesischen nicht mächtig, sondern sprach lediglich den Dialekt seiner Heimatprovinz Hunan. 1921 war er Mitglied der Gründungsversammlung der Kommunistischen Partei und wurde zwei Jahre später in ihr Zentralkomitee gewählt. Während der Ersten Einheitsfront mit dem politischen Gegner, der Kuomintang (KMT), hatte Mao auch dort hohe Funktionärsposten inne und begann, Pläne zur Mobilisierung der Bauern für eine Revolution zu schmieden. Nach dem Scheitern des Herbsternte-Aufstands 1927 zu Beginn des Chinesischen Bürgerkriegs zog er sich mit den verbliebenen Rebellen ins Jinggang-Gebirge zurück, wo er mit Zhu De die chinesische Rote Armee gründete. 1928 bildete General Chiang Kai-shek, Führer der KMT, eine Nationalregierung und avancierte zum führenden Staatsmann Chinas. Chiang brach die Macht der Warlords und verfolgte die Kommunisten, die sich vor den Kuomintang-Truppen mit dem „Langen Marsch“ in den Norden der Provinz Shaanxi retteten. Nord-Shaanxi wurde 1935–1948 die politische und militärische Basis der KPC, wo Mao auch die Rote Armee reorganisierte, die nun etwa 10.000 Kämpfer hatte.5
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Weil Mao in der Partei, die damals von in der Sowjetunion ausgebildeten Funktionären dominiert wurde, mit seinen Konzepten von Bauern-Revolution und Guerilla-Strategie Außenseiterpositionen vertrat, verlor er kurzfristig an Einfluss. Doch mit Beginn des Langen Marsches – im Grunde zunächst eine Flucht vor der Armee des Kuomintang-Führers Chiang Kai-shek – konnte er im Januar 1935 mit seinen Anhängern wie Zhou Enlai und Zhang Wentian die Kontrolle über Armee und Partei erlangen. Im Basisgebiet von Shaanxi gelang es Mao mit Hilfe von Propagandakampagnen, den Einfluss der moskautreuen Bolschewiken in der Partei zurückzudrängen, und er begann, für sich einen Personenkult nach Josef Stalins Vorbild aufzubauen. Wegen des japanischen Überfalls kam es 1937 zu einer Verständigung zwischen KMT und KPC und zu einem vorübergehenden Zweckbündnis gegen den Aggressor.6 Im Juli 1937 wurde die Zweite Einheitsfront formell beschlossen. Auch in dieser Einheitsfront mit der Kuomintang behielt Mao die Kontrolle über seine eigenen Truppen. 1945 wurde Mao zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei gewählt. Der Versuch eines Friedensschlusses mit Chiang Kai-shek scheiterte. Im darauffolgenden wiederaufgeflammten Bürgerkrieg konzentrierte Mao seine Truppen erneut auf die ländlichen Gebiete. Schließlich konnte Maos Volksbefreiungsarmee die Kuomintang-Truppen Chiang Kai-sheks in mehreren Schlachten besiegen und vom chinesischen Festland nach Formosa (Taiwan) vertreiben – der Konflikt zwischen Taiwan und Festlandchina schwelt bis heute. Am 1. Oktober 1949 rief Mao die Volksrepublik aus, die a priori als Diktatur konzipiert war. Im Grundgesetz der Volksrepublik China heißt es in Kap. I, Art. 1: „Die Volksrepublik China ist als Staat eine volksdemokratische Diktatur. Sie wird von der Arbeiterklasse geführt.“ In Art. 2 und 3 werden (schein-) demokratische Elemente hinzugefügt: „Die Regierung der Volksrepublik ist eine Regierung der Volkskongresse, fußend auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus. […] Bis zur Einberufung des Gesamtchinesischen Volkskongresses durch allgemeine Wahlen […] soll der Rat der Zentralen Volksregierung die Staatsgewalt ausüben und die Volksrepublik nach außen vertreten.“7
In den ersten Jahren der Volksrepublik stand der Wiederaufbau Chinas unter dem Konzept der ‚Neuen Demokratie‘ im Vordergrund. Mao war einer ihrer Vordenker und Propagandisten.
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_____________________ Blutige Säuberungsaktionen – die Revolution frisst ihre Kinder „Ihre wichtigsten Ziele bestanden erstens in der Emanzipation des geistigen und sozialen Lebens in China von der degenerierten Orthodoxie des konfuzianischen Kultursystems, zweitens im vorbehaltlosen Anschluss Chinas an die neuesten geistigen Entwicklungen des okzidentalen Kulturbereichs, drittens in der Wiederentdeckung zu Unrecht vernachlässigter Leistungen der chinesischen Volkskultur und viertens in der Überwindung der starren und überfeinerten Schriftsprache der Literaten zugunsten eines lebendigeren volksnahen Sprachstils.“8
Dies war in der Tat das Konzept einer ideologischen Revolution, ein radikaler Bruch mit der traditionellen chinesischen Kultur, mit der Mao sich als der große Reformer profilierte. In seiner Schrift Über die Neue Demokratie (1940) sagte Mao: „In seiner ganzen Geschichte hatte China noch keine so große und konsequente Kulturrevolution gekannt. Unter den zwei großen Bannern der Kulturrevolution, dem Kampf gegen die alte Moral und für die neue Moral, dem Kampf gegen die alte Literatur und für die neue Literatur, hat sie sich gewaltige Verdienste erworben.“9
Die Attraktivität des Marxismus-Leninismus für die chinesischen Intellektuellen wie Mao erklärt sich zum einen aus dem radikalen reformerischen Aktionsprogramm des Kommunismus, zum anderen aus seinen antiimperialistischen Aspekten und damit seiner Verwendbarkeit als geistige Waffe gegen den Kolonialismus des Westens. Der Ostasienexperte Gottfried-Karl Kindermann schreibt: „Entlassen aus der zerbrochenen Geschlossenheit des konfuzianischen Kultursystems, bot sich den chinesischen Intellektuellen als Alternative neue Geborgenheit in dem in sich geschlossenen Weltanschauungssystem des Marxismus-Leninismus. Dabei konnte man das Gefühl haben, sich dem neuesten und deshalb fortschrittlichsten der geistigen Systeme des Westens anzuschließen.“10
Der Begriff ‚Kulturrevolution‘ sollte später noch einmal eine große Rolle spielen.
Blutige Säuberungsaktionen – die Revolution frisst ihre Kinder Schon bevor die Volksrepublik Realität wurde, war Mao Tse-tungs Stellung in den Reihen der Reformer nicht unumstritten. Es gab innerparteiliche Machtkämpfe, wie der sogenannte Fu-t’ien-Zwischenfall vom Dezember
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1930 zeigt, der der Entmachtung seines Rivalen Li Li-sans voranging. Anhänger Li Li-sans hatten im Gebiet von Kiangsi einen Aufstand gegen die Führung Maos unternommen. Laut Aussage des späteren Generalsekretärs der KPC, Chang Kuo-t’ao, ließ Mao Hunderte seiner Parteigenossen verhaften und exekutieren, weil sie sich seinen politischen Konzeptionen widersetzt hatten. „Mao wiederum beschuldigte die Gruppe der ‚offenen Rebellion‘. Bei der Niederschlagung des Aufstands, dem 2.000 bis 3.000 Kommunisten zum Opfer fielen, soll es sich um eine der blutigsten innerparteilichen ‚Säuberungsaktionen‘ in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas gehandelt haben.“11
Die Kommunisten begannen in der Folge, ihre eigenen Leute zu liquidieren. Auf der Grundlage von taiwanesischen Schätzungen, die durch chinesische Forschungen bestätigt wurden, ist bekannt, dass diese Säuberungskampagnen ebenso viele ‚Verräter‘ innerhalb der Partei vernichteten, wie die KMTMilitäraktionen kommunistische Soldaten in den militärischen Kämpfen töteten: In einer Reihe antikommunistischer ‚Umzingelungs- und Vernichtungskampagnen‘, die die KMT-Armee zwischen 1931 und 1934 unternahm, wurden etwa 50.000 kommunistische Soldaten getötet. Mao trat bei diesen Kampagnen als besonders eifriger Akteur in Erscheinung.12 Schließlich nahmen die blutigen ‚Säuberungskampagnen‘ ein derartiges Ausmaß an, dass selbst Mao sich gegen diese Aktionen wandte. Wie berichtet wird, sagte er zu einem Kommandanten im Basislager: „Wenn dieses Töten weitergeht, sind Attacken des Feindes nicht mehr notwendig, denn wir werden uns selbst die Kehle durchgeschnitten haben.“13 Zentrale Handlungsmaxime Maos war die Frage: ‚Wer sind unsere Feinde, wer sind unsere Freunde?‘ Tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern gegenüber konnte er gnadenlos sein, wenn sie sich seinen Plänen und Zielen widersetzten. Der Fu-t’ien-Zwischenfall zeigt, dass Mao auch vor Massenliquidierungen nicht zurückschreckte, wenn militärische oder politische Ziele sie ihm als notwendig erscheinen ließen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist in tragischer Weise von den Auswirkungen totalitärer Bewegungen und Systeme geprägt – und dies nicht nur in Europa, sondern auch in Asien. Dazu schreibt Kindermann: „Über die Errichtung absoluter Herrschaft weit hinausgehend ist eines der wesensbestimmenden Merkmale dieser Systeme der Wille, die Schaffung eines neuen Menschenund Gesellschaftstyps erzwingen zu wollen. Bei diesem Versuch zur organisatorischen Erfassung, Durchdringung und disziplinierenden Umformung der Gesellschaft sind die
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_________________ Revolutionär und Identitätsstifter – Personenkult um Mao Tse-tung siegreichen chinesischen Kommunisten wesentlich weiter gegangen als andere totalitäre Parteien des 20. Jahrhunderts. Innerhalb weniger Jahre nur gelang es dieser Partei […], die Bevölkerungsmassen dieses riesigen Landes unter eine beispiellos gestraffte Kontrolle zu bringen.“14
Dabei halfen der Partei zwei Faktoren: zum einen die 28-jährige Erfahrung ihres eigenen politischen und militärischen Kampfes im Bürgerkrieg gegen die Kuomintang, zum anderen das theoretische und empirische Instrumentarium des leninistisch-stalinistischen Marxismus mit seinen Handlungsanweisungen. Entscheidend war der für totalitäre Systeme typische Grundsatz, dass das Individuum sich dem Kollektiv, sprich: der Partei, unterzuordnen hatte. Dabei standen die einzelnen Individuen im Spannungsfeld zwischen Attraktion und Indoktrinierung durch Propaganda einerseits und Abschreckung durch existenzvernichtenden tödlichen Terror andererseits. Es war der Bolschewismus in Russland, der als erste totalitäre Bewegung im 20. Jahrhundert „bis dato unbekannte Methoden der propagandistischen Motivierung und disziplinierenden Mobilisierung der Massen erfolgreich praktiziert hatte.“15 Die chinesischen Kommunisten mit Mao an der Spitze lernten von diesen Praktiken und passten sie an chinesische Verhältnisse an. „Im Zuge allumfassender, verpflichtender und systematisch gehandhabter Indoktrinierung verstand es Partei, sich als Manifestation einer unwiderstehlichen Strömung der Geschichte darzustellen.“16 Der Erfolg sprach für sich: Sie hatte sowohl das Kuomintang-Regime als auch Japan besiegt, sogar der Weltmacht USA die Stirn geboten und sie hatte die halbkoloniale Präsenz des Westens in China beseitigt.
Revolutionär und Identitätsstifter – Personenkult um Mao Tse-tung Dieser Erfolg der Einheitspartei wurde einerseits ihrer ‚unfehlbaren wissenschaftlichen Ideologie‘ zugeschrieben, aber vor allem dem ‚Genie ihres allwissenden und allmächtigen Führers Mao Tse-tung‘. Im Bündnis mit der in Europa siegreichen Sowjetunion (sie hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Gürtel von sozialistischen Satellitenstaaten um ihr Territorium installiert) und deren Erfahrungsschatz im Aufbau des Sozialismus – so die Propaganda – breche das von inneren und äußeren Feinden befreite China mit
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Abb. 22: Mao im Jahr 1959.
seiner Vergangenheit, um mit dem Aufbau einer radikal neuen, besseren Gesellschaft zu beginnen. Die Vision eines Aufbruchs in eine bessere Zukunft beschränkte sich nicht nur auf China, sie richtete sich auch nach außen. Der spätere Staatspräsident Liu Shao-ch’i verkündete am 10. Gründungstag der Volkrepublik voller Selbst- und Sendungsbewusstsein, der Sieg der chinesischen Revolution habe eine Veränderung des Profils der Welt gebracht, denn sie habe eine gewaltige Bresche in die Front des Imperialismus im Osten geschlagen und dem Kolonialsystem des Imperialismus einen tödlichen Schlag versetzt: „Das neue China wurde ein Teil des von der UdSSR geführten sozialistischen Lagers. Jetzt bilden die Sowjetunion, China und die anderen sozialistischen Länder eine große geschlossene sozialistische Familie, die ein Drittel der Bevölkerung des Erdballs und ein riesiges zusammenhängendes Gebiet auf zwei Erdteilen – Europa und Asien – umfasst. Die chinesische Revolution besitzt für die Völker aller rückständigen Länder […] eine große Anziehungskraft. Sie fühlen, dass was die Chinesen erreichen konnten, auch ihnen möglich sein müsste.“17
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____________________________________ Die Entwicklung einer Herrschaftsideologie
Die Anziehungskraft des chinesischen Modells war in der Tat groß. In Südostasien entstanden z. B. in Birma und Kambodscha sozialistische Regime, die allerdings – wie beim birmanischen Militärregime – einen eigenen Weg zum Sozialismus propagierten.18 Der Personenkult um Mao erreichte einen ersten Höhepunkt. Bei zahlreichen Veranstaltungen emotionalisierter Massen erklang das Lied: „Im Osten wird der Himmel rot, die Sonne erhebt sich, und in China ist Mao Tse-tung erschienen, der für das Volkswohl wirkt, er ist der ‚große Erlöser‘ des Volkes.“19
Die Entwicklung einer Herrschaftsideologie Zur Ausweitung und Konsolidierung der von der KPC unter Mao errungenen Macht bedurfte es einer Herrschaftsideologie, die das theoretische Instrumentarium für die tiefgreifenden Einschnitte in die rückständige Agrargesellschaft Chinas bereitstellte. Diese lieferte, wie gesagt, der Marxismus-Leninismus, den Mao Tse-tung an chinesische Verhältnisse anpasste. Eine permanente Propaganda in allen Bereichen des öffentlichen Lebens forderte das Volk auf, sich das Wissen des maoistischen Marxismus nicht nur theoretisch anzueignen, sondern es auch zur Richtschnur der Lebenspraxis zu machen. Denn es genüge – so Mao – zur echten Neuformierung der Gesellschaft nicht, bei der Umwandlung der Institutionen wie Staat und Wirtschaft zu verharren, sondern man musste eine radikale Veränderung im Denken, Verhalten und Handeln des Einzelnen herbeiführen. Gewollt war, was man heute als ‚Gehirnwäsche‘ bezeichnen würde. Diese Methoden der Machthaber, die Menschen dazu zu bringen, zwecks besserer Manipulierbarkeit ihren eigenen kritischen Verstand auszuschalten, hat Hannah Arendt in ihrer Analyse totalitärer Gesellschaften beschrieben.20 Propaganda soll zu Höchstleistungen im Dienste der Machthaber anspornen, deren Interessen als Interessen der Allgemeinheit definiert werden.
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Die Selbstkultivierung der Persönlichkeit Um die ehrgeizigen Ziele ihrer sozio-kulturellen Revolution zu erreichen, kam es den kommunistischen Anführern mit Mao an der Spitze darauf an, den einzelnen zur völligen Hingabe an das diktatorische System zu bewegen. Wie Liu Shao-ch’i in seiner einflussreichen Schrift Wie man ein guter Kommunist wird ausführte, habe die KPC die „historisch präzedenzlose große Mission, die Welt zu ändern. Unsere kommunistische Selbstkultivierung ist für proletarische Revolutionäre von Bedeutung. Sie darf von der revolutionären Praxis nicht getrennt werden.“21 Die kommunistische Moral erfordere die bedingungslose Unterordnung des Einzelnen unter den Willen der Partei, inklusive des rücksichtslosen Kampfes gegen ihre Feinde, bis hin zur Aufopferung seines Lebens, falls erforderlich. Die jahrtausendealte chinesische Tradition des Konfuzianismus mit ihrer Idee einer universalen klassenüberwölbenden Moral hielt Liu für betrügerischen Unsinn. Allerdings übernahmen die chinesischen Kommunisten den im Konfuzianismus zentralen Begriff der ‚Selbstkultivierung der Persönlichkeit‘: Demnach hängt der Zustand des Einzelnen, der Familie und des Staates davon ab, ob und wieweit es dem Einzelnen gelingt, sein Leben entsprechend den für universal gehaltenen Geboten der konfuzianischen Ethik zu gestalten. Im Li Gi, dem Buch der Sitte, heißt es: „Vom Himmelssohn [d. h. vom Kaiser] bis zum gewöhnlichen Mann gilt dasselbe: Für alle ist die Bildung der Persönlichkeit die Wurzel.“22 Dieses konfuzianische Konzept zur persönlichen Entwicklung wird kollektivistisch umgedeutet. Die marxistisch-leninistisch-maoistische ‚Selbstkultivierung‘ soll zur Wahrung von Disziplin dienen sowie zu harter Arbeit und ständigem Kampf befähigen. Damit steht die kommunistische Deutung von ‚Selbstkultivierung‘ im diametralen Gegensatz zum klassischen Konfuzianismus. Während die chinesischen Kommunisten Mensch und Gesellschaft einer radikalmilitanten Umformung zwecks Eingliederung in das Kollektiv unterziehen wollen, zielt der Konfuzianismus auf „kosmische Harmonien in der Daseinsführung und Ordnung der menschlichen Gesellschaft wie auch das Streben nach Menschenliebe als zentraler Tugend und nach Menschenkenntnis als höchster Form von Weisheit, nach Einfügung und Einfühlung in die Gesetzmäßigkeiten der Natur. Dem gegenüber steht das kommunistische Postulat rast-
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___________________________________ Die Hundert-Blumen-Bewegung – eine Falle? losen Klassenkampfes, des Klassenhasses und ständiger sozialer Veränderung, verbunden mit dem Glauben an die klassenmäßige und parteiliche Bedingtheit der Normen menschlichen Handelns.“23
Die Hundert-Blumen-Bewegung – eine Falle? Schon früh hatte Mao Tse-tung, der eine tiefreichende Aversion gegen die meist aus dem Bürgertum stammenden Intellektuellen besaß, auf ihre große Bedeutung für Chinas Entwicklung hingewiesen, aber ihnen die revolutionäre Reife für eine wichtige Rolle im Entwicklungsprozess des Landes noch abgesprochen.24 In einer Ansprache anlässlich der Eröffnungsfeierlichkeiten der Parteiakademie betonte Mao am 1. Februar 1942 zwar den Wert der Intellektuellen für die Revolution, warf ihnen aber gleichzeitig Arroganz gegenüber dem einfachen Volk und fehlende Bildung vor: „Wie steht es mit dem Problem der sogenannten ‚Intelligenz‘-Schicht? Da unser chinesisches Vaterland ein halbkoloniales, halbfeudalistisches Land mit einer unentwickelten Kultur ist, hat die Intelligenz einen besonderen Wert. […] Es ist vollkommen richtig, dass wir ihnen Entgegenkommen zeigen, soweit sie revolutionär gesinnt sind. Aber unser Entgegenkommen hat den Erfolg gehabt, dass die Intelligenz verherrlicht worden ist und die einfachen Bauern zurückgesetzt wurden. Wir halten es für durchaus nötig, die Intelligenz mit Hochachtung zu behandeln, denn ohne eine revolutionär gesinnte Intelligenzschicht kann die Revolution nicht gelingen. […] Wir wissen aber, dass es viele Intellektuelle gibt, die sich für sehr gelehrt halten und sehr viel von ihrem Wissen hermachen, ohne sich darüber klar zu sein, dass ein solches Verhalten schädlich ist und ihren Fortschritt hindert. Ihnen fehlt die Erkenntnis, dass viele sog. Intellektuelle tatsächlich sehr ungebildet sind, und dass die Arbeiter und Bauern oft mehr wissen als sie.“25
Doch sieben Jahre nach der Machtübernahme – unter dem Eindruck der Aufstände in Polen und Ungarn – ermunterte Mao in einer Rede im April 1956 vor einer Gruppe von Parteiführern die Intellektuellen mit den Worten: „Lasst viele Blumen blühen“,26 zur konstruktiven Kritik am System, an der Partei und an der politischen Führung. Dahinter stand die Einsicht, dass China seine Eliten und Experten brauchte, um den Aufbau des Landes zu bewerkstelligen. Denn ideologisch waren im kommunistischen Staat die Intellektuellen den Bauern und Arbeitern statusmäßig untergeordnet und offiziell benachteiligt. Obwohl er ihnen prinzipiell misstraute (wie sich herausstellen sollte zu Recht), wollte Mao Chinas Intelligenz-Schicht mit der Aussicht auf mehr Freiheit aus der Reserve locken, um sie besser in den kommunistischen
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Apparat einzubinden und für den Aufbau des Landes zu gewinnen. Doch es kam anders, als er dachte. Mao hatte die Notwendigkeit der Einbeziehung der Intelligenz in den Prozess der Erneuerung Chinas erkannt, denn der Stand der chinesischen Wissenschaft und Technik war so niedrig, dass er nicht erlaubte, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse führender Industrienationen zu übernehmen, um sie für Chinas Zwecke zu nutzen. Die Propaganda-Abteilung im Zentralkomitee der KPC griff Maos Parole auf und ihr Direktor Lu Dingchi verkündete: „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern.“27 Die ‚hundert Schulen‘ war ein historischer Verweis auf die Zeit der Streitenden Reiche, in der es zahlreiche philosophische Denkschulen gegeben hatte – die geistig fruchtbarste Periode der chinesischen Kulturgeschichte in der Chou-Dynastie (551–233 v. Chr.), in der viele bis in die Gegenwart wirkungsmächtige chinesische Denktraditionen entstanden, miteinander konkurrierten und friedlich koexistierten. Wenn China ein blühendes Land werden sollte – so die neue Richtlinie der Partei – müsse es für die Intellektuellen mehr Freiheit geben, damit Wissenschaft, Literatur und Kunst sich entfalten. Zwar glaube die Partei nach wie vor an die Überlegenheit und absolute Korrektheit des Marxismus-Leninismus, war aber zu der Erkenntnis gelangt, dass Weltanschauung und Erkenntnis nicht einfach befohlen werden können. Es müsse die Freiheit geben, andere Meinungen zu vertreten, als es die Parteilinie vorgebe. In seiner Rede am 27. Februar 1957 Über die richtige Lösung von Widersprüchen im Volk vor 1.800 Personen, einschließlich zahlreicher Führer nicht-kommunistischer Gruppen und Parteien, konkretisierte Mao die Argumente der ‚Hundert-Blumen-Bewegung‘ und betonte, dass es nach dem Sieg der Revolution zwar „gewisse Widersprüche gebe zwischen der Regierung und den Volksmassen, Widersprüche zwischen den Interessen des Staates, der Kollektive und der Einzelpersonen, zwischen Demokratie und Zentralismus, zwischen Führung und Geführten sowie zwischen dem bürokratischen Arbeitsstil einiger Staatsfunktionäre und den Massen,“ aber dies müsse man tolerieren und diskutieren, „denn diese Widersprüche seien nicht antagonistisch wie die zwischen dem Kommunismus und seinen Feinden. Mao sagte: „Kann der Marxismus, der von der Mehrheit des Volkes in unserem Land als die führende Ideologie anerkannt ist, noch kritisiert werden? Aber sicher. Als wissenschaftlich erkannte Wahrheit fürchtet der Marxismus keine Kritik […]. Der Kampf gegen falsche Ideen wirke wie eine Impfung
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___________________________________ Die Hundert-Blumen-Bewegung – eine Falle? [...]. Die Politik, hundert Blumen blühen und hundert Schulen miteinander wetteifern zu lassen, wird die führende Position des Marxismus auf ideologischem Gebiet nicht schwächen, sondern stärken.“28
Auch die Ermunterung zur gegenseitigen Kontrolle der Parteien sei ernst gemeint. „Weshalb wird den anderen demokratischen Parteien gestattet, die kommunistische Partei zu kontrollieren? Weil es für eine Person ebenso wie für eine einzelne Person sehr notwendig ist, Meinungen Andersdenkender zu hören.“29
Sturm der Kritik Die Zuhörer dieser Rede ahnten wohl nicht, dass diese anscheinend ursprünglich ernst gemeinte Aufforderung zur Kritik an Regierung und Staatspartei sich als heimtückische Falle entpuppen sollte. Zwar war sie von Mao nicht als solche intendiert worden, wie einige Misstrauische vermuteten, aber die Schärfe und Breite der Kritik an den Herrschenden liefen unerwartet aus dem Ruder. Tatsächlich entfachte die Hundert-Blumen-Bewegung einen Sturm der Kritik, doch anders als es sich Mao und das ZK vorgestellt hatten, zielte die Kritik auf die Kommunistische Partei und ihre Führer. Viele Chinesen hatten die enormen Repressalien des Einparteienregimes satt. Die Menschen standen auf, forderten die Beseitigung der kommunistischen Diktatur und gingen für demokratische Reformen, Presse-, Rede- und politische Freiheit auf die Straße. So schrieben ein Jugendführer und ein Redakteur in einer Erklärung: „Die kommunistische Partei hat zwölf Millionen Mitglieder, weniger als 2 % der Gesamtbevölkerung. Sollen 600 Millionen Chinesen gehorsame Untertanen dieser 2 % der Bevölkerung werden? […] Die absolute Führerschaft der Partei und die Privilegien der Parteimitglieder müssen beseitigt werden! […] Die Partei ist der Kaiser, ein erhabener und heiliger Körper. Wer wagt es, ihr Widerstand zu leisten, ihr, die doch in der einen Hand die Bibel des Marxismus-Leninismus und in der anderen Hand das Schwert der Staatsmacht trägt? […] Die Partei ersetzt nicht nur die Regierung, sondern auch die Verfassung und den Nationalen Volkskongress. Alle wichtigen Fragen werden von sechs Personen entschieden: Präsident Mao Tse-tung, Ministerpräsident Chou En-lai und den anderen […], deren Rang höher ist als der des Generalsekretärs der Partei. Das Schicksal von 600 Millionen Menschen wird von der Feder dieser sechs Personen diktiert.“30
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Dies war nicht nur eine ‚konstruktive‘ Kritik an sozio-politischen Defiziten, wie sie sich Mao und die Parteiführung vorgestellt hatten, sondern fundamentale Systemkritik, die die Axt an die Machtposition der Regierenden legte. Der jetzt überall im Land ausbrechende Sturm der Kritik steigerte sich zur heftigen Anklage gegen die Herrschenden, vor allem wegen der zahlreichen Opfer unter den Intellektuellen während der Kampagne zur Unterdrückung der Konterrevolutionäre. Zum ersten Mal wurde öffentlich sichtbar, mit welcher kriminellen Brutalität die Kommunistische Partei vermeintliche Gegner verfolgt und in den Tod getrieben hatte. So schrieb Professor Yang Shi-chan in einem offenen Brief an Mao Tse-tung: „Während der Gesellschaftsreform-Kampagne gab es unzählige Intellektuelle, die [als angebliche Konterrevolutionäre gebrandmarkt] die geistigen Torturen und Demütigungen im Rahmen der Verfolgung nicht zu ertragen vermochten und es vorzogen, sich von hohen Gebäuden in die Tiefe zu stürzen, sich zu ertränken, zu vergiften, sich die Kehle durchzuschneiden oder auf sonstige Art in den Tod zu gehen. […] Wenn wir erklären, dass Genosse Stalin wegen der grausamen Ermordung der Genossen der geschichtlichen Verdammnis nicht entging, dann wird […] auch unsere Partei wegen ihres Blutbades unter jenen Intellektuellen verurteilt werden […]. Das Blutbad unserer Partei unter den Intellektuellen und die von dem Tyrannen Ch’ih Shi-huang [Qin Shihuangdi] vollzogene Massenbestattung von Schriftstellern bei lebendigem Leibe [ca. 213 v. Chr.] werden in die Geschichte Chinas als zwei untilgbare Schandflecke eingehen.“31
So geschah es, dass 1957 die Sturmflut der Kritik die Machtbasis der Kommunistischen Partei zu unterhöhlen drohte. Schon riefen die Kritiker nach Wiedergutmachung des Unrechts, das bei den ‚Säuberungskampagnen‘ begangen worden war, sowie nach politischer Rehabilitation der Opfer. Auch der Marxismus-Leninismus, das ideologische Fundament der kommunistischen Revolution mit seiner die Bevölkerung spaltenden Klassentheorie, wurde hinterfragt: Es sei ungerecht, nach jahrelanger Umerziehung ständig „den Klassencharakter der Menschen zu betonen, ohne dabei an grundlegende Gemeinsamkeiten des Allgemeinmenschlichen zu denken.“32 Ebenso wurde die Nichtbeachtung der in der Verfassung der Volkrepublik China garantierten Pressefreiheit kritisiert. Die Kritik wurde immer lauter, und schließlich kam es zu Studentenunruhen. Eine führende kommunistische Zeitung berichtete unter der Überschrift Ungarischer Zwischenfall in Miniatur über einen Aufstand von ca. 1.000 Hochschulstudenten in Hanyang, die mit Spruchbändern und Plakaten wie „Fort mit Mao Tse-tung“ durch die Straßen zogen.
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Sogar die Universität Peking, einst Studienort Maos und zentraler Ausgangspunkt des Kommunismus in China, wurde zum Zentrum der Kritikbewegung: Studentische Organisationen wie die „Hundert-Blumen-Gesellschaft“ und das „Hundert-Blumen-Tribunal“ entstanden, die das Recht auf Redefreiheit einforderten. Dabei musste es der Parteiführung als besonders brisant erscheinen, dass sich die opponierenden Studenten sowie die Mehrheit der Intellektuellen auf den Freiheitskampf in Ungarn und Polen beriefen. Dort war es 1956 zu einem Aufstand gegen die kommunistischen Regime gekommen.
Mao zieht die Reißleine Schließlich musste Mao erkennen, wie sehr er sich in dem Glauben geirrt hatte, die Freigabe von Kritik nach so intensiver vorheriger Repression werde hauptsächlich konstruktive Kritik im Sinne der Partei hervorrufen. Angesichts der Ereignisse in Ungarn und Polen und der aus dem Ruder laufenden Hundert-Blumen-Kampagne musste rasch eine Kehrtwende stattfinden. Doch wie konnte der unfehlbare Parteiführer zugeben, dass seine Taktik im Umgang mit den Intellektuellen kontraproduktiv gewesen war, ohne das Gesicht zu verlieren? Den Ausweg aus dem Dilemma bot die Behauptung, die Hundert-Blumen-Bewegung sei ein taktisches Manöver gewesen, eine Falle, um die Oppositionellen zu enttarnen: „Wir sagten dem Feind voraus, dass Ungeheuer und Schlangen, um ausgerottet zu werden, erst einmal aus ihrem Versteck hervorgelockt werden müssen, und dass giftige Pflanzen erst dann ausgejätet werden können, wenn sie sich an der Oberfläche zeigen. Wie sehr auch die Kommunistische Partei ihre Feinde zuvor gewarnt hat und ihre grundlegende Strategie offen dargelegt hat, so greifen die Klassenfeinde dennoch an. Warum sind die reaktionären Klassenfeinde in die Falle gegangen?“33
Die taktische Fehleinschätzung der Parteiführung wurde nun als raffinierte Strategie zur Enttarnung des Klassenfeindes umgedeutet. Mao bezog sich bei seinem Gegenschlag gegen die Kritiker ausdrücklich auf Ungarn. In einer Rede sagte er: „Nach den Ungarn-Ereignissen waren manche Leute in unserem Land froh. Sie hofften, daß sich in China Ähnliches abspielen werde und daß Tausende und aber Tausende von Menschen gegen die Volksregierung auf die Straße gehen würden.“34
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Tatsächlich löste die Offenlegung der ‚wahren Absichten‘ der Partei unter den Intellektuellen Panik und Furcht aus – und das zu Recht. Schließlich zog die Partei zur Notbremse, und aus der Hundert-Blumen-Kampagne wurde eine gnadenlose Disziplinierungs-Kampagne. Denn jetzt wurden die Kritiker zu demütigenden öffentlichen Selbstbezichtigungen und Geständnissen gezwungen, in denen sie sich selbst als „schamlose Verräter“ bezeichnen, ihren Abscheu vor ihrem bisherigen Leben und ihren Ansichten bekennen und Volk und Partei um Strafe und unverdiente Vergebung anflehen mussten. Die Menschen, die sich mit ihrer Systemkritik geoutet hatten, wurden jetzt gnadenlos verfolgt, eingesperrt und hingerichtet. Hunderttausende landeten in Arbeitslagern oder wurden liquidiert. Der von den Kritikern gezogene Vergleich mit der Schandtat des chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi, der Hunderte Gelehrte lebendig begraben ließ, wurde von Mao jedoch nicht als Provokation empfunden, sondern als Vorbild und Rechtfertigung für hartes Vorgehen gegen Oppositionelle. Auf einer internen Parteiversammlung im Jahr 1958 antwortete Mao Tse-tung auf diesen Vergleich: „Was war denn so außergewöhnlich an Qin Shihuang? Er hat 460 Gelehrte lebendig begraben; wir haben 46.000 Gelehrte lebendig begraben. Dazu habe ich schon gewissen Demokraten entgegengehalten: Ihr glaubt, ihr könnt uns beleidigen, wenn ihr uns als Qin Shihuang bezeichnet, aber ihr irrt, wir haben Qin Shihuang hundertfach übertroffen! Ihr bezeichnet uns als Despoten – wir bekennen uns gern zu diesen Eigenschaften, wir bedauern nur, dass ihr derartig hinter der Wahrheit zurückbleibt, dass wir eure Vorwürfe ergänzen müssen!“35
Das war purer Zynismus und offenbart die dunkle Seite des Machtmenschen Mao Tse-tung, der sich zum Despotismus bekannte und intern zugab, Tausende Intellektuelle liquidiert zu haben. War die Hundert-Blumen-Kampagne am Ende ein geschickter Schachzug Maos, um potenzielle Kritiker und Feinde aus der Reserve zu locken und zu entlarven, um sie dann gezielt zu liquidieren? Bis heute wird diese These unter Historikern kontrovers diskutiert. „Es gibt starke Indizien dafür, dass Mao die Kritiken bewusst provozierte, um die Kritiker ausfindig machen und verfolgen zu können. Millionen Intellektuelle wurden als rechte bourgeoise Elemente gebrandmarkt und es kam zu staatlichem Terror, mit dem Mao auch Kritiker an seiner Politik des schnellen Aufbaus des Sozialismus eliminierte.“36
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______________________________________ Die Umwälzung des Gesellschaftssystems
Doch wahrscheinlicher ist, dass Mao in grenzenloser Selbstüberschätzung aus allen Wolken fiel, als die Menschen aus Protest gegen ihn und seine Politik aufstanden. Vermutlich hatte Mao nicht mit ernsthafter Kritik gerechnet, weil er viel zu sehr von sich selbst und der Richtigkeit seiner Politik überzeugt war.
Die Umwälzung des Gesellschaftssystems Im Gegensatz zum ‚Großen Bruder UdSSR‘ konzipierte Mao Tse-tung einen eigenen, den ‚chinesischen Weg‘ zum Sozialismus: Nicht das Proletariat, sondern die Bauern stellten die revolutionären Massen dar, die sich unter dem Diktat der Partei in kleinen autarken Kommunen organisieren sollten. Mao erzwang diesen chinesischen Weg mit gravierenden Maßnahmen, die tief ins Leben der Bevölkerung einschnitten. So wurden in einem „gigantischen Sozialexperiment“ die über Jahrtausende gewachsenen Gesellschaftsstrukturen und Besitzverhältnisse der traditionell familiär ausgerichteten Landbevölkerung rücksichtslos zerschlagen: Zuerst wurden die Bauern enteignet, zwangskollektiviert und in genossenschaftlichen Großverbänden zusammengefasst. Es erfolgte eine präzedenzlose Reglementierung im Rahmen der neugeschaffenen Institution der agrarischen Volkskommune. Der Ostasienexperte Kindermann schreibt, es sei der „quantitativ und qualitativ weitreichendste Versuch in der Menschheitsgeschichte, einem ganzen Volk radikal egalitäre Formen einer streng reglementierten Lebensführung aufzuzwingen. Die kultursoziologische Brisanz dieses gigantischen Sozialexperiments erweist sich auch an Hand des damit verbundenen Versuchs der chinesischen Kommunisten, die Daseinsformen ihres Volkes bewusst in einer Weise zu verändern, die sich in krassem Widerspruch zu dessen jahrtausendealten Wertvorstellungen und Traditionen befand. Hinter diesem Experiment stand der Wille, radikal mit der Vergangenheit zu brechen, um planmäßig einen neuen Menschentyp als Träger eines neuen und gänzlich sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems heranzubilden.“37
Laut amtlichen Angaben wurden 1958 aus den 740.000 damals bestehenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) 26.000 Ländliche Volkskommunen gebildet, in denen insgesamt 120 Millionen bäuerliche Haushalte, d. h. 99 % aller Haushalte, erfasst waren. Die Volkskommunen
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wurden zu Instrumenten der Umerziehung der Menschen zu einer quasi militärischen Arbeitsdisziplin – parallel dazu gab es auch eine militärische Ausbildung als ‚Antwort auf die amerikanische Wasserstoffbombe‘ – und zur Tugend höchstmöglicher Arbeitsintensität und Produktivität. So sollte die Bevölkerung auch auf den Einsatz in nicht-agrarischen Bereichen, d. h. auf die geplante Industrialisierung Chinas vorbereitet werden. Die Volkskommunen diente auch dem Zweck, das traditionelle chinesische Familiensystem zu zerstören, das bislang nicht nur als die grundlegende bäuerliche Produktionseinheit fungiert hatte, sondern auch als zentraler Bezugspunkt persönlicher Loyalität und als soziale Absicherung bei Katastrophen aller Art. Das Familiensystem als Nukleus der konfuzianischen Lebens- und Gesellschaftsauffassung wurde von den chinesischen Kommunisten als weltanschaulicher Gegner Nummer Eins angesehen, den es zu zerschlagen galt. Als erster Schritt wurde mittels Kantinen die private Nahrungsaufnahme kollektiviert (1958 gab es bereits 3,9 Millionen), womit die Bedeutung der Kernfamilie erheblich sank. Darüber hinaus reduzierte oder zerstörte das Kommunensystem die Möglichkeiten zur Erziehung der eigenen Kinder, zur häuslichen Pflege der Alten und zur Gestaltung der Freizeit mit der Familie. Weil die Bauern durch die Kollektivierung sowohl ihren Landbesitz als auch ihr Haus- und Wohneigentum verloren hatten, wurden die in den Kommunen lebenden Menschen als Nahrungs-, Wohn-, und Lohnempfänger des Staates in jeglicher Hinsicht unmittelbar vom Staat bzw. von der Einheitspartei abhängig. Die Menschen verloren jegliches Recht auf Selbstbestimmung. Die Eigentumsverhältnisse wurden aufgelöst, Arbeitspensum und Arbeitszeit streng hierarchisch organisiert und die Bauern zu rechtlosen Befehlsempfängern degradiert. Auch die Frauen wurden in Kindergärten, Kantinen oder Nähbrigaden in den Arbeitsprozess eingespannt. Gelenkt durch zentrale Kommandoplanung und planmäßigen Masseneinsatz von Arbeitskräften sollte die Infrastruktur (z. B. das Straßennetz) erweitert, Brachland kultiviert und neue Energiequellen erschlossen werden.
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__________________________ Der Große Sprung nach vorn und die Schlacht um Stahl
Der Große Sprung nach vorn und die Schlacht um Stahl Hinter all den einschneidenden Maßnahmen zum Umbau des traditionellen Gesellschaftssystems stand Maos unbändiger Wille, das rückständige Agrarland China möglichst rasch auf das Niveau westlicher Industriestaaten zu heben. Trotz Chinas Rückständigkeit sollte in einem gewaltigen Kraftakt ein sozialistisches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem errichtet werden, das – in Konkurrenz zu Moskau – den Anspruch erheben konnte, an der Spitze der Bewegung in Richtung auf den Endzustand des kommunistischen Systems zu stehen. Wie ein Chinaexperte schreibt, habe Mao versucht, „die überkommenen Schranken, d. h. die ‚Drei großen Unterschiede‘ zwischen Stadt und Land, Kopf und Hand sowie Industrie und Landwirtschaft niederzureißen und die Revolution durch fortgesetzte Massenkampagnen zu verstetigen, um so am Ende den Neuen Menschen in einer Neuen Gesellschaft zu schaffen. Diese war ein gigantischer Entwurf, der, wie sich schon bald zeigte, nicht wenige gigantische Katastrophen nach sich zog, weil die Rechnung ohne Rücksicht auf die Produktivkräfte gemacht worden war.“38
Der offiziell proklamierte ‚Große Sprung nach vorn‘ sollte China aus seiner ländlichen Rückständigkeit herausreißen und als wirtschaftliche Großmacht etablieren. Während die USA (mit denen China 1953 im Koreakrieg39 militärisch konfrontiert gewesen war) atomar bestückte Langstreckenbomber besaß und die Sowjetunion den Sputnik in eine Erdumlaufbahn geschossen hatte, war China nicht einmal in der Lage, den kriegs- und industriewichtigen Stahl in großen Mengen zu produzieren. Mao beschloss, die mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und den Volkskommunen gelungene vollständige Erfassung der Bevölkerung zu nutzen, um den enormen industriellen Rückstand aufzuholen, wobei die Überbevölkerung Chinas als Vorteil dienen sollte. Mit seiner radikal-revolutionären Entwicklungsstrategie hoffte Mao, „durch den militärisch disziplinierten und propagandistisch aufgepeitschten Masseneinsatz von Hunderten Millionen Menschen Chinas Entwicklungsrückstand in einem gewaltigen Kraftakt überwinden und dabei im Zuge dieser Produktionsschlachten den neuen Typ eines mehr am Gemeinwohl als am Eigennutz orientierten ‚sozialistischen Menschen‘ heranbilden zu können.“40
Doch dieses ideologisch basierte Kalkül erwies sich als fataler Fehler und endete in einem Fiasko.
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Die ‚Schlacht um Stahl‘ war die nächste Kampagne des ‚Großen Sprungs nach vorn‘. Als Reaktion auf die vollmundigen Berichte Chruschtschows über die Erfolge seiner Wirtschaftspolitik prahlte Mao, dass China innerhalb von 15 Jahren England bei der Menge des produzierten Stahles überholen würde. Zwar verstand Mao wenig von Ökonomie, aber ihm war klar, dass Chinas Wirtschaftsentwicklung auf seinen riesigen Reserven an Arbeitskräften beruhen müsse. Mao rief die Chinesen auf, auf jedem Bauernhof und in jedem Hinterhof mit Hilfe primitivster Arbeitsmittel ‚Kleinhochöfen‘ zu errichten und Stahl zu produzieren. Um die Öfen zu befeuern, wurde die umgebende Vegetation gerodet und verbrannt; alle Gegenstände aus Metall, die man dank der Volkskommunen nicht mehr benötigte, wurden eingeschmolzen, aber auch unentbehrliche landwirtschaftliche Geräte wie Pflugscharen, was nicht ohne Folgen blieb. Darüber hinaus wurden zahlreiche Arbeitskräfte aus anderen Wirtschaftszweigen abgezogen. Im Oktober 1958 arbeiteten 90 Millionen Chinesen an den Hochöfen, neben Bauern auch Lehrer, Schüler und Ärzte. Diese rigorose Politik führte innerhalb kurzer Zeit zu Nahrungsmittelengpässen im ganzen Land. Bereits im Dezember 1958 hungerten 25 Millionen Menschen. Dennoch glaubte Mao fest an die Richtigkeit seiner Politik und gab für das Jahr 1959 noch weitreichendere Ziele aus.
Landesweite Hungersnot Maos groß angelegtes Sozialexperiment zur Überflügelung des Westens in der Schwerindustrie mündete in eine Katastrophe. Statt ihre Felder zu bewirtschaften und die dringend benötigten Ernten einzufahren, produzierten die Bauern nach Maos unerbittlicher Vorgabe auf ihren selbstgebauten Stahlkochern minderwertiges Eisen. Doch die mehr an ideologischem Wunschdenken denn an volkswirtschaftlichen Realitäten orientierte Kommandowirtschaft führte das Land in eine Wirtschaftskrise, wodurch die Produktion von Lebensmitteln drastisch zurückging. Verschärft wurde die Situation durch eine außergewöhnliche Dürreperiode, so dass im Jahr 1958 die Getreideproduktion um 50 Millionen Tonnen gegenüber 1957 zurückblieb. 1960 brachen in einigen Provinzen Hungersnöte aus und die ‚Große Chinesische Hungersnot‘ erreichte bald ihren Höhepunkt. Es begannen die sogenannten ‚Drei bitteren Jahre‘ (1960–1962), in denen sich die Parteiführung
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genötigt sah, die knappen Währungsreserven zum Import von Lebensmitteln zu verwenden.41 Zum Ärger Maos mussten 1961 vier Millionen Tonnen Getreide aus dem kapitalistischen westlichen Ausland importiert werden. Dennoch verhungerten Millionen von Chinesen. Während die Parteiführung in den 1980er Jahren 20 Millionen Verhungerte zugab, gehen aktuelle Schätzungen von 20–45 Millionen Toten aus.42 Darüber hinaus zwang die desolate Notsituation die Partei zur Lockerung der wirtschaftlichen Kommandostrukturen und zur Gewährung der sogenannten ‚Kleinen Freiheiten‘, z. B. private Kleintierhaltung und den Anbau von Obst in kleinen Privatgärten. Der Erfolg dieser ‚Liberalisierung‘ blieb nicht aus, und die vitale Kraft des bäuerlichen Eigeninteresses zeitigte positive Ergebnisse, welche die Partei nicht ignorieren konnte.
Innerparteiliche Kritik an Mao Tse-tung Angesichts der Millionen Hungertote war das Scheitern von Maos ‚Großer Sprung-Kampagne‘ offenkundig und die parteiinterne Kritik an Mao blieb nicht aus. So griff Zhang Wentian den Parteivorsitzenden scharf an und warf ihm vor, dass China trotz der Errungenschaften des ‚Großen Sprungs‘ wegen seiner verfehlten Politik ein armes Land bliebe, was aber aus Furcht vor Mao niemand zu sagen wage. Herbe Kritik an Mao übte auch Verteidigungsminister Marschall Peng Dehuai, der nach einer Inspektionsreise durch mehrere Hunger leidende Provinzen Mao Faktenblindheit und Realitätsverlust vorwarf. Durch diese Kritik in die Defensive gedrängt, übte Mao erstmals seit seiner Übernahme der Parteiführung Selbstkritik. Er erklärte: „Die hauptsächliche Verantwortung für die Jahre 1958 und 1959 liegt bei mir. […] Auf mich geht die Erfindung der ‚breit angelegten‘ Stahlschlacht zurück. […] Wir schickten damals unglücklicherweise 90 Millionen Menschen in den Kampf. […] Zwei Sünden kommen auf mein Konto, die eine sind die 10,7 Millionen Tonnen, die Stahlschmelze in großem Ausmaße, das lässt sich nicht einfach abwälzen, die hauptsächliche Verantwortung liegt bei mir. Dann die Volkskommunen, dagegen stellt man sich in der ganzen Welt, auch die Sowjetunion war dagegen […]. 10,7 Millionen Tonnen, 90 Millionen Menschen in die Schlacht zu schicken dieses Chaos hat wirklich Riesenausmaße angenommen, dafür muss ich selbst die Verantwortung tragen.“43
Auch Konfuzius und Lenin hätten schwere Fehler begangen. Zu seiner Entschuldigung verwies Mao auf seine Inkompetenz in ökonomischen Dingen:
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Sowohl das gescheiterte Experiment mit der agrarischen Volkskommune als auch das Fiasko mit dem ‚Sprung nach vorn‘ im Sektor der Stahlproduktion hatten die Undurchführbarkeit von Maos auf kommunistischer Ideologie statt wirklichkeitsbezogener Praxis beruhender Entwicklungsstrategie gezeigt. Sein Glaube, in einem gewaltigen Kraftakt von Abermillionen Menschen Chinas Entwicklungsrückstand überwinden und den neuen Typus eines gemeinwohlorientierten ‚sozialistischen Menschen‘ heranbilden zu können, hatte sich genauso als falsch erwiesen wie sein Glaube, sich über volkswirtschaftliche Prinzipien, technologische Defizite und Gegebenheiten der Infrastruktur hinwegsetzen zu können, wenn nur der ideologisch richtige Wille herrsche.45 Mao gab sich durchaus selbstkritisch. Am 20. Januar 1962 verurteilte er in einer Rede seine ‚Großer Sprung‘-Politik als „blindwütige Dummheit“: „Wenn uns andere dafür nicht verfluchen, müssen wir uns selbst verfluchen.“46 Nach seiner Selbstkritik war Mao gezwungen, deutlich Abstriche an seiner Entwicklungsstrategie zu machen. So wurden z. B. die Befugnisse der Volkskommunen eingeschränkt und auf die Ebene der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften verlagert. Zwar war Maos Nimbus als unfehlbarer Stratege und Theoretiker beschädigt, aber es gelang ihm, seine Kritiker zu marginalisieren und kaltzustellen. Sowohl das Zentralkomitee der Partei als auch einflussreiche Parteigrößen wie Staatspräsident Liu Shaoqi und Ministerpräsident Zhou Enlai unterstützten ihn, weil sie die Spaltung der Partei befürchteten. Die Kritiker Peng Dehuai und Zhang Wentian wurden zu Selbstkritik gezwungen, als Rechtsabweichler verurteilt und verloren ihre Regierungsämter. Mao zog sich 1959 von der Spitze der Regierung in die zweite Reihe zurück und überließ die wirtschaftliche Konsolidierung Politikern wie Liu Shaoqi und Deng Xiaoping.
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_______________________________________ Die Große Proletarische Kulturrevolution
Die Große Proletarische Kulturrevolution Die von Mao Tse-tung 1966 entfesselte, zehn Jahre währende sogenannte ‚Große Proletarische Kulturrevolution‘ war, wie Kindermann schreibt, „abgesehen vom chinesischen Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Kuomintang die verlustreichste und destruktivste Form des Konflikts in der chinesischen Innenpolitik seit 1949.“47 Man geht von mindestens 400.000 und bis zu 20 Millionen Toten in ganz China aus. Millionen von Menschen wurden gefoltert, in Gefängnisse und Arbeitslager gesperrt oder anderweitig misshandelt. Außerdem wurde eine große Zahl in abgelegene Regionen verbannt. „Ob als Schreckensszenario politischen Machtverlusts und bürgerkriegsähnlicher Gewaltorgien oder als nostalgisches Vorbild einer weitgehend egalitären Gesellschaftsordnung – das Erbe der Kulturrevolution prägt die chinesische Gegenwart auf vielfältige Weise.“48
Wie kam es dazu? Wegen seiner Serie von Fehlschlägen wie die ‚Volkskommunen‘, die ‚Hundert-Blumen-Bewegung‘ und der ‚Große Sprung nach vorn‘ sah sich Mao gezwungen, in die zweite Reihe zurückzutreten. Aus Maos Sicht bestand nun die Gefahr, dass die von ihm angestrebte Form des ideologisch reinen Kommunismus in China zugunsten einer pragmatischen Version des Marxismus-Leninismus aufgegeben würde, wie er unter Chruschtschow in der UdSSR eingeführt worden war. Und nicht nur das: Mit seinem Lebenswerk geriet auch sein Ruf und seine Rolle in der Geschichte Chinas in Gefahr. Er beschloss, zum Gegenangriff überzugehen und seine innerparteilichen Gegner mit dem Instrument der Kulturrevolution zu entmachten, die er als fundamentalistisch-maoistische Gegenbewegung zu den neuen pragmatischen Tendenzen in der Kultur- und Wirtschaftspolitik der KPC konzipierte. Bereits 1965 brandmarkte Mao die chinesische Kultur als ‚bourgeois und reaktionär‘ und entwickelte aus der anfänglichen Kulturkritik das Konzept der permanenten Revolution gegen konservative, reaktionäre und konterrevolutionäre Elemente in Staat und Gesellschaft – besonders im Parteiapparat. „Bombardiert das Hauptquartier“, rief er den jungen Chinesen in Wandzeitungen zu.49 In einem Rundschreiben des Zentralkomitees forderte er 1966 in schärfster Form die Bekämpfung der oppositionellen Kritik und nichtmaois-
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tischer Gedankenrichtungen innerhalb der Kommunistischen Partei. Um aktiv gegen die revisionistischen Kräfte im Lande vorzugehen und die Renegaten im Machtzentrum zu stürzen, sei ideologische Vorarbeit zu leisten. Kulturrevolutionäre Gruppen, Komitees und Kongresse seien als permanente Institutionen des innerparteilichen Richtungskampfes zu gründen. Maos Rechnung ging auf. Bald ratifizierte das Zentralkomitee einen Untersuchungsbericht, der die „Verbrechen des Renegaten, versteckten Verräters und Schuftes Liu Shao-ch’i (Liu Shaoqi)“ untersuchte, Maos innerparteilicher Rivale.50 Er sei ein „Lakai des Imperialismus“ und Revisionismus und müsse aus der Partei ausgeschlossen werden. Doch es blieb nicht bei diesem Ausschluss; Maos Rache ging viel weiter: Liu Shaoqi, Deng Xiaoping und andere Führungspersönlichkeiten der KPC wurden aus ihren Ämtern entfernt, verhaftet und eingekerkert. Gefoltert und ohne ärztliche Hilfe bei Erkrankungen, starben viele von ihnen, darunter auch Liu Shaoqi.51
Die Jugend als Träger der Kulturrevolution Dann beschloss Mao gegen die bürokratischen und ideologischen Verkrustungen des einstmals siegreichen Systems vorzugehen. Die Kulturrevolution sei eine Strategie, bzw. ein Instrument, um diese Verkrustung und Korrumpierung der Herrschaftsstrukturen aufzubrechen. In maßloser Selbstüberschätzung hoffte Mao, mittels der Kulturrevolution zum Vater und Führer der sozialistischen Weltrevolution zu werden, und betrachtete deshalb die Kulturrevolution als entscheidendes Ereignis der Menschheitsgeschichte. In der Zeitschrift Rote Fahne schrieb er dazu im Jahr 1967: „Die Große Proletarische Kulturrevolution ist eine Revolution, die die Seelen der Menschen erfasst hat. Sie trifft die grundsätzliche Position der Menschen, bestimmt ihre Weltanschauung, bestimmt den Weg, den sie bereits gegangen sind oder noch gehen werden, und erfasst die gesamte Revolutionsgeschichte Chinas. Dies ist die größte, in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesene Umwälzung der Gesellschaft. Sie wird eine ganze Generation von standhaften Kommunisten heranbilden.“52
Maos genialer, aber auch verhängnisvoller Schachzug zur Durchsetzung seiner Pläne bestand in der Rolle, die er der Jugend zugedacht hatte. Zur Rettung der Errungenschaften der chinesischen Revolution sollte die Jugend zum Motor und zum Träger des Erneuerungsprozesses werden. Sie hatte
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zwar die Revolution nicht erlebt, aber war deren Erbe und sei daher prädestiniert für diese zentrale Rolle. Wichtige Elemente der kulturrevolutionären Bewegung waren die Jugendorganisationen der Roten Garden und – quasi als disziplinierende Rückversicherung – die Mao völlig ergebene Volksbefreiungsarmee. Umrahmt wurde die Kulturrevolution vom quasi religiös zelebrierten Kult um die charismatische Person Mao Tse-tungs. Es wurde eine beispiellose Propagandaschlacht und ein exzessiver Führerkult um die Person des ‚Großen Vorsitzenden‘ in Szene gesetzt. So verkündete z. B. der Mao besonders ergebene Marschall Lin Piao, stellvertretender Vorsitzender des Politbüros: „Vorsitzender Mao ist viel weiser und brillanter als Marx, Engels, Lenin und Stalin. Niemand in der gegenwärtigen Welt kann sich mit dem Vorsitzenden Mao vergleichen. […] Jedes Wort des Vorsitzenden Mao ist die Wahrheit und hat das Gewicht von zehntausend Worten. Die Ideen von Mao Tse-tung sind der Leitfaden der Partei und des ganzen Landes bei jeglicher Arbeit.“53
Um der Kulturrevolution eine dynamische Massenbasis zu verschaffen, wurden fast alle Universitäten und Mittelschulen des Landes auf Jahre geschlossen. Als Klassenfeinde angesehene Personen wurden von den Roten Garden angegriffen, verprügelt, verhöhnt und ihr Eigentum beschlagnahmt. „Organisiert in Verbänden der Roten Garden, motiviert durch aufpeitschende Propaganda und mit wehenden roten Fahnen und Mao-Insignien traten Hunderttausende und Millionen Jugendliche in Aktion. Erste Angriffsziele waren die ihnen oft verhassten Schulen und Lehrer. Letztere wurden Verhören, demütigenden Selbstbezichtigungen und Folterungen oft mit Todesfolge ausgesetzt. Es gab Serien von Selbstmorden.“54
Ähnlich erging es auch vielen Universitätslehrern. Angefeuert durch Lin Biao und Maos Frau Jiang Qing gingen die Roten Garden im ganzen Land in die Öffentlichkeit, klebten Wandzeitungen, verteilten Flugblätter und hielten Reden. Unterstützt wurden sie vom Militär, das ihnen bei Transport, Unterbringung und Verpflegung half. Manifestationen bürgerlicher Kultur, d. h. Gegenstände, die die Roten Garden als feudalistisch oder kapitalistisch betrachteten, wurden zerstört. Bücherverbrennungen fanden genauso statt wie die Zerstörung und Beschädigung religiöser Einrichtungen. Entweihung von Gräbern und Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung. Bis Ende September 1966 wurden in Peking über 30.000 Haushalte von den Roten Garden durchsucht und von Büchern, Bildern, Musikinstrumenten (z. B. Klaviere), unproletarischer Kleidung und ‚falschem‘ Geschirr ‚gesäubert‘.
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Verdächtige Personen wurden vor Revolutionstribunale gezerrt, zu Geständnissen gezwungen und häufig erschossen. Ein ehemaliges Mitglied der Roten Garden, Jung Chang, berichtet in ihrem Buch Wilde Schwäne, wie ihre Gruppe der Roten Garden eine Frau aufsuchte, die von einer Nachbarin angezeigt worden war, sie habe ein Porträt des Antikommunisten und ehemaligen Mao-Gegners im Bürgerkrieg, Chiang Kai-shek, in der Wohnung. Über das ‚Verhör‘ schreibt Jung Chang: „Dann sah ich die beschuldigte Frau. Sie war um die vierzig und kniete nackt bis zur Taille. […] Mit vor Verzweiflung hervorquellenden Augen schrie sie: ‚Ihr Herren Rotgardisten! Ich habe kein Porträt von Chiang Kai-shek! Ich schwöre es!‘ Dabei schlug sie mit ihrem Kopf mehrmals so hart auf den Boden, daß man es krachen hörte und Blut aus einem Riß aus ihrer Stirn sickerte. Auf ihrem Rücken war das Fleisch aufgeplatzt, sie war mit Wunden und Blutflecken übersät. […] Ich konnte den Anblick nicht ertragen und wandte mich schnell ab. Doch noch mehr erschrak ich, als ich sah, wer sie folterte – ein fünfzehnjähriger Junge aus meiner Schule, den ich bisher recht gut hatte leiden können. Er lümmelte in einem Sessel, in der rechten Hand hielt er einen Ledergürtel und spielte nachlässig mit der Messingschnalle. ‚Sag die Wahrheit, sonst schlage ich dich nochmal‘, drohte er in einem Tonfall, in dem er auch hätte sagen können: ‚Es ist recht gemütlich hier.‘“55
Minutiös beschreibt die ehemalige Rotgardistin auch in ihrer Biografie über Mao Tse-tung solche Übergriffe: „Mit dem Segen der Behörden zerstörten [die Roten Garden] ganz allgemein alles, was mit ‚Kultur‘ zu tun hatte. Sie ‚konfiszierten‘ Wertsachen und verprügelten die Besitzer. Eine Welle blutiger Hausdurchsuchungen schwappte über das ganze Land, was die Volkszeitung ‚einfach großartig‘ fand. Viele von den Überfallenen wurden in ihren eigenen Häusern zu Tode gefoltert, einige karrte man zu improvisierten Folterkammern in ehemaligen Kinos, Theatern und Sportstadien. Rotgardisten, die durch die Straßen marschierten, die Scheiterhaufen der Zerstörung und die Schreie der Opfer – dieser Anblick und diese Geräuschkulisse gehörten zu den Sommerabenden des Jahres 1966.“56
Eine Blütezeit der Denunziation Maos aufpeitschendes Motto: „Mit Chaos auf Erden erreicht man Ordnung im Land“, feuerte die Roten Garden an, ihren Kampfeinsatz noch radikaler zu gestalten. Sie duldeten keine abweichende Meinung, sogar vor den eigenen Familien machten sie nicht Halt. Die ständig wiederholte Parole: „Die Liebe zu Mutter und Vater gleicht nicht der Liebe zu Mao Zedong“, veranlasste
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zahllose Rotgardisten, ihre eigenen Eltern als Konterrevolutionäre zu denunzieren und sie Misshandlungen auszusetzen. In dem Wissen, dass sie unter dem besonderen Schutz des ‚Großen Vorsitzenden‘ und der Behörden standen, verunglimpften die aufgehetzten Jugendlichen Erwachsene als Feinde des großen Mao und Verräter an der Revolution. Sie folterten und erschlugen Eltern, Lehrer und Professoren der Universitäten. Der Terror der Rotgardisten überzog das Land: Schulen und Universitäten schlossen, Industrie und Landwirtschaft kamen zum Erliegen; es herrschten Lynchjustiz und Anarchie. Als das Land im Chaos zu versinken drohte, zog Mao die Reißleine, zumal er sein Ziel – die Ausschaltung seiner innerparteilichen Konkurrenz – erreicht hatte. Er stellte die ca. acht Millionen Rotgardisten, die sich als nützliches Instrument für seinen Machterhalt erwiesen hatten, unter die disziplinierende Aufsicht der Armee. Die Rotgardisten wurden aufs Land geschickt, um sich dort in den landwirtschaftlichen Produktionsprozess einzugliedern. Sie hatten mit der Zerschlagung des bestehenden Bildungssystems und des Mao-kritischen Parteiapparats ihre Schuldigkeit getan und wurden vom Großen Vorsitzenden nicht mehr gebraucht.
Die Außenpolitische Dimension der Kulturrevolution Die Kulturrevolution hatte neben ihren Auswirkungen auf die chinesische Innenpolitik auch eine auswärtige und internationale Dimension. In diversen öffentlichen Verlautbarungen sah sich China als Zentrum der Weltrevolution. Hatte noch im 18. Jahrhundert das Zentrum der Revolution in Frankreich gelegen, verlagerte es sich im 19. Jahrhundert mit dem Marxismus nach Deutschland und im 20. Jahrhundert nach Russland, wo der Leninismus hervorgebracht wurde. „Danach verlagerte sich das Zentrum […] allmählich nach China, wobei die Ideen von Mao Tse-tung entstanden. Durch die Große Proletarische Kulturrevolution ist ‚China, das Zentrum der Weltrevolution, noch stärker und fester geworden.‘“57 Dies war eine Anknüpfung an den traditionellen sinozentrischen Universalismus, den das Reich der Mitte jahrhundertelang gepflegt hatte – jetzt freilich im kommunistischen Gewand. China verstand sich
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Mao Tse-tung _____________________________________________________________ „in der Ära der Kulturrevolution als Vorbild und geistiges Zentrum sowohl des nationalrevolutionären Befreiungskampfes unterdrückter Völker gegen alte und neue Formen des Kolonialimperialismus wie auch des wahren antirevisionistischen Kommunismus gegen die Sowjetunion.“58
Aus dieser Anmaßung entstand in der Führungsclique um Mao und insbesondere bei Mao selbst ein Sendungsbewusstsein, das die Opferung von Millionen zu rechtfertigen schien. Doch es gab einen bemerkenswerten Unterschied zur Außenpolitik der UdSSR, dem ideologischen Rivalen um die Vorrangstellung in der weltweiten sozialistischen Bewegung: die „Breschnew-Doktrin“, mit der sich die Sowjetunion das Recht auf militärische Intervention bei ‚abtrünnigen‘ kommunistischen Staaten anmaßte, wenn dort nach Meinung des Kreml eine Entwicklung eingetreten war, die das Weiterbestehen einer sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung gefährdete.59 „Diese Anmaßung eines Rechts zur völkerrechtswidrigen bewaffneten Intervention wurde in Peking als potenzielle Bedrohung des maoistischen Systems verstanden. Der Auffassung Moskaus von einem hierarchisch geordneten sozialistischen Internationalismus unter der notwendigen Führung der KPdSU und der UdSSR stellte China das Modell eines polyzentrischen sozialistischen Internationalismus gegenüber, das vom Prinzip der Selbstbestimmung jeder kommunistischen Partei und jedes Staates ausgeht und nur Formen der Kooperation zwischen sozialistischen Staaten oder Parteien akzeptieren will, die von unilateralen Lenkungsansprüchen frei sind.“60
Dieser Ansicht, welche militärische Interventionen in sozialistische ‚Bruderländer‘ ausschloss, folgten die kommunistischen Parteien Rumäniens, Jugoslawiens, Spaniens, Koreas und Japans, während andere solche Interventionen akzeptierten (z. B. DDR, Mongolei, Frankreich, Spanien). Die BreschnewDoktrin stieß in China auf entschieden Ablehnung, wie ein harscher Kommentar des chinesischen Außenministers Chou En-Lais zeigt. Am 23. August 1968 sagte er: „Die sowjetrevisionistische Führungsclique hat ihre Maske des sogenannten Marxismus-Leninismus und Internationalismus fallengelassen und ist offen zu […] bewaffneter Aggression und Intervention übergegangen, um […] Marionetten zu schaffen. Es ist genau das gleiche wie die damalige Aggression Hitlers gegen die Tschechoslowakei …“61
Während die Sowjetunion in mehreren Fällen über andere Staaten herfiel und militärisch intervenierte, was Hunderte Menschenleben kostete – 1953 DDR, 1956 Ungarn 1968 Tschechoslowakei – hat sich China, von Ausnahmen
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abgesehen, gemäß seiner Doktrin vom polyzentrischen Internationalismus diesbezüglich zurückgehalten.
Held oder Henker? Laut offiziellem chinesischen Narrativ beendete Mao Tse-tung mit der Gründung der Volksrepublik China demütigende Fremdherrschaft, koloniale Ausbeutung sowie den blutigen Bürgerkrieg mit Chiang Kai-shek um die Vorherrschaft in China. Letzteres ist vielleicht eines seiner größten Verdienste, denn laut dem Staatsphilosophen Thomas Hobbes ist der Bürgerkrieg der schlimmste aller Kriege, weil dort der anarchische ‚Kampf aller gegen alle‘ (bellum omnium contra omnes) herrscht. Hobbes empfiehlt den vom Bürgerkrieg geplagten Menschen, auf ihre natürlichen Rechte zu verzichten und sie in einem Gesellschaftsvertrag einem Autokraten (oder autokratischem Gremium) zu übertragen, selbst wenn dieser ein Despot sein sollte. Hauptsache der Bürgerkrieg wird beendet, Sicherheit und Ordnung wieder hergestellt und vom Machthaber garantiert. Mao ging genau diesen von Hobbes vorgezeichneten Weg (freilich ohne Bezugnahme auf Hobbes) und beendete den blutigen Bürgerkrieg gegen die Kuomintang siegreich. Getragen von der Kommunistischen Partei und der ihm ergebenen Armee, gründete er am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China und machte sich zum Autokraten des riesigen, kaum regierbaren China, in dem bei seiner Machtübernahme bereits rund 500 Millionen Menschen lebten. Zu Maos Verdiensten zählt, dass er mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Verwaltungsreform effiziente bürokratische Strukturen und Institutionen schuf, die bis auf Dorfebene hinabreichten und die Voraussetzung für einschneidende Reformen bildeten. Es war ihm klar, dass das agrarisch geprägte China mit seinen Millionen verarmten analphabetischen Bauern nur mit einer gewaltigen Kraftanstrengung aus seiner Rückständigkeit befreit werden konnte. Dazu bedurfte es jedoch einer Ideologie, mit der sowohl die autokratisch-hierarchische Staatsform als auch die oft drastischen Maßnahmen (wie z. B. die Enteignung der Grundbesitzer) begründet und legitimiert werden konnten. Die programmatischen Leitlinien der maoistischen Diktatur lassen sich stichwortartig so beschreiben: „Absoluter Staatskonformismus, bedingungslose Gefolgschaft, Unterdrückung der eigenen
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Entfaltung, permanente Indoktrination durch Staatspropaganda, Unterbindung jeglicher Privatsphäre [und] Herabwürdigung menschlichen Lebens.“62 Tatsache ist, dass Mao Tse-tung China zu einem funktionierenden Staat machte und damit die Grundlage zum Aufstieg des Milliardenvolkes zur Weltmacht schuf. Verdienstvoll war auch sein Konzept des polyzentrischen Internationalismus, der – im Gegensatz zur aggressiv-expansiven Breschnew-Doktrin des ideologischen Konkurrenten UdSSR – militärische Interventionen in Nachbarstaaten theoretisch ausschloss, in der Praxis freilich mit der Ausnahme vom Nachbarland Tibet, das die Chinesische Volksbefreiungsarmee 1950 gewaltsam annektierte. Auch der chinesische Anspruch auf die ehemalige chinesische Provinz Taiwan, die dem chinesischen Festland vorgelagerte Insel, auf die sich der Verlierer des Bürgerkriegs, Chiang Kaishek, mit seinen Anhängern zurückgezogen hatte, sowie die de facto Annexion von Hongkong (auch einstiges chinesisches Territorium) sprechen eine andere Sprache. Daneben gab es im Koreakrieg eine militärische Intervention auf der Seite Nordkoreas. Das beweist, dass propagierte ideologische Grundsätze schnell aufgeweicht oder aufgegeben werden, wenn nationale Interessen es nahelegen. Die von Mao Tse-tung begründete Diktatur des Proletariats in China war ihrem Wesen nach eine Despotie des arroganten maoistischen Dogmatismus, eine zentralistische Einparteienherrschaft mit katastrophalen Folgen für das Land. Denn dieses autokratische, auf die Person Maos zugeschnittene System besaß eine gravierende Schwäche: Machte der ‚Große Vorsitzende‘, der auf keine Ratgeber hörte und dem niemand zu widersprechen wagte, Fehler, so hatte das verhängnisvolle Konsequenzen für Millionen von Menschen. Auch die von Mao geschaffene breite Erfassung und propagandistische Mobilisierung der Volksmassen – eine wichtige Voraussetzung für durchgreifende Reformen – barg das Risiko großer Rückschläge. Maos unbändiger Ehrgeiz, den Sozialismus auf schnellerem Weg als in der Sowjetunion aufzubauen und die Führung bei der kommunistischen Weltrevolution zu übernehmen, veranlasste ihn zu undurchdachten Experimenten: so beim ‚Großen Sprung nach vorn,‘ der in einer Hunger-Katastrophe endete. Geht man davon aus, dass Mao wegen seiner ökonomischen Inkompetenz diese verhängnisvollen Konsequenzen nicht voraussehen konnte und als höhere Gewalt eine Dürreperiode hinzukam, die Missernten verursacht hatte, so trägt er zwar keine persönliche Schuld am Hungertod von Millionen Menschen; aber als Initiator
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dieses Experiments war er für die Katastrophe dennoch verantwortlich. Ganz anders sieht es bei der Hundert-Blumen-Kampagne aus. Er wollte mit dieser Kampagne die Intellektuellen aus der Reserve locken und zu konstruktiver Kritik ermuntern. Als die Kritiker jedoch Meinungsfreiheit forderten, das herrschende System kritisierten und damit an den Grundfesten der Diktatur der KPC und an Maos persönlichem Despotismus rüttelten, ließ er sie verhaften und viele von ihnen exekutieren. Die Hundert-Blumen-Kampagne entpuppte sich als heimtückische Falle. Doch Mao Tse-tungs schlimmstes Verbrechen war zweifellos die Millionen von Opfern fordernde Kulturrevolution, die Mao selber als „Bürgerkrieg“ bezeichnete. Er, der selbst einst einen blutigen Bürgerkrieg beendet hatte, brach nun selbst einen vom Zaun. Offizielles Ziel der Kampagne war die Beseitigung reaktionärer Tendenzen unter Parteikadern, Lehrkräften und Kulturschaffenden. In Wahrheit aber wollte Mao, der nach dem Fehlschlag des ‚Großen Sprungs‘ in der KPC seine dominierende Machtposition verloren hatte und ins Abseits gedrängt worden war, wieder an die Spitze der Partei. Durch das entstehende bürgerkriegsähnliche Chaos sollte seine Rückkehr an die Macht und die Beseitigung seiner innerparteilichen Gegner, insbesondere Liu Shaoqi, erreicht werden. Die zahllose Opfer fordernde ‚Große Proletarische Kulturrevolution,‘ in der in China zehn Jahre lang ein Klima der Angst und Denunziation herrschte und von Mao aufgehetzte Jugendliche zahlreiche Menschen töteten und misshandelten, war von Mao einzig zu dem Zweck von Zaun gebrochen worden, ihn wieder zur Nummer Eins in China zu machen. Das gelang. Seine innerparteilichen Gegner wurden wegen ‚Landesverrats‘ verhaftet, getötet oder durch körperliche Arbeit ‚resozialisiert‘. Der Historiker Frank Dikötter schreibt: „Die Jahrzehnte unter Mao sind geprägt vom Verschwinden von zig Millionen Menschen, sie sind verhungert, totgeschlagen oder vernachlässigt worden. Doch diese Jahrzehnte werden in der Geschichte, so wie China sie erzählt, einfach nur als Übergangszeit beschrieben.“63
Die Exzesse der Roten Garden gegen die Intellektuellen und Vertreter der älteren Generation wurden von Mao nicht nur toleriert, sie waren von ihm gewollt. In den zehn Jahren der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 wurden zwischen 1,5 und 1,8 Millionen Menschen getötet; manche Schätzungen gehen von bis zu acht Millionen Opfern aus.64 Dies und die Opfer seiner anderen undurchdachten Experimente wie der „Große Sprung nach
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vorn“ machen Mao Tse-Tung zu einem der größten Schlächter der Geschichte. Der ‚Große Vorsitzende‘ , eigentlich ein überzeugter Republikaner, sah sich in der Tradition der despotischen chinesischen Kaiser. Sein großes Vorbild war Qin Shihuangdi, ein besonders grausamer Herrscher Chinas, der im Jahr 221 n. Chr. das Reich der Mitte mit äußerster Brutalität geeint hatte. Während sein leidgeprüftes Volk unter den ihm aufgebürdeten schweren Lasten und Zwängen stöhnte, genoss Mao Tse-tung große Privilegien. Er setzte sich über alle althergebrachten konfuzianischen Moralvorstellungen hinweg, ergab sich der Völlerei und führte ein ausschweifendes Sexualleben. Er gönnte sich persönlichen Luxus und Komfort mit eigenen Autos, Bädern und Villen; dank privater Sonderkonten verfügte er über riesige Geldsummen. Ein Historiker charakterisiert ihn so: „Mit äußerster Brutalität und Menschenverachtung unterdrückte Mao jede Opposition im Land und überzog China mit einem Netz aus Terror und Misswirtschaft. Er war schlau, gerissen und instinktsicher, und besonders in späteren Jahren nur sich und seinen Interessen verpflichtet, ausgestattet mit einem absoluten Willen zur Macht.“65
Wie sich beim Scheitern seiner Kampagnen ‚Hundert Blumen‘ und ‚Großer Sprung nach vorn‘ zeigte, tolerierte der von seiner eigenen historischen Größe geblendete Egomane Mao weder Kritik noch andere Meinungen. „Durch diese unbegrenzte Macht bis ins Mark korrumpiert, bestimmte schließlich tiefes Misstrauen den Umgang selbst mit seiner engsten Umgebung. Mao schottete sich am Ende gegen alles und jeden ab und vertraute nur noch sich selbst. Er verlor den Bezug zur Realität, zu seinem eigenen Volk.“66
Mehr als ein Vierteljahrhundert lang bestimmte Mao die Geschicke seines Landes und zwang dem chinesischen Volk seinen Willen auf. War er zu Anfang ein überzeugter Kommunist und dem Wohl Chinas verpflichtet, so war er später nur noch am Machterhalt interessiert. Der skrupellose Diktator riet dem Kreml-Herrscher Chruschtschow, den Westen herauszufordern, um einen Atomkrieg zwischen Ost und West herbeizuführen. Zwar würden im schlimmsten Fall große Teile der Erde verwüstet, aber dafür würde „der Imperialismus ausgelöscht und die ganze Welt sozialistisch.“67 Nach der Machtübernahme 1949 hat Mao Tse-tung die Öffentlichkeit wissen lassen, man habe 800.000 „konterrevolutionäre Elemente“ liquidiert. Chinas Eingreifen in den Koreakrieg 1950 kostete zwischen 500.000 und 900.000 „Freiwillige“ das Leben. 30–43 Millionen Menschen sollen infolge 292
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des ‚Großen Sprungs‘ und der nachfolgenden Hungersnot umgekommen sein. Für die ‚Kulturrevolution‘ schwanken die Schätzungen zwischen 1,5 und 1,8 Millionen Tote. Dementsprechend kalkulieren Historiker die Gesamtzahl der Opfer, die auf Maos Konto gehen, auf bis zu 70 Millionen Tote. Mögen diese Zahlen auch umstritten sein – eine echte Aufarbeitung von Maos Gewaltherrschaft hat es in China nie gegeben. Die Grenzen der Beurteilung der Ära Mao wurden 1981 durch Parteibeschluss offiziell festgelegt. Danach ist Kritik an der Person des ‚Großen Vorsitzenden‘ tabu. „Bis heute hört man in China – auch von offizieller Seite – immer wieder, dass 30 % von dem, was Mao gemacht habe, schlecht gewesen sei, 70 % hingegen gut. Der ökonomische Aufschwung und die langsame Öffnung Chinas kamen jedoch erst nach Maos Tod 1976 – unter der Führung Deng Xiaopings.“68
Es war der von Deng angestoßene gigantische Wandel und die vielen Umbrüche, die dem Land zu neuer Weltgeltung verhalfen: Die Einführung marktkapitalistischer Prinzipien (was freilich zur Spaltung der chinesischen Gesellschaft in Reich und Arm führte) sowie die Forcierung technologischer Innovationen (Robotik, Raumfahrt, Digitalisierung) machten China zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht auf dem Planeten. Zur Bilanz gehört auch, dass ein autoritär regierter Einparteienstaat Seuchen wie die Corona-Pandemie weitaus schneller in den Griff bekommen kann als liberale Demokratien, allerdings nur mittels schwerer Einschränkungen und Repressalien. Ein Staat mit strikten hierarchischen Organisationsstrukturen, der ganze Städte oder Provinzen von der Außenwelt isolieren und in Quarantäne nehmen kann, ist bei Katastrophen dieser Art im Vorteil. Dennoch konnte das wiederholte Aufflackern der Covid-19-Seuche nicht verhindert werden.69 Mao bleibt als Identitätsstifter. Der seit Jahrzehnten tote Vorsitzende überlebte alle sozialen Umwälzungen und politischen Krisen. Mao bleibt im kollektiven Gedächtnis der Chinesen ein Nationalheld, ein großer Denker und Gelehrter, die große Identifikationsfigur. Unbestreitbar ist, dass Mao die Grundlagen für die politischen und organisatorischen Strukturen schuf, mit denen das Milliardenvolk zur Weltmacht aufgestiegen ist.
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Stepan Bandera Verehrter Nationalheld und verhasster Massenmörder
An kaum einem Nationalhelden scheiden sich die Geister so diametral wie am Ukrainer Stepan Bandera. Die Einordnung seiner Person und seines Wirkens ist bis heute extrem umstritten. In der Ostukraine sowie in Polen und Russland gilt er als Faschist, Kriegsverbrecher und NS-Kollaborateur. Die meisten Westukrainer hingegen verehren Bandera als Volksheld und Widerstandskämpfer, der sich sowohl gegen die sowjetischen als auch gegen die deutschen Aggressoren gewehrt hatte. In der Westukraine gibt es BanderaDenkmäler, vier Bandera-Museen; viele Straßen sind nach ihm benannt und in Lwiw (Lemberg), ist ein Bandera-Mausoleum geplant. In internen ukrainischen Machtkämpfen wurde Banderas Gedenken instrumentalisiert. So wurde ihm 2010 von Präsident Viktor Juschtschenko für seinen „Kampf für
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die Freiheit der Ukraine“ der Ehrentitel „Held der Ukraine“ verliehen, worauf sein Nachfolger im Präsidentenamt, Viktor Janukowitsch, Bandera den Heldenstatus noch im selben Jahr wieder aberkannte. „Tiefer Hass und tiefe Verehrung, Verräter oder Freiheitskämpfer – wie kommt es, dass ein Mann mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod 1959 immer noch so gegensätzliche Gefühle hervorruft?“, fragte der Spiegel 2014.1 Fakt ist: Dieser Streit um die Bewertung Banderas symbolisiert die Zerrissenheit des Landes und zeigt, wie gespalten die Ukraine bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist, und wie schwierig es ist, sich auf eine gemeinsame Bewertung zu einigen.2 Doch mit dem von dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am 24. Februar 2022 begonnen Krieg gegen die Ukraine schlossen sich die Reihen, und der Bandera-Kult erhielt einen neuen Schub. Man erinnerte sich jetzt wieder an seinen heldenhaften Kampf gegen die militärisch haushoch überlegenen deutschen und russischen Aggressoren im Zweiten Weltkrieg. Der Nationalheld wurde erneut zur Symbolfigur des Widerstands. Der Streit um Stepan Bandera hat historische Wurzeln, die bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichen – eine Zeit, in der die Ukrainer ein Volk ohne Staat waren. Mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie nach dem Krieg hatten Völker wie Polen, Tschechen und Ungarn souveräne Nationalstaaten gegründet. Auch bei den Ukrainern entstand der Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat. Zwar wurde 1918 eine ‚West-Ukrainische Volksrepublik‘ ausgerufen, doch sie konnte – dominiert von den Nachbarmächten Polen und Russland – nicht bestehen. Galizien im Westen kam 1921 zu Polen; andere Teile fielen an die Tschechoslowakei und Rumänien. Im Osten wurde 1922 die Ukrainische Sowjetische Sowjetrepublik (USSR) Mitglied der neu gegründeten Sowjetunion (UdSSR). Damit waren die ukrainischen Gebiete zweigeteilt. Ein Teil gehörte als Sowjetrepublik zur UdSSR, ein anderer Teil stand unter der Herrschaft der polnischen Regierung. Doch Nationalisten wie Stepan Bandera wollten sich mit dieser Situation nicht abfinden und kämpften ab 1929 in der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gegen die als Besatzer empfundenen Polen und Russen und für ihren Traum einer Groß-Ukraine. Dabei schreckten sie auch vor terroristischen Maßnahmen nicht zurück.
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___________________________________________________ Wer war Stepan Bandera?
Wer war Stepan Bandera? Stepan Bandera wurde 1909 als Sohn eines patriotischen griechisch-katholischen Priesters im galizischen Staryj Uhryniw geboren, das damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte und nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wurde. Nach seinem Schulabschluss studierte er ab 1928 am Polytechnikum Lemberg (Lwiw), an dem zur damaligen Zeit nur wenige Studiengänge auch Ukrainern offenstanden. Schnell begeisterte sich der junge Bandera für die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung, die sich in der galizischen Hauptstadt Lemberg gebildet hatte und von den polnischen Behörden brutal unterdrückt wurde. Er schloss sich dem radikalen Flügel der OUN an, in deren Hierarchie der charismatische Redner rasch aufstieg, sodass er schon mit Beginn der 1930er Jahre zum Führungskader gehörte. 1940 kam es zur Spaltung in eine konservative OUN-M unter der Führung von Andrij Melnyk3 und eine revolutionäre OUN-B unter der Leitung Banderas (das ‚M‘ steht für Melnyk, das ‚B‘ für Bandera). Unter Bandera radikalisierte und brutalisierte sich die OUN; sie wurde terroristisch und verübte Anschläge gegen die ‚polnischen Besatzer‘. Am 1. September 1930 beschloss die polnische Regierung die ‚Befriedung‘ der ukrainischen Gebiete und startete eine zehn Wochen andauernde Strafaktion, bei der nach ukrainischer Darstellung mehr als 1.700 Menschen, vorwiegend Studenten und Schüler, verhaftet und viele Frauen vergewaltigt wurden. Organisiert hatte die Strafaktion, bei der 13 Menschen getötet wurden, der polnische Innenminister Bronisław Pieracki; er wurde auf Geheiß von Bandera 1934 von der OUN erschossen, weil ihn die OUNNationalisten für die Repressionen gegen die ukrainische Minderheit verantwortlich machten. Es gab aber auch noch einen anderen Grund für die Ermordung Pierackis. Bandera, der Anfang 1933 zum Prowidnyk („Führer“) der OUN gewählt worden war, wollte „durch die Radikalisierung des polnisch-ukrainischen Konflikts eine nationale Revolution in der Westukraine“ herbeiführen.4 Ideologisch orientierte sich die OUN am italienischen Faschismus mit seinem ausgeprägten Führerkult und „konzipierte zugleich einen ukrainischen Faschismus. Die OUN verstand den Faschismus als eine Ideologie, die den ukrainischen Nationalismus in seinem Kampf für einen Staat stärkte. Aus diesen Gründen arbeitete sie mit Mussolini, der kroatischen Ustascha und den deutschen Nationalsozialisten zusammen.“5
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Stepan Bandera ___________________________________________________________
Bandera wanderte in Warschau ins Zuchthaus, weil man ihm eine Beteiligung an der Ermordung von Pieracki vorwarf. Als ihm in Warschau der Prozess gemacht wurde, weigerte er sich, vor Gericht die polnische Sprache zu sprechen, was ihn bei seinen Anhängern zum Helden machte. Sie verteilten Flugblätter mit seinem Konterfei, auf denen es hieß: „Sterben, aber niemals verraten! Eisen und Blut werden über uns richten!“ 1935 wurde Bandera als Drahtzieher des Attentats auf Pieracki zum Tode verurteilt. Zum Heldenstatus gesellte sich jetzt noch der eines Märtyrers. Die Todesstrafe wurde jedoch in lebenslange Haft umgewandelt, von der er nur vier Jahre absitzen musste. Mit der Besetzung Polens durch die Wehrmacht im September 1939 kam er wieder frei, weil die deutsche Führung glaubte, in Bandera und seiner OUN einen willigen Verbündeten gegen die Sowjetunion gefunden zu haben.6 Die Invasion der Wehrmacht in die UdSSR sah Bandera als Chance, endlich den ersehnten ukrainischen Nationalsstaat unter deutscher Duldung zu bekommen. Deshalb kämpften auch die ukrainischen Freiwilligenbataillone ‚Nachtigall‘ und ‚Roland‘ 1941 aufseiten der Wehrmacht gegen die Sowjetunion. Bereits vor dem Krieg waren im Generalgouvernement unter deutscher Aufsicht aus den Reihen der OUN Kampfverbände wie die ‚Legion Ukrainischer Nationalisten‘ gebildet worden. Während Bandera sich zu Verhandlungen mit der NS-Führung in Krakau aufhielt, marschierten seine OUN-Truppen in Lemberg (Lwiw) ein, und sein Mitstreiter Jaroslaw Stezko rief am 30. Juni 1941 auf dem Marktplatz eine unabhängige Ukraine aus – freilich ohne Rücksprache mit der deutschen Führung. Stezko wurde umgehend zum ‚Regierungschef‘ ernannt. Es war der Versuch, vollendete Tatsachen zu schaffen, denn die Wehrmacht hatte Lemberg noch nicht erreicht. Doch der von der OUN-B ausgerufene ukrainische Staat wurde von Hitler nicht akzeptiert. Da Bandera sich weigerte, die Proklamation zu widerrufen, wurde er verhaftet und als politischer Sonderhäftling im KZ Sachsenhausen interniert. Es war in Lemberg, wo sich ein Schatten auf die Gestalt des Nationalisten Bandera legte.7 Lemberg im Zentrum Galiziens galt seit den Zeiten der Habsburger Doppelmonarchie als östlichste Stadt Mitteleuropas – ein multikultureller und multikonfessioneller Schmelztiegel. Doch nach dem Krieg zerbrach der österreichische Vielvölkerstaat an der Sprengkraft des Nationalismus und die friedliche Symbiose der Kulturen wurde beendet. Lemberg
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_________________________________________________________ Pogrome an Juden
wurde zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen den dominierenden Polen und ukrainischen Nationalisten. Dabei gerieten die Juden zwischen die Fronten: beide Seiten unterstellte ihnen nationale Unzuverlässigkeit. Als die deutschen Truppen sich zum Angriff auf Lemberg anschickten, lebten dort etwa 160.000 Polen, 110.000–150.000 Juden und 50.000 Ukrainer.8 Am 22. Juni 1941 überschritten die Truppen der deutschen Wehrmacht ohne Kriegserklärung die Grenzen der Sowjetunion. Die OUN begrüßte den Invasion der Deutschen in die Sowjetunion; wie von den SS-Einsatzgruppen erhofft, beteiligten sich Ukrainer schon in den ersten Tagen des deutschen Angriffs an der Verfolgung und Erschießung von Juden. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Lemberg übernahmen von Banderas OUN-B aufgestellte Milizen die Polizeigewalt in der Stadt und beteiligten sich an Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. Angeheizt wurde die Pogromstimmung durch einen wenige Tage zuvor begangenen Massenmord des sowjetischen Geheimdienstes NKWD an etwa 4.000 ukrainischen Häftlingen. „Am 25. und 26. Juni 1941 hatte es einen Aufstand ukrainischer Nationalisten gegeben, die in den Deutschen die Befreier ihres Landes von der Sowjetherrschaft sahen. Viele von ihnen waren daraufhin von Angehörigen des NKWD in den Lemberger Gefängnissen inhaftiert worden. Aufgrund des raschen Vormarsches der deutschen Truppen und fehlender Transportmittel hatte sich das NKWD entschlossen, die Mehrheit der 5.000 politischen Häftlinge zu ermorden.“9
Die ursprüngliche Absicht des NKWD, die Häftlinge zu evakuieren, war durch den raschen Vormarsch der deutschen Truppen und den Aufstand vereitelt worden. Doch warum führte das Massaker des sowjetischen Geheimdienstes zu antijüdischen Ausschreitungen?
Pogrome an Juden In der aufgeheizten Atmosphäre wurde Lemberg (Lwiw) bald zum Schauplatz wüster Ausschreitungen. Es gibt unterschiedliche Berichte über die Ereignisse in dieser Stadt. So fand ein, „wie manche Historiker meinen, sehr heimtückisch-raffiniert von Deutschen arrangiertes, antisowjetisches und antipolnisches Pogrom statt. Aber zum großen Teil auch ein antijüdisches. Wodurch es hervorgerufen wurde, welche seine treibenden Kräfte
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Stepan Bandera ___________________________________________________________ waren, wer wen erschlug, welche Rolle dabei Ukrainer, Polen und Deutsche spielten, wer in die Wohnhäuser eindrang und dort die Menschen verprügelte und wer sie erschoss – darüber gibt es mehrere einander ausschließende Versionen. Zwar war Bandera selbst nicht in Lwiw, aber dort war das ukrainische Bataillon ‚Nachtigall‘ und in Lwiw herrschten ukrainische nationalistische Milizen.“10
Das Kriegstagebuch des 49. Armeekorps notiert: „Unter der Bevölkerung herrscht über die Schandtaten der Bolschewisten rasende Erbitterung, die sich gegenüber den in der Stadt lebenden Juden, die mit den Bolschewisten zusammengearbeitet haben, Luft macht.“11 Ein Offizier der Stadtkommandantur schreibt an seine Frau: „Juden werden erschlagen – leichte Pogromstimmung, so unter den Ukrainern.“12 Diese Stimmung wurde durch Flugblätter der deutschen Besatzer geschürt, auf denen die Verantwortung für die Morde an den ukrainischen Häftlingen „jüdischen Bolschewiken“ zugeschoben wurden. Auch Plakate eines ‚Ukrainischen Nationalen Komitees‘ forderten den Tod von Juden und Kommunisten. Ukrainische Milizen bereiteten durch Verhaftungen von ca. 3.000 Juden deren Massenerschießung durch eine Einsatzgruppe der deutschen Sicherheitspolizei am 5. Juli 1941 vor. Bandera selbst befand sich allerdings an diesem Tag nicht in Lemberg, sondern in Krakau; demnach war er persönlich nicht an dem Pogrom beteiligt. Ob er anderweitig – etwa per Anordnung – involviert war, ist umstritten.13 Doch Fakt ist: Bandera war der Anführer der antisemitischen, ultranationalistischen OUN-B, die einen ethnisch homogenen ukrainischen Nationalstaat errichten wollte. Darin hatten Juden und Polen keinen Platz; sie sollten entweder deportiert oder liquidiert werden. Nachdem die ukrainischen Milizen die Polizeiposten besetzt und deren Funktionen übernommen hatten, organisierten sie die Hetzjagd auf die Lemberger Juden. Sie wurden zusammengetrieben und mussten auf Weisung des Stadtkommandanten die Leichen der vom NKWD Ermordeten aus den Zellen und Massengräbern herausholen und zur Identifizierung im Hof der Gefängnisse niederlegen. Schon während des Zusammentreibens kam es zu schlimmen Misshandlungen. Höhepunkt der Quälereien war ein sich wiederholendes Ritual. Eines der Opfer hat es so geschildert: „Nachdem wir mit dem Bergen der Leichen fertiggeworden waren, wurden wir im Dauerlauf im Innenhof herumgetrieben […] Während des Laufens […] hörte ich das deutsche Kommando: ,Spießrutenlaufen‘ oder ,Antreten zum Spießrutenlaufen‘. Dieses
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_________________________________________________________ Pogrome an Juden Kommando muss meiner Erinnerung nach von einer Gruppe deutscher Wehrmachtsangehöriger gekommen sein, die etwas abseits der Leichengrube standen und während der ganzen Zeit zuschauten. […] Es handelte sich um Offiziere […]. Auf diesen deutschen Befehl hin stellten sich die ukrainischen Soldaten in einem Spalier auf und pflanzten das Seitengewehr auf. Durch dieses Spalier mussten nun die auf dem Hof befindlichen Juden hindurchlaufen, wobei die ukrainischen Soldaten auf sie einschlugen und einstachen. […] Diese ersten Juden, die durchlaufen mussten, wurden fast sämtlich durch Bajonettstiche getötet.“14
Der Terror steigerte sich und verbreitete sich in ganz Lemberg. Ein Augenzeuge, der deutsche Soldat Lothar-Günther Hochschulz, traf bei einem Rundgang durch die Stadt auf Juden, die von prügelnder ukrainischer Miliz fortgetrieben wurden. „Wer sich hinwarf, um nicht weitergehen zu müssen, wurde buchstäblich totgeschlagen, wie tollwütige Hunde. Hernach kamen Trupps mit Karren, die die erschlagenen Juden auflasen.“ Hochschulz wurde zu einem der Gefängnisse geführt, wo er Massengräbern sieht. „Ich kehrte um, rannte hinaus, über den Hof, weg, blos weg von hier! Ich fand die Zaunlücke wieder, da knatterte eine Maschinenpistole. – Zusammengetriebene Juden werden auf dem Hofe erschossen.“15 Diese Ausschreitungen geschahen unter den Augen deutscher Offiziere, welche die öffentliche Hetzjagd nicht unterbanden, wobei ein Befehl jede Anwendung von Waffengewalt gegen mordende ukrainische Zivilisten und Milizionäre untersagte. Der Einsatz der Deutschen beschränkte sich auf die äußere Sicherung der Gefängnisse und auf die Kontrolle der Abläufe im Inneren, wo sich ebenfalls schreckliche Szenen abspielten.16 Die von den Deutschen aufgestellten ukrainischen Hilfspolizeieinheiten, nun offiziell ‚Schutzmannschaft‘ genannt, gingen in den Kompetenzbereich des SS- und Polizeiapparates über. Als Angehörige letzterer waren Ukrainer hier auch von Anfang an in die Vernichtung der Juden als einer der tragenden ethnischen Gruppen des Landes involviert. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1941 wähnte sich Bandera am Ziel seiner Pläne. In ganz Galizien wurde die (vermeintliche) Unabhängigkeit gefeiert und der OUN-Führer bejubelt: Fahnen mit seinem Porträt wurden gehisst, auf denen er neben dem Konterfei von Hitler zu sehen war. Bandera verhandelte in Krakau mit NS-Führern und warb für sein Anliegen der Errichtung eines ukrainischen Nationalstaats. In völliger Verkennung der deutschen Kriegsziele und totaler Unkenntnis der NS-Ideologie
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Stepan Bandera ___________________________________________________________
von der Hierarchie der Rassen (die den slawischen Völker eine inferiore Stellung zuwies) pries er die Invasion der Wehrmacht und beschwor die gemeinsame Gegnerschaft zu Sowjetrussland. Doch er hatte sich verrechnet. Man erteilte dem Advokaten der ukrainischen Unabhängigkeit eine klare Abfuhr: Nur der ‚Führer‘ könne über einen ukrainischen Staat befinden. Bandera konterte, nur die Ukrainer könnten politische Entscheidungen in der Ukraine treffen. Die Ukrainer, die die Deutschen zunächst als Befreier von polnischer und sowjetischer Besatzung angesehen hatten, mussten bald erkennen, dass die deutschen Machthaber nur darauf aus waren, das Land rücksichtslos auszubeuten und dass sie die Ukrainer als ‚Untermenschen‘ genauso verachteten wie alle anderen Slawen. Hitler selbst erklärte, die Ukrainer seien „genauso faul, unorganisiert und nihilistisch-asiatisch wie die Großrussen“.17 Hohe NS-Funktionäre betonten, dass es keine freie Ukraine geben werde. Die rassistisch verbohrten Nazis wollten nicht die Geburtshelfer für einen unabhängigen Staat der ‚ukrainischen Untermenschen‘ sein. „Es gibt keine freie Ukraine“, tönte Reichskommissar Erich Koch: „Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten und nicht, daß wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt. Diese Aufgabe muß ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt werden […]. Für die […] Deutschen im Reichskommissariat ist […] maßgebend, daß wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist.“18
Damit war klar: Der von der OUN-B und Banderas Mitstreiter Jaroslaw Stezko am 30. Juni 1941 in Lemberg ausgerufene unabhängige ukrainische Staat hatte keine Chance: Er passte nicht in die Eroberungspläne der Nationalsozialisten mit ihrem Ziel der Unterwerfung und Versklavung der ‚slawischen Untermenschen‘. Gerade einmal fünf Tage währte der Traum von der unabhängigen Ukraine, fünf Tage lang konnte sich die OUN am Ziel wähnen und hoffen, dass die Deutschen den Ukrainern tatsächlich Autonomie gewähren würden. Doch bereits am 6. Juli 1941, gerade einmal eine Woche nach der Ausrufung des ukrainischen Staates, wurden Bandera und seine Mitstreiter verhaftet, nach Berlin gebracht und im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Die ukrainischen Funktionäre wurden teils erschossen, teils ebenfalls ins KZ geworfen; zwei Brüder Banderas wurden nach Auschwitz gebracht und dort von polnischen Mithäftlingen erschlagen. Die UPA, der militärische Arm der OUN in der Westukraine, ging in den Untergrund. Jetzt
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_________________________________________________________ Massaker an Polen
kämpften ukrainischen Partisanen an allen Fronten. „Wir wollen nicht für Moskau, die Juden, die Deutschen und andere Fremde arbeiten, sondern für uns […]. Wir schaffen einen selbständigen ukrainischen Staat oder gehen für ihn zugrunde“, hieß es in einem OUN-Flugblatt.19 Allerdings kämpfte die UPA, selbst aufgesplittert in mehrere Flügel, mit ihren rund 30.000 Partisanen weniger gegen die deutschen Besatzer, sondern vor allem gegen Polen und Russen, die aus ihrer Sicht viel schlimmeren Feinde. „Es lag daher nicht im Interesse der UPA, die Deutschen in ihrem Kampf gegen die Rote Armee zu schwächen oder die Repressalien der SS gegen die Polen zu konterkarieren.“20
Massaker an Polen Die Minoritäten-Politik der OUN-B sah die Entfernung der Polen, Juden und Russen aus Galizien und Wolhynien mittels Deportation vor und plante die Vernichtung ihrer jeweiligen Intelligenzia. Die polnischen Bauern müssten assimiliert und ihre Führer liquidiert werden. Der Theorie folgte bald die Praxis: Im Spätjahr 1942, als Bandera im KZ saß, war seine Organisation UPA in Massaker an Polen in Wolhynien verwickelt, die im Frühjahr 1944 auch in Ostgalizien stattfanden. Ihren Höhepunkt hatten die Exzesse im Juli und August 1943, nachdem der Befehlshaber der Gruppe UPA-Nord, Dmytro Kljatschkiwskyj, in einer Direktive die Liquidierung aller „polnischen Elemente“ zum Ziel erklärt hatte.21 Zwar sollten zunächst nur alle männlichen Polen im Alter zwischen 16 und 60 Jahre ermordet werden, doch die Opfer der Massaker waren meist polnische Frauen und Kinder.22 Diese Massaker an der polnischen Bevölkerung, die polnischerseits als „Wolhynische Gemetzel“ (rzeź wołyńska), ukrainischerseits als „Wolhynische Tragödie“ (Волинська трагедія) bezeichnet werden, fanden ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht statt. Die Mordaktionen der ukrainischen UPA-Milizen waren von größter Grausamkeit gekennzeichnet, denn bei den Gräueltaten fanden nicht nur Feuerwaffen, sondern auch Äxte, Beile, Spieße, Messer und Heugabeln zur Auslöschung der polnischen Bevölkerung Verwendung.23 So überfielen am 30. August 1943 ukrainische Nationalisten das Dorf Ostrowka in Wolhynien. Der Überlebende Aleksander Pradun, der während des Massakers fast seine ganze Familie verlor, erinnert sich:
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Stepan Bandera ___________________________________________________________ „Es ist kaum zu beschreiben: Alles schrie und weinte. Kinder, die unter den Leichen nach ihren Müttern suchten und erschossen wurden. Meine Mutter wollte, dass wir diesem Morden nicht länger zusehen. Sie drückte mich an sich – und dann schossen sie, erst auf meine Tante. Dann merkte ich, wie der Arm meiner Mutter erschlaffte – sie hatten sie getroffen. Ich lag regungslos da, um mich herum Totenstille. Und dann hörte ich die Ukrainer rufen: ‚Die polnische Fresse liegt hier, besiegt!‘“24
Ein weiterer Überlebender der Massaker, Zygmunt Maguza, berichtet von der bestialischen Ermordung seiner Familie: „Auf dem Tisch stand Brot. Oma hat es gebacken, dachte, dass wir vielleicht kommen. Die Tür in die Stube war angelehnt. Rechts sah ich den Opa liegen. Links Oma und Weronika. Ich guckte rein, der Opa hatte keinen Kopf mehr. Ich hob ihn an, da spritzte das Blut! Ich hatte nur ein Hemd und eine kurze Hose an, war barfuß. Oma hatte ein Schlafhemd an, jemand hatte sie mit der Axt von oben nach unten durchgetrennt. Daneben – die 11-jährige Weronika Stankiewicz. Sie war nicht nur erschossen worden, sondern auch von oben nach unten zerhackt.“25
Nach Schätzungen polnischer Historiker fielen den Gemetzeln bis zu 80.000 Polen zum Opfer (in Wolhynien bis zu 60.000 und in Ostgalizien ca. 20.000). Zählt man die übrigen Gebiete der Ukraine hinzu, wurden 100.000, möglicherweise bis zu 300.000 Menschen – meist Frauen, Kinder und unbewaffnete Männer – von ukrainischen Nationalisten getötet und ca. 300.000 vertrieben (die Zahlen sind umstritten).26 Diese ethnischen ‚Säuberungen‘ waren nicht auf die Polen beschränkt. „OUN-Mitglieder schlossen sich der ukrainischen Polizei im Distrikt Galizien und Wohlynien an. Sie und ebenso viele ‚gewöhnliche‘ Ukrainer halfen den deutschen Besatzern 800.000 Juden in der Westukraine zu ermorden. Der OUN kam das entgegen, weil es ein Teil ihres Plans war, die Ukraine in ein ethnisch-homogenes Land zu verwandeln.“27
Die Ukrainer hofften, durch die Beseitigung der Polen ihren künftigen Anspruch auf Wolhynien als ukrainisches Territorium untermauern zu können.28 Die Gräueltaten sollten unter den Polen eine Fluchtwelle auslösen; Ziel der Vernichtungsstrategie war ein völkisch homogener Nationalstaat – ein Konzept, wie es zu jener Zeit von vielen Politikern angestrebt wurde.29 Die Hauptverantwortung für den Terror lag bei den ‚Banderisten‘ der Bandera-OUN. Doch als der Beschluss zu den Massakern gefasst wurde und zu der Zeit ihrer Vollstreckung, saß Bandera im KZ und war somit nicht persönlich an diesen Verbrechen beteiligt. Auch dürfte er seit seiner Verhaf-
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tung im Sommer 1941 über die Ereignisse in der Ukraine kaum Bescheid gewusst haben. Doch wie aus seinen martialischen Äußerungen hervorgeht, kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Mordaktionen auch in seinem Sinne stattfanden. Im KZ erhielt Bandera einen Sonderstatus als sogenannter Ehrenhäftling: Er hatte eine größere möblierte Zelle mit einem Schlaf- und einem Wohnzimmer. Am 25. September 1944 wurde er überraschend aus der Haft entlassen. Er sollte ein ukrainisches Nationalkomitee gründen und an der Seite der Nationalsozialisten Aktionen des ukrainischen Widerstandes gegen die Rote Armee lenken; doch kam es wegen der rasch vorrückenden Roten Armee nicht mehr dazu. Im Dezember 1944 lehnte Bandera die von den Nationalsozialisten angebotene Zusammenarbeit ab. Da er in der Sowjetunion wegen seiner antisowjetischen Aktionen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, flüchtete Bandera im Herbst 1946 über Österreich nach München, wo er sich unter dem falschen Namen Stefan Popel jahrelang vor dem sowjetischen Geheimdienst KGB versteckte. 1947 wurde Bandera im Exil Vorsitzender der OUN und blieb dies bis zu seinem Tod. Seine Partisanen kämpften in der UdSSR noch bis in die 50er-Jahre für eine unabhängige Ukraine – was die Sowjets und der KGB mit brutalem Terror beantworteten, dem ca. 150.000 Westukrainer zum Opfer fielen; über 200.000 wurden nach Sibirien deportiert. Dies förderte den Heldenkult um seine Person. Am 15. Oktober 1959 ermordeten Agenten des KGB Bandera mit einer pistolenähnlichen Waffe, die Blausäuregas versprühte. Am 20. Oktober wurde er auf dem Münchener Waldfriedhof bestattet. Der Täter Bogdan Staschinski stellte sich und wurde am 19. Oktober 1962 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Bandera war nicht der einzige ukrainische Nationalist, der im Exil vom KGB ermordet wurde: Jewhen Konowalez wurde 1938 in Rotterdam mit einer Sprengfalle getötet. Nach der Ermordung Banderas wanderte seine Familie nach Kanada aus. Banderas Grab wurde in der Nacht auf den 17. August 2014 von Unbekannten verwüstet. 2015 legte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, einen Kranz an seinem Grab nieder und bekannte sich 2022 bei Twitter zu dem umstrittenen Nationalhelden.
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Held oder Henker? Mit dem Zerfall der Sowjetunion erlangte die Ukraine im Dezember 1991 nach einem Referendum mit 90,3 % Zustimmung ihre Unabhängigkeit und konstituierte den ersehnten Nationalstaat, der ihr so lange verweigert worden war. Es ist vor allem der Kampf gegen alle Besatzer, gegen die Nazis wie gegen die Sowjets, der den OUN-Aktivisten bis heute in der Ukraine den Heldenstatus als nationale Freiheitskämpfer eingebracht hat – mit Stepan Bandera an der Spitze. Für die Anhänger Banderas ist das bis heute der Beweis, dass ihr Held weniger ein NS-Kollaborateur als vielmehr ein Opfer des Dritten Reichs war, dem es allein um das Wohl einer freien Ukraine gegangen sei. Sein spektakulärer Märtyrertod befeuert seinen Heldenstatus bis heute. Doch gilt als unbestritten, dass die OUN-B in Lemberg Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung verübt hat und dass sie bei den Ausrottungsaktionen der SS Hilfestellung leistete. Banderas Gegner präsentieren gerne Fotos, die ihn inmitten deutscher Offiziere zeigen. Zudem machen sie ihn, obwohl er bis 1944 in Haft saß, mitverantwortlich für die Massaker, die die OUN und die daraus entstandene UPA 1943 sowohl an Juden als auch an der polnischen Zivilbevölkerung verübt hat. Ab 1943 gab es sogar eine ukrainische Division der Waffen-SS. Es ist dies das dunkelste Kapitel der ukrainischen Nationalbewegung; Bandera hat zwar nicht selbst an den Pogromen teilgenommen, was ihn aber nicht der Verantwortung enthebt, schreibt der Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe in seiner Bandera-Biografie. Banderas Aussagen erhärten den Verdacht, dass er die mörderischen Akte der OUN guthieß, zumindest tolerierte, hatte er doch in Reden und Dokumenten immer wieder zu Gewalttaten aufgerufen: „Tausende Menschenleben müssen geopfert werden […]. Unsere Idee ist so bedeutend, dass dafür nicht nur hunderte, sondern tausende Menschenleben geopfert werden müssen“, sagte er einmal vor Gericht.30 Deshalb trage Bandera die „moralische, ethische und politische Verantwortung“ für die Pogrome, so der Historiker. Während Bandera für die Ukrainer zum Helden des nationalen Befreiungskampfes gegen Nazis und Sowjets wurde, verurteilen Juden, Polen und Russen ihn als Faschisten, Nazi-Kollaborateur und Massenmörder. Der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 gab der Diskussion um die Figur Bandera neuen Auftrieb.
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_________________________________________________________ Held oder Henker?
Abb. 23: Stepan-Bandera-Statue in Ternopil.
So ist das Urteil des Shoa-Experten Götz Aly über Bandera eindeutig. Er schreibt: „Natürlich ist es völlig unsinnig, wenn Putin behauptet, in Kiew seien Neonazis an der Regierung“, aber: „Wie in Russland gibt es auch in der Ukraine sehr harte Rechtsradikale. Man sollte dieses Problem gerade in Deutschland nicht ignorieren. Der größte ukrainische Nazi-Kollaborateur und Antisemit Stepan Bandera hat inzwischen 40 Denkmäler in der Ukraine. Man muss sich klarmachen: Nachdem die Deutschen 1941 in der Ukraine einmarschiert sind, war die Kollaboration dort sehr weit verbreitet. Die Deutschen hatten 200.000 ukrainische Hilfspolizisten, von denen mindestens 40.000 unmittelbar an Juden-Erschießungen teilgenommen haben. Diese Kollaboration hat nach Osten hin immer weiter abgenommen. In der Ostukraine war sie schon sehr gering, im heutigen Russland hat es sie kaum noch gegeben – es existierte keine russische Hilfspolizei der deutschen Besatzer. Diesen historischen Hintergrund darf man nicht leugnen. Darauf spielt Putin zumindest untergründig an.“31
Doch fest steht, dass Banderas OUN vom Faschismus beeinflusst war. Der Historiker Rossoliński-Liebe schreibt: „Man kann [Bandera] sowohl als radikalen Nationalisten als auch als Faschisten bezeichnen. Er wurde von den faschistischen europäischen Diskursen geprägt. Offiziell haben ukrainische Nationalisten die Bezeichnung Faschismus nicht benutzt. Aber die
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Stepan Bandera ___________________________________________________________ inneren Diskurse und auch die Kontakte zu Mussolini, zu Hitlerdeutschland, die machen klar, dass die OUN den transnationalen Faschismus rezipiert hat, erst aus Italien, dann aus Deutschland und dann ihren eigenen ukrainischen Faschismus erfunden hat.“32
Putin begründete seinen Einmarsch in die Ukraine u. a. mit der Behauptung, in Kiew seien „Neonazis, Faschisten und Antisemiten“ an der Macht – groteske Vorwürfe, wenn man weiß, dass Ministerpräsident Selenskyj demokratisch gewählt und Jude ist. Allerdings gibt es in der Ukraine (wie in fast allen europäischen Ländern) rechtsradikale Gruppierungen, den sogenannten ‚Rechten Sektor‘, ein Zusammenschluss rechtsextremer ultranationalistischer Organisationen. Dazu schreibt der ukrainische Journalist und Sachbuchautor Victor Timtschenko: „Der Kern des ‚Rechten Sektor‘ war und ist die Organisation ‚Dreizack namens Stepan Bandera‘. Nicht nur der Chef des ‚Dreizack‘, Dmytro Jarosch, der Anführer des ‚Rechten Sektor‘, sondern auch die mit der Partei ‚Vaterland‘ von Julija Tymoschenko und der Partei ‚Udar‘ von Vitali Klitschko zusammenarbeitende rechte Partei ‚Freiheit‘ bekannte sich mehrmals zu den politischen und ideologischen Positionen Banderas. Sie schwingen die traditionellen schwarz-roten Fahnen, die unter Bandera die Symbole der ukrainischen Nationalisten waren, und als das Kiewer Rathaus von den Demonstranten gestürmt und besetzt wurde, hängte man dort als erstes ein Portrait Banderas auf.“33
Daneben gab es (bis zur russischen Eroberung der Stadt) das in Mariupol stationierte militant-chauvinistische Asow-Regiment, das den russischen Truppen bei ihrem Angriff auf die Stadt erbitterten Widerstand leistete. Doch all diese rechtsradikalen Organisationen sind Splittergruppen, die heute im politischen Spektrum der Ukraine nur noch eine marginale Rolle spielen. Damit entpuppt sich Putins Narrativ von der „faschistischen“ Ukraine, die „entnazifiziert“ werden müsse, als dreiste Kriegspropaganda. An Stepan Bandera scheiden sich bis heute die Geister. Man kann ihn als strammen Faschisten, Antisemiten, Juden- und Polenkiller sehen, aber auch als Ikone der ukrainischen Unabhängigkeit und Kämpfer gegen Sowjets und Nazis, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt und welche Teile seiner Biografie man zur Beurteilung seiner Person heranzieht. Die Russen halten ihn für einen Terroristen, Faschisten und Nazi-Kollaborateur. Für die Polen ist er ein ukrainischer Chauvinist und Protagonist einer ethnischen Säuberung mit Zehntausenden von Opfern. Die Juden wiederum betrachten ihn als Exponenten des ukrainischen Antisemitismus und Hauptverantwort-
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_________________________________________________________ Held oder Henker?
lichen für viele Pogrome seiner OUN, die der SS beim bei der Judenvernichtung Hilfestellung leistete. Fest steht, dass an den Händen des ukrainischen Nationalhelden viel Blut klebt. Damit neigt sich die Waagschale „Held oder Henker“ klar auf die des Henkers. Mit Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine erlebte der Bandera-Kult allerdings wieder eine Renaissance, und der Mythos vom heroischen Freiheitskämpfer erhielt neuen Auftrieb.34
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Mutter Teresa Fromme Nonne und umtriebige Geschäftsfrau
Zahlreich sind Mutter Teresas von Anerkennung und Respekt zollenden Titel: „Missionarin der Nächstenliebe“, „Heilige der Finsternis“, „Heilige der Gosse“, „Engel der Armen und Kranken“, „Große Humanistin und Philanthropin, „Größte Humanistin des 20. Jahrhunderts.“ Die „heilige Teresa von Kalkutta“ war eine indische Ordensschwester und Missionarin, die sich ihren Hospizen in den Armenvierteln von Kalkutta der Pflege von Schwerkranken und Sterbenden widmete, wofür sie 1979 den Friedensnobelpreis erhielt und in der Katholischen Kirche als Heilige verehrt wird. Doch die weltweit verehrte Kultfigur der Humanität ist aus mehreren Gründen umstritten. So wurden ihr untragbare Verhältnisse in den von ihr geleiteten Hospizen in Indien vorgeworfen. Die Kranken litten den Kritikern zufolge unter den dort herrschenden katastrophalen hygienischen Zuständen und waren unzureichend medizinisch versorgt. Viele seien gestorben, die hätten gerettet
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Mutter Teresa _____________________________________________________________
werden können. Ein weiterer Hauptvorwurf thematisiert die fragwürdige Motivation der Ordensfrau, die nach eigenen Aussagen der Missionierung den Vorrang vor der humanitären Hilfe einräumte. Wer war diese Frau, die trotz solcher Vorwürfe als universelle Ikone humanitärer Hilfsbereitschaft, als Fürsorgerin und Helferin der Armen und Kranken in die Geschichte eingegangen ist? Mutter Teresa, geb. Anjezë (Agnes) Gonxhe Bojaxhiu, kam am 26. August 1910 in Üsküp (heute Skopje) im damals zum Osmanischen Reich gehörenden Gebiet des heutigen Nordmazedonien zur Welt. Sie wuchs als Kind einer wohlhabenden katholischen albanischen Familie auf, ihr Vater war Kaufmann. Ihre Schulausbildung erhielt Agnes an einer katholischen Mädchenschule in Shkodra, dem Zentrum des albanischen Katholizismus, aus dem auch ihre Familie ursprünglich stammte. Angeblich schon im Alter von zwölf Jahren entschied sich Agnes für ein Leben als Nonne und trat mit 18 Jahren dem Orden der Loretoschwestern bei. 1929 legte sie ihre Ordensgelübde in Kalkutta ab und nahm den Namen der heiligen Thérèse von Lisieux, der Patronin der Weltmission an, die ihr zum großen Vorbild wurde. In Kalkutta war sie siebzehn Jahre an der St. Mary’s School als Lehrerin und Schulleiterin tätig.
Die Berufung – „Braut Christi“ Schon früh hatte sich Teresa in Kalkutta um die Ärmsten der Armen gekümmert, wie aus Briefen von 1937 zu entnehmen ist. Sie schreibt: „Jeden Sonntag besuche ich die Armen in den Slums von Kalkutta. Jede Familie hat dort nur einen engen, lichtlosen Raum, der etwa 2 mal 1,5 Meter groß ist. Die Decke ist so niedrig, dass man nicht aufrecht stehen kann. Ich beginne zu ahnen, warum so viele Kinder an Tuberkulose leiden. Es ist sehr schmerzhaft für mich, dieses Elend zu sehen, aber zugleich bin ich glücklich, weil ich spüre, wie sehr diese Menschen sich über meinen Besuch freuen.“1
Teresa verließ ihr Kloster immer wieder, um zu helfen. Doch 1946, sie ist jetzt 36 Jahre alt, kommt es zu einer radikalen Wendung in ihrem Ordensleben. Auf einer Bahnfahrt machte Teresa erstmals religiöse Erfahrungen, die ihr Leben veränderten: „Ich hörte den Ruf Jesu an mich, alles aufzugeben und das Kloster dauerhaft zu verlassen, um auf der Straße, in den Slums den Ärmsten der Armen zu dienen. Ich wusste, dass dies sein Wille war und ich ihm folgen musste.“2 Teresa
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________________________________________________ Die Berufung – „Braut Christi“
hört diese innere Stimme, die von ihr Armut und Gehorsam verlangt. An einem anderen Tag spricht die Stimme: „Du bist Meine Braut für Meine Liebe geworden. Du bist für Mich nach Indien gekommen“.3 Teresa schreibt: „Diese Worte oder vielmehr diese Stimme erschreckten mich. Der Gedanke daran, wie die Inder zu essen, zu schlafen und zu leben, erfüllte mich mit Furcht. Ich betete lang – ich betete so viel – ich bat Unsere Mutter Maria, Jesus zu bitten, all dies von mir zu nehmen. Je mehr ich betete – umso deutlicher wurde die Stimme in meinem Herzen und so betete ich darum, dass Er mit mir tun solle, was immer Er wollte.“4
1946 ist in Indien der Kampf gegen die britische Kolonialmacht voll im Gange. Es ist die Zeit Gandhis, der mit seiner Politik des gewaltlosen zivilen Widerstands den Briten 1947 die Unabhängigkeit abringt. Christen gelten als Vertreter der einstigen Kolonialherren, denen man mit Skepsis begegnet. Eine ‚weiße‘ Frau wie Teresa, die mit einem Sari bekleidet unter die Leute in die Slums ging, erregt Argwohn. Schon früh wird Teresa mit den entsetzlichen Folgen kriegerischer Gewalt konfrontiert, denn nach dem Abzug der Briten bricht in Indien ein blutiger Konflikt zwischen Muslimen und Hindus aus, der auch Kalkutta erreicht.5 „Ich sah die Körper auf den Straßen, erschlagen, mit verrenkten Gliedern, mitten im Blut. Wir Ordensfrauen hatten uns hinter sicheren Mauern aufgehalten. Wir wussten, dass es Unruhen gab. Aber erst jetzt, als ich auf die Straße ging, sah ich den Tod mit eigenen Augen.“6
Teresas Absicht, als Angehörige einer europäischen Kolonialmacht auf alle Privilegien zu verzichten und inmitten der einheimischen Bevölkerung Indiens das Leben der Ärmsten zu teilen, ist gewagt, geradezu tollkühn. Doch sie kann alle Hindernisse überwinden. Sie schildert die Situation, die sie bei ihrem ersten Besuch in den Slums vorfand: „Wir starteten in Tartala und gingen zu jeder katholischen Familie. – Die Menschen freuten sich – doch überall gab es Kinder und nochmals Kinder – und was für ein Schmutz und Elend – welche Armut und welches Leiden – Ich sprach sehr, sehr wenig, wusch nur einige Wunden und verband sie und gab manchen Leuten Medikamente.“7
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Mutter Teresa _____________________________________________________________
„Heilige der Gosse“ Nach dem Erlebnis ihrer mystischen Begegnung mit Jesus verließ Mutter Teresa am 16. August 1948 mit Erlaubnis Papst Pius’ XII. die Klausur der Loretoschwestern, um ihrem Apostolat zu folgen, blieb aber Ordensfrau. Kurz zuvor noch Leiterin der in Kalkutta angesehenen St. Mary’s High School, unterrichtete sie jetzt in den Slums, wo die Menschen in katastrophalen Verhältnissen hausten. Bei 46 Grad Celsius und 95 % Luftfeuchtigkeit waren die Arbeitsbedingungen für eine Europäerin fast unerträglich. Alles starrte vor Schmutz: die Hütten, die ungepflasterten Straßen, die zugleich als Abwasserkanäle dienten, die in Lumpen gekleideten Menschen. In ihren Hütten wimmelte es von Ungeziefer, es gab Ratten, die Kinder hatten Läuse. Der Wechsel von der ‚komfortablen‘ Klosterschule in die Slums von Kalkutta kam die Nonne hart an. Sie schreibt: „Der Wechsel war äußerst hart. Im Kloster hatte ich keine Vorstellung von diesen Schwierigkeiten. Nie hatte es mir an etwas gefehlt. Jetzt war alles anders. Ich schlief, wo es sich gerade ergab, auf dem Boden, oft in irgendwelchen rattenverseuchten Hütten; ich aß das Gleiche wie die, denen ich beistand, und auch das nur, wenn es überhaupt etwas zu essen gab. Aber ich hatte dieses Leben gewählt, um das Wort des Evangeliums wörtlich zu nehmen: ,Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; […] ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben […]‘ (Mt 25,35 f.). In den Ärmsten der Armen Kalkuttas habe ich Jesus geliebt; und wenn man liebt, spürt man weder Leid noch Mühen. Langeweile war in diesem Slum ein Fremdwort. Zu den fünf Kindern, die ich am ersten Tag meiner Arbeit im Slum von Moti Jheel gesammelt hatte [es ist der 24.12.1948, d. Verf.], kamen bald weitere hinzu. Schon nach drei Tagen waren es 25, am Ende des Jahres bereits 41.“8
Einige Jahre später gab es am selben Ort eine Schule für mehr als 500 Kinder. Insbesondere die karitative Arbeit mit Kindern war Mutter Teresa ein zentrales Anliegen. 1948, nach Hungersnot und Bürgerkrieg, war in Indien das Problem der verlassenen Kinder besonders brennend, denn die extreme Armut, unter der ein Großteil der Bevölkerung litt, ließ zahlreiche Familien auseinanderbrechen; viele Kinder landeten auf der Straße, weil sich ihre Eltern wegen Armut und Krankheit nicht mehr um sie zu kümmern konnten. Überdies führten unbehandelte Krankheiten nicht selten zur Geburt von Kindern mit Missbildungen, die oft verstoßen wurden. Besonders neugeborene Mädchen fanden in der patriarchalischen, vorherrschend vom Hinduismus geprägten indischen Gesellschaft wenig Beachtung, in der von einer
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________________________________________________________ „Heilige der Gosse“
Gleichberechtigung der Frau keine Rede sein konnte. Immer wieder fand man verlassene Kinder in Kirchen, vor Krankenhäusern, Klosterpforten oder vor Polizeistationen. Die verstoßenen Kinder gehörten zweifellos zu den ärmsten und wehrlosesten Geschöpfen. Teresa nahm sich ihrer gleich am ersten Tag ihrer neuen Aktivität an. In einem Gespräch mit einem Vertrauten sagt sie: „Ich bin Mutter Tausender verlassener Kinder. Ich habe sie auf den Gehwegen aufgelesen, im Müll, auf den Straßen […]. Einige wurden von der Polizei gebracht oder von Krankenhäusern, wo sie von ihren Müttern verlassen worden waren. Ich habe sie gerettet, aufgezogen und ihnen ermöglicht, etwas zu lernen. Für viele habe ich eine Familie finden können, die sie adoptierten. Es geht ihnen gut. Heute leben sie überall auf der Welt, in Amerika, Indien, Europa, aber sie erinnern sich an mich. Ihre Adoptiveltern schicken mir ihre Fotos. […] Wenn ich sie mir anschaue, empfinde ich immer eine große Freude; denn ich spüre, dass ich diese Kinder wie eine richtige Mutter geliebt habe, so, wie Jesus es mich gelehrt hat.“9
Teresa vermittelte weltweit viele Adoptionen, auch in Indien, wo es aus traditionellen Gründen schwierig war. Doch sie kümmerte sich nicht nur um die Kinder in den Slums, sie kümmerte sich auch um Erwachsene. „Meine Berufung bestand darin, den Ärmsten unter den Armen zu dienen. Durch die Kinder fand ich Zugang zu den elendsten Winkeln Kalkuttas. Damals lebten in der Stadt etwa eine Million Obdachlose. Ich ging von Hütte zu Hütte und versuchte mich nützlich zu machen. Ich half denen, die am Straßenrand schliefen und von Abfällen lebten. Ich begegnete furchtbarem Leid: Blinden, Lahmen, Leprakranken, Menschen mit entstelltem Gesicht und verkrüppeltem Körper, Kreaturen, die sich nicht auf den Beinen halten konnten und mir, um ein wenig Essen bettelnd, auf allen Vieren folgten. […] Ein anderes Mal musste ich unbedingt eine Hütte finden, um einigen Verlassenen eine Zuflucht zu geben. Stundenlang war ich in der sengenden Sonne unterwegs. Am Abend konnte ich kaum mehr auf den Beinen stehen; ich glaubte, vor Müdigkeit ohnmächtig zu werden. Erst da habe ich verstanden, an welchen Punkt der Erschöpfung die Armen gelangen können, die immer auf der Suche nach ein wenig Essen, nach einem Medikament oder einer Unterkunft sind.“10
Ein bekannt gewordenes Porträt der Zeitschrift Life brachte ihr den Beinamen „Heilige der Gosse“ ein. Bereits 1947, kurz nach der Unabhängigkeit Indiens, hatte die fließend Bengali sprechende Ordensschwester die indische Staatsbürgerschaft angenommen. Nachdem sich ihr 1949 zwölf Ordensfrauen angeschlossen hatten, gründet sie 1950 die Kongregation der „Missionarinnen der Nächstenliebe“ (Missionaries of Charity), die nach den evangelischen Räten leben.11 1950 werden die Missionarinnen der Nächstenliebe von der Erzdiözese Kalkutta offiziell
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als neue Ordensgemeinschaft anerkannt. Die Ordensschwestern, deren Generaloberin Teresa bis zu ihrem Tod wurde, verpflichteten sich, niemals für Geld tätig zu sein und sich in den Armenvierteln um Kranke, Sterbende und Hungernde zu kümmern. 1952 eröffnete Teresa in einem verlassenen HinduTempel das Haus „Reines Herz“ (Nirmal Hriday) ein Kranken- und Sterbehaus, in dem Schwerstkranke gleich welcher Herkunft einen menschenwürdigen Tod finden sollen. „Ein schöner Tod für Menschen, die wie Tiere lebten, bedeutet für sie, wie Engel zu sterben“, verkündet Mutter Teresa.12 1962 gründet Teresa die Leprakolonie Shanti Nagar. Es folgt die Gründung von Schulen für Arme, von Entbindungsheimen und einem Heim für ledige Mütter.
Die Situation in Kalkutta Die Situation, wie sie Teresa bei ihrer Ankunft in Kalkutta vorfand, war desolat. Die fromme Nonne war tief erschüttert, denn die Hauptstadt von Bengalen litt an den schlimmen Folgen des Zweiten Weltkriegs: Zum einen gab es die Nachwirkungen der bengalischen Hungersnot von 1943 (► Winston Churchill), zum anderen hatte der enorme Zustrom von Migranten nach Indiens Unabhängigkeitserklärung in der überfüllten Stadt zu Massenarmut und Elend geführt. Ein Biograf schreibt: „Die Stadt, die einst für ihre Paläste berühmt war, erlebte nun ein Wachstum der Slumgebiete. Die Armen, die es sich noch leisten konnten, eine winzige Hütte zu mieten (sie wohnten in nur wenigen Quadratmetern großen, häufig fensterlosen Räumen, eingezwängt zwischen ihren wenigen Habseligkeiten), überlebten oft nur mit einem Minimum an Lebensmitteln und praktisch ganz ohne medizinische Hilfe. Ein Schulbesuch ihrer Kinder überstieg ihre Möglichkeiten. Die Zahl der Straßenbewohner, denen sogar noch dieses Minimum fehlte, wuchs von Tag zu Tag; und sie waren der Gewalt von Hunger und Tod preisgegeben.“13
Das war eine große Herausforderung für die Ordensschwester und bot ihr ein weites Arbeitsfeld. Doch während ihre öffentliche Anerkennung wuchs, forderte die extrem harte Arbeit von der schmächtigen Europäerin einen hohen Preis: Teresa verfällt in schwere Depressionen. 1953 bekennt sie einem ihrer Seelsorger: „Beten Sie für mich, dass der Herr sich mir zeigen möge. In mir herrscht furchtbare Dunkelheit, als wäre alles in mir tot.“ Nach ihren eigenen
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____________________________________________________ Die Situation in Kalkutta
Aussagen dominieren Freudlosigkeit, innere Leere und emotionales Erstarren ihr Leben: „In mir ist nichts als Leere, nichts berührt mich, alles ist kalt. Meine Seele – wie ein Eisblock. […] Mich quälen Angst und furchtbare Gefühle, die Angst betrogen zu sein, ungewollt, verlassen. Wo ist mein Glaube? […] Der Himmel ist nur noch ein leeres Wort, er bedeutet mir nichts mehr. Dieser furchtbare Verlust von Sinn!“14
Neigung zum Grübeln, Schlaflosigkeit, Ängste, Gefühle der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit – alles typische Symptome einer schweren Depression, die jedoch von ihr und ihren Seelsorgern nicht als solche erkannt, sondern als ‚spirituelle Krise‘ bei ihrer Gottsuche gedeutet wurde. Weil medizinisch nicht fachgerecht therapiert, verschlimmerte sich Teresas Neigung zu Depressionen, die sie ein Leben lang begleiten sollten.15 Trotz dieser schweren seelischen Belastung machte sie weiter und baute mit „eiserner Selbstdisziplin und unverminderter Energie“16 einen Orden auf, zu dem heute mehr als 5.000 Frauen und Hunderte von Männern in aller Welt gehören. Ihre Kraft erwuchs aus ihrer tiefen Frömmigkeit und ihrem Gottvertrauen: „Mir bleibt nur eines: die tiefe und feste Überzeugung, dass all dies Gottes Werk ist. Ich kann nichts tun, außer ihm Raum geben. [...] Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Ich habe nicht studiert. Ich weiß nichts über Gott. Ich weiß nur, dass Er alles ist, was ich in mir finde.“17
Teresa reiste viel und gründete Ordensniederlassungen rund um den Globus. Als 1991 der erste Irakkrieg drohte, appellierte sie in Briefen an die Präsidenten George Bush und Saddam Hussein, den Frieden zu bewahren: „Sie haben die Macht, Menschen zu vernichten. Doch nichts kann das Elend und den Verlust von Leben rechtfertigen, den Ihre Waffen anrichten. Ich bitte Sie im Namen derer, die zu Waisen, Witwen und Krüppeln würden, sich zu versöhnen, Frieden und Leben nicht zu zerstören.“18
Natürlich konnte die mahnende Ordensschwester den Krieg dieser Bellizisten nicht verhindern. Nach Kriegsende besuchte sie Bagdad, um dort eine Ordensniederlassung zu unterstützen. Entsetzt über die furchtbaren Kriegsfolgen schreibt sie: „Die Früchte des Kriegs sind grauenvoll. Ich kann nicht verstehen, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Ich bitte Euch alle nur um eines: Beantwortet den Schrei Jesu und der Welt mit Liebe und dem Dienst an den Ärmsten.“19
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Mutter Teresa _____________________________________________________________
Doch trotz dieser Abgründe von Gewalt und Not resignierte die Ordensschwester nicht.
Einsatz für Leprakranke Besondere Anerkennung verdient Mutter Teresas Einsatz für die stigmatisierten Leprakranken. Sie schreibt: „Am meisten leiden sie [die Leprakranken] darunter, daß sie von allen gefürchtet werden und daß man sie nirgendwo haben will. Meine Schwestern und ich versuchen, ihnen ein anderes Leben zu ermöglichen, ein zweites Leben sozusagen. Wir haben schon viele Behandlungs- und Rehabilitationszentren in Indien aufgebaut. Dort können sie in Würde arbeiten. Sie müssen nicht betteln. Wir stehen in sehr enger Verbindung mit ihnen und geben ihnen liebevolle Fürsorge. Wir möchten, daß auch diese Menschen sich geliebt fühlen.“20
Mutter Teresa begann ihre praktische Arbeit unter den Leprakranken mit einer Initiative, der eine Vorreiterrolle zukam. Zwar gab es damals in Kalkutta und in anderen Städten Indiens bereits diverse Stationen für Leprakranke, aber dort konnte nur eine kleine Minderheit der Betroffenen behandelt werden. Da die meisten ihre Krankheit zu verbergen suchten, wurden sie zu einer gefährlichen Quelle weiterer Ansteckungen. Um dem Übel wirksam zu begegnen, musste man die Erkrankten aufsuchen und vor Ort behandeln. Als Mutter Teresa erfuhr, dass in der Nähe von Madras ein belgischer Arzt, der Lepraloge Dr. Hemeryckx, einen Weg gefunden hatte, mittels gut ausgestatteter mobiler Ambulanzen eine beträchtliche Zahl von Leprakranken zu Hause medizinisch zu versorgen, wodurch er viele heilen konnte, entschloss sie sich, diese Ambulanzen auch in Kalkutta einzuführen. „Die mobilen Ambulanzen wurden eine ‚Spezialität‘ der Missionarinnen der Nächstenliebe. Die Schwestern von Mutter Teresa haben durch diese Ambulanzen in Zusammenarbeit mit Amtsärzten Zehntausenden von Leprakranken helfen und viele heilen können. Daneben bedienten sie sich auch der traditionellen Methoden. Sie richteten feste Leprastationen ein, in denen sie vorwiegend die am schwersten Erkrankten aufnahmen.“21
1959 eröffnete Mutter Teresa ein bedeutendes Zentrum für Leprakranke, das sie in Erinnerung an die Liebe Mahatma Gandhis zu diesen Kranken ,,Geschenk der Liebe Gandhis“ (Gandhiji’s Prem Nivas) nannte. Ihre größte Hilfeleistung für die Leprakranken ist jedoch Shantinagar („Ort des Friedens“),
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_____________________________________________________ Einsatz für Leprakranke
ein sich selbst tragendes Dorf, in dem die Leprakranken ohne Furcht vor Vertreibung durch die Polizei und ohne demütigende Ausgrenzungen als freie Bürger leben können. Das von Kalkutta ca. 300 km entfernte Dorf ist eine grüne Oase mit Alleen und vielen Blumenbeeten und wird von einer Missionarin der Nächstenliebe geleitet. Die in kleinen, hellen Häusern wohnenden Leprakranken arbeiten in Läden und Werkstätten, auf den Feldern und in der Schweine- und Hühnerzucht, so dass das Dorf weitgehend autark ist. Dem Orden der Missionare der Nächstenliebe gehören heute ca. 5.100 Schwestern und mindestens 500 Brüder an. Er unterhält 710 Heime für Sterbende, AIDS-Kranke, Obdachlose und Waisenkinder in etwa 140 Ländern. Für ihr Wirken erhielt Mutter Teresa zahlreiche Preise. Die bedeutendsten waren 1978 der Balzan-Preis für Humanität, Frieden und Brüderlichkeit unter den Völkern und 1979 der Friedensnobelpreis. Letzteren nahm die Nonne stellvertretend für alle „Nackten, Hungrigen, Verkrüppelten, Blinden und Armen sowie für alle Menschen, die ausgestoßen sind“ entgegen.22 Ihres Armutsgelöbnis eingedenk, ließ sie sich das „Geld für das anschließend geplante Festbankett auszahlen und organisierte damit ein Weihnachtsfest für mehr als 2.000 arme Inder. Auch das Luxusauto, das der Papst ihr bei seinem Indienbesuch schenkte, wurde prompt in Rupien umgesetzt.“23 Daneben wurden Mutter Teresa unzählige weitere Orden verliehen und mindestens zwölf Ehrendoktorwürden angetragen. Mutter Teresa starb am 5. September 1997; am 13. September 1997 wurde sie in Kalkutta mit einem Staatsbegräbnis beerdigt und unter großer Anteilnahme der Weltöffentlichkeit auf ihren Wunsch hin in dem von ihr gegründeten Kloster beigesetzt. Ihre Seligsprechung erfolgte am 19. Oktober 2003 durch Papst Johannes Paul II. nach dem bis dahin kürzesten Seligsprechungsprozess der Neuzeit. Als der Vatikan die Kriterien einer Heiligsprechung – zwei angebliche Heilwunder – erfüllt sah, wurde Teresas Heiligsprechung am 4. September 2016 von Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom proklamiert.
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Die dunkle Seite der Mutter Teresa Trotz ihres Engagements für die Armen und Kranken in den indischen Slums erhoben sich schon früh Stimmen, die der frommen Nonne schwere Verfehlungen vorwarfen. Kritiker von Mutter Teresa zeichnen ein anderes Bild von der weltweit verehrten Ikone der Barmherzigkeit. Einige sehen in ihr eine Vertreterin des Vatikans, die ihr hohes Ansehen dazu nutzte, erzkonservatives katholisches Gedankengut weltweit zu verbreiten. Sie sei eine kaltherzige Frau gewesen, „der es primär um ihren Glauben und die katholische Kirche ging und erst in zweiter Linie um die Armen, denen sie angeblich ihr Leben widmete.“ Die Nonne sei „das Kunstprodukt einer raffinierten PRStrategie ihrer Kirche.“ Der Vatikan habe es „in jahrzehntelanger Öffentlichkeitsarbeit geschafft, aus der kleinen Nonne ein überirdisches Wesen zu machen.“24 Dass diese Kritik eine reale Basis hatte, wurde 2013 durch eine Studie von drei kanadischen Wissenschaftlern untermauert. „Das mediale Bild, das wir von Mutter Teresa haben, entspricht nur bedingt der Wirklichkeit“, konstatieren die Wissenschaftler. Sie sei alles andere als eine Heilige gewesen. „Unsere Analyse der Fakten deckt sich in keiner Weise mit dem Heiligenbild, was die Welt von Mutter Teresa hat“, sagt der Leiter der Studie, der Psychologieprofessor Serge Larivée.25 Zusammen mit seinen Kolleginnen Geneviève Chénard und Carole Sénéchal hatte der Psychologe 287 Dokumente über das Leben und Werk von Mutter Teresa untersucht. Das Bild von Teresa als Barmherzigkeit in Person habe sich durch eine lange Zeit undifferenzierte Berichterstattung festgesetzt und ihre Seligsprechung sei das Ergebnis einer perfekt-orchestrierten Medienkampagne gewesen. Die gegen Mutter Teresa erhobenen Vorwürfe reichen von mangelhafter Hygiene in den von ihr gegründeten Sterbehäusern, über Fundraising bei fragwürdigen Geldgebern bis hin zu dogmatischer, sich zu Grausamkeit steigender asketischer Überhärte. Kritisch sehen die Wissenschaftler auch ihre dogmatisch-ablehnenden Ansichten bezüglich Abtreibung, Verhütung und Scheidung. Sie stellen fest, dass es den Medien gelungen sei, bei Mutter Teresa eine Aura der Heiligkeit und ein Image grenzenloser Güte zu erzeugen, was zu Nobelpreis und Seligsprechung geführt habe. Dennoch loben die Wissenschaftler die Vorbildfunktion, die Mutter Teresas Hilfsbereitschaft auf die Menschen hatte, denn es sei wahrscheinlich, dass sie viele humanitäre Helfer inspiriert hat,
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deren Aktionen das Leiden der Ärmsten wirklich gelindert haben. Die Forscher hätten sich allerdings eine kritischere Berichterstattung über all die angeblichen Wunder Mutter Teresas gewünscht. „Obwohl sie viel bewirkt hat“, sagt Serge Larivée, eine „Heilige ist sie dadurch nicht geworden.“26
Die umtriebige Geschäftsfrau Nach ihrer Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis reiste Mutter Teresa viel und nutzt ihren Bekanntheitsgrad zur Einsammlung von Spendengeldern in Millionenhöhe. Dabei war sie mit ihren Geldgebern nicht wählerisch, darunter fragwürdige Gestalten wie der Diktator von Haiti, Jean-Claude Duvalier („Baby Doc“), oder der Finanzbetrüger Charles H. Keating. Der Sportler und Bankier Keating war in den 1980er Jahren eine zentrale Figur bei der Savings-and-Loan-Krise in den USA. Als er wegen Betrugs unter Anklage stand, lobte Teresa ihren Spender in einem Brief an das Gericht als Wohltäter. Die kanadischen Forscher kritisierten auch ihren Geiz: Obwohl sie Hunderte Millionen Dollar mit ihren Spendensammlungen eingenommen habe, sei sie hartherzig gewesen, wenn es darum ging, materielle Hilfe an Notleidende zu leisten – wie z. B. bei den zahlreichen großen Überschwemmungen in Indien oder bei der Giftgaskatastrophe von Bhopal 1984.27 Stattdessen spendete sie den Überlebenden ‚großzügig‘ Gebete, Segenssprüche und Medaillons der Jungfrau Maria. Auch kamen nicht alle Spenden direkt bei den Armen und Kranken an, sondern dienten vor allem der Expansion ihres Ordens. Ein großer Teil der Spenden floss an den Vatikan, der freilich beteuerte, das Geld ausschließlich für gute Werke verwendet zu haben. Doch Belege dafür gibt es nicht; und die Finanzen des Ordens sind genauso intransparent wie die des Vatikans. „Ab 1965 expandierte ihr wohltätiges Unternehmen auch ins Ausland.“28 Insgesamt entsteht der Eindruck von Mutter Teresa als einer geschäftstüchtigen Unternehmerin, die selbst kaum noch in den Sterbehäusern pflegerisch arbeitete, sondern stattdessen ständig unterwegs war, um ihre globale Berühmtheit clever zur Finanzierung und Wachstum ihres ‚Unternehmens‘ zu nutzen – ganz im Sinne kapitalistischer Gewinnmaximierung. Dazu passt,
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dass es der asketischen Nonne bei den Hospizgründungen weniger um Qualität, sondern um Quantität ging: Ihre zahlreichen Ordenshäuser gleichen nicht Spitälern, sondern klosterähnlichen Massenunterkünften.
„Leid und Schmerz öffnen die Himmelspforten“ – ein grausamer Aberglaube Die Missionarinnen der Nächstenliebe sind nicht zuletzt wegen ihrer rigiden Organisation und Rückständigkeit umstritten. Kritiker der frommen Nonne unterstellen, Teresas Katholizismus habe ihre soziale Arbeit überschattet und negativ beeinflusst. Ihre Spiritualität sei von erzkonservativem religiösen Dogmatismus geprägt gewesen, was sich auch auf ihren Umgang mit Kranken auswirkte. Von ehemaligen Mitarbeitern erhobene Vorwürfe lauten: Die hygienischen und medizinischen Zustände in ihren Sterbehospizen seien skandalös gewesen, heilbare Kranke seien in derselben Art und Weise wie unheilbar Kranke behandelt worden, Kranke nicht mit Schmerzmitteln versorgt worden. Ärzte bemängelten, dass Kranke, von denen Ansteckungsgefahr ausging, nicht isoliert behandelt und hygienische Standards in den Missionszentren nicht eingehalten wurden. „Wir sind Nonnen und keine Krankenschwestern“, entgegnete Teresa solchen Vorwürfen. Robin Fox und Dave Hunt gehören zu denen, die die schlimmen Zustände in ihren Hospizen anprangern. „Die Patienten seien im Sterbehaus auf primitiven Feldbetten in großer Zahl auf engstem Raum zusammengepfercht und die Nahrungsversorgung nicht immer im nötigen Umfang gewährleistet gewesen. Die ursprünglich gut ausgestatteten, dem Orden gespendeten Häuser seien auf Anordnung Mutter Teresas im Sinne äußerster Schlichtheit und Armut umgestaltet (u. a. wurden vorhandene neuwertige Matratzen entsorgt und es wurde nicht oder kaum geheizt).“29
Hunt warf Mutter Teresa zudem fehlende Transparenz bei der Verwendung von Spendengeldern vor sowie die Verweigerung der Rückgabe illegaler Spenden. Außerdem seien Sterbende oft ohne deren Einverständnis getauft worden.30 Ein anderer Kritiker, Aroup Chatterjee, bezweifelte die Effizienz ihrer Hilfstätigkeit in Kalkutta:
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_________ „Leid und Schmerz öffnen die Himmelspforten“ – ein grausamer Aberglaube „36.000 Kranke, die sie von der Straße aufgesammelt habe. Ich fand keinen einzigen Menschen, dem das passiert ist […]. Krankenwagen des Ordens sind zum Fahrdienst für die Schwestern umgebaut worden, und bei Hilferufen verwies der Orden auf die Ambulanz von Kalkutta.“31
Außerdem seien laut Chatterjee leicht heilbare Patienten vom Sterbehaus nicht immer in ein Hospital eingewiesen, sondern es sei ihnen durch unprofessionelle Behandlung geschadet worden: Spritzbesteck sei nicht ordnungsgemäß desinfiziert und mehrfach verwendet worden, und Medikamente wurden auch nach Ablaufdatum verabreicht. Ein anderer, besonders gravierender Vorwurf lautet, Mutter Teresa habe die Gabe von schmerzlindernden Medikamenten untersagt, weil „durch das Leid eine besondere Nähe zu Jesus Christus erfahrbar sei.“32 Schmerzen und Leiden seien positiv zu bewerten – ein abstruser, in erzkatholischer Ideologie wurzelnder mittelalterlicher Aberglaube. Falls dieser Vorwurf zutrifft, wäre dies Grausamkeit aus ‚christlicher Nächstenliebe‘ – eine perverse Umkehrung des Gebots der Barmherzigkeit. Sie selbst hingegen habe auf dem Sterbebett palliativmedizinische Medikamente in Anspruch genommen, um ihre Leiden zu lindern.33 Einer ihrer schärfsten Kritiker war der britisch-US-amerikanischer Autor, Journalist und Literaturkritiker Christopher Hitchens. Er veröffentlichte 1995 eine umfassende Kritik an Mutter Teresa mit dem zentralen Vorwurf, dass es der Ordensschwester weniger um die Hilfe für die Armen und Kranken gegangen sei, sondern primär um die Verbreitung ihres fundamentalistischen katholischen Glaubens. Sich auf eigene Gespräche mit der Oberin berufend, berichtet er, sie selbst habe nicht die Wohltätigkeit als ihre vornehmste Aufgabe betrachtet, sondern die Mission. Hitchens verunglimpfte die katholische Nonne in einem Zeitungsartikel als ‚Ghul von Kalkutta‘.34 Er kritisierte ihren Missionierungseifer und warf ihr wegen ihres grausamen Verbots von Schmerzmitteln in ihren Hospizen die Verherrlichung des Leids vor. Mutter Teresa sah das anders: Taten der Nächstenliebe seien immer ein Mittel, um Gott näher zu kommen.35 Ihre religiöse Motivation zeigt sich in Äußerungen wie: Es sei ihr persönliches Hauptziel, Heiligkeit und die Einheit mit Christus zu erreichen – ein Ziel, das an die unio mystica erinnert, wie sie einst von christlichen Mystikern angestrebt wurde.36 In der Tat praktizierte sie genau das, was nach katholischem Glaubensdogma getan werden muss, um Heiligkeit zu erlangen: soziales Engagement,
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religiöse Rituale und Askese. Die Kritikerinnen Susan Kwilecki und Loretta S. Wilson sehen hierin eine zweckrational geplante Vorgehensweise, die im Gegensatz zur behaupteten Selbstlosigkeit stehe. Praktisches Ergebnis dieser Bestrebung sei gewesen, dass Mutter Teresa mit ihren Spendengeldern keine den üblichen Qualitätsstandards entsprechenden Krankenhäuser oder Altenheime geschaffen habe, sondern primitive klosterähnliche Massenunterkünfte, in denen die Hilfeleistung mit einem strikten ritualisierten Regelwerk verknüpft war. So lehnte Mutter Teresa z. B. eine Spende der Stadt Boston für die Errichtung einer Obdachlosenunterkunft ab, weil sie sich weigerte, von der Stadt vorgegebene Auflagen zu erfüllen, die nicht mit ihrer extremen Askese vereinbar waren. Solche Askese habe Mutter Teresa als Vorbedingung für Heiligkeit erklärt, behaupten die Kritiker. Ihr Profit scheint demnach nicht finanzieller Art, sondern die für sich und ihre Helfer erstrebte Gottseligkeit gewesen zu sein. Ihre extreme Nähe zur reinen katholischen Lehre und die Anerkennung ihrer religiösen Führer wie Papst Johannes Paul II. zeigte sich auch bei anderen Fragen. Genau wie der Papst verteufelte sie die Abtreibung und lehnte auch Empfängnisverhütung ab. Treu auf der Linie des Vatikans bezeichnete Mutter Teresa in ihrer Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1979 in Oslo die Abtreibung als die größte Bedrohung des Friedens: „Der größte Zerstörer des Friedens ist heute der Schrei des unschuldigen, ungeborenen Kindes. Wenn eine Mutter ihr eigenes Kind in ihrem eigenen Schoß ermorden kann, was für ein schlimmeres Verbrechen gibt es dann noch, als wenn wir uns gegenseitig umbringen? […] Aber heute werden Millionen ungeborener Kinder getötet, und wir sagen nichts. […] Für mich sind die Nationen, die Abtreibung legalisiert haben, die ärmsten Länder. Sie fürchten die Kleinen, sie fürchten das ungeborene Kind.“37
„Keine unproblematische Haltung in einem Land wie Indien, dessen Armut zu einem großen Teil durch die rapide wachsende Bevölkerungszahl bedingt ist“, kommentiert ein Kritiker.38
Heldin und Heilige? Was bedeutet Mutter Teresa heute? Ist die auf dem Balkan als Nationalheldin gefeierte Ikone der Nächstenliebe wirklich eine selbstlose Nonne gewesen,
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gar eine Heilige, wie der Vatikan behauptet? Die Ordensfrau hat ihre familiären Wurzeln in einer Region des Balkan, in der heute die drei unabhängigen Staaten Albanien, Kosovo und Nordmazedonien diese weltbekannte Ikone der Nächstenliebe für sich beanspruchen. So z. B. im nach Westen orientierten Albanien, wo die Friedensnobelpreisträgerin zur nationalen Identifikationsfigur wurde und als Namensgeberin für den Flughafen von Tirana, für eine Universität sowie zahlreiche Plätze und Straßen heute überall gegenwärtig ist. Die von Papst Franziskus 2016 heiliggesprochene Ordensfrau würde so manche Nation gern als Heldin für sich reklamieren. In Albanien war es sogar für lange Zeit nicht ungefährlich, eine katholische Ordensschwester zu verehren, zumal der Anteil der Katholiken an der damaligen Bevölkerung nur rund 10 % betrug. Angelehnt an Maos Kulturrevolution erließ der kommunistische Machthaber Enver Hoxha ein Religionsverbot und erklärte am 6. Februar 1967 Albanien „zum ersten und einzigen atheistischen Staat der Welt“.39 In den folgenden Monaten wurden alle Gotteshäuser geschlossen oder zerstört. Alle religiösen Aktivitäten und Symbole wurden verboten, Stadt- und Ortsnamen religiöser Provenienz geändert. Hoxha soll die fromme Katholikin Teresa auf einem Parteitag 1979 als „Hexe von Kalkutta“ bezeichnet haben. Damals gab es nach Angaben des Vatikans in Albanien nur noch 26 Geistliche. Zur Zeit des Religionsverbots in Albanien war es für Mutter Teresa kaum möglich gewesen, die Verbindungen zu ihrer Familie in der Heimat aufrecht zu erhalten. Lediglich den in Rom lebenden Bruder konnte sie treffen. Seine Bemühungen, die erkrankte Mutter nach Italien zu holen, wurden vom Hoxha-Regime ebenso abgelehnt wie die Bitte Teresas, zur Pflege der Mutter nach Tirana zu reisen. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes im Jahre 1990 wurde in Albanien die Religionsfreiheit wiederhergestellt, aber dennoch blieb lange Zeit noch ein Gesetz aus der Ära Hoxhas in Kraft, das Mutter Teresa das Betreten des Landes untersagte. 1991 nahmen Albanien und der Vatikan diplomatische Beziehungen auf, und der Papst ernannte zu Weihnachten 1992 erstmals wieder Bischöfe für Albanien. Inzwischen bekennen sich in dem muslimischen Land wieder 10 % der Bevölkerung zum katholischen Glauben. Seitdem hat noch jede politische Führung Mutter Teresa als Nationalheldin gepriesen. Anlässlich ihrer Seligsprechung wurde ihr in Albanien ein Staatsfeiertag gewidmet.
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Mutter Teresa _____________________________________________________________ „Man sieht ihre Gipsbüste heute in Souvenirläden neben jener des Georg Kastriota Skanderbeg (1405–1468), einem albanischen Nationalhelden, der als Militärkommandant nacheinander dem Osmanischen Reich, der Republik Venedig und dem Königreich Neapel gedient hat.“40
Doch ihr Status als Nationalheldin ist auch in Albanien nicht unumstritten. So trifft Mutter Teresas nationale Beweihräucherung auf den erbitterten Widerstand albanischer Muslime, die diese Frau als „eine Art ‚Mogelpackung‘ ausländischer Einflüsse und Ansprüche verdammen.“41 Doch gibt es Aussagen von Mutter Teresa, bei denen sie sich klar zu Albanien bekennt. In ihrem Brief an das Nobelkomitee in Oslo heißt es, sie wolle eine Albanerin sein, die der ganzen Welt gehört: „By blood, I am Albanian. With citizenship, I am Indian. In faith, I am a Catholic nun. By my profession, I belong to the world.“42 Seit Jahren streitet sich Albanien mit Indien um das Recht, den Leichnam Mutter Teresas in ihrem ‚Heimatland‘ zu bestatten (was Indien beharrlich verweigert). Sie selbst bekannte sich zu Albanien als ihrer Heimat. Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises nach ihrer Herkunft befragt, bekräftigte sie dieses Bekenntnis: „Ich wurde in Skopje geboren, in London ausgebildet, lebe in Kalkutta und arbeite für alle armen Menschen auf der Welt. Meine Heimat ist ein kleines Land namens Albanien.“43 Doch es gibt in Albanien nicht nur von muslimischer Seite skeptische Stimmen bezüglich der Vereinnahmung von Mutter Teresa als Nationalheldin. So weist Dorian Koçi, Direktor des albanischen Nationalmuseums, darauf hin, dass historische Persönlichkeiten seit jeher für ideologische Zwecke instrumentalisiert worden seien. Zwar hätten sich die Albaner eine aktivere Rolle von Mutter Teresa in nationalen Angelegenheiten gewünscht, dies sei aber realitätsfern gewesen. Schließlich sei die Ordensschwester keine Nationalheldin wie Shote Galica, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Waffe in der Hand für die nationale Befreiung der Albaner kämpfte. Andererseits habe Mutter Teresa mit ihrem Bekenntnis, dass sie Albanerin sei, dem Land einen unschätzbaren Dienst erwiesen – und das in einer Zeit, als die albanische Nation „im Nebel des Stalinismus versunken“ war. Die Albaner sollten auf ihre Heilige stolz sein, sagt Koçi, auf ihre „humanistischen Werte und ihren moralisch-philosophischen Beitrag zum weltpolitischen Denken.“44 Auch Nordmazedonien reklamiert Mutter Teresa für sich, weil ihr Geburtsort Skopje die heutige Hauptstadt des Landes ist. Gehört sie deshalb
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nicht eigentlich zu Nordmazedonien? In der dortigen muslimischen Bevölkerung ist die Akzeptanz einer katholischen Ordensschwester als Nationalheroine allerdings ebenfalls gering, zumal man sich bereits eines Nationalhelden rühmt, nämlich Alexander des Großen. Die nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991 entstandene Republik Nordmazedonien hat den antiken makedonischen König als Nationalhelden proklamiert – sehr zum Ärger des benachbarten Griechenlands, das ebenfalls den großen Eroberer für sich beansprucht. Der Wunsch der mazedonischen Regierung, die berühmteste Tochter Skopjes, der „einzigen Friedensnobelpreisträgerin Mazedoniens“45 mit einem Denkmal zu ehren, kulminierte im Bau eines Museums, das genau an der Stelle jener Kirche steht, in der Mutter Teresa getauft wurde. Zwar gibt es immer wieder aus den Reihen einer radikal-muslimischen Minderheit Aufschriften an den Mauern, die den Abriss des Gebäudes und ein Ende des ‚Kultes für eine Ungläubigen‘ verlangen, aber die Mehrheit der Bevölkerung in Mazedonien steht nicht hinter solchen Attacken. Um die Wogen zu glätten, sprechen Regierung und Museumsleitung deshalb lieber von der „‚großen Humanistin und Philanthropin‘, nicht von der katholischen Ordensschwester Teresa.“46 Im benachbarten Kosovo wird Mutter Teresa ebenfalls verehrt, aber auch dort ist die christliche Nonne nicht unumstritten, denn auch hier sind etwa 90 % der Bevölkerung muslimisch. Nach dem Bau einer riesigen Kathedrale zu ihren Ehren in Pristina, der Hauptstadt der Republik Kosovo, forderte die islamische Gemeinschaft die Errichtung einer ebenso großen Moschee. Um die Wogen zu glätten, betonte der Pfarrer im Dorf Letnice, dem Zentrum des Katholizismus in Kosovo an der Grenze zu Nordmazedonien, das Verbindende: „Mutter Teresa betete nicht für den Katholizismus, sie betete für den Kosovo und für Albanien, sie liebte die ganze Welt und sie hat der Welt gezeigt, wer und was die Albaner sind.“47
Am 17. Dezember 2012 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, nach der im Andenken an Mutter Teresa der 5. September zum ‚Internationalen Tag der Nächstenliebe‘ erklärt wurde. Als Initiator der Resolution zelebrierte Ungarn diesen Tag mit Fotoausstellungen und der Enthüllung einer Statue der Ordensschwester in Budapest unter Schirmherrschaft der albanischen Botschaft in Ungarn.
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Abb. 24: Mutter Teresa wird 1985 von US-Präsident Reagan die Friedensmedaille verliehen.
Mutter Teresa, die „Heilige von Kalkutta“, ist wohl das prominenteste Beispiel für altruistisches Verhalten in der Moderne. Aber sie ist, wie gezeigt wurde, nicht unumstritten. Fragt man nach den Beweggründen, warum sie ihr ganzes Leben unter schwierigsten Bedingungen dem Dienst am Nächsten widmet, so kommen Zweifel bezüglich ihrer Selbstlosigkeit auf. Zweifellos war es primär ihre Religiosität, welche die fromme Nonne zeitlebens antrieb, der Glaube an ihre Berufung, in der Nachfolge Jesu missionarisch tätig zu sein. Mag sein, dass diese Ikone der Nächstenliebe nicht nur aus Selbstlosigkeit ihr Leben den Armen und Kranken gewidmet hat, sondern – gläubige Christin, die sie war – auf Belohnung im Jenseits hoffte. Mag sein, dass es ihr – geschäftstüchtige Unternehmerin, die sie auch war – bei ihren zahlreichen Hospizgründungen weniger um die Qualität der Pflege, sondern vor allem um Größe und Expansion ihrer Ordensgemeinschaft ging. Man kann auch ihre Nähe zum Vatikan, ihre asketische Härte und die schlimmen Zustände in ihren Hospizen zu Recht kritisieren. Die aus abstruser erzkatholischer Ideologie resultierende grausame Verweigerung von schmerzlindernden Medikamenten für Schwerstkranke wirft einen dunklen Schatten auf die Gestalt
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der Ordensschwester. Doch letztlich ist es zweitrangig, aus welchen Beweggründen die Generaloberin der Missionarinnen der Nächstenliebe ihre karitativen Werke vollbracht hat. Entscheidend ist, dass sie zahllosen armen und kranken Menschen geholfen und als Vorbild viele Menschen zu karitativem Engagement inspiriert hat. Ihre humanitäre Leistung steht außer Zweifel.
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Aung San Suu Kyi Freiheitsheldin und Regimeverteidigerin
Als im Frühjahr 1962 der birmanische1 Präsident U Nu in Verhandlungen mit aufständischen Minderheiten eintrat, putschte das Militär. Eine Militärjunta unter General Ne Win übernahm die Macht, setzte Präsident U Nu ab und löste das demokratisch gewählte Parlament auf. In der Rückschau betrachtet, war dieses Jahr ein Schicksalsjahr, ein tragischer Einschnitt, womit die friedliche, demokratische Entwicklung Myanmars abrupt unterbrochen wurde. Es war der Beginn einer menschenverachtenden Militärdiktatur und jahrzehntelanger Unterjochung des birmanischen Volkes. Im Rahmen der Regierungsagenda, die als ‚birmanischer Weg zum Sozialismus‘ bezeichnet wurde und wirtschaftliche Isolation, Verstaatlichungen und zentrale Planung nach sowjetischem Vorbild vorsah, wurde Birma eines der ärmsten Länder der Welt. Fünf Jahrzehnte Terrorherrschaft einer xenophoben Generalkaste hatten das Land international isoliert und wirtschaftlich ruiniert.
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Aung San Suu Kyi __________________________________________________________
Zwei Aufstände gegen die Willkürherrschaft – der Aufstand von 1988 und die Mönchsrebellion von 2007 – wurden mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Erst 2015 wendete sich mit dem Wahlsieg der Nationalen Liga für Demokratie (NLD) mit Aung San Suu Kyi an der Spitze das Blatt und die Demokratie feierte einen Neuanfang in Myanmar. Mit dem neuerlichen Putsch der Generäle im Februar 2021 droht ein Rückfall in jahrelange Militärdiktatur. Lange Zeit galt Aung San Suu Kyi, von ihren Landsleuten liebevoll „Mutter Suu“ genannt, weltweit als unbeugsame Freiheitskämpferin gegen das Militärregime und Ikone der Demokratie. Seit den späten 1980er Jahren setzte sie sich für eine gewaltlose Demokratisierung ihres Heimatlandes Myanmar ein und profilierte sich als furchtlose Kämpferin gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. 1991 erhielt die Menschenrechtlerin hierfür den Friedensnobelpreis. Wegen ihrer Opposition zum diktatorischen Militärregime verbrachte sie viele Jahre in Hausarrest. Doch außerhalb Myanmars ist die Friedensnobelpreisträgerin inzwischen umstritten. Man wirft ihr vor, bei der gewaltsamen Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya durch das birmanische Militär geschwiegen zu haben. Wer war diese Frau, die nach dem Militärputsch vom Januar 2021wieder inhaftiert wurde? Aung San Suu Kyi ist die jüngste Tochter von Aung San, dem „Vater der Nation“ und hochverehrten Gründer des modernen Myanmar. Als Kommandeur der Burma Independence Army (BIA) und Präsident der Anti-Fascist People’s Freedom League (AFPFL) war Aung San der charismatische Vorkämpfer für die Unabhängigkeit Birmas von der britischen Kolonialmacht. Am 19. Juli 1947 wurden er und sechs weitere Mitglieder des Exekutivrats während einer Kabinettssitzung in Rangun erschossen. Mit 14 Jahren verließ Aung San Suu Kyi mit ihrer Mutter, die zur birmanischen Botschafterin in Indien ernannt worden war, ihre Heimat und sollte sie fast 30 Jahre nicht wiedersehen. Sie ging in Neu-Delhi zur Schule. Nach dem Militärputsch von General Ne Win in Myanmar 1962 beschloss sie, im Ausland zu bleiben, und ging nach England, wo sie von 1964 bis 1967 am St Hugh’s College an der Universität von Oxford Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften studierte. Von 1969 bis 1971 arbeitete Aung San Suu Kyi im UN-Sekretariat in New York in der Verwaltungs- und Finanzabteilung. Nebenher war sie ehrenamtlich in einem Krankenhaus tätig. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen, den (inzwischen verstorbenen) Tibetologen Michael Aris, mit dem sie zwei Söhne hat. Sie arbeitete für die Vereinten Nationen in New York und Buthan, wo ihr Mann
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wissenschaftlich tätig war und als Tutor der königlichen Familie diente. Sie begann zu schreiben und publizierte 1984 ein Buch über ihren Vater Aung San; es folgten Publikationen über Birma. 1990 wurde ihr der Thorolf-RaftoPreis für Menschenrechte in Norwegen verliehen, sowie der Sacharow-Preis für Gedankenfreiheit vom Europäischen Parlament. Im Jahre 1988 kehrte sie wegen ihrer sterbenden Mutter nach Myanmar zurück, zufällig gerade zur Zeit der im Sommer ausbrechenden Protestbewegung gegen die politische Repression des Militärregimes und dem von ihm verschuldeten wirtschaftlichen Niedergang. Der Aufstand wurde von den Generälen blutig niedergeschlagen.2 Als Tochter ihres berühmten Vaters verspürte Aung San Suu Kyi, dass sie eine Verantwortung gegenüber ihrem Land trug. Schon in einem der Briefe an ihren Gatten Aris kündigte sie an, dass sie eines Tages nach Birma zurückkommen könnte. Sie war überzeugt, dass er ihr dann zur Seite stehen würde, ihre Pflicht gegenüber ihrem Volk zu erfüllen. In ihrer ersten Rede bei der Shwedagon Pagode vor einer Menge von über einer halben Million Menschen erklärte sie, dass sie „mit der Teilnahme an diesem Kampf um Freiheit […] in die Fußstapfen meines Vaters treten und seiner Tradition folgen“ wolle. Sie fügte hinzu: „Wenn ich meinen Vater ehre, ehre ich all jene, die für politische Integrität in Birma stehen.“3 Doch aus dem Schatten ihres charismatischen Vaters, der als General die Anwendung von Gewalt keineswegs scheute, ist Suu Kyi schon seit langem herausgewachsen. Die Politikerin, deren Haltung tief in den Prinzipien der Gewaltlosigkeit verwurzelt ist, wurde schon als „Gandhi Birmas“ bezeichnet. Unzählige Male hatte sie der brutalen Gewalt der Militärs getrotzt, hatte sich von den aufgepflanzten Bajonetten der Soldaten nicht einschüchtern und sich auch durch einen fast fünfzehnjährigen, nur kurz unterbrochenen Hausarrest nicht beugen lassen. Legendär ist jenes Ereignis, als sie durch Mut und Entschlossenheit eine lebensgefährliche Konfrontation mit den Militärs meisterte. Es geschah in der Stadt Danubyu, wo sie mit anderen NLD-Aktivisten das örtliche Parteibüro dieser Partei besuchen wollte. Wie berichtet wird – die Szene wurde auch im Film Rangoon eindrucksvoll nachgestellt –, versperrten Soldaten mit angelegten Maschinengewehren ihr den Weg und forderten sie auf, umzukehren. Doch Aung San Suu Kyi ignorierte diese Aufforderung und ging mit ihren Begleitern ruhig weiter. Daraufhin ließ der Anführer der Truppe seine Soldaten mit ihren Gewehren in Schussbereitschaft niederknien und drohte zu schießen. Während sie mit ihren Leuten weiterschritt, erklärte Aung San
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Aung San Suu Kyi __________________________________________________________
Suu Kyi in aller Ruhe, dass sie das Recht zum Durchgang besitze. Im letzten Moment eilte ein hochrangiger Offizier herbei und befahl den Soldaten, die Waffen zu senken. Damit hatte sie ihren persönlichen Mut unter Beweis gestellt, was sehr zu ihrem Ansehen beitrug. Aung San Suu Kyi war nicht nur wegen ihres berühmten Vaters die anerkannte Führerin der Freiheitsbewegung, sondern weil ihre politische Klugheit, ihre Beharrlichkeit und ihr Charisma sie dazu prädestinierten. Für die Militärs ist Suu Kyi eine permanente Quelle der Furcht. Sie hassen die Tochter des Nationalhelden Aung San, weil ihre Person gegenüber ihren physischen Gewaltakten sakrosankt ist. Bald setzte Aung San Suu Kyi sich an die Spitze der Demokratiebewegung und errang bei den Wahlen im Mai 1990 mit der von ihr als Generalsekretärin geführten NLD einen überwältigenden Sieg, der aber vom Militärregime nicht anerkannt wurde. Die Armee hatte der NLD erlaubt, sich zu formieren und den Wahlkampf zu organisieren, beschloss aber durchzugreifen, als sie die Popularität und Entschlossenheit von Suu Kyi erkannte. Am 20. Juli 1989 wurde sie unter Hausarrest gestellt, in welchem sie – abgesehen von kurzen Unterbrechungen – 15 Jahre verbracht hat. Durch die Trennung von ihrer Familie und vollständiger Isolation von der Außenwelt versuchte das Regime, sie psychisch mürbe und politisch mundtot zu machen und der Bevölkerung Myanmars zu entfremden. Doch das Gegenteil wurde erreicht: 1991 wurde ihr der Friedensnobelpreis verliehen und die Tochter des charismatischen Freiheitshelden Aung San blieb das leuchtende Symbol des Widerstandes. Mehr noch: Suu Kyi wurde zum Mythos, der ihrem Volk die Würde, das Vertrauen in die eigene Kraft und die Aussicht auf Freiheit verbürgt. Am 13. November 2010 entließ die Militärregierung Suu Kyi aus ihrem Hausarrest. Die Generäle änderten nun ihre Strategie und ließen Suu Kyi zu Wahlen kandidieren. Sie wollten die Friedensnobelpreisträgerin als Aushängeschild benutzen, um unter dem Deckmantel der Demokratie die Macht zu bewahren. Suu Kyi kooperierte und gewann die Wahl. Doch dies änderte nichts an den Machtverhältnissen, denn die Militärs haben eine Sperrminorität im Parlament, so dass keine Verfassungsänderung gegen ihren Willen zustande kommen kann. Sie halten die entscheidenden Ressorts Innere Sicherheit und Verteidigung. Nachdem die NLD bereits im April 2012 bei Nach-
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wahlen zum birmanischen Unterhaus (Pyithu Hluttaw) 43 der 45 neu zu besetzenden Parlamentssitze gewonnen und Aung San Suu Kyi im Mai 2012 ihren Amtseid als Parlamentsabgeordnete abgelegt hatte, gewann die NLD im November 2015 die absolute Mehrheit der Sitze. Das Parlament wählte im März 2016 Suu Kyis engen Parteifreund Htin Kyaw mit einer Zweidrittelmehrheit zum Präsidenten. Sie selbst wurde unter ihm als Staatsberaterin Ministerin des Büros des Präsidenten und Außenministerin von Myanmar. Als Siegerin war sie de facto Regierungschefin.4
Die gläubige Buddhistin: Bekenntnis zur Gewaltfreiheit5 Aung San Suu Kyi ist gläubige Buddhistin und schöpft, wie sie schreibt, aus buddhistischer Meditation die Kraft und den Mut gegen Unterdrückung und Gewalt. Als überzeugte Buddhistin setzt sie auf gewaltlosen Widerstand, denn eine friedliche Demokratie könne nicht auf Gewalt gegründet werden. In ihrem 1996 veröffentlichten Buch Der Weg zur Freiheit schrieb sie: „Ich glaube nicht an einen bewaffneten Kampf, weil er nur eine Tradition fortführen würde, dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt. Denn wenn die Demokratiebewegung den Sieg mit Waffengewalt erringen sollte, würde das im Bewusstsein der Menschen die Vorstellung bestätigen, dass derjenige, der die stärkeren Waffen hat, am Ende den Sieg davonträgt. Das kann der Demokratie nicht förderlich sein.“6
Spirituelles und politisches Leben stellen für Suu Kyi eine Einheit dar. Auf die Frage, ob Gewaltlosigkeit ein spiritueller Grundsatz oder eine politische Taktik sei, antwortete sie: „Militärputsche, die sich in Birma immer wieder ereignet haben, sind gewaltsame Methoden zur Änderung einer Situation, und ich möchte nicht dazu beitragen, dass diese Tradition, politische Änderungen mit Gewalt herbeizuführen, bis in alle Ewigkeit fortgesetzt wird. Denn ich befürchte, wenn wir die Demokratie mit diesen Mitteln verwirklichen, dann werden wir uns nie von der Vorstellung befreien können, dass notwendige Änderungen nur durch Gewalt zu erreichen seien. Allein schon die Methode würde zu einer ständigen Bedrohung für uns werden. Denn es gibt immer Menschen, die mit der Demokratie nicht einverstanden sind. Und wenn wir sie mit gewaltsamen Mitteln erringen, dann wird es den harten Kern derjenigen geben, die schon immer gegen die Demokratiebewegung waren und sich sagen: ‚Sie haben das System gewaltsam geändert, und wenn wir unsere eigenen Methoden der Gewalt entwickeln, die ihren überlegen sind, können wir die Macht zurückerobern.‘ Und wir werden weiter in diesem Teufelskreis gefangen sein. Für mich
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Aung San Suu Kyi __________________________________________________________ ist es ebenso eine politische Taktik wie eine spirituelle Überzeugung, dass Gewalt nicht der richtige Weg ist. Sie wäre einfach nicht hilfreich, wenn wir eine starke Demokratie aufbauen wollen.“7
Dieses zur Zeit der Militärdiktatur im letzten Jahrhundert geäußerte Bekenntnis der Freiheitskämpferin bedeutet eine klare Absage an jegliche Gewaltanwendung im Kampf um die Demokratisierung des birmanischen Staates. Diese Demokratisierung sollte friedlich und evolutionär erfolgen und nicht durch gewaltsamen Umsturz, der wiederum nur eine Spirale der Gewalt in Gang setzen würde. Doch möglicherweise fungierte dieser Aufruf zur Gewaltlosigkeit im Jahr 1996 vor allem aus taktischen Gründen als Warnung an ihre Anhänger, denn Suu Kyi war klar, dass jeder Aufstand gegen das bis an die Zähne bewaffnete Militärregime zum Scheitern verurteilt war. Doch genau betrachtet bedeutet dieses Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit nicht, dass Suu Kyi als Teil der Regierung jegliche Gewaltanwendung des Staates verhindert hätte. Das zeigte sich bei der Vertreibung der Rohingya im Jahr 2017, die die Friedensnobelpreisträgerin – obwohl seit 2016 die De-facto-Regierungschefin von Myanmar – weder verhindert noch kritisiert hat. Äußerungen und Überlegungen, wie sie Suu Kyi während ihrer 15 Jahre im Hausarrest verlauten ließ, könnten seit ihrer erneuten Verhaftung am 1. Februar 2021 wieder Aktualität erlangen.
Der Kampf um Demokratie als „Revolution des Geistes“ Wie Aung San Suu Kyi 1996 schrieb, sind Politik und Religion keine getrennten Bereiche. Für sie gehören spirituelle Freiheit und gesellschaftlich-politische Freiheit zusammen, denn „in Wirklichkeit sind dhamma [die Lehre des Buddha] und Politik im selben Prinzip verankert – in der Freiheit.“8 Für sie bilden beide Sphären, die spirituelle und die weltliche, eine Einheit. Konsequenterweise vertritt sie einen ‚engagierten Buddhismus‘, d. h. einen Buddhismus, der sich, falls erforderlich, in die Politik einmischt. Diese Auffassung steht voll in der Tradition des politischen Buddhismus in Birma und anderer Staaten Südostasiens, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Repression und Verwestlichung in der Kolonialzeit entwickelt hatte.9 Suu Kyi bezeichnete ihren Kampf um Demokratie als eine ‚Revolution des Geistes‘. Wenn man die politische Lage in Birma ändern wolle, dürfe man nicht nur materielle Dinge ändern, sondern auch geistige. Das bedeutet, dass
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___________________________ Der Kampf um Demokratie als „Revolution des Geistes“
das neue politische System – die Demokratie – sich an anderen spirituellen Werten orientieren muss als die, nach denen man bisher gelebt hat. Suu Kyi hoffte, dass es wegen der großen Schwierigkeiten, denen die Menschen unter dem Militärregime ausgesetzt waren, eines Tages zu einer Renaissance in Myanmar kommen würde, die buddhistische Werte mit politischen Prinzipien verbindet – eine Politik, wie sie U Nu, der letzte frei gewählte Ministerpräsident Birmas, praktiziert hatte. Aufgrund der enormen Repression, der die Demokratiebewegung seit den 1960er Jahren ausgesetzt war – jede aktive politische Betätigung der NLDPolitiker wurde gewaltsam unterdrückt –, gab es praktisch keine Möglichkeit für eine politische oder soziale Revolution. Auch dies war ein Grund, die Revolution zunächst im Geistigen zu suchen: „Wir sind so sehr eingeengt durch verschiedenste diskriminierende Vorschriften, dass wir als politische oder soziale Bewegung kaum einen Spielraum haben. Deshalb musste es weitgehend eine geistige Bewegung sein.“10
Doch es war gerade diese brutale Repression durch die Militärs, die der Demokratiebewegung viel Sympathie eintrug: „Gerade weil das Regime in der Behandlung der Opposition so hart und unbarmherzig vorgegangen ist, hat es uns eine Menge Sympathie im Land selbst sowie in der übrigen Welt eingebracht.“11
Dem ‚engagierten Buddhismus‘, wie ihn Aung San Suu Kyi versteht, liegt das buddhistische Prinzip der metta zu Grunde, d. h. eine Haltung der Güte und des Wohlwollens, die ein wesentlicher Teil der traditionellen buddhistischen Unterweisung in Myanmar ausmacht. Laut Suu Kyi ist metta „tätiges Mitleid“, das sich nicht damit begnügt, die Menschen nur passiv zu bemitleiden. Stattdessen sei es eine Haltung, sich aktiv zu kümmern und alles zu tun, um anderen zu helfen. Suu Kyi zitiert die Metta Sutra, eine der Abhandlungen Buddhas: „Gleich einer Mutter, die für ihr einziges Kind sorgt.“ Dieses buddhistische Gleichnis zeige die wahre metta. Auf die Frage eines Journalisten, warum sie in ihren öffentlichen Reden viel über Religion spreche, antwortete Suu Kyi: „Weil es in der Politik um Menschen geht und weil Sie die Menschen nicht von ihren spirituellen Werten trennen können.“12 Suu Kyi ist sich des Vorteils bewusst, den sie als Tochter des National- und Freiheitshelden Aung San in der birmanischen Bevölkerung genießt, die ihr,
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der Ikone der Demokratiebewegung, viel Sympathie und Vertrauen entgegenbringt. Ihr Vater habe viel metta angesammelt, auf dem sie aufbauen konnte: „Ich glaube, das birmanische Volk hat mir vor allem deshalb so viel Vertrauen geschenkt, weil es so viel Liebe für meinen Vater empfand. Sie haben niemals an seinem Wohlwollen ihnen gegenüber gezweifelt. Und er hatte in seinem Leben bewiesen, dass er bereit war, sich für sie aufzuopfern. Dafür haben sie ihn geliebt, und ich glaube, ein großer Teil dieser Liebe ist auf mich übertragen worden. Damit hatte ich von Beginn an einen Vorteil — ein bereits angesammeltes Kapital von metta, auf dem ich aufbauen konnte. Deshalb gibt es eine unlösbare Verbindung zwischen dem Umstand, dass ich die Tochter meines Vaters bin, und der Tatsache, dass es dem Volk und mir gelungen ist, zwischen uns feste Bande des metta zu knüpfen.“13
Alles nur leere Worte? Trotz all ihrer Bekenntnisse zur Gewaltfreiheit muss man fragen, ob Suu Kyi jemals aus dem Schatten ihres charismatischen Vaters, der als General die Anwendung von Gewalt keineswegs scheute, herausgewachsen ist.
Die Vertreibung der Rohingya – eine ethnisch-religiöse Säuberung Liest man all diese von Aung San Suu Kyi vorgetragenen Bekenntnisse zu Gewaltlosigkeit, so überrascht es umso mehr, dass sie als De-facto-Regierungschefin keine Einwände gegen die gewaltsame Vertreibung der Rohingya hatte.14 Hat sie ihre eigenen Ideale verraten? Über 900.000 Rohingya sind seit 2017 vor Terror und Gewalt nach Bangladesch geflohen – eine humanitäre Katastrophe, die dem internationalen Renommee Myanmars, aber auch dem der Friedensnobelpreisträgerin enorm geschadet hat. Fast alle Rohingya vegetieren lieber in den Elendslagern in Bangladesch, als zurückzukehren zu Hass und Gewalt. Tatsächlich waren es buddhistische Mönche, die den Hass gegen die muslimische Minderheit schürten, schon seit Jahren immer wieder zu Pogromen aufriefen und zuweilen mit Knüppeln in der Hand bei Gewaltexzessen gegen die Rohingya voranschritten. In Myanmars größter Stadt Rangun demonstrierten Tausende Birmanen – angeführt von buddhistischen Mönchen in ihren roten Roben – gegen die muslimische Minderheit. Sie forderten unter
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dem Beifall der Menge vom birmanischen Militär mehr Härte gegen die Rohingya. Ultranationalistische Mönche wie der Abt Ashim Parmauka scheinen das westliche Bild vom toleranten Buddhismus zu widerlegen: „Die Muslime wollen uns Buddhisten ausrotten. Das ist das Problem. Sie benutzen die Macht der Medien, um die Welt davon zu überzeugen, dass sie Opfer sind. Aber das sind sie nicht. Sie töten. Ein Buddhist, der einen anderen Menschen tötet, nimmt Schuld auf sich. Der Islam lehrt, dass es nicht nur erlaubt ist, Ungläubige zu töten, sondern heilige Pflicht.“15
Parmauka benutzte Internetplattformen, was zu einer raschen Verbreitung und Resonanz seiner Hetze in der Bevölkerung führte. Dass buddhistische Mönche, die beim Aufstand von 1988 selbst Opfer brutaler Übergriffe des Militärs waren, zur Gewalt aufrufen und dabei die Lehre des Buddha pervertieren, überrascht, denn der in Myanmar praktizierte Theravada-Buddhismus, der die Botschaft des Religionsgründers in besonders reiner Form bewahrt hat, ist eigentlich absolut pazifistisch und gewaltlos. Das hindert die Mönche jedoch nicht, sich in die Politik einzumischen. Der politische Buddhismus hat in Myanmar eine lange Tradition. Schon in den 1930er Jahren kam es im städtischen Bereich zu blutigen Zusammenstößen mit religiösem und ethnischem Hintergrund. In den Indo-Birmanischen Unruhen von 1938 entluden sich die Spannungen zwischen Birmanen und eingewanderten Indern, die den städtischen Handel weitgehend monopolisiert und die Birmanen aus angestammten Bereichen verdrängt hatten. Diese blutigen Ausschreitungen sind deshalb bemerkenswert, „weil sie den Zusammenhang religiös motivierter Agitation mit politisch-wirtschaftlichen Problemen besonders deutlich werden lassen.“16 Eine problematische Rolle spielten dabei buddhistische Mönche (Pongyis), die sich oft als Anführer bei gewalttätigen Übergriffen gegen indische Muslime hervortaten. Fakt ist, dass sich eine große Zahl von Mönchen an diesen Unruhen beteiligte, wobei zahlreiche Klöster zu ihrer Vorbereitung missbraucht wurden. In diesen von den radikalen Mönchen angezettelten und angeführten Ausschreitungen wurden zahlreiche Inder vom Mob massakriert, woran sich auch einzelne Mönche als Täter beteiligt haben sollen. Nicht selten verbanden sich die Mönche mit radikalen politischen Gruppen, was dazu führte, dass die Pongyis von Politikern für ihre Zwecke eingespannt werden konnten. Offenbar auch im Falle der Rohingya, die ja Muslime indischer Herkunft sind.
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Die Rohingya sind eine ethnische Minderheit muslimischen Glaubens (ca. eine Million Menschen), die bis zu ihrer Vertreibung im Herbst 2017 hauptsächlich im nördlichen Teil des an Bangladesch grenzenden birmanischen Rakhine-Staates sesshaft waren, einem der ärmsten Teile Myanmars. Dort lebten sie seit fast zweihundert Jahren, seit die britischen Kolonialherren sie als billige Arbeitskräfte ins Land geholt hatten. Doch von Anfang an wurden die Rohingya ausgegrenzt und diskriminiert; sie gelten als eine der weltweit am stärksten verfolgten Minderheiten.17 So ordnete die Regierung im Mai 2013 ‚zum Abbau von ethnischen Spannungen‘ an, dass die Rohingya im Rakhine-Staat nicht mehr als zwei Kinder haben dürfen, da ihre angeblich zehnmal so hohe Geburtenrate die buddhistische Mehrheit in eine Minderheit verwandeln könne. Seit den 1970er Jahren waren sie regelmäßig Übergriffen nationalistisch-birmanischer Buddhisten sowie vonseiten der Regierung ausgesetzt. Trotz der Hetze und Übergriffe buddhistischer Mönche gegen die Rohingya sei es „kein religiöser Konflikt“, konstatiert der FernostExperte Peter Achten, „sondern ein ethnisch-sozialer Konflikt. Dieser ist ja schon während der englischen Kolonialzeit aufgebrochen. Der ganze Konflikt trägt auch rassistische Züge. Es ist interessant, dass man im Burma immer wieder hört, die Burmesen seien die Hellhäutigen und die Bengali, das seien die Dunkelhäutigen.“18 Doch man darf die religiöse Komponente in diesem Konflikt nicht unterschätzen. Wie die Hetze nationalistischer buddhistischer Mönche zeigt, mischen sich ethnische und religiöse Motive bei der Verfolgung der Rohingya. Offenbar ließen sich einige Mönche von der Politik gegen diese muslimische Minderheit instrumentalisieren. Doch diese gewaltbereiten politischen Pongyis repräsentieren nicht die Gemeinschaft der buddhistischen Mönche, den Sangha, in seiner Gesamtheit.19 Die Spannungen zwischen den beiden Ethnien wurden schon von früheren Militärregierungen oft als Vorwand für repressive Interventionen benutzt. Laut Amnesty International haben die Rohingya seit 1978 unter den gewaltsamen Aktionen der Militärdiktatur so sehr gelitten, dass viele schon damals in das benachbarte Bangladesch flohen. Zwar hatte der UN-Hochkommissar 2005 die Repatriierung der RohingyaFlüchtlinge nach Rakhine geplant, aber Berichte über dortige Menschenrechtsverletzungen vereitelten die Umsetzung dieses Vorhabens. Nach den lokalen Unruhen von 2012 verblieben ca. 140.000 Rohingya in den Lagern.
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Doch erst 2017 kam es wegen der von der Armee (Tatmadaw) verübten Gräueltaten an Zivilisten zum Massenexodus der Rohingya aus Myanmar. Aber auch die Rohingya waren an Gewalthandlungen nicht unbeteiligt. Am 9. Oktober 2016 starteten Aufständische der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA), des militärischen Arms der Widerstandsbewegung, ihren ersten Angriff auf drei birmanische Grenzposten. Ein zweiter großangelegter Angriff erfolgte am 25. August 2017. Gegründet 2012 in Folge von anti-muslimischen Gewaltexzessen und ursprünglich als Harakat al-Yaqin („Glaubensbewegung“) bekannt, änderten die Aufständischen ihren Namen 2017 in ARSA. Die Zahl ausgebildeter Kämpfer wird auf wenige Hundert geschätzt. Bei ihren Angriffen auf birmanische Grenzposten und Polizeistationen stützte sich die Truppe auf mehrere Tausend einberufene Dorfbewohner, die lediglich mit selbstgebauten Stich- und Handfeuerwaffen ausgerüstet waren. Es wurde berichtet, dass die ARSA-Kämpfer Training und Unterstützung von außerhalb Myanmar erhalten hätten, was ihr Anführer Ata Ullah jedoch entschieden zurückwies. Er beteuerte, dass die Ziele von ARSA strikt ethnonationalistisch und nur darauf ausgerichtet seien, die seit langem verfolgte Rohingya-Bevölkerung im Rakhine-Staat zu verteidigen. In den Monaten, die den Angriffen vom 25. August 2017 vorangingen, tötete ARSA laut Amnesty International im nördlichen Rakhine-Staat Dutzende Muslime und Buddhisten, die im Verdacht standen, Regierungsspione zu sein. Dann, am 25. August, startete ARSA dort nahezu gleichzeitig Angriffe auf 30 Polizei-Außenposten (sowie einen Armeestützpunkt) und tötete laut Medienberichten zwölf Staatsbeamte, davon elf Sicherheitskräfte der Tatmadaw, welche daraufhin die ARSA zur Terrororganisation erklärte. Eine Spirale der Gewalt wurde in Gang gesetzt, denn die Reaktion auf diese Attacken waren ‚Säuberungsoperationen‘ der birmanischen Armee. Diese Razzien gegen die Rohingya beschrieben die Vereinten Nationen als „ethnische Säuberungen wie aus dem Lehrbuch“.20 Die in Ausmaß und Brutalität exzessive Antwort der Armee Myanmars zielte weniger auf die ARSA, sondern auf die Rohingya-Bevölkerung als Ganzes. Offenbar sollten die Rohingya durch systematische Gewaltexzesse zur Massenflucht genötigt und so aus dem birmanischen Staatsgebiet vertrieben werden.21
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Das Tula Toli Massaker Eine dieser ‚Säuberungen‘ fand in Tula Toli statt. Am Morgen des 30. August 2017 kamen Hunderte uniformierte Soldaten der Armee und bewaffnete Dorfbewohner aus der Volksgruppe der Rakhaing (auch als Rakhine oder Arakanesen bezeichnet) in das Dorf. Die Rohingya, darunter auch Bewohner umliegender Gebiete, die nach den Angriffen auf ihre Städte in den vorausgegangenen Tagen nach Tula Toli geflüchtet waren, suchten am Flussufer Zuflucht. Der breite Uferstreifen umschließt das Dorf von drei Seiten. Dorfbewohner, die dem Massaker entkamen, berichten, dass Soldaten und Rakhaing-Kollaborateure zuerst die Hütten der Rohingya plünderten und Leute verhafteten – das Präludium für den kommenden Gewaltexzess. Die Angreifer umzingelten Tula Toli und blockierten alle Dorfausgänge. Der Rakhaing-Dorfälteste versicherte den Rohingya noch, dass die Soldaten ihnen nichts antun würden, aber ihre Häuser niedergebrannt würden.22 Doch die Soldaten schossen in die versammelte Menge und auf jeden, der fliehen wollte. Frauen und Kinder wurden von den Männern getrennt und aufgefordert, sich am Flussufer hinzusetzen. Dann befahlen die Soldaten ihnen, aufzustehen und wegzurennen. Als sie damit begannen, eröffneten die Soldaten das Feuer. Einige Frauen, die versuchten, über den Fluss schwimmend den Kugeln zu entkommen, ertranken in der starken Strömung. Dann warfen die Soldaten Babys und Kleinkinder in den Fluss. Wie Augenzeugen berichteten, wurden die Männer am Flussufer in einer Reihe aufgestellt, mit Maschinengewehren niedergemäht, enthauptet, lebendig verbrannt, aufgehängt oder durch Granaten zerfetzt. Nach einer Pause befahlen die Soldaten den Überlebenden aufzustehen, um dann auch diese Opfer zu erschießen. Die Leichen wurden von der Armee in ein Massengrab am Flussufer geworfen und verbrannt, um keinen Beweis für das Massaker zurückzulassen. Die 24-jährige Shawfika, die zusah, wie ihr Ehemann und ihr Schwiegervater getötet wurden, sagte, das Töten am Strand habe sich über Stunden hingezogen: „Sie hörten einfach nicht auf, Männer einzufangen, zum Hinknien zu zwingen und zu töten. Dann legten sie ihre Leichen auf einen Haufen. Zuerst schossen sie auf sie und wer dann immer noch lebte, wurde mit Macheten getötet … Sie brauchten eineinhalb Stunden, um alle Leichen fort zu tragen.“23
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___________________________________________ Warum schwieg Aung San Suu Kyi?
Amnesty International sprach mit sieben Rohingya-Frauen aus den Dörfern Min Gyi im Township Maungdaw und Kyun Pauk im Township Buthidaung.24 Eine Gruppe von rund 30 Frauen hatten das Massaker überlebt. Sie beschuldigten die Armee, fünf Frauen aus der Gruppe in nahegelegene Hütten verschleppt und vergewaltigt zu haben. Nach der Vergewaltigung raubten die Soldaten ihren Schmuck, schlugen sie und verbrannten ihre Hütten. Laut der Aussage einer Überlebenden des Massakers gelang es einer Gruppe Kinder zu entkommen und in einem nahen Reisfeld Schutz zu suchen. Aber sie wurden später von den Soldaten gefangen, hingeworfen und aufgespießt; ihre Leichen wurden in den Fluss geworfen. Wie Amnesty International konstatiert, hat das birmanische Militär in Zusammenarbeit mit der Grenzschutzpolizei eine brutale, systematisch organisierte Gewaltaktion durchgeführt. Amnesty präsentierte Beweismaterial, wonach die Armee Hunderte Frauen, Männer und Kinder der Rohingya getötet, Frauen vergewaltigt und gezielt ganze Dörfer niedergebrannt hat. Doch das Massaker von Tula Toli war nur der Auftakt für weitere Gewaltexzesse dieser Art. Es wurde geschätzt, dass das Militär und lokaler Mob mehrere Zehntausend Rohingya getötet und Massenvergewaltigungen verübt hat. Laut Schätzungen wurden weit über 100.000 Rohingya misshandelt und Tausende ins Feuer geworfen. Es wurde berichtet, dass allein im ersten Monat seit Beginn der Razzien mindestens 6.700 Rohingya (einschließlich 730 Kinder) getötet wurden.25 Laut Aussagen von Täterseite (zwei beteiligte Soldaten) kamen Tötungsbefehle von Vorgesetzten: „Erschießt alle, die ihr hört, und alle, die ihr seht“, so sagt es der Soldat Myo Win Tun. Der zweite Soldat und ehemalige buddhistische Mönch Zaw Naing Tun, bezeugte einen ähnlichen Befehl seines Vorgesetzten: „Bringt alle um, die ihr seht, egal ob Kinder oder Erwachsene.“ Zaw Naing Tun gibt an, er sei nach diesem Befehl an der systematischen Auslöschung von 20 Dörfern beteiligt gewesen.26
Warum schwieg Aung San Suu Kyi? „Wieso hat Aung San Suu Kyi ihre Position nicht genutzt, um die Verbrechen der Armee gegen die Rohingya zu stoppen?“, fragte nicht nur die UN-Ermittlerin Radhika Coomaraswamy.27 Suu Kyi gilt außerhalb Myanmars inzwischen als große Enttäuschung, hat sie doch zur gewaltsamen Vertreibung
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der muslimischen Minderheit geschwiegen. Ein Grund für ihr Schweigen mag der Druck der öffentlichen Meinung sein, die Tatsache nämlich, dass das brutale Vorgehen der Armee gegen die Rohingya auch die Zustimmung der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit im Teilstaat Rakhine fand. Ein weiterer Grund für ihr Schweigen war möglicherweise, dass die Friedensnobelpreisträgerin – die Machtverhältnisse in Myanmar nüchtern einschätzend – sich mit den Militärs nicht anlegen wollte; wie sich bald gezeigt hat, eine realistische Einschätzung. Außerdem wusste sie, dass ihre Beliebtheit im Volk rasch verflogen wäre, setzte sie sich für die ungeliebte muslimische Minderheit der Rohingya ein. Früher riskierte sie ihre Freiheit für ihre Ideale, „doch womöglich interessiert die Nationalistin Suu Kyi das Schicksal der Rohingya auch genauso wenig wie die Mehrheit ihrer Landsleute,“ vermutet ein Berichterstatter.28 Hat die fromme Buddhistin Suu Kyi tatsächlich ihre Ideale auf dem Altar des Nationalismus geopfert? War sie über das Ausmaß der Verbrechen des Militärs gegen die Rohingya nicht korrekt informiert? Fest steht, dass die De-facto-Regierungschefin weder die Brandschatzungen der Armee im Teilstaat Rakhine noch die Vertreibung von fast einer Million Rohingya jemals öffentlich verurteilt hat. Stattdessen versuchte sie, die Gewalttaten herunterzuspielen, und rang sich eine vage Erklärung ab: „Ich verstehe, dass viele unserer Freunde in der ganzen Welt beunruhigt sind über die Berichte von niedergebrannten Dörfern und Massenfluchten. Wir sind ebenfalls beunruhigt und wollen herausfinden, was die wahren Probleme sind. Es gab Vorwürfe und Gegenvorwürfe. Wir müssen ihnen allen zuhören, bevor wir weitere Schritte unternehmen. Ich denke, es ist wenig bekannt, dass die große Mehrheit der Muslime im Rakhine-Staat sich dem Exodus nicht angeschlossen haben. Über die Hälfte aller muslimischen Dörfer sind unversehrt. Genau so, wie sie vor den Angriffen waren.“29
Der Generalsekretär von Amnesty International, Kumi Naidoo, warf Aung San Suu Kyi in einem Brief vor, Gräueltaten des Militärs zu dulden und die Meinungsfreiheit nicht ausreichend zu schützen. Offenbar war es den Generälen gelungen, Aung San Suu Kyi so sehr einzuschnüren, dass nach Den Haag fuhr, „um in einer bizarren Episode die Generäle vor dem höchsten UN-Gericht gegen Völkermordvorwürfe in Schutz zu nehmen. Dieser Moment markiert den bisherigen Tiefpunkt ihrer Karriere, zumindest in der Wahrnehmung ihrer früheren Bewunderer. Diese klagten, sie habe nun endgültig ihre einstigen Ideale verraten.“30
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___________________________________________ Warum schwieg Aung San Suu Kyi?
Das Nobelpreiskomitee hatte Suu Kyi 1991 als „ein wichtiges Symbol im Kampf gegen die Unterdrückung“ gewürdigt, um damit jene zu unterstützen, „die mit friedlichen Mitteln nach Demokratie, Menschenrechten und ethnischer Versöhnung streben“.31 Für die Menge der Demonstranten, die sich nun vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag versammelt hatten, war sie das genaue Gegenteil: eine Entschuldigung für militärische Brutalität, eine Unterdrückerin ethnischer Minderheiten und eine Befürworterin des Völkermords. „Aung San Suu Kyi, schäme dich!“, sangen sie, als ihre Wagenkolonne mit getönten Fenstern vorbeifuhr. Hohn- und Buhrufe erschallten im wachsenden Crescendo.32 Im Dezember 2019 untersuchte der IGH, ob das birmanische Militär einen Völkermord verübt hat und ob Notmaßnahmen zum Schutz der im Land verbliebenen Rohingya nötig seien. Der IGH, auch Weltgericht genannt, hat seinen Sitz im Haager Friedenspalast. Seit 1946 werden dort Klagen von Staaten gegen andere Staaten verhandelt, wobei es oft um territoriale Ansprüche geht. Doch noch nie ging es um das größte aller Verbrechen, um Völkermord.33 Kläger in diesem Prozess vor dem IGH war stellvertretend für 57 islamische Staaten der westafrikanische Staat Gambia. Er wirft Myanmar vor, die UN-Konvention gegen Völkermord, der beide Staaten angehören, gebrochen und 2017 einen Genozid an der muslimischen Minderheit der Rohingya geplant zu haben. In Bezug auf Aung San Suu Kyis Motivation, sich für die Sache der Beklagten einzusetzen, schreibt The Economist: „Es ist schwer, sich der Schlussfolgerung zu entziehen, dass sie das Elend der Rohingya ausnutzt, um die Aussichten ihrer Partei bei den für 2020 anstehenden Wahlen zu verbessern.“34 Ein schwerwiegender Vorwurf, der, falls er zuträfe, bedeutete, dass Suu Kyi ihre ethischen Ideale zugunsten wahltaktischer Vorteile über Bord geworfen hat. Tatsächlich kam ihr Einsatz in Den Haag bei der birmanischen Bevölkerung gut an, und ihre Partei gewann die Wahlen 2020 haushoch. Doch analysiert man ihre Verteidigungsrede vor dem Gericht, so erweist sich der Vorwurf des Economist als überzogen, wenn nicht falsch. Den aus ihrer Sicht unzutreffenden Genozid-Vorwurf wollte Suu Kyi mit Argumenten widerlegen, um das internationale Renommee ihres Landes zu retten. Angeklagt in Den Haag war nicht die Außenministerin als Person, sondern ihr Land Myanmar. Aung San Suu Kyi ließ es sich nicht nehmen, selbst vor
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dem Gerichtshof zu erscheinen, um ihr Land zu verteidigen. Von Völkermord könne keine Rede sein, sagte die Friedensnobelpreisträgerin vor Gericht. Das westafrikanische Gambia, das Myanmar verklagt hat, habe ein „unvollständiges und irreführendes“ Bild von der tatsächlichen Lage im Bundesstaat Rakhine gezeichnet, sagte sie zu Beginn ihrer Rede.35 Die Massenvertreibungen während der Balkan-Kriege in den 1990er Jahren seien auch nicht als Völkermord verurteilt worden. Die internationale Justiz habe damals den Genozid-Vorwurf nicht erhoben, weil es die Intention, die betroffene Gruppe als ganze oder teilweise zu vernichten, nicht gegeben habe.36 Weiter führte Suu Kyi aus, die Probleme in Myanmars Bundesstaat Rakhine, in dem die Rohingya leben, reichten Jahrhunderte zurück. Es gebe hier einen internen Konflikt zwischen der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) und dem Tatmadaw. Die jetzige Situation sei eine Antwort des birmanischen Militärs auf Angriffe der ARSA. „Dieser Konflikt habe tragischerweise zum Exodus Tausender Menschen geführt. Wenn das Militär Myanmars Kriegsverbrechen begangen haben sollte, dann würden diese strafrechtlich verfolgt. Eventuelle Verbrechen fielen aber nicht unter die VölkermordKonvention von 1948, betonte Suu Kyi. Wir haben es mit einem internen bewaffneten Konflikt zu tun, der von der Rohingya-Armee begonnen wurde.“37
Aus ihrer Sicht handelte es sich bei den Angriffen der ARSA im August 2017 um Terroranschläge, auf die die Armee reagieren musste. Sie fragte, wie es eine ‚genozidale Absicht‘ geben könne, wenn doch die birmanische Regierung selbst Untersuchungen eingeleitet und die geflohenen Rohingya ermutigt habe, zurückzukehren.38 Allerdings räumte Suu Kyi ein, dass einzelne Aktionen des Militärs möglicherweise unverhältnismäßig gewesen seien und dass es Verletzungen des humanitären Völkerrechts gegeben habe. Doch die birmanische Justiz sei in der Lage und willens, diese Vorkommnisse zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Sie selbst als Regierungsmitglied wolle sich nicht in die Arbeit der Justiz einmischen. Mit der Begnadigung von sieben Soldaten durch das Militär, die nachweislich eine Gruppe von Rohingya ermordet hätten, sei sie nicht einverstanden. Suu Kyi zeichnete ein positives Bild der Lage in Rakhine, wonach sich die Zentralregierung in Naypyidaw aktiv für die Verbesserung der Lebenssituation aller Menschen im Teilstaat einsetze. So erhielten Kinder aller ethnischen Minderheiten Geburtsurkunden, und für Studenten gebe es Stipendien unabhängig davon, welcher Volksgruppe sie
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angehörten. „Wie kann man von einem laufenden Völkermord oder genozidaler Absicht sprechen, wenn wir solche konkreten Schritte unternehmen?“, fragte Suu Kyi die Richter rhetorisch.39 Formaljuristisch betrachtet war Aung San Suu Kyi im Recht: Die Vertreibung der Rohingya war kein Völkermord, sondern das, was man seit Ende des Zweiten Weltkriegs als ‚ethnische Säuberung‘ bezeichnet. Man kann der birmanischen Armee keine Ausrottungsintention nachweisen – die conditio sine qua non für Genozid – wohl aber die Absicht, die muslimische Minderheit aus dem Staatsgebiet Myanmars zu vertreiben. Doch auch den Begriff ‚ethnische Säuberung‘ hatte Suu Kyi in einem Interview mit der BBC im April 2017 zurückgewiesen. Zum immer härteren Vorgehen des Militärs gegen die Rohingya sagte sie: „Ich glaube nicht, dass es sich dort um ethnische Säuberungen handelt. Ethnische Säuberung ist ein zu hartes Wort, um zu beschreiben, was dort passiert.“40 Suu Kyi forderte das Gericht auf, von Sanktionen abzusehen, denn dies würde die Situation vor Ort verschlimmern.41 Bemerkenswert ist, dass sie in ihrer halbstündigen Verteidigungsrede nicht ein einziges Mal den Begriff ‚Rohingya‘ zur Bezeichnung dieser ethnisch-religiösen Minorität verwendete.
Bilanz In ihrer Dankesrede zum Empfang des Friedensnobelpreises 2012 hatte Aung San Suu Kyi gesagt: „Gütig sein bedeutet, mit Sensibilität und menschlicher Wärme auf die Hoffnungen und Bedürfnisse anderer zu reagieren. Selbst der geringste Anflug von Mitgefühl kann ein schweres Herz erleichtern. Güte kann das Leben der Menschen verändern.“42
Doch wo war ihr Mitgefühl, als Hunderttausende Rohingya aus ihrer Heimat brutal vertrieben und viele ermordet wurden? Wo war ihr metta, das buddhistische Prinzip der Güte, des Wohlwollens und des tätigen Mitleids, zu dem sich Suu Kyi einst bekannt hatte? Alles nur leere Worte und Lippenbekenntnisse? Warum schwieg sie, als sie vom Leid und Elend der vertriebenen Rohingya erfuhr und offenbar keinerlei Empathie empfand? Die wiederholten Appelle des Dalai Lama, der sie an ihre buddhistische Pflicht erinnerte, den Rohingya zu helfen, ignorierte Suu Kyi beharrlich.43
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Abb. 25: Aung San Suu Kyi bei der Übergabe des Sakharov-Preises 2013.
Vor dem Gericht in Den Haag entpuppte sich die Friedensnobelpreisträgerin als beinharte Nationalistin, die keinerlei moralische Skrupel gegen die Vertreibung von über 900.000 Menschen hatte – eine brutale ethnische Säuberung, die allerdings im Falle der muslimischen Rohingya auch eine religiöse Komponente hat. Vielleicht auch das ein Motiv für das Schweigen der gläubigen Buddhistin? Ethnische bzw. religiöse Säuberungen sind völker- und menschenrechtlich geächtet. Man muss davon ausgehen, dass Suu Kyi als Regierungsberaterin und Außenministerin der birmanischen Regierung genaue Kenntnis von der gewaltsamen Vertreibung der Rohingya durch das Militär hatte; auch davon, dass es sich bei der ARSA nicht um eine kampffähige Armee, sondern um eine Truppe schlecht bewaffneter Rebellen handelte, die der Tatmadaw hoffnungslos unterlegen war. Die einstige Kämpferin für Frieden und Gewaltlosigkeit war zur nationalistischen Realpolitikerin
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mutiert. Aufschlussreich war ihre Entgegnung auf die Kritik, viele Menschen enttäuscht zu haben: „Ich bin nur eine Politikerin. Ich bin nicht so wie Margaret Thatcher. Aber ich bin auch keine Mutter Teresa.“44 Den Birmanen gefiel Suu Kyis Auftritt in Den Haag. Ihre Verteidigungsrede muss als Versuch des whitewashing des Militärs bezeichnet werden, das nachweislich brutale Massaker an den muslimischen Rohingya verübt hat. Im Jahr 2012 hatte Suu Kyi Reportern gesagt, dass sie nicht wisse, ob die Rohingya überhaupt als Birmanen angesehen werden könnten.45 Diese Aussage bedeutet im Kern die Ausgrenzung dieser rund eine Million Menschen zählenden Minderheit aus dem multi-ethnischen Staat Myanmar, in dem zwar Konflikte der Zentralregierung mit einzelnen Minoritäten nicht selten waren, aber niemals ein Versuch stattgefunden hat, renitente Gruppen aus dem birmanischen Staat zu exkludieren. In einem Interview 2013 mit der pakistanisch-britischen BBC-Journalistin Mishal Husain hatte Suu Kyi die Übergriffe gegen die Rohingya weder verurteilt noch abgestritten, dass die Muslime in Myanmar systematischen Gewaltakten unterworfen seien. Sie insistierte, dass die Spannungen Resultat eines „Klimas der Angst“ seien, verursacht durch eine weltweite Wahrnehmung islamischer Gewalt.46 Auch wenn sie Hass in jeglicher Form verdammte, so wird doch deutlich, dass die Buddhistin Aung San Suu Kyi gegen den Islam massive Vorurteile hegt. Nach dem Interview beklagte sich Suu Kyi abseits der Kamera: „Niemand hat mir gesagt, dass ich von einer Muslimin interviewt werde.“47 Wegen ihrer Weigerung, die Gewalt gegen die Rohingya zu verurteilen, wurden Aung San Suu Kyi mehrere Auszeichnungen entzogen: Im August 2018 der Freedom of Edinburgh Award; im September 2018 erkannte das kanadische Parlament ihr die Ehrenbürgerschaft ab; im März 2018 entzog das United States Holocaust Memorial Museum Suu Kyi den Elie Wiesel Award; im November desselben Jahres entzog ihr Amnesty International den Ehrentitel ‚Botschafterin des Gewissens‘; der Friedennobelpreis wurde ihr hingegen nicht aberkannt. Der Generalsekretär von Amnesty, Kumi Naidoo, warf Aung San Suu Kyi vor, Gräueltaten des Militärs zu dulden und die Meinungsfreiheit nicht ausreichend zu schützen. So seien Journalisten, nachdem sie über Erschießungen an den Rohingya berichtet hatten, wegen Landesverrats inhaftiert worden, was sie nicht kritisierte.48 Erst nach längerer Zeit brach Suu Kyi ihr Schweigen und rang sich auf einem Wirtschaftsforum des Verbandes südostasiatischer Staaten (ASEAN) in Hanoi eine matte Selbstkritik ab: „Im
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Nachhinein betrachtet gibt es natürlich Wege, auf denen besser mit der Situation hätte umgegangen werden können.“49 Doch indem Aung San Suu Kyi in Den Haag als birmanische Nationalistin aufgetreten ist und gegen die brutale Vertreibung der Rohingya keine Einwände erhob, hat die Friedennobelpreisträgerin ihren Nimbus als Freiheitsikone endgültig eingebüßt. Die Generäle sollten es ihr jedoch schlecht danken, dass sie die Armee in Den Haag gegen den Genozid-Vorwurf verteidigt hatte. Bei der Parlamentswahl im November 2020 erreichte Aung San Suu Kyis NLD nach offiziellen Angaben mit 80 % der Stimmen die absolute Mehrheit. Internationale Beobachter sahen die Wahl als frei und fair an. Doch die Militärs, für die stets ein Teil der Sitze in den Parlamentskammern reserviert ist, fühlten sich durch diesen überwältigen Sieg der NLD düpiert und sprachen von Wahlbetrug. Anfang Februar 2021 putschten die Generäle unter Oberbefehlshaber Min Aung Hlaing. Sie riefen den Notstand aus und gab im Staatsfernsehen bekannt, für ein Jahr die Kontrolle übernehmen zu wollen. Das Vorgehen wurde mit angeblicher Wahlfälschung begründet. Offenbar sahen die Generäle nach dem überwältigenden Wahlsieg der NLD mit Aung San Suu Kyi an der Spitze ihre eigene Machtposition bedroht. Suu Kyi, Präsident Win Myint und weitere hochrangige NLD-Mitglieder wurden inhaftiert. Im November 2021 wurden die 76-jährige Friedensnobelpreisträgerin und Win Myint in einem ersten Prozess wegen ‚Aufwiegelung‘ und ‚Verstoßes gegen ein Gesetz bei Naturkatastrophen‘ zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Weitere Prozesse mit abstrusen Beschuldigungen folgten, so im April 2022, als sie zu fünf Jahren Haft wegen ‚Korruption‘ verurteilt wurde. Weitere Prozesse mit fabrizierten Anklagen von Bestechung bis zu Wahlverstößen folgten, so auch im August desselben Jahres, als sie zu weiteren drei Jahren (inklusive Zwangsarbeit) verurteilt wurde. Zusammen könnten diese Anklagen eine Höchststrafe von rund 190 Jahren ergeben.50 Offenbar wollen die Militärs Suu Kyi psychisch und physisch brechen und so für den Rest ihres Lebens zum Schweigen bringen und politisch kaltstellen. Es sind dies Schauprozesse, in denen es nicht um Recht und Gerechtigkeit geht, „sondern um eine Inszenierung, mit der man gegenüber dem Ausland belegen möchte, dass alles seine Ordnung hat.“51 Das dürfte angesichts der Brutalität der Junta schwerfallen. Seit Februar 2021 sind mehr als 10.000 Personen inhaftiert worden; laut Beobachtern wurden mehr als 1.700 Menschen bei Protesten, Hausdurchsuchungen und
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durch Folter im Gefängnis getötet.52 Im Untergrund hat sich eine Zivilregierung gebildet, die National Unity Government (NUG), mit Aung San Suu Kyi als Vorsitzende. Ihrer Popularität in Myanmar dürfte ihre Verhaftung einen neuen Schub verliehen haben. Auch die internationale Kritik an der entmachteten Politikerin dürfte verstummen. Allerdings war sie in Myanmar niemals als wirklich souveräne Regierungschefin an der Macht. Das Präsidentenamt durfte sie wegen einer auf sie zugeschnittenen Sperrklausel in der von den Generälen formulierten Verfassung nicht bekleiden.53 Offenbar fungierte Suu Kyi den Militärs als Aushängeschild für ein angeblich demokratisches Myanmar, war aber faktisch ihre Marionette. Der mit ihrer Inhaftierung neu erlangte Märtyrerstatus ändert aber nichts an ihrem moralischen Versagen in Sachen Rohingya-Vertreibung. Und auch wegen ihres in den letzten Jahren zunehmend autokratischen Politikstils wird Aung San Suu Kyi von vielen, besonders den jüngeren Exilanten kritisch gesehen.
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Vorwort 1 2
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Hauenstein 2020. Diese Antirassismus-Bewegung hatte sich an der brutalen Tötung des 46-jährigen AfroAmerikaners George Perry Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch einen weißen Polizisten entzündet. Der Fall löste landesweite Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus in den Vereinigten Staaten und anderen Teilen der Welt aus, so auch in Deutschland. Siehe dazu den Bericht des Nachrichtensenders der Welt, abrufbar unter https://www. youtube.com/watch?v=EIPeEKkr4lg [Zugriff: 30.3.2022]. Zit. nach Menden 2021, S. 9. Vgl. Fellmann 2021, S. 9. Als Urheberin des Farbanschlags bekannte sich die Gruppe Creare è distruggere („Schöpfen ist Zerstören“). Im Bekennerschreiben heißt es: „Kann man zulassen, dass Persönlichkeiten geehrt werden, die aus dem Faschismus eine Mentalität gemacht haben, ohne Sinneswandel?“ Knapp hundert Jahre nach der Machtübernahme durch den faschistischen Diktator Benito Mussolini (1883–1945) wird in Italien die Frage nach der faschistischen Vergangenheit und deren vernachlässigter Aufarbeitung gestellt. Im Zuge von Black Lives Matter wurde bereits 2020 eine Statue des konservativen Journalisten und Ex-Faschisten Indro Montanelli in Mailand verunstaltet (vgl. Wysling 2021). Nicht überall verschwand sein Name, z. B. behielt die Mackensen-Kaserne in Karlsruhe nach kontroverser Diskussion im Stadtrat ihren Namen. Allerdings hatten bereits die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg einen umfassenden Denkmalsturz in Deutschland eingeleitet. Eine Direktive des Alliierten Kontrollrats verlangte 1946 die Entfernung militaristischer und nationalsozialistischer Denkmäler aus dem öffentlichen Raum. Zu besichtigen sind die in Berlin abmontierten Figuren in der Dauerausstellung Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler, die 120 Statuen, Skulpturen, Standbilder und Stelen zeigt. Bilderstürmerei ist allerdings kein neues Phänomen. Schon in den Jahrhunderten vor der Reformation wurden als iconoclastes („Bilderstürmer“) meist Delinquenten bezeichnet, die mutwillig christliche Kunst beschädigten. Im 16. Jahrhundert gab es einen großen Bildersturm als Begleiterscheinung der Reformation. Menden 2021, S. 9. Das Gegenteil einer wertebasierten kritischen Geschichtsreflektion ist der mit dem aus der US-Filmbranche stammenden Begriff whitewashing („Schönfärberei“) verbundene
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Anmerkungen ____________________________________________________________
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Versuch, die Geschichte zu tünchen, um ein positives Bild problematischer historischer Aktionen und ihrer Protagonisten zu bewahren. So wird in einigen US-Bundesstaaten der Geschichtsunterricht in den Schulen bei der Darstellung von Sklaverei, Bürgerkrieg und Rasse in diesem Sinne zu beeinflusst. Dabei wurde in einigen Kapiteln auf Vorarbeiten zurückgegriffen, insbesondere mein Abgründe der Gewalt (2019).
Der Nationalheld 1
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Fast immer sind es Männer, die als Nationalhelden gefeiert werden; meist waren es Kriegsherren und Eroberer. Aber es gibt Ausnahmen: Drei nationale Heldinnen werden in diesem Buch porträtiert, von denen freilich nur eine als Kriegerin auftrat. Aus Lesbarkeitsgründen verzichtet dieses Buch auf gendergerechte Sprache. Vgl. Pink 2019. Langewiesche 2004, S. 376. Hein-Kircher 2007, S. 27. Linnartz 2021. „Das Phänomen der invention of tradition wird besonders sichtbar in der modernen Entwicklung der Nation und des Nationalismus, wo es nationale Identität stiftet, welche die nationale Einheit fördert und bestimmte nationale Institutionen oder kulturelle Praktiken legitimiert.“ (Hobsbawm 2012, S. 1 f., eigene Übersetzung) Pink 2019. Linnartz 2021, S. 49. Pink 2019. Vgl. Dann 1996, S. 42. Mayer 2004, S. 45. Ebd. Dahm 2020. Schulze 1985, S. 124. Vgl. auch Hans Magnus Enzensberger: „Etwas Bornierteres als den Zeitgeist gibt es nicht. Wer nur die Gegenwart kennt, muß verblöden. […] Wer sich ganz und gar dem Zeitgeist verschreibt, ist ein armer Tropf.“ (zit. nach Heitmann 2015, S. 13) Die Vorstellung von Menschenrechten ist kein rein westliches oder neuzeitliches Phänomen, sondern in allen Epochen und Regionen der Welt präsent und häufig mit religiösen und kulturellen Wertvorstellungen verbunden. Erste Beispiele verbriefter Menschenrechte finden sich bereits im Jahre 2100 v. Chr. mit dem Codex Ur-Nammu aus Mesopotamien, der u. a. ein Recht auf Leben vorsah, oder 538 v. Chr. mit dem KyrosZylinder aus Persien. Vgl. Barnard 1997 und Schreiner 1997.
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Der biblische Moses 1 2 3
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Zu den Hebräern zählten auch die Israeliten. Wolffsohn 2015, S. 16 f. Alle Bibelzitate nach der Einheitsübersetzung: Die Bibel – Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung, Freiburg/Basel/Wien 1980. Wolfssohn 2015, S. 158 f. Die Darstellung im Alten Testament ist von der Bann-Idee durchdrungen. Hier wird die Landnahme der Israeliten als eine rasche, nahezu ununterbrochene Abfolge von „Vernichtungsweihen“, d. h. Ausrottungen an der ansässigen Bevölkerung geschildert, die auf direkten Befehl Gottes ausgeführt wurden (so z. B. unter Moses im Negev und im Ostjordanland: 4. Mose 21,3, 5. Mose 2,34 und 3,6, Jos 2,10). Schließlich setzt Josua diesen Auftrag bei seinen Blitzfeldzügen in den Süden (Jos 10,1.28.35.37.39 f.) und den Norden Palästinas (Jos 11,11 f. und 20 f.) in die Tat um. Ein ums andere Mal wird betont, dass in den eroberten Städten kein menschliches Wesen am Leben blieb. Zit. nach Leap 2015. Wolffsohn 2015, S. 161. Doch erinnert die von ihm als Kriegspremier angeordnete (bzw. tolerierte) Auslöschung deutscher Städte durch Flächenbombardements fatal an die Austilgungen biblischer Städte durch Moses und Josua (► Winston Churchill). Hentschel 2016, S. 262; beim Binnenzitat handelt es sich um eine nicht näher belegte Aussage Erich Zengers. Als „Erzelterngeschichte“ (traditionelle Väter- und Müttergeschichte) bezeichnet man die gesammelten Erzählungen über die Stammväter der Israeliten (1. Mose 12–50). Finkelstein/Silberman 2006, S. 107. Ebd. Vgl. Ben-Tor 2013 und Ben-Tor 2016; s. auch Zick 1996. Wolffsohn 2015, S. 161. Vgl. Zimmermann 2013. „Die Palästinenser sind Semiten und Araber, und darauf legen sie zu Recht Wert. Wenn sie aber Semiten und Araber sind, können die indoeuropäischen Philister nicht ihre Vorfahren sein.“ (Wolffsohn 2015, S. 165) Koldau 2006, S. 183. Vgl. Cuffari 2006. Zit. nach Leap 2015.
Alexander der Große 1 2
Vgl. Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 2, S. 253. Wittfogel 1962, S. 203.
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Zit. nach Heuß 1954, S. 88 f. Nachträglich wurde die Zerstörung von Persepolis’ als Rache für die Zerstörung der athenischen Akropolis während der Perserkriege 480/79 v. Chr. gedeutet, als eine im Alkoholrausch im Rahmen eines der gängigen Saufgelage im makedonischen Führungszirkel begangenen Tat Alexanders. Dagegen hält der der Althistoriker Gustav Adolf Lehmann die Zerstörung für ein politischen Kalkül, wonach sie den definitiven Sieg über den Großkönig Dareios III. und sein Herrschaftssystem besiegeln sollte (vgl. Lehmann 2014). Für eine frühere Version dieses Kapitels vgl. Witzens 2019, S. 38 f. Die Belagerungstürme sollen eine Höhe von 45 m erreicht haben. Hier handelt es sich offenbar um eine in der Alexanderrezeption übliche Übertreibung. Auf Frachtschiffen montierte Belagerungstürme von dieser Höhe sind aus Gründen der Statik und Stabilität ausgeschlossen. Vgl. Arrian, Anabasis 2, 24. Vgl. Beloch 1886; Badian 2012; Schachermeyr 1949; Worthington 2003; Will 1986 – sie alle unterscheiden sich in ihrer Alexanderkritik nur hinsichtlich der Gewichtung verschiedener Einzelaspekte und sehen in Alexander primär einen Zerstörer.
Boudicca 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
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Cassius Dio, Römische Geschichte, 62,2, 3–4 (Ausgabe der Übersetzung: 1987, Bd. 5). Tacitus, Annalen, 14,31 (Ausgabe der Übersetzung: 2005). Tacitus, Annalen, 14,31. Cassius Dio, Römische Geschichte, 62,2. Vgl. Brodersen 1998, S. 99. Vgl. Aldhouse-Green 2006, S. 177 f. Tacitus, Annalen, 14,32. Tacitus, Annalen, 14,33. Vgl. Hingley/Unwin 2006, S. 44 und 61. Henshall 2008, S. 55. Tacitus, Annalen, 14,35. Tacitus, Annalen, 14,35. Vgl. Goldsworthy 2016. „That deceitful lioness (Boadicea) put to death the rulers who had been left among them, to unfold more fully and to confirm the enterprises of the Romans.“ (Gildas, De Excidio Britanniae, Kap. 6) Zit. nach Vandrei 2018. Martha Vandrei kommentiert Miltons Verdikt gegen Boudicca so: „Bei all seinem poetischem Genie war Milton ein eingefleischter Frauenfeind (unreconstructed misogynist), der eine Abneigung gegen mächtige Frauen hatte. Als weibliche Anführerin und obendrein Heidin verkörperte Boudicca alles, was Milton zutiefst verabscheute.“
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Vgl. Hingley/Unwin 2005, S. 135. „Regionen, die Cäsar niemals kannte, / werden deine Nachkommen beherrschen.“ (Cowper, Boadicea: An Ode; 1782) Vgl. Gillespie 2018, S. 141. „Probably the most horrible episode which our Island has known. We see the crude and corrupt beginning of a higher civilisation blotted out by the ferocious uprising of the native tribes. Still, it is the primary right of men to die and kill for the land they live in, and to punish with exceptional severity all members of their own race who have warmed their hands at the invader’s earth“ (Churchill 1965, S. 27). Die Folge ist in der ZDF-Mediathek verfügbar: https://www.zdf.de/dokumentation/ terra-x/aufstand-der-koenigin-boudica-gegen-die-roemer-100.html [Zugriff: 30.03. 2022]. Zit. nach Johnson 1994.
Karl der Große 1
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https://www.uni-heidelberg.de/studium/journal/2014/02/karl.html [Zugriff: 11.07. 2022], vgl. auch Weinfurter 2013, Kap. 1. Ebd. Für Vorarbeiten zu diesem Kapitel vgl. Witzens 2019, S. 41 f. „Bis zu 4.500 wurden ausgeliefert, und alle wurden an einem Tag auf Befehl des Königs am Fluss Aller, an einem Ort namens Verden, enthauptet.“ (Usque ad quattuor milia D traditi et super Alaram fluvium in loco, qui Ferdun vocatur, iussu regis omnes una die decollati sunt; Einhard, Annales, 1895, S. 65). Einhard, Vita Karoli Magni, 1970, S. 174 f. Vgl. Wikipedia, s. v. „Karl der Große / Die Sachsenkriege“, https://de.wikipedia.org/ wiki/Karl_der_Große#Die_Sachsenkriege [Zugriff: 30.3.2022].
Richard Löwenherz 1 2
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Zit. nach Milger 1988, S. 245. Bei der Erstürmung Jerusalems durch die Kreuzritter wurden 1099 zahlreiche Einwohner erbarmungslos niedergemacht. Die Angaben reichen von 3.000 bis 70.000, nach heutigen Schätzungen wurden ca. 10.000 Menschen getötet. Zit. nach Asbridge 2016, S. 487. Zit. nach Asbridge 2016, S. 487. Zit. nach Milger 1988, S. 256.
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Der mittelalterlichen Tugendkanon umfasste manheit („Tapferkeit“), staete („Beständigkeit“), triuwe („Treue“), zuht („Wohlerzogenheit“), höveschkeit („höfische Bildung“), werdekeit („Würde“), êre („ritterliches Ansehen“), milte („Großzügigkeit“), güete („Freundlichkeit“) und vor allem mâze („Maßhalten, Mäßigung“). Der mâze kam eine Ausnahmestellung zu: sie galt als Mutter aller Tugenden. Vgl. Boor 1957, S. 46–48. Grousset 1934–1936, zit. nach Asbridge 2016, S. 489. So der Historiker John Gillingham, zit. nach Hennies 2017, S. 11. Seewald 2017 Zit. nach Halter 2007. Zit. nach Söring 2007.
Dschingis Khan 1
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Die Geheime Geschichte der Mongolen wurde ca. ein Jahrzehnt nach Dschingis Khans Tod von mehreren Autoren aus seinem Umfeld aufgeschrieben und offenbar im Jahr 1240 auf dem mongolischen Reichstag vorgestellt. Die Geheime Geschichte ist nur in einer chinesischen Abschrift erhalten, das mongolische Original dürfte spätestens im 17. Jahrhundert verloren gegangen sein. Pax Mongolica oder der „Mongolische Friede“ ist ein durch westliche Autoren geprägter Ausdruck, um – in Anlehnung an die Pax Romana – die relativ stabilen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Inneren des Mongolischen Reiches zu beschreiben. Vgl. Weatherford 2004, S. 241–265 und Morgan 2007, S. 74–98. Grousset 1975, S. 321. Neumann-Hoditz 2000, S. 79. Grousset 1975, S. 333 f. Ratchnevsky 1993, S. 118. Brent 1977, S. 71. Grousset 1975, S. 337 Neumann-Hoditz 2000, S. 91. Das berichtet eine Witwe, die dem Massaker in Nischapur beiwohnte, zit. nach Grousset 1975, S. 336. Brent 1977, S. 77, zit. nach Hollendung/Böhling (o. J.), S. 9. Rogerius von Torre Maggiore, Klagelied, zit. nach Göckenjan 1985, S. 165. Zit. nach Stark 2021. Diese Bezeichnung beruht auf einem Missverständnis, weil das Volk der Tataren bereits unter Dschingis Khan fast vollständig von den Mongolen ausgerottet wurde; die Tataren gehörten daher in Wahrheit zu den ersten Opfern der mongolischen Eroberungen, die vom späten 12. Jahrhundert bis ins frühe 16. Jahrhundert dauerten.
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Zwar wurde das deutsch-polnischen Ritterheer bei Liegnitz von den Mongolen vernichtend geschlagen, aber die Mongolen zogen ab, weil in ihrer Hauptstadt Karakorum ein neuer Großkhan gewählt werden musste. Bodrow 2008. Das ist eine verklärende Sichtweise. Dass Dschingis Kahn bezüglich Religion tolerant war, ist zwar richtig, aber in besagtem russisch-mongolischen Film aus dem Jahr 2007 (Mongol, The Rise of Gengis Kahn) wird der asiatische Despot als charismatischer Reichseiniger und großer Eroberer glorifiziert, ohne die Untaten des grausamen Menschenschlächters auch nur zu erwähnen oder cineastisch darzustellen. Der mit ca. 1.000 einheimischen Statisten an Originalschauplätzen in Kasachstan und der Inneren Mongolei gedrehte Film zeichnet den usbekischen Nationalhelden als untadeligen, milden Herrscher, der sogar seinen Feinden für ihren Verrat vergibt – ein groteskes Zerrbild des historischen Dschingis Kahn, aber keine Ausnahme im Reigen der verklärten Nationalhelden. So wurde etwa in der Türkei die Folter erst 2004 im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen offiziell abgeschafft, wird aber laut Amnesty International nach dem Militärputsch von 2016 im Geheimen wieder praktiziert (z. B. die Bastonade). Vgl. Görs 2016. Auch in dem von den USA betriebenen Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba wurde gefoltert. All dies sind eklatante Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Zit. nach Land 2020.
Tamerlan (Timur Lenk) 1 2 3 4
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Scholl-Latour 2013, S. 80 f. Für Vorarbeiten zu diesem Kapitel vgl. Witzens 2019, S. 75 f. Grousset 1975, S. 335. Nach Ansicht der Historiker sind diese Zahlen wohl weit übertrieben. Sie wurden von den Mongolen aus Propagandagründen verbreitet. Die erstere Zahl stammt vom Chronisten Ilchane Abdullah Wassaf aus dem 14. Jahrhundert. Sie wird noch überboten von Frazier 2005. So der Augenzeuge Hans Schiltberger, zit. nach Grässel 1947, S. 47 f. Vgl. Witzens 2019, S. 78 f. Trotz der Zerstörung Bagdads, dem Zentrum der islamischen Kultur, hatte die Gründung eines mongolischen Großreiches langfristig auch positive Seiten, selbst für die Religion des Islam, denn viele der mongolischen Anführer konvertierten zum Islam, und ihre Soldaten folgten ihrem Beispiel. Beim häufig kolportierten Topos der „asiatischen Grausamkeit“ muss berücksichtigt werden, dass die Brutalität der Mongolen von ihren Anführern oft gezügelt wurde. „Der Tempel zu Damaskus ist sehr berühmt und so groß, daß das Gebäude 60 Türen nach außen hat. Im Innern hängen 12.000 Ampeln, von denen 9.000 ständig brennen
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[…]. Viele der Ampeln sind aus purem Gold oder Silber gearbeitet und wurden von Königen und mächtigen Herrschern gestiftet“ (Schiltberger, zit. nach Grässel 1947, S. 46; mit „Tempel“ meint Schiltberger die Moschee). Zit. nach Grässel 1947, S. 46 f. Zit. nach Grässel 1947, S. 51 f. Die Jassa (mongolisch Их Засаг, „Das große Recht“, „Recht, Gesetz“) war ein mongolisches Gesetzbuch des 13./14. Jahrhunderts, das zuerst von Dschingis Khan eingeführt und von seinem Sohn Ögedei auf Birkenrinde aufgezeichnet wurde. Für Vorarbeiten zu diesem Kapitel vgl. Witzens 2019, S. 99 f. Vgl. Kulke/Rothermund 1998, S. 327. Zit. nach https://themuslimissue.wordpress.com/2014/12/27/islamic-india-the-bigge st-holocaust-in-world-history-whitewashed-from-history (übers. v. Verf.). In dieser (inzwischen nicht mehr verfügbaren) Webseite wurde versucht, der Religion des Islam die alleinige Schuld für die Massaker bei der Eroberung Indiens durch die zentralasiatischen Invasoren zu geben. Sie ist deshalb mit Vorsicht zu betrachten. Dennoch erscheinen die Zitate aus dieser Quelle wegen der Stimmigkeit der Argumentation und Fülle der Details authentisch. Ebd. Ebd. Zwar verbietet der Koran grundsätzlich Mord und Totschlag, aber er erlaubt die Verfolgung der „Ungläubigen“. Darunter sind (abgesehen von der fundamentalistischen Auslegung des Korans durch den Wahhabismus) in erster Linie Heiden, d. h. die Anhänger polytheistischer Religionen, zu verstehen, die der Religionsgründer Mohammed in Mekka bekämpfte. Wegen ihrer zahlreichen Götter wurden die Hindus von den muslimischen Eroberern als Ungläubige angesehen. Als Kalifat (ḫilāfa) bezeichnet man die Herrschaft eines Kalifen, also eines ‚‚Stellvertreters des Gesandten Gottes“ (Halīfat rasūl Allāh). Es stellt eine islamische Regierungsform dar, bei der die weltliche und die geistliche Führerschaft in einer Person vereint sind. Hajianpur 1966, S. 162. Hajianpur 1966, S. 174 f.
Vlad Dracula 1 2
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Für Vorarbeiten zu diesem Kapitel vgl. Witzens 2019, S. 232 f. Slawischer Herrschertitel, der im Besonderen für einen slawischen Adelsrang unterhalb eines Fürsten oder für einen Militärstatthalter genutzt wurde, vergleichbar mit dem Titel eines germanischen Herzogs. Zit. nach Schlesak (o. J.). Harmening 1983, S. 41 (aus dem Altdeutschen v. Verf. in die Gegenwartssprache übersetzt). Vgl. Florescu 1999.
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Vgl. Rauch 2008, S. 18. Abgesehen von der Konstanzer Chronik müssen diese Zahlen allerdings als übertrieben gelten. Was Opferzahlen im Mittelalter angeht, befinden sich Historiker immer am Rande der Spekulation. Stephanus Gerlach, ein Zeitgenosse Vlads, schildert diese Folter in seinem Türkischen Tagebuch, zit. nach Schlesak (o. J.). Wikipedia, s. v. „Vlad III. Drăculea“, https://de.wikipedia.org/wiki/Vlad_III._Dr%C4 %83culea [Zugriff: 30.3.2022]. Vgl. ebd. Harmening 1983, S. 48 (aus dem Altdeutschen v. Verf. in die Gegenwartssprache übersetzt). Zit. nach Florescu/McNally 1989, S. 145. Zit. nach ebd. Zit. nach ebd. Vgl. Haumann 2011, S. 40. Florescu/McNally 1989, S. 174. Vgl. ebd. Vgl. Haumann 2011, S. 41. Vgl. Rezachevici 2002. Harmening 1983, S. 10 (s. auch Harmening 1980, S. 221). Vgl. Florescu/McNally 1989, S. 216 f. Vgl. Boia 1997, S. 200. Vgl. Florescu/McNally 1989, S. 219. Vgl. Boia 1997, S. 192. Zit. nach ebd., S. 196. Zit. nach ebd., S. 200. Vgl. Witzens 2019, S. 241. Harmening 1983, S. 49. ebd. Zit. nach Haumann 2011, S. 46. Diese makabre Szene ist in einem Holzschnitt von Markus Ayrer festgehalten (Nürnberg 1499, ► Abb. 12) Eine vermutlich 1462 am Hof des ungarischen Königs Matthias Corvinus entstandene Darstellung von 35 kurzen Episoden, welche die außerordentliche Grausamkeit Vlads III. Țepeș bezeugen sollen. Haumann 2011, S. 48. Ebd. Vgl. ebd., S. 50. Bram Stoker (1847–1912) schildert, wie Vlad III. zum Blutsauger („Vampir“) wurde: Nach einer erfolgreichen Schlacht gegen die Osmanen erfährt er vom Tod seiner Frau, die sich im irrigen Glauben an seinen Tod, selbst das Leben genommen hatte. Darauf wendet Vlad sich vom Gottesglauben ab und schließt einen Pakt mit dem Teufel. Aus Vlad III. wird Graf Dracula, ein unsterblicher Blutsauger.
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Doch die These der Historiker Radu R. Florescu und Raymond T. McNally, Stoker sei bei seinem Roman durch den Woiwoden Vlad III. inspiriert worden, wird inzwischen in Frage gestellt (vgl. Miller 2000). Ein 1979 gedrehter rumänischer Historienfilm zeichnet Vald Țepeș weitgehend positiv. Seine Grausamkeiten werden bagatellisiert. Der Film diente unter dem Regime Ceaușescu als Geschichtskorrektiv, mit dem das durch Bram Stokers Dracula entstandene verzerrte Bild des Fürsten berichtigt werden sollte.
Christoph Kolumbus 1
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Allerdings hatten die Wikinger schon 500 Jahre vor Kolumbus den nordamerikanischen Kontinent entdeckt und kurzfristig besiedelt. https://twitter.com/mkg20_/status/1270584373180608512 [Zugriff: 21.7.2022]. In vielen Ländern wird Christoph Kolumbus’ Ankunft in der Neuen Welt am 12. Oktober 1492 mit einem Feiertag begangen. Gedenktage der Entdeckung Amerikas gab es in Teilen Amerikas schon im 19. Jahrhundert. In den USA wird der Tag bis heute Columbus Day genannt. Ab 1915 erhielt er im spanischsprachigen Raum die Bezeichnung Día de la Raza („Tag der Rasse“). In Spanien ist der 12. Oktober seit 1918 Nationalfeiertag und wird seit den 1920er Jahren oft Día de la Hispanidad („Tag der Hispanität“) genannt. Vgl. https://twitter.com/evoespueblo/status/1062346728517574656 [Zugriff: 21.7.2022]. So die Paraphrase von Janker/Pantel/Käppner/Aschenbrenner 2021. Zit. nach Zorrilla 2018. Dieser vom US-Politologen Samuel P. Huntington geprägte Begriff wurde in der deutschen Übersetzung zum „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1996). Außerdem irrte sich Kolumbus bei der Größe der Breitengrade um den Faktor 4,5, sodass er die Entfernung zwischen den Kanarischen Inseln und Zipangu (heute Japan) völlig falsch kalkulierte. Daher hielt er die Inseln der Karibik, die er später entdeckte, bis zu seinem Lebensende für Teile Chinas. Das Original des Bordbuchs, der wichtigsten Quelle von Kolumbus’ eigener Hand, ist verloren gegangen. Doch ist dieses Schiffstagebuch der ersten Reise in Auszügen durch den Bericht von Bartolomé de Las Casas in seinem Buch Historia de las Indias erhalten geblieben. Las Casas, dem wir authentische Berichte über die Gräueltaten der Spanier an den Indigenen verdanken, hat lange Passagen des Logbuchs wörtlich übernommen, andere hingegen kommentiert oder paraphrasiert. Kolumbus 1983, S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 101. Auf Kuba gibt es Goldvorkommen, die noch heute abgebaut werden. Auch auf Hispaniola (heute Dominikanische Republik und Haiti), wo Kolumbus die erste Siedlung erbaute, gibt es bescheidene Goldvorkommen. Dass die Indigenen der Karibik ihr Gold vor allem über den Handel mit Amazonasvölkern erhielten, die es wiederum von
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den Andenvölkern (z. B. Inkas) bezogen, wie einige Historiker annehmen, ist unwahrscheinlich. Ebd., S. 97. (Der Begriff „Rasse“ ist in Bezug auf den Menschen obsolet. Es gibt aus biologischer Sicht keine Menschenrassen.) Ebd., S. 102. Der Hinweis auf den „Groß-Khan“ erklärt sich dadurch, dass Kolumbus glaubte, auf einer dem chinesischen Festland vorgelagerten Insel gelandet zu sein. Ebd., S. 114. Ebd. Ebd., S. 124. Ebd., S. 46 f. (Brief von 1493/94) Ebd. Ebd., S. 124 f. Wassermann 2017, S. 55. Ebd. Ebd., S. 59. Ebd., S. 68. Bericht des Diego Alvarez Chanca, in: Kolumbus 1983, S. 151. Las Casas 2020, S. 13. Wassermann 2017, S. 76. Kolumbus 2000, S. 29 Wassermann 2017, S. 77. Ebd., S. 78. Ebd. Auch der Aufstand der Hereros 1905 in Deutsch-Südwestafrika entzündete sich an den Übergriffen der weißen Siedler gegen die Frauen der Indigenen. Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Zit. nach Wassermann 2017, S. 80. Kolumbus, zit. n. Wassermann 2017, S. 84. Kolumbus, zit. n. Wassermann 2017, S. 85. Vgl. Witzens 2019, S. 123 f. Rinke 2013, S. 112. Ob es auf den Antillen Kannibalen gab, ist umstritten. Möglicherweise entstand das Wort Kannibalen aus der Verballhornung des indianischen Wortes Kariben, das sich auf einen großen Volksstamm in der Karibik bezieht. Das Encomienda-System war eine quasifeudale Aufteilung von Land und Leuten mit Arbeits- und Tributpflichten für die Indigenen und der Christianisierungsmission auf Seiten der Spanier. Die Encomienda löste die Sklaverei allmählich ab. Sie diente in erster Linie der Absicherung eines privilegierten herrschaftlichen Lebensstils der Spanier. Praktisch bedeutete die Encomienda eine mehr oder weniger gewaltsame Rekrutierung von Arbeitskräften und deren Ausbeutung. Sie umfasste je nach Größe des zu besiedelnden Landes zwischen 50 und 2000 Indios. Vgl. Witzens 2019, S. 127.
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Ginés de Sepúlveda (1490–1573) vertrat im Disput von Valladolid mit Las Casas die Interessen der vom Encomienda-System profitierenden spanischen Siedler und Landbesitzer. Die in diesem Disput entscheidenden Fragen waren: Gehören die jüngst entdeckten Völker zum Menschengeschlecht oder nicht? Sind sie im Erlösungsplan Christi vorgesehen? Sind sie Geschöpfe des lebendigen Gottes oder eine kaum noch menschliche Unterart der Menschheit? Haben Indios eine Seele? (Vgl. Witzens 2019, S. 122.) Ziegler 2009, S. 180. Antonio de Montesinos, zit. nach Schmitt 1987, S. 494. Ebd. Huhn 2011. Las Casas 2020, S. 12 und 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 20–22. Rinke 2013, S. 117. Vgl. Witzens 2019, S. 129. Kolumbus 1983, S. 123. Kolumbus, zit. nach Wassermann 2017, S. 88. Das Talionsgebot im Alten Testament – Auge um Auge, Zahn um Zahn – sollte exzessive Sanktionen und blutige Racheaktionen verhindern. Vergehen und Bestrafung sollten einander entsprechen, d. h. in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Diese barbarische Praxis wurde noch unter Napoleon in den französischen Kolonien in Lateinamerika praktiziert (► Napoleon). Wassermann 2017, S. 89. Ebd., S. 87. Wassermann 2017, S. 141. Las Casas, zit. nach Wassermann 2017, S. 142. Wassermann 2017, S. 143. Ebd., S. 42. Ebd., S. 103 f. Zapperi 2006. Zapperi bezieht sich auf die Recherchen von Consuelo Varela (La caida de Cristóbal Colón. El juicio de Bobadilla, 2006), die das traditionell positive Image des Entdeckers relativieren. Zapperi 2006. Kolumbus 1983, S. 266 f. Ebd., S. 268. Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 3, S. 452. Kolumbus, zit. nach Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 3, S. 453. Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 3, S. 453.
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Lepenies 2022. Louverture, zit. nach ebd. Napoleon, zit. nach ebd. Gespräche mit Eckermann, 11. März 1828, Eckermann 1868, 3, 156 Dabei ist ‚Weltgeist zu Pferde‘ kein wörtliches Hegel-Zitat. Wörtlich heißt es in einem Brief an Niethammer vom 13.10.1806: „Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt [Jena] zum Rekognoscieren hinausreiten. – Es ist in der That eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt concentrirt, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht“ (zit. nach Rosenkranz 1844, S. 229). Franz Grillparzer, Napoleon, Strophe 5 und 9. Die fünfte Strophe lautet in voller Länge: Dich lieben kann ich nicht, dein hartes Amt War, eine Geißel Gottes sein hienieden, Das Schwert hast du gebracht und nicht den Frieden, Genug hat dich die Welt darob verdammt; Doch jetzt sei Urteil vom Gefühl geschieden! Das Leben liebt und haßt, der Toten Ruhm Ist der Geschichte heilig Eigentum.
Napoleon, zit. nach Ullrich 2017, S. 43. Das berühmte Zitat ist verkürzt. Der genaue Wortlaut der Ansprache lautet: „Soldaten! Ihr seid in diesen Landstrich gekommen, um ihn der Barbarei zu entreißen, die Zivilisation in das Morgenland zu bringen und diesen schönen Teil der Welt dem Joch Englands zu entreißen. Wir werden kämpfen. Denkt daran, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken“ (Napoleon 1940, Bd. 4, S. 387). Johannes Willms kommentiert, dass Napoleons Soldaten die Pyramiden überhaupt nicht sehen konnten, weil diese noch einen Tagesmarsch weit entfernt waren. „Es ist wohl eine nachträgliche Heroisierung, die Napoleon erst im Exil auf St. Helena diktierte“ (Willms, zit. nach Hesse 2008, S. 190). – Dem ist zu entgegnen, dass die Pyramiden in der klaren Wüstenluft sehr wohl aus großer Distanz zu sehen waren. Napoleon, zit. nach Said 2019, S. 82. Der französische Passus ist eine Rückübersetzung; in Napoleons Worten lautet die Passage lediglich: „Nous sommes amis des vrais musulmans“ – „Wir sind Freunde der wahren Muslime.“ Es ist unklar, ob die Zuspitzung bei der Übertragung ins Arabische auf eine Eigenmächtigkeit des Übersetzers zurückgeht. Napoleon, zit. nach Tvedt 2020, S. 57 f. Für Vorarbeiten zu diesem Kapitel vgl. Witzens 2019, S. 263 f. Mémoires de Madame de Rémusat; zit. nach Kircheisen 2012, S. 209. Vgl. Tarlé 1972, S. 78. Zit. nach Herold 1968, S. 77. Herre 1989, S. 79.
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Barry Edward O’Meara (1786–1836) war ein irischer Chirurg, der Napoleon nach St. Helena begleitete und sein Leibarzt wurde. Napoleon, zit. nach Wencker-Wildberg 1925, S. 44–46. Chateaubriand 1920, S. 61 f. Vgl. Witzens 2019, S. 264. Clausewitz 1990, S. 970 f. Tulard 2002, S. 26; vgl. Napoleon 1940, Bd. 6, S. 253 ff. Napoleon 1940, Bd. 4, S. 387. Vgl. Said 1981, S. 10: „Kurz, der Orientalismus ist ein westlicher Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient […]. Es ist für mich entscheidend, daß man, ohne den Orientalismus als einen Diskurs zu überprüfen, unmöglich verstehen kann, durch welche enorme systematische Disziplin die europäische Kultur fähig war, den Orient politisch, soziologisch, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und imaginativ während der Zeit nach der Aufklärung zu leiten – und selbst zu produzieren. […] Kurz gesagt, der Orient war kein (und ist kein) freies Objekt des Denkens und Handelns; dies wurde durch den Orientalismus verhindert.“ Azizeh 2019. Tvedt 2020, S. 64. Vgl. auch Witzens 2019, S. 264. Zit. nach Dollinger 2002, S. 254. Napoleon, zit. nach Fournier 1996, Bd. 2, S. 11. Ebd., S. 12. Ullrich 2017, S. 112. Bis heute ist unklar, wer den Brand verursacht hat; fest steht nur, dass weder der Zar noch Napoleon den Befehl zum Feuerlegen gegeben haben. Sicher ist jedoch, dass der zaristische Stadtkommandant Fjodor Rostoptschin befohlen hatte, im Sinne der Taktik der ‚verbrannten Erde‘ alle für die Franzosen nützlichen Vorratslager anzuzünden. Um die Bekämpfung eines Brandes effektiv zu behindern, hatte Rostoptschin sämtliche Feuerspritzen der Stadt zerstören lassen (vgl. Wikipedia, s. v. „Brand von Moskau (1812)“, https://de.wikipedia.org/wiki/Brand_von_Moskau_(1812) [Zugriff: 8.8.2022]). Kleßmann 1972, S. 311: Kurz, zit. nach Kleßmann 1972, S. 376. Zit. nach Dollinger 2002, S. 255. Vgl. Witzens 2019, S. 267 f. Vgl. Ribbe 2005. Rochambeau, zit. nach Sigler 2016. Napoleon, zit. nach Sigler 2016. Ebd. Vgl. Witzens 2019, S. 268. Napoleon, zit. nach o. A. 1969. Zit. nach Dollinger 2002, S. 255 Napoleon, zit. nach Sakkas 2012. Napoleon, zit. nach Magro 2019.
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Kulturzeit vom 19. Juni 2020. Krockow 1997, S. 14. Bismarck, Über die deutsche Frage, in: Bismarck 1895, S. 53. Bismarck 2021, S. 244. Die gegen den Willen der Elsässer und Lothringer vollzogene Annexion hat in Frankreich für Generationen eine tiefe Feindschaft gegen Deutschland gesät. Diese Amputation französischen Territoriums traf die Franzosen am schmerzhaftesten, viel mehr als die schweren Reparationszahlungen. Es war ein „Stich ins Herz der französischen Seele.“ Tatsächlich diente Bismarcks Bündnissystem vor allem dem Zweck, das revanchelüsterne Frankreich einzuhegen und zu isolieren, um es an gegen Deutschland gerichtete Allianzen mit anderen europäischen Staaten zu hindern. Bismarck, zit. nach Seewald 2020. Gall 2013, S. 483. Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 139 f. Gall 2013, S. 513 Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 6b, S. 454 f. Ebd., S. 455. Ebd., S. 493 f. Gall 2013, S. 508. Bismarck, zit. nach Gall 2013, S. 507; Sadowa war ein kleiner Ort auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, nach dem man links des Rheins den Ort der Entscheidung benannte. „Revanche pour Sadova“ – „Rache für Sadowa“ – hieß es in Parlament und Öffentlichkeit Frankreichs. Generalfeldmarschall Graf von Moltke war der Meinung, Metz bedeute militärisch so viel wie eine Armee von 120.000 Mann Soldaten. Krockow 1997, S. 232. Bismarck 1921, S. 40. Unter der Parole „Brûlez le Patinat!“ – „Verbrennt die Pfalz!“ legten 1688/89 Soldaten Ludwigs XIV. fast alle festen Orte, Burgen und Schlösser planmäßig in Schutt und Asche, darunter auch das Heidelberger Schloss. Krockow 1997, S. 228. Zu der von Bismarck befürchteten Levée en masse („Massenaushebung“) kam es nicht. Und auch die Bezeichnung „Volkskrieg“ kann auf den Krieg 1870/71 nicht angewandt werden. Bismarck 2021, S. 395; vgl. auch Seewald 2021. Bismarck 2021, S. 396. Blumenthal, zit. nach Gall 2013, S. 511. Bismarck 2021, S. 409. Ebd., S. 400. Ebd. Ebd., S. 409.
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Ebd., S. 406. Bismarck, zit. nach Gall 2013, S. 510. Seewald 2021. Pflanze 1997, S. 481. Paris hatte damals ca. zwei Millionen Einwohner. Die barbarische Methode der Belagerung und Beschießung einer Stadt wurde auch vom Hitler-Regime 1941 bei der Belagerung von Leningrad mit furchtbaren Folgen für die Bevölkerung angewandt. Ähnlich wie Bismarck – es gelte, den Krieg zu verkürzen – argumentierten auch die Militärstrategen der USA unter Präsident Harry Truman, als er den Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki befahl und ein Inferno entfesselte, dem Hunderttausende Zivilisten zum Opfer fielen – eines der größten Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte. Auch das gezielte Bombardement deutscher Innenstädte durch die britische Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg gehört in diese Liste der Schandtaten (► Winston Churchill). Der einzige, aber bedeutsame Unterschied war der, dass diese Feldherren nach dem Fall der Mauern die Stadt plünderten und die Zivilbevölkerung erbarmungslos massakrierten. Dies taten die deutschen Sieger freilich nicht, sondern traten mit den Franzosen in Kapitulationsverhandlungen ein. Um die Unterscheidbarkeit von Zivilisten und Soldaten zu gewährleisten, wurde von der deutschen Armeeführung eine weithin erkennbare Uniformierung als wichtigstes Erkennungsmerkmal des Kombattantenstatus erachtet. Wilhelm I., zit. nach Bredow 1898, S. 130. Georg Heinrich Rindfleisch, zit. nach Macmillan 2021, S. 129. Clovis Hardy, zit. nach Gunkel 2020. Wikipedia, s. v. „Haager Landkriegsordnung“, https://de.wikipedia.org/wiki/Haager_ Landkriegsordnung [Zugriff: 5.8.2022]. Kants berühmter kategorischer Imperativ lautet in seiner sogenannten Selbstzweckformel wie folgt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 2004, S. 68). Miard-Delacroix/Heinemann 2021. Vgl. ebd.: „Man stellt als Historiker fest, dass diese Demütigungen eine ungeheure Dynamik entfaltet haben. Sie haben zugleich das Verhältnis vergiftet, die Natur des Krieges und auch die Deutung des Krieges. Und das ist ein fantastisches Mobilisierungsinstrument gewesen – sowohl real, weil jeder Soldat dann einen Sinn fand für sein Opfer, aber auch propagandistisch war es extrem effizient. Insofern konnte man diese Kriege erklären als Volkskriege. Die Ehre des Volkes, das heißt jedes einzelnen Teilnehmers vom Volke, sei da angegriffen worden, und das ermöglichte die Eskalation. Insofern kann man aus dieser Sicht gesehen sagen, dass die nächsten Kriege vorprogrammiert waren.“ Noch im 20. Jahrhundert wurden in der Pfalz Hunde nach dem verantwortlichen General Ezéchiel de Mélac benannt. Miard-Delacroix/Heinemann 2021.
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So komponierte z. B. Richard Wagner den Kaisermarsch („Als mit Dir wir Frankreich schlugen! Feind zum Trutz, Freund zum Schutz! Allem Volk das Deutsche Reich zu Heil und Nutz!“). Bariéty 1995, S. 204. Ullrich 1999, S. 19. Bereits 1748 hatte der Staatstheoretiker Montesquieu die Idee der Gewaltenteilung in seinem Werk Vom Geist der Gesetze veröffentlicht und zur Verhinderung von Machtmissbrauch die Teilung der Staatsmacht in drei sich kontrollierende Gewalten – Exekutive, Legislative, Judikative – vorgeschlagen. In England hatte das Parlament die Krone in mehreren Schritten entmachtet (Magna Charta 1215, Bill of Rights, Glorious Revolution 1688/89). Bismarck, zit. nach Frank 1882, S. 48. Bismarck, zit. nach Ulrich 2012. Bismarck, zit. nach Ullrich 1998, S. 95; vgl. Nipperdey 1995, S. 427 f. Ein Kennzeichen der Bismarck’schen Diplomatie war, dass er die Besiegten oft in Amt und Würde beließ und sich auch nicht an deren Besitz vergriff. Dies führte bis zu einer Rücktrittsdrohung, als König Wilhelm I. in Österreich nach Reparationen, Land und Macht greifen wollte. Ullrich 1999, S. 77. Bismarck, zit. nach Clark 2013, S. 174. Ebd., S. 175. Krockow 1997, S. 343. Crankshaw 1990, S. 404. o. A. 2020. Der Antrag selbst ist zu finden unter: https://lothar-reichwein.de/2020/06/ 22/spd-antrag-bismarckplatz-umbenennung [Zugriff: 8.8.2022]. Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 384. Bismarck, zit. nach Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 5, S. 116. Bismarck, zit. nach Riehl 1993, S. 22. Bismarck, zit. nach Poschinger 1896, S. 54. Ebd. Bismarck, zit. nach Riehl 1993, S. 751 (Anm. 1). Carl Peters (1856–1918) war ein Publizist, Kolonialist und Afrikareisender mit stark ausgeprägter rassistischer Einstellung. Er gilt als Begründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Peters, Gründungsmanifest der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation (28.3.1885), zit. nach Jacob 1938, S. 85 f. Vgl. auch Mommsen 1977, S. 124 f. Clark 2013, S. 174. Ebd. Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 526. Bismarck, zit. nach Weiß 2014. Ebd. Ebd. Die rechtliche Gleichstellung der Juden wurde unter Bismarcks Regierung 1869 im Norddeutschen Bund und 1871 im neugegründeten Kaiserreich realisiert. Asmuss 2011.
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Eckert 2004. Eckert 2009, S. 2 f. Henry Morton Stanley war ein britisch-amerikanischer Journalist, Afrikaforscher und Buchautor. Er wurde bekannt durch die Suche nach David Livingstone und die Erforschung des Kongo im Auftrag des belgischen Königs Leopold II. Bley, zit. nach Eckert 2009, S. 3. Bley 2005. Buch 2020. Vgl. Wikipedia, s. v. „Kongokonferenz“, https://de.wikipedia.org/wiki/Kongokonferenz [Zugriff: 1.9.2022]. Unter der Bezeichnung ‚Kongogräuel‘ wurde die systematische Ausplünderung des Leopold II. gehörenden Kongo-Freistaats zwischen 1888 und 1908 bekannt, als Konzessionsgesellschaften, vor allem die Société générale de Belgique, die Kautschukgewinnung mittels Sklaverei und Zwangsarbeit betrieben. Dabei kam es massenhaft zu Geiselnahmen, Tötungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen. Es wird geschätzt, dass acht bis zehn Millionen Kongolesen den Tod fanden, etwa die Hälfte der damaligen Bevölkerung (vgl. Witzens 2019, S. 277 f.). Clark 2013, S. 194 f. Bismarcks Schlussbemerkung auf den Brief von Graf Hatzfeldt vom 24. Mai 1884, zit. nach Clark 2013, S. 194. Die Monroe-Doktrin des gleichnamigen US-Präsidenten untersagte den europäischen Mächten jegliche Einmischung in der westlichen Hemisphäre (Amerika und umliegende Inseln). Die USA verzichteten ihrerseits auf jegliche politische und militärische Einmischung in Europa. Die Bagdadbahn wurde zum Symbol deutsch-türkischer Völkerfreundschaft. Dank deutscher Ingenieurkunst gelang auch die schwierige Durchquerung des Taurusgebirges. Kaiser Wilhelm II. und Sultan Abdülhamid II. besuchten sich gegenseitig in Konstantinopel und Berlin. Im Ersten Weltkrieg kam es zur ‚Waffenbrüderschaft‘ zwischen dem Kaiserreich und dem Osmanischen Reich. Clark 2013, S. 199. Eckert 2014. Der Realwert der Kolonien war negativ, militärisch, wirtschaftlich und bevölkerungspolitisch. Dazu schreibt der Historiker Percy E. Schramm (1950, S. 455 f.): „Militärisch bedeuten die deutschen Schutzgebiete für Deutschland nichts, da es im Gegensatz zu Frankreich und auch zu England nie einen Eingeborenen außerhalb seines Heimatgebietes als Soldaten verwandt hat. Daß im Ersten Weltkrieg alle deutschen Besitzungen mehr oder minder schnell von den Gegnern erobert wurden, bedeutete für alle Sachkundigen keine Überraschung. […] Wirtschaftlich hat der deutsche Kolonialbesitz immer nur einen Zuschuss zu den Rohstoffen geleistet, deren Deutschland bedurfte […], aber was Deutschland aus nichtdeutschen Gebieten einführte, betrug das 200fache. […] Kein Schutzgebiet ist – trotz der Bemühungen eines Menschenalters – imstande gewesen eine ins Gewicht fallende Auswanderung aufzunehmen“. Treitschke, zit. nach Brockhaus. Die Weltgeschichte, Bd. 5, S. 117. Ebd.
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Ansprenger, zit. nach Eckert 2009, S. 3. Bley 2005. Siehe den Bericht des Grafen von Goetzen, dem ersten Gouverneur von Deutsch-Ostafrika aus dem Jahr 1895. Goetzen „fand eine nach Hunderttausenden zählende Bevölkerung von Bantu-Negern, die sich Wahutu nannten, in knechtischer Abhängigkeit von den Watussi, einer fremden semitischen oder hamitischen Adelskaste, deren Vorfahren […] das ganze Zwischenseengebiet sich unterworfen hatten; er fand das Land eingeteilt in Provinzen und Distrikte, die unter der aussaugenden Verwaltung der Watussi standen […] und an ihrer Spitze einen im Lande ruhelos umherziehenden König, der bald hier, bald dort seine Residenzen erbaute“ (zit. nach Scholl-Latour 2003, S. 69). Ein Zwischenfall im Jahre 1897, bei dem sieben Briten getötet wurden, die den königlichen Hof von Benin besuchen wollten, bot den Briten den willkommenen Anlass für die Invasion des Königreichs. Der König wurde ins Exil geschickt und sein Palast in Brand gesteckt, die königlichen Schätze wurden konfisziert und größtenteils in London versteigert. Es wird von 3.000–5.000 erbeuteten Objekten ausgegangen. Über Ankäufe gelangten Teile der Beute auch nach Deutschland. Am 1. Juli 2022 unterzeichneten Deutschland und Nigeria ein Abkommen über die Rückgabe der Benin-Bronzen. Bley 2005. Das Zitat stammt vom späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow aus einer Reichstagsrede von 1897, in der er sagte: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne.“ Vgl. MDR Sachsen 2021. Bartels/Pollack 2021; aus diesem Brief auch die folgenden Zitate. Der Brief schließt: „Wir warnen nachdrücklich vor diesem Trojanischen Pferd, das sich rasch als Kult- und Gedenkort für Rechtsextreme, Reichsbürger und sonstige Demokratieverächter erweisen könnte. Die historische Auseinandersetzung mit Otto von Bismarck gehört nicht an ein touristisches Ausflugsziel“ (Bartels/Pollack 2021). Bismarck, zit. nach o. A. 2012. Laut Einschätzung des Journalisten Adam Krzeminski war Bismarck „genauso wie Friedrich II. der aggressive, antipolnische Politiker, der faktisch eine Vernichtung, nicht physischer Art, aber eine kulturelle Vernichtung, eine wirtschaftliche Vernichtung […] des polnischen Volkes betrieb, eine rücksichtslose Allianz mit Russland auf Kosten Polens verfolgte, damit auch ein emsiger Schüler Friedrichs II. war […]. Bismarck ist selbst eine ausgesprochen negative Figur gewesen.“ (https://www.deutsche undpolen.de/frames/popup_zitat_jsp/key=krze14a.html [Zugriff: 8.8.2022]). Vgl. Nonn 2015. Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 103 f. Seele 2005. Pötzl 2020, S. 244. Alldeutsche Blätter, 1.4.1895, zit. nach Pötzl 2020, S. 244. Pötzl 2020, S. 249 Timm, zit. nach Pilarczyk 2020. Gall 2013, S. 505 f.
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Vgl. Meißner 2019: „Bei der letzten großen Pockenepidemie 1870 und 1873 in Deutschland mit mehr als 400.000 Erkrankten starben 181.000 Menschen. In einigen Bundesstaaten sowie beim Militär gab es bereits die unter Umständen strafbewehrte Verpflichtung, sich gegen Pocken impfen zu lassen, etwa in preußischen Provinzen oder im Großherzogtum Sachsen. Besonders bei Epidemien hatten die Behörden die Befugnis, ‚Zwangs-Vaccinationen‘ vornehmen zu lassen. Jedoch waren die Gesetze und Verordnungen der einzelnen Staaten im Detail sehr verschieden.“ Am 8. April 1874 wurde das Reichsimpfgesetz von Bismarck unterzeichnet, das diese Regelungen vereinheitlichte. Gall 2013, S. 444. Haffner 2015, S. 31. Steinberg, zit. nach Molitor 2015. Bismarck, zit. nach Molitor 2015. So etwa Ulrich Lappenküper, Historiker und Geschäftsführer der Otto-von-BismarckStiftung: Man sollte Bismarck „aus seiner Zeit heraus beurteilen, als einen Mann der Widersprüche“ (zit. nach Leusch 2015). Miard-Delacroix/Heinemann 2021. Clausewitz 1832, 1. Buch, 1. Kapitel, Unterkapitel 24. Jüngstes Beispiel ist der im Februar 2022 begonnene völkerrechtswidrige Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine. Dieser Krieg wird von fast allen Staaten der Welt verurteilt. Nipperdey 1995, S. 66. Bamberger, zit. nach Pötzl 2020, S. 246. Mommsen, zit. nach Gall 2013, S. 820. Weber, zit. nach Pötzl 2020, S. 249. Anlässlich des 150. Jubiläums der Reichsgründung entzündete sich eine kontroverse Diskussion unter Historikern über die Fortwirkung im Kaiserreich angelegter sozio-politischer Strukturen und Kontinuitäten. Umgetrieben von der Sorge eines „neuen deutschen Nationalismus“ warnte z. B. der Historiker Eckart Conze vor den „dunklen Schatten des Kaiserreichs.“ Es gebe keinen Grund zum Feiern, denn was 1871 mit der Kaiserproklamation in Versailles entstanden sei, sei eine „Kriegsgeburt“ gewesen, ein autoritärer Nationalstaat, der zwar weder 1914 noch 1933 vorherbestimmt, aber letztlich doch die Grundlagen dafür gelegt und dorthin geführt habe (vgl. Conze 2020). Demgegenüber betonte die Historikerin Hedwig Richter die positiven Aspekte im Kaiserreich. Militarismus, Antisemitismus und Kolonialismus seien globale Phänomene gewesen, im Reich habe es hingegen auch Liberalisierung und Modernisierung gegeben wie Frauenemanzipation und die aufstrebende Arbeiterbewegung. Nur wenn man gerade dieses Spannungsverhältnis berücksichtige, könne man die NS-Gewaltherrschaft als den „deutschen Zivilisationsbruch“ richtig einordnen (vgl. Richter 2021). An der Frage des ‚deutschen Sonderwegs‘ haben sich zahlreiche Historiker abgearbeitet. Beginnend mit Fritz Fischer („Fischer-Kontroverse“) über Hans-Ulrich Wehler, Hedwig Richter bis zum Streit um Christopher Clarks Schlafwandler über die Kriegsschuldfrage, um nur einige zu nennen (vgl. auch Richter/Ulrich 2021). Einen guten
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Überblick über die jahrzehntelangen Kontroversen verschafft die Essaysammlung Deutungskämpfe von Heinrich August Winkler (2021). Vgl. Lappenküper: „Was nicht bedeutet, dass Bismarck plötzlich zu einem Pazifisten geworden ist, der Erhalt des Friedens war für ihn im Interesse des Deutschen Reiches. Der Erhalt des Friedens bedeutete aus seiner Sicht das einzige Mittel, das, was er geschaffen hatte, nämlich die Reichsgründung, die Gründung eines deutschen Nationalstaats, diese Leistung auch langfristig zu sichern“ (zit. nach Leusch 2015). Seibt 2020. Friedrich Wilhelm, zit. nach Seibt 2020. Buch 2020. Steinmeier 2021, S. 5 f.
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Sebastian Haffner streift in seiner immer noch lesenswerten, in vielen Auflagen erschienenen Biografie (Haffner 2019; vgl. auch Haffner 2015) das Gallipoli-Debakel nur en passant. Martin Gilbert bringt zum Thema Gallipoli in seinem Churchill. The Power of Words seitenweise Churchill-Zitate, in denen dieser die riesigen Verluste an Menschenleben kleinredet und mit der Aussicht auf Sieg rechtfertigt (Gilbert 2012, S. 171 ff.). Haffner 2019, S. 60. Der Mahdi-Aufstand (oder Mahdiya) war eine von 1881 bis 1898 währende Rebellion gegen die ägyptische Herrschaft in den Sudan-Provinzen – angeführt vom islamischpolitischen Führer Muhammad Ahmad, der sich zum Mahdi (einer Art islamischem Messias) erklärt hatte. Er gilt als der erste (kurzzeitig) erfolgreiche Aufstand einer afrikanischen Bevölkerungsgruppe gegen den Kolonialismus. Churchill 1899, zit. nach der Übersetzung 2008, S. 349. Ellis 1981, S. 86 (übers. v. Verf.). Churchill 1899, zit. nach der Übersetzung 2008, S. 376. Churchill 1899, S. 300 (übers. v. Verf.). Churchill 1899, zit. nach der Übersetzung 2008, S. 365. Haffner 2019, S. 57. Wesentlich beteiligt am Sieg der Türken war auch der deutsche General Otto Liman von Sanders, der die türkischen Truppen rechtzeitig verstärkt hatte. Noch heute begeht man in Australien und Neuseeland an jedem 25. April den ANCACDay zur Erinnerung an die 12.000 Soldaten, die bei der gescheiterten Gallipoli-Invasion gefallen sind. Jedes Jahr kommen Tausende Studenten aus diesen Ländern und gedenken ihrer dort gefallenen Landsleute. Die Schlacht von Gallipoli war insofern beispiellos, weil hier eine Landarmee auf Dauer einem gemeinsam von Heer und Marine geführten Angriff standhalten konnte. Das war vor allem das Verdienst von General Mustafa Kemal, der seine Soldaten zum Durchhalten motivierte. Die Schlacht wurde zu einem Mythos. Sie lieferte Stoff für zahlreiche Dokumentationen und Spielfilme.
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Addison 2005, zit. nach Nuspliger 2020. Haffner 2019, S. 78 f. Krockow 1999, S. 195. King, zit. nach Kielinger 2022, S. 28. Lloyd George, zit. nach Krockow 1999, S. 87. Churchill, zit. nach Haffner 2019, S. 81. Lloyd George, zit. nach Haffner 2019, S. 80. Churchill, zit. nach Haffner 2019, S. 120. Churchill 1940. Ein erstes Verbot von „Gift oder vergifteten Waffen“ enthielt bereits die Haager Landkriegsordnung von 1899. Am 17. Juni 1925 wurde in der Schweiz das Genfer Protokoll über das „Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege“ von 36 Staaten unterzeichnet. Das bis heute gültige Protokoll verbietet den Einsatz chemischer und biologischer Waffen im Krieg. Churchill, Erklärung als Präsident des Air Councils vom 12.5.1919, in der Niederschrift des Kriegsministeriums (Übers. v. Verf., Original: Collection of Churchill Papers 16/16, Churchill Archives Centre, Cambridge). Churchill, zit. nach Simkin 2014. Haffner 2019, S. 137. Churchill, zit. nach Haffner 2019, S. 137. Chamberlain, zit. nach Grigg 1980, S. 150. Addison 2005, zit. nach Nuspliger 2020. Harris, zit. nach Müller 2004, S. 184. So heißt es in der Area Bombing Directive: „You are accordingly authorised to use your forces without restriction […]. It has been decided that the primary objective of your operations should be focused on the morale of the enemy civil population and in particular the industrial workers“ (zit. nach Wikipedia, s. v. „Area Bombing Directive“, https://de.wikipedia.org/wiki/Area_Bombing_Directive [Zugriff: 9.8.2022]). Lenner/Luerweg 2021. Ebd. Zit. nach Lenner/Luerweg 2021. Für Vorarbeiten zu diesem Kapitel vgl. Witzens 2019, S. 467 f. Wikipedia, s. v. „Operation Gomorrha“, https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Gomo rrha [Zugriff: 9.8.2022]. Ebd. Vgl. Witzens 2019, S. 469 f. Dark, zit. nach Lowe 2014, S. 26. Die Opferzahlen sind umstritten, weil sich zur Zeit der Luftangriffe mehr als 100.000 nicht-registrierte Flüchtlinge in Dresden aufhielten. Lowe 2014, S. 26. Taylor, zit. nach Widmann 2015. Taylor, zit. nach Widmann 2015.
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Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, Text unter https://www. jura.uni-muenchen.de/fakultaet/lehrstuehle/satzger/materialien/haag1907d.pdf [Zugriff: 9.8.2022]. Gopal 2021 (Übers. v. Verf.). Krockow 1999, S. 308 f. Greg, zit. nach Menden 2015. Greg war 1944 in Gefangenschaft geraten und schuftete als Zwangsarbeiter in einer Seifenfabrik bei Dresden. Dort überlebte er die alliierten Luftangriffe nur knapp und war einziger britischer Augenzeuge der Zerstörungen. Löhndorf 2012. Vgl. Förster 2015. Churchill, zit. nach Kielinger 2020, S. 302. Eine V2 schlug noch am 27. März 1945 in London ein und tötete 134 Menschen. Bell, zit. nach Wikipedia, s. v. „George Kennedy Allen Bell“, https://de.wikipedia.org/ wiki/George_Kennedy_Allen_Bell [Zugriff: 10.8.2022]. Galbraith, zit. nach Wikipedia, s. v. „Bombing of Dresden in World War II“ (Übers. v. Verf.), https://en.wikipedia.org/wiki/Bombing_of_Dresden_in_World_War_II [Zugriff: 10.8.2022]. Hastings, zit. nach Kielinger 2005. Stanton 2003 (Übers. v. Verf.). Douglas 2012, S. 90. Ebd., S. 92. In Folge der Beschlüsse von Lausanne verloren fast 2 Millionen Menschen ihre Heimat. Rund 1,2 Millionen orthodoxe Christen mussten das Gebiet des 1923 gegründeten türkischen Nationalstaates verlassen und sich auf griechischem Territorium ansiedeln, etwa 400.000 Muslime gingen den entgegengesetzten Weg. Vgl. Clark 2007. Churchill, zit. nach Naimark 2004, S. 141. Gerwarth 2017, S. 310. Lord Curzons Antwort auf eine Rede Izet Paschas in Lausanne, zit. nach Naimark 2004, S. 73. Vgl. Ther 2011. Ther beleuchtet stark die negativen Seiten des Konzepts ethnisch homogener Nationalstaaten. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Witzens 2019, S. 506 ff. Die ca. 600.000 bis 1,5 Millionen Opfer fordernde Deportation der Armenier 1915 wird von der Mehrheit der Historiker als Völkermord eingestuft. Die offizielle türkische Geschichtsschreibung weist den Begriff ‚Völkermord‘ zurück und spricht von ‚Umsiedlung‘. Z. B. Nawratil 1999, S. 77 und Zayas 2001, S. 161. Naimark 2004, S. 139. Delvaux de Fenffe 2020. Ebd. Krockow 1999, S. 288; von Krockow ist einer der wenigen Biografen, die sich schon früh mit der Person Churchills kritisch auseinandersetzten. Douglas 2012, S. 91.
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Naimark 2004, S. 140 f. Churchill, zit. nach Heyden 2015 (Übers. d. Verf.). Vgl. Charmley 1995. Der Terminus ‚Rasse‘ ist in Bezug auf Menschen obsolet. Die Einteilung des Menschen in biologische Rassen entspricht nicht mehr dem Stand der Wissenschaft. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben 2019 in der sogenannten „Jenaer Erklärung“ dazu aufgerufen, den Begriff „Rasse“ nicht mehr zu verwenden. Zum einen, weil es keine biologische Begründung für eine Einteilung der Menschheit in Rassen gibt, und zum anderen, weil das Konzept der Rasse das Ergebnis von Rassismus ist – und nicht dessen Voraussetzung (vgl. https://www.uni-jena.de/190910-jenaererklaerung [Zugriff: 7.9.2022]). Heyden 2015 (Übers. v. Verf.). Churchill, zit. nach Nuspliger 2020. Churchill, im Interview mit Ohlinger 1902 (Übers. v. Verf.). Zum Begriff „Rasse“ s. o. Anm. 72. Churchill, zit. nach Nuspliger 2020. Wavell, zit. nach Gráda 2008, S. 32 (Übers. v. Verf.). Vgl. Hastings 2010. Churchill, zit. nach Fuhrer 2018. Churchill, zit. nach Fuhrer 2018. Churchill, zit. nach Rath 2020. Der obsolete Begriff „Rasse“ entbehrt jeder naturwissenschaftlichen Grundlage. Mukerjee, zit. nach Fuhrer 2018. Churchill, zit. nach Nuspliger 2020. Avery, zit. nach Nuspliger 2020. Churchill, zit. nach Nuspliger 2020. Fielding, zit. nach Nuspliger 2020. Z. B. die architektonisch großartigen Hindu-Tempel und Moghul-Paläste oder die elaborierten altindischen Werke in Philosophie, Epik (Upanishaden, Mahabharata) und Staatslehre (z. B. Arthashastra). Mbeki, zit. nach Shetty 2017 (Übers. v. Verf.) Shetty 2017. Fuhrer 2018. Shetty 2017. Tvedt 2020, S. 311. Die folgenden Zitate aus Churchill 1899, zit. nach der Übersetzung 2008, S. 45–47. Zum obsoleten Begriff „Rasse“ s. o. Anm. 72. Tvedt 2020, S. 313. Churchill, zit. nach Tvedt 2020, S. 311. Tvedt 2020, S. 312. Churchill, zit. nach Tvedt 2020, S. 312. Vgl. James 2013, S. 387–390. Vgl. Addison 2005, S. 233.
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Als der Erste Internationale Eugenische Kongress 1912 in London stattfand, fungierte Winston Churchill als einer der Vizepräsidenten des Kongresses. Churchill, zit. nach Wikipedia, s. v. „Eugenik“, https://de.wikipedia.org/wiki/Eugenik [Zugriff: 10.8.2022]. Shetty 2017 (Übers. v. Verf.). Vgl. Spencer 1851, insb. S. 311 f., 314 f., 321 ff., 416 f. Zum obsoleten Begriff „Rasse“ s. o. Anm. 72. Disraeli, zit. nach Sarkisyanz 1997, S. 67. Rhodes, zit. nach Sarkisyanz 1997, S. 25. Vom britischen Herrenmenschentum eines Al Carthill und Houston Stewart Chamberlain hatten sich die Nazis inspirieren lassen, wie der Politikwissenschaftler Manuel Sarkisyanz in seinem Buch Hitlers englische Vorbilder (1997) dargelegt hat. Wells 1905, zit. nach der Übersetzung 2020, S. 176. Zwar wusste Wells noch nicht, dass es aus naturwissenschaftlich-biologischer Sicht keine Menschenrassen gibt, aber er erkannte klar die große Gefahr, die von dem Konzept der „Rasse“ für die friedliche Koexistenz der Völker und Ethnien ausgeht. Ebd. Ebd., S. 177. Geradezu prophetisch mahnt Wells, zu welchen tödlichen Konsequenzen der Sozialdarwinismus führt, wenn man ihn aus der Sicht der angemaßt überlegenen Rassisten zu Ende denkt: „Wir wollen also einmal annehmen, es gäbe eine in jeder Hinsicht minderwertige Rasse. Eine moderne Utopie steht unter der strengen Logik des Lebens und müßte eine solche Rasse ausrotten, so schnell sie könnte. […] Mit einer wirklich minderwertigen Rasse ließe sich nur eins tun, was gut und logisch wäre: sie ausrotten“ (ebd., S. 181). Diese letzte von Wells imaginierte tödliche Konsequenz des Rassismus blieb jedoch Nazideutschland vorbehalten, nicht den Briten. So publizierte der Justizbevollmächtigte und Richter am Hohen Gericht von Bombay 1924 unter dem Pseudonym Al Carthill The Lost Dominion, in dem er als letztes Mittel zur kolonialen Machterhaltung den Massenmord empfiehlt: „Wenn die Regierung keine Lust hat abzudanken, dann ist der Massenmord die einzige Lösung.“ Carthill vertrat die Idee des „Verwaltungsmassenmordes“ (Carthill 1924, S. 98), auf den sich Hannah Arendt bezieht, wenn sie in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus als transnationale europäische Phänomene analysiert. Auf Arendts Analysen des Kolonialimperialismus stützt sich auch der Politikwissenschaftler Manuel Sarkisyanz. Sarkisyanz 1997, S. 260. Vgl. Churchill: „The Jews […] no thoughtful man can doubt the fact that they are beyond all question the most formidable and the most remarkable race that has ever appeared in the world.“ (zit. nach Roberts 2018, S. 981). Toye, zit. nach Heyden 2015 (Übers. v. Verf.). Churchill 1946. Vgl. ebd.: „The first step in the re-creation of the European family must be a partnership between France and Germany. In this way only can France recover the moral and cultural leadership of
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Europe. There can be no revival of Europe without a spiritually great France and a spiritually great Germany.“ Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs trafen sich die Regierungschefs und Außenminister mehrerer europäischer Länder im Oktober 1925 in der Schweizer Stadt Locarno. Ihr Ziel war es, gemeinsame Abkommen zur Stabilisierung des Friedens in Europa zu schließen. Das Ergebnis der Konferenz hielten die Vertreter der teilnehmenden Staaten – das Deutsche Reich, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Italien, Polen und die damalige Tschechoslowakei – in sieben völkerrechtlichen Verträgen fest, die am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet wurden. Churchill, zit. nach Gilbert 2014 (Übers. v. Verf.). Der volle Passus lautet (S. 581 f.): „Personally, I welcome Germany back among the great Powers of the world. If there were one message I could give to the German people […] I would urge them to remember the famous maxim: ‚The price of freedom is eternal vigilance.‘ We mustn’t forget that either.“
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In der Studentenrevolte der 1968er Jahre wurden bei Demonstrationen Passagen aus der „Mao-Bibel“ skandiert – einer Sammlung wichtiger Zitate des „Großen Vorsitzenden“. Mao Tse-tung wurde von vielen jungen Leuten, die gegen die aus ihrer Sicht reaktionäre westlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung rebellierten, als Revolutionär verehrt. Man sah im Maoismus eine Alternative zum sowjetischen Kommunismus. Es bildeten sich maoistische Splittergruppen wie der Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW), dem z. B. später prominent gewordene Politiker wie Reinhard Bütikofer und Winfried Kretschmann angehörten. Vgl. Chang/Halliday 2007 und Wiegrefe 2008, S. 47. Z. B. die Öffnung von Häfen (Vertrags- oder Traktatshäfen) oder Reparationszahlungen wegen des Boxeraufstands. Hinzu kam die Öffnung Chinas für die christliche Mission. Eine angemessene Gegenleistung der Vertragspartner war dabei nicht vorgesehen. Wilhelm II., zit. nach Görtemaker 1996, S. 357. In dieser sogenannten Hunnenrede missachtet der deutsche Kaiser die bereits 1899 vom Deutschen Reich unterzeichnete Haager Landkriegsordnung, die ausdrücklich die Aufforderung ächtet, im Krieg ‚kein Pardon‘ zu geben, d. h. keine Gefangenen zu machen. In der Praxis bedeutete dies die Exekution der Kriegsgefangenen – ein klarer Bruch des Völkerrechts. Vgl. Pantsov/Levine 2007, S. 290. Der Aggressionskrieg der Japaner in China, der am 7. Juli 1937 begann und bis zum 9. September 1945 dauerte, wird als Zweiter Japanisch-Chinesischen Krieg bezeichnet. Im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894–1895 annektierte das Kaiserreich Japan die dem chinesischen Festland vorgelagerte Insel Taiwan. Zit. nach Brandt/Schwartz/Fairbank 1955, S. 354 f. Kindermann 2001, S. 115. Mao Tse-tung 1961, S. 26.
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Kindermann 2001, S. 116. Kindermann 2001, S. 207. Vgl. Ch’en 1965, S. 146 f. Vgl. Lüdtke/Reinke 2011, S. 111. Mao Tse-tung, zit. nach Lüdtke/Reinke 2011, S. 111. Kindermann 2001, S. 437. Ebd. Ebd. Liu Shao-ch’i, zit. nach Kindermann 2001, S. 438. Vgl. Sarkisyanz 1965, S. 166 f. und Witzens 2009, S. 189 f. Zit. nach Kindermann 2001, S. 438. Vgl. Arendt 2001. Liu Shao-ch’i, zit. nach Kindermann 2001, S. 439. Konfuzius 1994, S. 14. Kindermann 2001, S. 439. Vgl. Brandt/Schwartz/Fairbank 1955, S. 286. Mao Tse-Tung, zit. nach Brandt/Schwartz/Fairbank 1955, S. 286. Mao Tse-Tung, zit. nach Kindermann 2001, S. 450. Lu Dingchi, zit. nach Kindermann 2001, S. 450. Mao Tse-tung, zit. nach Kindermann 2001, S. 451. Ebd. Yang Shi-chan 1958, S. 53 f. Ebd., S. 54. Mit Oppositionellen soll Qin Shihuangdi äußerst grausam umgegangen sein. Um seine ideologische Vormachtstellung zu stärken, gab er den Befehl, historische Aufzeichnungen aus der Zeit vor der Qin-Dynastie zu verbrennen. Davon ausgenommen waren nur die Geschichtsbücher über sein Heimatreich Qin. Als sich zahlreiche konfuzianische Gelehrte gegen dieses Vorhaben auflehnten, ließ der Kaiser 460 von ihnen lebendig begraben. Kindermann 2001, S. 453. Zit. nach Kinderman 2001, S. 454. Über die richtige Lösung der Widersprüche im Volk, Mao Tse-tung 1978, Bd. V, S. 438. Mao Tse-tung, zit. nach Wikipedia, s. v. „Qin Shihuangdi“, https://de.wikipedia.org/ wiki/Qin_Shihuangdi [Zugriff: 1.9.2022]. Wikipedia, s. v. „Mao Zedong“, https://de.wikipedia.org/wiki/Mao_Zedong#HundertBlumen-Bewegung [Zugriff: 28.7.2022]. Kindermann 2001, S. 457. Weggel 1989, S. 214. Der Koreakrieg 1950–1953 war ein Konflikt zwischen dem kommunistischen Norden (der Demokratischen Volksrepublik Korea), mit dem im Verlauf die Volksrepublik China verbündet war, und dem kapitalistischen Süden (Republik Korea), unterstützt von Truppen der Vereinten Nationen unter Führung der USA. Kindermann 2001, S. 462. Zur Wirtschaftskrise als Folge der Volkskommune vgl. Domes 1971, S. 110–116. Vgl. Johnson 2018.
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Mao Tse-tung, zit. nach Martin 1974, S. 136–141. Mao Tse-tung, zit. nach Ardnassak 2014, S. 97. Vgl. Kindermann 2001, S. 462 Mao Tse-tung, zit. nach Erling 2012. Kindermann 2001, S. 505. Leese 2016, S. 3. Zit. nach Janßen 1980. Zit. nach Kindermann 2001, S. 506 Vgl. Kindermann 2001, S. 506. Mao Tse-tung, zit. nach Li Changshan 2010, S. 99. Lin Piao, zit. nach Kindermann 2001, S. 507. Kindermann 2001, S. 507. Chang 1998, S. 430 f. Chang, zit. nach Delvaux de Fenffe 2006a. Kindermann 2001, S. 509, kursiv: Mao Tse-tung im Radio Peking, 07.11.1967. Kindermann 2001, S. 509. Vgl. Meissner 1969, S. 1–94. Diese Doktrin wurde vor dem Hintergrund des ‚Prager Frühlings‘ konzipiert, als der tschechische Ministerpräsident Alexander Dubček im Frühjahr 1968 ein Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm mit dem Ziel eines ‚Kommunismus mit menschlichem Antlitz‘ durchsetzen wollte. Die Bewegung wurde durch den Einmarsch von einer halben Million russischer Soldaten im August 1968 niedergewalzt. Kindermann 2001, S. 509. Chou En-Lais, zit. nach Kindermann 2001, S. 509. Delvaux de Fenffe 2008. Dikötter 2014, S. 13. Vgl. Rummel 1991, S. 263. Die Opferzahlen sind umstritten Delvaux de Fenffe 2006b Ebd. Zit. nach Wiegrefe 2008, S. 47 Eyssel 2019. Stand August 2022.
Stepan Bandera 1 2 3 4 5 6
Gunkel 2014. Vgl. etwa Marples 2006. Nicht zu verwechseln mit dem Botschafter der Ukraine in Deutschland (2015–2022). Rossoliński-Liebe 2022. Ebd. Vgl. Snyder 2003, S. 205.
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Vgl. Rossoliński-Liebe 2014. Vgl. Friedman 1980, S. 179 f. Wikipedia, s. v. „Massenmorde in Lemberg im Sommer 1941“, https://de.wikipedia.org/ wiki/Massenmorde_in_Lemberg_im_Sommer_1941 [Zugriff: 25.7.2022]. Timtschenko 2017. Zit. nach Heer 2001. Zit. nach ebd. Vgl. Bruder 2008, S. 37. Aussage im Verfahren gegen den Politoffizier des Bataillons ‚Nachtigall‘, den ehemaligen Bundesminister Theodor Oberländer, 1960 vor der Staatsanwaltschaft, zit. nach Heer 2001. Zit. nach ebd. Vgl. Friedman 1980. Hitler, zit. nach Urban 2004, S. 148. Koch, zit. nach Kappeler 2000, S. 218. Zit. nach Gunkel 2014. Urban 2004, S. 149. Vgl. Filar 2008. Vgl. Snyder 2010. Vgl. Mazurczak 2016: „UPA’s methods were sadistic.“ Pradun, zit. nach Swierczynska/Wohlan 2013. Zygmunt Maguza äußerte sich entsprechend in der RBB-Sendung Kowalski & Schmidt vom 2.10.2016. Die Sendung ist mittlerweile leider nicht mehr abrufbar. Vgl. etwa Szawlowski 2000; Heinsohn 1999, S. 283; Snyder 2001, S. 12 sowie eine entsprechende Webseite des polnischen Institute of National Remembrance: https://volhynia massacre.eu [Zugriff: 23.12.2014]. Rossoliński-Liebe, zit. nach Müller 2022. Vgl. Gnauck 2013. So von den Nazis, aber z. B. auch von tschechischen Politikern wie dem Staatsgründer Masaryk und seinem Nachfolger im Amt Benesch, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Vertreibung (odsun, „Abschub“) der drei Millionen Sudentendeutschen aus dem Staatsgebiet der CSR durchsetzte. Auch Churchill war ein eifriger Befürworter des völker- und menschenrechtlich geächteten ethnical cleansing (► Winston Churchill). Bandera, zit. nach Rossoliński-Liebe 2022. Aly, zit. nach RND/dpa 2022. Rossoliński-Liebe, zit. nach Sander 2022. Timtschenko 2017. Im März 2022 bekannte sich der ukrainische Botschafter wieder zu Bandera (vgl. Thorwarth 2022).
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Anmerkungen ____________________________________________________________
Mutter Teresa 1 2 3
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Mutter Teresa, zit. nach Mühlstedt 2016. Mutter Teresa, zit. nach Dobstadt 2016. Mutter Teresa in einem Brief an den Erzbischof von Kalkutta; zit. nach: http://www.visi on2000.at/?nr=2003/5&id=2008 [Zugriff: 1.9.2022]. Dem Begriff „Braut Christi“ liegt die religiöse Vorstellung einer Vereinigung von Gott und Mensch (unio mystica) zugrunde, die mit dem Bild der Verlobung und Vermählung gedacht wird. Im Christentum gelten – neben der christlichen Gemeinde im Allgemeinen – besonders Nonnen als „Bräute Christi“. Mutter Teresa 2007, S. 62 f. Im Bürgerkrieg zwischen Hindus, Sikhs und Muslimenwurden zwischen 200.000 und 500.000 Menschen getötet. Andere Schätzungen belaufen sich sogar auf eine Million Tote. Der Konflikt führte zur Teilung des ehemaligen Britisch-Indien entlang religiöser und ethnischer Linien, was schließlich am 15. August 1947 zur Gründung zweier unabhängiger Staaten führten: des muslimischen Pakistan und des hinduistischen Indien. Mutter Teresa, zit. nach Mühlstedt 2016. Mutter Teresa 2007, S. 157. Mutter Teresa, zit. nach Allegri 2007, S. 73 f. Mutter Teresa, zit. nach Allegri 2007, S. 117. Ebd. Evangelischen Räte (lat. consilia evangelica) sind Ratschläge, die Jesus Christus im Evangelium denen gab, die „vollkommen sein“ wollten (vgl. Mt 19,21). Sie beruhen auf der Lehre und dem Beispiel Christi und sind ein Geschenk Gottes für diejenigen Gläubigen, die er in besonderer Weise dazu beruft. Mutter Teresa, zit. nach Vensky 2010. So der Herausgeber Brian Kolodiejchuk in Mutter Teresa 2007, S. 156 f. Mutter Teresa, zit. nach Mühlstedt 2016. Vgl. Mühlstedt 2016. Ebd. Ebd. Mutter Teresa, zit. nach Mühlstedt 2016. Dieser Aufruf hat angesichts des Ukrainekriegs nicht von seiner Aktualität verloren. Ebd. Mutter Teresa, zit. nach Chawla 1993, S. 13. Allegri 2007, S. 125 f. Mutter Teresa, zit. nach Bolten 2005. Bolten 2005. Stamm 2017. Larivée, zit. nach Remke 2013. Die Studie: Larivée/Sénéchal/Chénard 2013. Larivée, zit. nach Remke 2013.
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Am 3. Dezember 1984 kam es im indischen Bhopal zum schwersten Chemieunfall aller Zeiten: Aus einer Pestizidfabrik entwichen 40 Tonnen Giftgas. 8.000 Menschen kamen grausam zu Tode, mehr als 15.000 starben an Spätfolgen, Tausende leiden noch heute. Angehörige und Betroffene erhielten lächerliche Entschädigungen. Bolten 2005. Zit. nach https://timenote.info/de/Mutter-Teresa [Zugriff: 10.8.2022]. Vgl. Fox 1994; Hunt 1999. Chatterjee 2007, S. 48. Ebd. So zumindest Serge Larivée, vgl. Remke 2013. Hitchens 1992. Ein Ghul (arabisch )ﻏُﻮﻝist üblicherweise ein leichenfressender Dämon und erscheint in verschiedenen mythologischen und literarischen Formen. „Works of love are always a means of becoming closer to God“, Mutter Teresa, zit. nach Kwilecki/Wilson 1998, S. 211. Als unio mystica bezeichnet man in der christlichen Mystik die Einheitserfahrung mit Gott, d. h. die geheimnisvolle Vereinigung der Seele mit Gott als Ziel der Gotteserkenntnis. Mutter Teresa 1979. Bolten 2005. Hoxha, zit. nach Jaenicke 2020. Jaenicke 2020. Oschlies 2009. Mutter Teresa, zit. nach Jaenicke 2020. Ebd. Koçi, zit. nach Jaenicke 2020. Zit. nach Jaenicke 2020. Ebd. Ebd.
Aung San Suu Kyi 1
2 3 4
Synonym auch ‚burmesisch‘ und ‚myanmarisch‘. Seit 1989 heißt das Land offiziell „Republik der Union Myanmar“, im Deutschen wurde es zuvor als Birma, im Englischen als Burma bezeichnet. Vgl. Witzens 2009. Aung San Suu Kyi 1997, S. 19. Eine von den Militärs auf sie zugeschnittene Klausel in der Verfassung von Myanmar verhinderte, dass sie Präsidentin wurde. Zudem ist in der birmanischen Verfassung festgelegt, dass unabhängig vom Wahlausgang stets ein Drittel der Abgeordneten von Militärs gestellt wird. Außerdem kontrolliert das Militär die Ministerien, die für Sicherheit zuständig sind.
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Vgl. Witzens 2009, S. 38 f. Aung San Suu Kyi 1997, S. 26. Ebd., S. 155. Ebd., S. 27. Vgl. Witzens 1967. Aung San Suu Kyi 2007, S. 81. Ebd., S. 151. Ebd. Ebd., S. 44. Myanmar ist eine multi-ethnische Nation mit 135 verschiedenen ethnischen Gruppen, die von der Regierung von Myanmar offiziell anerkannt sind. Diese sind in acht große nationale Ethnien gruppiert: Bamar, Kachin, Kayah, Kayin, Chin, Mon, Rakhine und Shan. Die Rohingya werden offiziell nicht als nationale Gruppe anerkannt. Parmauka, zit. nach Senzel 2019a. Bechert 1967, S. 117. Vgl. Hofman 2016 Achten 2017. Der Sangha hat sich in der Vergangenheit stets gegen die Gewalt militärischer Machthaber gewandt, z. B. beim Aufstand von 1988 und bei der ‚Safranrebellion‘ von 2007, dem Aufstand buddhistischer Mönche gegen das Militärregime. Auch nach dem Militärputsch vom Februar 2021 stellte sich der Sangha auf die Seite der friedlichen Demonstranten und protestierte gegen die brutale Gewalt der Soldaten, die laut der Menschenrechtsorganisation AAPP bis zum April 2022 1.773 Menschen getötet hatten. mak/qu 2017. Vgl. Amnesty International 2017a. Von Amnesty International (2017a) zur Verfügung gestellte Satellitenaufnahmen zeigen, dass alle Häuser der Rohingya niedergebrannt waren, während die der Rakhaing intakt blieben. Anhand der Satellitenbilder lässt sich dokumentieren, dass es in der Region seit dem 25. August mindestens 156 großflächige Brände gegeben hat (ebd., S. 27 ff.). Shawfika, zit. nach Human Rights Watch 2017. Vgl. Amnesty International 2017b. Vgl. Beech 2017. Zit. nach Kuntz 2020. Coomaraswamy, zit. nach Senzel 2019b. Senzel 2019b. Aung San Suu Kyi, zit. nach Senzel 2019b. Perras 2021. Pressemitteilung des Nobelkomitees, 14.11.1991 (Übers. v. Verf.), https://www.nobel prize.org/prizes/peace/1991/press-release [Zugriff: 11.8.2022]. Vgl. Ziegler 2019.
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Allerdings ist es wichtig, zwischen Völkermord und ethnischer Säuberung zu unterscheiden. Tatsächlich wird der Genozid-Vorwurf – er ist die völkerrechtlich und moralisch gravierendste Anklage überhaupt – inflatorisch oft auch dann erhoben, wenn nach Lage der Dinge ‚nur‘ eine ethnische Säuberung im Sinne von gewaltsamer Vertreibung vorliegt. Völkermord wird seit der Genfer Konvention von 1948 definiert als die Absicht von Machthabern, eine Bevölkerungsgruppe ganz oder teilweise zu eliminieren, sprich auszurotten. Eine Unterscheidung beider Verbrechen ist wegen fließender Übergänge nicht immer leicht. Ziegler 2019 (Übers. v. Verf.). Aung San Suu Kyi 2019 (Übers. v. Verf.). Diese Intention, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, ist das entscheidende Kriterium für die Definition des Genozids. sda/dpa/from;zaus 2019. Tatsächlich sind so gut wie keine Rohingya aus Furcht vor Gewalt und wegen der Rechtsunsicherheit nach Rakhine zurückgekehrt (vgl. Pierson/Diamond 2019). Experten halten die birmanischen Untersuchungen für vorgetäuscht. Das Militär gibt sich unschuldig, und die birmanische Regierung hindert Ermittler der Vereinten Nationen an Besuchen vor Ort (vgl. Safi 2019). Aung San Suu Kyi 2019 (Übers. v. Verf.); vgl. Rist/Zoll 2019 und Safi 2019. Aung San Suu Kyi, zit. nach sda/dpa/from; schp 2017. Vgl. Rist/Zoll 2019. Aung San Suu Kyi 2012 (Übers. v. Verf.). Vgl. o. A. 2015. Aung San Suu Kyi, zit. nach sda/dpa/from; schp 2017. Vgl. Husain 2012. Aung San Suu Kyi, zit. nach Husain 2013 (Übers. v. Verf.). Die Äußerung überliefert Peter Popham, Verfasser einer Biografie über Suu Kyi, zit. nach Apa/Ag. 2016. Vgl. Steinmetz 2018. Aung San Suu Kyi, zit. nach aev/AP/AFP/Reuters 2018. Vgl. Süddeutsche Zeitung, Nr. 195, 25.8.2022, S. 7. Pfeifer 2021. Stand Juni 2022. Laut einem Passus in der birmanischen Verfassung darf Aung San Suu Kyi nicht Präsidentin werden, weil sie mit einem Ausländer verheiratet war und ihre beiden Söhne in England leben. De facto ein Fall von Sippenhaft.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17
Jusepe de Ribera, Heiliger Moses, 1638 (Foto: Direct Media; gemeinfrei) .................................................................... Julius Schnorr von Carolsfeld, Die Schlacht von Jericho, 1860 (gemeinfrei) ....................................................................................................... Herrad von Landsberg, Buchmalerei der aus dem Hortus Derliciarum, Reproduktion: Christian Maurice Engelhardt, 1818 (gemeinfrei) ........... Detail Alexandersarkophag, um 325 v. Chr., (Istanbuler Archäologie Museum, Foto: Patrick Neil, CC BY-SA 2.5) ...... Thomas Thornycroft, Boudica and Her Daughters, 1902 (Foto: Carole Raddato, CC BY-SA 2.0) ............................................................ Karlsbüste, ca. 1350, Aachener Domschatzkammer (Foto: Beckstet via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0) .......................... Buchmalerei aus den Grandes Chroniques de France, 1191 (BnF, département des Manuscrits, Français 2813, fol. 238v) .................. Vasily Vereshchagin, Die Apotheose des Krieges, 1871 (Foto: Art Gallery ErgsArt via flickr.com, gemeinfrei) ............................... Reiterstandbild des Dschingis Khan, 2008 (Foto: Vaiz Haz, CC BY 2.0) .............................................................................. Sayf al-Vâhidî, Flucht der Armee des Nawrûz Ahmad Shaybâni, 15. Jh. (BnF, département des Manuscrits, Supplément Persan 1113, fol. 231v) .. Reiterstandbild des Tamerlan, 1993 (Foto: Dave Proffer, CC BY 2.0) ....................................................................... Markus Ayrer, Holzschnitt aus der Brodoc-Chronik, 1499 (gemeinfrei) ....................................................................................................... Theodor Aman, Vlad III. Drăculea empfängt türkische Gesandte, 19. Jh. (gemeinfrei) ....................................................................................................... Nachbau der Santa María im Hafen von Funchal (Foto: Dietrich Bartel, CC BY-SA 2.0) ............................................................. Sebastiano del Piombo, Portrait eines Mannes, angeblich Kolumbus, 1519 (MET, gemeinfrei) ............................................................................................. Zeichnung: unbekannt (aus: A. Hugo, France Militaire. Histoire des armées françaises de terre et de mer de 1792 à 1833. T. 1, Paris 1835; gemeinfrei)..... Adolph Northen, Napoleons Rückzug aus Moskau, 1851 (Foto: unbekannt, gemeinfrei) .......................................................................
S. 22 S. 27 S. 29 S. 43 S. 53 S. 61 S. 65 S. 75 S. 81 S. 94 S. 96 S. 106 S. 108 S. 120 S. 148 S. 154 S. 166
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Abbildungsverzeichnis _____________________________________________________ Abb. 18
Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25
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Wilhelm Camphausen, Bismarck und Napoleon III. nach der Schlacht von Sedan, 1878 (aus: W. Stein (Hrsg.), Bismarck. Des eisernen Kanzlers Leben in annähernd 200 seltenen Bildern nebst einer Einführung. Siegen/Leipzig: Hermann Montanus 1915; gemeinfrei) ............................ Bismarckdenkmal im Berliner Tiergarten, 2.7.2017 (Foto: Andy Hay via flickr.com, CC BY 2.0) .................................................. Das zerstörte Dresden, 1945 (Bundesarchiv, 183-Z0309-310; Foto: G. Beyer, CC BY-SA 3.0) .................. Churchill-Statue (Foto: d_pham via flickr.com; CC BY 2.0) ...................................................... Mao Zedong, ca. 1959 (Foto: unbekannt, gemeinfrei) ....................................................................... Stepan-Bandera-Statue im ukrainischen Ternopil (Foto: Mykola Vasylechko, CC BY-SA 4.0) .................................................... Mutter Teresa bei der Verleihung der Freiheitsmedaille, 20.6.1985 (Foto: National Archives, Identifier: 6728672; gemeinfrei) ....................... Aung San Suu Kyi bei der Übergabe des Sakharov-Preises, 22.10.2013 (Foto: Claude Truong-Ngoc, CC BY-SA 3.0) ..................................................
S. 185 S. 215 S. 240 S. 254 S. 268 S. 307 S. 328 S. 348