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German Pages XVI, 163 [177] Year 2020
Bürgerbewusstsein
Tonio Oeftering · Waltraud Meints-Stender Dirk Lange Hrsg.
Hannah Arendt Lektüren zur politischen Bildung
Bürgerbewusstsein Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung Reihe herausgegeben von Dirk Lange, Hannover, Deutschland/Wien, Österreich
Bürgerbewusstsein bezeichnet die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politischgesellschaftliche Wirklichkeit. Es dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und produziert zugleich den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen. Somit stellt das Bürgerbewusstsein die subjektive Dimension von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dar. Es wandelt sich in Sozialisations- und Lernprozessen und ist deshalb zentral für alle Fragen der Politischen Bildung. Das Bürgerbewusstsein bildet mentale Modelle, welche die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse subjektiv verständlich, erklärbar und anerkennungswürdig machen. Die mentalen Modelle existieren in Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen mit der Politischen Kultur. Auf der Mikroebene steht das Bürgerbewusstsein als eine mentale Modellierung des Individuums im Mittelpunkt. Auf der Makroebene interessieren die gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Kontexte des Bürgerbewusstseins. Auf der Mesoebene wird untersucht, wie sich das Bürgerbewusstsein in Partizipationsformen ausdrückt. Die „Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung“ lassen sich thematisch fünf zentralen Sinnbildern des Bürgerbewusstseins zuordnen: „Vergesellschaftung“, „Wertbegründung“, „Bedürfnisbefriedigung“, „Gesellschaftswandel“ und „Herrschaftslegitimation“. „Vergesellschaftung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich Individuen in die und zu einer Gesellschaft integrieren. Welche Vorstellungen existieren über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Wie wird soziale Heterogenität subjektiv geordnet und gruppiert? „Wertbegründung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten. Welche Werte und Normen werden in politischen Konflikten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ökonomischen Unternehmungen erkannt? „Bedürfnisbefriedigung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie Bedürfnisse durch Güter befriedigt werden. Wie wird das Funktionieren des sozioökonomischen Systems erklärt? Welche Konzept über das Entstehen von Bedürfnissen, über die Produktion von Gütern und über die Möglichkeiten ihrer Verteilung werden verwendet? „Gesellschaftswandel“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich sozialer Wandel vollzieht. Wie werden die Ursachen und die Dynamiken sozialen Wandels erklärt? In welcher Weise wird die Vergangenheit erinnert und die Zukunft erwartet? „Herrschaftslegitimation“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie partielle Interessen allgemein verbindlich werden. Wie wird die Ausübung von Macht und die Durchsetzung von Interessen beschrieben und und gerechtfertigt? Welche Konflikt- und Partizipationskonzept werden verwendet? Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12208
Tonio Oeftering · Waltraud Meints-Stender · Dirk Lange (Hrsg.)
Hannah Arendt Lektüren zur politischen Bildung
Hrsg. Tonio Oeftering Institut für Sozialwissenschaften Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Oldenburg, Niedersachsen, Deutschland Dirk Lange Didaktik der Politischen Bildung Leibniz-Universität Hannover Hannover, Niedersachsen, Deutschland Universität Wien, Wien, Österreich
Waltraud Meints-Stender Fachbereich Sozialwissenschaften Hochschule Niederrhein Mönchengladbach, Nordrhein-Westfalen Deutschland
ISSN 2626-3343 ISSN 2626-3351 (electronic) Bürgerbewusstsein ISBN 978-3-658-30675-5 ISBN 978-3-658-30676-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Hannah Arendt – Lektüren zur Politischen Bildung: Vorwort
Hannah Arendts Philosophie des Politischen ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Klassiker avanciert. Ihr emphatischer Begriff des Politischen wird in der Sozialphilosophie und der politischen Theorie kontrovers debattiert. In jüngster Vergangenheit ist auch in der politischen Bildung eine deutliche Zunahme der Arendtrezeption zu verzeichnen, in der auf ganz unterschiedliche Weise auf ihre Schriften Bezug genommen wird. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Arendt sich selbst kaum explizit zu Erziehungs- und Bildungsfragen geäußert hat. Zu den wenigen Ausnahmen zum Thema Erziehung gehören Arendts im Jahre 1958 anlässlich des 70. Geburtstags von Erwin Loewenson in Bremen gehaltener Vortrag mit dem Titel „Die Krise in der Erziehung“ (Arendt 2000a) sowie ihr Text zu „Little Rock“ (vgl. Arendt 2000b), in dem sie allerdings, obgleich dieser Erziehungsfragen berührt, unter explizitem Hinweis auf „Die Krise in der Erziehung“ auf weitere Erläuterungen zur Erziehung verzichtet. Mit dem Bildungsbegriff hat Arendt sich – sieht man zunächst von ihrer Rezension zu Hans Weils Buch „Die Entstehung des Deutschen Bildungsprinzips“ (1931) ab, eher implizit beschäftigt: So in ihrem Aufsatz „Aufklärung und Judenfrage“ (1976, orig. 1932) und in ihrem Buch „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ (1959), in dem sie sich gegen die eindimensionale Fokussierung auf das weltlose „Selberdenken“ der Aufklärung wendet, um dann in späteren Schriften die „erweiterte Denkungsart“ als Grundlage politischer Urteilskraft ins Zentrum zu rücken. Trotz des eher geringen Umfangs, den Bildungs- und Erziehungsfragen in ihrem Œuvre einnehmen, erweist sich Arendts Denken in vielerlei Hinsicht als V
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fruchtbar für Fragen von Erziehung und (politischer) Bildung, wie die in den letzten Jahren wachsende Zahl an Publikationen hierzu belegt.1 Im deutschsprachigen Raum erschienen die ersten Beiträge zu Arendt und Bildungsfragen bereits Ende der 1980er Jahre (etwa Fauser 1988). In den 1990ern waren weitere Annäherungen an Arendt unter einer bildungstheoretischen Perspektive zu verzeichnen, etwa in dem Aufsatz „Zur Zukunft pädagogischer Utopien“, in dem sich Micha Brumlik, ausgehend von Platon, mit der Frage nach dem „Neuen“ in der Pädagogik und insbesondere bei Hannah Arendt beschäftigt (Brumlik 1992), oder auch in einem Artikel von Maciej Potêpa, der einen Text zum Begriff der (politischen) Bildung bei Karl Japsers, Hannah Arendt und Martin Heidegger verfasste (Potêpa 1995). Auch im internationalen Kontext wurden zu Beginn der 2000er Jahre Texte publiziert, die eine eher komparative Perspektive einnahmen, etwa von Anne O’Byrne, die unter der Überschrift „Pedagogy without a project“ Hannah Arendts und Jacques Derridas Positionen zum Lehren, zur Verantwortung und zur Revolution gegenüberstellt (O’Byrne 2005). Einen ähnlichen Zugang wählte Trevor Norris, wobei er Arendt und Jean Baudrillard miteinander in Beziehung setzt und vor allem nach der Bedeutung von Pädagogik unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft fragt (Norris 2006). In den 2000er Jahren wurden vermehrt deutschsprachige Texte publiziert, die sich explizit mit politischer Bildung befassen. So hat sich beispielsweise Eva Cendon unter der Überschrift „Denken ohne Geländer – politische Bildung nach Hannah Arendt“ ausgehend von Arendts Biographie an Arendts Methode sowie ihren Handlungs- und Urteilsbegriff angenähert (Cendon 2000), Dirk Lange und Sven Rößler gehen in ihren „politikdidaktischen Annäherungen an Hannah Arendt“ der Frage nach, ob und inwieweit sich Arendts Denken mit Dirk Langes Konzept des „Bürgerbewusstseins“ verbinden lässt (Lange und Rößler 2009). Ebenfalls zu dieser Zeit wurde Hannah Arendt für die (politische) Erwachsenenbildung erschlossen, etwa von Sonja Strube, die Arendts Begriff des „Gemeinsinns“ in das Zentrum ihrer Betrachtungen stellt und schreibt, die Erwachsenenbildung sei ein Ort, wo dieser ausgebildet werden könne (Strube 2005). Ebenfalls einen Zugang über Hannah Arendt zur Erwachsenenbildung sucht Wiltrud Giesecke. Für sie ist die Aufsatzsammlung „Zwischen
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Folgenden wird hierzu nur ein Überblick gegeben, es handelt sich nicht um eine Aufzählung mit dem Anspruch, den umfassenden Forschungsstand wiederzugeben. Für eine umfassende Bibliographie s. http://www.hannaharendt.net/index.php/han/pages/view/bibl [zuletzt: 07.04.2020]
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Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I“ von 1961 ein „wegweisendes Werk der Erwachsenenbildung“ (Giesecke 2007). Neben einer Vielzahl von Aufsätzen wurden seit Beginn des neuen Jahrtausends auch zahlreiche Monografien publiziert, die Hannah Arendt für die politische Bildung aufzuschließen suchten. Zu den elaboriertesten Ansätzen im deutschsprachigen Raum gehören etwa die Arbeiten von Karl-Heinz Breier und Ingo Juchler. Karl-Heinz Breier hat nicht nur eine Biographie über Arendt geschrieben (Breier 2001), er bezieht sich darüber hinaus auch sowohl in seiner zusammen mit Alexander Gantschow verfassten „Einführung in die politische Theorie“ (Breier und Gantschow 2006) als auch in seinem Konzept politischer Wissenschaft als „Bürgerwissenschaft“ (Breier 1998) sowie seinem Entwurf einer „republikanischen Bürgerbildung“ (Breier 2003; Breier 2010) auf Arendt. Ingo Juchler hat Arendt für seine Habilitationsschrift „Demokratie und politische Urteilskraft“ (Juchler 2005) rezipiert. Dem Titel des Buchs entsprechend geht er vor allem auf das Phänomen der Urteilskraft bei Hannah Arendt ein. Zu nennen ist hier auch Waltraud Meints-Stender, die sich in ihrer Studie „Partei ergreifen im Interesse der Welt“ (2011) mit der politischen Urteilskraft beschäftigt. Sie zeigt, dass die politische Urteilskraft in Arendts Schriften eine doppelte Funktion erfüllt: in der politischen Theorie als Bestimmung dessen, was ist, und in der politischen Praxis als Kampf um ein gleichberechtigtes Gesehen- und Gehörtwerden, das sozialen Voraussetzungen gegenüber nicht blind ist. In den letzten Jahren wurden auch einige Qualifikationsschriften zu Arendt und politischer Bildung verfasst. So setzt sich etwa Tonio Oeftering (2013) in seiner Dissertation mit der Bedeutung von Arendts Begriff des Politischen für die Politische Bildung auseinander und Evelyn Temme (2014) denkt politikdidaktische Theorien mit Arendt weiter. Maria Robaszikiewicz geht in ihrer Studie „Übungen im politischen Denken. Hannah Arendts Schriften als Einleitung der politischen Praxis“ davon aus, dass Arendts Schriften „als Übungen im politischen Denken fungieren können und somit eine exemplarische Ausführung derselben darstellen“ (Robaszikiewicz 2017, S. 10). Die Schrift von René Torkler (2015) fragt nach Arendts Kant-Rezeption und ihrer didaktischen Bedeutung und Sven Rößler hat ein „Prolegomena zu einer Didaktik der Moderne nach Motiven im politischen Denken Hannah Arendts“ (2019) verfasst. Im internationalen Kontext ist noch auf zwei Sammelbände zu verweisen. Einmal auf das von Mordechai Gordon herausgegebene Werk „Hannah Arendt and Education. Renewing our common World“ (2001) sowie auf das jüngst erschienene Buch „Hannah Arendt on Educational Thinking and Practice in Dark Times. Education for a World in Crisis“, der von Wayne Veck und Helen M. Gunter herausgegeben wurde (2020).
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Im deutschsprachigen Raum ist ein solcher Band bisher nicht erschienen, insofern schließt das vorliegende Buch eine Lücke. Der hier gewählte Zugang besteht allerdings nicht darin, sich an bestimmten Schriften Arendts „abzuarbeiten“; vielmehr sollen didaktisch relevante Zugänge zur politischen Bildung über unterschiedliche Lektüren von Hannah Arendts Schriften gelegt werden, um ihren grundlagentheoretischen Beitrag zur politischen Bildung zu erfassen. Das Diskursfeld zur politischen Bildung bei und mit Arendt soll so erweitert werden. Dabei wird noch einmal deutlich, wie vielfältig die Zugänge zur politischen Bildung mit Arendt sind, auch wenn bestimmte Motive immer wiederkehren. Hierzu gehört etwa das bei Arendt stark gemachte Spannungsverhältnis von Erziehung, Bildung und Politik (vgl. Mahrdt in diesem Band), oder auch Arendts Begriff des Politischen. Denn spätestens seit der Veröffentlichung von Oliver Marcharts Buch „Die politische Differenz“ (2010) avancierte Arendt zu einer der profiliertesten Theoretiker*innen, die im Unterschied zu Carl Schmitts Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen dieser Unterscheidung eine radikaldemokratische Wendung gegeben hat (vgl. Marchart 2010; Oeftering 2013). Diese Position wird allerdings diskutiert, so unterscheiden Meints-Stender/Lange in diesem Band einen traditionellen von einem kritischen Begriff der Politik bei Arendt (vgl. auch Meints-Stender und Lange 2016). Und schließlich sind es auch die Begriffe Krise, Kritik und Urteilskraft, die in den verschiedenen Beiträgen dieses Bands immer wieder auftauchen. An diesem Punkt wird die Bedeutung von Arendts Denken für das Verstehen unserer Welt und die politische Bildung besonders deutlich: Unsere krisenhafte Gegenwart fordert mehr denn je eine politische Bildung, die sich kritisch mit der Welt auseinandersetzt und die politische Urteilskraft fördert, weil bisherige Urteile ins Wanken geraten und neue Maßstäbe zur Beurteilung von Welt und Politik erst entwickelt werden müssen. Auch hierzu soll das vorliegende Buch einen Beitrag leisten. Die Beiträge in diesem Band Der Briefwechsel zwischen Jerome Kohn und Elisabeth Young-Bruehl, der den Titel Was und wie wir von Hannah Arendt gelernt haben trägt, erscheint in diesem Buch erstmals in deutscher Sprache. Er erschien ursprünglich in: Gordon, Mordechai (Hg.), Hannah Arendt and Education. Renewing Our Common World, New York: Routledge, 2018, S. 225–256 unter dem Titel: Elisabeth YoungBruehl/Jerome Kohn, What and How We Learned from Hannah Arendt: An Exchange of Letters. Die Herausgeber*in danken an dieser Stelle sehr herzlich Wolfgang Heuer, der die Übersetzung des Briefwechsels besorgt hat.
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Als Studierende bei Hannah Arendt in den 1960er Jahren tauschen sich Elisabeth Young-Bruehl und Jerome Kohn in diesem Briefwechsel über das Gelernte und die gemachten Erfahrungen bei Hannah Arendt aus. Neben kurzen Einblicken in ihr Alltagsleben diskutieren die Arendt-Studierenden hauptsächlich über die Beziehung zwischen Bildung und Politik – vor dem Hintergrund der historischen Tatsachen des 20. Jahrhunderts. In einer Welt, in der sich der Totalitarismus entfaltete und jederzeit wieder entfalten kann, muss Arendt zufolge ein neues Denken etabliert werden, welches sich von Traditionen löst, die nicht imstande waren, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu verhindern. In ihrem Briefwechsel diskutieren Young-Bruehl und Kohn unter anderem über Wege dieses neuen Denkens in die Bildung der Menschen – in der Hoffnung, dass Arendts Lehre hierüber erhalten bleibt und auch nachfolgende Genrationen zum Denken anregt. In Ihrem Beitrag Politische Bildung als Bildung politischer Urteilskraft: Arendts Perspektive weisen Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange zunächst darauf hin, dass Arendt den Gedanken, dass der Mensch ein von Natur aus auf das Leben in der Polis angelegtes Lebewesen sei, immer abgelehnt habe. Das Gegenteil sei der Fall. Nichts ist angeboren, alles ist erlernt und muss erlernt werden, auch die politische Urteilskraft, ohne die Demokratie als Lebensform nicht möglich ist. Dieser Zug im Denken Arendts macht sie – wie Meints-Stender und Lange zeigen – zu einer Theoretikerin der politischen Bildung avant la lettre. Der innere Zusammenhang zwischen Arendts Begriff des Politischen und politischer Bildung wird hier vier Schritten dargestellt. Zunächst wird ein kritisches Verständnis von Politik vom traditionellen Politikbegriff abgegrenzt. Danach wird dieses Verständnis auf Arendts Konzept der politischen Macht bezogen, das zwischen lebendiger und materialisierter Macht unterscheidet. Die Vermittlung beider Machtformen stellt sich über die Verknüpfung des Begriffs der Pluralität mit der politischen Urteilskraft her. Die Praxis reflektierenden Urteilens avanciert so zur Existenzvoraussetzung lebendiger Demokratie und ist damit in Arendts Perspektive Ziel politischer Bildung. Die politische Urteilsbildung gilt als allgemein anerkanntes übergeordnetes didaktisches Ziel des Politikunterrichts, so Ingo Juchler in seinem Aufsatz Politische Urteilsbildung – Hannah Arendts Überlegungen als archimedischer Punkt für die Politikdidaktik. Dabei steht sie – ausgehend von Immanuel Kants Überlegungen zur Mündigkeit – in einer langen Tradition schulischer Bildungsbemühungen. In Juchlers Beitrag wird diese Traditionslinie von Mündigkeit respektive politischer Urteilsbildung von Kant bis heute zunächst einführend skizziert. Sodann wird das reziproke Verhältnis von politischer Öffentlichkeit
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und politischer Urteilsbildung vorgestellt. Die Befähigung der Schüler*innen zur politischen Urteilsbildung muss sich in der politischen Öffentlichkeit bewähren. Zugleich stellt die Fähigkeit der Bürger*innen zur politischen Urteilsbildung für die politische Öffentlichkeit selbst eine nicht hintergehbare Voraussetzung für deren gedeihlichen Fortbestand und damit letztlich auch für den der Demokratie an sich dar. Hier bieten Ausführungen Hannah Arendts, so Juchler, einen richtungsweisenden Ansatz für die gegenwärtige Beschäftigung mit der Sphäre der politischen Öffentlichkeit. In Juchlers Beitrag wird darüber hinaus das politische Urteilen mit dem Handeln in Beziehung gesetzt. Dabei erweist sich das Theater als besonderer außerschulischer politischer Lernort, wo die politische Urteilsbildung vor dem Hintergrund der auf der Bühne vorgestellten Handlungen ermöglicht wird: Der Besuch des Theaters weist einen besonderen Zugang zum Politischen auf, denn im Mittelpunkt des Bühnengeschehens, des Dramas, steht das menschliche Handeln. Deswegen gilt für Hannah Arendt denn auch das Theater als die „politische Kunst par excellence“. Tonio Oeftering beginnt seinen Beitrag „Wo das Sprechen aufhört, hört Politik auf“ (Hannah Arendt) – Politische Bildung im Modus des Politischen mit der Unterscheidung von der Politik und dem Politischen. Das Politische, so der Autor, meint bei Arendt eine adverbiale Modalität, eine Art und Weise zu sein, in der Politik sich Arendt zufolge vollzieht bzw. vollziehen sollte. Diese Modalität, der Modus des Politischen wird im weiteren Verlauf des Beitrags eingehend entlang der für Arendt grundlegenden Begriffe Pluralität, Freiheit und Natalität erläutert. Im Weiteren wird Arendts Begriff des Politischen auf politische Bildung angewendet. Der Autor zeigt, dass politische Bildung, die sich im Modus des Politischen vollzieht, geeignet ist, zentrale Zielvorstellungen politischer Bildung wie die Mündigkeit der Lernenden zu befördern. In ihrem Beitrag Zum Begriff des Politischen in der politischen Bildung – Grundelemente deliberativer Politik im Werk von Hannah Arendt arbeitet Bettina Lösch grundlegende Elemente einer Theorie deliberativer Politik im Werk Hannah Arendts heraus. Die Unterscheidung zwischen dezisionistischen und deliberativen Theorien des Politischen soll zu einer Klärung und kritischen Reflexion des Politikbegriffs in der politischen Bildungsarbeit beitragen. Dabei steht zunächst insbesondere eine Kritik der Öffentlichkeit als Herrschaftssphäre im Fokus, bevor die Autorin Öffentlichkeit als Zwischenraum beschreibt, der sich sowohl als Sphäre der Entpolitisierung und Weltentfremdung, aber auch als die politische Sphäre, in der die gemeinsamen Angelegenheiten geregelt werden, darstellen kann.
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Ingeborg Nordmann weist in ihrem Beitrag Das Miteinander Sprechen und Handeln – Hannah Arendts Begriff von Öffentlichkeit als Modell für den Diskussionsraum der Erwachsenenbildung zunächst darauf hin, dass in Arendts Konzeption des öffentlichen Raums Reflexionen über die eigene Dimension des Intersubjektiven jenseits der Mittel-Zweck-Bedingung eine große Rolle spielen. Das hat dazu geführt, dass Arendt den verschiedenen Modi des Miteinandersprechens und Zuhörens eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Ihre subtilen Differenzierungen über das Bezugsgewebe zwischen den Menschen, das aus subjektiven Begegnungen, Wahrnehmungen und Urteilen besteht, bildete eine Art regulativer Idee für die Frage, welche Bedeutung ihre Überlegungen auch für die politische Erwachsenenbildung haben könnten. Hannah Arendt führte die Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf einen Traditionsbruch zurück, der die Kritik traditioneller Bestimmungen von Philosophie und Politik und deren Neubestimmung in Gestalt kritischen Denkens und Urteilens sowie politischen Handelns erforderlich macht, so Wolfgang Heuer in seinem Beitrag Jenseits der akademischen und intellektuellen Welten. Arendts Standort. Mit dieser Kritik ging für Arendt, so der Autor, die Ablehnung einer normativen Theoriebildung, der Zugehörigkeit zu einer akademischen Welt und des Intellektuellenkults ihrer Zeit einher. In seinem Text möchte Heuer Arendts Standort mithilfe folgender Schwerpunke ermitteln: Arendts Konzept von Persönlichkeit, ihr Perspektivwechsel von dem vorherrschenden neuzeitlichen Subjekt zu den Intersubjekten des Dazwischen, ihre diskursive Methode und ihr dichterisches Denken, die Radikalität ihres Denkens, die Rolle der Emotionen und schließlich ihre Kritik an der Rolle der Intellektuellen. Autorität, so die These Helgard Mahrdts in ihrem Aufsatz Neoliberaler Wandel, Autorität, Freiheit und Erziehung, hat in der Erziehung ihren legitimen Platz. Erzieherische Verantwortung nimmt die Form von Autorität an – zum Wohl des Kindes und zum Wohl der Welt. Mahrdt beginnt mit einer kurzen Beschreibung des neoliberalen Wandels von Autonomie und Verantwortung, erklärt dann den Begriff der Autorität, und stellt die Frage, was die Schule für das Kind bedeutet und warum wir in der Erziehung Autorität bewahren müssen, auch wenn der Autoritätsverlust nicht nur im öffentlichen und politischen Leben manifest geworden ist, sondern auch eine Sphäre erreicht hat, wo Autorität ganz natürlich erwartet wird, nämlich in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Dass wir in der Erziehung nicht auf Autorität verzichten können, so die These Mahrdts, hängt damit zusammen, dass das Kind sowohl ein sich entwickelndes menschliches Wesen als auch ein Neuankömmling in der Welt ist. Hieraus ergibt sich eine doppelte Verantwortung, die für die Erziehenden entsteht und die
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angesichts der gegenwärtigen Brüche mit der Tradition keine leichte Aufgabe darstellt, so die Autorin. Fred Dewey zeigt in seinem Beitrag from an apparent contradiction in Arendt to a working group method den Widerspruch zwischen Politik und Denken auf, den Hannah Arendt in ihrem veröffentlichten, aber nicht zu Lebzeiten vervollständigten Werk Life of the Mind – deutsch: vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen – konstruiert. Unser Denken verlange Aufmerksamkeit, so Dewey, welche die empirischen Bedingungen aller Handlungen und Tatsachen in ihrer Existenz aufzeigt. Die Abgrenzung des Denkens vom Theoriebilden, Philosophieren und Reflektieren richtet das Verständnis von Denken erneut auf Handlungen und mit Arendt auf Sokrates’ Verständnis von Denken als Zwiegespräch mit sich selbst. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Denken diesem Verständnis zufolge politisch sein kann. Bezüglich politischer Bildung wird im Beitrag diskutiert, wie dieses Denken politisch werden kann und wer in der Lage ist, diese Fähigkeit zu erlangen – nur junge Menschen, die politische Bildung genießen können, oder auch Erwachsene? Wie können allgemein alle Bürger*innen das politische Denken erlernen? Auf diese Fragen gibt der Autor in den einzelnen Kapiteln Antworten. Die Herausgeber*in danken an dieser Stelle allen Autor*innen, die diesen Band mit Ihren Texten bereichert haben, sowie Derya Yildirim für die sorgfältige Durchsicht der eingereichten Beiträge. Tonio Oeftering, Waltraud Meints-Stender, Dirk Lange
Literatur Arendt, Hannah. 1931. Rezension: Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. In Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Bd. 66: 200–205. Arendt, Hannah. 1976. Aufklärung und Judenfrage. In Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 108–126. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah. 1959. Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper. Arendt, Hannah. 2000a. Die Krise in der Erziehung. In Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, 255–276. München: Piper. Arendt, Hannah. 2000b. Little Rock. Ketzerische Ansichten über die Negerfrage und equality. In Arendt, Hannah: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, 258–279. München: Piper. Breier, Karl-Heinz. 1998. Politische Wissenschaft als Bürgerwissenschaft. Hannah Arendt über Bürgerfreiheit in der Republik. In Politikwissenschaftliche Spiegelungen.
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Ideendiskurs, institutionelle Fragen, politische Kultur und Sprache; Festschrift für Theo Stammen zum 65. Geburtstag, Hrsg. Dirk Berg-Schlosser, Gisela Riescher, Arno Waschkuhn, Theo Stammen, 160–173. Opladen: VS Verlag. Breier, Karl-Heinz. 2001. Hannah Arendt zur Einführung. Hamburg: Junius. Breier, Karl-Heinz. 2003. Leitbilder der Freiheit. Politische Bildung als Bürgerbildung. Schwalbach/Ts: Wochenschau. Breier, Karl-Heinz. 2010. Politische Bildung als Bürgerbildung. Einladung zu einer republikorientierten Politikdidaktik. In Politik verstehen lernen. Zugänge im Politikunterricht. Hrsg. Carl Deichmann und Ingo Juchler, 11–21. Schwalbach/Ts: Wochenschau. Breier, Karl-Heinz, Gantschow, Alexander. 2006. Einführung in die politische Theorie. Berlin: LIT. Brumlik, Micha. 1992. Zur Zukunft pädagogischer Utopien. Zeitschrift für Pädagogik 4: 529–545. Cendon, Eva. 2000. Denken ohne Geländer. Politische Bildung nach Hannah Arendt. In: Brücken ins Morgen. Bildung im Übergang, Hrsg. Werner Lenz, 13–32. Innsbruck/ Wien/München: Studien-Verlag. Fauser, Peter. 1988. Tätigsein und Lernen – Bildungstheoretische und schultheoretische Überlegungen im Anschluss an Hannah Arendt. In Lebensbzug als Schulkonzept. Ein deutsch-polnisches Gespräch über praktisches Lernen und Schulreform, Hrsg. Peter Fauser und Heliodor Muszynski, 149–172. Weinheim/München: Juventa. Giesecke, Wiltrud. 2007. „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I“ (1961) von Hannah Arendt. In Wegweisende Werke zur Erwachsenenbildung, Hrsg. Ralf Koerrenz, Elisabeth Meilhammer, Käthe Schneider, Käthe, 379–388. Jena: Garamond. Gordon, Mordechai 2001. Hannah Arendt and Education. Renewing our common World. Boulder: Westview Press. Juchler, Ingo. 2005. Demokratie und politische Urteilskraft. Überlegungen zu einer normativen Grundlegung der Politikdidaktik. Schwalbach/Ts: Wochenschau. Lange, Dirk, Rössler, Sven. 2009. Der Sinn von politischer Bildung ist Freiheit. Politikdidaktische Annäherungen an Hannah Arendt. In Raum der Freiheit. Reflexionen über Idee und Wirklichkeit; Festschrift für Antonia Grunenberg, Hrsg. Waltraud Meints, Michael Daxner, Gerhard Kraiker, Antonia Grunenberg, 341–357. Bielefeld: Transcript. Marchart, Oliver. 2010. Die politische Differenz: zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp. Meints, Waltraud. 2011. Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld: Transcript. Meints-Stender, Waltraud, Lange, Dirk. 2016. Das Politische in der politischen Bildung. In Handbuch Politische Erwachsenenbildung, Hrsg. Dirk Lange und Klaus-Peter Hufer, 43–51. Schwalbach/Ts: Wochenschau. Norris, Trevor. 2006. Hannah Arendt and Jean Baudrillard. Pedagogy in the consumer society. Studies in Philosophy and Education 25: 457–477. O’Byrne, Anne. 2005. Pedagogy without a project. Arendt and Derrida on teaching, responsibility and revolution. Studies in Philosophy and Education 24: 389–409. Oeftering, Tonio. 2013. Das Politische als Kern der politischen Bildung? Hannah Arendts Beitrag zur Didaktik des politischen Unterrichts. Schwalbach/Ts: Wochenschau.
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Potêpa, Maciej. 1995. Zum Begriff der „Politischen Bildung“ bei Karl Jaspers, Hannah Arendt und Martin Heidegger. In Philosophie – Erziehung – Universität. Zu Karl Jaspers' Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Hrsg. Kurt Salamun, 93–109. Frankfurt am Main: Peter Lang. Robaszkiewicz, Maria. 2017. Übungen im politischen Denken. Hannah Arendts Schriften als Einlelitung der politischen Praxis. Wiesbaden: Springer VS. Rößler, Sven. 2019. Rationalität, Krise, Gewalt. Prolegomena zu einer Didaktik der Moderne nach Motiven im politischen Denken Hannah Arendts, Bd. 14. Oldenburg: Oldenburger Beiträge zur historisch-politischen Bildung. Strube, Sonja. 2005. Persönlichkeitsbildung im Sinne Hannah Arendts. Hannah Arendts Begriff des Gemeinsinns und die politische Dimension persönlichkeitsorientierter Erwachsenenbildung. Erwachsenenbildung 3: 130–133. Temme, Evelyn. 2014. Politikdidaktische Theorien mit Hannah Arendt weitergedacht. Frankfurt/M: Peter Lang. Torkler, René. 2015. Philosophische Bildung und politische Urteilskraft: Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung. Freiburg/München: Verlag Karl Alber. Veck, Wayne, Gunter, Helen M. 2020. Hannah Arendt on Educational Thinking and Practice in Dark Times. Education for a World in Crisis. New York/London: Bloombury academic.
Inhaltsverzeichnis
Was und wie wir von Hannah Arendt gelernt haben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Elisabeth Young-Bruehl und Jerome Kohn Politische Bildung als Bildung politischer Urteilskraft: Arendts Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange Politische Urteilsbildung – Hannah Arendts Überlegungen als archimedischer Punkt für die Politikdidaktik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Ingo Juchler „Wo das Sprechen aufhört, hört Politik auf“ (Hannah Arendt) – Politische Bildung im Modus des Politischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Tonio Oeftering Zum Begriff des Politischen in der politischen Bildung – Grundelemente deliberativer Politik im Werk von Hannah Arendt. . . . . . . . . . . 73 Bettina Lösch Das Miteinander Sprechen und Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Ingeborg Nordmann Jenseits der akademischen und intellektuellen Welten. Arendts Standort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Wolfgang Heuer
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Neoliberaler Wandel, Autorität, Freiheit und Erziehung. . . . . . . . . . . . . . 125 Helgard Mahrdt from an apparent contradiction in Arendt to a working group method. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Frederick Dewey
Was und wie wir von Hannah Arendt gelernt haben Ein Briefwechsel, Übersetzung von Wolfgang Heuer Elisabeth Young-Bruehl und Jerome Kohn Vorbemerkung Elisabeth Young-Bruehl und Jerome Kohn studierten in den 1960er Jahren bei Hannah Arendt. Elisabeth Young-Bruehl wurde durch ihre Biografie „Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit“, Frankfurt/M. 1986 bekannt, sie veröffentlichte anlässlich des hundertsten Geburtstags Arendts „Why Arendt Matters“, Yale University Press 2006, und als Psychoanalytikerin u. a. die Biografie „Anna Freud: Die Wiener Jahre“, Milena Verlag 1995 und „Subject to Biography: Psychoanalysis, Feminism and Writing Women’s Lives“, Harvard University Press 1999. Jerome Kohn war Arendts Forschungsassistent und veröffentlichte eine Reihe von Arendts Schriften, darunter „Essays in Understanding 1930–1954“, Harcourt, Brace & Co. 1994, die Essaysammlung „Responsibility and Judgement“, Schocken Books 2003 und „The Jewish Writings“, Schocken Books 2007.
Dieser Beitrag erscheint an dieser Stelle erstmals in deutscher Sprache. Er erschien ursprünglich in: Mordechai Gordon (Hg.), Hannah Arendt and Education. Renewing Our Common World, New York: Routledge, 2018, S. 225–256 unter dem Titel: Elisabeth Young-Bruehl/Jerome Kohn, What and How We Learned from Hannah Arendt: An Exchange of Letters. Die Herausgeber*in danken an dieser Stelle sehr herzlich Wolfgang Heuer, der die Übersetzung des Briefwechsels besorgt hat.
E. Young-Bruehl · J. Kohn (*) The New School, New York, USA E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_1
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23.08.1999 Lieber Jerry, ich freue mich, dass Du Professor Gordons Vorschlag aufgreifst, einen Essay für seine Anthologie über Arendt und Erziehung zu schreiben. Und ich freue mich auch, dass Dir die Idee eines Essays in Briefform gefällt, eines Essays per Post, der über eine große Entfernung hin entsteht, aber zugleich von diesem wundersam gesprächsförmigen, schnellen Hin und Her gekennzeichnet ist. Während der dreißig Jahre, die wir uns kennen, waren wir auf Gelegenheiten angewiesen, um uns an einem gemeinsamen Ort zu treffen und über Hannah Arendt und ihre Ideen sowie ihre Art und Weise zu sprechen, in der sie uns unterrichtete. Das umfasst die Zeit, sowohl als wir ihre Studenten waren, als auch nach ihrem Tod, als ich eine Biografie über sie schrieb und Du dann ihre nachgelassenen Schriften veröffentlicht hast, und wir immer wieder ihre Bücher lasen. Dieser Austausch in Briefform ist eine ganz verblüffende Möglichkeit, und ich wäre nicht erstaunt, wenn das auch eine Auswirkung darauf hätte, wie wir miteinander sprechen. Und ich denke, dass diese neue Möglichkeit der Kommunikation auch ein Teil dessen sein sollte, worüber wir sprechen. Aber wir können darauf zurückkommen. Lass mich mit einer konzentrierten Darstellung des Themas beginnen, dem wir uns widmen wollen. Gibt es, so formulierten wir es, eine Art der Bildung, die sich in besonderer Weise für das Verständnis von Politik eignet? Hannah Arendts Essay „Verstehen und Politik“ (Arendt 2000) gibt ihre Ansicht dessen wieder, wie Verstehen und Politik miteinander verbunden sind oder sein können. Wir wollen danach fragen, wie eine Person in „Verstehen“ in dem Sinn unterrichtet werden kann, den Arendt diesem reichhaltigen Wort verlieh. Unser Thema ist die Beziehung – oder sind die Beziehungen – zwischen Bildung und Politik. Aber ich glaube, dass wir direkt zugestehen sollten, dass Hannah Arendt über Bildung, die für sie gewiss nicht dasselbe wie Unterricht oder die Vermittlung von Fertigkeiten war, von zwei grundsätzlich verschiedenen Blickwinkeln aus dachte. Erstens dem der Erziehung von Kindern, und in den entsprechenden Passagen betonte sie immer, dass die menschliche Bedingtheit, die dabei eine maßgebliche Rolle spielt, die Gebürtigkeit sei, die Tatsache, dass Kinder als „neu Beginnende“ geboren werden und dazu geboren sind, die Welt zu verjüngen und zu erneuern. Ihre Erziehung soll sie in dieser wesentlichen Funktion bestärken. Arendt bestand dann darauf, dass Kinder konservativ erzogen werden sollen in dem Sinn, dass sie in die Vergangenheit eingeführt werden, die für sie als ihr Vermächtnis bewahrt wird. Die Erziehung orientiert und erdet die Kinder in der Weise, wie ihre Erziehung sie aus dem Schutz ihres privaten, familiären Lebens in die öffentliche Welt hinausführt. Erzogen zu werden bedeutet, von verantwortungs-
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vollen Erwachsenen geschützt zu werden, die die Autorität haben, das vorübergehende Hineinwachsen des Kindes in die Welt zu formen. Davon unterscheidet sich Erwachsenenbildung völlig. Die menschliche Bedingtheit, die dabei eine entscheidende Rolle spielt, ist die Weltlosigkeit. Erwachsene erziehen sich wechselseitig, in der Welt zu sein, was unter veränderlichen historischen Umständen bedeuten kann, in der Welt zuhause oder von ihr entfremdet zu sein oder eine Mischung von beidem. In der modernen Welt geben sich Erwachsene einander eine geteilte Tradition weiter, nicht auf konservative Art, vielmehr müssen sie eine gemeinsame Welt herstellen. In den Trümmern geteilter Traditionen lesen sie zum Beispiel traditionelle Autoren so, als ob „nobody had read them before.“ (Arendt 2006a, S. 201). Diese Erwachsenenbildung, die jene Erziehung ist, die Erwachsene einander anbieten können, kann eine Vorbereitung für politisches Verstehen sein, sofern es das fördert, was Hannah Arendt, Kant folgend, die „erweiterte Denkungsart“ nannte. Man lernt, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen und die Welt von dort aus zu betrachten – mit eigenen Augen. Dass dies Arendt für den Kern der Bildung von politischem Verstehen hielt, war in dem ersten Seminar offensichtlich, das wir bei ihr damals 1969 besuchten. Es hieß „Politik im Zwanzigsten Jahrhundert“ und beinhaltete eine Lektüre, die uns erlaubte, das Leben eines „repräsentativen Menschen“ von seiner Geburt um 1900 bis zu den 1960er Jahren zu begleiten. Eines Menschen ihrer Generation wie ihr Ehemann Heinrich Blücher, der ein Arbeiter war, Mitglied des Spartakusbunds, Flüchtling und Staatenloser, Kriegskorrespondent und College-Professor. So wie ich dieses Seminar erinnere, konzentrierten wir uns offenbar auf diesen „repräsentativen Menschen“ als exemplarischen Menschen. Er erlebte das Zwanzigste Jahrhundert als ein Jahrhundert von Krisen, und jede dieser Krisen offenbarte ihm eine wesentliche menschliche Bedingtheit in einem neuen Zusammenhang. Alle Essays in Zwischen Vergangenheit und Zukunft gleichen dem: Jeder handelt von einer Krise wie „Die Krise in der Erziehung“ oder „Die Krise in der Kultur“.1 Jeder Essay taucht in eine solche Krise ein und macht Unterscheidungen rechts und links, um zu einer oder mehreren der mensch-
1Hannah Arendt: Between Past and Future, London, a. a. O. Deutsch: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, a. a. O., darin: Die Krise in der Erziehung, S. 255–276; Kultur und Politik, S. 277–304. Young-Bruehl bezieht sich auf die englischsprachige Fassung von Kultur und Politik, die sich stärker von dem deutschsprachigen Text unterscheidet: Crisis in Culture. Its Social and Political Significance, in: Hannah Arendt: Between Past and Future, a. a. O., S. 194–222.
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lichen Bedingtheiten zu gelangen, die Arendt in Vita activa oder Vom tätigen Leben beschrieben hat – Leben, Erde, Welt, Gebürtigkeit, Sterblichkeit und Pluralität – und den Tätigkeiten, die für diese Bedingtheiten wichtig sind wie Handeln, Herstellen und Arbeiten. Sie untersucht dann, wie sich die Bedingtheiten in ihren Beziehungen zueinander verändert haben, was durch die Krise deutlich wird. „Die Krise in der Erziehung“, die sie untersucht, zeigt nicht nur, dass Johnny nicht lesen kann, sondern wie die Erwachsenen ihrer Ansicht nach ihre Verantwortung für die Erziehung von Kindern abgegeben haben, was so viel bedeutet wie die Abgabe der Verantwortung für die Kinder als „neu Beginnende“ und für ihre Gebürtigkeit. Die Krise der Erziehung erweist sich als eine Krise der Gebürtigkeit, und das würde man dann verstehen, wenn man dazu in der Lage wäre, sich an die Stelle eines Kindes unserer Zeit zu versetzen. Die Bildung, die Arendt praktizierte, so möchte ich vorschlagen, sollte uns zeigen, wie man sich eine exemplarische Figur als eine Art von Schnittpunkt vorstellen kann, an dem man grundlegende menschliche Bedingtheiten in Bewegung sieht und die Art und Weise, wie sie sich neu konfigurieren. Ich glaube, Hannah Arendt arbeitete auf diese Weise vom ersten Buch an, das sie schrieb. Darin fungierte Rahel Varnhagen als Beispiel für eine enorme Veränderung in den Beziehungen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum – die Entstehung der Gesellschaft als ein Zwischenraum (Arendt 1981). Sie spielt wieder eine exemplarische Rolle in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Arendt 1986), das ein Buch voller exemplarischer Figuren ist – Disraeli, Proust und Cecil Rhodes –, von denen uns jede den Blick in historische Tiefen hinunter zu den Stellen erlaubt, an denen politische Prozesse brodeln. Viele Sozialwissenschaftler sahen natürlich auf Arendts Methode als eine vermeintlich anekdotische herab. Aber meines Erachtens dachte sie, dass eine gut ausgewählte Anekdote mehr als tausend Statistiken oder Zitate oder Belege wert wäre. Mal sehen, welche Reaktion diese vorläufige Reihe von Bemerkungen bei Dir auslöst, und dann sehen wir weiter, mein Lieber, Elisabeth 11. Juni 2000 Liebe Elisabeth, als Du mir Ende August letzten Jahres geschrieben hast, war ich, wie Du weißt, gerade mit der Gründung des Hannah-Arendt-Zentrums an der New School University beschäftigt. Diese Arbeit war und ist sehr inspirierend, aber sie war auch so fordernd, dass ich meine Antwort verschieben musste. Ein Teil der Aufgaben des
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Zentrums besteht in Ausbildung, und ich dachte, dass unser Briefwechsel dabei helfen könnte, diese Aufgabe zu erhellen. Gleichzeitig bedauere ich auch sehr die Tatsache, dass von allen Autoren und Autorinnen dieses Buchs2 nur Du und ich tatsächlich bei Arendt studiert haben. Diese Erfahrung war für uns beide zweifellos in unterschiedlicher Weise prägend, was meines Erachtens für die Leserinnen und Leser interessant sein könnte. Anschließend hatten wir beide die Gelegenheit, in aller Form mit Arendts Denken zu arbeiten – und in Deinem Fall auch mit der Erzählung ihres Lebens. Aber was mir äußerst wichtig zu sein scheint, ist die Tatsache, dass wir während all der vielen Jahre unserer Freundschaft ständig über sie gesprochen haben. Wir taten das, weil wir es wollten und uns solche Unterhaltungen einen tatsächlichen und seltenen Genuss bereiteten. Dieser Genuss hat etwas mit der Art zu tun, in der Arendt uns unterrichtete, und mit Politik, und ich dachte, dass in unserem Briefwechsel diese „Etwasse“ in dem Maß klar werden könnten, wie sie einen Grad an Klarheit in unserem Gespräch erlangen. Der Versuch, einander das Vergnügen mitzuteilen, bei Arendt studiert zu haben, sie gekannt zu haben und ihr in unserer fortlaufenden Unterhaltung weiterhin gewissermaßen zwischen uns beiden anwesend zu begegnen, scheint mir etwas zu sein, das in diesem Band nicht fehlen sollte. Wir hatten diese Erfahrung gehabt, und wenn eine weitere Rechtfertigung notwendig wäre, könnte man Arendts Überzeugung anführen, dass Denken nicht nur durch Erfahrung entsteht, sondern dass „der Grund der Erfahrung“, wie sie es nannte, das ist, was das Denken davor bewahrt, sich in „alle Arten von Theorien“ aufzulösen. Wahrscheinlich nehmen die meisten Texte in diesem Band (gemeint ist die englischsprachige Ausgabe, d.Ü.) ganz natürlich an, dass Arendt eine Theorie der Erziehung hatte. Daher mein Bedauern. Entschuldige bitte meinen indirekten Zugang zu dieser Angelegenheit, aber Du bist das gewohnt! Ich möchte Dich fragen, ob Du glaubst, dass Arendt irgendeine Theorie hat oder hatte – des Totalitarismus, der Politik, des Handelns, der Revolution, der Gesellschaft oder Kultur oder Erziehung, oder der Autorität oder Religion oder der Geschichte oder der menschlichen Freiheit, oder der unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen der Tätigkeiten des menschlichen Geistes? Diese Phänomene gehören gewiss zu den Themen, die sie beschäftigten, aber formulierte sie irgendetwas, das man als eine „Theorie“ über sie bezeichnen könnte, eine entweder individuelle oder kumulative Theorie? Dass sie diese Themen theoretisch durchdachte, ist offensichtlich, aber der Unterschied zwischen Theoretisieren, „Denken“, und einer Theorie, die man als ihr Ergebnis bezeichnen könnte, scheint mir für sie von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Tatsächlich gehört die Unschärfe dieser Unterscheidung zu den Schibboleths des modernen Denkens, die Arendt zunehmend in Frage stellte, eben weil eine 2Gemeint
ist der Band von Mordechai Gordon, in dem dieser Briefwechsel erschien.
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fein abgestimmte Anerkennung einer gemeinsamen, mitteilbaren Erfahrung, der Erfahrung einer gemeinsamen Welt, in dieser Unschärfe zu verschwinden droht. Um nur ein Beispiel dafür zu nennen, was ich meine, eines von Arendts eigenen Beispielen: Karl Marx löste die alte und ärgerliche Frage der Beziehung zwischen Theorie und Praxis in Begriffen seiner eigenen dialektischen Theorie der Gesetze wirtschaftlicher Entwicklung. Das gelang ihm, so Arendt, auf Kosten der Leugnung der Spontaneität des Handelns in seiner Vorstellung von der menschlichen Praxis. Obwohl Marxens Theorie nicht den Totalitarismus verursachte, war doch ihr ideologischer Gebrauch ein bedeutendes Element in Stalins Entschlossenheit, die menschliche Spontaneität zu zerstören, das heißt die menschliche Freiheit, die der einzigen Garantie einer gemeinsamen Welt ist. Ein Teil von Arendts Versuch, Stalins Verbrechen zu verstehen und aufzudecken, besteht im Theoretisieren der Tätigkeiten des Handelns und Denkens. Aber Arendt weist jeglichen Versuch zurück, das Rätsel der Beziehung zwischen beiden durch ihre Vereinigung in einer von Marx verschiedenen Theorie zu lösen. Es gibt viele Hinweise darauf, dass sie diese Beziehung auf ihre Weise in ihrem Buch über das Urteilen behandeln wollte, das sie aber vor ihrem Tod nicht mehr schreiben konnte. Wie das dann ausgesehen haben könnte, können wir nicht wissen, aber wir wissen, dass für Arendt das Urteilen eine Tätigkeit war, die sich sowohl von Handeln als auch von Denken unterscheidet, und wir können ziemlich sicher sein, dass sie es theoretisiert hätte, ohne es in eine Theorie zu gießen. Es ist die potenzielle Gefahr einer Finalität jeglicher Theorie für die menschliche Freiheit, mag sie mit noch so guten und sogar edlen Absichten einhergehen, die Arendt meiner Ansicht nach beharrlich vermied. Diese letztere Behauptung bedarf einer Erklärung, aber lass mich hier ein anderes von Arendts eigenen Beispielen anführen. Eine kohärente Theorie der Gerechtigkeit zu formulieren könnte als ein lohnendes philosophisches Unternehmen erscheinen, eines mit platonischen Wurzeln, aber auch heute aktuell und selbst im schlimmsten Fall harmlos. Wäre es nicht lohnenswert, die Wahrheit dessen, worüber wir sprechen, zu kennen, wenn wir über Gerechtigkeit reden? Würde uns ein solches Wissen nicht darin unterweisen, wie mit Ungerechtigkeit umzugehen wäre, wenn sie sich ereignet, selbst wenn das wenig zur Verhinderung von Ungerechtigkeit beitragen würde? Aber Arendt schlägt etwas ganz anderes vor. Würden wir wissen, was Gerechtigkeit ist, dann könnten wir theoretisch ein großes Raster schaffen und über alle möglichen menschlichen Handlungen legen, um uns darüber zu informieren, ob sie gerecht sind oder nicht. Eine gewisse Anzahl von Überlegungen wäre immer noch nötig, aber wir bräuchten nicht länger über die Bedeutung von Gerechtigkeit nachzudenken. Sofern uns Philosophen von Plato bis Rawls zu denken veranlassen, gut und schön. Aber wenn
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das Ergebnis eines solchen Denkens als Wissen verstanden und institutionalisiert werden soll, dann wäre das Ergebnis zwar kein Totalitarismus, aber das, was Arendt eine „Tyrannei der Vernunft“ nennt; das wäre ebenfalls eine Leugnung der Freiheit. Muss nicht der Kern der Gerechtigkeit gerecht sein („What I do is me… the just man justices“, wie Gerard Manly Hopkins schrieb3)? Arendt ist überzeugt, dass Gerechtigkeit nicht Wissen ist, sondern vielmehr ein Nachdenken über Gerechtigkeit, das in einem individuellen Akt des Urteilens gipfelt, der Gerechtigkeit in der Welt erscheinen lässt. Für sie ist es das, was Sokrates als der reinste der Denker Andere durch sein eigenes Beispiel lehrte: Seine Diskussionen, nicht nur über Gerechtigkeit, sondern über alle menschliche Vortrefflichkeiten, endeten nicht in Theorien, sondern in Verwirrungen (aporia), sodass er weiter über sie nachdenken musste, wodurch er noch gerechter, mutiger, selbstkontrollierter wurde, kurz, mehr er selbst als zuvor. Ich glaube, dass ein Grund dafür, warum uns Arendt weiterhin fasziniert, der ist, dass sie, wenn es jemals so etwas gab, eine Lehrerin war, die den Geist von Sokrates verkörperte. Wie er vergaß sie nie, dass sie ein menschliches Wesen in einer Pluralität menschlicher Wesen war, die eine gemeinsame Welt miteinander teilen und alle potenziell frei sind, selbst von einem Zwang der Wahrheit. Das machte, um ein altmodisches Wort zu benutzen, ihre „Würde“ aus, und es versteht sich von selbst, dass sie diese selbe Freiheit von Zwang und dem gezwungen Werden und Zwang Ausüben bei ihren Studierenden fördern wollte. An diesem Punkt bin ich versucht, auf die Umstrittenheit von Arendts Denken einzugehen, nicht weil Arendt, wie behauptet wurde, exzentrische Meinungen vertrat und sich zu ihrer Untermauerung entsprechende Beweise zurechtlegte oder sie gar manipulierte, sondern weil sie die Meinungen anderer berücksichtigte und fortfuhr, mit ihnen und mit sich selber zu argumentieren, um sich ihre eigenen, von ihnen verschiedenen Meinungen und Überzeugungen zu bilden. Das war von äußerster Wichtigkeit für sie als politische Denkerin und Lehrerin, die Bedingung sine qua non politischer Verantwortung. Ohne Überzeugung ist politisches Handeln zweck- und bedeutungslos und fördert eine Version dessen, was Kant das „melancholische Ungefähr“ menschlicher Angelegenheiten bezeichnete, in dem sich der Sinn einer gemeinsamen Welt auflöst. Aber ich möchte nicht, dass sich dieser Brief, dessen hauptsächlicher Zweck darin liegt, ein Gefühl des Vergnügens zu vermitteln, den uns das Denken über Arendt geboten hat, zu einem
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dem Gedicht „As Kingfishers Catch Fire“, in: Poems and Prose (Penguin Classics), 1985. Gerard Manly Hopkins, britischer Lyriker, lebte von 1844 bis 1889. – Gedichte, Schriften, Briefe/Hrsg. von Hermann Rinn. – München, 1954.
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kleinen Essay ausweitet. Da wir diesen Briefwechsel fortsetzen, verspreche ich, auf das zu antworten, was Du über die Bedeutung der Wiederherstellung einer gemeinsamen Welt heute geschrieben hast sowie über die Rolle, die eine „erweiterte Denkungsart“ und „Beispielhaftigkeit“ bei dem spielen, was die Tradition, die Weitergabe der Vergangenheit von Generation zu Generation, ganz offensichtlich im Zwanzigsten Jahrhundert zu tun versäumt. Es gibt ganz gewiss mehr über die Erfahrung des Studiums bei Arendt zu sagen, besonders über diese Erfahrung als einen Übergang vom privaten zum öffentlichen Leben, darüber, willens und fähig zu werden, den eigenen Platz in einer gemeinsamen Welt einzunehmen. Ich hoffe, dass unsere Briefe zeigen werden, dass Erwachsene damit fortfahren, voneinander zu lernen, so wie Du und ich es tatsächlich getan haben. Aber es ist vielleicht nicht klug, dies „Erziehung von Erwachsenen“ zu nennen, denn Arendt bemerkt in „Die Krise in der Erziehung“: „In der Politik kann Erziehung keine Rolle spielen (…). Wer erwachsene Menschen erziehen will, will sie in Wahrheit bevormunden und daran hindern, politisch zu handeln.“ (Arendt 2006b, S. 258). Ich habe nur eine kleinere Wortklauberei in Bezug auf das, was Du über unser erstes Seminar geschrieben hast, das wir bei ihr besuchten und das Du „Politik im Zwanzigsten Jahrhundert“ nennst. Ich glaube, es hieß „Politische Erfahrung im Zwanzigsten Jahrhundert“, und das hat einige Bedeutung, weil wir in diesem Seminar, wenn Du Dich erinnerst, Dichtung, Literatur, Erinnerungen und Biografien lasen, aber kein einziges Werk politischer Theorie. Hier stellt sich wieder die Frage, was politische „Erfahrung“ für Arendt bedeutete, eine Frage danach, was sie unter der „underlying phenomenal reality“ von Freiheit und Gerechtigkeit verstand, was in theoretischen Begriffen, die mit einer Wirklichkeit, die den Erscheinungen zugrundeliegt, ein Widerspruch in sich ist. Ich möchte mit der einfachen Bemerkung schließen, dass für mich der vorrangige Nutzen des Studiums bei Arendt in dem bestand, was ich zumindest bislang „das besondere Vergnügen der Besonderheit“ nennen möchte. Glaubst Du, dass wir in diesem Briefwechsel wieder die Qualität unserer Unterhaltungen erreichen können, die für mich so sehr bedeutungsvoll gewesen sind? Herzlich Jerry 27.06.2000 Lieber Jerry, Dein Brief vom 11. Juni hat mich auf eine Reihe von Ideen gebracht, und ich möchte hier ein paar von ihnen ausspinnen. Aber zunächst möchte ich zwei Dinge
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über dieses Briefeschreiben sagen. Das erste ist komisch: Wir beide können ja glauben, dass wir in der Lage sind, unsere Unterhaltung schriftlich fortzusetzen, aber ich möchte doch festhalten, dass unser Treffen anlässlich des Briefeschreibens in der vergangenen Woche Teil des Briefeschreibens ist – ohne die drei oder vier Stunden zu erwähnen, die wir über andere Dinge sprachen, bevor ich aufbrach, um den Zug nach Philadelphia zu kriegen und sagte: „Ich schreibe Dir bald.“ Unsere Freundschaft beruht sehr auf Anwesenheit und Gespräch; wir haben bei unseren Gesprächen immer, das kann man rückblickend sagen, mehrere Hauptthemen oder Hauptfragen, aber die Form ist frei assoziierend und hängt meines Erachtens sehr von unserer Anwesenheit ab. Dieser Brief, wie auch mein erster, ist die Vorform eines Gesprächs. Während wir mit schriftlichen Konversationen experimentieren, sollten wir meines Erachtens auch anerkennen, dass diese Änderung der Form nach einer langen Zeitspanne stattfindet, während der sich das Gespräch aus anderen Gründen veränderte. Ich habe darüber in historischem Rückblick nachgedacht und beobachtet, wie in diesem Verlauf die Bildung aussieht, die unser Gespräch für uns bedeutet hat. Nachdem wir uns in Hannah Arendts letztem Seminar kennengelernt haben, drehte sich unser Gespräch ganz um sie und ihr Werk. Eine Art fortwährender Gedenkfeier, glaube ich, da wir beide uns so sehr verlassen fühlten, als sie starb, ganz ohne unseren Kompass. Ich war so beeindruckt, dass Du das öffentlich ausdrücken konntest, bei der öffentlichen Feier, mit einer solchen Gelassenheit und Würde, weil ich nur im Privaten sprechen und schreiben konnte – bis heute kann ich nicht öffentlich über sie sprechen, ohne mich selber wieder in die tränenreiche und unverarbeitete Trauer zurückversetzt zu fühlen. Dann, als ich die Biografie schrieb, Du erinnerst Dich, sprachen wir oft über verschiedene Perioden und Phasen ihres Lebenswerks und erkundeten diejenigen Teile, die uns unbekannt geblieben waren, als sie noch lebte. Ich erinnere mich an lange Gespräche über ihre Beziehung mit Heidegger, in persönlicher Hinsicht, nachdem mir Hans Jonas von ihrer jugendlichen Affäre erzählt hatte, und in philosophischer Hinsicht; über ihre Doktorarbeit und den hl. Augustinus, und über ihren Briefwechsel mit Jaspers. Das war, als wir uns zum ersten Mal bewusst wurden, dass es einen außergewöhnlichen Fund nicht gesammelter kleiner Publikationen und unveröffentlichter Dinge gab, all jener Dinge, die Du nun veröffentlichst. Eingestreut in den Verlauf jener Gespräche von vie et oeuvre waren jene Unterhaltungen darüber, wie sie dieses oder jenes politische Ereignis über die Jahre hinweg eingeschätzt hätte.
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Von all diesen Gesprächen handelte dasjenige, das am längsten dauerte und uns am meisten herausgefordert hatte, drei oder vier Jahre lang Anfang der 1980er Jahre, von dem „was wäre geschehen“ mit dem unbeendeten Manuskript über das Urteilen, das Mary McCarthy dann veröffentlichte.4 Den Text, den ich über Vom Leben des Geistes schrieb (Young-Bruehl 1982), hatte ich in den frühen Phasen dieser Unterhaltung geschrieben, und dann fanden wir beide diesen Zugang zu schematisch und zu systematisch. Ich hatte immer mehr von einem Theoretiker als Du, oder, anders herum, Du warst immer sokratischer, als ich es bin. Daher fällt es Dir schwer zu schreiben, mit einer Formulierung zufrieden zu sein, während es mir schwerfällt, dem Ordnungmachen und dem Zurechtstutzen von komplexen Handlungsfäden und Denkwegen zu widerstehen. Wir stoßen auf diesen Unterschied zwischen uns unmittelbar bei diesem Briefeschreiben und auch auf dem Gebiet des Urteilens. Du hattest Schwierigkeiten, auf meinen Eröffnungsbrief zu antworten, weil er zu sehr ausformuliert war. Es kam Dir so vor, als ob ich dabei wäre, Hannah Arendts Theorie der Erziehung zu umreißen, und dass ich mit ihrer Methode der Verfertigung von Theorien beschäftigt wäre. Tatsächlich aber stimme ich völlig mit Dir überein, dass sie keinerlei Theorie der Erziehung hatte und eigentlich keine Theorie von irgendetwas aufstellte. Es gibt keine Arendtsche Theorie oder irgendeinen Arendtismus. Aber sie hatte charakteristische Weisen zu denken, wozu Begriffe oder Unterscheidungen gehörten, die sie geklärt hatte, und historische oder existenzielle Elemente, die sie für grundlegend hielt. Und sie hatte charakteristische Weisen zu urteilen. Sie ermöglichen es sich vorzustellen, was sie über etwas gedacht oder wie sie etwas beurteilt haben mochte – jene Art des sich Vorstellens, das wir ausführlich in Bezug auf den unvollendeten Band Urteilen anstellten. Es war charakteristisch für ihre Denkweisen, dass sie Theorien verachtete und kein Interesse an dem deduzierenden Urteil der Wissenschaft hatte. Ich habe oft gefühlt, dass der Unterschied zwischen unseren Arten zu denken, dafür entscheidend ist, inwiefern unser Gespräch für uns bildend war. Ich erinnere mich nicht, dass wir jemals – in zweiunddreißig Jahren! – in einem Gespräch über Hannah Arendt oder ihr Werk in einer Nichtübereinstimmung geendet wären,
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war als dritter Teil von The Life of the Mind geplant. Da Arendt dazu nichts Schriftliches hinterlassen hatte, veröffentlichte Ronald Beiner Arendts Lectures on Kant's Political Philosophy, Chicago 1982, dt. Das Urteilen, München 1985. Mary McCarthy gab posthum The Life of the Mind mit den beiden ersten Teilen Thinking und Willing heraus, New York 1978,dt. Vom Leben des Geistes, 2 Bde, Das Denken und Das Wollen, München 1979.
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auch wenn wir oft (wie bei Deiner Reaktion auf meinen Brief) unseren Weg sorgfältig durch die Unterschiede hindurch erarbeiten mussten, hervorgerufen durch unsere Unterschiede, bis ein gemeinsames Verstehen entstand. Andererseits aber wandelte sich unser Gespräch nach 1985, als ich zunächst zu einer psychoanalytischen Ausbildung nach New Haven ging und an meiner Biografie über Anna Freud arbeitete. Es ist fast so, als ob wir ein Dreigespann geworden wären: Du, das Ich der alten Tage und das Ich dieser neuen Art des Denkens, mit dem Du Dich nicht sehr wohl gefühlt hast. Dieses neue Ich sprach eine andere Sprache und zudem eine Sprache, der, wie wir beide wissen, Hannah Arendt mit äußerstem Misstrauen begegnete. Ich habe mich jedoch nie fremd mir gegenüber oder innerlich gespalten gefühlt. Was mich betrifft, so unterschieden sich die Ansichten, denen wir bei Hannah Arendt begegneten, die Hannah Arendt charakterisierten und die jeder von uns auf eigene Weise in seine Auffassungen übernahm, nicht so sehr von denen jener Psychoanalytiker, von denen ich am meisten gelernt habe, angefangen mit Freud. Aber es hat ziemlich lange gedauert, bis mein innerer Dialog zu einem vertrauten Bestandteil unserem Gespräch wurde. Eines der Dinge, die Arendt und Freud zutiefst miteinander teilten – und das möchte ich direkt zu Deinem „besonderen Vergnügen der Besonderheit“ anmerken – war ihre Haltung gegenüber Theorie, angefangen in ihrer Jugend. Freud musste seine Neigung des Theoretisierens und Spekulierens überwinden, was ihm nicht völlig, aber in einem seltenen Ausmaß gelang. Er war sehr stolz darauf zu erzählen, wie, als er Ende zwanzig war und die Klinik Charcots besuchte, und andere junge Besucher aus dem Ausland, alle ganz in deutscher akademischer Physiologie ausgebildet, Charcot mehrfach zu seiner klinischen Arbeit befragten, weil sie den Theorien widersprach, die sie für selbstverständlich hielten. Charcot war nicht beunruhigt und gab einen Aphorismus zum besten, der Freud verblüffte: La téorie c’est bonne mais cela n’empeche pas d’exister – Theorie ist gut, ändert aber nichts daran, dass es diese Dinge gibt. Wie Freud scharfsinnig notierte, bestand Charcot eben nicht darauf, dass klinische Fakten Vorrang hätten und Theorie (oder eine Korrektur der Theorie) ihnen folgen würden, auch wenn er das glaubte und ein Meister in klinischen Beschreibungen und der Sammlung von Fakten war. Er war ein Phänomenologe im besten Sinne des Wortes. Aber Charcot hatte viel radikaler gesagt, dass es etwas gäbe, das von der Theorie nicht bestritten werden könne. Das, was existiert, wird wie ein Geheimnis herauskommen, mithilfe von anderen Mitteln als denen der Theorie – durch Beobachtung, Intuition, umfassende Erfahrung und Empfänglichkeit. (Und ich würde hinzufügen, durch menschliche Sorge um das, was existiert.) Das ist es, was Arendt auch glaubte, und sie war eine glänzende Beobachterin, wobei sie die Besonderheiten genoss.
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Hannah Arendt verfasste nie eine Studie über Freud, so konnte sie über ihn und die Psychoanalyse in charmanter Unwissenheit sprechen – manchmal in trauriger Unwissenheit, wie mir schien, da sie ziemlich Angst vor Geisteskrankheit hatte. Das verwundert nicht bei jemandem, deren Vater an paretischer Syphilis starb, als sie ein Kind war, das heißt, der ziemlich geistesgestört starb. Aber ihr Misstrauen war auch Teil ihrer höchst charakteristischen Meinung über den Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum, einen Unterschied, der, auch wenn er keine Theorie darstellt, sicherlich eine zentrale Unterscheidung ist. Arendt war, wie wir am vergangenen Wochenende sagten, als wir uns in New York trafen, eine in sexueller Hinsicht Konservative in einem ganz spezifischen Sinn: nicht moralisch konservativ, nicht puritanisch, sondern konservativ in ihrer Ansicht, dass sexuelle Dinge vollständig in den privaten Raum gehören. Sie führte meines Erachtens, und darin stimmen wir sicherlich überein, in tiefster Überzeugung gegen die Psychoanalyse ins Feld, dass sich Leute, die sie praktizieren oder ihr ergeben sind, um ihr eigenes Wohlergehen in einer Weise sorgen, bei der sie ihren Sinn für öffentliche Dinge verlieren, und dass, noch schlimmer, Psychoanalytiker es für selbstverständlich halten, dass die Diskussion über private Dinge wie Sexualität oder Fantasien in der Öffentlichkeit eine gute, eine befreiende Sache ist. Arendt glaubte ganz das Gegenteil, dass das Private öffentlich zu machen das Private als einen Platz und eine Form der Zuflucht, der Wiederherstellung und der Erholung zerstört. Das vergrößert den schrecklichen Raum, den sie „das Gesellschaftliche“ nannte und den sie den Erdball wie ein Unkraut überwuchern sah. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass, wäre ich in einem totalitären Staat aufgewachsen, in dem die Privatheit verschwunden war, in dem es keinen Zentimeter breit mehr Schutz vor, nicht „dem Staat“, sondern „der Bewegung“ gab, dem Antistaat (oder Antipolitischen, Antiöffentlichen), und den antiprivaten Kräften des „alles ist möglich“, dann hätte ich vielleicht mehr Sympathien für die Art und Weise, wie Hannah Arendt ihre Unterscheidung traf. Aber ich halte dies für den beunruhigendsten Zug in ihrem Werk. Es ist wie ein Verteidigungsmechanismus, der einen großen Wert hat, außer wenn er aufhört, ein Verteidigungsmechanismus zu sein und zu einem Angriffsmechanismus wird. Vielleicht ist es zu nahe dran, eine Theorie oder der Bestandteil einer Ideologie zu sein, ein Arendtismus. Nun, ich könnte fortfahren, aber lass mich hier anhalten und es Dir schicken. Mehr würde zu viel sein, wie wenn wir vergessen hätten, uns von einem Gespräch zu erheben und einen Spaziergang zu machen, etwas zu trinken oder an ein Abendessen zu denken Herzlich Elisabeth
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7. Juli 2000 Liebe Elisabeth, Dein schöner Brief vom 27. Juni wirft eine Reihe von Themen auf, die ich beantworten, sowie einige Fragen, die ich stellen möchte. Eines der Dinge, die er sehr klar macht, ist die Unterscheidung zwischen Gespräch und Briefeschreiben. Als ich Deinen Brief las, wollte ich innehalten und Dir etwas sagen, um hier und da eine Meinung einzuwerfen oder eine Frage zu stellen. Aber wie Du sagst, hängt das von der Anwesenheit des Anderen ab. Unser Bemühen, uns bei unserem Schreiben unserer fortgesetzten Konversation anzunähern, wird zwangsläufig weniger unmittelbar und reflektierter sein, wobei wir den Anderen zwar in der Vorstellung vergegenwärtigen und mit ihm zusammen denken, dabei aber einem Gedankengang folgen ohne das Geben und Nehmen eines tatsächlichen Sprechens. Das wirft auch ein Licht auf das, was Arendt meinte, wenn sie von dem Denken als einem „inneren Dialog“ sprach, und was sie so richtig über Aristoteles' Definition des wahren Freundes als einem „anderen Selbst“ herausfand, einem „Gewissen“, wie wir heute so oder ähnlich sagen. Wegen des Feiertags kam Dein Brief erst nach dem 4. Juli an. Im Fernsehen wurden einige prächtige Bilder von Großseglern (Nachbauten alter Schiffe) im New Yorker Hafen gezeigt, aber jedes Bild wurde nur knapp eine Sekunde lang gezeigt, worauf ein endloser Kommentar folgte, der dann durch „Dach“-Verlautbarungen des Präsidenten zusammengefasst wurde, alles erbärmlich unpassend und gehaltlos, wenn man es mit den Fotos selber vergleicht. Heutzutage ermangeln Reden nicht nur der Tiefe, für die es in der Geschichte selten großen Bedarf gab, sondern auch der Schärfe und selbst der Aussagekraft. Öffentlich erklärte Überzeugungen wechseln so schnell, dass sie kaum „Überzeugungen“ genannt werden können, und ein öffentlicher Raum, der alles außer frei von Überzeugung ist, lässt mich an Yeat’s Zeilen in „Das zweite Kommen“ erinnern: Die Besten zweifeln bloß, derweil das Pack voll leidenschaftlichem Erleben ist (Yeats 2005).5 Andererseits war es das Zwanzigste Jahrhundert, jetzt Vergangenheit, über das man sagen könnte: „Die Flut, bluttrüb, ist los“, „ertränkt der Unschuld feierlicher Brauch“, wie Yeats in demselben Gedicht schrieb. Ich vermute, wir sollten dankbar sein, dass heutzutage selbst bei „dem Pack“ die „Leidenschaft“ des öffentlichen Diskurses weitgehend vorgetäuscht ist. Nichtsdestoweniger
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irische Dichter Yeats lebte von 1865 bis 1939.
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ist die gegenwärtige Apathie der Leute gegenüber dem, was sie gemeinsam betrifft, beunruhigend, und ich frage mich, ob Bildung dagegen helfen kann, oder in welchem Maße sie es kann. Immer aufwendigere, eigentlich demokratische Spektakel werden veranstaltet, aber für Augen, die aufgehört haben, Verbindungen zum Gehirn zu sein. Sie scheinen mit einer Warnung daher zu kommen: „Denk nicht darüber nach!“ Und außer auf einer strikt privaten, kritischen Ebene tun wir es auch nicht. Es geht nicht darum, dass Spektakel als Beruhigungspille zur Zerstreuung einer ohnehin schon fügsamen Massengesellschaft benötigt werden, sondern dass sie vielmehr selbst von dem Standpunkt ihrer Produzenten aus nichts als Unterhaltung zu sein scheinen, die jeglicher gemeinsamer Bedeutung überhaupt entbehren. Ich weiß, dass die Bildung, die wir von Arendt erhalten haben, diesem Gedankengang auf die Sprünge verholfen hat, und ich würde gern glauben, dass er noch andere aufwecken könnte. Der Aphorimus von Charcot, den Du zitiert hast, „Theorie ist gut, ändert aber nichts daran, dass es diese Dinge gibt“, schwingt in mehr als einer Weise nach. Ich zweifle nicht, dass der Prozess der Psychoanalyse, vielleicht besonders mit Deinem eigenen ausdrücklich erwähnten Beitrag der „Sorge“, die Du der Beobachtung und Intuition hinzufügst, etwas hervorbringen kann, das in Individuen verborgen oder unterdrückt ist, die diesen Prozess durchmachen, und dass diese befreiende Wirkung irgendwie diese Individuen an die Welt anpasst und es ihnen ermöglicht, ein befriedigenderes Leben zu führen. Vielleicht ist private „Anpassung“ nicht genau das, was Arendt im Sinn hatte, als sie von der öffentlichen „Orientierung“ an der Welt meinte, aber ich vermute auch nicht, dass sie einen derartigen Zweifel hatte, wie viel auch immer sie gegen die „Sprache“ der Psychoanalyse geschimpft haben mag. Als wir ihre Studenten waren, glaube ich, da fühlten wir, dass Arendt die Bedingungen einer anständigen Welt sowohl verkörperte als auch entzifferte, und später wunderten wir uns, warum so viele Menschen widerständig waren; sie schienen eine solche Welt tatsächlich nicht zu wollen. Die erste Frage, die ich Dir stellen möchte, lautet: Hat das irgendetwas mit Deinem Interesse an Psychoanalyse zu tun? Du hast völlig recht, dass ich mich bei dem psychoanalytische Denken nicht „wohl fühle“ (ich bin sicher, dass Du eine psychologische Erklärung dafür hast!), und das in zunehmendem Maß, vielleicht besonders deshalb, weil ich seit Deinem letzten Brief spüre, dass die Psychoanalyse für Dich eine Form des Handelns sein kann, besonders in Amerika, das, um es milde zu formulieren, von fast allen Formen des politischen Handelns desillusioniert zu sein scheint. Aber was die „Sprache“ der Psychoanalyse betrifft, so würde ich einen im Vergleich zu Dir etwas anderen Nachdruck auf Arendts Gründe richten, sexuelle Angelegenheiten und den ganzen Raum der Intimität als ungeeignet für ein Erscheinen in der Öffentlichkeit zu halten. Das
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heißt, ich glaube, dass ihr Beharren auf den Schutz der Privatheit als einen Raum menschlicher Existenz weiteres Hinterfragen rechtfertigen kann. Ohne diesen Schutz der Privatheit wäre diese Existenz und damit deren Beziehung zu Bildung und Erziehung nicht menschlich, und damit stimmst Du ja überein. Wie kann Privatheit geschützt werden? Zunächst für Arendt durch die Institution des Privateigentums, aber die letzten drei Jahrhunderte haben ein Zeitalter der zunehmenden Enteignung hevorgebracht. Wenn unsere Körper unser letztes unverletzliches „Eigentum“ sind, wo zieht man dann die Grenze? Arendt war eine Frau und froh, als solche zu erscheinen, nicht aber als Feministin. Das unterscheidet sich sehr davon, ausdrücklich als Jüdin zu reagieren, wenn man als Jüdin angegriffen wird, was Arendt natürlich auch tat, aber beides wurde miteinander vermengt. Ihr Standpunkt war, glaube ich, dass öffentlich jeder von uns als einzigartige und gleichberechtigte freie Person erscheint, ob Mann oder Frau, reich oder arm, Jude oder Goy, schwul oder heterosexuell, schwarz oder weiß, niemals aber als Exemplar von Geschlecht, Klasse, Religion, sexueller Orientierung, oder, vielleicht am provozierendsten, weil am sichtbarsten, von Rasse. Politik leugnet nicht, sondern transzendiert das, was jeder von uns im Privaten ist. Mit anderen Worten, das Private und das Öffentliche sind verschiedene, aber voneinander abhängige Bereiche der menschlichen Pluralität, und das ist eine häufig übersehene Bedeutung, in der Pluralität die wesentliche Bedingung eines politischen Lebens ist, wie es sich Arendt vorstellte. So wie Du am Ende Deines Briefes vorschlägst, dass Interdependenz genau das ist, was der Totalitarismus zerstört hat, indem er beide Räume vernichtete. Wenn sich nun in einem starken Maß Weltentfremdung, das Gegenteil von Zugehörigkeit zu einer gemeinsam bewohnten Welt, von dem privaten Anderssein aus verbreitet, und wenn Politik dort anfängt, wo Weltentfremdung endet, was kann da Bildung und Erziehung als ein vermittelnder Prozess tun, um eine Einführung in die Welt zu bieten? Das ist meine zweite Frage. Aber um zu Charcots Epigramm zurückzukehren: In politischer Hinsicht zeigen die menschlichen Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts, dass Theorie im Gewand von Ideologie tout court die Existenz von zahllosen Männern, Frauen und Kindern auslöschen kann und es auch tat. Diese Gefahr als eine Gefährdung der ganzen Welt ist heute geringer. Aber die wachsende Zahl von Entwurzelten, Obdachlosen und Staatenlosen in der ganzen Welt, auf die die Nazi-Ideologie der von Natur aus minderwertigen Rassen und die stalinistische Ideologie der historisch vorherbestimmten absterbenden Klassen „Antworten“ lieferten, ist heute ein politisches Problem erster Ordnung. Würdest Du zustimmen, dass sich das psychoanalytische Verfahren nicht dazu eignet, dieses Problem zu lösen, nicht nur, weil es um eine große Anzahl von Menschen
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geht, sondern auch, weil es bei Politik, in Arendts Sinn, zuerst und vor allem um die Sorge nicht um Menschen, sondern um die Welt geht? Das ist für sie eine wichtige Unterscheidung: Das Scheitern der Französischen Revolution als ein eher gesellschaftliches als politisches Phänomen beruhte eben in ihrer „Sorge“ um die Malheureux, die keine öffentliche Stimme hatten und sich schließlich in Enragés verwandelten, die wütend auf die Welt waren und damit nicht ihr Elend milderten, sondern im Gegenteil verstärkten. Das ist eine politische Betrachtung und ein wiederkehrendes Thema in Arendts gesamter Arbeit. Natürlich mindert das nicht die individuellen Leistungen der Psychoanalyse. Aber auf der anderen Seite, wie genau schuf Arendt als Lehrerin die Grundlagen für eine politische Lösung des Problems der „überflüssigen“ Völker? Ihre grundlegende Lehre, der Ursprung alles dessen, was folgte (darin stimmen wir, glaube ich, überein), war das noch nie dagewesene Ereignis des Totalitarismus. Es gelang dessen wesentlichem Phänomen, den „Laboratorien“ der Sklavenarbeit und den Vernichtungslagern, selbst freie menschliche Wesen durch ihre Herabsetzung auf den Zustand abgerichteter Tiere überflüssig zu machen. Wären die totalitären Bewegungen nicht aufgehalten worden, hätte ihre Dynamik unabsehbare Teile der Welt verwüstet. Das ist ein riesiges Thema, und es ist hier nicht nötig, gerade Dir gegenüber weiter in die Einzelheiten zu gehen. Was ich hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass Arendt ihren Studierenden klar machen wollte (und das war das Motiv all ihrer Seminare, ob „Philosophie und Politik“ oder „Antikes politisches Denken“, „Modernes politisches Denken“, „Kants Kritik der Urteilskraft“, usw.), dass sich der Totalitarismus im Herzen der westlichen Zivilisation ereignete, dass er nicht von außen importiert worden war, „nicht vom Mond“, wie sie zu sagen pflegte, oder von sonst wo. Vor allem wollte sie, dass ihre Studierenden verstanden, dass das Ereignis des Totalitarismus im Zwanzigsten Jahrhundert die Kategorien des traditionellen politischen Denkens sprengte, einer Tradition, die mit Plato begann, der bei dem Versuch, mit der Krise der Athenischen Politik nach dem Peloponnesischen Krieg klarzukommen, die Kategorie des „Herstellens“ einführte, des Baus eines politischen Gemeinwesens entsprechend einem vorgefassten Plan. Freies Handeln, die Macht, die durch eine Pluralität handelnder menschlicher Wesen entsteht, die „in Übereinstimmung“ und aus Überzeugung handeln und deren Quelle nicht in irgendeiner Theorie liegt, sondern in der vortheoretischen politischen Erfahrung, wurde dementsprechend auf verhängnisvolle Weise aus dem politischen Denken verdrängt. Alte Kategorien sind per definitionem nicht dazu ausgerüstet und können es auch niemals sein, mit etwas völlig Neuem umzugehen, das gewissermaßen in der Geschichte des politischen Denkens reflektiert wird. Hobbes', Lockes und Rousseaus Variationen der Kategorie des „Naturzustands“ zum Beispiel oder die Veränderungen, die
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Marx an der Hegelschen Kategorie der „Weltgeschichte“ vornahm, belegen echte politische Veränderungen, die in ihrer jeweiligen Welt stattfanden. Aber noch etwas viel Radikaleres war für Arendt infrage gestellt: Es gab keine Möglichkeit mehr, traditionelle Kategorien neu zu definieren, als ob sie es mit einem Notstand zu tun gehabt und gleichzeitig versucht hätte, auf modifizierte Weise die traditionelle Struktur des politischen Denkens beizubehalten. Es war aber im Gegenteil das Aufkommen des Totalitarismus, der Arendt auf das freie Handeln als Quelle der politischen Erfahrung zurückverwies; denn auch wenn es dem Totalitarismus nicht gelang, die Welt zu vernichten, so machte er doch klar, dass unsere gesamte Tradition, nicht nur die politische, sondern auch die moralische und rechtliche und die religiöse und die Tradition der Autorität allgemein zu einem Ende gekommen war. Es mag ein mattes Echo auf diese Einsicht im postmodernen Denken geben, aber für Arendt war dies keine akademische, sondern eine faktische Angelegenheit, eine Angelegenheit, wie sie sagte, „der Geschichte unserer Welt“. Als sich Arendt später auf den Augenblick im Jahr 1943 besann, in dem sie zum ersten Mal von Auschwitz hörte, sagte sie: „Das hätte nicht geschehen dürfen.“ Das ist kein rein moralisches „dürfen“, sondern vielmehr eine größtmögliche Feststellung, dass etwas mit der Welt nicht in Ordnung war, in der sich Auschwitz ereignen konnte und ereignete. Und dennoch, und da werden die Dinge ein bisschen kompliziert, sucht Arendts Versuch, den Totalitarismus zu verstehen, Versöhnung, natürlich nicht mit den totalitären Verbrechen, aber mit der Welt, in der sie geschahen. Sie behandelte dieses Thema, indem sie ihren Studierenden eine eigenartige und schreckliche Geschichte erzählte, deren Bedeutung ganz in der Gegenwart liegt, und sie war sich vollkommen bewusst, dass ihre „Methode“, eine Sache, die sie nie gern diskutierte, gegen den Strich nicht nur der Politik- und Gesellschaftswissenschaftler ging, sondern auch (und das war ihr viel wichtiger) jener Journalisten, Historiker und Dichter, die auf ihre eigene, bestimmte Weise dasjenige für ihre Zeit oder auch darüberhinaus zu bewahren versuchen, was sie aufzeichnen und sich vorstellen. Schon bevor sie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schrieb, sprach sie von dem verzweifelten Bedürfnis, die „tatsächliche Geschichte der von den Nazis errichteten Hölle“ aufzuschreiben: „Not only because these facts have changed and poisoned the very air we breathe, not only because they now inhabit our dreams at night and permeate our thoughts during the day – but also because they have become the basic experience and the basic misery of our times. Only from this foundation, on which a new knowledge of man will rest, can our new insights, our new memories, our new deeds, take their point of departure.“ (Arendt 1994, S. 199) Ich glaube, das sagt alles, was über das Versöhntwerden gesagt werden kann, nicht mit dem Totalitarismus, sondern mit der Welt, die ihn hervorbrachte,
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einer Welt, die von menschlichen Wesen gemacht wurde und nur menschliche Wesen ändern können. Aber dabei geht es um weit mehr als unseren Sieg im Zweiten Weltkrieg. Und das bringt mich zu meiner letzten Frage, denn das hier ist nun ziemlich lang geworden, auch wenn es scheint, als hätte es gerade erst begonnen. Arendt fing aufs Neue an, Unterscheidungen mit dem traditionsreichen distinguo zu treffen, das seit Aristoteles das Gütezeichen vieler großer Denker ist, die das zu verstehen unternahmen, was vorher nicht verstanden wurde. A ist nicht B, Totalitarismus ist nicht Tyrannei, Kraft nicht Macht, Handeln nicht Herstellen, Herstellen nicht Arbeiten, das Private nicht öffentlich, das Gesellschaftliche weder privat noch öffentlich; Denken ist nicht Wollen, Wollen ist nicht Urteilen, Sympathie ist nicht Mitleid, und Mitleid ist nicht Empathie („Ich“ bin nicht „Du“). Diese und viele andere ihrer Unterscheidungen waren, obzwar für sie offensichtlich, für andere schwer zu verstehen, einschließlich natürlich der meisten ihrer Studierenden, die an eine Denkweise gewohnt sind, die zur Verwischung von Unterschieden neigt, besonders der ungewöhnlichen. Ich bin überzeugt, dass Arendt wollte, dass ihr Unterricht praktisch sein sollte. War er das? Herzlich Jerry 22. Juli 2000 Lieber Jerry, Dein Brief vom 7. Juli kam mit derselben Post an wie die Schweizer Zeitschrift DU, in der über Arendts Platz im amerikanischen intellektuellen Leben berichtet wird, worüber wir das letzten Mal bei unserem Treffen in New York sprachen. Da gibt es folgenden Absatz: „In The Origins of Totalitarianism hat Arendt erstmals ihren wichtigsten Gedanken klar und deutlich ausgesprochen – wie ein Alarmsignal, eine Warnung vor dem Unheil. Sie behauptete, dass die Politik – das Sprechen und Handeln von Bürgern in einem öffentlichen, in verschiedenster Weise durch unterschiedliche Staatsformen und Rechtseinrichtungen gesicherten Raum – nur unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen erscheint und auch wieder verschwinden kann. Mehr noch, es könne eine Staatsform entstehen, deren noch nie dagewesene und verdeckt-widersprüchliche Folge sei, dass sie die Politik vollständig zum Verschwinden bringe. Der Totalitarismus, ein Novum – weder Tyrannei noch Parteidiktatur -, bedeutet die radikale Ausmerzung der Politik, und zwar dadurch, dass zunächst ausgewählte und schließlich beliebige Gruppen ihres Menschseins beraubt werden, dass Menschen als menschliche Wesen überflüssig gemacht werden.“ (Young-Bruehl 2000, S. 22).
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Das war, wie Du so richtig sagtest, der Kern ihres Unterrichts. Das sollten ihre Studierenden begreifen. Und sie wollte aufzeigen, welche Folge für das Denken nicht nur die Tatsache hatte, dass die europäische intellektuelle Tradition keine Begriffe für dieses Novum hatte, sondern dass auch die Tradition an ihm beteiligt war, denn es entwickelte sich auf dem Boden der Tradition. Die Folge für das Denken besteht darin, dass die Tradition geendet hat und jedes neue Denken ohne sie voranschreiten muss. Es muss vorwärts gehen erstens, indem es historisch zurückblickt, um zu verstehen, wie die Begriffe der Tradition so nutzlos für unsere Welt wurden und die Tradition selber in die Horrorereignisse verwickelt wurde. Daher beginnt jeder einzelne ihrer Essays und Bücher mit einem geschichtlichen Gang zugunsten des neuen Denkens – daher all ihr Unterscheiden, das wir immer wieder angemerkt haben, ihre erzieherische Praxis. Ich glaube, dass die Aufmerksamkeit, die sie den geschichtlichen Vorbereitungen widmete, mich als ihre Studentin mehr als alles andere beeindruckte; und eben hier spürte ich – um die letzte Frage in Deinem Brief aufzugreifen –, dass sie wirklich glaubte, praktisch zu sein. Sie war wie eine Ausgrabende, die das Terrain reinigte und dafür vorbereitete, das Denken von den üblichen Pfaden, Gewohnheiten, der Regelgebundenheit und Nutzlosigkeit zu befreien. Und zweitens muss neues Denken voranschreiten, indem es sich vorstellt und zugleich auch darum bemüht, in dem zu leben, was Du ganz richtig „eine anständige Welt“ nennst. Nicht in einer Utopie, nicht in einem ideologischen Schloss, einer Heldenarena, einer moralischen Sprechweise, sondern in einer anständigen Welt. In Hannah Arendts Worten bedeutete das, glaube ich, eine Welt, in der Totalitarismus nicht möglich ist, in der sich die Elemente des Totalitarismus, die in allen modernen Massengesellschaften vorhanden sind, nie herauskristallisieren können. In ihrem Vorwort zur ersten englischsprachigen Ausgabe von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft stellte sie in dramatischer Weise Totalitarismus und Freiheit einander gegenüber, wobei sie die Rhetorik von der „freien Welt“ der 1950er Jahre und noch lange später benutzte; aber sie meinte eigentlich mit „eine freie Welt“ das, was Du mit den Worten „eine anständige Welt“ umrissen hast. Warum sollte jemand keine anständige Welt wollen? Diese Frage treibt jede oder jeden an, die oder der als Psychoanalytikerin oder Psychoanalytiker arbeitet, wie Du vermutest hast. Worauf wir uns während des Studiums spezialisieren, ist die Unfähigkeit von Menschen, eine anständige Welt zu wollen und auf ihr zu bestehen und für sie körperlich oder geistig zu arbeiten. Das ist die politische Folgewirkung ihrer Unfähigkeit, Liebe und Arbeit zu wollen, die befriedigend und wachstumsfördernd sind. Warum wollen sie nicht das, was in ihrem besten Interesse und dem aller liegt? Wenn die Frage anders herum gestellt wird, ist sie
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noch schrecklicher: Warum wollen Menschen eine unanständige Welt? – Zum Beispiel eine, in der sie Viehwaggon-Ladungen voller Menschen zu deren Tod in einem Lager dirigieren können?… Die Sache wird ganz deutlich, wenn man das (völlig naive) christliche Gebot „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ betrachtet und dann fragt: Was ist mit Leuten, die sich selbst nicht lieben? Wie können sie dann ihren Nächsten lieben?… Ich glaube, dass Hannah Arendt einen großen Schritt unternahm, als sie im letzten Kapitel der englischsprachigen Ausgabe ihres Buches Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft ihre zuerst formulierte Auffassung verwarf, dass das Böse radikal sei, und begann, über die „Banalität des Bösen“ nachzudenken, etwas, das weder Menschen teuflisch angeboren noch etwas Psychopathologisches im psychiatrischen Sinn ist, sondern etwas Banales, Nichtradikales in den Menschen. Sie formulierte das als eine Herausforderung, um darüber nachzudenken, und das ist natürlich ein Grund dafür, warum es so bedauerlich ist, nicht ihre eigenen Überlegungen über das unvollendete Urteilen zu kennen. Das Sprechen in der psychoanalytischen Sprache veranlasst mich, auf einen anderen Teil Deines Briefs zu antworten – und damit auf das Thema der Erziehung zurückzukommen. Du hast vorgeschlagen, dass die Art und Weise, in der ich Psychoanalyse praktiziere, eine Art von Handeln in der heutigen Welt sein könnte, einer Welt, die, „um es milde zu formulieren, von fast allen Formen des politischen Handelns desillusioniert zu sein scheint“ (Desillusionierung hinsichtlich des Handelns, dass Gott sei Dank nicht dasselbe wie eine alles umschlingende Herrschaftsform ist, die Handeln unmöglich macht und einen selbst der bloßen Überlegung enthebt, es selber in Betracht zu ziehen oder dass es andere tun.). Ja, und Psychoanalyse ist eine Praxis (oder kann sie sein), die sich eben mit Desillusionierung befasst, was eine andere Art der Beschreibung von Selbsthass oder Mangel an Selbstliebe ist. Aber ich halte meine Praxis eher für eine Form der Erziehung, und ich denke über mich als eine Erzieherin, die einen Seminarraum verlassen und ein Behandlungszimmer betreten hat. Natürlich würden die meisten Psychoanalytiker, wenn sie das hören, meinen klinischen Qualifikationen misstrauen und annehmen, dass ich nicht die grundlegende Lektion gelernt hätte, dass Psychoanalyse nicht als, wie sie sagen, „didaktische“ Praxis verstanden werden kann. Man erzieht seine Patienten nicht. Aber dieser Einwurf spiegelt gewöhnlich einen sehr engen Begriff von Erziehung als eine Vermittlung von Information (wissenschaftliche Ausbildung) oder von Geboten und Verboten (Moralerziehung) wider. Wenn ich Psychoanalyse als erzieherisch verstehe, denke ich an die Beziehung zwischen Analytiker und Patient in Begriffen der Wortbedeutung von „education“. Das heißt, ich denke so, wie es Arendt mich gelehrt hat, indem ich in die Wörter blicke, „die Begriffe auftaue“,
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so wie sie es tat. E-ducare bedeutet herausführen. Ich führe meine Patienten heraus (und sie führen mich heraus). Aber da ich immer nach dem ersten Schritt ins Lateinische ins Stolpern gerate, weil ich keine dieser wunderbaren formalen Ausbildungen an einem Gymnasium genossen habe, gehe ich zum Griechischen über, das ich so vergnüglich mit Hannah Arendt teilen konnte, um über „Erziehung“ und das, was sie bedeutet hat und bedeutet und bedeuten könnte, weiterzudenken. Wie Du weißt, gibt es im Griechischen zwei Wortgruppen für „Erziehung“: die eine um das Wort paideia herum, das auf das Kind (pais) gerichtet ist, das erzogen und in kulturelles Wissen eingeführt wird, und die ältere Wortgruppe um das Verb trepho herum, das auf Aufrichten, Aufziehen, Behüten und Pflegen abzielt und oft Kinder mit Pflanzen und Tieren vergleicht. Das griechische Wort für Erziehung, das von dem Verb trepho abgeleitet wird, ist trophe, und das weist alle Arten von Assoziationen mit Ernährung und Hegen auf. In beiden Wortgruppen, vor allem aber in der älteren (deren Begriffe mit Metaphern der Landwirtschaft in Homers Epen verwoben sind) herrscht die Vorstellung, Kindern beim Wachsen zu helfen, sie zu hüten, nicht Wissen in sie zu stopfen oder ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Aber natürlich ist Teil der Hilfe beim Wachsen die Hilfe, in der Welt heimisch zu werden, in die gemeinsame Welt einzutreten. In den platonischen Dialogen findet man das wunderbare, zusammengesetzte Wort koinotrophike für ein System öffentlicher Erziehung – es bedeutet wörtlich Erziehung in Gemeinsamem (was auch bedeutet in das hinein zu erziehen, was man gemeinsam besitzt, wie den „Gemeinsinn“). Ich bringe aus meinen Patienten heraus, was sie über sich selber wissen und dann, viel langsamer, was in ihren unbewusst ruht. Der Vorgang befreit sie zu Wachstum und überwindet das, was sie immer aufgehalten hat oder ihr Wachstum und Reifen aufhielt. (Das griechische Wort für heilen, therapeuein, ist mit trepho verwandt.) Diese Technik ist weniger aktiv als das sokratische Fragen, aber das Ziel ist ähnlich. Das Ziel, wie ich es verstehe, besteht darin, dem Patienten bei der Erkenntnis zu helfen, dass er oder sie Erfahrungen gemacht hat, die heute in bewussten und unbewussten Geschichten auftauchen, von enttäuschter Liebe, und dass diese Geschichten nun die gegenwärtige Erfahrung und die Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, entscheidend beeinflussen – folglich auch das Herstellen, Arbeiten, Handeln, Denken, Wollen und Urteilen, alle menschlichen Tätigkeiten. Ganz wichtig und sehr persönlich, die sorgsamen lieben Angehörigen des Patienten haben dessen Erwartung, geliebt zu werden, enttäuscht. Erfahrungen mit der Erfüllung von Erwartungen, geliebt zu werden, oder von Enttäuschungen bilden bei den Menschen die Grundlagen für ihre späteren
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Gefühle, sich in der Welt zuhause zu fühlen oder von und in der Welt entfremdet zu sein, Gefühle, die sich rund um die Ereignisse in der Welt entwickeln. Eine andere Art, den weltlosen Selbsthass zu beschreiben, über den ich vorher schrieb, besteht darin zu sagen, dass es eine Selbst-„Erziehung“ in Trauer ist, die nur zu Enttäuschung über andere Menschen und die Welt neigt und sie fördert. Erzieher müssen dem entgegentreten, dass diese Art von Selbsterziehung, diese Perversion von Erziehung, kultiviert wird. Daher müssen die Erzieher auf rechte Weise lieben, den Studierenden Beziehungen ermöglichen, um in einem Kontakt zur Welt zu stehen. (Kürzlich las ich einen Artikel, der eine Bemerkung Goethes enthielt, dass es nicht der brillanteste Lehrer war, der den größten Einfluss auf ihn hatte, sondern derjenige, der ihn am meisten liebte. Aber stell Dir die Macht des Lehrers vor, der beides ist, brillant und liebevoll!). Für mich liegt die Verbindung zwischen der grundlegenden menschlichen Erfahrung der Erfüllung oder Enttäuschung von Liebe und der Lektion, die sich Arendt zu lehren vorgenommen hat, in ihrem Urteil über Auschwitz: „Das hätte nicht geschehen dürfen“. Wir sind beide der Ansicht, dass das der Kern ihres Unterrichts war. Es stimmt etwas nicht mit der Welt, in der sich Auschwitz ereignen konnte und ereignete. Eine Person, die in ihrer Fähigkeit zu lieben zutiefst gestört ist, spürt nicht: „Dies hätte nicht geschehen dürfen.“ In einem extremen Fall wird heutzutage eine sich selbst hassende Person sagen: „Diejenigen, die sagen, dass dies geschah, lügen, sie bilden eine Verschwörung, um dem deutsche Volk die Schuld zu geben“, etc., etc. – die Holocaustleugner. Etwas weniger extrem: „Ja und? Wen interessiert das? Es ist lange her.“ Das ist Enttäuschung und Indifferenz. Wie komisch, nachdem ich das nun den ganzen Abend lang geschrieben habe und jetzt ziemlich müde bin, verspüre ich große Lust, mit Dir zu reden! Zum Teil deswegen, weil es, wenn wir reden, nichts ausmacht, ob ich besonders kohärent war oder die Dinge in einer Weise angeordnet habe, dass ich zu ihnen stehen kann und sie nicht bei der nächsten Unterhaltung ergänzen, differenzieren oder überarbeiten muss. Ich will nicht morgen aufwachen und das hier durchlesen und denken: Oh, um Himmels willen, das ist ja oberflächlich oder so eine Wiederholung von Dingen, die Du schon vorher gesagt hast, oder was auch immer. In unseren Unterhaltungen kritisiere ich mich nie selber. So ist es sicherer, und ich werde mehr herausgeführt, erzogen, als wenn ich allein bin und mir Dich nur vorstelle oder mir bewusst bin, dass das hier SCHREIBEN ist, das der ganzen Last einer öffentlichen Bedeutung ausgesetzt ist. Gut, genug. Es ist ziemlich bemerkenswert, nicht wahr, dass wir dreißig Jahre später immer noch die Dinge durchdenken, die Hannah Arendt uns zu denken anspornt. Sie war eine enorme Kraft, wie die Kraft der taoistischen Weisen, die
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nichts tun, um ihre Anhänger bei sich zu halten, außer dem, ein Beispiel für große Beständigkeit zu sein. Anständigkeit. Herzlich Elisabeth 1. August 2000 Liebe Elisabeth, als Dein Brief vom 22. Juni ankam, war ich gerade mit der Fertigstellung eines anderen Artikels beschäftigt, sodass ein paar Tage vergangen sind, bis ich die Zeit fand zu antworten. Doch während ich an dem anderen Text arbeitete, dachte ich darüber nach, was Du geschrieben hast, und ich glaube, wir sollten etwas davon für spätere Gespräche aufheben. Zum Beispiel, um hier eine Diskussion über das fortzusetzen, was Du über die Tradition und ihre „Verwicklung“ bei der Entstehung des Totalitarismus geschrieben hast, was mir eine wichtige, aber extrem komplexe Frage zu sein scheint, die uns meines Erachtens zu weit fort führen würde. Auch das, was Du über den Selbsthass als Element des Aufstiegs von totalitären Bewegungen sagst. Also mindert das nicht die Andersartigkeit der Welt, in der diese Bewegungen entstanden, die tatsächlichen Bedingungen in Deutschland und Russland zwischen den beiden Weltkriegen? Im letzteren Fall bezieht sich unsere Meinungsverschiedenheit auf die Einführung allgemeiner psychologischer Grundsätze in kontingente politische Angelegenheiten, eine Meinungsverschiedenheit, die uns beide nicht überrascht! Aber ich glaube, dass beide Fragen besser viva voce ausdiskutiert werden sollten, und vielleicht machen wir das, wenn Du in zehn Tage herkommst. Wie immer freue ich mich sehr auf Deinen Besuch! Ich habe auch allgemeiner über die Briefe nachgedacht, die wir bislang gewechselt haben, und vielleicht besteht eine gute Möglichkeit, diesen hier zu beginnen, darin, das zu kommentieren, was mir einige ihrer hervorstechenden Punkte zu sein scheinen. Das erste, was ich sagen möchte, ist, dass ich mich hin- und hergerissen fühle zwischen dem Sprechen über den Gehalt dessen, was wir von Arendt gelernt haben, und der Art, wie sie ihn vermittelte. Beides ist für unseren Beitrag zu einem Buch über Hannah Arendt und die Erziehung wichtig. Die Schwierigkeit besteht darin, dass, wenn wir über das nachdenken, was wir von ihr gelernt haben, der Vorgang dessen, wie sie uns unterrichtet hat, gewöhnlich von politischen Betrachtungen überlagert wird. Arendt unterrichtete nie ihre eigenen Ansichten, aber sie entwickelte unsere Fähigkeit, unparteiisch unsere eigenen Meinungen zu bilden. Eine unparteiische Meinung ist die Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Überzeugung, deren politische Bedeutung ich in meinem ersten Brief erwähnt habe. In diesem Sinn hatte die Vermittlung von Wissen keine
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vorrangige Bedeutung in ihrem Denken, zumindest nicht im Graduiertenstudium, in dem wir bei ihr studierten. Ihr eigenes Wissen war groß, und natürlich teilte sie etwas davon mit, aber was für sie wirklich zählte, war zu politisch, zu tief in ihrer Erfahrung verwurzelt, zu „existenziell“, um pädagogisch vermittelt zu werden – was alles ihre Ansicht verdeutlich, dass Politik keine Angelegenheit der Unterweisung ist. Ich möchte aber hinzufügen, dass der spürbare Hintergrund ihres Wissen dazu diente, uns, ihre Studenten, vor Illusionen zu bewahren, und auf diese einzigartige Weise exemplifizierte sie die Autorität des Lehrers, die sie in den modernen Theorien und bei Erziehungspraktiken ihrer Zeit schwinden sah. In Deinem ersten Brief erwähntest Du fast en passant, dass Arendts Verständnis von Erziehung „sicherlich nicht dasselbe wie Unterrichten oder Unterweisen von Fähigkeiten ist.“ Das stimmt, und darin liegt eine Bedeutung, die zum Kern zumindest eines Teils dessen vordringt, worüber wir in diesen Briefen geschrieben haben. Education (von educare, aufziehen, was selbst von educere abgleitet ist) und vor allem Primar- und Sekundarstufen-Erziehung wurde ursprünglich nicht als spezialisiertes „Training“ verstanden, sondern vielmehr als die Entwicklung von angeborenen, in der menschlichen Natur schlummernden Potenzialen. Jedes Kind hat natürlich unterschiedliche Potenziale. Und für Arendt war der Hauptzweck der Erziehung die Entwicklung der Einzigartigkeit der Person jedes Kindes in dem Prozess des „Werdens“. Heute aber werden Millionen von Kindern trainiert, das heißt, immer sorgfältiger darauf vorbereitet, ihre „Fähigkeiten“ zu bestimmen, nicht durch ihre Entwicklung als Persönlichkeiten, sondern durch S.A.T.6 Das Maß ihres Erfolges bei diesem standardisierten Test wird als Schlüssel zur Meisterung der Welt angesehen, in der sie leben werden. Das ist eine Möglichkeit, das zu sehen, was Arendt mit Unterrichtung „in der Kunst zu leben“ meint, dem sie kompromisslos ihr Verständnis von Erziehung als einem Unterrichten von Kindern in dem, „wie die Welt aussieht“, gegenüberstellt. „Die Krise in der Erziehung“, ein eloquenter, pointierter, aber für mich auch etwas problematischer Essay, verdeutlicht, dass der Grund, ein Kind in die Welt einzuführen, der ist, dass er oder sie dazu gelangen kann, die Welt „genug (zu) lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie zugleich vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft des Neuen und Jungen unaufhaltsam wäre.“ (Arendt 2006b, S. 276). Dieser Essay stellt unzweifelhaft den Unterschied zwischen „dem Gebiet der Erziehung“, in
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„Scholastic Aptitude Test“ oder „Scholastic Assessment Test“ ist ein standardisierter Test für College-Studienbewerbende in den USA.
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dem die Prinzipien von Autorität und Tradition vorherrschen, und der gegenwärtigen „Welt“ fest, „die weder durch Autorität strukturiert noch durch Tradition zusammen gehalten ist“ (ebd., S. 275). In anderen Worten, was in der frühen Erziehung gilt, ist in dem politischen und Erwachsenenleben allgemein nicht mehr gültig. Eine Folge ihrer Unterscheidung besteht darin, dass sich Kinder als Neuankömmlinge in einer alten Welt, „der Vergangenheit zuwenden“ müssen, um ein Verantwortungsgefühl für die Welt zu entwickeln. An anderer Stelle sagt Arendt, dass jede humanistische Erziehung mit der Vergangenheit zu tun hat, was wir von unserer eigenen Erfahrung als ihre Studenten wissen und woraus die „geschichtliche Tour“ folgt, die Du erwähntest, mit dem sie ihre Seminare und viele ihrer Schriften begann. Auch wenn sie keine herkömmliche Historikerin war – sie sagte mir einmal, dass sie nicht wisse, „was Geschichte ist“ –, folgt doch daraus, dass es eine geschichtliche Dimension ihres Denkens gibt, die nirgends offensichtlicher als in ihrer politischen und philosophischen Sorge um die geschichtliche Entwicklung des Begriffs Geschichte selber ist. Aber in Deinem ersten Brief hast Du aus einem anderen Essay zitiert, „Kultur und Politik“, der nicht von der Erziehung von Kindern handelt. Ich möchte folgenden Passus zitieren: „The thread of tradition is broken, and we must discover the past for ourselves – that is, read its authors as though nobody had ever read them before.“ (Arendt 2006a, S. 201) Das handelt noch von der Vergangenheit, aber anders. Was sie tat und uns in der Graduiertenschule beibringen wollte, war, dass wir uns die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückriefen, aber nicht als ein geschichtliches Ganzes, das uns durch die Tradition überliefert wurde, sondern vielmehr durch die Rettung ihrer „reichen und fremden“ Bruchstücke vor der Zerstörung durch die Zeit. Das ist kein Kinderspiel oder Kinderwerk, aber es erscheint nichtsdestoweniger dissonant im Verhältnis zu ihrer Betonung von Tradition und Autorität in der Primär- und Sekundarschulerziehung. Es kann gut sein, dass man so wie Arendt die Tradition kennen sollte, bevor man die Bedeutung ihrer Diskontinuität erkennt, die Arendt selber thematisierte. Aber das ist es auch, was ich in ihrem Essay über die „Krise“ in der Erziehung problematisch finde, insofern er eine Sicht der Bevormundung vorschlägt, die mit ihrer eigenen Erfahrung in der Welt nicht übereinstimmt. Sei es, wie es sei, Arendt widmet sich nicht den Techniken, wie Kinder auf eine Weise erzogen werden können, die sie es für richtig hält, wie das Interesse in einer zerbrochenen Tradition erneuert werden kann, und sicherlich bin ich nicht dazu geeignet, es zu tun. Ich hoffe, dass andere Beiträger zu diesem Band, Kollegen und Kolleginnen, die beruflich mit der Tätigkeit der Erziehung zu tun haben, dieses Thema behandeln werden, und ich freue mich darauf zu lesen, was sie zu sagen haben.
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Lass mich an dieser Stelle auf die Frage zu sprechen kommen, was wir, die wir keine Kinder waren, von Arendt lernten, und wie sie uns in die Welt einführte, indem sie uns darin unterrichtete, weitgehend durch ihr eigenes Beispiel, deren Vergangenheit zu bergen. Der Punkt dabei war meiner Meinung nach, in uns die Fähigkeit zu entwickeln, ohne Vorurteil auf die große Pluralität von Männern und Frauen zu reagieren, die die Welt miteinander teilen, und dabei zu helfen, die gemeinsame Welt zu bewahren, die der Totalitarismus zu zerstören suchte. Solch eine Verantwortung, obwohl sie keine Sache des Wissens ist, erfordert Nachdenken. Arendt stopfte unsere Köpfe nicht mit Wissen voll, sondern lehrte uns zu „denken“, und zwar in ihrem Verständnis dieses Wortes, das insofern praktisch war, als die Gewohnheit des Denkens, wie sie sagte, „zu den Bedingungen gehört, die die Menschen davon abhalten, (…) Böses zu tun“ (Arendt 1979, S. 15). Die gemeinsame Welt aus den Augen verloren zu haben, ist eine Art von „Weltentfremdung“ oder, wenn Du es vorziehst, Weltlosigkeit, dem Verlust der Welt zu sprechen. Arendt lehrte uns, an einer möglichen und angenehmen Übung in Gemeinsinn teilzunehmen, – den sie für beides hielt, den der Gemeinschaft und den der Kommunikation als Voraussetzung einer gemeinsamen Welt –, indem sie unsere Sichtweise durch die Ansichten Anderer, Lebender und Verstorbener bereicherte. Wie wir bereits sagten, bedeutet die Ansichten Anderer zu berücksichtigen, die eigene Denkungsart zu erweitern, und ich möchte ein Beispiel dafür anführen, was das für mich bedeutet. Vor mir auf meinem Schreibtisch befindet sich die Reproduktion von Piero della Francescas Resurrezione, aber natürlich ist die Reproduktion nur eine Erinnerung an das bemerkenswert gut erhaltene Original. Das Originalfresco befindet sich in der Pinacoteca Comunale in Sansepolcro, wo Piero geboren wurde, eine kleine Stadt in der Mitte der italienischen Halbinsel, nicht weit von Florenz in der Nähe von Arezzo. Aldous Huxley nannte die Resurrezione das „beste“ und „großartigste“ Gemälde der Welt, und so scheint es mir auch, wenn auch nicht nur oder hauptsächlich aus den kunsthistorischen Gründen, die er anführt und die sowohl scharfsinnig als auch zutreffend sein mögen. Das Gemälde ist anders als jede andere mir bekannte Darstellung der Wiedergeburt, die alle einen Christus portraitieren, der sich erhoben hat und die Soldaten, die sein Grab bewachen, mit einer transzendenten Macht überwältigt, die unermesslich größer ist als deren weltliche Kraft. Hier dagegen sind die Soldaten vor dem Grab eingeschlafen, tief eingeschlafen (es ist „das Wesen des Schlafs selbst“, wie es einmal ein italienischer Freund ausdrückte); einer von ihnen ist vermutlich das Selbstportrait des Malers, was vielsagend ist, unabhängig davon, ob es wahr ist oder nicht. Hier ist die Macht des Christus von jeglicher Beziehung zur Kraft getrennt. Sein linkes Bein steht angewinkelt auf dem Grab, wie im
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Augenblick des Aufstehens erfasst, doch es gibt kein Anzeichen einer Bewegung. Sein Gesicht ist ganz nach vorn gerichtet, es ruht im Mittelpunkt des Gemäldes, und seine Augen blicken in unsere. Wenn man in seine blickt, durchbohren sie unsere, und dann kann es geschehen, dass sie zu uns sprechen und sagen: „Wach auf, wach auf.“ Je länger man vor dem Gemälde steht, umso mehr merkt man, dass man es selber ist, der schläft oder geschlafen hat wie jeder der Soldaten im Vordergrund. Wenn man lange genug dort ist, vor, aber auch in der Welt des Gemäldes, dann kann man beginnen, den Schlaf abzuschütteln, und das war für mich eine Erfahrung intensiven Genusses. Ich kann nicht daran zweifeln, dass Piero beabsichtigte, diesen Genuss zu vermitteln, auch wenn ich es nicht beweisen kann. Für mich hat dieser geteilte Blick nichts mit religiöser Autorität zu tun, er hat meiner Ansicht nach mein Denken erweitert und mir, wenn auch nur zwischenzeitlich, die Tiefe der gemeinsamen Welt bewusst gemacht. Ich habe nie mit Arendt über dieses Gemälde oder über Piero gesprochen. Und obwohl sie mich nicht darauf „vorbereitet“ hat, hätte ich, abgesehen von meinem Studium bei ihr, nie diese besondere Einführung in eine Welt genossen, die ich nicht meistern kann oder möchte. Diese Erfahrung ist ein Beispiel für das, was ich früher mit dem „besonderen Vergnügen der Besonderheit“ meinte, das ich jetzt für weniger „besonders“ halte, was schließlich tautologisch ist als mehr für ein schwieriges und tiefgreifendes Vergnügen. Und ich glaube, das muss dem ähneln, was Du meintest, als Du schriebst, dass eine anständige Welt, eine Welt, in der wir wissen, dass wir Gäste sind und Freunde werden können, eine ist, in der sich ein Totalitarismus nicht ereignen kann. Es ist eine Welt, die nicht barbarisch ist, und das Gefühl, ihr anzugehören, verbessert das Leben. Aber der härteste Teil dessen, was Arendt uns verständlich machen wollte, ist, dass so eine Welt mehr wert sei als das Leben. Arendt dachte, dass jedes menschliche Wesen einzigartig und zur Freiheit geboren sei. Ich frage mich manchmal, ob das wahr ist, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass der hauptsächliche Grund dafür, dass Du und ich nach mehr als dreißig Jahren immer noch so sehr daran interessiert sind, über sie und das, was sie gesagt hat, nachzudenken, der ist, dass sie selber uns als jemand vorkam, die einzigartig und frei war. Und hier meine ich wirklich das, was sie sagte und weniger das, was sie schrieb, denn Du und ich, wir hatten das Privileg, sie sprechen zu hören, ihrer Stimme zu lauschen. Heute ist es nicht die öffentliche Maske der berühmten Frau, die zwischen uns in unserem andauernden Gespräch steht, sondern das „nackte Diessein“, wie sie es spät in ihrem Leben ausdrückte, die „identifizierbare, aber nicht definierbare“ Person, die weiterhin durch die Maske tönt – personare –, aber nicht mehr sichtbar ist (vgl. Arendt 1975, S. 10).
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Zu Arendts fünfzigstem Geburtstag schrieb Karl Jaspers an seine frühere Studentin: „Was für ein Leben haben Sie geführt! Es ist Ihnen geschenkt und von Ihnen erworben in einer Standhaftigkeit, die des Unheils, dieses und meist aufreibenden von außen kommenden Entsetzens, Herr wurde.“ (Arendt 1985, S. 337) Das ist sehr schön ausgedrückt und scheint ganz richtig zu sein. Aber um „Herr“ dieses Bösen zu werden, musste Arendt für sich selber nicht nur über diejenigen urteilen, die es entfesselt haben, sondern auch jene, die es erlitten haben; und indem sie das tat, entdeckte sie, dass das, was sie alle zerrieben hatte, nicht vorrangig „von außen“ kam. Das ist ein Moment des schwierigen Urteilens, das sie praktizierte, die andere Seite oder das geistige Äquivalent des Handelns. Keines von beiden kann gelehrt werden, beide werden von Beispielen geleitet. Und Beispiele sind, anders als Menschenleben, nicht von Moral angesteckt. Wir studierten zum ersten bei Arendt 1968, einem Jahr der Studentenunruhen, gewaltsamer Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und andauernder Proteste gegen die trostlose und, wie es schien, schwache Besetzung des gesamten politischen Raums, vor allem nach der Ermordung von Martin Luther King und John F. Kennedy. In dieser Atmosphäre war Arendt ungemein populär, tatsächlich eine Inspiration, weil die Jugend jener Tage nicht in sich selber, sondern in Vita activa oder Vom tätigen Leben (Arendt 1960) und Über die Revolution (Arendt 1965) die Möglichkeit eines Neuanfangs fand. Falls die anfängliche Attraktivität Arendts für uns schwärmerisch gewesen war, so war nichts Schwärmerisches bei derjenigen Arendt, die wir als Lehrerin kennenlernten. Für die Theoretikerin des Handelns war Unterricht als solcher keine einstudierte Vorstellung, besonders hinsichtlich des Geben und Nehmens, das sie selber als das „free for all“ des Seminars bezeichnete, indem sie ihren Studierenden wirkliche und weniger rhetorische Fragen stellte und deren Fragen sie gewöhnlich auf völlig unerwartete Weise beantwortete. Was mich beeindruckte, war ihre Nervosität, die nicht Gereiztheit, sondern Bewegtsein ausdrückte. Sie ließ nach, wenn sie sprach, aber unterschied sich wesentlich vom Lampenfieber, das zuweilen einen großen Schauspieler überkommt, bevor er zu spielen beginnt. Es war mehr ein dauerhafter Gemütszustand, eine dauerhafte Unruhe, in Gang zu kommen. Es war das Ergebnis der merkwürdigen Tatsache, dass sie nie die Erfahrung von Trägheit gemacht zu haben schien. Anders als die meisten von uns, die einen Ausgangspunkt suchen, ein Motiv, eine Quelle der Kraft und Bewegung in einer Situation, erschien Arendt als ein Anfang. Daher warf ihre greifbare Bewegtheit ein Licht auf die Worte des hl. Augustinus, die in ihrem Werk nachhallen: „Initium ergo ut esset, creatus est homo“ („Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen“), nicht geschaffen, um etwas mit einem vorgefassten Ziel im Blick zu beginnen, sondern einfach um ein Anfang zu sein. Das ist der Kern dessen, was sie über
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Handeln und Urteilen weniger lehrte als mehr dachte sowie über Pluralität als die einzige Bedingung eines öffentlichen Lebens, in dem jedes menschliche Individuum seine oder ihre potenzielle Freiheit und Einzigartigkeit verwirklichen kann. Auch wenn sie eine kritische Einstellung zur akademischen Welt zugunsten dieses spontanen Auftritts hatte, bei dem sie die Bedeutung dessen verkörperte, was die Worte des hl. Augustinus für sie bedeuteten, verließ Arendt diese Welt nicht, wie es Nietzsche getan hatte, um in Abgeschiedenheit zu leben und in Einsamkeit zu denken. In ihrem Seminar war jeder Teilnehmer ein „Bürger“, dazu aufgerufen, seine oder ihre Meinung zu äußern und sich in diese Miniaturpolis einzubringen, um sie, wie sie sagte, „ein bisschen besser“ zu machen. Arendt war davon überzeugt, dass sich die Notwendigkeit zu denken ausbreitet und dringlich wird und sicherlich nicht länger die ausschließliche Erfahrung oder das einzige Anliegen berufsmäßiger Philosophen in Zeiten sein kann, in denen die Sicherheit der Welt, ihrer Institutionen und besonders des eigenen, einzigartigen Platzes in ihr gefährdet ist. Es war die Unfähigkeit des Zwanzigsten Jahrhunderts, eine gemeinsame Welt aufrechtzuerhalten, die einen Blick darauf eröffnete, was Arendt für die ursprüngliche Quelle des politischen Lebens hielt: die Einrichtung eines „öffentlichen Raums“ inmitten einer Pluralität von menschlichen Wesen, die miteinander leben, handeln und sprechen, den sie selber nicht aus Gründen der Sicherheit schaffen, sondern zum Wohl ihrer Freiheit. In der Welt heute hat Arendts Überzeugung, dass die Notwendigkeit zu denken von politischer Dringlichkeit ist, einen tiefen Ton angeschlagen. Auch wenn der Kalte Krieg beendet ist und seine Antagonisten beschwichtigt, wenn nicht entwaffnet sind, ist überhaupt nicht klar, was nun begonnen hat. Es gibt viele Anzeichnen, dass die Verwirrungen, die das Zwanzigste Jahrhundert heimgesucht haben, nicht verschwunden sind und dass Männer und Frauen in buchstäblich jeder Ecke der Erde, die sich Arendt zuwenden, immer noch nach Befreiung von Unterdrückung streben. Ihre erzieherische Erfahrung ist weniger unmittelbar als unsere, mehr denkerischer Art, aber immer noch eine echte. Sie können Arendt keine Fragen mehr stellen und ihre Antworten nicht mehr hören, aber sie wenden sich ihr als jemandem zu, der sie zutrauen, ihr Bedürfnis zu beflügeln, zu denken und für sich selber den Sinn der Freiheit zu verwirklichen. Die dauerhafte Lektion der Entstehung des Totalitarismus’ im Zwanzigsten Jahrhundert lautet, dass Freiheit zerbrechlich und die gemeinsame Welt provisorisch ist und zerstört werden kann. Das bedeutet nicht notwendigerweise die Zerstörung unseres Planeten oder unserer Gattung – das eine ist so winzig und das andere so unwahrscheinlich und anscheinend zufällig im Universum –, aber jene öffentlichen Räume, in denen allein Männer und Frauen erscheinen und in ihrer Einzigartigkeit anerkennt werden können, was letztendlich ihre Gleichheit in Freiheit ist. Von dem
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Standpunkt einer universellen Natur aus, in der alle Gebilde durch automatische Prozesse erzeugt werden, fehlt das Gefühl einer tatsächlichen Veränderung, denn jede Änderung ist entweder zu langsam, um sie zu bemerken, oder zu plötzlich, um sie als erklärungsbedürftige Anomalie zu verstehen. Von diesem Standpunkt aus kann die Erscheinung der menschlichen Freiheit und die Fähigkeit, spontan Naturprozesse zu unterbrechen, nur als Wunder verstanden werden. Für Arendt erzeugt das Wunder menschliche Wirklichkeit, und die Freude, sie entweder unmittelbar oder gedanklich zu erleben, war und ist der flüchtige Einblick, den Arendt in diese Wirklichkeit verschafft. Ich freue mich auf Deinen Besuch in Erwartung einer weiteren Unterhaltung. und grüße Dich herzlich. Jerry
Literatur Arendt, Hannah. 1960 (engl. 1958). Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. Arendt, Hannah. 1965 (engl. 1963). Über die Revolution. München: Piper. Arendt, Hannah. 1975. Die Sonning-Preis-Rede. Kopenhagen 1975. In Arendt, Hannah: Text+Kritik, Nr. 166/167, IX/05. Hrsg. Heinz Ludwig Arnold. Arendt, Hannah. 1979. Vom Leben des Geistes, Bd. 1. Das Denken. München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 1981. Rahel Varnhagen. Das Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 1985. Karl Jaspers. Briefwechsel 1926–1969, Hrsg. Lotte Kühler und Hans Saner, München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 1986. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper. Arendt, Hannah. 1994. The Image of Hell. In Essays in Understanding, 1930–1954, Hrsg. Jerome Kohn. New York: Harcourt Brace & Co. Arendt, Hannah. 2000. Verstehen und Politik. In Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, Hrsg. Ursula Ludz, 2. Aufl., 10–127. München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 2006a. Crisis in Culture. Its Social and Political Significance. In Arendt, Hannah: Between Past and Future, 194–222. London: Penguin Books. Arendt, Hannah. 2006b. Die Krise in der Erziehung. In Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, Hrsg. Ursula Ludz, 2. Aufl., 255–276. München/Zürich: Piper. Yeats, William Butler. 2005. Die Gedichte (Gesamtausgabe). Neu übersetzt von Marcel Beyer, Mirko Bonné, Gerhard Falkner, Norbert Hummelt, Christa Schuenke. Hrsg. Norbert Hummelt. München: Luchterhand Literaturverlag. Young-Bruehl, Elisabeth. 1982. Reflections on Hannah Arendt’s ‚The Life of the Mind’. In Political Theory, 10. 277–305. Young-Bruehl, Elisabeth. 2000. Die New Yorker Intellektuelle. In DU. Die Zeitschrift der Kultur, Oktober, H. 710.
Politische Bildung als Bildung politischer Urteilskraft: Arendts Perspektive Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange
Innerhalb der nun schon langjährigen Diskurse und Debatten über Macht, Demokratie und verschiedenen Verständnisweisen von Politik, wie auch in den jüngst veröffentlichten Büchern zu „Radikaler Demokratietheorie“ (Comtesse et al. 2019) und einer „Kritischen Theorie der Politik“ (Bohmann und Sörensen 2019), werden die drängenden Fragen der politischen Bildung und politischen Praxis, die den institutionellen Rahmenbedingungen politischer Gemeinwesen vorausgehen, bislang zu wenig berücksichtigt (Meints-Stender und Lange 2016, Gloe und Oeftering 2019; Sörensen 2020). Um diesen Schritt zu ermöglichen, müssen die Fragen nach den Formen der politischen Praxis mit der Frage der Herrschaftsund Machtverhältnisse verknüpft werden. Hierzu unterscheiden wir zwischen einem traditionellen und einem kritischen Verständnis von Politik: Während ein traditioneller Politikbegriff das Bestehende reproduziert und eher auf das Funktionieren der Bürger*innen fokussiert, reflektiert ein kritischer Politikbegriff die sozialen, strukturellen und institutionellen Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Bürger*innen. Dass in Arendts Politikbegriff ein solch kritisches Dieser Aufsatz ist eine stark überarbeitete und erweiterte Fassung des Aufsatzes „Das Politische in der politischen Bildung“ (Meints-Stender und Lange 2016).
W. Meints-Stender (*) Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Lange Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_2
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Politikverständnis zu entdecken ist, zeigt sich, wenn man diesen mit verschiedenen wirkungsmächtigen Politikbegriffen im 20. Jahrhundert und am Anfang des 21. Jahrhunderts vergleicht (Meints-Stender und Lange 2016). Hier soll nur äußerst skizzenhaft Bezug auf Aristoteles und Carl Schmitt genommen werden, weil dadurch Arendts Begriff des Politischen am deutlichsten profiliert werden kann. Dabei zeigt sich, wie Arendt sich in einer Art rettender Kritik der Tradition politischen Denkens zuwendet. Für sie handelt Politik „von dem Zusammenund Miteinandersein der Verschiedenen“ (Arendt 1993, S. 9 f.). Politik entsteht in ihrer Konzeption „in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentliche politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug“ (Arendt 1993, S. 11). Dabei werden in der „Politik (…) von vornherein die absolut Verschiedenen im Hinblick auf relative Gleichheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenen“ organisiert (Arendt 1993, S. 12). Negative Freiheit wird bei Arendt als „Nicht-BeherrschtWerden und Nicht-Herrschen“ konzipiert, während positive Freiheit „als ein nur von Vielen zu erstellender Raum, in welchem jeder sich unter seinesgleichen bewegt“ verstanden (ebd., S. 39). Pointiert formuliert sie: „Ohne solche Anderen, die meinesgleichen sind, gibt es keine Freiheit“. Zugleich verknüpft Arendt den Politikbegriff mit dem griechischen Verständnis von Isonomia, der ermöglicht, „dass alle den gleichen Anspruch auf politische Tätigkeit haben“ (ebd., S. 40). Mit diesen Bestimmungen wendet sie sich einerseits gegen die Tradition politischen Denkens im Allgemeinen und Aristoteles’ Bestimmung, dass der Mensch ein polisbildendes Wesen, ein „zoon politikon“ sei, im Besonderen. Der Aristotelischen Subjektivierung und Naturalisierung des Politischen hält sie die Idee eines „Zwischen den Menschen“ entgegen, das erst durch gemeinsames Handeln entsteht, erst hervorgebracht werden muss, um dann andererseits an Aristoteles’ Bestimmung des „zoon logon echon“ kritisch anzuknüpfen. Politik und Sprache sind, so Arendts Überzeugung, untrennbar miteinander verknüpft. Aber Arendt setzt in ihrer Bestimmung die Akzente anders. Sie transformiert den aristotelischen Gedanken. Während Aristoteles formuliert, dass „über die Sprache (…) unter den Lebewesen der Mensch“ allein verfügt und die Sprache da ist, „um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und Ungerechte“ und betont, dass nur die Menschen „über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe“ verfügen und dadurch „in diesen Begriffen (…) Haus und Staat“ schaffen (Aristoteles 1981, 1253a, S. 10–18), so fokussiert Arendt hingegen auf die konstitutive Praxis des Sprechens. Sie erweitert diese Bestimmung durch den Gedanken, dass nicht nur mitgeteilt wird, was als gerecht oder
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ungerecht, nützlich oder schädlich erscheint, sondern dass Menschen „in all dem auch immer sich selbst mitteilen“ (Arendt 2014, S. 164; Meints-Stender 2018). Wendet man sich nun dem Politikbegriff von Carl Schmitt zu, so ist zunächst hervorzuheben, dass er für eine Autonomie der Politik plädiert. „Nehmen wir an, dass auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, aber von ihnen doch unabhängige, selbstständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht.“ (…) Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. (…) Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne dass gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, ökonomischen oder anderen Unterscheidungen zur Anwendung kommen müssten“ (Schmitt 1979, S. 26). Ohne Zweifel kann man sagen, dass Arendt wie Schmitt von einer Autonomie bzw. Eigenlogik des Politischen ausgeht, und wie er kennt auch sie keine Inhaltsbestimmung des Politischen, aber sie setzt der Eigenlogik des Politischen als Freund/Feindbestimmung von Schmitt die Eigenlogik des „Miteinandersein der Verschiedenen“ entgegen, die nicht Homogenität sondern Pluralität als Einheit von Gleichheit und Verschiedenheit, voraussetzt. Diese Gleichheit und Verschiedenheit der Menschen kann aber nur aktiv zum Ausdruck gebracht werden, denn Gleichartigkeit besteht, sofern alle Menschen sind, Verschiedenheit insofern, dass kein Mensch einem anderen gleicht. Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine überhaupt keine Verständigung unter den Menschen, aber ohne Verschiedenheit andererseits bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung (Arendt 1985; Meints 2009, 2011). Kann also die Pluralität des Menschen nur aktiv zum Ausdruck gebracht werden, dann ist der Begriff des Politischen bei Arendt durch das Sprechen und Handeln der Verschiedenen bestimmt (im letzten Abschnitt wird dieser Aspekt wiederaufgegriffen). Auf Grundlage dieser Konzeption des Politischen können die drängenden Fragen der politischen Bildung und Praxis erarbeitet werden, die den institutionellen Rahmenbedingungen politischer Gemeinwesen vorausgehen und die bislang zu wenig berücksichtigt werden. Mit diesem kritischen Politikbegriff können Formen politischer Bildung mit der Frage nach Herrschafts- und Machtverhältnissen verknüpft werden, weil die Art der Macht die Form der Politik hervorbringt, die wiederum auf die Art der Macht verweist.
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Da der Machtbegriff bei Foucault uns als zu weit gefasst erscheint, um auf der begrifflichen Analyseebene ein Instrument zur Unterscheidung verschiedener Formen von Macht und Herrschaft darzustellen, und der Begriff der Macht bei Habermas eher zu kognitivistisch und rationalistisch angelegt ist, um der Ebene der Erfahrung gerecht zu werden, beziehen wir uns auch hier im Folgenden auf Hannah Arendts Schriften zur Macht (Meints-Stender und Lange 2016). Hannah Arendt begreift Macht, die als Grundlage von politischen Gemeinwesen gedacht wird, als „die menschliche Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Arendt 1970, S. 45). Macht ist diesem Verständnis zufolge kein Mittel zu einem Zweck, weil „über Macht“ „niemals ein Einzelner“ verfügt. Macht „ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (ebd). Getragen wird dieser Machtbegriff von einem spezifischen Handlungsbegriff, den Arendt von den Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellen innerhalb der Vita activa analytisch trennt. Handeln kann kein Einzelner, sondern es ist eine gemeinsame Aktivität, wobei Arendt das Sprechen als eine Form des Handelns versteht. „Sprechend und handelnd schalten wird uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist, wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen“ (Arendt 1981, S. 165). Während dieses Sprechen und Handelns zeigen wir das „Wer-einer-ist“, offenbaren Anderen aktiv unsere Individualität, die bedingt ist durch gesellschaftspolitische Bedingungen. Zugleich unterscheidet Arendt den Begriff der politischen Macht in lebendige und materialisierte Macht, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Die lebendige Macht umfasst das Handeln und Sprechen der Bürger*innen, das „acting in concert“, wie Arendt es in Anlehnung an Burke auch häufig benennt. Diese lebendige Macht bedarf der Vergegenständlichung/ Materialisierung in politischen Institutionen, Organisationen, Rechten und Gesetzen, um Dauer und Stabilität zu garantieren. Ohne diese Materialisierung von Macht kann sich politische Freiheit nicht entfalten, weil lebendige Macht selbst fragil ist. Arendt entwickelt diesen Gedanken in kritischer Anlehnung an Montesquieus Unterscheidung zwischen der Struktur der Regierung und dem Prinzip des Handelns: dass jede Regierung, jede politische Ordnung/Organisation auf das lebendige Machtpotenzial angewiesen ist, weil sie ihm ihre Existenz verdankt. Sie verweist also auf die notwendige Vermittlung zwischen politischen Institutionen (also materialisierter Macht) und lebendiger Macht, weil die Institutionen ihnen ihre Existenz, Stabilität, Dauer und Begrenzung verdanken. Wird dieser Vermittlungszusammenhang zerstört, dann erscheint sie denen, die
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sie ins Leben riefen, als „fremde Macht“, also als Herrschaft. Materialisierte Macht bedarf immer wieder der „neuen, aneignenden Interpretation und der reaktualisierenden Affirmation“ (Jaeggi 2009, S. 54) und Kritik. Diese neu aneignende Interpretation und reaktualisierende Affirmation und Kritik müssen die politischen Institutionen ermöglichen, die entweder diese bestätigen oder auf Veränderungen auf der institutionellen Ebene drängen. Wie und durch welche Formen der politischen Praxis kann in einem demokratischen Gemeinwesen, das diesen Namen verdient, lebendige und materialisierter Macht vermittelt werden? Im Unterschied zur traditionellen Politik handelt eine kritische Politik im Sinne Hannah Arendts „von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“ (Arendt 1993: S. 8 f., Hervorh. i. O.). Dieses „Zusammen- und MiteinanderSein der Verschiedenen“ wird von ihr auf den Begriff der Pluralität gebracht. Dieser Begriff der Pluralität stellt existierende Zugehörigkeitskonstruktionen und zuschreibende Differenzkonstruktionen essenzialistischer Art – sei es auf einer kollektiven oder individuellen Ebene – radikal infrage, insofern er nicht nur Andere, sondern eine politische Praxis impliziert. Was aber heißt das? Das Faktum der Pluralität der Menschen – als einer Vielzahl von Menschen, die Verschiedene sind – korrespondiert mit einer Pluralität von Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit, die der einfachen Tatsache entspringt, dass jede und jeder gesellschaftspolitisch bedingt ist und ausgehend von diesen Bedingungen spricht. D. h. Fragen der Identität und Differenz sind an die aktive Auseinandersetzung mit Anderen geknüpft. Sie sind kontingent und veränderbar; sie sind mit Homogenitätsvorstellungen und Zuschreibungen essenzialistischer Art nicht vereinbar. Den Begriff der Pluralität des Menschen verbindet Arendt mit einer kritischen Aneignung der reflektierenden Urteilskraft von Kant. Deren Bedeutung für die politische Bildung liegt darin, dass der Bezug auf die Perspektive Anderer auf einen Sachverhalt konstitutiv für die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit die Voraussetzung für die Urteilsbildung sein soll (Arendt 1993, S. 105). Die Verknüpfung der Pluralität mit dem Konzept reflektierender Urteilskraft bei Kant unterstreicht dabei die Notwendigkeit einer aktiven Begegnung mit den Perspektiven Anderer auf einen Sachverhalt, um die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit überhaupt erst erfahrbar zu machen. Der „sensus communis“ (Kant) soll ermöglichen, dass sich das Sprechen und Handeln auf gleichberechtigter Grundlage vollzieht, in dem die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen Anderer in der eigenen Urteilsbildung mit reflektiert werden. Welche Bedeutung hat diese Verknüpfung von Pluralität mit der reflektierenden Urteilskraft für die politische Bildung und politische Praxis? Wenn sich soziale Wirklichkeit durch die Pluralität der Perspektiven auf sie konstituiert, so können subjektive Sinnwelten, die
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„Subjektivität des Es-scheint mir“ dadurch aufgehoben werden, dass die Vielfalt der Perspektiven von Anderen auf den gleichen Gegenstand bei der Urteilsbildung berücksichtigt wird. Kant nennt dies die „erweiterte Denkungsart“, die Fähigkeit, „an der Stelle jedes anderen zu denken“. Mit dieser Form des Denkens erweitert und reflektiert man die „Privatbedingungen“, d. h. die sozialen Voraussetzungen des eigenen Denkens. Man stellt sich vor, wie dieser Sachverhalt/Gegenstand aus einer anderen Perspektive und unter anderen Bedingungen aussieht. Man reflektiert über sein eigenes Urteil, so Arendt in Anlehnung an Kant, wenn man von einem allgemeinen Standpunkt denkt, den man nur dadurch erreicht, dass man sich an den Standort möglichst vieler Anderer versetzt. Mithilfe der Freiheit der Einbildungskraft, die diese Form der erweiterten Denkungsart ermöglicht, kann ich mir den Standort der Anderen und damit die sozialen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, vergegenwärtigen (Arendt 1985). Diese Verknüpfung von Pluralität und politischer Urteilskraft ist von entscheidender Bedeutung, um ein gleichberechtigtes Miteinander von verschiedenen Menschen zu ermöglichen. Es hinterfragt tradierte Vorurteile und überprüft deren Gültigkeit unter gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Bedingungen (Meints 2009, 2011). Übersetzt man diese Gedanken für die Politische Bildung, so ist die Einbeziehung des Denkens der Beteiligten – ihrer subjektiven Sinnwelten und ihrer sozialen Voraussetzung, die diese bedingen – die Bedingung der Möglichkeit für die politische Bildung. Anders formuliert: Die Aktivierung des Bürgerbewusstseins ist die Voraussetzung, um politische Bildungsprozesse überhaupt erst zu ermöglichen. Das Bürgerbewusstsein stellt das „Insgesamt der mentalen Vorstellungen über die politisch- gesellschaftliche Wirklichkeit“ dar und dient der individuellen Orientierung in Politik und Ökonomie. So produziert es zugleich den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen (Lange 2008). Wenn Bürger*innen eine Vorstellung über das Verhältnis von Bürger*innen und Gesellschaft haben, so umfasst das Bürgerbewusstsein zugleich Aussagen und Begründungen über die Bedeutung von sozialen Differenzen – sei es hinsichtlich des Geschlechts, der Ethnizität, der Herkunft, der sozialen Ungleichheit, des Lebensstils oder andere Kategorisierungen. So wird der Prozess der Vergesellschaftung durch Konzepte über das Individuum und die Mechanismen seiner sozialen Inklusion und Exklusion erklärbar (Lange 2009, S. 171). Die Politische Bildung sollte in empirischer wie normativer Hinsicht (1) die Vorstellungen in der und über die Gesellschaft zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen machen, (2) die Voraussetzungen, Folgen, Inhalte und Strukturen der Gesellschaft thematisieren und schließlich (3) deren soziale Herausforderungen für Bürger*innen berücksichtigen, um sie zu einem gleichberechtigten Handeln und Urteilen zu
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befähigen. Subjektive Sinnwelten sind im Hinblick auf die soziale Wirklichkeit zu schärfen, weil Wirklichkeit sich erst in der Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Perspektiven auf diese herstellt. Die politische Bildung muss sich deshalb mit dem Bürgerbewusstsein befassen, um ein erfahrungsgeleitetes Lernen überhaupt zu gewährleisten. Die Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit bestimmen das Handeln und Denken im Alltag, sie geben Orientierung (ebd.). Neben der lerntheoretischen Berücksichtigung sind die alltagswirklichen Phänomene ein Reflexionsgegenstand der politischen Bildungsprozesse. Mit der Forderung, das Bürgerbewusstsein in der Politischen Bildung ins Zentrum der Bildungsarbeit zu rücken, wird nicht untersucht, ob Individuen über ein „falsches“ oder „richtiges Bewusstsein“ verfügen, sondern wir gehen davon aus, dass die Selbstauskünfte bzw. Interpretationen der Bürger*innen über politische Sachverhalte nicht übergangen werden dürfen. Sie müssen vielmehr zum epistemologischen Ausgangspunkt für die politische Bildungsarbeit gemacht werden (Meints 2009, 2011). D. h. um die Frage überhaupt entscheiden zu können, ob ein Sachverhalt konsensual oder konflikthaft ist, müssen die Bürger*innen die Bedingung der Möglichkeit des Austausches erhalten, sie müssen gehört und gesehen werden, damit ihre Perspektive auf einen Sachverhalt vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit erörtert werden kann. Das Gehört-und-gesehen-werden ist die Bedingung der Möglichkeit, um zu erfahren, ob und in welcher Weise ein Sachverhalt konflikthaft oder konsensual ist. Erst mit dieser Perspektive wird es möglich, Fragen sozialer Gerechtigkeit zu artikulieren. Und genau an dieser Stelle lassen sich gesellschaftspolitische Unrechtserfahrungen sichtbar machen, weil die Selbstauskünfte/Interpretationen zugleich Aussagen über das jeweilige Weltverständnis enthalten. Die Selbstauskünfte/Interpretationen geben Hinweise für die Art und Weise, wie die Subjektwerdung sich in vorgängigen Differenzordnungen vollzieht, sofern die gesellschaftlichen Bedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sich diese Welt- und Selbstverständnisse bilden bzw. sich konstituieren, enthalten sind. Durch die Selbstauskünfte können Unrechtserfahrungen, gesellschaftlich bedingte Praktiken der Dehumanisierung thematisiert, artikuliert, reflektiert und kritisiert werden, d. h. es kann identifiziert werden, welche Zugehörigkeiten und Identitätspositionen privilegiert werden und welche nicht. Dies ist für die Politische Bildung von zentraler Bedeutung: Im Bürgerbewusstsein finden wir Auskünfte darüber, welche Bedingungen (Klasse, Geschlecht, Herkunft, Alter, Behinderung etc.) – die gesellschaftlich strukturiert und bei jedem Menschen unterschiedlich sind –, ausschlaggebend sind. Die Untersuchungen des Bürgerbewusstseins als Untersuchung von Welt- und Selbstverständnissen geben damit auch Hinweise auf die gesellschaftlich notwendigen
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institutionellen Veränderungen, um ein erweitertes Welt- und Selbstverhältnis zu ermöglichen (Meints 2009, 2011). Wenn es richtig ist, dass politische Institutionen und Organisationen einerseits Vergegenständlichungen bzw. Materialisierungen menschlichen Handelns sind, ohne die politische Freiheit sich nicht entfalten kann, so stellt sich andererseits die Frage, warum und unter welchen Verhältnissen Institutionen als „fremde Macht“, also als Herrschaft erscheinen, die sie selbst ins Lebens gerufen haben (Jaeggi 2009; Meints 2011). Institutionen werden dann als „fremde Macht“ wahrgenommen, wenn sie nur in „der blinden Befolgung von Regeln, und Routinen“ bestehen, wenn sie den gesellschaftlichen Wandel und die sich dadurch verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit nicht reflektieren und nicht ermöglichen (Jaeggi 2009, S. 543). Verhindert werden muss, dass – um mit Cornelius Castoriadis zu sprechen – Institutionen Bürger*innen davon abhalten, sich an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen (Castoriades 1998, S. 13 f.). Damit rückt eine weitere Dimension der politischen Bildung ins Blickfeld: Sie muss nicht nur danach fragen, wie sie die subjektiven Voraussetzungen der Einzelnen für politische Teilhabe stärken kann, sie muss zugleich thematisieren, ob politische Institutionen/Organisationen sich durch „Lern- und Transformationsprozesse“ (Jaeggi 2009, S. 543) auszeichnen, die gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen. Mit dieser Verständnisweise von Macht und politischer Bildung können empirisch-analytische Untersuchungen des Bürgerbewusstseins als Welt- und Selbstverständnisse untersucht werden. An diese subjektive Sinnwelten anknüpfend, können zugleich Verstrickungen in Herrschaftsstrukturen, wie z. B. Unrechtserfahrungen, Prozesse der Dehumanisierung thematisiert, artikuliert und kritisiert werden. Andererseits können sie normativ eine Einbeziehung der Perspektiven von gleichberechtigten Anderen im Denken und Handeln fördern, die nicht auf einem Gegen- oder Für-, sondern auf einem Miteinander basieren. Im Miteinandersprechen und Handeln liegt die Bedingung der Möglichkeit, eine Form der Aneignung der Welt zu entfalten, die eine lebendige Machtentfaltung als „Aufhebung der Entfremdung von der Welt“ ermöglicht (Arendt 1979, S. 104), auf die politische Institutionen angewiesen sind, um ihrem Anspruch – politische Freiheit zu ermöglichen – gerecht zu werden. Dieser Begriff der Pluralität bedarf allerdings einer Voraussetzung: dass Bürgerschaft heute weder auf das Territorialnoch auf das Abstammungsprinzip, sondern auf der demokratischen Partizipation an einem politischen Gemeinwesen und am Alltag der Zivilgesellschaft gründen muss (Benhabib 1999). Das Bewusstsein dieser Bürger*innen ist in der Politischen Bildung zu aktivieren, herauszufordern und mit Vorstellungen Anderer zu kontrastieren. So fördert die Politische Bildung die Vorstellungen des Bürgerbewusstseins als erweiterte Denkungsart. Das Bürgerbewusstsein bzw. das Welt- und
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Selbstverständnis der Bürger*innen ist das Medium, das es zu untersuchen gilt, um herauszufinden, unter welchen sozialen und strukturellen Bedingungen sie handeln und denken.
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Politische Urteilsbildung – Hannah Arendts Überlegungen als archimedischer Punkt für die Politikdidaktik Ingo Juchler 1 Einführung Die Fähigkeit zum politischen Urteilen gilt als das übergeordnete Ziel politischer Bildungsbemühungen. Epistemologisch nimmt das Theorem der politischen Urteilsbildung seinen Ausgang in der Epoche der Aufklärung.1 Immanuel Kants Ausführungen über den Zusammenhang von Aufklärung und Mündigkeit in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? bietet eine programmatische Vorlage für die weitere Auseinandersetzung mit Mündigkeit und politischer Urteilsbildung. Der Königsberger Philosoph erklärte hierin eingangs: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 1991, S. 53). 1Die
folgenden Ausführungen stützen sich insbesondere auf die Arbeiten Ingo Juchler: Demokratie und politische Urteilskraft. Überlegungen zu einer normativen Grundlegung der Politikdidaktik, Schwalbach/Ts. 2005; sowie Ingo Juchler: Politische Bildung im Theater. In: Ingo Juchler/Alexandra Lechner-Amante (Hrsg.): Politische Bildung im Theater. Wiesbaden (2016, S. 7–15).
I. Juchler (*) Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_3
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Von besonderer Relevanz für den pädagogischen Diskurs wird Mündigkeit allerdings erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Vormärz und der Revolution von 1848/1849. Adolph Diesterweg knüpfte in seinem Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer im Jahre 1834 an die Tradition der Aufklärungsphilosophie an und erklärte in seiner Vorrede: „Als das Ziel der Entwicklung der Unmündigen durch Unterricht und Erziehung betrachte ich Mündigkeit, welche sich durch die Fähigkeit, sich selbst zu regieren und zu bestimmen, kundtut.“ (zitiert nach Rieger-Ladich 2002, S. 36). Nach der Niederschlagung der demokratischen Reformbestrebungen von 1848/1849 erfuhr Mündigkeit erst wieder in den 1920er Jahren durch Erich Weniger eine spezifisch pädagogisch-politische Konturierung. Den Bemühungen um eine vom Begriff der Mündigkeit geleiteten Pädagogik in der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland wurde allerdings durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ein jähes Ende gesetzt. Nach den totalitären Verwerfungen auch in der schulischen Bildung wurde in der Bundesrepublik Mündigkeit als wesentliche personale Anforderung der Bürgerinnen und Bürger für die gedeihliche Entwicklung der in statu nascendi befindlichen Demokratie ausgemacht. Entsprechend avancierte Mündigkeit zum erklärten „Erziehungsziel der neuen Schule“ (Fruhmann 1948, S. 260). Der exklusive Zusammenhang zwischen dem pädagogischen Ziel der Mündigkeit und dem politischen System der Demokratie in der Bundesrepublik ist gleichfalls in der Politikwissenschaft betont worden, deren (Wieder-)Gründungsphase von 1945 bis 1959 als „Demokratiewissenschaft“ charakterisiert wird (Bleek 2001, S. 305). Mündigkeit wird hier als die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum politischen Urteil erachtet. So erklärte Arnold Bergstraesser, einer der Gründungsväter der „Demokratiewissenschaft“, in einem Artikel über das Wesen der politischen Bildung im Jahre 1956, dass die Aufgabe der Politikwissenschaft und der politischen Bildung darin bestehe, die sachlichen Voraussetzungen für ein politisches Urteil der Bürgerinnen und Bürger zu schaffen – politische Bildung müsse zur Selbstständigkeit des Urteils führen. Die Aufgabe des Lehrers bestehe darin, das politische Urteil in Bezug auf die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten „von der Sache her zu schärfen und zu erhellen“, wozu „Einsicht in das Gefüge der Gesellschaft“ notwendig sei. Der „Zögling“ solle „zum urteilsfähigen Zeitgenossen sich selbst zu bilden die Gelegenheit haben. Als politisch Urteilender soll er nach Gründen urteilen.“ (Bergstraesser 1956, S. 6; S. 10 ff.). Vor diesem Hintergrund wurde die politische Urteilsfähigkeit in der jungen wissenschaftlichen Disziplin der Politikdidaktik mannigfach reflektiert (vgl. Sutor 1971, S. 271 ff.; Massing 1995, S. 205–244). Im Folgenden sollen Überlegungen von Hannah Arendt als archimedischer Punkt zur Konzeptionalisierung politischer Urteilskraft für die politische Bildung dienen.
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2 Politische Öffentlichkeit und politische Urteilsbildung Das Verhältnis von politischer Öffentlichkeit und politischer Urteilsbildung ist reziprok. So muss sich das übergeordnete Ziel politischer Bildung – die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zur politischen Urteilsbildung – in der politischen Öffentlichkeit bewähren. Zum anderen stellt die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zur politischen Urteilsbildung für die politische Öffentlichkeit selbst eine nicht hintergehbare Voraussetzung für deren gedeihlichen Fortbestand und damit letztlich auch für den der Demokratie an sich dar. Das moderne Verständnis politischer Öffentlichkeit nahm seinen Ausgang von der Entwicklung einer literarischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Diese bildete sich als dem Besitz- und Bildungsbürgertum „öffentlich“ zugängliche Sphäre des Theaters und der Literatur. Das Lese- und Theaterpublikum konnte öffentlich über das Publizierte beziehungsweise Dargebotene urteilen und wurde somit „richtendes Publikum“ (Habermas 1990, S. 84), dem die Fähigkeit zuerkannt wurde, in Streitfällen das „letztgültige Urteil“ zu fällen (Hölscher 1978, S. 435). Diese öffentliche Beurteilung des Literarischen durch das Publikum erfasste in der Folge der Aufklärung in Deutschland auch den Bereich des Politischen. So forderte Immanuel Kant in seiner programmatischen Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) vom monarchischen Staatsoberhaupt im Hinblick auf die Möglichkeit der Beurteilung der Gesetzgebung durch das Publikum die Einsicht, „dass selbst in Ansehung seiner (des Monarchen; I. J.) Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen“ (Kant 1991, S. 60; Hervorhebungen im Original). Der öffentliche Gebrauch der Vernunft, das öffentliche Räsonnement des Publikums erfordert mithin das Prinzip der Publizität im Bereich des Politischen, wodurch die althergebrachte Praxis der arcana imperii nachhaltig infrage gestellt wird. Hatte Machiavelli erklärt, dass ein Herrscher nur nach dem Enderfolg beurteilt werde und hierzu jedes Mittel anwenden könne, solange er den Schein der „Milde, Treue, Redlichkeit, Menschlichkeit und Gottesfurcht“ wahre, „denn der Pöbel hält sich immer an den Schein und den Erfolg“ (Macchiavelli 1978, S. 73 f.), so wird eine derartige Herrschaftspraxis durch das Prinzip der Publizität grundsätzlich herausgefordert. Während die arcana imperii der Aufrechterhaltung der auf dem Willen des Fürsten gegründeten Herrschaft dienten, wird nun die Publizität zur Durchsetzung einer auf Vernunft basierenden Gesetzgebung
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ins Feld geführt. Mithin entsteht eine „politisch fungierende Öffentlichkeit“, und „Kräfte, die auf die Entscheidungen der Staatsgewalt Einfluss nehmen wollen, appellieren an das räsonierende Publikum, um Forderungen vor diesem neuen Forum zu legitimieren“ (Habermas 1990, S. 118 f.; S. 122) – gegen die absolute Herrschaft des Monarchen entwickelt sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit ein auf die Erweiterung der politischen Teilhaberechte gerichtetes Bewusstsein. Einen für die gegenwärtige Beschäftigung mit der Sphäre der politischen Öffentlichkeit richtungsweisenden Ansatz bieten die diesbezüglichen Ausführungen von Hannah Arendt. In ihren Überlegungen zum politischen Bereich im Sinne der athenischen Polis gelangt Arendt zu dem Schluss, dass dieser einer „immerwährenden Bühne“ gleiche – die Polis sei das „Publikum“ in einem „Zuschauerraum, in dem aber ein jeder zugleich Zuschauer und Mithandelnder ist“ (Arendt 2001, S. 249). Bei dieser bildhaften Beschreibung hinsichtlich des Kommunikationsverhältnisses von Akteur und Publikum greift Arendt in weiteren Ausführungen auf eine Parabel zurück, die Pythagoras zugeschrieben wird und deren Deutung auch für das heutige Kommunikationsverhältnis zwischen Sprecher und Publikum in der Sphäre der politischen Öffentlichkeit einer repräsentativen Demokratie fruchtbar ist. Die pythagoreische Parabel wird von Diogenes Laertius wie folgt überliefert: „Das Leben… ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche als Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen als Zuschauer (theatai), und genau so ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm (doxa) oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.“ (zitiert nach Arendt 1989, S. 98; Auslassungen im Original). Arendt führt im Folgenden aus, dass die in der Parabel als im Verhältnis zum Streben nach Ruhm und Gewinn edler herausgestellte Wahrheit keineswegs für den gewöhnlichen Menschen unsichtbar und unzugänglich sei. Vielmehr könne bei dieser frühen Unterscheidung zwischen Handeln und Verstehen der Zuschauer für den Preis des Verzichts auf Teilnahme die Wahrheit dessen verstehen, worum es in dem Schauspiel gehe. Nur der Zuschauer habe eine Position inne, von der aus er das ganze Spiel überblicken könne, während der Schauspieler eine bestimmte Rolle spielen müsse. Deshalb, so Arendts Schlussfolgerung, sei der „Rückzug vom unmittelbaren Engagement auf einen Standpunkt außerhalb des Spiels (des Festspiels des Lebens) nicht nur eine Bedingung für das Urteilen, für die Rolle des letzten Schiedsrichters in dem ablaufenden Wettkampf, sondern auch die Bedingung für das Verstehen des Sinnes des Spiels“. Der Akteur sei hingegen abhängig vom Zuschauer, nach dessen Erwartungen er sich richten müsse, und das „endgültige Urteil“ über den Erfolg oder Misserfolg des Akteurs liege beim Zuschauer (vgl. ebd., S. 94).
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Das für die hier angesprochene Urteilsfähigkeit des Publikums notwendige Erfordernis stellt nach Hannah Arendt mithin die Passivität der Zuschauer dar. Diese Überlegungen begründet sie im Weiteren auch in ihrer Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Schriften zur Urteilskraft. Arendt gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass auch Kants „Weltbürger“ ein „Welt-Zuschauer“ sei, „der eine Idee vom Ganzen hat und so entscheidet, ob in einem einzelnen, besonderen Ereignis Fortschritt erzielt wird“ (Arendt 1985, S. 79 f.). Das vorgestellte Verständnis Hannah Arendts von politischer Öffentlichkeit als Sphäre der das politische Geschehen kritisch beobachtenden Zuschauer erweist in der repräsentativen Demokratie seine Gültigkeit. Die Zuschauer vermögen es hier von einem unabhängigen Standpunkt außerhalb der Bühne, welche den politischen Akteuren vorbehalten ist, deren Aktivitäten zu kontrollieren und zu beurteilen. In heutigen Untersuchungen zum Kommunikationsverhältnis zwischen Akteur und Publikum wird oftmals eine Bildlichkeit verwandt, welche stark an die von Hannah Arendt geprägte erinnert. Dabei wird auch das Verhältnis von Akteur und Publikum in ähnlicher Weise beschrieben. So zeichnen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt die Foren öffentlicher Kommunikation mit dem Bild von „Arena und Galerie“. Der Erfolg der Arenenakteure werde letztlich auf der Galerie entschieden (Gerhards und Neidhardt 1991, S. 58). Mit der Entstehung der Massenmedien tritt neben Sprechern und Publikum eine dritte Größe in das soziale Feld der Öffentlichkeit (Schäfers 2003, S. 259 f.). Damit wird die Möglichkeit einer Institutionalisierung von Öffentlichkeit eröffnet, für welche die Anwesenheit der Kommunizierenden kein notwendiges Erfordernis mehr darstellt und die eine Ausdehnung des Publikums ermöglicht. Jürgen Gerhards gelangt deshalb für westliche Gesellschaften zu der Feststellung, „dass fast alle Bürger tagtäglich über die mediale Öffentlichkeit an der politischen Kommunikation partizipieren“ (Gerhards 1998, S. 270). Will man das Bild der griechischen Tragödie zur Beschreibung des heutigen Kommunikationsverhältnisses zwischen politischem Akteur und Publikum nutzen, so müssen die Massenmedien als weitere Größe im sozialen Feld der Öffentlichkeit hierbei Berücksichtigung finden. Diese können sodann mit dem Chor der griechischen Tragödie in eins gesetzt werden, welcher das Handeln der aktiven Spieler beobachtet, beschreibt und kommentiert. Die letztendliche Entscheidung über die im Schauspiel dargestellte Thematik verbleibt den passiven Zuschauern, die sich aufgrund ihrer spezifischen Position in der repräsentativen Demokratie außerhalb des Spiels die Fähigkeit zum Urteilen bewahren.
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3 Die erweiterte Denkungsart –,,politische Fähigkeit par excellence“ Doch wodurch soll sich das Urteilen im Politischen auszeichnen? Was macht die spezifische Qualität eines politischen Urteils aus? In dem für die politische Urteilskraft relevanten § 40 der Kritik der Urteilskraft legt Kant dar, dass man unter dem „sensus communis“ die „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen“ müsse, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde.“ (Kant 2000, S. 225; Hervorhebung, Orthografie und Interpunktion im Original). Voraussetzung für die Bildung eines Urteils durch ein Individuum stellt nach Kant mithin das Vorhandensein einer Pluralität von Urteilen anderer Individuen dar, die öffentlich zugänglich sein müssen. Auf dieser Grundlage ermöglicht das In-Bezug-Setzen des eigenen Urteils mit demjenigen anderer ein Absehen von den jeweiligen partikularen Interessen des Individuums und den Einbezug derjenigen Interessen, die dem politischen Gemeinwesen förderlich sind und nicht unbedingt mit den Privatinteressen konvergieren. Der Weg, wie diese Urteilsbildung vonstattengehen soll, wird von Kant wie folgt beschrieben: „Dies geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert (…)“ (Kant2000, S. 225; Orthografie und Interpunktion im Original). Die Bildung von Urteilskraft ist nach Kant folglich verbunden mit einem vorgestellten Dialog des Individuums. Dabei ist nicht Empathie als das gefühlsmäßige Hineinversetzen und Erfassen des Standpunktes des oder der anderen gefordert. Vielmehr gilt es für das Individuum, sich die Perspektive des oder der anderen bewusst zu machen, mit dem eigenen Standpunkt zu vergleichen beziehungsweise zu konfrontieren und schließlich in das eigene Urteil einzubeziehen (Benhabib 1998, S. 152 f.). Der Vorgang dieser geistigen Tätigkeit wird von Kant als „Operation der Reflexion“ bezeichnet, welche von der Maxime der Urteilskraft, „an der Stelle jedes andern denken“, bestimmt wird und auf diese Weise zu einer „erweiterten Denkungsart“ gelangt (Kant 2000, S. 226 f.). Hannah Arendt charakterisierte das von Kant definierte Vermögen der Urteilskraft – „an der Stelle jedes andern
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denken“ – als ,,politische Fähigkeit par excellence“ und erkennt diese Fähigkeit als bei den Bürgern der griechischen Polis gegeben. „Im Sinne der Polis“, so Arendt, „war der politische Mensch in seiner ihm eigentümlichen Ausgezeichnetheit zugleich der freieste, weil er die größte Bewegungsfreiheit vermöge seiner Einsicht, seiner Fähigkeit, alle Standorte zu berücksichtigen, hatte.“ Diese „Freiheit des Politischen“ hing von der „Anwesenheit und Gleichberechtigung Vieler“ ab, mithin von der Existenz einer politischen Öffentlichkeit und der Gleichheit der daran partizipierenden Bürger: „Wo diese gleichberechtigten anderen und ihre partikularen Meinungen abgeschafft sind, wie etwa in der Tyrannis, in der alle und alles dem einen Standpunkt des Tyrannen geopfert ist, ist niemand frei und niemand der Einsicht fähig, auch der Tyrann nicht.“ (Arendt 1993, S. 98). Der spezifische Bedingungszusammenhang von politischer Gleichheit und Öffentlichkeit sowie dem Vermögen der politischen Urteilsbildung wird hier in besonderer Weise augenfällig. Die Ausübung politischer Freiheit gründet folglich auf dem Vorhandensein von politischer Gleichberechtigung und Öffentlichkeit in einem Gemeinwesen, welche die Voraussetzungen für die Bildung politischer Urteilsfähigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern darstellen und somit die Praxis politischer Freiheit ermöglichen. Für den Weg zur Urteilsbildung essentiell ist nach Kant die „Operation der Reflexion“. In der Reflexion vermag das Individuum durch die Einbildungskraft das gegenwärtig zu machen, was abwesend ist. Einbildungskraft ist mithin das Vermögen der Repräsentation (Arendt 1985, S. 87; S. 104). Diese Fähigkeit erlaubt dem Zuschauer beim Urteilen die Abwägung möglicher Urteile von vorgestellten anderen und ermöglicht ihm durch diese „erweiterte Denkungsart“ die politische Urteilsbildung. Hannah Arendt bezeichnet das Vermögen, vermittels der Einbildungskraft zu einer erweiterten Denkungsart zu gelangen, auch als „kritisches Denken“ und veranschaulicht dieses wie folgt: „Kritisches Denken ist nur möglich, wo die Standpunkte aller andern sich überprüfen lassen. Kritisches Denken also isoliert sich nicht von,allen anderen´, auch wenn es noch immer ein,einsames´ Geschäft ist. Um zu verdeutlichen: Kritisches Denken spielt sich nach wie vor in der Einsamkeit ab; doch durch die Einbildungskraft macht es die anderen gegenwärtig und bewegt sich damit in einem Raum, der potenziell öffentlich, nach allen Seiten offen ist. Kritisches Denken nimmt, mit anderen Worten, die Position von Kants Weltbürger ein.“ (Arendt 1985, S. 60). Hannah Arendt erachtete die durch die erweiterte Denkungsart qualifizierte Urteilskraft im Kontext ihrer Überlegungen zur politischen Öffentlichkeit als eine „im spezifischen Sinne politische Fähigkeit“, als „Grundfähigkeit (…), die den Menschen erst ermöglicht, sich im öffentlich-politischen Raum, in der gemeinsamen Welt zu orientieren“ (Arendt 1994, S. 299).
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Für Arendt ist die „erweiterte Denkungsart“ die conditio sine qua non des „richtigen Urteils“, welches seine spezifische Gültigkeit durch den Appell an den Gemeinsinn, den sensus communis, erhält. Arendt gelangt deshalb zu dem Schluss: „Wenn man urteilt, urteilt man als ein Mitglied einer Gemeinschaft.“ (Arendt 1985, S. 96 f.). Allerdings bedeutet die Einbeziehung von Standpunkten bzw. Perspektiven anderer in das eigene politische Urteil nicht die Angleichung desselben an jene. Einbeziehung meint hier nicht die Anpassung des eigenen politischen Urteils an dasjenige anderer oder die Orientierung an der Mehrheit der politischen Urteile anderer. Mit der Einbeziehung der politischen Urteile anderer im Sinne der erweiterten Denkungsart wird hier die Akkommodation des eigenen (Vor-) Urteils an die politischen Urteile anderer in dem Sinne verstanden, dass diese für die eigene politische Urteilsbildung eine angemessene Berücksichtigung finden. Durch die Akkommodation des eigenen Urteils an diejenigen anderer bleibt jenes nicht länger subjektiv und zeichnet sich durch seine Gültigkeit im Prozess der politischen Öffentlichkeit aus (Arendt zitiert nach Beiner 1985, S. 138 und Arendt 1985, S. 96 f.). Der Grad der Akkommodation des eigenen Urteils an das politische Urteil anderer kann freilich nicht im Voraus bestimmt werden, sondern obliegt der individuellen Entscheidung der Schülerin oder des Schülers. Hannah Arendt hat die Entwicklung eines eigenständigen Urteils, welches sich gleichwohl durch intersubjektive Gültigkeit auszeichnet, in einer unveröffentlichten Vorlesung eindrucksvoll beschrieben: „Stellen Sie sich vor, ich schaute auf ein bestimmtes Wohnhaus in einem Slum und würde in diesem besonderen Gebäude die allgemeine Vorstellung, die es nicht direkt ausdrückt, erkennen: die Vorstellung von Armut und Elend. Ich gelange zu dieser Vorstellung, indem ich mir vergegenwärtige, repräsentiere, wie ich mich fühlen würde, wenn ich dort zu leben hätte. Das heißt: Ich versuche, vom Standort des Slumbewohners aus zu denken. Das Urteil, zu dem ich komme, wird keinesfalls unbedingt das gleiche sein wie das der Bewohner, bei denen die Zeit und die Hoffnungslosigkeit eine Abstumpfung gegenüber ihren schändlichen Lebensbedingungen bewirkt haben mögen; aber es wird für mein weiteres Urteilen in diesen Angelegenheiten ein außergewöhnliches Beispiel werden, auf das ich zurückgreife… Mehr noch, auch wenn ich beim Urteilen andere berücksichtige, so heißt das nicht, dass ich mich in meinem Urteil den Urteilen anderer anpasse. Ich spreche noch immer mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht eine Majorität aus, um zu dem zu gelangen, was ich für richtig halte. Allerdings ist mein Urteil auch nicht länger subjektiv.“ (Arendt zitiert nach Beiner 1985, S. 138). Bei ihrer Suche nach einer Erklärung für die politischen Übel des 20. Jahrhunderts ist für Hannah Arendt die Analyse des Urteils gleichfalls zentral. Sie
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erachtet die Weigerung zu urteilen, so Ronald Beiner, als „Quelle der größten Übel im politischen Bereich, des Bösen des Totalitarismus, wie es in klaren Umrissen bei Eichmann zum Ausdruck kommt“ (Beiner 1985, S. 144) – „in der Weigerung zu urteilen, d. h. Fehlen der Einbildungskraft, d. h. nicht die anderen, die man repräsentieren muss, vor den eigenen Augen präsent haben und berücksichtigen.“ (Arendt zitiert nach Beiner 1985, S. 144). Für Arendt stellt in moralischer wie politischer Hinsicht die größte Gefahr für die Entwicklung eines Gemeinwesens die Indifferenz sowie die ihrer Ansicht nach heute „weit verbreitete Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern“, dar. Aus dem „Unwillen oder der Unfähigkeit“, so Arendt, „durch das Urteil mit anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ,skandala‘, die wirklichen Stolpersteine, die menschliche Macht nicht wegräumen kann, weil sie nicht durch menschliche oder für die Menschen verständliche Motive verursacht worden sind. Darin liegt der Schrecken und, gleichzeitig, die Banalität des Bösen.“ (Arendt zitiert nach Beiner 1985, S. 145). Dagegen ermöglicht die erweiterte Denkungsart in der politischen Öffentlichkeit eine intersubjektive Verständigung, welche sowohl die wohlverstandenen Eigeninteressen der Individuen als auch die der anderen berücksichtigt und in das politische Urteil integriert. Zwar kann in einem demokratischen Gemeinwesen den Bürgerinnen und Bürgern eine Gemeinwohlorientierung, so Jürgen Habermas, nicht zur Rechtspflicht gemacht, sondern nur „angesonnen“ werden. Doch ist diese in einem gewissen Maße gleichwohl nötig, „weil die demokratische Gesetzgebung ihre legitimierende Kraft allein aus einem Prozess der Verständigung der Staatsbürger über die Regeln ihres Zusammenlebens ziehen kann“. Die Bürgerinnen und Bürger dürften deshalb „nicht in der erfolgsorientierten Einstellung selbstinteressierter Marktteilnehmer“ verharren, sondern müssten von ihren „politischen Freiheiten“ auch, im Sinne von Kants „öffentlichem Vernunftgebrauch“, einen „verständigungsorientierten Gebrauch“ machen. Dieses „auch“ lasse es mithin zu, dass die Gemeinwohlorientierung „nur noch in kleiner Münze erhoben“ werden müsse (vgl. Habermas 1996, S. 311 f.; Hervorhebungen im Original). Die politische Urteilskraft, welche sich durch die erweiterte Denkungsart qualifiziert, stellt somit einen wesentlichen Faktor für den Fortbestand unseres demokratischen Gemeinwesens dar. Vor diesem Hintergrund muss die Methode des vergleichenden Abwägens zwischen dem eigenen interessengeleiteten Standpunkt und dem oder der Standpunkte anderer in der Reflexion des Individuums bei der begrifflichen Bestimmung politischer Urteilsbildung als essenzielles Qualitätsmerkmal Berücksichtigung finden. Erst die erweiterte Denkungsart erlaubt dem Individuum die Bildung eines öffentlichen, den sensus communis
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ermöglichenden politischen Urteils. Wird der Standpunkt der anderen bei der eigenen Urteilsbildung nicht mit einbezogen, bleibt der gebildete eigene Standpunkt die Vertretung des subjektiven Partikularinteresses und kann schlechterdings nicht als politisches Urteil bezeichnet werden. Allein der Prozess der Vermittlung des eigenen Standpunktes mit dem oder den der anderen im vorgestellten oder wirklichen Dialog führt zur Bildung eines politischen Urteils, welches im öffentlich-politischen Raum als solches Gültigkeit beanspruchen kann. Diese für die politische Urteilsbildung erforderliche erweiterte Denkungsart kann jedoch schlechterdings nicht stets mit der Sichtweise eines oder mehrerer authentischer Gegenüber vorgenommen werden, da hierzu nicht jederzeit ein entsprechender Gesprächspartner zur Verfügung steht. Darüber hinaus stellt die Anwesenheit der Kommunizierenden in der heutigen politischen Öffentlichkeit aufgrund der Vermittlung der diversen politischen Positionen durch die Massenmedien ohnehin kein notwendiges Erfordernis mehr dar. Für die politische Urteilsfähigkeit hinsichtlich der diversen politischen Problemlagen im Bereich der Außenpolitik ist angesichts der Ermangelung einer tatsächlichen Perspektive eines anderen die geistige Vergegenwärtigung einer vorgestellten Perspektive, eventuell angeregt durch die massenmedial übermittelten politischen Standpunkte anderer, notwendig. Die politische Urteilsbildung des Individuums erfordert somit durch Einbildungskraft und Antizipationsvermögen die Durchführung eines vorgestellten Dialogs, eines geistigen Zwiegesprächs, unter Einbeziehung der vorgestellten oder massenmedial vermittelten politischen Positionen anderer. Durch diese geistige Tätigkeit gelangt das Individuum schließlich zu einem politischen Urteil, welches ihm als Zuschauer die Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit ermöglicht. Diese Teilhabe gestaltet sich in unserer repräsentativen Demokratie insbesondere als stetige Kontrolle der politischen Akteure. Darüber hinaus dient die politische Urteilsbildung selbstredend den Bürgerinnen und Bürgern zur Entscheidungsfindung bei Wahlen sowie etwaigen weiteren politischen Aktivitäten wie der Beteiligung an Bürgerinitiativen et cetera. Der Prozess der politischen Urteilsbildung bedarf weiterhin einer regulativen Idee, welche als Soll-Instanz einen wertenden Maßstab für die Angemessenheit der letztlich vom Individuum nach der Abwägung und Einbeziehung verschiedener Perspektiven zu fällenden politischen Entscheidung bietet. Dieser Maßstab kann in politischer Hinsicht mit den universalen Menschenrechten und moralisch mit der Goldenen Regel angegeben werden, wodurch das politische Urteil gleichfalls eine moralische Qualität erhält: Das politische Urteil erfordert nach der Ermittlung der eigenen Interessen auch das Absehen von diesen und den Einbezug der Interessen anderer durch einen Wechsel der Perspektive. Durch die Berück-
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sichtigung der Goldenen Regel – „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Matthäus 7. 12) – bei dieser verschiedene Interessen abwägenden politischen Entscheidungsfindung vermag das Individuum sodann zu einem politischen Urteil zu gelangen, welches die Anerkennung der universalen Menschenrechte sowie den politischen Gleichheitsgrundsatz impliziert. Das solchermaßen qualifizierte politische Urteil zeichnet sich mithin durch einen auf das Wohl des gesamten politischen Gemeinwesens gerichteten Gemeinsinn aus. Gemeinsinn wird hier verstanden als eine „motivationale Handlungsdisposition von Bürgern und politisch-gesellschaftlichen Akteuren“, welche auf das normative Ideal des Gemeinwohls ausgerichtet ist (Münkler und Bluhm 2001, S. 13). Herfried Münkler und Harald Bluhm gelangen deshalb zu dem Schluss: „Gemeinwohl ist das normative Ideal, das uns implizit auch sagt, wie viel Gemeinsinn wir aufbringen müssen, um die im Gemeinwohlbegriff umschriebenen Resultate des politischen Prozesses zu erreichen. Es bedarf aber eines Mindestmaßes an Gemeinsinn, damit wir überhaupt motiviert werden, uns für ein normatives Gemeinwohl-Ideal zu interessieren.“ (ebd.) Die „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ als „Beurteilungsvermögen“ (Kant 2000, S. 225), der Gemeinsinn, erweist sich somit als politische Kategorie, welche sowohl politische wie auch moralische Merkmale impliziert. Die erweiterte Denkungsart vermag vor diesem Hintergrund das politische Urteil des Individuums durch den entsprechenden Gemeinsinn zu qualifizieren, der für das in unserer pluralistischen Gesellschaft a posteriori zu ermittelnde Gemeinwohl erforderlich ist. In diesem Abwägungsprozess zwischen dem eigenen politischen Standpunkt und den Standpunkten der tatsächlichen oder vorgestellten anderen kommen die in diesen Standpunkten enthaltenen verschiedenen Interessen im Hinblick etwa auf die weitere Entwicklung der Demokratie, der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Umwelt gleichfalls zur Geltung. Erst durch diese Gerichtetheit auf die eigenen wie auf die Interessen anderer im politischen Gemeinwesen wird ein Urteil im Bereich der politischen Öffentlichkeit zu einem explizit politischen Urteil. Das von dem Individuum gewonnene Urteil behält somit zum einen den Charakter der Eigenständigkeit, zum anderen ist es durch die Einbeziehung der politischen Perspektiven anderer nicht länger nur subjektiv auf die eigene Interessenlage bezogen. Darüber hinaus erkennt das Individuum durch die Einbeziehung der Sichtweise des oder der anderen die Perspektivität des eigenen Urteils an. Die didaktische Aufgabe des Politikunterrichts, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass es nicht das „richtige“ politische Urteil gibt (Massing 2003, S. 92), die unterschiedlichen Urteile der Mitschülerinnen und Mitschüler stattdessen in ihrer Pluralität anzuerkennen sind, wird mithin durch die erweiterte Denkungsart unterstützt.
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Resümierend kann hier festgehalten werden, dass die Einbeziehung anderer politischer Haltungen im Sinne der erweiterten Denkungsart für die Bildung des eigenen politischen Urteils konstitutiv ist, wenn dieses über die Vermittlung und Vertretung des bloßen politischen Eigeninteresses hinausreichen soll. Durch die Einbeziehung anderer politischer Urteile als etwaiges Korrektiv für das eigene politische Urteil kann der Gefahr der einseitigen Vertretung individuell partikularer Interessen vorgebeugt und ein durch die erweiterte Denkungsart qualifiziertes politisches Urteil gebildet werden. In Ermangelung der permanenten Präsenz von Gesprächspartnern kann dieser Austausch auch als geistige Vergegenwärtigung medial vermittelter oder angenommener Urteile anderer in der Reflexion des Individuums erfolgen. Der Geltungsanspruch für das politische Urteil eines Individuums besteht in dessen prinzipieller Zustimmungsfähigkeit durch die anderen. Diese Akzeptabilität ergibt sich aus der spezifischen Synthese des politischen Urteils durch die erweiterte Denkungsart, in welcher sowohl die Eigeninteressen des Individuums wie auch diejenigen der anderen und die gemeinsamen politischen Werte Berücksichtigung finden. Damit ist das politische Urteil auf das pluralistische Gemeinwesen gerichtet und erfüllt durch den Umstand, dass es idealiter allen anderen angesonnen werden kann, das Kriterium der Reziprozität. Durch seinen normativen Gehalt kann ein solches Urteil eines Individuums weder ‚wahr‘ noch ‚falsch‘ sein, sondern muss sich im Prozess der Verständigung mit anderen als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt erweisen. Auf dieser Grundlage schlage ich für das politische Urteil folgende Begriffsdefinition vor: Ein politisches Urteil zeichnet sich durch das verständigungsorientierte Abwägen des Eigeninteresses des Individuums mit den tatsächlichen oder vorgestellten Interessen anderer unter der Maßgabe seiner Gerichtetheit auf Gemeinsinn in Bezug auf einen in der politischen Öffentlichkeit thematisierten Sachverhalt aus. Die politische Urteilsbildung gestaltet sich dabei vorwiegend als geistige Tätigkeit vermittels des inneren Zwiegesprächs, wodurch sich die Bürgerinnen und Bürger als reflektierte Zuschauer in der repräsentativen Demokratie qualifizieren, im politischen Räsonnement die aktiv Handelnden zu beurteilen und damit zu kontrollieren. Die politische Bildung ist folglich insofern für die Demokratie funktional, als sie durch das Nachgehen ihrer zentralen Aufgabe, der Befähigung der Schülerinnen und Schüler zu politischer Urteilsbildung, die Grundlage für die potenzielle Teilhabe aller (späteren) Bürgerinnen und Bürger an der politischen Öffentlichkeit legt. Die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Öffentlichkeit ist für das demokratische Gemeinwesen konstitutiv, wenn die Demokratie nicht zu einer formalen Herrschaftsform ohne
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normativen Gehalt verkommen soll. Dabei ist die Quantität der zur Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit qualifizierten Bürgerinnen und Bürger nicht ohne Belang. Arnold Bergstraesser, der in seinen Ausführungen über die Lehrgehalte der politischen Bildung der Bedeutung der Ausbildung zur Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nachging, gelangte in diesem Zusammenhang zu dem Schluss: „Wollen wir einen urteilsfähigen politischen Zeitgenossen erziehen, dann muss er imstande sein, mit anderen Staatsbürgern und gleichsam für den handelnden Staatsmann die Entscheidung auf die Zukunft hin vorauszudenken. Je dichter und breiter die Basis der Pyramide ist, an deren Spitze die dazu befugten öffentlichen Organe ihre Entscheidungen fällen, je weniger diese aus zahllosen Einzel- und Gruppenurteilen sich bildende öffentliche Meinung dem Gefühl und der Konvention, je mehr sie der begründeten Einsicht entspringt, desto kräftiger wird der innere Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates und desto sicherer werden seine Entscheidungen sein.“ (Bergstraesser 1966, S. 305). Die auf intersubjektive Verständigung gerichtete politische Urteilskraft bildet indessen nicht nur einen essenziellen Faktor für den inneren Bestand des demokratischen Gemeinwesens – auch und gerade angesichts der zunehmenden kulturellen Vielfalt moderner Gesellschaften (siehe in diesem Kontext auch Benhabib 1998, S. 327). Die wachsende Interdependenz in der Staatenwelt erfordert darüber hinaus für die politische Urteilsbildung heute eine erweiterte Denkungsart, welche den Standort von Bürgerinnen und Bürgern anderer Länder mit einbezieht. Einen Ansatz hierfür bieten Immanuel Kants Überlegungen hinsichtlich einer kosmopolitischen Öffentlichkeit sowie Hannah Arendts im Anschluss daran entwickelte normative Prämisse des Urteilens, wonach man sich beim Urteilen sowie beim Handeln in politischen Angelegenheiten an der Idee des „Weltbürger-Seins und damit auch des Weltbetrachter-Seins orientieren“ soll (Arendt 1985, S. 100). Entsprechend sollte sich gleichfalls die auf die europäische Öffentlichkeit oder auf die Weltöffentlichkeit bezogene politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger durch die abwägende Einbeziehung der jeweils anderen Perspektiven qualifizieren. Dadurch kann ein verständigungsorientiertes politisches Urteilen bzw. Handeln gefördert werden.
4 Urteilen und Handeln Zur Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Politischen und der politischen Ökonomie trägt das Theater bei, das als soziale Institution sich mit klassischen wie aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzt. Das Theater ist von alters her mit dem Politischen verwoben. Zur Zeit
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der ersten, der athenischen Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr., kamen den Theateraufführungen am Südhang der Akropolis die Aufgabe zu, existenzielle Herausforderungen der politischen Öffentlichkeit zu thematisieren und bei den Zuschauern einen Reflexionsprozess auszulösen, der ihre politischen Handlungen im weiteren Sinne anleiten konnte. Die Aufführungen fanden räumlich in unmittelbarer Nähe der Pnyx statt, dem Ort der Volksversammlungen und -entscheidungen der attischen Demokratie. Die klassischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides verhandeln jedoch keine aktuellen politischen Konflikte, nehmen keinen Bezug zur Tagespolitik und verweisen nicht auf real agierende politische Persönlichkeiten. Das Politische erscheint vielmehr transformiert im Mythos und ist eingebettet in übergreifende, existenzielle Fragen des menschlichen Daseins. Gerade diese Verwobenheit politischer Konflikte mit zeitlosen Herausforderungen der menschlichen Existenz lässt die 2500 Jahre alten Tragödien auch für heutige Zeitgenossen zu narrativen Quellen werden, die uns zur Reflexion über politische wie existenzielle Fragen inspirieren und uns in einen Dialog mit anderen zu diesen übergreifenden Fragen treten lassen. Aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten ist der Mensch dazu in der Lage, bewusst zu handeln, sein Leben und das gemeinsame Zusammenleben in der Polis zu gestalten, was auch misslingen kann. Doch aus diesen Niederlagen kann der Mensch wie der Polis-Bürger gestärkt hervorgehen, wenn er zum Lernen aus den leidvollen Erfahrungen bereit ist. Die Tragödien mit ihren ausweglosen Konflikten auf der Ebene des Mythos ermöglichen den Zuschauern Erfahrungen und Einsichten, die sie für die Gestaltung ihrer eigenen Lebenspraxis und für ihr Bürger-Sein nutzen können. Diese Möglichkeit wurde im antiken Athen zur Zeit der Demokratie durch eine umfängliche Subventionspolitik des Theaterbetriebs samt dessen Besuch unterstützt. Die Dionysien, in deren Rahmen die Tragödien in Athen aufgeführt wurden, waren von der Polis organisierte Feste, die von etwa 14.000 bis 17.000 Zuschauern besucht wurden, was „einem Drittel bis fast der Hälfte der Vollbürger der Stadt und einem beträchtlichen Anteil der sich damals auf circa 200.000 Einwohner belaufenden Gesamtbevölkerung ganz Attikas [entsprach; I. J.]. Auf alle Fälle kann die Zahl repräsentativen Charakter beanspruchen und sie ist weitaus größer als die Menge von 6000, die sich zur Volksversammlung auf der Pnyx trifft.“ (Bierl 2007, S. 50). Der didaktische Nutzen, den sich die Polis für ihren politischen Zusammenhalt durch den Theaterbesuch ihrer Bürger versprach, wird weiterhin in der Maßnahme augenfällig, den „Besuch der Wettbewerbe durch die Bezahlung einer Lohnentschädigung von zwei Obolen für Ärmere“ zu unterstützen (vgl. ebd.).
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Nun stellt die Demokratie allerdings eine auch im Hinblick auf die Bildung ihrer Bürger sehr voraussetzungsvolle Regierungsform dar – die politische Urteilsfähigkeit des Demos wie die politische Bildung der athenischen Bürger allgemein stellen eine konstitutive Voraussetzung für die demokratische Herrschaftsordnung dar. Die Bürger brauchten, so der Althistoriker Christian Meier, „Kenntnisse und etwa die Fähigkeit, Reden und Vorschläge von Politikern zu beurteilen“ (Meier 1988, S. 9). Vor diesem Hintergrund kann die Entstehung der Tragödie während der Hochzeit der ersten Demokratie als mit dieser Regierungsform verknüpft angesehen werden – es bestand ein „sehr enger Zusammenhang zwischen Tragödie und Politik“, die Tragödie kann, so Christian Meier, als ein „ganz besonderes Beispiel“ dafür erachtet werden, „dass sich die Arbeit eines Gemeinwesens an seiner mentalen Infrastruktur in aller Öffentlichkeit vollzieht“ (Meier 1988, S. 11; S. 10). Das Theater in Athen, die dort aufgeführten Tragödien, können vor diesem Hintergrund als Möglichkeit erachtet werden, der – von den Demokratiekritikern dem einfachen Volk unterstellten – mangelnden politischen Urteilsfähigkeit entgegenzuwirken. Die Tragödie ist die „einzige Gattung der damaligen Literatur […], in der die mittleren und unteren Schichten für uns ‚anwesend‘ sind; beteiligt zwar nur als Rezipienten, trotzdem in einem gewissen Sinn maßgebend. Insofern kann man aus den Tragödien auf das schließen, was sie beschäftigt, ja umgetrieben hat.“ (Meier 1988, S. 12). Die Verbindung zum Politischen ist im Theater von seiner Entstehung vor 2500 Jahren bis heute erhalten geblieben, obgleich diese Verbindung oftmals nicht explizit erscheint, vielfach auch nicht bewusst beabsichtigt ist: „‚Irgendwie‘ wissen wir, dass Theater trotz allem in einer besonderen Weise zwar nicht direkt politisch ist, aber doch in der Praxis seiner Entstehung und Produktion, seiner Darbietung und seiner Rezeption durch die Zuschauer eine eminent ‚soziale‘, eine gemeinschaftliche Sache ist. Das Politische ist ihm einbeschrieben, durch und durch, strukturell und ganz unabhängig von seinen Intentionen.“ (Lehmann 2012, S. 20). Der Besuch des Theaters weist einen besonderen Zugang zum Politischen auf, denn im Mittelpunkt des Bühnengeschehens, des Dramas, steht das menschliche Handeln. Handeln seinerseits stellt nach den Überlegungen von Hannah Arendt zur Condition humaine neben Arbeiten und Herstellen eine menschliche Grundtätigkeit dar. Allerdings stelle „Handeln die einzige Tätigkeit der Vita activa [dar], die sich ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern. Zwar ist menschliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten auf das Politische bezogen, aber die Bedingtheit durch
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Pluralität steht zu dem, dass es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch einmal in einem ausgezeichneten Verhältnis.“ (Arendt 2001, S. 17). Auf der Bühne des Theaters findet das menschliche Handeln durch die Schauspieler in ihren unterschiedlichen Rollen seinen pluralen Ausdruck – Drama bezeichnet im Griechischen das Substantiv für Handeln. Entsprechend gelangt Hannah Arendt zu der Feststellung: „Die Bühne des Theaters ahmt in der Tat die Bühne der Welt nach, und die Schauspielkunst ist die Kunst ‚handelnder Personen‘.“ Für Arendt ist deshalb „das Theater denn in der Tat die politische Kunst par excellence; nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so weit transfiguriert werden, dass sie sich der Kunst eignet. Zugleich ist das Schauspiel die einzige Kunstgattung, deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet.“ (Arendt 2001, S. 233 f.) Der Theaterbesuch und die Thematisierung von Theaterstücken in der politischen Bildung ermöglicht in besonderer Weise die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des menschlichen Handelns, das in der pluralistischen Demokratie ein konstitutives Element bildet. Dabei ist die mimetische Praxis des Theaters nicht auf die Abbildung konkreter Menschen ausgerichtet. Vielmehr ist es, so Aristoteles, der Tragödiendichtung darum zu tun, das menschliche Handeln an sich als Lebensvollzug in einem politisch-sozialen Kontext darzustellen – „Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit“ (Aristoteles 1994, S. 21). Durch die Beschäftigung mit Theaterstücken respektive dem Besuch von Theateraufführungen können in der politischen Bildung Erfahrungen mit den allgemeinen wie spezifisch politisch-sozialen Handlungsmöglichkeiten von Menschen, der prinzipiellen Offenheit und Kontingenz menschlichen Handelns sowie dem immer wieder Anfangen-Könnens im Bereich des Politischen gemacht werden.
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„Wo das Sprechen aufhört, hört Politik auf“ (Hannah Arendt) – Politische Bildung im Modus des Politischen Tonio Oeftering
1 Das Politische als Modus Während eines Besuchs bei ihrem Lehrer Karl Jaspers in Basel unterbreitet der Verleger Klaus Piper Hannah Arendt das Angebot, eine der bereits 1950 erschienenen „Einführung in die Philosophie“ von Karl Jaspers (Jaspers 1994) vergleichbare „Einführung in die Politik“ zu publizieren.1 Arendt nimmt das Angebot an, macht einige Zeit später in einem Brief an Piper jedoch deutlich, dass es ihr nicht darum gehe, eine „Einführung in die Staatswissenschaft oder in Politik ‚als Wissenschaft‘ zu schreiben“ (Arendt zit. nach Ludz 2007, S. 137).
1Zu
einer Veröffentlichung der „Einführung“ ist es nie gekommen. Die von Arendt zu diesem Projekt verfassten Manuskripte sind jedoch zugänglich (Arendt 2007). Dieser Beitrag fasst meine ersten bereits publizierten Gedanken zu Hannah Arendts Begriff des Politischen und seiner Bedeutung für die politische Bildung (Oeftering 2012, ausführlich 2013) in komprimierter und um einige neue Aspekte erweiterter Form zusammen (Stand: 05/2016). Er ist Dr. Hans-Georg Merz gewidmet, der mich während meiner Promotion so unermüdlich mit Literatur zu Hannah Arendt versorgt hat und dem gebührend zu danken ich an anderer Stelle leider versäumt habe.
T. Oeftering (*) Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_4
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Vielmehr wolle sie sich mit der Frage auseinandersetzen, „was Politik eigentlich ist und mit welchen Grundbedingungen menschlichen Daseins das Politische zu tun hat“ (ebd.). An der zitierten Briefstelle fällt auf, dass Arendt schreibt, sie wolle keine Einführung in die Politik als Wissenschaft schreiben, sondern der Frage nachgehen, was Politik eigentlich sei und mit welchen Grundbedingungen menschlichen Daseins das Politische zu tun habe. Diese terminologische Differenzierung ist von zentraler Bedeutung, denn Arendts „Lebensthema“ (Brokmeier 2007, S. 27) war in der Tat nicht die Politik, sondern das Politische. Was ist mit dieser Unterscheidung von der Politik und dem Politischen gemeint?2 Das Politische ist, so Ernst Vollrath, „kein essentiales oder substanzielles Sein, sondern ein modales. Es ist eine Praktik […], ein ‚Wie‘, kein ‚Was‘.“ (Vollrath 1987, S. 48) Und weiter heißt es, „das Politische meint […] eine adverbiale Modalität, eine Art und Weise zu sein, sich zu ereignen und zu vollziehen“ (ebd., S. 50). Es ist „die phänomenal in der Welt der Menschen auftretende und erscheinende Modalität einer bestimmten Art der Beziehung von Menschen untereinander, die als die politie-hafte bestimmt werden wird“ (ebd., S. 45). Und genau darum, diese „bestimmte Art der Beziehung“, diese „Seinsart“, dieses „Wie“ zu beschreiben, geht es Hannah Arendt, wenn sie der Frage nachgeht, was „Politik eigentlich ist“ und mit welchen „Grundbedingungen menschlichen Daseins das Politische zu tun hat“. Wenn wir von dem Politischen sprechen, dann sprechen wir also nicht von politischen Institutionen, Akteuren oder von politisch-inhaltlichen Programmen; denn all dies wäre das „Was“ der Politik, das wir als die „politische Realität“ in Abgrenzung zu dem „Wie“ des Politischen beschreiben können (vgl. Kirchner 2000, S. 65 ff.). Im Folgenden wird entlang der Arendtschen Auslegung der Begriffe Pluralität, Freiheit und Natalität skizziert, welche Grundbedingungen menschlichen Daseins Arendt in ihrem Brief an Piper gemeint hat und worin dieser Modus des Politischen für Arendt besteht.
2S.
hierzu ausführlich Brokmeier (2007), Vollrath (1987, 29 ff.), Sternberger (1982).
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1.1 Die Grundlage von Politik: Pluralität „Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.“ (Arendt 2007, S. 9) Dieser Satz steht ganz am Anfang der Manuskripte zu der geplanten „Einführung in die Politik“ und der prominenten Position im Text entspricht der für den Gegenstand grundlegende Stellenwert der Aussage: Ohne die Pluralität der Menschen gäbe es keine Politik. Pluralität bedeutet für Arendt mehr als bloße Vielzahl, in dem Sinne wie es etwa eine Vielzahl von Bäumen oder Tieren gibt. Pluralität ist für Arendt ein spezifisch menschliches Phänomen, das sich in der paradoxen Tatsache äußert, dass sie sich sowohl als Gleichheit und gleichzeitig als Verschiedenheit der Menschen zeigt. Die relative Gleichheit der Menschen liegt darin begründet, dass sie über die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen, verfügen, in einer Welt leben und sich als Gleichwertige empfinden und anerkennen können. Mit Verschiedenheit hingegen ist „das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen“ (Arendt 2008, S. 213) gemeint. Die Tatsache also, dass allen Gemeinsamkeiten in der Physiognomie und den geistigen Dispositionen zum Trotz jeder Mensch über eine Individualität verfügt, die ihn von allen Menschen, die vor ihm waren, zur gleichen Zeit sind oder auch nach ihm sein werden, unterscheidet. Hinzu kommt, dass die Menschen ihre Einzigartigkeit aktiv zum Ausdruck bringen. Dass sie also im Unterschied zu einem Tier nicht nur etwas, sondern sich mitteilen. Und die Art und Weise, wie die Einzigartigkeit eines jeden Menschen zum Ausdruck kommt, ist das Sprechen und das Handeln. Diese beiden Tätigkeiten sind „die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart“ (ebd., S. 214) und nur in ihnen kommt ein aktives Sich-voneinander-Unterscheiden, im Gegensatz zu einem bloßen VerschiedenSein, zum Ausdruck. Damit wird deutlich, dass Arendt wirklich nach den Grundbedingungen menschlichen Daseins fragt, wobei das Phänomen der Pluralität nur scheinbar über den politischen Bereich hinausweist. Denn der Zusammenhang von Pluralität und dem Politischen besteht darin, dass das Sprechen und Handeln der Menschen nicht nur der Modus ist, in dem die Menschen ihr Menschsein zum Ausdruck bringen, sondern dass Sprechen und Handeln zugleich die Tätigkeiten sind, die den Modus des Politischen im Kern ausmachen – was nichts Anderes heißt, als das der Modus des Politischen selbst eine Grundbedingung des Daseins ist. Arendt bezieht sich hier auf Aristoteles und die in seinem Werk „Politik“ niedergeschriebenen berühmten „Definitionen“ des Menschen als zoon politikon
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und als zoon logon echon (vgl. Aristoteles 1990, Pol I, 2, 1253a). In ihrer Interpretation dieser Definitionen zeigt sich Arendt allerdings als Heidegger-Schülerin, das heißt, sie folgt einer Interpretation, die sich von der auf Aristoteles folgenden Tradition der Philosophie deutlich unterscheidet. Denn dort wird immer wieder der Gedanke formuliert, der Mensch sei von Natur aus ein zoon politikon, ein politisches Lebewesen. Dieser essenzialistischen Vorstellung liegt die Annahme zugrunde, dass „es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre.“ (Arendt 2007, S. 11) Dem hält Arendt entgegen: „Dies gerade stimmt nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen.“ (ebd.) Im Politischen geht es ihr zufolge also immer um das „Zusammen- und MiteinanderSein der Verschiedenen“ (ebd., S. 9) – also um die Pluralität der Menschen. In dem Abschnitt der „Politik“, in dem Aristoteles den Menschen als zoon politikon beschreibt, findet sich auch seine zweite berühmte „Definition“ des Menschen, nach der dieser auch ein zoon logon echon ist, also ein Lebewesen im Besitz des logos (vgl. Aristoteles 1990, Pol I, 2, 1253a). Arendt zeigt auch hier ein „fundamentale[s] Missverständnis“ (Arendt 2008, S. 37) auf, dass sie, wie schon beim zoon politikon, nicht bei Aristoteles selbst, sondern in einer „fehlerhaften“ Übersetzung durch die auf Aristoteles folgende Tradition der Philosophie begründet sieht. Denn der lateinische Begriff des „animal rationale“ als Übersetzung für das zoon logon echon umfasst eine entscheidende Akzentverschiebung, weil „ratio“ hier in erster Linie mit „Vernunft“ gleichgesetzt wird, bei Aristoteles der Begriff „logos“ jedoch eher für „Rede und Rechenschaftsfähigkeit“ (Held 1991, S. 162) steht. Schon Heidegger merkte bezüglich des zoon logon echon an, dass die lateinische Auslegung im Sinne von animal rationale, also „vernünftiges Lebewesen“, zwar nicht „falsch“ sei, sie aber den phänomenalen Boden verdecke, auf dem diese Definition beruht: „Der Mensch zeigt sich als Seiendes, das redet.“ (Heidegger 2006, S. 165) Dementsprechend heißt es bei Aristoteles, unter Berücksichtigung der Übersetzung von logos als Sprache, im Original: „Nun ist aber einzig der Mensch unter allen animalischen Wesen mit der Sprache [logos] begabt. Die Stimme [phoné] ist das Zeichen für Schmerz und Lust und darum auch den anderen Sinneswesen verliehen […]. Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte [dikaion] und das Ungerechte [adikon] anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut [agathon] und Böse [kakon], für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (Aristoteles 1990, Pol I, 2, 1253a, S. 9 ff.)
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Zusammengefasst heißt dies, dass der Mensch, insofern er ein zoon politikon und ein zoon logon echon ist, erst dann ein politisches Lebewesen wird, wenn er seine private Sphäre, den oikos, verlässt und sich in die öffentliche Sphäre, die polis, begibt und dort von seinem logos Gebrauch macht, also sprechend und handelnd mit anderen Menschen tätig wird. Der fundamentale Zusammenhang zwischen der Pluralität und dem Politischen zeigt sich also auch darin, dass der Raum der Pluralität und der Raum des Politischen für Arendt identisch sind (vgl. Arendt 2002, S. 295) – das Politische ist nur realisierbar in der Anwesenheit einer Mitwelt.
1.2 Der Sinn von Politik: Freiheit „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ (Arendt 2007, S. 28) Dies dürfte der meist zitierte Satz Hannah Arendts sein. Allerdings wird er häufig zitiert, ohne dass seine Bedeutung voll erschlossen wäre. Um die Tragweite des Satzes zu ermitteln, ist zunächst drauf hinzuweisen, dass Arendt ganz bewusst nicht schreibt, Freiheit sei der Zweck oder das Ziel von Politik. Dies ist bedeutsam, weil der Sinn einer Sache, im Unterschied zu ihrem Zweck oder ihrem Ziel, „in ihr selbst beschlossen“ (ebd., S. 203) liegt. Freiheit so verstanden ist also nicht im Ergebnis von Politik, sondern nur im Vollzug derselben, also im politischen Sprechen und Handeln mit den anderen polites selbst zu finden. Die Vorstellung, dass Freiheit nicht einer einzelnen Person zukommt, sondern sich erst durch die Anwesenheit einer Vielzahl von Menschen entfalten kann, bedeutet aber auch, dass der Einzelne als Individuum in seiner Vereinzelung niemals frei sein kann. Frei sein kann nur derjenige, der den politischen Raum betritt und in diesem agiert. Dieser Begriff von Freiheit erscheint zunächst ungewöhnlich. Zu sehr sind wir es gewohnt, Freiheit und Politik in einer Zweck-Mittel-Relation zu denken: Politik ist das Mittel, das den Zweck der Freiheit zu erfüllen hat. Wir erwarten also nicht, im politischen Handeln selbst Freiheit zu finden, sondern wir erwarten von den politisch Handelnden, dass sie uns Freiheit ermöglichen. Wir suchen nicht die Freiheit in der Politik, sondern wir wünschen uns die Freiheit von der Politik. Und zwar sowohl in dem Sinne, dass uns Politik individuelle Freiheit ermöglicht, als auch in dem Sinne, dass wir uns nicht an ihr zu beteiligen brauchen. Dieses individualistische Freiheitsverständnis sieht Arendt in Verbindung mit einer neuzeitlichen von Macht und Herrschaft geprägten instrumentellen Auffassung von Politik, der zufolge „der Staat eine notwendige Funktion der Gesellschaft oder
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ein für die Gesellschaft notwendiges Übel ist“ (ebd., S. 67). Diese Auffassung ist Arendt zufolge das Ergebnis eines langen Prozesses im philosophischen Denken, der schon bei den alten Griechen einsetzte und sich bis in die Moderne fortsetzte und verschärfte – und fatale Folgen zeitigte: Die „politischen Grunderfahrungen unseres Zeitalters“ (ebd., S. 30), die Erfahrung des Totalitarismus, das Atomzeitalter und die moderne Arbeits- bzw. Massengesellschaft wurden auch dadurch möglich, dass sich das Denken über Freiheit und Politik so sehr von seinen Ursprüngen entfernt hat und damit die ursprüngliche Bedeutung des Politischen entweder in Vergessenheit zu geraten oder durch Gewalt vernichtet zu werden droht. So etwa in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, in denen gewissermaßen unter „Laborbedingungen“, genau dies erprobt wurde: Die totale Beherrschung des Menschen, bei seiner gleichzeitigen völligen Dehumanisierung. Oder anders gesagt: Die Vernichtung der menschlichen Pluralität als der Bedingung der Möglichkeit des Politischen. Auch die Entwicklung der Atombombe und die damit von Menschen selbst geschaffene Möglichkeit die Menschheit als Ganze auszulöschen bedeutet Arendt zufolge eine Bedrohung der Pluralität und damit des Politischen, weil der „Sachzwang“ angesichts der totalen Bedrohungslage das Denken, Sprechen und Handeln in Alternativen einschränkt bzw. gar nicht mehr zulässt. Und schließlich führen die moderne Verherrlichung privatistischen Konsumstrebens und die Überbetonung des Werts der Arbeit gegenüber dem Wert des öffentlichen Handelns dazu, dass den Menschen der Gemeinsinn und so das Politische zugunsten des Privaten verloren zu gehen droht. Denn dies bedeutet, dass es den Menschen nicht mehr möglich ist, die in der Mitwelt gegebene Pluralität zu erfahren und selbst mitzuentscheiden, wie ihre gemeinsamen Angelegenheiten geregelt werden. Mit der zunehmenden Bereitschaft, auf das Miteinander-Sprechen und -Handeln in der öffentlichen Sphäre zu verzichten, drohen den Menschen fundamentale Erfahrungen ihrer eigenen Möglichkeiten verloren zu gehen. Sie werden unfrei und treten dann nicht mehr als handelnde Personen in Erscheinung, sondern degradieren sich selbst zu Objekten von Macht- und Herrschaftsstrukturen, denen sie passiv ausgeliefert sind, gefangen in ihrer Rolle als marktkonforme Konsumenten und Teil der bloß auf ihren ökonomischen Selbsterhalt bedachten arbeitenden Bevölkerung (vgl. Oeftering 2015, S. 63). Angesichts dieser Grunderfahrungen erwächst für Arendt die Gefahr, dass „das Politische überhaupt aus der Welt verschwindet“ (Arendt 2007, S. 13) und vor dem Hintergrund dieser fatalen Entwicklungen stellt sie die Frage: „Hat Politik überhaupt noch einen Sinn?“ (ebd., S. 77)
„Wo das Sprechen aufhört, hört Politik auf“ (Hannah Arendt) ...
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1.3 Das Wunder des Anfangen-Könnens: Natalität „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab“ (Augustinus zit. nach Arendt 2008, S. 215 f.). Dieses Zitat des Kirchenlehrers und christlichen Philosophen Augustinus führt Arendt in vielen ihrer Schriften an, und zwar immer dann, wenn es ihr darum geht, aufzuzeigen, dass trotz der Ausweglosigkeit, in die Welt geraten zu sein scheint, immer noch Hoffnung auf einen unvorhergesehenen Neuanfang besteht und Politik in ihrem ursprünglichen Sinn immer noch möglich ist. Zwar räumt Arendt ein, es scheine als könne angesichts dieser Ausweglosigkeit „eine entscheidende Änderung zum Heil […] nur durch eine Art Wunder geschehen.“ (Arendt 2007, S. 31) Allerdings versteht Arendt Wunder nicht als metaphysisch-religiöse Kategorie, also als einen Akt göttlichen Wirkens o. ä., sondern als spezifisch menschliches Vermögen. Für Arendt bedeutet ein Wunder das Eintreten eines Ereignisses, auf das zwar gehofft, dessen tatsächliches Eintreten jedoch nicht vorausgesagt werden kann. Und die Menschen sind, so Arendt, „offenbar auf eine höchst wunderbare und geheimnisvolle Weise dazu begabt […], Wunder zu tun. Diese Begabung nennen wir im gewöhnlichen und abgegriffenen Sprachgebrauch das Handeln.“ (ebd., S. 34) Denn dem Handeln ist es eigen, bestehende Prozesse zu unterbrechen und damit neue und unvorhergesehene Anfänge zu setzen. Arendt verweist in diesem Zusammenhang auf das, was wir den „Geschichtsprozess“ nennen und darauf, dass dieser nicht historisch-materialistisch oder evolutionär determiniert sei, sondern dass er aus „Ketten von Ereignissen“ besteht, dass er, wie sie sagt, aus „menschlichen Initiativen entstanden ist und durch neue Initiativen dauernd durchbrochen wird.“ (ebd., S. 33) Die Aussage, der Mensch sei geschaffen, damit ein Anfang sei, bedeutet also, dass durch die Geburt eines Menschen ein neuer Anfang gesetzt und der Mensch als ein Jemand geboren wird. Die Einzigartigkeit dieses Menschen zeigt sich darin, dass er, wie er selbst ein Anfang ist, über die Fähigkeit verfügt, neue, unvorhersehbare Anfänge zu setzen, sich aktiv sprechend und handelnd in die Welt einzuschalten und diese nach seinen Vorstellungen zu verändern. Und in dieser dem Menschen eigentümlichen Fähigkeit zum Handeln und Sprechen, in der Fähigkeit einen neuen Anfang zu setzen und damit in die bestehende Welt und die in ihr waltenden Prozesse bewusst einzugreifen, besteht für Arendt die Freiheit, die den Sinn des Politischen ausmacht: „Das Wunder der Freiheit liegt in diesem AnfangenKönnen beschlossen, das seinerseits wiederum in dem Faktum beschlossen liegt,
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dass jeder Mensch, sofern er durch Geburt in die Welt gekommen ist, die vor ihm da war und nach ihm weitergeht, selber ein neuer Anfang ist.“ (ebd., S. 34) Dieses Phänomen nennt Hannah Arendt die „Gebürtlichkeit“ bzw. die „Natalität“ des Menschen. Die Frage, ob Politik angesichts ihrer Bedrohungen überhaupt noch einen Sinn hat, kann damit in neuem Licht erscheinen und mit „Ja“ beantwortet werden. Denn wenn es, wie Arendt sagt, „im Zuge der Ausweglosigkeit, in die unsere Welt geraten ist, liegt, Wunder zu erwarten, so verweist diese Erwartung uns keineswegs aus dem ursprünglichen politischen Bereich heraus. Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen – in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten. Nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil die Menschen, solange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unberechenbare zu leisten imstande sind und dauernd leisten, ob sie es wissen oder nicht.“ (ebd., S. 35)
1.4 Zwischenfazit: „Wo das Sprechen aufhört, hört Politik auf“ In den vorangegangen Abschnitten wurde Hannah Arendts Begriff des Politischen entlang dreier zentraler Phänomene – Pluralität, Freiheit, Natalität – skizziert. Damit lässt sich das Politische zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren: Den Kern des Arendtschen Begriffs des Politischen bildet die Pluralität, also die Tatsache, dass die Menschen mehr sind als nur Angehörige einer bestimmten Gattung. Sie sind Wesen, die sprechend und handelnd in der Welt erscheinen und sich so in ihrer Personalität zeigen und gesehen werden. Freiheit bedeutet für Arendt, dass sich Menschen mit anderen zusammenschließen, um auf diese Art und Weise miteinander-sprechend und miteinander-handelnd die gemeinsamen Angelegenheiten zu regeln und die ihnen gemeinsame Welt zu gestalten. Diese Art von Freiheit ist nur in der politischen Sphäre möglich und sie ist der Sinn von Politik. Mit dem Begriff der Natalität bringt Arendt zum Ausdruck, dass auch Angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt die Menschen, solange sie als sprechende und handelnde Wesen agieren können, dazu befähigt sind, neue und unvorhergesehene Anfänge zu setzen und gestaltend in die Welt einzugreifen – entgegen allen Bedrohungen, denen diese ausgesetzt ist. Das im Titel dieses Beitrags aufgeführte Zitat „Wo das Sprechen aufhört, hört Politik auf“ (Arendt 2007, S. 196) kann vor diesem Hintergrund gedeutet werden: Die Polis, das „Reich der Freiheit“, im Gegensatz zum Oikos, dem „Reich der
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Notwendigkeit“ (Aristoteles zit. nach Bien 1990, XLII), ist für Arendt der Raum, in dem die Menschen und ihre gemeinsamen Angelegenheiten für Alle sicht- und verhandelbar werden. Die Menschen betreten die öffentliche Sphäre und werden damit in ihrem Miteinander-Sprechen und Miteinander-Handeln als Personen erkennbar. Gleiches gilt für die gemeinsamen Angelegenheiten: Auch diese werden erst sichtbar, sozusagen politisch „wirklich“, wenn Sie in der öffentlichen Sphäre erscheinen und dort besprochen werden. Politische Probleme, so ließe sich sagen, die nicht in der Öffentlichkeit erscheinen, sind keine politischen Probleme. Entscheidend ist hierbei, dass jede in der Öffentlichkeit behandelte Sache „so viele Seiten hat und in so vielen Perspektiven erscheinen kann, als Menschen an ihr beteiligt sind.“ (Arendt 2007, S. 96) Einsicht in einen politischen Sachverhalt zu haben heißt dann mit Arendt nichts Anderes, als „die größtmögliche Übersicht über die möglichen Standorte und Standpunkte, aus denen der Sachverhalt gesehen und von denen her er beurteilt werden kann, zu gewinnen und präsent zu haben.“ (ebd., S. 97) Diese Fähigkeit, ein und denselben Sachverhalt von verschiedenen Standpunkten aus sehen zu können, ist bei den Griechen die „Phronesis“; sie ist bei Aristoteles die „eigentliche Kardinaltugend des Politischen“ (ebd.) und taucht auch bei Kant (wenn auch weniger politisch verstanden) in Form der „erweiterte[n] Denkungsart“ im Sinne der „Fähigkeit an der Stelle jedes andern [zu] denken“ (Kant zit. ebd.; original Kant 2001, S. 175), bzw. als die Fähigkeit zur Urteilskraft wieder auf.3 Innerhalb dieser gegebenen Perspektivenvielfalt müssen sich die Bürger*innen also ein eigenes Urteil bilden und – um überhaupt politisch wirksam zu werden – ihren so gewonnenen Standpunkt durchzusetzen versuchen. Denn das Urteil selbst ist nicht sichtbar – weltlich erfahrbar, das heißt politisch wird es erst, wenn es sich im Reden und Handeln der Menschen niederschlägt. Dementsprechend weist Arendt, sich auf die antike Polis beziehend, darauf hin, dass die Fähigkeit, „seinen eigenen Aspekt überzeugend darzustellen, die Rednerkunst“ und dass die „eigentliche […] [tekné politiké] […] nicht die Kunst zu herrschen, sondern zu ‚überreden‘“ (Arendt 2002, S. 390 f.) ist. Das Sprechen und damit Politik hört demzufolge entweder da auf, wo es keinen öffentlichen Raum, in dem miteinander-gesprochen und miteinander-gehandelt werden kann, mehr gibt, wie das etwa in totalitären Systemen der Fall ist; oder auch dort, wo sich Menschen zwar im öffentlichen
3Zur
politischen Urteilskraft bei Hannah Arendt vgl. ausführlich Juchler (2005), Meints (2011) sowie ihre jeweiligen Beiträge in diesem Band.
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Raum bewegen, sie jedoch nicht bereit sind, sich in der politischen Sphäre als Person zu exponieren, die dort gegebene Perspektivenvielfalt anzuerkennen und auch nicht bereit sind, sich die Mühe zu machen, ein eigenes Urteil zu fällen und ihren Gemeinsinn zu schärfen (vgl. Geißner 1995, S. 166; Oeftering 2013, S. 117 f.). Das heißt nicht, dass nicht kommuniziert wird. Es ist durchaus möglich, dass öffentlich viel geredet, aber wenig gesagt wird. Und zwar vor allem dann, wenn es sich eben nicht um ein die Pluralität der Menschen, der Perspektiven, Meinungen und Standpunkte anerkennendes vernünftiges Miteinander-sprechen, sondern nur um ein wie Arendt sagt, „barbarisches Sichverständigen und Verlautbaren“ (Arendt 2002, S. 392) handelt. Das Sprechen verkommt dann zum „Gerede“ und das öffentliche Miteinander-Sprechen und Miteinander-Handeln als der Vollzug des Politischen findet nicht mehr statt. Politik hört auf.
2 Wo das Sprechen aufhört, hört politische Bildung auf – Politische Bildung im Modus des Politischen 2.1 Die zwei Seiten der „Medaille“ politische Bildung Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das Politische, mit Hannah Arendt gedacht, auf das engste mit Grundbedingungen menschlichen Daseins – Pluralität, Freiheit, Natalität – verwoben ist. Dementsprechend muss sich politische Bildung der Tatsache stellen, dass sie es ebenfalls mit diesen grundlegenden Möglichkeiten des Menschseins zu tun hat. Politische Bildung ist mit Arendt als ein existenzieller Vorgang zu denken, in dem sich die Lernenden die Welt in ihrer Pluralität erschließen und sich gleichzeitig selbst in Freiheit in ein (kritisches) Verhältnis zur Welt setzen; politische Bildung hat einerseits die Aufgabe, den Lernenden Wege in das Gemeinwesen aufzuzeigen, gleichzeitig aber auch die Aufgabe, ihnen zu ermöglichen, neue und unvorhergesehene Anfänge zu setzen und das Gemeinwesen nach ihren Vorstellungen zu verändern (Natalität). Politische Bildung stellt damit einen Prozess sowohl der Integration in das Gemeinwesen als auch einen Prozess der Emanzipation von ebendiesem dar, Integration und Emanzipation sind die zwei Seiten der „Medaille“ politische Bildung (vgl. Oeftering 2013, S. 42 ff.).
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2.2 Mündigkeit als res publica Schon in der Philosophie der Aufklärung entsprach die in diesem Prozess selbstgewordene Person dem aufklärerischen Ideal der Mündigkeit. Voraussetzung für das Erlangen der Mündigkeit ist nach Kant die Aufklärung des Menschen, die er als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 2008, S. 25) beschreibt. Dass Kant nicht von einem „Befreit-werden“ oder „Herausgelöst-werden“ aus der Unmündigkeit spricht, sondern von einem „Ausgang“, weist darauf hin, dass der Weg zur Mündigkeit einen aktiven Beitrag der Menschen erfordert. Hier wäre zunächst einmal der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, zu nennen (vgl. ebd.), aber auch der von Arendt hervorgehobene Aspekt der Freiheit taucht bei Kant auf. Denn, so schreibt Kant, „zu dieser Aufklärung aber ist nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag: die von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ (ebd., S. 26) Darüber hinaus hat Kant darauf hingewiesen, dass es nur Wenigen gelungen sei, „durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln“ (ebd., S. 26) und ohne die Gegenwart Anderer den Zustand des Aufgeklärtseins zu erreichen. „Dass aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.“ (ebd.) Aus dieser Bemerkung Kants geht hervor, dass emanzipatorische Bildungsprozesse auf die Gegenwart anderer angewiesen sind, dass sich Aufklärung zwischen den Menschen abspielt und dass die Mündigkeit des Einzelnen eine Angelegenheit Aller ist – eine res publica.
2.3 Politische politische Bildung Für die Praxis der politischen Bildung folgt hieraus, dass sich das, was sich in der Polis „im Großen“ ereignet, in der politischen Bildung „im Kleinen“ widerspiegeln und vorbereiten muss: nämlich dass die Menschen als Personen und die gemeinsamen Angelegenheiten als solche in Erscheinung treten, damit sich die Lernenden miteinander aus ihrer Unmündigkeit „herauswickeln“ können. Dies bedeutet, dass Lernarrangements der politischen Bildung so zu inszenieren sind, dass erstens im Diskurs der Teilenehmenden eine Vielfalt von möglichen Perspektiven auf die behandelten Gegenstände sichtbar wird, dass zweitens den Lernenden die Möglichkeit gegeben wird, sich in dieser Perspektivenvielfalt selbst zu verorten und sie drittens ihren Standpunkt im
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Gespräch mit den Anderen prüfen, verteidigen und durchsetzen oder gegebenenfalls auch revidieren können, um sich so an der Gestaltung der gemeinsamen Angelegenheiten zu beteiligen. Die gemeinsamen Angelegenheiten, also die Inhalte der politischen Bildung, sind im Rahmen politischer Bildungsangebote demgemäß „in die kritische Öffentlichkeit gemeinsamen Lernens zu heben“ (Uhl 2008, S. 91). Dort können sich die Lernenden diskursiv mit ihnen auseinandersetzen, um sich so in der gegebenen Perspektivenvielfalt ein eigenes Urteil zu bilden und das für die Politik so wichtige „Sich-Auszeichnen, das Wetteifern, das Bedeutung-Haben und Beim-Handeln-gesehen-Werden“ (Arendt 2000, S. 247) zu erlernen. In diesem Sinne „sind die unterschiedlichen Formen des Miteinandersprechens und des gemeinsamen Tuns […] nicht nur methodische Arrangements zur attraktiven Unterrichtsgestaltung, sondern zugleich substanzieller Gegenstand politischen Lernens. Die Form ist so gesehen Teil des Inhalts.“ (Uhl 2008, S. 94 f.)4 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein politischer Unterricht, der sich zu sehr auf die Vermittlung von Fachwissen (Auswendiglernen von Begriffen) beschränkt und die diskursiv-aneignende Seite politischen Lernens (ergebnisoffenes Diskutieren über Begriffe) vernachlässigt, als „politisch verkürzt“ anzusehen ist (vgl. Oeftering 2013, S. 70 ff.). Eine politische politische Bildung ist demgegenüber, wie demokratische Politik selbst, als „kooperative Findekunst“ (Ueberhorst 2011) zu inszenieren und so wie Politik endet, wo das Sprechen aufhört, endet politische Bildung dort, wo das Gespräch über die gemeinsamen Angelegenheiten aufhört oder gar nicht erst zustande kommt bzw. nicht zugelassen wird. Wo aber das Sprechen aufhört (ob in der Politik oder der politischen Bildung), bleibt den Einzelnen letztlich nichts, als die unmündige Aneignung von vorgegebenen Wissensbeständen, Meinungen und „Dummheitskulturen“ (Bredow und Noetzel 2009, S. 149 ff.)5 sowie die Unterwerfung unter einen status quo fremdbestimmter Herrschaftsverhältnisse. Anders gewendet: Eine humane Gesellschaft kann nur dort entstehen und Bestand haben, wo es ein Gespräch gibt und wo Gestaltungsmöglichkeiten offen stehen – ersteres zu ermöglichen
4Zur
methodischen Gestaltung einer an Hannah Arendts Begriff des Politischen orientierten politischen Bildung vgl. Oeftering (2013, 221 ff.). 5Zu diesen Dummheitskulturen zählen Bredow und Noetzel dogmatische Weltanschauungen und Ideologien, Fundamentalismus und Fanatismus, Verschwörungstheorien u. a. (vgl. von Bredow und Noetzel 2009, 149 ff.).
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und zweiteres Aufzuzeigen ist die Aufgabe einer an Hannah Arendts Begriff des Politischen orientierten politischen Bildung.
3 Schluss In Ihren Manuskripten zu der Frage „Was ist Politik?“ schreibt Arendt: „Im Mittelpunkt der Politik steht immer die Sorge um die Welt und nicht um den Menschen“ (Arendt 2007, S. 24). In dieser Aussage schwingt mit, dass Arendt nicht nur nach dem Politischen geforscht, sondern immer auch dessen Gefährdungen mitgedacht hat. Die Gefahr, dass das Politische aus der Welt verschwindet, war für sie allgegenwärtig (der Holocaust, die Atombombe, die moderne Massengesellschaft, s. o.). Auch eine politische Bildung, die sich an Arendts Begriff des Politischen orientiert, wird von dieser Sorge um die Welt getragen.6 Sie ist existenziell und radikal, insofern sie sich mit Grundbedingungen menschlichen Daseins (Pluralität, Freiheit, Natalität) befasst; sie regt zur politischen Urteilsfähigkeit an, insofern sie die in der gemeinsamen Welt gegebene Perspektivenvielfalt aufzeigt und dazu auffordert, am Gespräch über die gemeinsamen Angelegenheiten teilzunehmen und sich selbst in dieser Welt zu verorten; und schließlich ist sie kritisch, insofern sie ihren Auftrag, zu verhindern, dass das Politische aus der Welt verschwindet, ernst nimmt und auf die Gefährdungen, denen das Politische fortwährend ausgesetzt ist, hinweist und sie zum Gegenstand des Lernens macht.
Literatur Arendt, Hannah. 2000. Revolution und Freiheit. In Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, 227–251. München: Piper. Arendt, Hannah. 2002. Denktagebuch. 1950 bis 1973. 2 Bände. München: Piper. Arendt, Hannah. 2007. Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. München: Piper. Arendt, Hannah. 2008. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. Piper Aristoteles. 1990. Politik. Hamburg. Felix Meiner. Bien, Günther. 1990. Einleitung. Bemerkungen zum Aristotelischen Politikbegriff und zu den Grundsätzen der Aristotelischen Staatsphilosophie. In Aristoteles: Politik, XIII– LXI. Hamburg: Felix Meiner.
6Vgl.
dazu auch Rößler (2017, S. 143–160).
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Bredow, Wilfried von, Noetzel, Thomas. 2009. Politische Urteilskraft. Wiesbaden: VS Verlag. Brokmeier, Peter. 2007. Hannah Arendts philosophischer Begriff des Politischen. In Verschwindet die politische Öffentlichkeit?, Hrsg. Detlef Horster, 27-43. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Geißner, Helmut. 1995. Rhetorik als Vollzug politischer Partizipation: z.B. Hannah Arendt. In Politik und Rhetorik. Funktionsmodelle politischer Rede, Hrsg. Josef Kopperschmidt, 161–183. Opladen: Springer VS. Heidegger, Martin. 2006. Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. Held, Klaus. 1991. Treffpunkt Platon. Philosophischer Reiseführer durch die Länder des Mittelmeers. Stuttgart: Philipp Reclam. Jaspers, Karl. 1994. Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge. München: Piper. Juchler, Ingo. 2005. Demokratie und politische Urteilskraft. Überlegungen zu einer normativen Grundlegung der Politikdidaktik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. Kant, Immanuel. 2001. Kritik der Urteilskraft. Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel. 2008. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden und andere Schriften, 2–33. Frankfurt am Main: Fischer Taschenuch. Kirchner, Alexander. 2000. Die sprachliche Dimension des Politischen. Studien zu Rhetorik und Glaubwürdigkeit. Würzburg: Ergon. Ludz, Ursula. 2007. Hannah Arendts Pläne für eine „Einführung in die Politik“. In Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, 137–187. München: Piper. Meints, Waltraud. 2011. Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld: transcript-Verlag. Oeftering, Tonio. 2012. Hannah Arendts Begriff des Politischen als Unterrichtsleitbild der politischen Bildung? In Unterrichtsleitbilder in der politischen Bildung, Hrsg. Ingo Juchler, 59-70. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. Oeftering, Tonio. 2013. Das Politische als Kern der politischen Bildung? Hannah Arendts Beitrag zur Didaktik des politischen Unterrichts. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. Oeftering, Tonio. 2015. Hannah Arendts Begriff des Politischen und Inklusion. In Politische Bildung und Inklusion, Hrsg. Wolfram Hilpert, Bettina Zurstrassen, 60-68. Bonn: BpB. Rößler, Sven. 2017. Hannah Arendt (1906–1975): Vom Bildungsgehalt im Denken Arendts für eine Didaktik der Moderne. In Politische Bildung meets Politische Theorie, Hrsg. Markus Gloe, Tonio Oeftering, 143–159. Baden-Baden. Sternberger, Dolf. 1982. Das Wort Politik und der Begriff des Politischen. Trier: NCO Verlag. Ueberhorst, Reinhard. 2011. Politischer Streit als kooperative Findekunst. Neue Geselschaft/Frankfurter Hefte 3: 24–28. Uhl, Herbert. 2008. Politikbilder und Deutungslernen. In Gemeinschaftskunde unterrichten, Hrsg. Georg Weißeno, 74–104. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. Vollrath, Ernst. 1987. Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Zum Begriff des Politischen in der politischen Bildung – Grundelemente deliberativer Politik im Werk von Hannah Arendt Bettina Lösch 1 Einleitung Für die politische Bildung ist immer wieder auf das Neue nötig, sich zu vergewissern, was Politik bzw. das Politische bedeutet. Um ein Verständnis von Politik zu erlangen, greift die politische Bildungsarbeit zum einen auf Überlieferungen und Überlegungen der politischen Theorie- und Ideengeschichte zurück; zum anderen auf aktuelle gesellschaftspolitische Zeitdiagnosen. Die gegenwärtigen Transformationsprozesse neoliberaler Globalisierung verändern Politik in ihrer Form, insbesondere hinsichtlich ihrer demokratischen, sozialstaatlichen und rechtsstaatlichen Fundierungen. Aber auch neue Techniken des Regierens, der „Gouvernementalität“ (Foucault) zeigen, wie gesellschaftliche und politische (Macht-)Strukturen in Subjekte hineinwirken und wie Individuen Macht- und Herrschaftsstrukturen reproduzieren und aufrechterhalten.1 In der politischen Bildungsarbeit wird nicht selten versucht, Politik greifund handhabbar zu machen, damit diese leichter zugänglich und verstehbar wird. Das Politische ist allerdings nicht einfach festzumachen: etwa im Staat, im politischen System, im Politikzyklus, in politischen Kategorien, Dimensionen oder Konzepten. Wie radikaldemokratische Ansätze herausstellen,
1Zur
Trennung von Politik und Politischem im 20. Jahrhundert und neueren Theorien des Politischen vgl. u. a. Flügel et al. (2004).
B. Lösch (*) Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_5
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ist das Politische nicht abschließbar und an keinem Ort festgezurrt (vgl. Lösch und Rodrian-Pfennig 2014). Was Politik und das Politische bedeutet, ist stets umstritten. Der überlieferte Kanon politischer Theorien (von Platon, Aristoteles über Thomas Hobbes, John Locke hin zu John Rawls und Jürgen Habermas) wird heute noch so verstanden, als repräsentiere dieser die Allgemeinheit. Als stünden diese Erzählungen für das, was Politik sei, und als vollziehe sich Geschichte linear, vernünftig und in Richtung zivilisatorischen Fortschritts. Referenzautoren und Denker politischer Theorie sind meist männlich, weiß, aristokratisch oder bürgerlich und hatten stets Nähe zum politischen Establishment (vgl. Lösch 2018). Eine der wenigen Ausnahmen bildet Hannah Arendt, die jedoch nach wie vor nicht in allen Lehr- und Handbüchern politischer Theorie als Denkerin aufgenommen wurde. Im Folgenden sollen deshalb ihre Überlegungen zu Politik und über das Politische für eine Theorie deliberativer Politik fruchtbar gemacht werden. In einer Zeit, in der politische Verhältnisse gerne als alternativlos dargestellt werden und Prozess- und Sachzwanglogiken den Lauf der Welt zu dominieren scheinen, ist es bedeutsam, die Möglichkeiten politischen Denkens und eingreifenden Handelns wieder besser auszuloten. Dieser Zusammenhang von Denken und Handeln kann als Hauptthema Arendts bezeichnet werden und ist grundlegend für eine kritische Gesellschaftsanalyse sowie für eine gebildete Urteils- und Handlungsfähigkeit als Grundlage und Ziel politischer Bildung. Mit Bezug auf Arendt verstehe ich das Politische als die allgemein menschlichen Angelegenheiten, die Auseinandersetzung mit der Welt und um das uns Gemeinsame. Politik gründet sich ihrer Aufassung nach im „Zwischen“ den Menschen (dem: inter esse). Dieses Verständnis des Politischen steht essentialisierenden Positionen des Politischen, etwa rechts-konservativer und dezisionistischer Theorien, diametral entgegen. Diese haben versucht, das Wesen des Politischen zu begründen und betrachten die Entscheidung und den Kampf als grundlegende Elemente von Politik. In den folgenden Ausführungen werde ich begründen, warum ich Arendt als Vordenkerin deliberativer Politik avant la lettre verstehe. Bevor eine Unterscheidung zwischen dezisionistischer und deliberativer Politik vorgenommen wird, soll zunächst ein kurzer Einblick in die Fachdebatte um deliberative Demokratie erfolgen sowie die Begriffe Deliberation, Beratung und politische Beratung sehr skizzenhaft erläutert werden.2
2Ausführlich
2005).
zu diesen Aspekten siehe die Dissertation zu deliberativer Politik (Lösch
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2 Theorien deliberativer Demokratie In der demokratietheoretischen Fachdiskussion hat in den 1990er Jahren das Konzept einer deliberative democracy neue Beachtung erhalten. Hierzulande war es Jürgen Habermas, der beanspruchte, eine eigenständige Theorie deliberativer Demokratie zu formulieren. In der US-amerikanischen Debatte reicht dieser Begriff aber schon länger zurück. Der Begriff entstammt der US-Amerikanischen Rechtstheorie und wurde in Opposition zu einer stärker elitistischen Interpretation der US-Amerikanischen Verfassung gebraucht (vgl. Lösch 2005, S. 151). Die einen betrachten die Debatte um deliberative Demokratie als ein reformistisches Projekt, das sich an den internen Problematiken des politischen Liberalismus und dessen institutioneller Ausgestaltung abarbeitet (vgl. etwa Fishkin 1991). Andere wiederum erkennen darin die Chance einer radikalen Politik, welche in der Lage sei, die Grundprämissen des politischen Liberalismus – etwa die prioritäre Setzung der Freiheit vor der Gleichheit, individualistischer vor kollektiver Prinzipien, der Herrschaft des Rechts vor der Volkssouveränität etc. – zu hinterfragen (vgl. Dryzek 2000). Entgegen der Weiterentwicklung eines anspruchsvollen partizipatorischen Konzepts der Deliberation führten die Erklärungsversuche deliberativer Demokratie in der deutschsprachigen Rezeption meist zu verkürzenden Begriffsdefinitionen. So wurde beispielsweise der Aufsatz von Seyla Benhabib über ein deliberatives Modell demokratischer Legitimität (1995) auf die Aussage reduziert, Deliberation sei ein Verfahren, informiert zu sein (vgl. dazu Arenhövel 1998, S. 124). Für andere steht der Begriff der Deliberation für „Präferenz-Reinigung oder -Läuterung, das heißt die argumentative Problematisierung, Redefinition und Neuordnung der Präferenzen von Bürgern“ (Forst 1994, S. 188), oder wie Hubertus Buchstein etwas weitergefasst, aber dennoch unspezifisch formuliert, für „öffentliche Kommunikation über politische Fragen“ (Buchstein 1996, S. 315). Kritisch zu betrachten sind insbesondere Vorstellungen einer deliberativen supranationalen oder globalen Demokratie, die eher darauf hinauslaufen, neue Regierungstechniken und Verhandlungsformen zu legitimieren, die ohne demokratische Grundlagen (Wahlen, Parlamentarismus etc.) auszukommen (vgl. kritisch Jörke 2014). Zwei Lücken lassen sich in der Fachdiskussion feststellen: Zum einen fehlen die ideen- und theoriegeschichtlichen Vorläufer der deliberativen Demokratie-
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ansätze. Das liegt meines Erachtens auch daran, dass Habermas seine Bezüge zu Arendt kaum explizit gemacht hat. Zum anderen ist eine Theorie politischer Beratung und Beratschlagung, d. h. eine Kritik etablierter Politikberatungsinstitutionen und -verfahren sowie ein Über- und Neudenken der politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse bislang nicht systematisch ausgearbeitet worden. Zwar ist Beratung in aller Munde und hat dementsprechend auch in der Demokratietheorie als weitere adjektivische Zuschreibung von Demokratie Einzug gefunden. Aber hinsichtlich der Problematiken des politischen Meinungsund Willensbildungsprozesses, etwa dem Widerspruch, dass Bürger_innen Demokratie weiterhin einen hohen Stellenwert beimessen, sich gleichzeitig aber immer weniger in der Lage sehen, politische Entscheidungen nachzuvollziehen, geschweige denn mitzubestimmen, ist wenig innovativer theoretischer Geist vorhanden. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass dann die strukturellen Widersprüche, etwa die zwischen Kapitalismus und Demokratie stärker hinterfragt werden müssten, wie dies etwa in kritisch-materialistischen Staats- und Demokratietheorien der Fall ist. Auch die Debatte um Postdemokratie hat eher dazu beigetragen, Phänomene von Entdemokratisierung aufzuzeigen als nach den Ursachen der Entdemokratisierung oder nach Möglichkeiten der Demokratisierung zu fragen. Obgleich sich die Theorierichtung deliberativer Demokratie zunehmend etabliert, wenn auch in sehr verschiedenen Facetten, ist ein präziser Begriff von Deliberation bislang nicht zu finden. Deshalb soll sich zunächst dem Begriff der Deliberation und Beratung kurz gewidmet werden, um anschließend zu einer systematischen Grundlegung deliberativer Politik anhand Arendts politischer Theorie zu gelangen.
3 Deliberation – eine Politik der Beratung und Beratschlagung Deliberation ist im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch im Gegensatz zur deutschsprachigen Verwendung ein durchaus geläufiger Begriff und geht etymologisch auf das lateinische Wort deliberare zurück, das so viel wie Abwägen, Überlegen oder Beratschlagen bedeutet. Entsprechend wird im Englischsprachigen der Begriff deliberation sowohl im Sinne von consideration als auch discussion gebraucht. Deliberation umschreibt somit zwei verschiedene, aber dennoch zusammenhängende Tätigkeiten – individuelles Abwägen und Bedenken
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ebenso wie gemeinsame Beratschlagung und Diskussion. Deliberation kann in verschiedener Hinsicht verstanden werden: 1) selbstreflexiv als ‚sich beraten‘, d. h. im Sinne von Abwägen, Überlegen und Bedenken; 2) expertokratisch als ‚sich beraten lassen‘, d. h. unter Hinzuziehung von externem Sachverstand; sowie 3) demokratisch als ‚gemeinsame Beratschlagung‘, d. h. im Sinne eines gemeinsamen Diskussions- und Beratungsprozesses oder eines ‚großen Ratschlages‘ (vgl. Lösch 2005, S. 194). In seiner historischen Bedeutung verweist der Begriff der Deliberation auf die im Römischen Recht eingeräumte Deliberationsfrist zur Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung einer Erbschaft. Den Erben wird eine Bedenkzeit eingeräumt, in der sie über den Erbantritt beraten und außergerichtlichen Sachverstand zu ihrer Beratung hinzuziehen können, um die sachlichen Bedingungen für eine Entscheidung zu klären. Deliberation impliziert von daher ausdrücklich den Aspekt der Urteilskraft und Entscheidungsfindung und steht konträr zur philosophischen und politischen Lehre des Dezisionismus, in der es darauf ankommt, eine Entscheidung ohne Beratung zu treffen, wie später noch gezeigt wird. Deliberation wird – individuell wie gesamtgesellschaftlich betrachtet – grundsätzlich dann nötig, wenn ‚alte Rezepte verbraucht sind‘, Orientierungs- und Hilflosigkeit sowie allgemeine Ratlosigkeit besteht und eine Entscheidung ansteht. In ausdifferenzierten Gesellschaften wird die spezifische Problem- und Konfliktlösung in der Regel einzelnen Teilbereichen übertragen. Mit steigender Komplexität und Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse wird Beratung und der Bereich von Beratungsinstitutionen ständig erweitert. Den etablierten Beratungseinrichtungen und -instanzen sind in erster Linie die klassischen Beratungsverhältnisse zwischen Ärzt_innen und Patient_innen oder Rechtsanwält_innen und Klient_innen sowie der Dienstleistungssektor zuzuordnen. Aufgrund der Individualisierungstendenzen und sozialer Desintegration in den industriell hoch entwickelten Gesellschaften steigt der Bedarf an gemeinnützigen und therapeutischen Beratungseinrichtungen, die von Seelsorge, psychologischer – neuerdings auch philosophischer – Beratung bis hin zum Verbraucherschutz reichen.
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Beratung3 kann unterschiedliche Funktionen und Aufgaben verfolgen: Sie kann rein funktionalistisch sein, d. h. als Mittel eingesetzt werden, um einen bestimmten Zweck zu erreichen; sie kann aber auch als partizipatorischer Prozess fungieren, an dem alle mit der Absicht einer gemeinsamen Problemlösung teilnehmen. Beratung hat entweder eine aufklärerische oder helfende, unterstützende Funktion, dient der Vermittlung von Sachverstand oder wird zwecks Rationalisierung und Effizienzsteigerung eingesetzt. Letztere Zielsetzung bezieht sich insbesondere auf den Bereich der Unternehmens- und Wirtschaftsberatung, deren Instrumente und Methoden im Verlauf der Ökonomisierung des politischen Bereiches mehr und mehr auf die Institutionen und Verfahren der Politikberatung übertragen werden. In Hinblick auf eine Theorie deliberativer Politik ist außerdem erläuterungswürdig, was politische Beratung umfasst verbirgt und welche neuen Entwicklungen sich in diesem Feld abzeichnen: In einer r epräsentativparlamentarischen Demokratie stellt traditionell das Parlament das eigentliche politische Beratungsorgan respektive Beratungsforum dar, dem in der Regel parlamentarische Ausschüsse und Enquete-Kommissionen angehören. Neben den parlamentarischen Beratungsorganen zählen wissenschaftliche Beiräte, Sachverständigen-Räte sowie individuelle Experten, die im Umfeld von Regierungen und Ministerien des Bundes und der Länder tätig sind, zum Bereich der Politikberatung. Das Spektrum etablierter politischer Beratung wird ferner durch öffentliche oder privatwirtschaftliche Institute und Stiftungen erweitert, die gemeinhin der wissenschaftlichen Politikberatung zugeordnet werden. 3Der Begriff der Beratung bezieht sich auf das Wort Rat respektive raten. Raten kann bedeuten, sich etwas geistig zurechtlegen, zu überlegen, auszusinnen, zu erraten oder zu deuten, wird aber auch im Sinne von ‚Vorsorge treffen‘ verwendet, wie in den Begriffen ‚Vorrat‘, ‚Hausrat‘ und ‚Heirat‘ zum Ausdruck kommt. An die Bedeutung von etwas Vorschlagen, Empfehlen schließt sich die Verwendung von Rat im Sinne von ‚gut gemeinter Vorschlag, Unterweisung, Empfehlung‘ an, worauf auch das Wort ratsam, d. h. empfehlenswert, verweist. In den Wortzusammensetzungen Familienrat, Stadtrat, Rathaus, Betriebsrat und Rätestaat lässt sich die Bedeutung von Rat im Sinne einer gemeinsamen Beratschlagung, einer beratschlagenden Versammlung erkennen. Von dieser Begriffsverwendung geht auch der Wortgebrauch aus, wenn von Subjekten, d. h. etwa Angehörigen einer Ratsversammlung oder den Räten, die Rede ist, im Gegensatz zu Ratgeber oder Titelzuweisungen wie Geheimrat oder Studienrat. Unter Beratschlagung oder Ratschlag begreift man einen ‚gut gemeinten Vorschlag‘, eine Beratung oder einen Beschluss, der allerdings nicht zweckgebunden und zweckrational verfasst sein muss. In der ursprünglichen Bedeutung von Ratschlag kommt es vielmehr darauf an, ‚den Beratungskreis zu schlagen‘, d. h. den Kreis der Beratung einzugrenzen, was sowohl die Themensetzung als auch die Teilnehmenden betrifft.
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Es zeichnen sich gegenwärtig folgende Entwicklungstendenzen im Bereich der Politikberatung ab: Das expertokratische Umfeld von Politik wird zunehmend durch die Einrichtung von Regierungskommissionen und sogenannten „Konsensrunden“4 ergänzt, die nicht nur hinsichtlich ihrer demokratischen Legitimation äußerst fragwürdig sind. Diese neuen politischen Beratungsformen führen zu einer Entmachtung des Parlamentes und verdrängen Politik sowie politische Entscheidungsfindung in einen undurchschaubaren Arkanbereich. Um zu einer Professionalisierung von Politik zu gelangen – worunter derzeit nicht etwa eine inhaltliche Qualifizierung, sondern vielmehr eine Rationalisierung, eine Verschlankung des Staates, d. h. ein Abbau von Bürokratie und Parteienstaatlichkeit verstanden wird – treten des Weiteren Politikberatungsinstitute auf den Plan, die im Unterschied zur herkömmlichen politischen Beratung eher als Kommunikationsund Medienagenturen fungieren (vgl. Siemons 2003, S. 31). Bei dieser Form von Beratung werden die Interessen von Politik und Wirtschaft nicht mehr über Repräsentant_innen in diversen Kommissionen oder durch große Interessenverbände vertreten, sondern es wird versucht, auf direktem und somit effektiverem Wege Einfluss auf die Politik und die Regierungsentscheidungen auszuüben. Politikberatung bedeutet in diesem Sinne nicht mehr allein die Vermittlung von Sachverstand, sondern den neuen politischen Beratungsagenturen fällt zu, den gesamten ‚kommunikativen Rahmen‘ von Politik auszuloten. Um gesamtgesellschaftliche Stimmungslagen und Meinungsbilder aufzugreifen und darauf Einfluss zu nehmen, werden Marketing-Prinzipien eingesetzt und eine Analyse und Vorbereitung des Agenda-Settings vorgenommen. Die konzeptionelle, gestaltende Funktion von Politik gerät mit dem tendenziellen Verfall klassischer Ideologien und Interessenkonstellationen ins Hintertreffen. Gleichzeitig breitet sich mit den Entwicklungen im etablierten Bereich der Politikberatung auf Regierungsebene der bürgerschaftsnahe Bereich der politischen Beratung weiter aus: Zu diesen bürgerschaftlichen Beratungseinrichtungen können etwa Runde Tische, Bürger_innen-Jurys, Planungszellen oder Mediationsverfahren sowie die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen auf lokaler oder internationaler Ebene gezählt werden. Die neuen Formen bürgerschaftlichen Engagements prägen das Bild der meist ehrenamtlich tätigen zivilen Gesellschaft, die jedoch trotz Beratungskompetenz weitestgehend von gewichtigen politischen Entscheidungen abgekoppelt bleibt. 4Unter
„Konsensrunden“ werden vor allem korporative Bündnisse gefasst, in denen der Staat bzw. die Regierung in Verhandlungen mit Interessenverbänden eintritt. Solche Verhandlungen finden meist informell statt und sind in der Verfassung nicht vorgesehen (vgl. von Blumenthal 2003, S. 9).
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Aufgrund der Unschärfe des Begriffes und der unterschiedlichen Deutungen und Praxen von Beratung, bleibt fraglich, ob und inwiefern Beratung ein Gewinn für Demokratisierungsprozesse sein kann oder eher für eine neue bzw. neoliberale Form des „Beraterkapitalismus“ (Resch 2005) steht. Eine kritische Theorie der Demokratie müsste diese Widersprüche vertiefter analysieren und ihren Mehrwert oder ihre Problematik herausarbeiten.
4 Politik ist nicht gleich Politik: Was unterscheidet Dezisionismus von Deliberation? In der politischen Theoriegeschichte können dezisionistische von deliberativen Ansätzen unterschieden werden. Dezisionistische Theorien begreifen politische Öffentlichkeit als Herrschaftssphäre und behalten Politik und Öffentlichkeit einer Führungselite und der über der Gesellschaft stehenden Staatsgewalt vor. Der Herrschaftsanspruch geht in dieser Politikauffassung – wie etwa bei Carl Schmitt – aus einer alles entscheidenden Konfliktsituation zwischen Freund und Feind hervor, in der derjenige obsiegt, der im richtigen Moment die souveräne Entscheidung setzt. In der dezisionistischen Lehre von Politik wird eine beratende Öffentlichkeit – etwa das Parlament – negiert und Demokratie mit Diktatur und der Homogenität des Volkes identifiziert, das in einem Akklamationsakt die Führungselite bestätigt und somit legitimiert. Politik wird mit Herrschaft und Gewalt gleichgesetzt sowie als instrumentell-strategisches Handeln verstanden. Dem dezisionistischen Politikverständnis steht die Auffassung deliberativer Politik diametral entgegen. Während der Dezisionismus im Ausnahmezustand den entscheidenden Moment für eine autoritäre Entscheidungssetzung sieht, aus der ein Herrschaftsanspruch hervorgeht, setzt deliberative Politik in einer Krisensituation auf die Fähigkeit zur politischen Urteilskraft, die nicht den Wenigen vorbehalten bleibt, sondern potenziell allen Menschen zugesprochen wird. Politische Öffentlichkeit wird nicht als Herrschaftssphäre staatlicher Gewalt oder gesellschaftlicher Eliten verstanden, sondern der Sinn von Politik in der Gründung von politischer Freiheit und der Macht gemeinsamen Handelns verortet. Die gängige Lehre des Dezisionismus – etwa Hermann Lübbe, Panajotis Kondylis oder Carl Schmitt – stützt sich auf die Phänomene der Entscheidung, der Herrschaft und der Selbsterhaltung (vgl. dazu Bolsinger 1998, S. 471 ff.). Der zentrale Ausgangspunkt für eine dezisionistische Theorie ist eine als aporetisch beschriebene Situation, d. h. eine Konflikt- und Krisensituation, die weder durch Rechts- noch durch Moralnormen lösbar ist. Vertreter der Lehre der Dezision
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betrachten die Entscheidungssituation, in der verschiedene rivalisierende rechtliche, politische und materielle Möglichkeiten existieren und keine Metaregel zur Schlichtung bereitstehe, als Zustand der ‚Ausnahme‘ (vgl. ebd., S. 494). Einer grundlegenden aporetischen Ausnahmesituation lässt sich der dezisionistischen Theorie zufolge nur durch eine Entscheidungssetzung entkommen, durch die autoritativ festlegt wird, was als Recht gelten solle und was nicht. Es gehe dabei wesentlich um das faktische ‚Dass‘ der Entscheidung, die normativ betrachtet, aus dem Nichts entspringt (vgl. ebd.). Kritisch betrachtet ist der Dezisionismus durch die Weigerung gekennzeichnet, praktische Entscheidungen überhaupt begründen zu müssen oder zu können, denn es wird von vornherein festgesetzt, dass eine inhaltliche Begründung unmöglich sei. Der Zusammenhang von Aporie und Dezision sowie von Kontingenz (verschiedener Möglichkeiten) und der Notwendigkeit der Entscheidung stellt ein fundamentales Gesetz der Theorie der Dezision dar. Es geht um die Entscheidbarkeit einer Situation, das bedeutet, dass zu keiner Zeit erwogen wird, in einem Zustand der Unbestimmtheit- und Unentschiedenheit zu verbleiben. Die Intention, die hinter dieser Entscheidungszentriertheit steht, ergibt sich hauptsächlich aus dem ordnungspolitischen Denken, welches diese Auffassung des Politischen begründet: „Einem ungeordneten, ungeregelten Zustand – ob er als Chaos, Bürgerkrieg, unauflösbarer Wertekampf oder als epoché einer verbindlichen Regel bestimmt wird – sollen durch die faktische Entscheidung und durch das bloße Konstruieren der Selbsterhaltung einer politischen oder sozialen Einheit stabile Handlungsmarken abgezwungen werden“ (ebd., S. 495). Es gelte, dem sozialen oder politisch-rechtlichen ‚Nichts‘ des Chaos, des Bürgerkrieges oder des regellosen Zustandes die endgültige Entscheidung entgegenzusetzen, um wieder Sicherheit, Halt und Ordnung zu finden. Insofern sei es von Notwendigkeit, dass die Entscheidung auf Dauer gestellt ist und endgültigen Charakter besitze, um den Ordnungs- und Regelungsgewinn zu bewahren. Dem dezisionistischen Denken ist des Weiteren ein Wissen darüber inhärent, dass, um überhaupt zu einer Entscheidung zu gelangen, Exklusion und Selektion nicht hintergehbar sind: „Dezision bedeutet […] immer eine Differenz setzen von Diesem und Anderem, Eigenem und Fremden“ (ebd.). Der ‚Zusammenschluss‘ von Menschen bedeutet innerhalb dieses Theorietypus einen ‚Abschluss‘ gegen andere Menschen. Politische Herrschaftseinheiten könnten nur unter der Bedingung der strikten Grenzziehung und der Exklusion existieren. Grenzerhaltung ist demnach Herrschaftserhaltung. Die politische Entscheidung in letzter Instanz wurzelt wiederum in dem Selbsterhaltungsinteresse. Zusammenfassend kann gesagt werden: „Die dezisionistische Argumentationsstruktur […] geht von der Ordnungslosigkeit
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einer aporetischen Situation aus, die durch Herrschaftserrichtung – definiert als Entscheidung letzter Instanz (Souveränität) – überwunden wird und in der Selbsterhaltung der ordnungsstiftenden beziehungsweise rechtsetzenden Herrschaft endet“ (ebd., S. 496). Theorien der Deliberation gehen in der Regel ebenso wie dezisionistische Theorieansätze von einer grundlegend aporetischen Situation der Moderne aus. Sie konstatieren eine Krisenhaftigkeit der Moderne, die sich in einem ‚Verlust des öffentlichen Raumes‘ (Arendt), einem ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ (Habermas) oder einem ‚Verschwinden des Öffentlichen‘ (John Dewey) ausdrücken (vgl. Lösch 2005). Sie sind an der Rückgewinnung des Öffentlichen und Politischen durch Beratung, Intersubjektivität und Beteiligung interessiert. Der Dezisionismus entstammt der sogenannten „realpolitischen Lehre der Politik“, die Arendt aufgrund ihrer kategorialen Zuschreibung von Politik als Herrschaftsund Gewaltsphäre zurückweist und kritisiert, dass diese das Politik- und Staatsverständnis seit der Neuzeit bestimme. Arendts politische Theorie mit ihrem Verständnis von Freiheit als Macht gemeinsamen politischen Handelns bildet insofern, so will ich hier argumentieren, das gedankliche Gegenprogramm zu den theoretischen Positionen des Staatsrechtlers Schmitt, der beansprucht, das „Wesen des Politischen“ (Schmitt 1996, S. 20) und den „Begriff des Politischen“ (ebd.) ontologisch mit der dezisionistischen Freund-Feind Unterscheidung bestimmen zu können. Mit seiner Begriffsbestimmung des Politischen als dezisionistische Konfliktsituation zwischen Freund und Feind spitzt Schmitt die politischen Gegensätze derart zu, dass nur noch eine Konsequenz, nämlich die Entscheidung der äußersten Kriegs- und Kampfsituation, möglich erscheint. Mit der Identifizierung von Demokratie und Diktatur versucht Schmitt jegliche Form beratender und diskutierender Öffentlichkeit, im Speziellen die parlamentarische Öffentlichkeit, zu destruieren. Seiner Ablehnung des Parlamentarismus folgt das Postulat eines „Starken Staates“, der in der Ausnahmesituation seine Entscheidungs- und Handlungsmacht erlangt (vgl. Lösch 2005, S. 60 ff.). Arendt lehnt sowohl ein unmittelbares autoritäres Herrschaftsverhältnis von Befehl und Gehorsam, d. h. der direkten Herrschaft von Menschen über Menschen, als auch eine stärker anonymisierte, prozesshafte Form von Herrschaft, einer bürokratischen Form der „Herrschaft des Niemand“ (Arendt 1996, S. 51), ab. Sie versteht unter politischer Öffentlichkeit weder den über der Gesellschaft thronenden Hobbesschen Staat als „Leviathan“ noch identifiziert sie den politisch-öffentlichen Raum mit dem Bereich des Gesellschaftlichen. Arendt liefert meines Erachtens Grundelemente für eine Konzeption deliberativer Politik, indem sie Macht als Möglichkeit der Verständigung derer begreift, die sich beraten, um gemeinschaftlich zu handeln. Sie spricht sich für einen öffentlichen
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Raum politischer Freiheit aus und plädiert für eine strikte Differenzierung des Machtpotenzials politischem Handelns gegenüber dem instrumentellen Charakter der Gewalt. Entgegen dezisionistischer Politiktheorien akzentuiert sie den gemeinsamen Beratungs- und Handlungsprozess des Politischen vor der Entscheidungsfindung. Mit der Betonung der politischen Urteilskraft wird jedoch die Entscheidbarkeit politischer Konfliktsituationen nicht außer Acht gelassen, nur anders gewichtet (vgl. dazu Vollrath 1987, S. 289 ff.).
5 Kritik der Öffentlichkeit als Herrschaftssphäre Arendts Politikbegriff sowie ihre Freiheitsauffassung sind durch die Erfahrung und Auseinandersetzung mit Formen totaler Herrschaft geprägt. Die Entstehung totaler Herrschaftssysteme haben ihrer Auffassung nach zur vollkommen Entpolitisierung, dem Verlust des Politischen und damit des „In-der-Welt-seins“ geführt, hinzu komme die Tatsache, dass man heute in Gestalt der Atombombe über das technische Mittel verfügt, die Menschheit und damit jede Art von Politik auszulöschen. „Unsere heutige Frage nach dem Sinn von Politik entsteht aus sehr realen Erfahrungen, die wir mit Politik gemacht haben; sie entzündet sich aus dem Unheil, das Politik bereits in unserem Jahrhundert angerichtet hat, und dem größeren, das aus ihr zu erwachsen droht“ (Arendt 1993, S. 28). Sie stellt deshalb die grundsätzliche Frage, ob Politik überhaupt noch einen Sinn habe (vgl. ebd., S. 140) und beantwortet diese Frage mit der in ihrem Werk immer wieder auffindbaren Aussage, dass „der Sinn von Politik Freiheit“ sei (vgl. etwa ebd., S. 28; Arendt 1994a, S. 203)5. In einem Vortrag über das Verhältnis von Freiheit und Politik schreibt Arendt: „Man kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen“ (Arendt 1994a, S. 201). Der moderne Politikbegriff sei jedoch stark davon geprägt, dass das Politische mit Freiheit nur insofern vereinbar sei, als es eine mögliche Freiheit von Politik gewährleiste, nach dem Prinzip: je weniger Politik desto mehr Freiheit. Diese Auffassung gehe auf das politische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts zurück, als politische Freiheit kurzweg mit der Gewährleistung von Sicherheit gleichgesetzt (vgl. ebd., S. 202), d. h. das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft auf eine Schutz- und Gehorsamsbeziehung gestellt wurde. Dieses unpolitische Verständnis von Freiheit hätte dazu geführt, Freiheit entweder in philosophischer Hinsicht auf die Gedanken- und Willensfreiheit zu beziehen oder gar gesellschaftlich auf eine Freiheit des Sich-Verhaltens
5Zur Auseinandersetzung
mit der sozialen Frage bei Hannah Arendt siehe Lösch (2009).
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anstatt aktiven Handelns zu reduzieren (vgl. ebd., S. 209 f.). Die Beschränkung der Freiheit auf eine quasi philosophische innere Freiheit der Gedanken- und Willensfreiheit bedeutet für Arendt ein Rückzug aus der gemeinsamen Welt und somit aus dem Politischen (vgl. ebd., S. 205 ff.). Politische Freiheit meint ihr zufolge mehr, als in dem negativen und auf Individualismus abzielenden Freiheitsverständnis der liberalen Staatstheorien zum Ausdruck komme. Negative Freiheit bedeutet vor allem eine Freiheit von Zwängen bei Wahrung von grundlegenden Rechten. Hingegen schließt ein positives Freiheitspostulat nicht an die Frage „frei wovon“, sondern an die Frage „frei wozu“ an (vgl. Bluhm 1997, S. 47). Diese Option von politischer Freiheit eröffne sich, wenn die Menschen anstatt zu fragen: „Wogegen kämpfen wir?“, einmal die Frage wagten, „Wofür kämpfen wir, worum geht es uns eigentlich?“ (Arendt 1994d, S. 36). Das positive Freiheitsverständnis erhält überdies eine zwischenmenschliche und kollektive Perspektive. So formuliert sie: „Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden“ (Arendt 1994a, S. 201). Die modernen bürgerlichen Gesellschaften und liberalen Demokratien basieren zwar auf negativen Freiheitsrechten, die den ungestörten Lebensprozess (und Eigentumsrechte) des Einzelnen gewährleisten sollen. Sie entbehren jedoch gleichzeitig – trotz demokratischer Strukturen – der Erfahrung einer positiven politischen Freiheit, einer aktiven Erfahrung des gemeinsamen und öffentlichen Handelns der Menschen. Die Erfahrung, dass der „Sinn dessen, dass es so etwas wie Politik im Zusammenleben der Menschen überhaupt gibt“ (ebd.), offenbart sich laut Arendt deshalb nur noch in jenen seltenen Augenblicken, „in denen alles auf dem Spiel steht“ (Arendt 1994b, S. 155), und damit meint sie insbesondere: in Revolutionsund Krisenzeiten. Im gesellschaftlichen Alltag ist den Menschen die politische Handlungsmöglichkeit weitestgehend entzogen, das politische Handlungsmonopol und die Souveränität auf den Staat und seine Institutionen beschränkt. Wie kann nun diese Freiheit der gemeinsamen Deliberation auf Dauer gestellt werden? Festzustellen ist zunächst, unterschiedlicher als bei Arendt und Schmitt können die Antworten auf die Krisenhaftigkeit moderner Öffentlichkeit nicht ausfallen: Während Schmitt politische Öffentlichkeit auf eine Führungselite, nämlich die Herrschaft staatlicher Gewalt (der Exekutive!) und autoritärer Entscheidungssetzung reduziert, sieht Arendt den Sinn von Politik in herrschaftskritischer Absicht in der Gründung politischer Freiheit verortet. Unter der Souveränität des Volkes versteht Arendt nicht wie Schmitt eine homogene Volksgemeinschaft, sondern sieht darin die Macht begründet „nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen
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zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Arendt 1995, S. 45). Worin sich die Gemeinsamkeit des Handelns bei Arendt ergibt, wenn sie eine identitätstheoretische Erklärung ablehnt, wird in den weiteren Ausführungen zu „Öffentlichkeit als Zwischenraum“ erörtert. Indem Arendt das Politische grundsätzlich nicht staatlich denkt, eröffnet sich mit ihrer Begründung, Politik entstehe „zwischen den Menschen“ (Arendt 1993, S. 11) die mögliche Perspektive einer WeltÖffentlichkeit. Ihr zwischenmenschliches Öffentlichkeits- und Handlungsverständnis grenzt sich nicht nur von einem unmittelbaren Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen, sondern auch von einer instrumentellen, strategischen Herrschaftsform ab, die einer reinen Zweck-Mittel-Rationalität unterliegt.
6 Öffentlichkeit als Zwischenraum 6.1 Entpolitisierung und Weltentfremdung In ihrem Buch über die Vita activa (1996) entfaltet Arendt sowohl ihr Verständnis von Öffentlichkeit als auch ihre Handlungstheorie. Arendt zufolge kam es seit der Neuzeit zu einer Funktionalisierung des Politischen durch das Gesellschaftliche. Sie interpretiert das Bestreben der bürgerlichen Gesellschaft, das Politische in den Dienst sozialer und ökonomischer Interessen zu stellen, als Verlust des öffentlichen Raumes. Der öffentliche Bereich werde zunehmend durch Kategorien determiniert die vormals dem privaten Bereich zugeordnet waren: „Was wir heute Gesellschaft nennen, ist ein Familienkollektiv, das sich ökonomisch als eine gigantische Über-Familie versteht und dessen politische Organisationsform die Nation bildet“ (ebd., S. 39). Der Siegeszug der Gesellschaft begann Arendt zufolge damit, dass das Handeln durch ein Sich-Verhalten ersetzt wurde, „das in jeweils verschiedenen Formen die Gesellschaft von allen ihren Gliedern erwartet und für welches sie zahllose Regeln vorschreibt, die alle darauf hinauslaufen, die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes Handeln […] zu verhindern“ (ebd., S. 51 f.). Mit dem Aufstieg des Gesellschaftlichen etablierte sich eine „Herrschaft des Niemand“ (ebd., S. 57), die in außermenschlichen Prozessen und Fortschrittslogiken wie etwa Natur, Geschichts- oder Marktgesetzen zum Ausdruck komme.6 6An
anderen Stellen in ihrem Gesamtwerk legt sie weniger Wert auf eine Verfallsgeschichte als vielmehr auf die „Lücken“ zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Brüche, die Momente und Potentiale von Neugründung (vgl. Arendt 1994c).
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Politisches Handeln, welches die eigentliche menschliche Fähigkeit darstelle und die Freiheit in sich berge, Automatismen zu unterbrechen und Prozesslogiken zu durchkreuzen, wurde unter irreversible Sachzwänge von Arbeiten im Sinne von Herstellen, Wissenschaft und Technokratie gestellt. Begreife man Geschichte als einen kontinuierlich chronologischen Prozess, dessen Fortschritt in der einmal eingeschlagenen Richtung nicht mehr zu bremsen ist, so sei nachvollziehbar, dass Gewalt als einziges adäquates Mittel betrachtet wird (in Form von Kriegen und Revolutionen), solche Abläufe zu unterbrechen. „In Wahrheit jedoch“, so Arendts Grundaussage, „ist es die Funktion jeden Handelns, im Unterschied zu einem bloß reaktiven Sichverhalten (behavior), Prozesse zu unterbrechen, die sonst automatisch und damit voraussagbar verlaufen würden“ (Arendt 1995, S. 35). Arendt kritisiert in ihrem gesamten Werk nicht nur den Verlust des öffentlichen Raumes seit der Neuzeit, sondern spricht von einer „Weltentfremdung“, die mit der Neuzeit begann und sich gegenwärtig vermutlich im letzten Stadium ihrer Entwicklung befindet (vgl. Arendt 1996, S. 318 ff.).7 Die Kennzeichen, die sie in ihrer Analyse über den Fortgang der Weltentfremdung vorausschauend anführt, sind: „der Niedergang der europäischen Nationalstaaten, die Schrumpfung der Erde in geografischer und wirtschaftlicher Hinsicht, schließlich die Entstehung des einen Menschengeschlechts, dessen Einheit weder politisch garantiert ist noch aus dem humanistischen Ideal der Menschheit abgeleitet […] ist“ (ebd., S. 328). Die Einheit des Menschengeschlechts ist laut Arendt aus der einfachen Tatsache entstanden, dass die Menschen nur noch geraume Zeit benötigen, um aus allen Ecken der Welt zusammenzukommen. An die Stelle der national organisierten Gesellschaft trete nun die Menschengesellschaft im Ganzen, welche die gesamte Erdoberfläche als Territorium einnehme. In einer Rede über Karl Jaspers formuliert sie dieser Entwicklung entsprechend, dass niemand ein Weltbürger sein könne, wie er ein Staatsbürger ist. „Welche Form immer eine solche Weltregierung, deren Macht sich über den gesamten Erdball erstrecken würde, annehmen würde“, ein derartiger Weltstaat könne nur die Form der Tyrannis erhalten, so Arendt, denn „die Souveränität der Staaten ist nur erträglich, weil sie
7Wilfried
Thaa schreibt in seinem Aufsatz zu Arendts republikanischer Perspektive auf Politik und Weltgesellschaft: „Wenn Arendt die neuzeitliche Geschichte als Verfallsgeschichte erzählt, so ist es nicht der Verlust jenseits verbürgter Maßstäbe, den sie beklagt, sondern die Entfremdung von einer gemeinsamen Welt im objektiven wie interpersonalen Sinn, mit deren Verflüssigung, Funktionalisierung und Subjektivierung die Grundlagen zu urteilen und handeln verschwinden“ (Thaa 1999, S. 414).
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durch die Souveränität ihrer Nachbarn prinzipiell begrenzt und kontrolliert ist“ (Arendt 1989, S. 99). Ein Weltstaat oder Weltimperium würde allen Arten der Politik, wie wir sie kennen, ein Ende machen, denn „Politik hat mit Menschen im Plural und nicht mit einem Menschengeschlecht oder dem Menschen zu tun“ (ebd.). Die Entstehung eines Menschengeschlechts würde nicht mehr und nicht weniger bedeuten, „als die Ausbreitung der modernen Gesellschaft über den ganzen Erdball, und damit die Verschleppung der modernen gesellschaftlichen Phänomene […] in alle Länder der Welt“ (Arendt 1996, S. 329). Arendt unterscheidet jedoch zwischen der Menschheit als einer regulativen Idee der Menschenwürde einerseits und der globalen Vergesellschaftung zur ‚Menschengattung‘ oder zum ‚Menschengeschlecht‘ andererseits. Unter Vergesellschaftung versteht Arendt einen funktionalen Integrationsprozess, in der die einzelnen Subjekte übergeordneten Prozessen unterliegen. Das, was gegenwärtig als Globalisierung bezeichnet wird, markiert für Arendt gewissermaßen ein Endstadium des für die Moderne so typischen Prozesses der Weltentfremdung. Das Phänomen der Weltentfremdung, so beanstandet sie, untergrabe die Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns. Dementsprechend muss heute gefragt werden, inwieweit unter Prozessen einer neoliberalen Globalisierung und einer medialen Virtualisierung noch Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns vorhanden sind, oder wie Arendt bereits angedeutet hat, den Prozess- und Sachzwanglogiken des unaufhaltsamen Fortschreitens unterliegen.
6.2 Welt als das Gemeinsame Entgegen dem modernen politischen Denken, das bislang vorwiegend Politik mit ‚Staat‘ gleichsetzte und in den räumlichen Grenzen des Nationalstaates verortete, oblag es bisher eher der Philosophie, einen Begriff von ‚Welt‘ zu liefern. So wurde die philosophische Frage, was Welt sei, insbesondere von Martin Heidegger nach dem Ersten Weltkrieg thematisiert. In seinem Werk Sein und Zeit formuliert er an prominenter Stelle: „Zum Dasein gehört […] wesenhaft: Sein in einer Welt“ (Heidegger 1993, S. 13).8 Im
8Arendt
hörte während des Wintersemesters 1923/1924 Heideggers Vorlesungen über Aristoteles’ Vorstellung von ‚aletheia‘ (Wahrheit) und Platons Sophistes. In diesen Vorlesungen entwickelte Heidegger bereits Themen, die den späteren Kern zu seinem Werk Sein und Zeit (1993) bilden sollten.
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Kontrast zu einem substanzialistischen Verständnis, das sich auf die ontologischessenzielle Aussage, was Welt ist, konzentriert, wird allerdings nachfolgend analytisch nach einem wie denke ich Welt gefragt, und mit Bezugnahme auf Arendt beabsichtigt, ein politisches Verständnis von Welt zu finden. Das bedeutet, es wird kein rein philosophischer Rekurs auf die Welt-Problematik vorgenommen, lediglich die Bedeutung des „In-der-Welt-sein“ bei Heidegger angesprochen, um sich einem politischen Verständnis einer Welt-Öffentlichkeit, einer „uns gemeinsamen Welt“, wie von Arendt anvisiert, zu nähern. Arendt sieht den Sinn, nicht den Zweck, von Politik darin, „dass Menschen in Freiheit, jenseits von Gewalt, Zwang und Herrschaft, miteinander verkehren, Gleiche mit Gleichen“ (Arendt 1993, S. 39). Es stellt sich die Frage, wie sich ein derartiges Miteinander gründen soll, worin Kriterien der Vernünftigkeit gefunden werden können, wenn mit den Säkularisierungsprozessen der Moderne kein absoluter Maßstab mehr zur Verfügung steht, das politische Gemeinwesen auf sich selbst gestellt ist und keine vorpolitisch anerkannten Gewissheiten etwa aus Religion, Naturrecht und Tradition eine totale Sinnstiftung verbürgen. Arendt weist Rekurse auf ein neues Absolutes, sei es die Vernunft, das Kollektivsubjekt Nation oder Volk oder ein ideologisches Heilsversprechen, entschieden zurück. Mit ihrer Auffassung: „Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen“ (ebd., S. 11) spricht sie sich gegen eine ontologische, substanzialistische Zuschreibung des Politischen aus, wie sie die gängige Philosophie ihrer Auffassung nach bislang formulierte. Stattdessen versucht sie einen Begriff des Politischen zu begründen, der auf die Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit der Welt bezogen ist. Welt ist bei Arendt immer „‚gemeinsame Welt‘, ein ‚kommunikativer und symbolischer Raum‘, der sich ‚zwischen‘ den auf sie bezogenen Menschen realisiert“ (Jaeggi 1997, S. 59). Während Heidegger Öffentlichkeit als die uneigentliche Seinsweise des ‚Man‘ deutete,9 fasst Arendt die Öffentlichkeit der Welt als immateriellen Zwischenraum auf, der sich aus der Pluralität der Menschen erschließt: „Wo immer Menschen zusammenkommen, schiebt sich Welt zwischen sie, und es ist in diesem Zwischen-Raum, dass alle menschlichen Angelegenheiten sich
9In
Sein und Zeit heißt es: „Die Öffentlichkeit verdunkelt alles“ (Heidegger 1993, S. 127). Öffentliche Welt ist bei Heidegger die alltägliche Welt, der Wirkungskreis des „Man“. Arendt verdeutlicht, dass es für Heideggers Kategorie des Man „aus der ‚Unverständlichkeit der Trivialität‘ dieser gemeinsamen Alltagswelt […] keinen anderen Ausweg als den Rückzug in jene Einsamkeit, die die Philosophen seit Parmenides und Plato dem politischen Bereich entgegengesetzt haben“ (1989, S. 15), geben kann.
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abspielen“ (Arendt 1993, S. 25). Eine gemeinsame Welt entstehe nicht nur in Bezug auf sie, sondern durch gemeinsames Handeln in ihr. Welt ist bei Arendt als Zwischenraum zu verstehen, in dem immer weniger Bedingungen als gegeben angenommen werden können, sondern stets aufs Neue ausgehandelt werden müssen. Welt ist als Bereich des Auszuhandelnden, der Verständigung und der Deliberation, des Streites und der Auseinandersetzung zu begreifen, in dem es um die gemeinsamen öffentlichen Angelegenheiten – die res publica geht. In diesem weltlichen Zwischenraum werden Entscheidungen und Urteile getroffen, wie Welt gemeinsam gestaltet bzw. in republikanischer Absicht das bereits Gegründete und Institutionalisierte fortwährend aktualisiert und neu gegründet werden kann. Welt ist bei Arendt ein Erscheinungsraum, ein öffentlicher Bereich, in dem Menschen ausdrücklich und aktiv voreinander in Erscheinung treten und nicht nur vorhanden sind wie andere belebte oder leblose Dinge (vgl. Arendt 1996, S. 250). Dieser öffentliche Raum kann überall dort entstehen, wo sich Menschen handelnd und sprechend gegenübertreten. Arendt formuliert insofern zwei eng miteinander verbundene Phänomene, die das Öffentliche auszeichnen. Der Begriff des Öffentlichen bedeute erstens, „dass alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt“ (ebd., S. 62). Sie betont an dieser Stelle den realitätsstiftenden Charakter der Welt: „Dass etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, dass ihm Wirklichkeit zukommt“ (ebd.). Ein Realitätsempfinden entstehe dort, „wo die Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint“ (ebd., S. 251). Der Begriff des Öffentlichen bezeichne zweitens „die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solche sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist“ (ebd., S. 65; Hervorhebung B.L.). Arendt macht hier einen weiteren Aspekt geltend, nämlich, dass sich Welt als gemeinsame Welt konstituiert. Das weltlich Gemeinsame sei jedoch „keineswegs identisch mit der Erde oder der Natur im Ganzen, wie sie dem Menschengeschlecht als ein begrenzter Lebensraum und als Bedingtheit seines organischen Lebens angewiesen sind“ (ebd.). Welt beziehe sich weder auf eine geografische Gegebenheit noch auf unsere natürliche Umgebung, sondern „die Welt ist vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen. In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, dass eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar
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in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen“ (ebd., S. 65 f.). Welt im Sinne von Weltlichkeit bedeute zugleich die Objektivität der den Menschen entgegenstehenden Dinge, wie Arendt anhand der Tischmetapher verdeutlicht, wobei der zwischenmenschliche und objektive Aspekt der Welt sich gegenseitig bedingen: „Wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist“ (ebd., S. 66). Das Zwischen verbürgt Distanz und Nähe, ist trennendes und verbindendes Element zugleich und bietet verschiedene Perspektiven auf das gemeinsame Dritte der Welt: „War bei Heidegger die Perspektivität der Welt mitgedacht in dem Sinne, dass Welt perspektivisch auf das Selbst des Weltentwurfs bezogen ist“ (Jaeggie 1997, S. 62) tritt bei Arendt eine Konzeption von Welt hervor, die multiperspektivisch ist. „Welt entsteht nicht mehr ‚um mich herum‘, auch nicht ‚um uns herum‘, sondern ‚zwischen uns‘“ (ebd.). Welt stellt sich durch die Verschiedenartigkeit der Perspektiven auf sie her: „Nur wo Dinge […] von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, sodass die um sie Versammelten wissen, dass ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten“ (Arendt 1996, S. 72). Die Existenz einer gemeinsamen Welt erfordere eine Vielfalt von Perspektiven, was überhaupt erst durch die menschliche Pluralität denkbar ist: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird“ (ebd., S. 73). Der hohe Anspruch einer derartigen Konzeption von Politik liegt nicht etwa, wie republikanischen Politiktheorien immer wieder vorgehalten wird, in einer dauerhaften partizipatorischen Überforderungen der Bürger_innen, sondern ist vor allem darin zu sehen, dass die Menschen die Bereitschaft aufbringen müssen, ihre eigene Selbstbezogenheit zu überwinden, um sich mit anderen zu assoziieren und sich im Sinne einer „erweiterten Denkungsart“ (Kant) an deren Stelle versetzen zu können. Arendts Auseinandersetzung mit dem Begriff von Welt bei Heidegger klingt zunächst philosophisch abstrakt, dennoch zielt sie ausdrücklich auf ein politisches Verständnis von Welt ab. Arendt bestimmt das Politische nicht durch Identität, etwa bezogen auf ein Volk oder eine Nation, sondern verortet es „zwischen den Menschen“. In ihrem Rekurs auf Kants Urteilskraft als politisches Denkvermögen unterstreicht sie, dass Menschen nicht aufgrund einer geteilten Identität zusammengeführt werden, sondern durch Kommunikation und Beteiligung. Aus ihren Denkweisen einer deliberativen Politik können demokratietheoretisch viele bedeutsame Aspekte gewonnen werden, die über die reduktionistische Diskussion deliberativer Demokratie weit hinausreichen und damit auch andere Impulse für die politische Bildung liefern.
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Das Miteinander Sprechen und Handeln Hannah Arendts Begriff von Öffentlichkeit als Modell für den Diskussionsraum der Erwachsenenbildung Ingeborg Nordmann „…die herrliche Genauigkeit des Zuhörens, die ständige Bereitschaft, Rede und Antwort zu stehen, die Geduld, bei der einmal besprochenen Sache zu verweilen; ja mehr noch, die Fähigkeit, das sonst Verschwiegene in den Gesprächsraum zu holen, es sprechwürdig zu machen und so alles im Sprechen und Hören zu verändern, erweitern, verschärfen…“ (Hannah Arendt über Karl Jaspers)
1 Arendts Konzeption des öffentlichen Raums In den ersten Briefen nach 1945 verständigten sich Hannah Arendt und Karl Jaspers, deren Gespräche durch den Nationalsozialismus und die Emigration Arendts unterbrochen worden waren, über die Gemeinsamkeiten im Denken. Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass ein Herrschaftsmechanismus entwickelt worden war, der im Handumdrehen ein ganzes Volk in die Barbarei versetzt hatte,
Dieser Beitrag erschien erstmals unter: Nordmann, I. (2011). Das Miteinander Sprechen und Handeln. Hannah Arendts Begriff von Öffentlichkeit als Modell für den Diskussionsraum der Erwachsenenbildung. In: Hessische Blätter für Volksbildung 01/2011. Öffentlicher Raum und politische Bildung (S. 23–31). Bielefeld: wbv. Die Herausgeber danken dem Verlag herzlich für die Erteilung der Rechte für den Wiederabdruck an dieser Stelle. I. Nordmann (*) Bensheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_6
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skizzierten sie, was kritische Geistesgegenwart für sie hieß. „Zählen werden nur die“, schrieb Arendt, „die bereit sind, sich weder mit einer Ideologie noch mit einer Moral zu identifizieren“ (Arendt 1985, S. 59). Abgeblockt werden Realitätsund Verantwortungsbewusstsein durch die innere Zwangsläufigkeit im Denken, die sich auf die Pflicht gegenüber höheren Gesetzmäßigkeiten beruft und dieser Pflicht unbedenklich die Zwischenmenschlichkeit und Freundschaft opfert. „Das Problem, das persönliche Problem, war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu (…) Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. (…) Das Schlimmste war, dass sie dann wirklich daran glaubten! (…) Aber das heißt doch: Zu Hitler fiel ihnen was ein. Und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz fantastisch interessante und komplizierte! Und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge. Das habe ich als grotesk empfunden.“ (Arendt 2006, S. 58 f.)
Angesichts des tief greifenden moralischen Zusammenbruchs versuchten sie, das Terrain des Denkens und Handelns abzustecken, für das sie von sich selbst Verantwortung forderten. Philosophie als übergeschichtliche Frage nach dem menschlichen Sein, darin stimmten beide überein, ist nicht mehr möglich. „Es wird sinnlos, so zu sprechen, wie ich es bisher tat“, schreibt Jaspers, „die Philosophie muss konkret und praktisch werden, ohne ihren Ursprung einen Augenblick zu vergessen“ (Arendt 1985, S. 44). Hannah Arendt geht noch einen Schritt weiter. Sie will nicht weiter Philosophin genannt werden, sondern politische Theoretikerin. Politisches Engagement der Philosophie sollte jedoch nicht nach dem Vorbild von Marx gedacht werden. Nicht die historisch-materialistische Ableitung des philosophischen Fragens und Antwortens von Ökonomie und Politik wird gewollt, sondern eine Potenzierung der philosophischen Unabhängigkeit im Sinne der kritischen Unbestechlichkeit eines Sokrates. Sokrates war für Arendt der maßgebende Denker, dem es nicht darum ging, Wahrheiten aufzustellen und die anderen von ihr zu überzeugen, sondern Gewissheiten aufzulösen. Die berühmte Mäeutik des Sokrates ist aber im Verständnis Arendts keine pädagogische Strategie, die darauf abzielt, den Gesprächspartner auf eigenen Denkwegen zu einer bereits gewussten Wahrheit zu führen. Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass sich Meinungen und Vorurteile mit großer Schnelligkeit zu einer unumstößlichen Ideologie manifestieren können, die dann wie eine Wahrheit funktioniert, war Arendt an der auflösenden Kraft des Sokratischen Denkens interessiert. Mit Scharfsinn und Genauigkeit hat Sokrates in den
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Argumentationen die Momente aufgespürt, wo sich Meinungen zu nicht mehr irritierbaren Gewissheiten verschließen. Seine Fähigkeit, eine Sache durchzudenken, bis sie in ihren vielfältigen Aspekten gesehen werden kann, hat für Arendt eine unverzichtbare politische Dimension. Entgegen der Tradition politischer Philosophie, die Politik mit Herrschaft gleichsetzt, lag nach Arendt der Sinn von Politik in der Freiheit. Diktaturen sind daher auch nicht gleichzusetzen mit einer Überpolitisierung aller Lebensbereiche. Sondern sie bringen das Politische zum Verschwinden. Dass Politik derart in Verruf geraten konnte, sodass sie schließlich mit Gewalt identifiziert wurde, ist nicht zuletzt der negativen Nachrede der Philosophen zuzuschreiben. Mit Platon begann die Feindschaft zwischen Philosophie und Politik. Seitdem hat die Philosophie alles getan, „niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht.“ (Arendt 2002, S. 17) Arendt versucht durch einen Rückgang durch die Geschichte der Philosophie die Überblendungen und Verstellungen des Politischen aufzulösen, um das, was Politik ursprünglich, zu ihrer Entstehungszeit, bedeutet hat, sichtbar zu machen. Als den Ursprung von Politik identifiziert sie die griechische Polis. Aber da es bereits unter den griechischen Philosophen unterschiedliche Auffassungen gab, impliziert Arendts Definition des politischen Raums eine Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles. Die Polis war ein durch Gesetz gestifteter Raum, an dem die Gewalt ausdrücklich ausgeschlossen war.1 Allein im Modus des Miteinandersprechens und Handelns sollten die politischen Angelegenheiten beraten werden, in deren Mittelpunkt nach Aristoteles die Fragen des guten Lebens standen. Arendt übernimmt von Aristoteles die Auffassung, dass das politische Handeln nicht einen vorgefassten Zweck verfolgt, sondern seinen Sinn in sich selbst findet. Aber keineswegs stimmt sie mit seiner Definition überein, dass der Mensch ein politisches Wesen (zoon politikon) ist. Das Politische zeigt sich nach Arendt in dem, was zwischen den Menschen stattfindet: im Miteinander-Reden und -Handeln.
1Der
Gründungsakt gilt bereits bei den griechischen Philosophen als v or-politisch, weil er die institutionelle Voraussetzung und den Rahmen von Politik darstellt, die durch ein Herstellen zustande kommt und immer auch gewaltsame Züge hat. Diese strikte Trennung zwischen Herstellen und Handeln ist nicht unproblematisch, da ja bereits die Gestaltung des politischen Körpers einen politischen Konsens voraussetzt. Arendt geht es hier um den reinen Begriff des politischen Handelns, um das „Bezugsgewebe“ des Politischen, das in der Geschichte der politischen Philosophie weitgehend unberücksichtigt geblieben ist und das für die hier behandelte Fragestellung vor allem von Interesse ist. Während Arendt in der Vita activa vor allem das Handeln erörtert, widmet sie sich in ihrem Buch über die Revolution ausführlicher den Institutionen.
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Die Konzipierung des Zwischenraums durch Arendt zeigt deutlich, dass es ihr nicht um ein Zurück in die Vergangenheit ging, um sie so, wie sie war, wieder zu beleben. Sondern um die Konstruktion einer Art zweiter Gegenwart, in der die Erfahrungen der Polis mit denen der Gegenwart in eine Konstellation treten2, um dem Denken durch diese ungewöhnliche Gleichzeitigkeit zweier verschiedener geschichtlicher Erfahrungen einen neuen Freiraum zu eröffnen. Denn der Begriff des Zwischen weist ebenso auf eine zeitgenössische Quelle, auf Martin Bubers philosophischen Essay Ich-Du, wo es heißt, dass das „Apriori“ die Begegnung, das „Zwischen“ ist: „Der Mensch wird erst am Du zum Ich“ (Buber 1995, S. 28). Das Zwischen Bubers gründet „nicht mehr in der Sphäre der Subjektivität“ (Buber 1954, S. 295). Während Bubers Reflexion sich auf das Zwiegespräch zwischen dem Ich und Du beschränkt, findet Arendt bei den Griechen die politische Dimension des Miteinander-Redens und -Handelns der Vielen. Die zwei konstitutiven Elemente des Handelns: das archein (anfangen) und das prattein (zu Ende führen) bedürfen der Anderen. Dass aber das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen an die Stelle des zoon politikon tritt, ist in dieser ausdrücklichen Betonung, wie sie Arendt vornimmt, neu. Das Zwischen, das „zugleich Abstand und Verbindung herstellt und als solches den Raum konstituiert“, gewinnt in Arendts Verständnis eine Eigenständigkeit gegenüber den Handelnden, denn es ist keineswegs als einfache Zusammenfassung der verschiedenen einzelnen Intentionen zu begreifen. Das Zwischen entsteht aus dem Handeln „ohne Intentionen“, „so dass was sich ergibt von vornherein niemandes alleinige Verantwortung ist und jeder sich wandelt, sobald er zu handeln beginnt.“ (Arendt 2002, S. 471) Die Pluralität vermittelt Arendt den Anstoß, Aristoteles’ anthropologische Definition des zoon politikon ebenso zu überschreiten wie Bubers harmonisierende Ausklammerung der Gefahr, dass der Dialog scheitern kann. Ihre Auffassung des Zwischen gibt auch dem Unwägbaren und Zufall Raum. Doch wie ist das Handeln ohne Intentionen zu verstehen? Arendt nennt die dem Reden und Handeln eigentümliche Dimension ein „ausdrücklich in Erscheinung treten“ (Arendt 1981, S. 192), und zwar für andere. Allein durch die Offenheit für die Anderen wird das in Erscheinung Treten und Handeln öffentlich. Indem die Menschen sich als Gleiche und Unterschiedene begegnen und aufeinander beziehen, konstituieren sie einen gemeinsamen öffentlichen Raum. Gleich sind sie, weil sie alle an der Freiheit partizipieren, die nach Arendt zunächst und grundsätzlich Bewegungsfreiheit ist: „Die Bewegungsfrei-
2Arendts
Hermeneutik der Konstellation ist von Walter Benjamin beeinflusst.
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heit ist nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war.“ (Arendt 1999, S. 25) Diese Bewegungsfreiheit bedeutet freie Äußerung der eigenen Meinung, aber auch sich frei bewegen zwischen den Meinungen der Anderen, sodass eine Sache von möglichst vielen Gesichtspunkten aus wahrgenommen werden kann. Meinungsfreiheit und Offenheit, Miteinanderreden und Einanderzuhören konstituieren das „Bezugsgewebe“ des politischen Raums, ein Bezugsgewebe, das nur aus subjektiven Begegnungen, Wahrnehmungen, Meinungen und Urteilen besteht. Der politische Raum ist somit der öffentliche Raum par excellence. Darin unterscheidet er sich auch von der Kultur, die ebenso zur Konstituierung von Öffentlichkeit beiträgt. Arendt zeigt auf, dass die kulturelle Tätigkeit, deren Spezifik das Herstellen und nicht das Handeln ist, durch eine zwischen privat und öffentlich oszillierende Ambivalenz geprägt ist. Während das Kunstwerk Teil der Welt wird, muss der Künstler, um es herstellen zu können, sich aus der Öffentlichkeit entfernen und „ihr verborgen sein“. Die „eigentliche politische Tätigkeit aber, das Handeln und Sprechen, (sind) überhaupt nicht vollziehbar ohne die Präsenz der anderen und die Öffentlichkeit eines durch die Vielen konstituierten Raumes.“ (Arendt 1994, S. 297) Die Trennung zwischen dem reinen politischen Bezugsgewebe und den Absichten und Zwecken der Einzelnen dient Arendt dazu, eine Dimension des Zwischenmenschlichen sichtbar werden zu lassen, die – würde man Politik nur als Interessenpolitik verstehen – nicht mehr wahrgenommen werden könnte. In Arendts Überlegungen zur Freiheit, die eng an das Handeln gebunden sind, spielt der Willensbegriff nur eine untergeordnete Rolle. Politische Freiheit ist eine Freiheit des „Ich kann“ und nicht des „Ich will“. Dieses Verständnis von Freiheit steht in engem Zusammenhang mit Arendts Auffassung, dass die Essenz des politischen Handelns die Pluralität ist. Daher kann Handeln niemals souverän sein, sondern immer nur als „acting in concert“ (Arendt 1994, S. 224) verstanden werden.3 Die Pluralität ist ein Weltphänomen und kann keineswegs im Dialog des Subjekts mit sich selbst erfahren werden. Dennoch spielt die Willensfreiheit für das Handeln eine bestimmte Rolle. Sie ist Teil der Spontaneität, der menschlichen Fähigkeit, eine Reihe von vorn anzufangen, die Arendt bei Kant entdeckt, der die
3Von
hier aus entwickelt Arendt auch ihren kommunikativen Begriff von Macht. Macht ergibt sich durch das Handeln der Vielen. Gewalt ist nicht potenzierte Macht, sondern zerstört sie, weil sie Handeln verunmöglicht. Gewalt ist für Arendt auch außenpolitisch ein Grenzphänomen.
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Spontaneität allerdings nur als ein Denkphänomen begreift. Die Spontaneität und das Anfangenkönnen, das Arendt wie Augustinus in der Natalität des Menschen zu verankern sucht, sind trotz ihres durch Erfahrung bezeugten Daseins keine anthropologischen Eigenschaften. Sie können nicht bewiesen werden. Arendt spricht von einem „Überschuss“, „dass es etwas gibt, das nicht von irgendetwas bestimmt und doch nicht willkürlich ist.“ (Arendt 2003, S. 127) Dieser Überschuss ermöglicht die Fortsetzung des Dialogs, aber in einer Richtung, die vorher nicht in ihm angelegt war. Er geht ein in das Bezugsgewebe erzählter Geschichten und nur durch sie wird seine Wirklichkeit bezeugt. Was die Pluralität wirklich ist, erscheint Arendt als die schwierigste Frage. Denn als Wirklichkeit erfahrbar wird Pluralität erst durch das Miteinandersprechen und -handeln. Ihre Akzeptanz erfordert eine Freiheit in den Begegnungen der Menschen, die in einer Welt, die durch Vorurteile, Konformismus, Ausgrenzung und Gewalt geprägt ist, nicht selbstverständlich ist. Eine unverzichtbare Voraussetzung dieser Freiheit ist für Arendt die umfassende Entwicklung der Individualität eines jeden, „dass auch in der Pluralität (…) die Lebendigkeit des Eins-Werdens“ erhalten bleiben muss (Arendt 2002, S. 61). Mit geradezu emphatischem Nachdruck besteht sie darauf, dass sich im Sprechen und Handeln das „Wer“ des Menschen, seine unverwechselbare Individualität, offenbart, die den biologischen Kreislauf und das beruflich-fachliche Können übersteigt. Diese Erfahrung kann nicht theoretisch, sondern nur in Erzählungen weitergegeben werden, die auch dem Konkreten und Sinnlichen Raum geben. Für Arendt spielt das rationale Argumentieren, die Begründung des eigenen Standpunkts, nicht die ausschließliche Rolle. Es geht nicht darum, den Anderen argumentativ zu besiegen, sondern sich vorzustellen, von welchem Ort in der Welt der Andere seine Argumente vorträgt und aus welchen Gründen er unterschiedlicher Meinung ist. Vergegenwärtigung wird daher nicht als Einfühlung verstanden. Das Vorstellungsvermögen, das Arendt meint, ist aber nicht die Vernunft, sondern die Einbildungskraft, die aus diesem Grunde das „wahre Band“ zwischen den Menschen stiftet. Damit weist Arendt auf ein vollkommen neues kommunikatives Verhalten, das sich „der Wahrheit nicht durch Überlegenheit der Argumentation vergewissern“ will (ebd., S. 45). Das Sprechen und Miteinandersprechen ist nicht identisch mit gekonnter Rhetorik, die „überzeugend“ und „gewaltsam“ zugleich ist. Dem Überzeugen fehlt sowohl das „Einer mit einem anderen“ wie die „Gemeinsamkeit, die gleiche Sache wissen zu wollen.“ (ebd., S. 384) Seinen „eigenen Aspekt“ durchzusetzen, ist nach Arendt zwar innerhalb bestimmter Grenzen wichtig. Die Gefahr besteht aber darin, dass dieser Aspekt zum „universal gültigen Phänomen“ verabsolutiert wird: „Wer mehr zeigen will, als seinen Aspekt, wird zum Demagogen oder (…) zum Tyrannen.“ (ebd.,
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S. 391) Arendt betont daher nicht nur die strukturell offene und pluralistische Verfasstheit des politischen Raums als unabdingbare Voraussetzung der Freiheit und des Handelns. Sie konzipiert ebenso auf der subjektiven Seite neue Modi des Verstehens und Miteinandersprechens. Anstelle von Aristoteles’ phronesis und Kants praktischer Vernunft, die beide wegen ihres normativen Charakters als zu starr und nicht entwicklungsfähig eingeschätzt werden, übernimmt Arendt von Kant die Kategorien der Einbildungskraft und Urteilskraft und macht sie zu zentralen Bausteinen des handelnden Verstehens, weil sie genug Beweglichkeit in sich haben, um auch auf das Unvorhergesehene reagieren zu können: die Einbildungskraft, die das Nahe, Gewohnte von sich wegrückt und das Ferne, Unbekannte zu sich heranholt, und die Urteilskraft, die das Konkrete einschätzen kann, ohne es unter eine Regel zu subsumieren. Dadurch dass beide Vermögen nicht subsumieren und hierarchisieren, bleiben das Besondere und das Allgemeine, das Nahe und Ferne in ihrer Eigenart bestehen. Das Besondere wird nicht zu einer neuen Allgemeinheit verabsolutiert, noch ist das Allgemeine die beherrschende Kraft, die alle Besonderheiten determiniert. Nähe und Ferne werden nicht in ihrer Spezifik aufgelöst, sondern durch die Entwicklung von Zwischenzonen, die man als bewohnbare Distanzen bezeichnen kann, in eine neue und andere Balance gebracht.
2 Bewohnbare Distanzen Die Überlegungen Arendts, die sich weniger auf die institutionelle Seite der Öffentlichkeit beziehen, sondern sich in besonderer Weise mit den Erfahrungen des Sprechens und Miteinandersprechens befassen, geben ein Beispiel auch für die politische Bewusstseinsbildung in der Erwachsenenbildung. Dadurch dass sich die Diskussionsräume der Erwachsenenbildung in Distanz zu den weltanschaulichen Richtungskämpfen der Parteien und dem Schlagabtausch von Argumenten in der Medienöffentlichkeit halten können, bieten sie geradezu eine Chance, Erfahrungen entstehen zu lassen, die Arendt als bedeutsam für das politische Denken und Handeln angesehen hat. Der Diskussionsraum, um den es hier geht, unterscheidet sich einerseits von der Vermittlung reinen Fachwissens und andererseits von einem Forum, das sich vor allem an tagespolitischen Diskussionen orientiert. Im Mittelpunkt des gemeinten Raums stehen Themen, die – wie in den Sokratischen Dialogen – grundlegenden Fragen gelten: Was ist Gerechtigkeit? Was ist Freiheit? Was ist Politik? Das Thema begründet eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen den Teilnehmern, nämlich die, dass die Versammelten sich ausdrücklich im Umkreis der Fragestellung bewegen wollen und
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ein Interesse an einer Nachdenklichkeit haben, die sich nur in der Distanz zum politischen Tagesgeschehen entwickeln kann. Das heißt nicht, dass dieser Diskussionsraum nicht auch während einer Debatte über aktuelle Fragen entstehen kann, wie umgekehrt die Diskussion grundlegender Fragen auf aktuelle politische Fragen hinführt. Das „Wagnis der Öffentlichkeit“ (Jaspers) besteht hier darin, dass dem Wort und dem Miteinandersprechen noch einmal die Anziehungskraft übertragen wird, wie sie in Arendts eingehenden und engagierten Reflexionen zum Reden und Handeln in der Polis zum Ausdruck kommt. Dabei ist für die Erweiterung des dialogischen Miteinandersprechens wesentlich, dass den Reflexionen des Einzelnen möglichst viel Spielraum gegeben wird. Das kann dadurch geschehen, dass Anschauung nicht zur Illustration von theoretischen Reflexionen verkürzt wird, sondern ein Dialog zwischen den verschiedenen sinnlichen Erfahrungen und Reflexionsformen entwickelt wird, zum Beispiel durch die gleichzeitige Präsentation von Ausstellung oder Filmvorführungen und Vorträgen, von Konzerten und Lesungen. Indem die verschiedenen Präsentationsformen in ihrer Eigenheit betont werden, können sie eine Mehrbezüglichkeit der Erfahrungen bereitstellen, die dem Einzelnen mehrere Möglichkeiten für seine Entscheidung lassen, wohin er sich bewegen und wie er seine Eindrücke verknüpfen will. Eine auf diese Weise erworbene Multiperspektivität befreit von dem Verdikt, sie gefährde die Sicherheit von Identität. Sie wird erfahrbar als Erweiterung der „Denkungsart“ (Kant) und des Dialogs. Die „Vielfalt von Eindrücken“ ordnet sich „zum Reichtum von Erfahrungen“ (Hahn 2007). Die Frage, die sich in einem solchen Kontext, der durch die Offenheit für Verschiedenheit und Multiperspektivität konstituiert wird, grundlegend stellt und probeweise beantwortet werden muss, ist die: Wie viel Bereitschaft mitzudenken, können die Zuhörer entwickeln und in welchem Ausmaß können sie in den Vortragenden nicht nur die Experten sehen, die fertiges Wissen präsentieren, sondern auch diejenigen, die nachgedacht haben und zu weiterem Denken einladen? Umgekehrt, wie viel Bereitschaft lassen die Vortragenden erkennen, ihr Wissen in einen Fragehorizont zu stellen, der erst im Miteinandersprechen Konturen gewinnt und ausgestaltet wird? Ein konstituierendes Kriterium für diese wechselseitige Offenheit ist, dass wir uns von gängigen Vorstellungen über Nähe und Distanz verabschieden. Die politisch problematischste Illusion, die mit Nähe assoziiert wird, ist die Identifikation, oder dass Distanz durch emotionale Nähe überwunden werden kann. Denn gerade die Distanz zwischen den Individuen ist der Raum, in dem sie sich in ihrer Besonderheit zeigen können. Diese Distanzen sind aber nicht identisch mit gesellschaftlichen Hierarchien oder denen des Wissens. Arendt erläutert die Bedeutung der Distanz oder des Zwischenraums mit
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dem Bild des Tisches, der verbindet und trennt. Aufgabe ist es nicht, dass die miteinander Sprechenden sich näherkommen, sondern dass der Tisch gedeckt wird. Das gemeinsame Projekt muss bewohnbar gemacht werden. Das Verbindende ist daher nur dann produktiv, wenn es nicht durch ein homogenisierendes Einverständnis erzielt wird, und das Individuelle wirkt sich nur dann kreativ aus, wenn es nicht mit Vereinzelung oder Selbstbehauptung verwechselt wird. Was heute als Überlastung des Einzelnen mit Verantwortung diskutiert wird, wäre nach Arendt ein Phänomen der Verlassenheit. „Menschen bedürfen der Leibhaftigkeit.“ (Arendt 1985, S. 719) Das Zwischen in den Mittelpunkt stellen, schließt eine emotionale Teilhabe keineswegs aus. Arendt nannte sie „public happiness“. Durch ihre Orientierung an der Freiheit als Bewegungsfreiheit lenkte Arendt die Aufmerksamkeit auf Wahrnehmungsund Verhaltensweisen, die an beidem teilhaben: der Reflexion und der Sinnlichkeit. Das sich Zeigen und Gesehenwerden Sich-Zeigen und Gesehenwerden, die Gedanken hin- und hergehen lassen, sie anhalten und in eine andere Richtung wieder losschicken, sie gleichsam „darzustellen“ (Arendt), die Gestik und die stimmliche Modulation, der fragende oder zustimmende Blick oder einfach die Freude daran, sich mitzuteilen und gehört zu werden, dies alles unterscheidet Arendts Dialog von einer rationalistischen Konzeption, deren Trumpf das bessere Argument ist. Die Facetten dessen, was uns miteinander verbindet und trennt, sind vielfältiger, überwindet man das Denken in Gegensätzen, das nur die Farben von Schwarz und Weiß kennt. Distanzen erscheinen als bewohnbar, wenn Unterschiede als beweglich und nicht mehr als starre und ausschließende Gegensätze wahrgenommen werden. In ihrer Rede zur 200-Jahrfeier der amerikanischen Verfassung sprach Arendt von der Gefahr, dass das Politische in der Welt der Menschen verloren gehen könnte: „Eine der Entdeckungen totalitärer Regierungssysteme war die Methode, riesige Erdlöcher auszuheben, um darin unliebsame Tatsachen und Ereignisse zu vergraben (…) Denn die Vergangenheit war dazu verurteilt, dem Vergessen anheim zu fallen, als hätte es sie nie gegeben. (…) Bei uns sollen nicht Terror, sondern Überredung, der mit Druck nachgeholfen wird, und Manipulation der öffentlichen Meinung das zuwege bringen, was der Terror nicht geschafft hat.“ (Arendt 1986, S. 173)
Nicht nur die Manipulation durch Medien und Parteien kann das Politische zum Verschwinden bringen, sondern auch die Tatsache, dass es gar keine Räume mehr gibt, in denen die gemeinsame Welt besprochen wird. Denn „menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch
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nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist (…) und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.“ (Arendt 1981, S. 47) Aus der Sicht von technokratischen Ideologen und Medienprofis, die das Prozesshafte allen Geschehens betonen und unermüdlich Beweise dafür sammeln, dass Unmündigkeit und Überflüssigkeit des Menschen ein neues Stadium der Unumkehrbarkeit erreicht haben (vgl. Heinz 2008), erscheint Arendts Plädoyer für die Freiheit und Einzigartigkeit eines Jeden ein altmodisches Unterfangen. Arendt setzt auf die unendlichen Kontexte der Pluralität, die sie von ihren verschiedenen Phänomenen aus zu erschließen sucht: vom Erscheinungscharakter der Welt und des Sprechens und Handelns und den verschiedenen subjektiven Möglichkeiten, durch Denken und Urteilen sich innerhalb der Welt der Phänomene zu orientieren. Der Tatsache, dass es in der Geschichte immer ein Zuviel an Gewalt, Ausgrenzung, Konformismus und Hoffnungslosigkeit gegeben hat, setzt sie die Tatsache entgegen, dass sich auch immer Menschen dagegen gewehrt haben. Diese Erfahrungen möchte sie weniger als moralischen Appell einbringen, sondern konkret: als Erzählen von Geschichte. Auch Freiheit bedarf der Erfahrung. Ohne das praktische Wissen, was im Miteinander-Sprechen und -Handeln, im Zuhören und Einbringen des eigenen Aspekts zwischen den Menschen vor sich geht, und ohne die Erfahrung der „public happiness“, die es in dem Einzelnen auszulösen vermag, kann nach Arendt keine Demokratie Bestand haben. Arendt hat mit dem Anfangen einen Kontrapunkt zum Kreislauf des Immergleichen gesetzt, weil sie den Anfang nicht als ein zwingendes Prinzip oder als Selbstermächtigung interpretiert, sondern als eine Gabe, die sich in der Begabung für das Anfangen eines jeden Menschen, der „einmal als ein einzigartig Neues in der Welt“ erscheint (Arendt 1981, S. 167), fortsetzt. Das Anfangen, das stets im Widerspruch zu „statistisch erfahrbaren Wahrscheinlichkeiten“ (ebd.) steht und zugleich in die Richtung des vielfältigen und experimentellen Miteinandersprechens weist, muss nicht autorisiert werden. Es kann überall stattfinden, wo Erfahrungen möglich sind, die davon handeln, was Freiheit wirklich ist und dass sie „mehr ist als ein Nicht-gezwungen-werden“ (Arendt 1994, S. 201). „Politisch verantwortlich verhalten Menschen sich nur, wenn eine Vielheit von Positionen zugelassen, ausgehalten und gehalten wird. Wenn ein Abend an einem öffentlichen Ort dies ermöglicht, haben sie sich dem Verschwinden von Politik entgegengestellt. Auch wenn sie über Dinge sprechen, die in der Alltagssprache nicht als ‚politisch‘ gelten“ (Hahn 2007).
Das Miteinander Sprechen und Handeln
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Literatur Arendt, Hannah/Jaspers, Karl. 1985. Briefwechsel 1929–1969. München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 2002. Denktagebuch 1950–1973. Hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 2006. „Fernsehgespräch mit Günter Gaus“, Oktober 1964. In: Arendt, Hannah: Ich will verstehen, Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hrsg. von Ursula Ludz. München: Piper. Arendt, Hannah. 1999. Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises. Hrsg. von Sabine Groenewold. Mit einem Essay von Ingeborg Nordmann. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. EVA Reden Band 27. Arendt, Hannah. 2003. Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Hrsg. von Jerome Kohn. München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah. 1981. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. Arendt, Hannah. 1994. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hrsg. von Ursula Ludz. München: Piper. Arendt, Hannah. 1986. 200 Jahre amerikanische Revolution. In: Arendt, Hannah: Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. von Marie Luise Knott. Berlin: Rotbuch-Verlag. Buber, Martin. 1954. Die Schriften über das dialogische Prinzip. Heidelberg: Schneider. Buber, Martin. 1995 [1923]. Ich-Du. Heidelberg: Schneider. Bude, Heinz. 2008. Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München: Hanser Verlag. Hahn, Barbara. 2007. Zur Verabschiedung von Frau Dr. Ingeborg Nordmann am 16. November 2007. www.roemer9.de.
Jenseits der akademischen und intellektuellen Welten. Arendts Standort Wolfgang Heuer 1 Einleitung Ich möchte im Folgenden einige zentrale Aspekte im Denken und Werk Hannah Arendts vorstellen, die sie als Nichtakademikerin und Nichtintellektuelle ausweisen. Damit soll die oft vorgebrachte Kritik an ihr aufgegriffen und positiv gewendet werden. Eine Kritik, die nicht nur ihren Bericht „Eichmann in Jerusalem“ betrifft, ihre angeblich konservative Nostalgie der griechischen Polis oder ihre Kritik des Sozialen als antipolitisch, sondern eine Kritik, die auf ihre Methode zielt: Ihrer politischen Theorie fehle die Normativität, so z. B. Benhabib, ihrer Geschichtsschreibung die nötige Objektivität, so Voegelin, und ihrer Philosophie die Stringenz, so Honneth. Zudem sei ihre Darstellung des europäischen Kolonialismus in Afrika eurozentristisch, wenn nicht rassistisch (Benhabib 1998; Arendt und Voegelin 1998; Honneth 2014; King und Stone 2007). Diese Kritik setzt Maßstäbe des Akademischen voraus, die Arendt in der Tat nicht eingehalten hat: Politische Theorie auf der Grundlage der Sozialwissenschaft zu betreiben, den Standpunkt der Objektivität einzunehmen und die Grenzen der Disziplinen zu wahren. Dieser akademische Rahmen bleibt auch dann gewahrt, wenn Arendt Zustimmung erfährt. Sie droht gegenwärtig, zu einer
W. Heuer (*) Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_7
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Klassikerin gemacht zu werden,1 wobei ihr Denken als Steinbruch behandelt und dem eigenen Standort angepasst wird und sie angesichts der weltweiten Krisen als neue Autorität befragt wird: „What would Hannah say?“ (Waldron 2007). Unabhängig, ob das Urteil zustimmend oder ablehnend ist, ein geschlossenes Denkgebäude ist das jeweilige Kriterium zur Auseinandersetzung mit Arendt. Wie wir noch sehen werden, ist dieses akademische Denk- und Regelgebäude antipolitisch. Nicht nur politisches Denken und Handeln unterscheidet sich von diesem akademischen Denken und Handeln, sondern, so Arendt, auch das politisch-theoretische Denken muss sich davon unterscheiden. Dies ist nicht nur Arendts Meinung, sondern auch die Meinung von drei amerikanischen Politologen, John Dunn, John Gunnell und Bonnie Honig. Alle drei beklagten bereits seit den 1980er Jahren „the post-modern suspicion … (of) the canon of great works“ (Dunn 1996, S. 26), „The Alienation of Political Theory“ (Gunnell 1986) und „The Displacement of Politics“ in der politischen Theorie (Honig 1993). Kant, Rawls und Sandel, so Bonnie Honig, confine politics (conceptually and territorially) to the juridical, administrative, or regulative tasks of stabilizing moral and political subjects, building consensus, maintaining agreements, or consolidating communities and identities. They assume that the task of political theory is to resolve institutional questions, to get politics right, over, and done with, to free modern subjects and their sets of arrangements of political conflict and instability. (Honig 1993, S. 2)
Es sieht nicht so aus, als ob diese Kritiken zu einem Umdenken in der politischen Theorie geführt hätten. Der akademische Habitus überlebt diese Einwände mit Leichtigkeit, in Deutschland auch deswegen, weil in der Politikwissenschaft das Fach politische Ideengeschichte immer weiter reduziert wird. Ich will im Folgenden die Differenz Arendts zu den akademischen Normen und Gepflogenheiten an folgenden Schwerpunkten umreißen:
1So
wird das Buch „Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität?‟ mit folgendem Text zum „Produktinfo“ von seinem Verlag beworben: „Hannah Arendt ist längst von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin der modernen politischen Theorie geworden. In unnachahmlicher Weise hat sie den Bruch des deutschen philosophischen Denkens in den 20er Jahren in ihren weiteren intellektuellen Lebensweg aufgenommen und in eine politische Theorie des 20. Jahrhunderts übertragen.“ https://www. degruyter.com/view/product/232059 (zuletzt gesehen am 06.11.2019).
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• Arendts Konzept von Persönlichkeit, • ihr Perspektivwechsel vom neuzeitlichen Subjekt zu den Intersubjekten des Dazwischen, • ihre diskursive Methode und ihr dichterisches Denken, • die Radikalität ihres Denkens und die Rolle der Emotionen und zum Schluss • ihre Kritik an der Welt der Intellektuellen.
2 Arendts Konzept der Persönlichkeit „Lieber mit Plato unrecht haben als mit diesen Leuten die Wahrheit – dies ist das politische Prinzip, in dem es auf die Person ankommt“, notierte Arendt in ihr Denktagebuch (Arendt 2002, S. 595). Es geht ihr nicht nur um die Institutionen der Freiheit, die Sicherung des öffentlichen Raums und die Ermöglichung von Politik. Immer geht es auch um die Handelnden selbst, die Personen, von denen die Verwirklichung und die Verteidigung der Freiheit abhängen. Es geht um Wahrheit, aber mehr noch um Vertrauen und Verlässlichkeit. Die Bedeutung der Person ist durchgängig in ihrem Werk sichtbar und folgerichtiger Bestandteil ihrer Beschreibung der Vita activa und des Standorts des inBetween. Die Person erscheint in Gestalt des denkenden und urteilenden Menschen im Unterschied zur gedankenlosen Nicht-Person Eichmann und dem moralischen Kollaps der „anständigen Gesellschaft“; es ist daher „beinahe redundant, von einer moralischen Persönlichkeit zu sprechen.“ (Arendt 2006, S. 77). Die Person ist die Voraussetzung für Verzeihen; nur einer Person kann verziehen werden, nicht ein Verbrechen. Die Person ist die Voraussetzung für ihre Erscheinung im öffentlichen Raum des Handelns, für die Enthüllung des Wer der Handelnden im Unterschied zum Was der Eigenschaften einer Person. Nur eine Person verfügt über eine Integrität, die unter anderem die Voraussetzung für den erfolgreichen Einsatz künstlerischer Talente ist. In ihrer Vorlesung Über das Böse erklärte Arendt: Die Sache bei diesen hochkultivierten Mördern ist die, dass nicht ein einziger von ihnen ein Gedicht schrieb, das es wert wäre, dass man sich daran erinnerte … Man braucht mehr als Nachdenklichkeit, um ein gutes Gedicht oder Musikstück zu schreiben oder ein Bild zu malen – Sie brauchen dazu besondere Talente. Aber kein Talent wird dem Verlust der Integrität standhalten – der Integrität, die Sie verlieren, wenn Sie diese ganz allgemeine Denk- und Erinnerungsfähigkeit verloren haben. (Arendt 2006, S. 79 f.)
Die Person ist es, die eine Handlung vollbringt, die nicht bloß von Motiven bewegt und an Zielen orientiert ist und auch nicht deretwegen erinnert wird,
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sondern wegen der Denkwürdigkeit der Tat, das heißt der Virtuosität und Performativität (Arendt 1981, S. 179). Auch das Urteilen als Vermögen einer konkreten Vorstellungskraft setzt eine integre Person voraus, ebenso das Sinn stiftende Geschichtenerzählen und schließlich auch die persönliche Übernahme von Verantwortung als Preis der zwischenmenschlichen Freiheit, ohne die ein Gemeinwesen seine Freiheit nicht aufrechterhalten könnte (Arendt o. J.). Urteil und Geschmack, Moral und künstlerische Qualität beruhen gleichermaßen auf einem unabhängigen Denken und Urteilen. Wir können in Anlehnung an Arendt folgern, dass ästhetische Begriffe auch für die Bewertung nicht künstlerisches Handelns gelten: die „schöne“ oder „hässliche“ Geste oder Rede, oder die „inneren Schönheit“ eines integren Menschen. Es handelt sich dabei, so Kant, um eine Harmonie der Erkenntniskräfte, sowohl hinsichtlich der inneren Proportionen als auch hinsichtlich des freien Nebeneinanders der Erkenntnisvermögen und deren wechselseitiger Belebung (Arnold 2003). Eine Harmonie, die sich zwischen Form und Inhalt einstellt sowie zwischen Einbildungskraft und Verstand, ohne dass es sich um ein rationales Erkenntnisurteil handeln würde (Arnold 2003, S. 32). In ihren Portraits der Menschen in finsteren Zeiten geht es immer auch um Eigenschaften, die Persönlichkeiten ausmachen, beispielsweise das nonkonforme Handeln ihres Freundes Waldemar Gurians, Rektor der Universität von Notre Dame und Begründer der bis heute existierenden Zeitschrift The Review of Politics. Es handelt sich um Beispiele und beispielhaftes Handeln von Personen, die von Arendt nicht als Theoretiker, – der Politik, der Literatur, der Kultur oder der Philosophie –, sondern als denkende und handelnde Personen beschrieben werden: Rosa Luxemburg, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Karl Jaspers. In ihrer Laudatio auf Jaspers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1958 in Frankfurt erklärte Arendt, dass der Preis der Person und ihrem Werk gelte, die Laudatio aber in römischer Tradition der Person, das heißt der Würde, „die einem Menschen eigen ist, sofern er mehr ist als alles, was er schafft.“ Mehr zu sein, als alles, was man schafft: Es geht um das Wer von Karl Jaspers als denkendem und handelndem Bürger, nicht um das Was als Philosoph. Dieses Wer erscheint untrennbar mit dem Werk in der Öffentlichkeit. „Diese Würde zu erkennen und zu feiern, ist nicht Sache der Fachkollegen und Experten,“ fährt Arendt fort, „sie kann sich nur in der Öffentlichkeit bewähren und beweisen; und die Preisung bestätigt nur das, was diese Öffentlichkeit längst weiß.“ (Arendt 1989, S. 89). Es handelt sich bei dieser Position keineswegs um eine Ausnahme, die der engen Freundschaft zwischen Arendt und Jaspers geschuldet wäre. Als Arendt 1969 von der American Academy of Arts and Sciences die
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merson-Thoreau-Medaille für ihr Werk verliehen wurde, würdigte sie den E Namensgeber Ralph Waldo Emerson in einer Weise, die einer Selbstbeschreibung nahekommt. Sie hatte Emerson immer für einen amerikanischen Montaigne gehalten, bis sie „with great joy, only recently, (feststellte), how close Emerson himself felt to Montaigne.“ (Arendt 2007a, S. 282). Beide, so Arendt, waren eher Humanisten als Philosophen und wrote essays rather than systems, aphorisms rather than books … Both thought chiefly, exclusively, about human matters, and both lived a life of thought. … This kind of thinking can no more become a profession than living itself, hence, this is not the vita contemplativa, the philosopher’s way of life who has made thinking his profession. Philosophers, as a rule, are rather serious animals; whereas what is so striking in both Emerson and Montaigne is their serenity, a serenity that is in no ways conformist or complacent. (Arendt 2007a, S. 283)
So finden wir bei Emerson Weisheit, in der „are profound insights and observations which we have lost to our detriment, and which we may be well advised to unearth again now, when we are forced to rethink what the humanities are all bout. For this great humanist, the humanities were simply those disciplines that dealt with language (which does not mean linguistics), and in the center of all thoughts about language, he found the poet“ – wie Arendt selber. Und sie zitiert ihn ganz zustimmend: „Language is fossil poetry.“ (Arendt 2007a, S. 283 f.). Schließlich erklärt Arendt, dass sie mehr an der Welt als an politischer Theorie interessiert ist. Sie ist eine Autorin, keine Kommentatorin: Die Autoren sind auctores, das bedeutet, sie vermehren die Welt. Wir bewegen uns in einer Welt, die durch die Autoren vermehrt wird. Wir können nicht ohne sie, weil sie sich auf eine vollkommen andere Weise verhalten als die Kommentatoren. Die Welt, in der sich der Kommentator bewegt, ist die Welt von Büchern; die Welt, in der sich der Autor bewegt, ist dieselbe Welt, in der wir uns bewegen. Oder: Machiavelli war an Italien interessiert, nicht an politischer Theorie, nicht einmal an seiner eigenen. Nur der Kommentator ist an politischer Theorie per se interessiert. (Arendt 1955, Blatt 023943)2
2„The
authors are auctores, that is, (they) augment the world. We move in a world, which is augmented by the authors. We cannot do without them, because they behave in an altogether different way from the commentators. The world in which the commentator moves is the world of books. This difference becomes visible in a person like Machiavelli. Machiavelli was interested in Italy, not in political theory, not even his own. Only the commentator is interested in political theory per se“.
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Dieses Verhalten bedeutet „auf eine vollkommen andere Weise“, sich nicht wie die Philosophen zurückzuziehen, sondern sich als denkende und urteilende, kritische Zuschauerin am Rande des politischen Geschehens zu verstehen. Diese Position hat Arendt in ihrem unvollendeten Spätwerk Vom Leben des Geistes beschrieben und mit ihren Essays als „Übungen im politischen Denken“ und ihren Essays zu Fragen der Zeit dargestellt und praktisch demonstriert.
3 Der Perspektivwechsel vom neuzeitlichen Subjekt zu den Intersubjekten im Dazwischen Arendts Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben stellt eine heftige Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Subjektivismus seit Descartes und dessen Ablehnung dar. Es ist erstaunlich, dass dieser grundlegende, existenzielle Perspektivwechsel hin zu dem Dazwischen einer Interhumanität bislang kaum gebührend thematisiert wurde. Denn damit einher geht eine Neudefinition der politischen Phänomene wie Macht, Gewalt, Autorität, Freiheit etc. von der Perspektive der Zwischenmenschlichkeit aus. Ohne diese neue Perspektive wäre eine Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt gar nicht möglich. Dass diese beiden Phänomene in der Neuzeit nie unterschieden wurden, erstaunt Arendt umso mehr, als sie grundlegend für die neuzeitliche Politik sind. Die Perspektive des Dazwischen durchzieht das ganze Werk: Es liegt dem inneren Zwiegespräch zugrunde, der erweiterten Denkungsart, dem Begriff der Welt, dem Common Sense als Vermittlung einer gemeinsamen Welt, den miteinander Handelnden und Urteilenden, der gemeinsamen Bildung von Macht, der Bildung von Selbstregierungen mit den sie ermöglichenden und zugleich schützenden Verfassungen und Gesetzen, der Machtteilung und -verschränkung, der Föderation von Völkern und Staaten – und den Entgegensetzungen, die auf dem Ausschlusses des Dazwischen beruhen: der Gedankenlosigkeit, der Logik, dem Weltverlust, der Desorientierung, der Verlassenheit, dem Funktionärstum, der Gewalt, der Souveränität, der Herrschaft, und dem Expansionismus. Der von Heinrich Blücher stammende Vergleich von Cézannes später Malerei mit Heideggers Denken kennzeichnet auch Arendts Standort: Maler und Denker befinden sich perspektivisch im Zentrum des Bildes, des Gedankens. In ihr Denktagebuch notierte Arendt: Ad Heideggers Interpretationen: Das Neue besteht im Folgenden: Heidegger nimmt nicht nur an (was andere vor ihm taten), dass jedes Werk ein ihm spezifisch Unausgesprochenes in sich trägt, sondern dass dies Unausgesprochene seinen eigentlichen
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Kern bildet (psychologisch gesprochen der Grund seines Entstehens ist: Weil dies Eine unaussagbar war, wurde alles Andere geschrieben), also gleichsam der leere, in der Mitte liegende Raum, um den sich alles dreht und der alles andere organisiert. Auf diesen Platz setzt sich Heidegger, also in die Mitte des Werkes, in der sein Autor gerade nicht ist, als sei dies der ausgesparte Raum für den Leser oder Hörer. Von hier aus rückverwandelt sich das Werk aus dem Resultathaft-tot-Gedruckten in eine lebendige Rede, auf die Widerrede möglich ist. Es ergibt sich ein Zwiegespräch, bei dem der Leser nicht mehr von außen kommt, sondern mittendrin mitbeteiligt ist. Die Schärfe oder Strenge dieses Verfahrens liegt darin, dass es diesen Platz ‚objektiv‘ wirklich gibt und er bei jedem großen Werk zu entdecken ist. Das ‚Willkürliche‘ besteht darin, dass sich ja je nur ein Individuum auf den Platz setzen kann – mit seinen begrenzten Ohren und Fähigkeiten der Widerrede. Aber das heißt nur, dass die Qualität der Interpretationen von der Qualität des Interpretierenden abhängt – eine Selbstverständlichkeit. Der Anschein der Willkür und der Gewaltsamkeit entsteht nur aus unserer Ungewohnheit: So wie in der modernen Malerei (Heinrichs C ézanne-Interpretation) alles ‚verzerrt‘ aussieht, weil man gewohnt ist, dass die Maler die Welt ‚von außen‘, also dreidimensional abmalen, während moderne Malerei den Maler in der Mitte des Bildes sitzen hat und dadurch die sechs menschlichen Dimensionen hat: Höhe - Tiefe, rechts - links, vorne - hinten, alles projiziert auf die Fläche, die der Mensch für sich ist – so entstehen bei Heideggers Interpretationen andere Dimensionen, in welche das Werk, aus dem ausgesparten Mittelraum des Hörers gesehen, sich auseinanderlegt. Um in diesen Dimensionen, welche überhaupt erst entstehen können im Moment des lesenden Hörers, nicht schwindelig zu werden, benutzt Heidegger das Leitwort, gleichsam das ‚Sesam-öffne-dich‘, das im ausgesparten Raum das ungesagte Wort war, also nur dort gefunden werden kann, dann aber alles dem Hören so erschließt, wie die leer gelassene Mitte ursprünglich das Ganze organisiert hatte. (Arendt 2002, S. 353 f.)3
3Heinrich
Blücher erklärte in seiner Vorlesung über „Fundamentals of a Philosophy of Art – on the Understanding of Artistic Experience“: „Cezanne in his lonely position of being the first artist who was really aware of mans changed position in the world ha done great purpose: to put unity and order back into the chaos of nature he saw about him -- which was the thing about the impressionists that troubled him so much. What really disturbed him in Impressionistic Pictures (which had for him the only optical value) was that he became aware of the feeling in them of the dissolution of nature into the mere process of energy. In this he saw chaos as he saw chaos in nature itself (…)“ the experience of permanently being amidst things, an experience Cezanne himself felt of masses and people and nature crowding in on him. This he was able to achieve by a unification of perspectives (which explains why his so-called distortions were necessary) and by creating for the beholder a Keeling of space that was finite and full – by creating as space where air became a solid substance, where atmosphere as a solid and finite became the new space of man, where if the feeling within space was given, it was given as limited space, where still-lifes had almost wider space than landscapes“ (Bard College, online-Zugang https://www.bard.
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Die leer gelassene Mitte ist Arendts Dazwischen mit ihren vielfachen Perspektiven. Sie wird im Bewusstsein des Extrems seiner Vernichtung, der totalen Herrschaft, die auf der Ideologie, der logischen Bewegung einer Idee beruht, und des Traditionsbruchs eingenommen. Der Totalitarismus als „Ideokratie“, wie Arendt in einer Diskussion bemerkte (Friedrich 1954, S. 134). Es gibt nicht mehr die neuzeitliche Zentralperspektive, keine Autorität der Tradition mehr von Plato, Kant bis Weber, dafür aber gibt es die „verborgene Tradition“ und Benjamins Perlentaucher. Wie für ihn gilt auch für uns, der Vergangenheit das zu entnehmen, was uns nützlich erscheint; so auch für Jaspers, der die dogmatischen metaphysischen Forderungen der philosophischen Systeme der Vergangenheit in Gedankengänge auflösen will, „die sich treffen und kreuzen, miteinander kommunizieren, und schließlich nur zurückbehalten, was allgemein kommunizierbar ist.“ (Arendt 1989, S. 109). Wahrheit gibt es daher auch nur in der Kommunikation. Die Räumlichkeit der menschlichen Beziehungen ist dabei grundlegend: für das Handeln, die gemeinsame Verantwortung der Handelnden und die Definition von Freiheit als „Freiheit für“, nicht „Freiheit von“, und ebenso für das Denken und Urteilen. „Jaspers’ Denken ist räumlich, weil es immer auf die Welt und die Menschen in ihr bezogen bleibt.“ (Arendt 1989, S. 97). Für das Urteilen gilt: Mein Urteil wird umso repräsentativer sein, je mehr Standpunkte anderer Leute ich mir in meinem Denken vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtigen kann. Die Gültigkeit solcher Urteile wäre weder objektiv und universal, noch subjektiv, von persönlichen Einfällen abhängig, sondern intersubjektiv oder repräsentativ. (Arendt 2006, S. 143)
Das Interesse an dieser Intersubjektivität ist kein wissenschaftliches, sondern ein existenzielles. Die Welt, die wir bewohnen, ist eine gemeinsame, weshalb Arendt neben dem Aspekt der Verantwortung für alles, was in unserem Namen geschieht, auch das Interesse in der Beziehung zu den Anderen und die Solidarität als unverzichtbare Elemente hinzufügt. In ihrer Vorlesung Über das Böse verdeutlicht sie das Prinzip des intersubjektiven Urteilens am Beispiel der Bewohner eines
edu/bluecher/lectures/phil_art/philart-pf.htm, zuletzt gesehen am 06.11.2019). Vgl. auch: „Die Zentralperspektive wird nicht einfach aufgehoben, sondern nur (auf sehr mannigfache Weise) soweit unwirksam gemacht, dass das Bild nicht mehr als Vorstellungsraum des Betrachters erscheint, sondern als reiner Daseinsraum der Bilddinge.‟ (Hess 1980, S. 129; Novotny 1938). Über den Zusammenhang von Zentralperspektive und perspektivischer Weltsicht der Neuzeit vgl. Lepenies (2014).
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Slums, deren Standpunkte mit einbeziehen werden müssen. Und „als Folgerung aus Jaspers’ Philosophie“, so Arendt zustimmend, sollte „in der heutigen Politik nichts geschehen, was zu einer tatsächlich bestehenden Solidarität der Menschheit im Gegensatz stünde.“ (Arendt 1989, S. 112).
4 Die diskursive Methode und ihr dichterisches Denken Wir haben von dem Vorrang der Person vor der Wahrheit, der Humanisten vor den Philosophen, der Kommunikation vor der Logik und der politischen Welt vor der politischen Theorie gehört. In ihrem Essay Understanding and Politics von 1953 dachte sie das Problem ihres gerade veröffentlichten Buches über den Totalitarismus weiter, das Problem des Verstehens politisch-historischer Ereignisse, die keiner Kausalität und Gesetzmäßigkeit unterliegen. Das Problem der neuzeitlichen Wissenschaften ist es, mit Methoden zu arbeiten, die allgemeingültig und wiederholbar sein sollen und deren Ergebnisse jederzeit überprüfbar und gültig sein müssen. Wissenschaft handelt von dem Was, nicht dem Wer menschlicher Akteure. Daher ist Wissenschaft nur ein begrenzt einsetzbares Instrument. „Wahres Verstehen,“ so schrieb Arendt in ihrem Essay, kehrt immer zu den Urteilen und Vorurteilen zurück, welche der streng wissenschaftlichen Untersuchung vorausgingen und sie leiteten. Die Wissenschaften können das unkritische Vorverständnis, von dem sie ausgehen, nur erhellen, niemals aber beweisen oder widerlegen. Wenn der Wissenschaftler, gerade durch eine Arbeit am Untersuchungsgegenstand in die Irre geleitet, beginnt, sich als Experte in der Politik aufzuspielen und das allgemeine Verständnis, vom dem er ausgegangen war, zu verachten, verliert er sofort den Ariadnefaden des gesunden Menschenverstands, er allein ihn sicher durch das Labyrinth seiner eigenen Ereignisse führen wird. (Arendt 1994b, S. 114)
Aus dieser Perspektive scheinen Wissenschaftler, die allein ihrer Wissenschaft trauen, hochgradig gefährdet zu sein, die Orientierung der Humanität zu verlieren. Denken, so Arendt, „entsteht im Element des Nicht-Wissbaren.“ (Arendt 2002, S. 261). Es hat nichts mit dem Willen zu wissen zu tun und auch nichts mit Glauben oder Logik, sondern mit dem Verstehen. Wie bei Heidegger galt ihr Wahrheit als Anstoß, nicht Ergebnis des Denkens. Kein Zwang des Willens, keine Autorität des Glaubens und keine erfahrungsunabhängige subjektive Logik (Arendt 2002, S. 342) ist mit diesem Verstehen vereinbar, im Gegenteil: Jeglicher Zwang setzt einem verstehenden Denken ein sofortiges Ende. Verstehen besteht
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in dem Einer-Sache-nach-Denken und kann nur als „freies Denken“ stattfinden, das „keine Zwecke“ verfolgt, „keine Gegenstände“ hat und „keine Resultate“ erzeugt, sondern „Sinn“ kreiert. „Denken“, notierte Arendt in ihrem Denktagebuch, ist „‚vernehmendes‘ (Vernunft), nämlich ‚Sinn vernehmendes‘ oder sinnendes Handeln.“ (Arendt 2002, S. 183 f.). Ebenso wie Arendt dafür plädiert, die Frage der Wahrheit nicht den Wissenschaftlern zu überlassen, plädiert sie auch dafür, das Denken nicht den Philosophen zu überlassen und die Literatur nicht den Experten. In ihrem Essay über Bertolt Brecht schreibt sie: Da die Stimme der Dichter uns alle angeht, da wir in unserem privaten und öffentlichen Leben auf sie rechnen und ihnen vertrauen, werden die Leute vom Fach es sich schon gefallen lassen müssen, wenn unsereins mitredet; und die Dichter, ob sie nun über politische Gegenstände schreiben oder nicht, werden es sich auch gefallen lassen müssen, von Bürgern als Bürger beurteilt zu warden. (Arendt 1989, S. 246)
Gegen Ende ihres Lebens sagte Arendt: „Ich möchte gern darauf hinweisen, dass alles, was ich geschrieben habe, vorläufig ist.“ (Arendt 1996b, S. 112). Das ist ihre Methode: Selber denken, jede Sache durchdenken und diese Gedanken im Gespräch, das sie so sehr mit ihrem Mann Heinrich Blücher und ihrem Freund Jaspers genoss, entwickeln. Diese Gedankengänge niederzuschreiben führt zum Essay, einer Form, die all ihre Schriften auszeichnet, auch ihre Bücher. Sie enthalten keine Systeme, sie sind kein Lehrmaterial, Arendt will nicht belehren. „Und ich denke, dass jeder andere Weg des Theoretikers, der seinen Studenten erzählt, was sie denken und wie sie handeln sollen, … Mein Gott! Sie haben es mit erwachsenen Menschen zu tun! Wir sind doch nicht in Kindergarten!“ (Arendt 1996b, S. 81). In der Sekundärliteratur wird erst seit kurzem auf die Einheit von Inhalt, Methode und Stilmittel bei Arendt hingewiesen. Ihrer Feststellung des Traditionsbruchs und des Abschieds von einem essenzialistischen, zeitlosen Denken entspricht ihre Methode eines Denkens in der Zeit, „das sich weder der Geschichte noch des logischen Zwangs als Krücken bedient“ (Arendt 1989, S. 22), sondern die Erscheinungen vor den Begriffen bewahrt und einene historischen Determinismus vermeidet. Steve Buckler erklärt, dass „Arendt’s anti-traditional standpoint … is consciously one that seeks to avoid providing precepts that might be invoked as the basis for a new ‚tradition‘ that would supply, in the form of decisive formulations, a cognate replacement for the old one.“ (Buckler 2011, S. 34). Und Ari Helmeri-Hyvönen betont die Einheit der antisystematischen und
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antistatischen Denkbewegungen mit den Stilmitteln der Metaphern und der Verwendung von Denkbruchstücken (Helmeri-Hyvönen 2014). Es handelt sich, so Buckler, um eine „non-definitive, discursive theoretical formation“ (Buckler 2011, S. 55), die „poses a potent challenge to established ways of theorising politics and presents a refreshing alternative to what have arguably become sterile debates.“ (Buckler 2011, S. 4). Arendts Interesse an Sprache, ihre Zustimmung zu Emersons „Language is fossil poetry“, bestehend aus geronnene Metaphern, ist Teil ihrer Denkmethode. Für Arendt ging es immer um ein Sprechen mit Sprache (poetisch), nicht durch Sprache (instrumentell). Was Arendt an Benjamin rühmte traf auf sie selber zu: dass er angesichts der Fragwürdigkeit der Vergangenheit auf die Sprache stoßen musste, „denn in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle Versuche, es endgültig loszuwerden.“ (Arendt 1989, S. 241). Und dass es in Benjamins Sinn gewesen wäre, „den abstrakten Begriff der Vernunft auf einen Ursprung aus dem Verb ‚vernehmen‘ zurück(zu)führen“; dann könne man „meinen, einem Wort aus der Sphäre des Überbaus einen sinnlichen Unterbau zurückgegeben zu haben“ (Arendt 1989, S. 204). Solch eine Metapher, die unmittelbar einleuchte und keiner Deutung bedürfe, sei seit Homer „das eigentlich Erkenntnis vermittelnde Element des Dichterischen.“ (Arendt 1989, S. 204). In „Vom Leben des Geistes“ aber ist für Arendt auch „die gesamte philosophische (…) Sprache (…) metaphorisch.“ (Arendt 1979, S. 107). Deshalb ist Arendts Werk von Sprachbildern und Metaphern durchzogen, besonders in Vita activa oder Vom tätigen Leben, um dem Gedachten einen eigenen Ausdruck zu geben, um eben durch Sprache, nicht mit Sprache mitzuteilen.4 So notierte sie, ein Beispiel für viele, in ihr Denktagebuch das Sprachbild: „Durch die Flucht aus der Politik verschleppen wir die Wüste überall hin – Religion, Philosophie, Kunst. Wir ruinieren die Oasen!“ (Arendt 2002, S. 524). Ihre Aussage, dass sie mit ihrem Schreiben verstehen und nicht wirken wollte, findet sich in Benjamins Abscheu vor dem wirken Wollen durch Sprache in den Propagandaschlachten des Ersten Weltkriegs wieder: Jedes Handeln, das in der expansiven Tendenz des Wort-an-Wort Reihens liegt, scheint mir fürchterlich und um so verheerender, wo dieses ganze Verhältnis von
4Als
ein Beispiel für viele: „Ohne die gestaltete Welt wiederum blieben die eigentlich menschlichen Angelegenheiten ohne Behausung, und alles, was zwischen Menschen sich ereignet, ihr Tun und Treiben, verbliebe im Dunkel schwermütiger Vergeblichkeit, die wir so gut aus dem Volksleben von Nomadenstämmen kennen.“ (Arendt 1981, S. 198).
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Wort und Tat wie bei uns in immer steigendem Maße als ein Mechanismus zur Verwirklichung des richtigen Absoluten um sich greift. Schrifttum überhaupt kann ich mit dichterisch, prophetisch, sachlich, was die Wirkung angeht, aber jedenfalls nur magisch das heißt un-mittel-bar verstehen. Jedes heilsame, ja jedes nicht im innersten verheerende Wirken der Schrift beruht in ihrem (des Wortes, der Sprache) Geheimnis. (Benjamin 1966, S. 126)
Weshalb Karl Kraus zu jener Zeit das Schweigen für das einzig mögliche Handeln hielt: Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige! (Kraus 1914)
Die Einheit von Denken, Sprache und Form bei Arendt lässt sich im Dialog mit Benjamin und Kraus präziser umreißen. Benjamin beschreibt in der „erkenntniskritischen Vorrede“ zu Der Ursprung des deutschen Trauerspiels (Benjamin 1974) das ständig neu anhebende Denken als ein erkenntnissuchendes, nicht beweisendes Philosophieren, das immer zur Sache selbst zurückgehe und mit seinem „unablässige(n) Atemholen (…) die eigenste Daseinsform der Kontemplation“ sei, bei der „der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen lässt“. Die dabei gewonnenen „Denkbruchstücke“ seien am besten in der Form des Traktats darstellbar, die in ihrer Anhäufung ein Mosaik ergäben. „Mosaik und Traktat gehören ihrer höchsten abendländischen Ausbildung nach dem Mittelalter an; was ihren Vergleich ermöglicht, ist echte Verwandtschaft.“ Arendts „Übungen im politischen Denken“ entsprechen dem; es sind Traktate, die, so Benjamin, einem Mosaik gleich ein Bild ergeben. Wenn es stimmt, dass Arendts Standort der einer leer gelassenen Mitte ist, um die die nicht näher erläuterten Begriffe kreisen wie: die Lust am Handeln, der Selbstzweck des Handelns, etc., was der Behauptung gleichkommt, dass „das Geschichtenerzählen den Sinn enthält, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen“ (Arendt 1989, S. 125), dann gibt es auch eine gewisse Nähe zu Benjamins „Sphäre des Wortlosen“, des Magischen: „Nur die intensive Richtung der Worte in den Kern des innersten Verstummens hinein gelangt zur wahren Wirkung.“ (Benjamin 1978, S. 127). Was sich dann in der Sprache ausdrückt, ist mehr als das, was wir sagen können. Darauf, dass auch Wittgenstein sich als aufmerksamer Leser von Karl Kraus in dieser Richtung äußerte, verweist Adan Kovacsics: „Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken.“ (Tractatus
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Logico-Philosophicus 4.121) Und: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ (6.522). (Kovacsics 2007, S. 89). Arendts Werk mit wissenschaftlichen Methoden zu begegnen, muss scheitern. Entweder wird es als wissenschaftlich ungenügend kritisiert oder wie andere Klassiker auch „in Seminaren behandelt, zum Gegenstand von Qualifikationsarbeiten gemacht oder auch selbst beforscht.“ (Quante 2014, S. 5)5, das heißt in jedem Fall zum Objekt der Wissenschaft gemacht. Genauso irreführend ist die Frage „What would Hannah say?“ Buckler betont zu Recht, dass es sich bei dem Werk Arendts um keine Blueprint für immer wiederkehrende Anwendungen handelt, sondern im Gegenteil um ein seltenes Beispiel offenen Denkens, das jeder für sich selber unternehmen muss: The responsibility, then, is to think in a politically orientated manner, avoiding the temptation to resort to abstraction and so leaving the realm of action to its own unreflective devices. (Buckler 2011, S. 159)
Jeremy Waldron geht es darum zu lernen, wie unabhängiges Denken aussehen könnte, z. B. anhand der Kolumnen Arendts in der Zeitschrift Aufbau zur Lage in Palästina in den 1940er Jahren: Reading these columns, it is just possible that we will learn something about how to respond to events—step back, look behind the slogans, listen to the other side, be aware on either side that you may be being lied to. But we will certainly not learn what our response should be. The tribute that is owed to the particularity of Arendt’s work is not imitation and it is not the application of some lessons we are supposed to have learned; it is our own resolve to think things through here and now, as she thought about them there and then. (Waldron 2007, S. 12)
Es ist kein Wunder, dass Arendt, die nicht zu dieser Welt der Wissenschaften gehörte und auch selber nicht systematisch ihren Ort erläutern wollten, nur erklären konnte: 5Hierzu
passt die sarkastische Kritik von Agnes Heller an den üblichen Formen der Rezeption. Sie stellte fest, dass die Mode von Zeit zu Zeit alle „wissenschaftlichen ‛Termiten’ und intellektuellen ‚Wanderheuschrecken‛‟ auf einige wenige Texte loslasse, „damit sie von deren Interpretation leben können. Darauf folgen hunderttausende Diplomund Doktorarbeiten zum gleichen Autor und zum gleichen Text an allen Universitäten auf diesem Planeten, hunderte Konferenzen werden abgehalten, und der Rest ist uns bekannt. Nach ein paar Jahren, vielleicht auch schneller, kommt das ganze zum Stehen, weil der Text intellektuell nichts Neues mehr hergibt, da alles schon einmal gesagt wurde. Das nenne ich hermeneutische Erschöpfung, Übersättigung oder Überlastung.‟ (Heller 1996, S. 12).
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Ich stehe nirgendwo. (...) Allerdings nicht deshalb, weil ich so besonders originell sein will – es hat sich vielmehr einfach so ergeben, dass ich nirgendwo so richtig hineinpasse. (Arendt 1996b, S. 109)
5 Die Radikalität ihres Denkens und die Rolle der Emotionen Erkenntnis bewegt Geist und Seele, Vernunft und Gefühle. Dies wurde bei Arendt laut Mary McCarthy als ein theaterhafter Zug sichtbar. Er beruhte „auf ihrer Fähigkeit, sich spontan von einer Idee, einer Emotion, einer Ahnung packen zu lassen (…) Diese Fähigkeit, sich packen und durchdringen zu lassen - ein , das sie mit weit offenen Augen ausrief, war oft der Anfang -, trennte sie von uns anderen wie ein starker Stromstoß, durch den sie aufgeladen wurde.“ (McCarthy 1978). Laut Alfred Kazin Arendt „talked philosophy as if she were standing up alone in a foreign county and in a foreign tongue against powerful forces of error. She confronted you with the truth; she confronted you with her friendship, she confronted Heinrich (Blücher d. V.) even when she joined him in the most passionate seminar I would ever witness between a man a woman living together.“ (Kazin 1978, S. 198). Arendts Emotionen sind Emotionen des Geistes: Lachen, Zorn, leidenschaftliche Kritik. Sie durchziehen ihr Werk. So wurde ihr vorgeworfen, sie habe die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft mit ira et studio geschrieben, eine klare wissenschaftliche Verfehlung. Darauf antwortete Arendt mit einem Verweis auf die Einheit von Inhalt und Form am Beispiel des Elends englischer Bergarbeiter zu Beginn der industriellen Revolution: If I describe these conditions without permitting my indignation to interfere, I have lifted this particular phenomenon out of its context in human society and have thereby robbed it of part of its nature, deprived it of one of its important inherent qualities. ... This has nothing to do with sentimentality or moralizing ... To describe the concentration camps sine ira is not to be ‚objective‘, but to condone them. (Arendt 1994a, S 404 f.)6
6In
einem neuen Vorwort 1966 zu ihrem Totalitarismus-Buch erklärte Arendt, dass es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts des „mood of those years“ unmöglich war, sine ira et studio zu schreiben (Arendt 1966, S. vii f.).
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In ihr Denktagebuch notierte sie: Nur wenn man Armut „objektiv“ gemacht, d. h. dehumanisiert, d. h. aus dem Zusammenhang des öffentlichen Lebens, d. h. aus dem menschliche Solidaritätszusammenhang gerissen, d. h. denaturiert (ihrer, der Armut, eigentümlichen Natur entkleidet) hat, kommt man zu der schwachsinnigen Forderung der Wertfreiheit. (Arendt 2002, S. 89)
So rühmte Arendt auch die politischen Emotionen Lessings, sein Lachen, seinen Zorn und seine Leidenschaften. Sie musste beim Lesen des Eichmann-Verhörs lachen, (Arendt 1989, S. 20)7 sie schlug ungewollt einen „ironischen“ Ton in Eichmann in Jerusalem an und sie knüpfte anfangs das Urteilen an das „verstehende Herz“ (Salomon), ein Erbe der Aufklärung, wie die Feststellung des Essayisten und Diplomaten Melchior Grimm (1723–1807) zeigt: „Voraussetzung für einen ausgeprägten und vollendeten Geschmack ist, daß man einen scharfen Verstand, eine empfindende Seele und ein rechtschaffenes Herz hat.“ (Grimm 1977, S. 121). Über diese drei Elemente verfügte auch Arendt. Sie sind unverzichtbar auch bei der erweiterten Denkungsart, die Arendt später, Kant folgend, nur formal beschrieb.
6 Die Nicht-Intellektuelle Arendt war nicht nur keine Philosophin herkömmlicher Art, sondern auch nicht das vermeintliche Andere, eine Intellektuelle oder ein public intellectual. Intellektuelle waren für Arendt zumeist akademisch ausgebildete Personen, die ihr Wissen vermarkteten und dabei bereit waren, jegliche Humanität zu opfern. Es waren diejenigen, die, so Arendt in ihrem Interview mit Günter Gaus, im Unterschied zu den einfachen Leuten auf Hitler hereinfielen, die sich „phantastische Dinge“ einfallen ließen, um dabei sein zu können. Sie waren, so Arendt in
7Ebenso
stimmte sie Brecht in „Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ zu: „Da fand ich bei Brecht die folgenden Bemerkung: Die großen politischen Verbrecher müssen preisgegeben werden, insbesondere der Lächerlichkeit. Sie sind nicht große politische Verbrecher, sondern Menschen, die große politische Verbrechen zuließen, was etwas vollkommen anderes ist.“ (Arendt 1996a, S. 129).
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einem Brief an Jaspers, erheblich schlimmer als Vertreter von Interessen (Arendt und Jaspers 1985, S. 670), weil es für ihren Opportunismus keine Interessen gebundene Grenzen gab: This new class of intellectuals who, as literati and bureaucrats, as scholars and scientists, no less than as critics and providers of entertainment … have proved more than once in recent times that they are more susceptible to whatever happens to be ‚public opinion‘ and less capable of judging for themselves than almost any other social group. (Arendt 2001, S. 13)
Und in ihrem Denktagebuch goss Arendt Spott über die Qualität der denkerischen Leistung der Intellektuellen aus: „Das spezifisch Empörend-Widerwärtige des Intellektuellen besteht darin, dass selbst seine schlechtesten Sachen noch besser sind als er selbst.“ (Arendt 2002. S. 149 f.). Es ist also das Wer der Intellektuellen, ihre Gewissenlosigkeit und Urteilsunfähigkeit, die Arendt in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellt, die, in den Worten von Jeremy Waldron, „clichés and jargon, stock phrases and analogies, dogmatic adherence to established bodies of theory and ideology, the petrification of ideas“ produzieren, „these are all devices designed to relieve the mind of the burden of thought, while maintaining an impression of intellectual cultivation.“ (Waldron 2007). Arendt stimmt lachend dem Roman Die goldenen Früchte von Nathalie Sarraute zu, in dem sie die Intellektuellen ihrer Zeit in einer treffenden Komödie dargestellt sieht. Sie stellen die „élite of good taste and refinement“ dar, „intellectuals boasting of the highest standards, who pretend to care about nothing, certainly talk about nothing but things of the highest spiritual order.“ (Arendt 2007b, S. 291 f.).8 Die Falschheit dieser Intellektuellen, so Arendt, „touches one of the most delicate and, at the same time, indispensable elements of human relationships, the element of common taste … The feeling of natural kinship in the midst of a world, to which we all come as strangers, is monstrously distorted in the society of the refined who have made pass words and talismans, means of social organisation, out of a common world of objects.“ (Arendt 2007b, S. 221 f.). Es ist deshalb mehr als unpassend, Arendt als public intellectual zu bezeichnen, nur weil sie mit ihrem Buch über Eichmann in Jerusalem Aufsehen
8In
ihrem Interview mit Joachim Fest erklärt sie, wie New Yorker Intellektuelle ihre Meinung über Arendts Eichmann-Buch änderten: „Die haben vollkommen vergessen, dass sie das Buch überhaupt vorher gelesen hatten. Wenn Sie diesem Phänomen nachgehen woollen …, dann müssen Sie wirklich ‚Die goldenen Früchte’ von Nathalie Sarraute lesen, die hat das als Komödie dargestellt.“ (Arendt und Fest 2011, S. 58).
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erregte und mit ihren Essays zur Crisis of the Republic politisch Stellung bezog. Sie tat dies nicht als Intellektuelle, sondern als citizen, als Bürgerin. Ihr ganzes Werk, ihre Schriften, Stellungnahmen und Briefe drücken diesen Standort als kritisch urteilende Bürgerin aus. Es ist daher kein Wunder, dass sie den einfachen Hafenarbeiter Eric Hoffer in Berkeley ihren intellektuellen Kollegen weit vorzog. Er war für sie als ein unabhängig Denkender und Schreibender eine „wirkliche Oase.“ (Arendt und Jaspers 1985, S. 294 f.). Politische Bildung besteht in Anlehnung an Arendt in der Emanzipation von leitenden und zugleich einschränkenden denkerischen Geländern. „Ich war immer der Meinung, dass man so zu denken anfangen müsste, als wenn niemand zuvor gedacht hätte, und erst anschließend beginnen sollte, von den anderen zu lernen.“ (Arendt 1996b, S. 111) – auch von Arendt.
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Neoliberaler Wandel, Autorität, Freiheit und Erziehung Helgard Mahrdt
Unsere Hoffnung hängt immer an dem Neuen, das jede Generation bringt … Hannah Arendt (1906–1975)
1 Neoliberaler Wandel von Autonomie und Verantwortung Angesichts des Neoliberalismus müssen bestimmte Grundbegriffe der Erziehung neu reflektiert werden. Zu ihnen gehört auch der Begriff der Autorität. Der norwegische Philosoph Arne Johan Vetlesen und der Erziehungsforscher Per Bjørn Foros warnen, dass der derzeitige neoliberale Wandel, der nicht nur den Individuen selbst die Verantwortung für ihr Leben aufbürdet, sondern der auch in Institutionen wie Schule und Kindergarten eindringt, d. h. in Institutionen, die eigentlich das Kind vor der Welt beschützen sollten, Freiheit und Autonomie untergrabe. In ihrem Buch Angten for oppdraggelse (2012) beschreiben sie unsere heutige Gesellschaft in Begriffen der Spannung, etwa der Spannung zwischen Technik und Klima, der Spannung zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Freiheit und Kontrolle, zwischen Individualität und Gesellschaft, zwischen Bewahrung und Wandel, zwischen nationaler Identität und kosmopolitischer Verantwortung. Für unsere Frage nach der Autorität in der Erziehung und ihrer Beziehung zur Freiheit ist die Beobachtung des neoliberalen Wandels von Autonomie und Verantwortung von besonderer Bedeutung. H. Mahrdt (*) University of Oslo, Oslo, Norwegen E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_8
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Die Autoren argumentieren, auf den ersten Blick scheine das neoliberale Postulat, der Einzelne trage für sein Leben selbst die Verantwortung, mit dem Erziehungsideal der Aufklärung der „Mündigkeit“, d. h. der Entwicklung von Autonomie, des von Autoritäten unabhängigen Gebrauchs der eigenen Vernunft (Immanuel Kant) vereinbar. Es erweist sich indessen, dass die Übernahme der Verantwortung für die eigene Autonomie, für die persönliche Entwicklung und Selbstverwirklichung von einer neoliberalen Ideologie untergraben wird, in der sowohl über den Inhalt als auch über Erfolg bzw. Misserfolg nicht selbstbestimmt, sondern von außen entschieden wird. Darüber hinaus erobere der neoliberale Wandel von Autonomie und Verantwortung, so argumentieren sie, immer mehr Bereiche, darunter den der Erziehung, in den Formulierungen wie „det kompetente barn“ (das kompetente Kind) und „ansvar for egen læring“ (die Verantwortung für das eigene Lernen) in Kindergarten und Schule eingedrungen sind (Foros und Vetlesen 2012, S. 57). Wir können diese Entwicklung als ein weiteres Schlaglicht auf eine Krise der Erziehung begreifen, die mit dem Verlust von Autorität zusammenhängt.
2 Der Begriff der Autorität Autorität ist offenbar kein leicht zu fassendes Phänomen, wobei es in der Tradition des politischen Denkens durchaus Denker gab, die es unternahmen, zu einem Verständnis von Autorität zu gelangen. Wir können solche Bemühungen bis zur Philosophie der alten Griechen zurückverfolgen, bis zu Plato (427–347 v. Chr.), der in seinem Buch Die Republik die Idee des Guten zur höchsten Idee erklärte. Denken wir an Immanuel Kant (1724–1804), den Philosophen der Aufklärung par excellence, in dessen Philosophie die Autonomie des Menschen eine zentrale Stelle einnimmt, oder denken wir an den deutschen Soziologen Max Weber (1864–1920) und seine berühmten drei Typen legitimer Herrschaft („Autorität“), rational-legale, traditionale und charismatische Herrschaft. Rational-legale Herrschaft ist die Form, die „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruh[t]“. Traditionale Herrschaft beruht „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie Berufenen […], endlich charismatische Herrschaft [beruht] auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“ (Weber 1976, S. 124).
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Oder denken wir an die Beiträge von Alexandre Kojève (1902–1968) und sein Buch The Notion of Authority, geschrieben in den 1940er Jahren im von den Nazis besetzten Frankreich, und seiner Zeitgenossen, des Politikwissenschaftlers Carl J. Friedrich (1919–1975), des französischen katholischen politischen Philosophen Yves R. Simon (1903–1961) sowie des ungarisch-britischen Universalgelehrten Michael Polanyi (1891–1976). Wir können zudem an die folgende Generation denken und uns schließlich dem Soziologen Richard Sennett (1943-), dem Autor des Buches Autorität (1985) zuwenden. Sie alle versuchen, zu einem theoretischen Verständnis von Autorität, Tradition und Gemeinschaft in Zeiten einer praktischen Krise der Autorität in der modernen Welt beizutragen. Wenn es im Folgenden um Autorität im Bereich der Erziehung geht, drängt sich die Frage auf, was Erziehung ist und wie sie sich von Bildung unterscheidet. Es kann hier keine allgemeine Definition aufgestellt aber festgehalten werden, dass Bildung und Erziehung beide zu den Grundbegriffen der Pädagogik gehören. Mit Bildung verbinden wir die Aufklärung, Immanuel Kants berühmten Satz vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ oder Wilhelm von Humboldts Ideal „einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“. Bildung denken wir als einen Entwicklungsprozess, der das ganze Leben des Menschen begleitet. Dagegen richtet sich Erziehung eher auf die Aneignung von Wissen und Fertigkeiten, wobei „Erziehung lebensgeschichtlich ein Ende [hat], das in der Regel mit dem Jugendalter zusammenfällt“ (Krüger und Grunert 2006, S. 148). Da den Begriff der Autorität eine asymmetrische Beziehung charakterisiert, ist es nicht sinnvoll, ihn für die Bildung wohl aber für Erziehung zu diskutieren. Im Bereich der Erziehung, so scheint es, erfolgte die Diskussion über Autorität in Phasen. Ein Autor, der Erwähnung verdient, weil er für seine „educational philosophy on the nature and concept of authority in democratic life“ (Tozer 1993, S. 229) höchste Anerkennung genießt, ist Kenneth Benne, der Autor von A Conception of Authority (1943), der 1970 die folgende Definition von Autorität vorlegte: Autorität ist stets eine Funktion konkreter menschlicher Situationen, wie ausgedehnt oder komplex die jeweilige Situation auch sein mag. Sie kommt in Situationen zur Geltung, in denen eine Person oder eine Gruppe, die an einem bestimmten Zweck oder einem Projekt arbeitet oder eine Notlage bewältigt, der Führung oder Anleitung durch eine Quelle außerhalb ihrer selbst bedarf. […] Dem Träger der Autorität wird von den seiner Autorität Unterworfenen freiwillig Gehorsam entgegengebracht, insoweit der Träger seinem Anspruch gerecht wird, den Bereich des Handelns oder Glaubens bewältigen zu helfen, in dem die ihm Unterstellten der Beratung, Unterweisung, Anleitung oder Führung bedürfen (Benne 1970, S. 385).
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Benne unterscheidet zwischen drei Typen der Autorität: Autorität qua Kompetenz, Autorität qua Regeln und anthropogogische Autorität (‚anthropogogisch‘ analog zu verstehen zu ‚pädagogisch‘). Ein Beispiel für den zweiten Autoritätstyp sind Baseballregeln. Bezug nehmend auf John Dewey erklärt Benne, „der höchste Träger der Autorität“ stützt sich nicht auf „den Willen oder Wunsch irgendeiner einzelnen Person“, sondern auf „den Antrieb der gesamten Gruppe“ (Benne 1970, S. 398). Ein Beispiel für den ersten Autoritätstyp wäre die Autorität des Arztes gegenüber dem Patienten aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten oder Kenntnisse. Im Verhältnis zu einem Medizinstudenten hingegen würde sich seine Autorität qua Kompetenz in die von Benne so bezeichnete anthropogogische Autorität verwandeln, weil die Autoritätsbeziehung „durch die wachsende Übereinstimmung zwischen dem Status und der Kompetenz des Arztes und den Bedürfnissen des Studenten […] geprägt ist, [wobei] der Student hofft, selbst in das Denken, Fühlen, Urteilen und Verhalten eines Arztes hineinzuwachsen“ (Benne 1970, S. 400). Er lässt die Frage offen, ob es „möglich [ist], in den heutigen Schulen und Universitäten stabile Autoritätsbeziehungen aufzubauen“ (Benne 1970, S. 403). Diese Frage hat ihre Relevanz offenbar nicht verloren. Heute werden Fragen zum Begriff der Autorität erneut diskutiert. In Educational Theory, 2013, Nummer 63, beziehen sich mehrere Artikel (Kodelja, Assiter, Thompson) auf den durch Hannah Arendts berühmte Essays „Was ist Autorität?“ und „Die Krise in der Erziehung“ inspirierten Begriff der erzieherischen Autorität. Thompson merkt an, der Begriff der erzieherischen Autorität sei „an die Asymmetrie sowie den Zustand gegenseitiger Abhängigkeit innerhalb pädagogischer Beziehungen gebunden“ (Thompson 2013, S. 288). Dieses neuerliche Interesse am Begriff der Autorität ist bemerkenswert, da Autorität der Freiheit antithetisch gegenüberzustehen scheint. Nach den katastrophalen Erfahrungen des Totalitarismus in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts suchten Wissenschaftler nach Erklärungen. Kritische Denker wie Max Horkheimer (1895–1973), Erich Fromm (1900–1980), Herbert Marcuse (1898–1979) und Theodor W. Adorno (1903–1969) stellten sich in ihrem Bemühen, totalitäre Strukturen zu verstehen, die Frage, ob möglicherweise familiäre Verhältnisse dazu beitragen, das Potenzial zu einem autonomen, mündigen Menschen zu unterlaufen. Sie stießen dabei auf den autoritären Charakter, einen subalternen Charakter, der bereit ist, kritiklos Befehlen zu gehorchen, und der damit für faschistische Ideologie anfällig ist. „Wichtig ist die entwicklungspsychologische Funktion von Autorität, d. h. dass Kinder, die sich zunächst mit einer Vaterfigur, also mit einer Autorität […] identifizieren“, nicht auf dieser Stufe bleiben, sondern sich „dann in einem sehr schmerzhaften und nie ohne Narben gelingenden Prozess […] ablösen und erst auf diese Weise
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überhaupt zum mündigen Menschen werden“. Wenn dieser Prozess der Ablösung nicht gelingt, resultieren daraus „nicht nur psychologische Verkrüppelungen, sondern eben […] Phänomene der Unmündigkeit“ (Adorno 1956). Die Familie kann unter solchen Umständen zu einem Nährboden des Faschismus werden, auf dem ein autoritärer Charakter auf Kosten von Spontaneität und Freiheit gedeihen kann. Autoritär und Autorität sind nicht dasselbe. Worauf es ankommt, ist, die „Begegnung mit Autorität“ [zu akzeptieren], dann aber auch über sie hinauszugehen und „ein eigenes festes Ich [zu] entwickeln, um wirklich mündig zu sein“ (Adorno im Gespräch mit Helmut Becker). Gibt es ein Gleichgewicht zwischen Autorität und Freiheit? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Manche sind der Ansicht, „ein Kind braucht Autorität, die ihm hilft, emotionale Urimpulse zu beherrschen“ (Sanford und Katz 1967, S. 102), andere, wie etwa A. S. Neill, argumentierten, „die Selbstdisziplin […] entsteht aus einem Geist der Zusammenarbeit zum Wohle aller in einer Umgebung, die die Freiheit des Einzelnen zulässt und schützt“ (Hopkins 1976, S. 197). Neill und seine Schule in Summerhill galten als Modell der antiautoritären Erziehung, wobei sich das ‚anti‘ gegen die internalisierte Autorität richtete. Der Begriff des Antiautoritären wurde zum Schlüsselbegriff für die 1968er Generation und deren Vorstellung einer repressionsfreien Erziehung. Zwanzig Jahre danach hatte diese Auffassung Eingang in die akademische Bildung gefunden, wie der Aufsatz in Educational Theory mit dem Titel „Lamentations for – and Hopes against – Authority in Education“ (Corder und Baumlin 1988, S. 11–26) zeigt, der im Winter 1988 veröffentlicht wurde. Hier wiesen die Autoren die gesellschaftliche Forderung nach Rückkehr zur Autorität in der akademischen Bildung zurück. Sie glaubten, dieser Ruf entspringe einem „breiteren Unbehagen, einer deutlichen Unsicherheit, einer starken Ablehnung und zahlreichen ernsten Zweifeln hinsichtlich unserer Institutionen und der angeblichen Freizügigkeit, die in den Sechzigern und frühen Siebzigern alles zersetzt habe“ (Corder und Baumlin 1988, S. 22). Auch die politische Denkerin Hannah Arendt (1906–1975) befasste sich mit dem Problem der Autorität in der Erziehung. Vom Standpunkt der Frankfurter Schule unterschied sie sich jedoch dahin gehend, dass sie dachte, „das Aufkommen der totalitären Herrschaftsapparate […] [setze] den Zusammenbruch aller traditionell gesicherten Autoritäten […] voraus […]“ (Arendt 2015b, S. 163). Deswegen müsse alles neu definiert werden. All unsere Konzepte, Definitionen, Doktrinen müssten überdacht werden, darunter auch Begriffe wie Politik, Urteilen, Autorität. Sogar ein Begriff wie Konservatismus müsse neu gefasst werden.
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Arendt zufolge wird Autorität, weil sie „immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt“ (Arendt 2015b, S. 159), als eine Form von Macht oder Gewalt missverstanden. Das Wort „Gehorsam“, erklärt sie „hat sich in die Tradition unseres politischen Denkens eingeschlichen“, aber „ein Erwachsener stimmt zu, während ein Kind gehorcht, wenn es heißt, ein Erwachsener gehorche, dann unterstützt er in Wirklichkeit die Organisation oder die Autorität oder das Gesetz, das ‚Gehorsam‘ fordert“ (Arendt 2003, S. 46). Man kann das Oxford English Dictionary als Beispiel für diese missverständliche Auffassung heranziehen, denn es hält fest, Autorität sei „power to enforce obedience“, „in authority: in a position of power or control“ (Authority 2014, Oxford English Dictionary). Dagegen besteht Arendt darauf, dass „Autorität, Macht und Gewalt klar voneinander geschieden werden“ (Arendt 1994, S. 232) müssen. „Macht“, argumentiert sie, „entsteht nur, wo viele sich zusammentun, um zu handeln; sie ist nie ein fester Besitz, sondern verschwindet, sobald die Vielen, aus gleich welchen Gründen, wieder auseinandergehen oder einander im Stich lassen“ (Arendt 1994, S. 227). Ihr Beispiel sind die Männer der amerikanischen Revolution, die „unter Macht das genaue Gegenteil einer politischen Naturkraft“ (Arendt 1994, S. 235) verstanden. Zwar ist es üblich, Gewalt und Macht als aufeinander bezogen zu sehen, aber sie sind nicht das Gleiche: „Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental“ (Arendt 1996, S. 52). Gewalt „beruht ja nicht auf der Meinung der Beherrschten oder auf der Anzahl derer, die eine bestimmte Meinung teilen, sondern ausschließlich auf den Mitteln der Gewalt“ (Arendt 1996, S. 54), „Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist“ (Arendt 1996, S. 57), „Gewalt kann Macht vernichten; [aber] sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen“ (Arendt 1996, S. 57). „Gewalt kann gerechtfertigt, aber sie kann niemals legitim sein, Macht bedarf keiner Rechtfertigung […]. Hingegen bedarf sie der Legitimität“ (Arendt 1996, S. 53). Offenbar sind Macht und Gewalt nicht nur verschieden, sie sind Gegensätze. „Macht“, bemerkt Arendt, „entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Arendt 1996, S. 45). Wo bleibt bei dieser Unterscheidung von Macht und Gewalt dann die Autorität? „Autorität“, so Arendt, „kann sowohl eine Eigenschaft einzelner Personen sein“ – dann sprechen wir von persönlicher Autorität, und das Beispiel dafür wäre die „Beziehung von Eltern und Kindern, von Lehrer und Schülern – als einem Amt zugehören, wie etwa dem Senat in Rom (autoritas in senatu) oder den Ämtern der katholischen Hierarchie …“ (Arendt 1996, S. 46). Charakteristisch für Autorität ist die fraglose Anerkennung seitens derer, „denen Gehorsam abverlangt wird“ (Arendt 1996, S. 46). Gibt es etwas, was Autorität untergraben kann?
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Ja, „Verachtung, und was sie am sichersten unterminiert ist das Lachen“ (Arendt 1996, S. 47). Wenn Autorität sich von Macht und von Gewalt unterscheidet, woraus leitet sie sich dann ab? Das Wort Autorität und der Begriff sind ursprünglich römisch: Das Wort ‚auctoritas‘ ist abgeleitet von dem Verb ‚augere‘, vermehren, und was Autorität oder diejenigen, die Autorität verwalten, beständig vermehren, ist die Gründung. Mit Autorität ausgestattet waren die Alten, der Senat oder die ‚patres‘, die sich durch Herkunft oder Überlieferung (‚traditio‘ von ‚tradere‘ wie das deutsche Wort) von denen erlangt hatte, die die Fundamente für alle kommenden Dinge gelegt hatten, den Ahnen, die die Römer daher die ‚maiores‘, die Größeren, nannten (Arendt 2015b, S. 188).
Die römischen Bürger folgten dem Rat der Ältesten, denn die Gründung der römischen Republik, die „bindend bleibt für alle künftigen Generationen“ (Arendt 2015b, S. 187), legitimierte die Autorität der Ältesten bzw. des Senats. Wenn wir heute an Autorität denken, könnten wir mit Arendt an die amerikanische Verfassung denken, die deutlich römische Züge trägt, wenngleich ihr Autoritätsbegriff ein völlig anderer ist: „[War] die Funktion der Autorität in Rom politisch und betätigte sich vor allem im Ratgeben […], [so ist] die Funktion der Autorität [in Amerika] juristischer Natur […] und [besteht] im Auslegen“ (Arendt 1965, S. 258). „… höchste Autorität“, erläutert Arendt, „[kommt] in der amerikanischen Republik dem Obersten Gerichtshof zu“. „Diese Autorität wird formell bestätigt im Auslegen der Verfassung, die in Wahrheit durch Interpretation ständig neu formuliert und dadurch lebendig erhalten wird. Wilson sagte mit Recht, der Oberste Gerichtshof sei ‚eine Art verfassungsgebender Versammlung, die in Permanenz tagt‘“ (Arendt 1965, S. 258). Der Unterschied zwischen dem römischen Senat und dem Supreme Court besteht darin, dass ersterer, „die patres, die Väter der Republik, sich für ihre Autorität auf die Vorfahren beriefen, die sie repräsentierten oder besser: verkörperten“, während letzterer, „der Oberste Gerichtshof […] seine eigene Autorität bzw. seine Befugnisse aus der Verfassung, die in einem Schriftstück niedergelegt ist“ (Arendt 1965, S. 258), bezieht. Die ununterbrochene Kontinuität, in der Dauer und Wandel „aufgrund der auctoritas miteinander verbunden sind“ (Arendt 1965, S. 259) und auf die sich der römische Senat berufen konnte, gibt es nicht mehr. Heute sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass „jeder Anfang […] in sich ein Element völliger Willkür“ (Arendt 1965, S. 265) birgt. Hinzukommt, dass der Verlust von Autorität auch in die prä-politischen Bereiche Familie und Schule eingedrungen ist. Dieses Eindringen ist Arendt zufolge eines der deutlichsten Anzeichen dafür, dass die
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moderne Welt einer Krise der Autorität gegenübersteht. Gleichwohl, so Arendt, gibt es gute Gründe für Autorität in der Erziehung. Sie illustriert dies an der Schule, eben jener Institution, von der die Gesellschaft erwartet, dass Kinder und Jugendliche sie besuchen.
3 Die Schule: ein präpolitischer Raum Die Schule ist aus Arendts Sicht kein Teil des öffentlich-politischen Bereichs, sondern „die Institution, die wir […] zwischen die Privatsphäre des Elternhauses und die wirkliche Welt schieben, um den Übergang von Familie zur Welt überhaupt möglich zu machen“ (Arendt 2015d, S. 269). Gewiss, die Schule repräsentiert in gewisser Weise die Welt, aber sie ist nicht die Welt. Sie sollte auch nicht „vorgeben sie zu sein“ (Arendt 2015d, S. 269), denn Schulen sind „präpolitische“ Räume – sie sind eine Art Übergangsbereich; ein Übergang vom traditionellen Platz des Kindes in der Familie zur Öffentlichkeit der Welt. Um diese Aussage ganz zu verstehen, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass ein Kind für Arendt sowohl ein in Entwicklung befindliches menschliches Wesen, „nicht fertig […], sondern im Werden“ (Arendt 2015d, S. 266) als auch „ein Neuankömmling in dieser Menschenwelt“ (Arendt 2015d, S. 266) ist. Arendt unterstreicht diesen doppelten Aspekt und schreibt: „Menschliche Eltern haben ihre Kinder nicht nur durch Zeugung und Geburt ins Leben gerufen, sie haben sie gleichzeitig auch in eine Welt hineingeboren“ (Arendt 2015d, S. 266). Als ein in Entwicklung befindliches menschliches Wesen muss das Kind vor der Welt beschützt werden, und dies geschieht „im Schutz [seiner] vier Wände in [seinem] Privatleben“ (Arendt 2015d, S. 267): Diese vier Wände, in denen sich das Familien- und Privatleben der Menschen abspielt, bilden einen Schutz gegen die Welt, und zwar gerade gegen die Öffentlichkeit der Welt. Sie umgrenzen einen Raum des Verborgenen, ohne den kein Lebendiges gedeihen kann. Dies gilt nicht nur für kindliches, sondern überhaupt für menschliches Leben. Wo immer es der Welt ohne den Schutz des Privaten und Geborgenen ständig ausgesetzt ist, geht es gerade in seiner Lebendigkeit zugrunde. In der Öffentlichkeit der Welt, die allen gemeinsam ist, zählt zwar die Person, und es zählt das Werk, das heißt das Werk unserer Hände, das ein jeder von uns der gemeinsamen Welt hinzufügt; aber auf das Leben qua Leben kommt es in ihr nicht an. Sie kann auf es keine Rücksicht nehmen, und es muss vor ihr verborgen und gegen sie geborgen werden (Arendt 2015d, S. 267).
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Zwischen der „Geborgenheit eines Dunkleren, um überhaupt wachsen zu können“ (Arendt 2015d, S. 267) und der Welt, steht die Schule, um den Übergang von der Familie zur Welt zu ermöglichen. „Weil das Kind“, betont Arendt, „gegen die Welt geschützt werden muss, ist sein ihm angestammter Platz die Familie, die im Schutz ihrer vier Wände sich aus der Öffentlichkeit jeden Tag wieder in ihr Privatleben zurückzieht. Diese vier Wände, in denen sich das Familien- und Privatleben der Menschen abspielt, bilden einen Schutz gegen die Welt, und zwar gerade gegen die Öffentlichkeit der Welt“ (Arendt 2015d, S. 267).
4 Autorität in der Erziehung Es stimmt, „dass die Kindheit ein vorübergehendes Stadium ist, in dem sich das Erwachsensein vorbereitet“ (Arendt 2015d, S. 265), aber das bedeutet nicht, dass wir den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen vergessen können. Tun wir dies dennoch, so übersehen wir, dass es notwendig ist, die Schule in der sozialen oder gesellschaftlichen und nicht in der politischen Sphäre anzusiedeln. Im Politischen nämlich „haben wir es immer schon mit Erzogenen, […] mit erwachsenen Menschen, zu tun“ (Arendt 2015b, S. 186). Und in diesem öffentlich-politischen Bereich spielt Autorität eine höchst umstrittene Rolle, in der „Erziehung hingegen kann von einer solchen Doppeldeutigkeit der Autorität beziehungsweise des modernen Autoritätsverlustes natürlich keine Rede sein [, denn] die Autorität in ihr können nicht die Kinder abschaffen, die in diesem Falle die Rolle der Unterdrückten spielen würden“ (Arendt 2015d, S. 271). Zum vollen Verständnis von Arendts Argument ist es hilfreich, den Blick auf ihre Unterscheidung zwischen einfach nur Mensch sein und eine Person sein zu richten. Was sich dann zeigt, ist, dass es die moralische Eigenschaft ist, durch die sich Person und Mensch unterscheiden. In Arendts eigenen Worten: „Das Personenhafte eines Individuums ist genau seine ‚moralische‘ Eigenschaft“ (Arendt 2006, S. 53). Diese moralische Eigenschaft im Sinne Arendts hat derjenige, der das Bedürfnis hat, die Dinge durchzusprechen, um dann zu sagen: „‚Das kann ich nicht tun‘, anstelle von: Das darf ich nicht tun’“ (Arendt 2006, S. 52). Das Gewissen, und das ist Arendts Punkt, entsteht aus dem ständigen Umgang mit sich selbst. Es wohnt dem „stummen Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst inne“ (Arendt 2006, S. 75). In diesem stummen Dialog, den ich mit mir selbst führe – Arendt bezieht sich hier auf Sokrates –, wird „meine spezifisch menschliche Eigenschaft bestätigt“ (Arendt 2006, S. 73). Wird diese Fähigkeit des stummen Zwiegesprächs beeinträchtigt, öffnet sich der Weg, Böses zu tun.
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Der Weg vom Menschen zur Person geht also über einen Denkprozess, einen stummen Dialog, in dem ich Rede und Antwort stehe. Und hier ist die Verbindung von Denken und Erinnern besonders bedeutsam, weil ich „wenn ich mich weigere zu erinnern, […] eigentlich bereit [bin], alles zu tun“ (Arendt 2006, S. 76). „Die größten Übeltäter“, so Arendt, „sind jene, die sich nicht erinnern“ (Arendt 2006, S. 77). Vor dem Hintergrund der größten Übeltat, dem Holocaust, betont sie die Bedeutung des Denkens an Vergangenes; es bedeutet „sich in die Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, sodass man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird“ (Arendt 2006, S. 77). Das Kind nun, das als ein in Entwicklung befindliches menschliches Wesen, „nicht fertig […], sondern im Werden“ (Arendt 2015d, S. 266) ist, hat sich noch nicht klar als Person, die in einem stummen Dialog Rede und Antwort steht, konstituiert. Dazu ist wesentlich, die Fähigkeit des Denkens und Erinnerns zu entwickeln. Für diese Entwicklung spielen weder ein „spezifischer Inhalt, [noch] spezifische[n] Pflichten und Verpflichtungen […] eine Rolle […], sondern wirklich nichts anderes als die reine Fähigkeit des Denkens und der Erinnerung“ (Arendt 2006, S. 79). Kindheit ist ein vorübergehendes Stadium, eine Vorbereitung aufs Erwachsensein, und solange diese Vorbereitung andauert, müssen Kinder vor der „Erbarmungslosigkeit, mit der [die Öffentlichkeit] alles ans Licht zieht […], so dass die Kinder nicht mehr den Raum der Geborgenheit haben, in dem sie gedeihen können“ (Arendt 2015d, S. 267), beschützt werden. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Person hilft auch zu verstehen, warum der Prozess der Befreiung von Arbeitern und Frauen im 19. Jahrhundert nicht einfach auf Kinder übertragen werden kann. Arbeiter und Frauen waren „nicht nur Arbeiter und Frauen, sondern auch Personen […], die als solche ein Recht auf das Öffentliche haben, das heißt, ein Recht darauf, zu sehen und gesehen zu werden, zu sprechen und gehört zu werden“ (Arendt 2015d, S. 269). Kinder jedoch sind „noch in einem Zustand […], in dem das schiere Lebendigsein und sein Wachstum alles Personenhafte überwiegt“ (Arendt 2015d, S. 269). Deshalb bedeutet der Befreiungsprozess von Erwachsenen übertragen auf Kinder „eine Preisgabe und eine Auslieferung“ (Arendt 2015d, S. 269). Die moderne Gesellschaft, so fürchtet Arendt, erschwert die Dinge für ihre Kinder, indem sie „den Unterschied zwischen Privat und Öffentlich, zwischen dem, was nur im Verborgenen gedeihen kann, und dem, was im vollen Licht der Öffentlichkeit allen gezeigt werden muss, abschafft“ (Arendt 2015d, S. 269). Mehr noch, wenn man Kinder ihren peer groups überlässt, hat dies schädliche Auswirkungen, weil dies die Kinder selbst zu einer Art Welt macht. Dadurch entsteht eine Art öffentliches Leben, das sie zwingt, „sich dem Licht
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einer Öffentlichkeit […] zu exponieren“ (Arendt 2015d, S. 268). Darüber hinaus ist die Auffassung, dass Kinder in ihrer eigenen Welt leben, in der die Autorität darüber, was man tun und was man nicht tun darf, bei den Kindern und nicht den Erwachsenen liegt, äußerst problematisch, denn „die Autorität einer Gruppe, auch einer Kindergruppe, ist stets erheblich stärker und tyrannischer, als die strengste Autorität einer einzelnen Person je sein kann“ (Arendt 2015d, S. 262). Das Kind, so Arendt, „befindet sich nicht mehr in einem sicher sehr ungleichen Kampf mit einem anderen Menschen, […] sondern ist in der schlechterdings hoffnungslosen Situation der absoluten Minorität, in der es mit der absoluten Majorität aller anderen konfrontiert ist“ (Arendt 2015d, S. 262). Man hat, so ihre Schlussfolgerung, „die Kinder, als man sie von der Autorität der Erwachsenen emanzipierte, nicht befreit, sondern einer viel schrecklicheren und wirklich tyrannischen Autorität unterstellt, der Tyrannei durch die Majorität“ (Arendt 2015d, S. 263). Die Tyrannei ihrer eigenen Gruppe ist deshalb so viel schrecklicher, weil sie „wegen ihrer zahlenmäßigen Übermacht nicht [gegen sie] rebellieren“, „wegen ihrer Kindlichkeit nicht [mit ihr] räsonieren“, und „auch nicht in eine andere [Welt] fliehen können, da ja die Welt der Erwachsenen ihnen verschlossen ist“ (Arendt 2015d, S. 263). Einer absoluten Majorität gegenüberzustehen, ist eine Lage, die „sehr wenige erwachsene Menschen […] aushalten […]; Kinder sind dazu schlechterdings überhaupt nicht imstande“ (2015d, S. 262 f.). Dementsprechend dürfen Erwachsene, die Kinder vor einer solch hoffnungslosen Situation bewahren wollen, diese nicht der Kindergruppe überlassen, sondern müssen die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern aufrechterhalten. Diese Beziehungen, in denen Erwachsene Kinder nicht als gleich behandeln können, sind sehr wohl asymmetrisch, aber sie beruhen „auf eine[r] nur temporäre[n] Überlegenheit“ (Arendt 2015d, S. 272).
5 Die doppelte Verantwortung des Erziehers Erziehung mag dem Kind oder dem jungen Menschen gelten, „in jedem Fall aber stehen hier die Erzieher dem Jugendlichen als Vertreter der Welt gegenüber, für die sie die Verantwortung übernehmen müssen, obwohl sie sie nicht gemacht haben …“ (Arendt 2015d, S. 270). Arendt unterstreicht diesen Punkt, indem sie hinzufügt: „Wer die Verantwortung für die Welt nicht mitübernehmen will, sollte keine Kinder zeugen und darf nicht mithelfen, Kinder zu erziehen“ (Arendt 2015d, S. 270).
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Arendt ist der Auffassung, dass wir nicht mehr wissen, was Autorität ist. Deshalb schlägt sie vor, dass die Verantwortung des Erziehers für die Welt die Form von Autorität annimmt. Wie ist das zu verstehen? Würden wir nicht annehmen, dass die Autorität des Erziehers auf seiner Qualifikation beruht, beziehungsweise, um den Ausdruck vom Anfang zu gebrauchen, auf seiner Kompetenz? Tatsächlich ist ein gewisses Ausmaß an Kompetenz unverzichtbar, wenn wir jedoch Arendts Gedankengang folgen, können wir in ein und derselben Person zwei Funktionen erkennen, die Funktion des Lehrers, der etwa Geschichte oder englische Literatur unterrichtet, und die Rolle des Erziehers, der die Kinder in die Welt einführt. Von ihm erwarten wir, dass er die Verantwortung für die Welt übernimmt, dass er „dem Kind sag[t] und im einzelnen zeig[t]: Dies ist unsere Welt“ (Arendt 2015d, S. 270). Das Kind, argumentiert Arendt, muss vor der Welt beschützt werden, weil es ein sich in Entwicklung befindliches menschliches Wesen ist, das der „Geborgenheit eines Dunkleren [bedarf], um überhaupt wachsen zu können“ (Arendt 2015d, S. 267). Das Kind ist nun nicht „nur ein noch nicht fertiges Lebendiges“ (Arendt 2015d, S. 266), es ist auch „ein Neuankömmling in dieser Menschenwelt“ (Arendt 2015d, S. 266), und als solcher, als Neuankömmling und Fremder, muss es nach und nach in die Welt eingeführt werden. Wir kommen durch Geburt in die Welt; jede Geburt ist ein völliger Neubeginn, und wir antworten auf unseren eigenen Neubeginn mit unserer Initiative: Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h., zu handeln. Im Sinne von Initiative […] steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als dass diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter den Bedingungen der Natalität stehen. Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, dass Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete (Arendt 1996, S. 18).
Was aber ist Freiheit? Und was macht eine Handlung zu einer freien? Üblicherweise stellen wir uns Freiheit als etwas Negatives vor, als die Befreiung von etwas, zum Beispiel von Unterdrückung. In Arendts Worten: „Nun sind aber die Rechte und Freiheiten, die von den Gesetzen des Verfassungsstaats garantiert werden, alle negativer Natur […]. Sie sind in der Tat ‚an sich keine Gewalten, sondern lediglich Garantien gegen den Missbrauch der Gewalt‘“ (Arendt 1965,
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S. 186). Aber Freiheit ist nicht dasselbe wie Befreiung. „Positive Freiheit […] ist nur unter Gleichen möglich“ (Arendt 1965, S. 354), „solange man handelt ist man frei, nicht vorher und nicht nachher“ (Arendt 2015c, S. 206). Mit anderen Worten, Freiheit wird „weder im Wollen noch im Denken“ (Arendt 2015c, S. 210) erfahren, sondern sie ist „in den handelnden und sich bewegenden Menschen [oder] in dem zwischen Menschen entstehenden Raum lokalisiert“ (Arendt 1993, S. 42 f.). Freiheit in Verbindung mit Handlungen „besteht in dem, was wir Spontaneität nennen, die nach Kant darauf beruht, dass ein jeder Mensch fähig ist, eine Reihe von sich selbst her neu anzufangen“ (Arendt 1993, S. 49). Diese Freiheit ist dasselbe wie die Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen; sie ist ursprünglich in der Bewegungsfreiheit enthalten. „Frei sein“, so Arendt, „hieß ursprünglich nicht mehr als gehen können, wohin es einem beliebt“ (Arendt 1993, S. 44). Diese Bewegungsfreiheit erfahren wir nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Wir erfahren Freiheit in der Tätigkeit des Denkens, genauer, wenn wir in einer Weise denken, die „darin besteht, dass ich ‚an der Stelle jedes anderen denken kann‘“ (Arendt 2015d, S. 298) und die Kant daher eine erweiterte Denkungsart nannte. „Mit einer ‚erweiterten Denkungsart‘ denken“, erklärt Arendt, „heißt, dass man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen“. Nur, wenn viele Menschen zusammen sind und die Freiheit haben, miteinander zu sprechen, „ersteht überhaupt die Welt […] in ihrer von allen Seiten sichtbaren Objektivität“ (Arendt 1993, S. 52). Sollten wir daraus schließen, dass, wann immer „die Freiheit, mit den Vielen redend zu verkehren und das Viele zu erfahren, das in seiner Totalität jeweils die Welt ist“ (Arendt 1993, S. 52) nicht gegeben oder beschränkt ist, wir der Möglichkeit beraubt sind, die Welt von allen Seiten zu sehen? Bemerkenswerterweise argumentiert Arendt, dass wir dann immer noch in der Lage sind, über einen gegebenen Sachverhalt von unterschiedlichen Standpunkten aus nachzudenken. Wir sind dazu in der Lage, weil wir in einer Weise denken können, die den Standpunkt anderer mitberücksichtigt. In Arendts eigenen Worten: Die Fähigkeit, dieselbe Sache aus den verschiedensten Gesichtspunkten zu erblicken, verbleibt in der Menschenwelt; tauscht nur den eigenen, natürlich vorgegebenen Standort gegen den der Anderen, mit denen man in der gleichen Welt zusammen weilt, ein und erzielt so eine wahre Bewegungsfreiheit in der Welt des Geistigen, die der Bewegungsfreiheit im Physischen genau parallel läuft (Arendt 1993a, S. 97).
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Arendt bezieht die Fähigkeit, dieselbe Sache von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten, auf die Politik; genauer gesagt, auf das politische Urteil: Politisches Denken ist repräsentativ […]. Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere. […] Je mehr solcher Standpunkte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein (Arendt 2015e, S. 342).
Die Fähigkeit, jene zu repräsentieren, die abwesend sind, bevor man zu einem abschließenden Urteil kommt, impliziert Verantwortung. Daher sollte es Teil der politischen Bildung sein, die Einbildungskraft junger Menschen zu trainieren, „Besuche zu machen“. Ein Beispiel ist etwa die gegenwärtige Flüchtlingskrise. Da „die Einbildungskraft [uns] befähigt […], Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen, das, was zu nahe ist, in eine gewisse Distanz zu rücken, sodass wir es ohne vorgefasste Meinung und Vorurteil sehen und verstehen können“ (Arendt 2015a, S. 127), kann sie uns helfen, zu einem angemessenen Verständnis der Dinge, die sich ereignen, zu kommen. Die Menschen, so Hannah Arendt, sind frei, solange sie gemeinsam mit Gleichen handeln. Mit anderen Worten, nicht jedes Handeln impliziert die Erfahrung von Freiheit; Freiheit im Handeln zu erleben, beinhaltet, „etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab, das nicht vorgegeben ist, auch nicht für die Einbildungskraft, und zwar deshalb, weil es als Gegebenes noch gar nicht bekannt ist“ (Arendt 2015c, S. 206). Wie Arendt bemerkt, „handelt es sich nicht um […] das liberum arbitrium, das zwischen Vorgegebenem, dem Guten und Bösen, eine Entscheidung trifft“ (Arendt 2015c, S. 205), sondern um die Freiheit als „das schiere Anfangenkönnen“ (Arendt 2015c, S. 225), als „jene Mitgift, die in der ganzen Schöpfung nur dem Menschen eigentümlich zu sein scheint, die sich auch in anderen Tätigkeiten als den politischen äußern kann, die aber doch nur im Handeln sich den ihr zugehörigen Raum, die ihr angemessene weltliche Realität schafft“ (Arendt 2015c, S. 226). Mehr noch, „das Tun vollstreckt nicht einen Willensakt, in ihm manifestiert sich überhaupt nicht so sehr ein subjektiver Wille und sein Endzweck, als sich in ihm, solange es dauert, das es leitende Prinzip kundtut“ (Arendt 2015c, S. 206). Die freie Handlung ist nicht voraussagbar. Arendt sagt keineswegs, dass eine freie Handlung niemals motiviert sein kann oder kein Ziel haben darf. Sie sagt lediglich, „eine Handlung ist frei in dem Maße, wie sie jene [Motive und Ziele] zu transzendieren fähig ist“. Es ist dieses freie Handeln, das automatische Prozesse unterbricht.
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Das menschliche Leben ist umgeben von automatischen Prozessen. Wir brauchen nur an den natürlichen Lebensprozess zu denken. Selbst „unser politisches Leben […] verläuft auch inmitten von Prozessen, die wir historisch nennen, und die die Tendenz haben, so automatisch zu werden wie natürliche oder kosmische Prozesse, obgleich sie von Menschen angefangen wurden“ (Arendt [1968]/1993, S. 168). Handlungen ermöglichen es uns, in solche Prozesse einzugreifen, eine Änderung zu bewirken. Eben dies heißt frei handeln. Da es etwas ist, was nicht zu erwarten war, vollzieht das freie Handeln „das Wunder“. Es sind die Menschen, die diese Wunder bewirken, denn „sie haben diese zweifache Gabe von Freiheit und Handeln empfangen“ (Arendt [1968]/1993, S. 171). Wenn wir ein Beispiel suchen, brauchen wir nur an den Klimawandel zu denken und seine dramatischen Konsequenzen für die Welt, die für uns alle eine Heimat sein sollte. Für Arendt wird es immer Möglichkeiten zur Veränderung und Erneuerung der Welt geben, weil jedes menschliche Wesen selbst ein Anfang ist. Wie sie in Über die Revolution schreibt, ist „der Mensch für die logisch unlösbare Aufgabe, einen neuen Anfang zu setzen, […] vorbestimmt […], insofern er ja selbst einen Anfang darstellt: Insofern der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ‚Neuer‘ durch Geburt erscheint“ (Arendt 1965, S. 272). Der in der Natalität, in der Geburt des Kindes verkörperte Neuanfang kündigt den Neuankömmling an, der die Fähigkeit besitzt, etwas Neues zu beginnen. Deshalb hat Erziehung eine doppelte Verantwortung; sie muss „das Kind gegen die Welt, die Welt gegen das Kind“ (Arendt 2015d, S. 273) wertschätzen und beschützen. Als Erzieher müssen wir die Kinder vor der Politik, in der wir unter und zusammen mit Erwachsenen und Gleichen handeln, schützen, und zugleich müssen wir die Welt beschützen, „damit sie von dem Ansturm des Neuen, das auf sie mit jeder neuen Generation einstürmt, nicht überrannt und zerstört“ (Arendt 2015d, S. 267) wird. Erziehung beinhaltet eine konservative Einstellung, Konservatismus im dem Sinne, etwas wertzuschätzen und zu beschützen. Dass Arendt sich für eine konservative Haltung in den Erziehungsberufen ausspricht, heißt jedoch nicht, dass sie den Glauben des gewöhnlichen Konservativen an Autorität teilt. Konservative Denker behaupten, dass die Gesellschaft Autorität braucht; demgegenüber konstatierte Arendt, dass Autorität aus dem modernen öffentlich-politischen Leben verschwunden ist. Und da „die autoritäre Beziehung zwischen dem, der befiehlt, und dem, der gehorcht, […] weder auf einer beiden Teilen gemeinsamen Vernunft noch auf der Macht des Befehlenden“ (Arendt 2015b, S. 160) beruht, ist eine einfache Umkehr keine Antwort auf die Krise in der Erziehung.
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Sie ist keine Antwort, weil die Krise nicht nur eine in der Erziehung, sondern grundlegend ist. Das zeigt sich nicht zuletzt in unserer Fähigkeit zu urteilen. Wir sollen Urteile abgeben, ohne über Maßstäbe zu verfügen. „Das Versagen der Maßstäbe in der modernen Welt“, argumentiert Arendt, „die Unmöglichkeit, das, was geschehen ist und täglich geschieht, nach festen, und von allen anerkannten Maßstäben zu beurteilen“ (Arendt 1993a, S. 21), hat seine Wurzeln in der schrecklichen Einmaligkeit des Totalitarismus. Totalitäre Herrschaft ist weder ein autoritäres Regime noch eine Diktatur, sondern deren „Handlungen [stellen] einen Bruch mit allen unseren Traditionen [dar]; zweifellos haben sie unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für das moralische Urteil gesprengt“ (Arendt 2015a, S. 112). Nicht die Rückkehr zur Autorität ist die Antwort auf die Krise, sondern Denken; Denken ist „die grundlegendste und radikalste Geistestätigkeit“ (Arendt 1998, S. 115). Zweifellos führt „Denken […] zu keinem Wissen wie die Wissenschaften“, es „verleiht unmittelbar keine Kräfte zum Handeln“ (Arendt 1998, S. 13), aber es ist dennoch von größter Bedeutung, weil es das auftaut, „was die Sprache, das Medium des Denkens, zu Gedanken gefroren hat […] – Worte (Begriffe, Sätze, Definitionen, Lehren)“ (Arendt 1998, S. 174). Mit anderen Worten „der Wind des Denkens“ rüttelt uns „aus dem Schlaf“, macht uns „völlig wach und lebendig“ (Arendt 1998, S. 174–175). Arendt verwendet eine Metapher, um zu illustrieren, wo wir sind, wenn wir denken. Sie schreibt: Mit einer anderen Metapher nennt man es auch die Region des Geistes, doch es ist wohl eher der vom Denken gebahnte Weg, der schmale, kaum sichtbare Pfad von Nicht-Zeit, den die Tätigkeit des Denkens in die dem geborenen und sterblichen Menschen gegebene Raum-Zeit geschlagen hat. Diesem Pfad folgen die Gedankengänge, die Erinnerung und das Vorausdenken und retten alles, was sie berühren, vor dem Ruin durch die historische und biographische Zeit. Dieses kleine, zeitlose Gebiet mitten im Herzen der Zeit lässt sich, anders als die Welt und die Kultur, in die wir hineingeboren sind, nicht vererben und in der Tradition weitergeben […] (Arendt 1998, S. 206).
Denken, dieser Dialog zwischen mir und mir, dieses „stumme Zwiegespräch“, wird dringend benötigt, weil wir durch das, „was in Nazi-Deutschland und […] im stalinistischen Russland“ (Arendt 1998, S. 177) geschah, wissen, dass die „Grundgebote der abendländischen Moral plötzlich umgekehrt wurden“ (Arendt 1998, S. 177). Wir irren, wenn „wir glauben, mit ihren Übeln auch die Weisheit der Vergangenheit geerbt zu haben, welche uns da hindurchführen könne. Doch das Vertrackte an der Weisheit der Vergangenheit ist, dass sie uns sozusagen unter den Händen zerrinnt, sobald wir sie ernsthaft auf die zentralen politischen
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Erfahrungen unserer eigenen Zeit anzuwenden suchen“ (Arendt 2015a, S. 112). Daher müssen wir unsere Begriffe, Definitionen und Lehren überdenken, um sie entweder bestätigt zu finden oder um neue zu finden. Dies ist die Aufgabe jeder neuen Generation: „Jede neue Generation, jedes neue Menschenwesen muss, indem ihm bewusst wird, dass es zwischen eine unendliche Vergangenheit und eine unendliche Zukunft hineingestellt ist, den Pfad des Denkens neu entdecken und mühsam bahnen“ (Arendt 1998, S. 206). Die Hoffnung ist, dass die neue Generation die Verantwortung für die Welt übernehmen wird. Die konservative Haltung des Erziehers, d. h. einerseits die Welt vor den Neuankömmlingen bewahren, andererseits das Kind vor der Welt beschützen, ist keine statische, sondern eine dynamische, die Veränderungen einschließt. Der Erzieher sollte daher nicht versuchen, diesen Prozess abzukürzen. Was er jedoch tun sollte, ist, die jungen Menschen auf die Fähigkeit zu handeln vorzubereiten. Diese Fähigkeit ist jedoch eine zweischneidige Gabe, denn der Freiheit zu handeln wohnt sowohl ein zerstörerisches wie ein erhaltendes Element inne. Die Welt existierte vor dem Kind und wird nach seinem Tod weiterbestehen. Aber „weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, genauso sterblich zu werden wie ihre Bewohner“ (Arendt 2015d, S. 273). Arendts Verteidigung einer konservativen Haltung richtet sich daher auf eine Erziehung, die „so erzieh[t], dass ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich nie gesichert werden kann“ (Arendt 2015d, S. 273). Um sie erneut zu zitieren: „Gerade um des Neuen und Revolutionären willen in jedem Kind muss die Erziehung konservativ sein; dies Neue muss sie bewahren und als ein Neues in die alte Welt einführen, die, wie revolutionär sie sich auch gebärden mag, doch im Sinne der nächsten Generation immer schon überaltert ist und nahe dem Verderben“ (Arendt 2015d, S. 273).
6 Eine ausgezeichnete Haltung zum Vergangenen Die Welt ist alt, somit „wendet sich Lernen unweigerlich zur Vergangenheit hin, gleichgültig wie sehr das Leben sich in der Gegenwart abspielt“ (Arendt 1993, S. 195). Eine praktische Konsequenz ist, dass der Schwerpunkt der Erziehung nicht auf der Vermittlung von Fertigkeiten liegt, die für den Arbeitsmarkt von heute oder morgen notwendig sind, sondern darauf, junge Menschen darauf vorzubereiten, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen. Auf diese Aufgabe kann Erziehung nicht vorbereiten, ohne selbst ein Minimum an Konservatismus und eine bewahrende
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Haltung einzunehmen. Was kann dies bedeuten in der modernen Welt, in der Sitten und Gebräuche nicht mehr verankert sind, sodass sie auch für die nächste Generation wegweisend sein können? Zweifelsohne, ohne Kontinuität der Vergangenheit, ist die Vermittlung zwischen Altem und Neuem schwer zu leisten, weil es „der Überlieferung […] eigen ist, das Vergangene zu ordnen, und zwar nicht nur chronologisch, sondern auch systematisch, nämlich das Positive vom Negativen zu sondern und das Verpflichtende und Maßgebliche herauszuheben aus der Masse unerheblicher oder bloß interessanter Meinungen und Phänomene […]“ (Arendt 1989, S. 235). Ist die Rückkehr zur Tradition, „die Wiedererrichtung einer Welt, die vergangen ist“ (Arendt 1994, S. 435; Knott 2013) die Antwort auf die Krise? Arendt hat ihre Zweifel. „[…] selbst wenn ein solches Unterfangen möglich wäre“, gibt sie zu bedenken, „könnte die Frage, welche der vielen vergangenen Welten unserer Tradition denn eigentlich wiedererrichtet werden sollte, nur durch eine willkürliche Festlegung beantwortet werden“ (Arendt 1994, S. 435; Knott 2013). Genau deshalb, weil eine Rückkehr zur Tradition nicht mehr möglich ist, muss der Lehrer, der „zwischen dem Alten und dem Neuen […] vermitteln [soll], eine ausgezeichnete Haltung zum Vergangenen“ (Arendt 2015d, S. 274) haben. Wenn unsere eigene Vergangenheit so fragwürdig geworden ist, wie sie es für uns ist, müssen Erzieher die zerstückelte Vergangenheit behutsam behandeln, sozusagen der Vergangenheit das entreißen, was der Erneuerung wert ist. Mit Bezug auf Walter Benjamin beschreibt Arendt die Haltung zur Vergangenheit mittels der Metapher des Perlentauchers: […] dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht [dies Denken] in die Tiefen der Vergangenheit (Arendt 1989, S. 242).
Es ist ein Denken, das davon überzeugt ist, dass der „Ruin der Zeit“ nicht nur ein „Verwesungsprozess, [sondern] gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; dass in der ‚Meereshut‘ […] neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt“ (Arendt 1968, S. 242). Mit anderen Worten, Erzieher müssen sich der Bedeutung der Sprache bewusst sein, denn in der Sprache ist die Vergangenheit enthalten. Solange wir zum Beispiel das Wort Politik benutzen, wird „die griechische polis […] am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein“ (Arendt 1989, S. 241).
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Da der Faden der Tradition gerissen ist und wir unseren Weg ohne „die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Generation auf die andere überzugehen […] schien“ (Arendt 1998, S. 208), finden müssen, müssen wir mit „eine[r] zerstückelte[n] Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewissheit verloren hat“ (Arendt 1998, S. 208), leben. Es ist daher nicht mehr „leicht, in Fragen der Erziehung das Rechte zu tun, ohne sich auch nur zu überlegen, was man da eigentlich tut“ (Arendt 2015d, S. 274). Was tun wir dann in der Erziehung? Unterweisen wir Kinder in der Kunst des Lebens, oder zeigen wir ihnen, wie die Welt beschaffen ist, „wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muss“ (Arendt 2015d, S. 272)? Diskutieren wir, wie die Erziehung „das Neue und Revolutionäre […] in jedem Kind“ (Arendt 2015d, S. 273) erhalten kann und wie sie es so in eine alte Welt einbringen kann, „dass ein Einrenken tatsächlich überhaupt möglich bleibt“ (Arendt 2015d, S. 273)? Zumindest dachte Arendt, wir sollten um eine Krise in der Erziehung ernstlich besorgt sein, denn: In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten (Arendt 2015d, S. 276).
Zur Vorbereitung auf diese Aufgabe gehört zwangsläufig ein Verständnis von Politik im Unterschied zu Ökonomie. Solange Erzieher die Erfahrungen, die im Wort polis aufbewahrt sind, weitergeben, gibt es eine Chance, dass die junge Generation sich ein eigenes Urteil über „neoliberale Ökonomisierung des Politischen“ (Brown 2015, S. 250) bilden und sich mit dem „Minimalmodus der Staatsbürgerschaft“ als „bloße Mitgliedschaft“ (Brown 2015, S. 263) nicht zufrieden geben. Ob die jungen Menschen die Welt einrenken und gerechter machen werden, können wir nicht wissen, aber als Erzieher dürfen wir einer allgemeinen Verzweiflung nicht nachgeben, sondern sind für die Welt und dafür, dass die jungen Menschen sich in ihr zurechtfinden, verantwortlich – ganz im Sinne von Arendts Autoritätsbegriff in der Erziehung. *Aus dem Englischen übersetzt von Gerold Hens.
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from an apparent contradiction in Arendt to a working group method Frederick Dewey
1 Introduction In a text used to introduce the posthumously published but unfinished late work, Life of the Mind, Hannah Arendt refers to “the claim on our thinking attention that all events and facts make by virtue of their existence.” A life’s bold argument condensed into a single, crystalline phrase, driving a firm stake into the ground: this is Arendt. Events and facts do not make this claim because of intent, disposition, expertise, interpretation, knowledge, or concepts, but because they exist. And so Arendt makes one of perhaps the most consequential observations of the 20th century. Thinking back to a Jerusalem courtroom years before, face to face with a leading Nazi criminal, Adolf Eichmann, Arendt realized she had seen and heard someone who “clearly knew of no such claim at all.” Debate continues as to whether Arendt saw this as a limited example or a wider problem. But does this debate even make sense? We do know Arendt called this thoughtlessness, then set about reflecting on this crucial activity that was absent. In Life of the Mind, Arendt did not tease out thoughtlessness further nor look for further examples. Eichmann was sufficient event and fact for her. Instead, she turned her attention to thinking. Then, strikingly, this thinker, so willing to engage the world, to undo clichés, prejudices, and fictions from every direction, argues something that, given her own life, remains beyond puzzling. To think, she says, one must “withdraw from the world.”
F. Dewey (*) Santa Monica, USA E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Oeftering et al. (Hrsg.), Hannah Arendt, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30676-2_9
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Arendt in her later years faced bitter attacks for her thinking. In proposing “withdrawal from the world,” she almost seems to be abandoning her own “story.” Had not the world made her think, and was she not in it, more than anyone? “Worldly” events and facts barely appear in this posthumous book. Arendt initially titled the first edition of her most extensive, and first public work, so deeply concerned with events and facts, “The Burden of Our Times.” In Life of the Mind, she describes this burden: as the capacity for “examining and reflecting upon whatever comes to pass, regardless of specific content and quite independent of results.” Late in life, she speculates: might thinking be the thing to “‘condition’ men against evil-doing,” enabling them to break with the “socially recognized function of protecting us from reality”? How could she then say the burden must be left behind for thinking to begin? In the last book the author wrote and supervised before her death, Crises of the Republic, Arendt fully embraces this burden, “examining and reflecting upon” current affairs. She turns to address, as one pressing public matter, lying and image-making among American officials of the Vietnam era. There, she found in no uncertain terms an “inability or unwillingness to consult experience and learn from reality.” This was no merely critical, philosophical, or journalistic exercise: her concern was the fate of a grand structure, the Republic, and as she framed it in her final essay “Home To Roost,” published after she died, whether the Republic would even be able to last. Was this not to think the claim events and fact make by virtue of their existence? How can we reconcile this with “withdrawal from the world”? We are face to face with an apparently glaring contradiction. There is a description in Life of the Mind, and repeated elsewhere, that can help begin to answer this. Thinking, Arendt says, is always “out of order.” And as her earlier book on the Eichmann trial revealed by its reception, when attending to “events and facts,” thinking can and will put one at odds. The world, for her, is what is “between” us – finally it, and nothing else, is what we have in common. If, to begin thinking, we must withdraw from this, then we will be at odds, most of all with others. In thinking, we turn from what we have in common, to withdraw from the very thing that makes communicating and being together possible. It is destructive. It is contest. This raises a question for us and for all of Arendt’s work: is thinking, or is it not, political, however detached from the world we, and others, may see it as? One cannot disagree that Arendt, again and again, rejected much that is assumed, or that she did so in the world and for it. Because we collapse thinking with theorizing, philosophy, and contemplation, activities not at all necessarily “at odds,” this fundamental clash is hard to see. In her posthumous work, however, there is a crucial counter-example: Socrates. Here was a man who both withdrew from the world and went into the public
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square to demand thinking of others. The activity Socrates is known for was not to retreat from, but to be among, others, as a “gadfly,” or as Socrates described thinking itself, as the “stingray,” immobilizing us wherever we might be. Gadfly and stingray exist in the world. That is what the metaphors point to. But our contradiction deepens. In Life of the Mind, for Arendt, Socrates is thinking when he goes home, facing the quiet soundless dialogue, the “two-in-one,” of Socrates present to himself. Yet the “gadfly” and “stingray” demand this from the public square. This was not merely resisting contents or results at home, but grabbing these and turning them every which way between people present to each other, in public. It is possible those “stung” by this did go home to their solitude, and there began thinking, seeking the inner harmony disrupted among others. Was Arendt, then, arguing that whatever thinking is, it is not public or political, but can only occur in private? This makes no sense, not only because Socrates’ dialogues were spoken between people, but because Socrates, as far as we know, never said this public thing was not the thinking, or that thinking happens only at home. Socrates, to this day, serves, as for Arendt, as the quintessence of what Arendt called a “working capacity.” People together in public were led around and around by their words and usages until every assumption and presumption lay in rubble. Socrates, by his own claims, was not the thinker but thinking’s “midwife.” Plato used his presence in the agora, and a version of his words and practices there, to talk about something that starts in dialogue and ends in people having to give up – in Arendt’s favorite metaphor for this – all their “bannisters.” In this there are neither guides nor rules. Was Arendt, by placing thinking at home rather than in the public square, rewriting Socrates and Plato? If Arendt wished to keep Plato’s company, as she said she preferred to, was she not ignoring Plato’s greatest demonstration, and so to call Socrates only a provocateur, even for himself? Was thinking not among people who, in being present to each other, were spurred to this working capacity? The dialogues have neither content nor results. They have only that periagoge, that ceaseless turning-about, that Plato captured for all time. Was not this what Socrates, Plato, and finally Arendt herself, called thinking?
2 Arendt’s Term of Political Education At this point, it might be controversial but not entirely far-fetched to say this question of thinking in Arendt’s work, in key ways, is, with her juxtaposed examples, indistinguishable from questions of education and learning. To
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say this, however, is to be aligned against Arendt’s own formulations. For Arendt, education was limited to preparation for being an adult in the world. Presumably whatever happened for, with, and between adults, this would not be, for her, education. Yet all our lives, we continue to receive an education in the world, forced to think about what happens, finding ourselves at odds. Does not the world, its events and facts, constitute a kind of school, demanding thinking, responsibility, and judgment from us all? Isn’t this Arendt’s point? That events and facts make a claim on us because they exist? Is it not worldly education to move, as Arendt suggests, through vantages, to see and hear and sense from them, and from as many as possible? Is this not the opposite of withdrawal from the world? Arendt called this moving about judgment, and called it worldly. Its ground is the imagination, concerned with what is not right there. Is such encompassing then imaginary? Do not these vantages exist in the world, lent their sole weight and importance because they too exist? Is this not a sine qua non for education in that realm between us, the world? How do we even become aware there are other vantages, to learn they are needed? The contradiction with “withdrawal from the world” is stark, for her example of thinking, Socrates, sought to engage vantages, to stand in their shoes, in their statements, and move them about, in public. Socrates is, it would seem, an example of “the life of the mind” that places the agora, not the home, at the beginning of thinking. This was where a person could elicit another’s words and statements and so turn them about, with them. Clarifying “withdrawal from the world,” Arendt argued thinking was to “de-sense” what we experience, to drain away what our senses tell us, and so bring ourselves into the quiet dialogue of ourselves with ourselves, not with others. Nevertheless, thinking’s lack of contents and results, and the destruction it occasions, put us at odds somewhere. I believe this is the tension and problem at the heart of what Arendt called “the introduction into politics.” Arendt argued that 20th century history had shown that what we call “conscience,” as a moral phenomena, had been proven helpless before the totalitarian onslaught. Traditions, morality, and any remaining bond between thinking and doing collapsed. Morality, for her, could not bring, and had not brought, thinking and doing together to halt the greatest crimes. Conscience, she notoriously argued, ended up serving evil. The boldest part of Arendt’s late project may then be proposing, as a result, a notion of conscience that is not moral but at the heart of thinking. Morality was only “customs and mores.” It could be switched all around – to turn, as she famously put it, “thou shalt not kill” into “thou shalt kill,” and “thou shalt not bear false witness” into “thou shall.” In Nazi Germany, the will of the Führer was an iron law. Morality’s claims and commands were
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turned inside out from one minute to the next. No amount of education could reverse this transformation of people, as she put it so well in her essay on the Auschwitz trial, into “jelly.” This was as likely, if not more likely, with the most educated people, those who perceived themselves as the most “moral” and most likely to regard themselves as “thinking.” But thinking and doing had parted, and education and morality could do little. The incapacity to think – to know of “no such claim” on thinking attention that events and facts demand by their existence – was the problem on full display in one of the greatest organizers of these crimes, Adolf Eichmann. Was not, then, bringing thinking and politics, education and adulthood, back together, the challenge Arendt posed for us, in her unique, turning-about way, by her examples? The contradiction and problem, however, deepen further. When Arendt described politics as “not the nursery,” that politics demands adults, this would seem to contradict every “withdrawing” from the one realm “adults” are part of, the world. The conflict is shown vividly in the film on Arendt’s work and life by Margaretha von Trotta. Arendt, played by Barbara Sukowa, reclines on a settee in her New York apartment, alone. What exactly is the person we see “withdrawing” from? She lies there, “lost to the world,” but awake and thinking. Von Trotta shows us, next, what happened inexorably. Thinking not only rendered Arendt at odds with accepted assessments and descriptions, but – for someone who relied on and praised friendship – at terminal odds with some of her oldest friends. If she had “withdrawn” from the world to think, she returned to it at odds, indeed, one might say, even in jeopardy. Arendt, as we know, rejected Plato’s philosophical argument that a realm of forms beyond the world govern, that they are unavailable to us in “mere” appearance and lie behind and beyond appearance. Arendt argued, instead, in The Human Condition, that the realm of appearances is reality “for us.” Had Arendt, in the face of assaults on her thinking, retreated into the very metaphysical fallacies she attacked in philosophy? How can we get to the introduction into politics and public life so vital to citizens, if they are ever to conduct their affairs with others? Was thinking not where judgment was, of and in the world? In Life of the Mind, she argues precisely against this. So when we speak of thinking and politics, what are we speaking about? Is education only for youth, who are not yet in the world? Is this different from learning? Do we learn citizenship somehow ab nihilo? Like the framing of thinking as “withdrawal from the world,” for Arendt, education was for those who had not yet “entered” the world’s affairs and responsibilities. And so it would seem Arendt set both thinking and education apart from full, adult participation in affairs. And this, of course, given Arendt’s life story, is absurd.
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3 Life of the Mind – is this a Philosophical or Political Way of Thinking? When Arendt asks “Where are we when we think?,” are we not in the midst of political question? Here, the contradiction is clearest. “Political questions,” worldly events and facts, seem entirely missing from Life of the Mind. There is insufficient space here to explore this, but suffice it to say our notions of thinking as studying rather than contesting the world and its appearances, being out of order with them, may be a factor in our difficulties, not the least those posed by Eichmann, a person in the middle of events and facts who felt no claim from them at all. What if appearance, that which tells us about the world, is not a philosophical but rather a political problem of the first order? One gets the impression from Life of the Mind that thinking is philosophical, that it is not contesting the world and being “out of order” with it. At the same time, Arendt’s entire work is in some way nearly always “out of order.” Her mode of writing still, to this day, stirs controversy, defying all existing logic and assumptions. What, then is she doing? The example of Eichmann, and later of the problem solvers and intellectuals in the American government, show well-trained, educated people unable, under the press of events, facts, and finally image-making, to think. For Arendt, this was the crisis for a republic, and so for us and for freedom itself. What such people had lost was the Socratic sense Arendt pinpoints: of thinking as stopping what one is doing to examine it deeply. Socrates’ example puts this in public, there to tear down all that comes to mind. To function well in society, to be part of the social, is the opposite of this, and formal education is no different. It is social. Thinking as taught has come to mean theorizing, problem solving, citation, and production of concepts. And these, though unaddressed by most as such, were what Eichmann could do, easily. He could, as Arendt noted, not only cite Kant but not be entirely wrong, if terrifyingly superficial, in his citation and concepts. But Eichmann was unable to think, that is, to understand the meaning of what he said and did, what others had said and done and no doubt would continue to do had they not been “stopped.” Eichmann functioned perfectly in one environment with one set of rules, the Nazi regime, then in a completely different environment with a completely different set of rules, the Jerusalem courtroom. He was completely unconcerned and utterly immune from the claims the entire world in front of him made. It is odd Arendt is treated as a theorist and idea person. One could argue her works offer something far more crucial: a provocation through the use of
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language and sentences, applying “thinking attention” not only to history but, as she did in The Human Condition, to core human activities such as action, work, labor, and their realms, the public, private, and social. Arendt was critical of the emphasis on theory and ideas, and, later, the concept of language as a game. How is it, then, that Arendt could be taken up so easily by “professional thinkers”? One of the claims she makes is that thinking is what we all do and must do. It is not the pursuit and accumulation of knowledge and does not demand expertise. Was not Socrates, and Arendt following him, stirring people to an accountable life, to a thinking life, as adulthood in a polis requires? Did Socrates’ practice in the agora not stir this, in himself and among others? Did not Arendt, as well, in spite of arguing for withdrawal from the world, manage to turn the periagoge, enacted in the agora, into objects of written and spoken language, confronting us all from that most unlikely of places, in books? Did she not, in effect, turn-about the Socratic negative, to say, “The examined life is worth living – precisely because it is lived with others, including the other that is with us when we are alone”? It was Arendt’s insight that it is only the political realm, the realm of all of us coming together in deed and word, that drives us and our differences, our plurality, to meet, there to become a kind of “royal road” to reality and even power. By coming together with others, we have the only chance to recover the world as it is. Thinking, concurrently, tears down the fictions and prejudices which blind and deafen us to this. Even in Arendt’s descriptions, in her 1971 essay and more fully in Life of the Mind, Socrates is no isolated soul, no person outside or above the fray. In her words, he “remained a man among men…a citizen among citizens, doing nothing, claiming nothing except what in his opinion every citizen should be and have a right to.” These latter words are seldom the focus of those who describe Life of the Mind. It is understandable, for they appear there only once. But what is and was this right and being? Was Socrates not a living, appearing example of a right and a mode of being? When Arendt said Eichmann could not think, Socrates was her counter-example, and he was “a man among men, a citizen among citizens.” Does she not make the connection between being “out of order,” a right, a citizen, and thinking, clear? Thinking is not, as it was not for the living Socrates – if one can postulate a contrast with Plato – to talk about and practice concepts, theories, or categorizing. It was tearing them down, and with them, cliché, assumption, slogan, fiction, and prejudice, clearing a path. This path was not philosophy or formal education, but only what “every citizen,” every adult, “should be and have a right to.” Might Arendt, who loved to pose perplexities to summon thinking, have embedded a turn-about precisely to thwart thoughtlessness concerning her own work, for the future?
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I would argue that for Arendt, as for us, it was Socrates who revealed that thinking was every person’s right and obligation. This can and must be taught. Thinking is to experience and practice not only a kind of citizenship, but the conditions of a kind of rights-bearing grounding us as human beings in a shared world among others who are different. Socrates shows its actualization. He shows us what citizens ought to be. Many who focus on Life of the Mind, not to mention Socrates, seldom emphasize this. And because Arendt’s final book in Life of the Mind, on judgment, was never written, we cannot know how she would have finally worked out the relation of judgment and thinking. Her work provides clues, but here there is a second problem. Conventional notions of rights are bound to doing, to action, to law, to politics, to the course of events, not to thinking. This is why it is of importance that Socrates planted himself, precisely as Arendt did, in the agora, among others, with this thing “every citizen should be and have a right to.” To be with others was to bring thinking and doing together, and so to challenge both – this relationship, one might say, the quintessence of citizenship in a polis and a republic. Socrates exemplified how this might be: to never rest with one, but always the two-in-one. He would engage others in speech, in dialogue, to interrupt “cognition,” knowledge, and thoughtlessness in “talk” and “being.” For Arendt, this proposed a new kind of conscience. Socrates demanded this of all he approached in public. Every citizen ought to be, in the sense of a demand and obligation, the person who stops and thinks, who is out of order not with themselves but with the assumed world – what today we would call society. And this was what Eichmann could not and did not dare to do. He exemplified, at such cost, a disastrous, even learned inability, and so had to be held accountable with his life. There are few “shoulds” or “oughts” in Arendt. The most famous “ought,” the only one I am aware of, was a kind of negative, and fully related to Eichmann. For Arendt, the corpse factories “ought not to have happened.” This phrase is singular in Arendt, and explains why Nazi reality posed a problem. To ask why the corpse factories ought not to have happened is to point us back to the problem of the absence of thinking, and so to bring closer the purpose of education, perhaps even pedagogy, a word Arendt was, it has been said, not fond of.
4 Teaching Citizens in Thinking It is very difficult indeed to see how much, when speaking of Socrates and his “answer,” in Life of the Mind, Arendt raises questions of structure and organization, of political and educational questions, not for formal education in
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society, or consideration of Arendt’s work as part of formal education, but for thinking’s central role in a living body politic. How can one affirm and learn this capacity, this obligation, and demonstrate it, to make possible “what makes us think” in the world, between us, for us, so we can interrupt processes, act in word and deed, and think with and for each other about all that happens? Because of modern corpse factories, finally, thinking and doing had to be brought together. One has an obligation to tear down assumptions amongst others. One has a right to this. Arendt, early on, described “comprehending” not as knowledge or cognition but as “the unpremeditated, attentive facing up to, and resisting of, reality – whatever it may be.” And this is what Arendt practiced. Socrates remained an example because he insisted on being part of life in the marketplace – not a professional, but as what Arendt called him, a “man among men” and “citizen among citizens.” Socrates remained in the world, withdrawing himself, for a moment and sometimes even for a day, from appearances, but always, always, returning to engage others, and at the expense of his life. He demanded of those in the marketplace that they withdraw from their business, to examine and undo. The problem is those, professional thinkers and problem solvers among them, who see themselves as apart. The problem is all those who have ceased, by choice and function, to be “men among men” and “citizens among citizens.” Arendt is barely taught as someone at odds with professional thinkers, as a person who tenaciously sought to bring, in effect, thinking and doing together in the public realm, intentionally showing how vital being “out of order” is for us and for a Republic. We do not lack for theories, ideas, and distinctions. What we lack is thinking that is out of order. As we know, some years before, Arendt said to Gunter Gaus, speaking of intellectuals, that “I want nothing to do with that lot.” Why? Because it “belongs to the very essence of being an intellectual that one fabricates ideas about everything.” Arendt witnessed many people, especially close friends, who “made up ideas about Hitler, in part terrifically interesting things.” This, for her, was “grotesque.” It was to be “trapped by ideas,” by thoughtless activity, by accumulated knowledge, cognition, and so on. For Arendt, the professional philosophers and intellectuals trafficking in theories and ideas hide from their own affairs, from responsibility for the world they are bound up in and must judge, judging themselves first of all. The professional philosopher and intellectual miss these demands, obligations, and responsibilities of thinking among others, existentially planted, regardless of any notions, among non-theoretical, non-ideational event and fact. Late in life, Vietnam, and its glaring defeat for America, became Arendt’s worldly example. The problem with professional philosophers, theorists, intellectuals, and problem solvers is that such people, rather than thinking, are
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dedicated to “finding solutions to riddles” and “seeking to demonstrate them to others,” and, most devastatingly of all, too often, acting “in an advisory capacity to those in power.” They withdraw from among us, ceasing to be citizens among their fellows, sharing responsibility not merely for deeds and words but for the world, for judgment. Philosophy, tragically and emblematically, can be cited by those who cannot think or judge, and be cited correctly, if, as in Eichmann’s case, with world-destroying superficiality. Such miscomprehension of thinking obliterates the meaning of words and deeds, events and facts. One could put this in a still more consequential way: the fundamental connection of thinking and rights is lost. It is as if thinking and citizenship have parted. Nothing meaningful or worldly can survive. Arendt’s political sense arises, if briefly, in her discussion of Socrates. The person who teaches thinking, and is somehow able to make us think, is someone who “has no aspiration to be a ruler of men” and does not “submit meekly to being ruled either.” This latter formulation is not seen as political, strangely. It suggests thinking and freedom are bound together. Thinking and rules, for her, were at odds, and when thinking and doing part, in Arendt’s phrasing in The Human Condition, “the space of freedom is lost.” Though Arendt does not go so far as to draw such an implication in her discussion of Socrates, one could say Socrates, in his effort at bringing “thinking and doing together,” was not only the freest of men, but to a great extent taught a kind of freedom – one which would, of course, have, at some point, to be regarded as political. What happens, then, to “withdrawal from the world”? As Socrates showed, one may withdraw from the world, but one must go back to it. Indeed, Socrates believed that he could teach others not only thinking but virtue. Whether he did or did not is open to question, given the subsequent behavior of some of his known “partners” in thinking. But Socrates believed in this, one could say, because thinking is related to freedom, not as in freedom from, but freedom for and freedom with others, politically. It was as if this is why Socrates taught and encouraged thinking. Given the Greek polis, this is not really so far-fetched. The person who is made to think, and makes us all think, does so not for some remote or set-off place, but in ordinary, lived life among us all. It is to be able to do this one impossible thing: to be someone for whom thinking and doing can meet. To relate thinking and doing, however different they must remain, is vital because, as Arendt poignantly sets it up at the beginning of The Life of the Mind, we must answer thoughtlessness. To teach thinking in ordinary life, in the agora, in the marketplace, in the necessities of living, is to teach a kind of citizenship, to teach what one might say is the obligation to think, or better yet, the right and responsibility to bring to life a thinking body of people.
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It might seem we are straying far from Arendt’s own formulations here. But to imagine that thinking and “political thinking” could be separate, as they very much seem to be in the incomplete version of Life of the Mind we have, is to lose what I believe is the hidden core of Arendt’s entire life’s work: “thinking” and “being political” were, for her, in the end, one and the same. They must be related, if separate, in the world, between people. For Arendt, to teach thinking was to prepare people not to be out of the world but in it, in politics, being with others in a shared realm concerned with, and in, the world – stepping back, perhaps, but out of order, attending to all that is happening, to events and facts. It was to give us what we need to be citizens, to have a sense of the rights and responsibilities we share because we are in a world where event and fact exist. The dilemma, of course, is that such an obligation and right are in no Bill of Rights, no rule book for societies, no common agreement or constitution, so far, between and within nations and political bodies. Yet thinking, its right and being, is the one thing that, as the era of totalitarianism reveals, is a matter of survival. The world will not exist for us without it. Thinking may even be close to, if not bound up in the “right to rights,” a principle Arendt formulated first, in the book she originally titled “The Burden of Our Times,” The Origins of Totalitarianism. But here, we suffer a second problem. In our era, thinking has, devastatingly, become unprotected and unsupported. We cannot comprehend that knowing and doing could come together to meet all that is happening, and so contest all appearances in reality. It is here that thinking and citizenship meet education and pedagogy. For to teach thinking is not to teach, wield, produce, or manage concepts, categories, and classifications, to rule or be ruled, or to advise those in power. It is to share the perplexities every human being feels in themselves and with others, to “check in with” one’s “fellow men to learn whether” one’s “perplexities” are “shared by them.” It is to comprehend how it could be that something which “ought not to have happened” really did happen. What Arendt brings into disorder is the collapse of education into training for society, as Arendt herself, and more recently, the Arendt scholar and political scientist Wolfgang Heuer argue. One could say Eichmann was a striking example of this collapse. What if adults were defined, then, not as properly trained and functioning members of society, but as those contesting and governing and comprehending conditions – most of all, addressing, in word and deed, what conditions are? Would this not be what thinking leads to, without intent, disposition, expertise, interpretation, knowledge, or concepts? Is not thinking about who we are if we are alive and adult, beyond, outside, even against every order and regime? Most of all, do we not need a space to experience what this means –
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not only to be a citizen, but to see how this is merely to be alive to, and in, the world, as an adult among others, regardless of what we are told and say? Does thinking not mean to think all of this, so we can, in fact, be face to face with each other and the world? Is that not being an adult? To ignore questions of what fits and is in order, and instead to turn to responsibility, judgment, and, as the colloquial English expression has it, being an adult about things?
5 Thoughts of a Review of Arendt’s Words These distinctions, differences, and dilemmas lie at the heart of a long experiment in reading Arendt, in open and public “working groups,” that I began in Los Angeles in the late 1990s, and, for the last few years, have conducted in a series of public spaces in Berlin, London, and elsewhere. I have long felt somehow that the experience of reading Arendt taught something, and while it was not precisely concepts, it was certainly this experience of being more fully alive and awake to the world and others, and so, to experience the meeting of thinking and worldliness. Our method is to read Arendt’s words and sentences out loud, around a table, one person at a time, relentlessly returning to the phrases and words we see and hear. The emphasis is not on mastering her or our thoughts but on experiencing how she thought and why, and how we think and why. The goal is to experience the activity, practice, and materiality of her words from vantage after vantage, slowly, gradually, in the fullness of time. The examination and re-examination of her words, through different voices, ears, eyes, minds, and bodies, creates a space where a kind of summoning begins. The gatherings are both publicized and public. Anyone who walks in can participate, bringing knowledge of Arendt or not. Even in a university seminar environment, where the class is set over months, this method can apply. Dr. Heuer, joining a Berlin session of my working group, invited me to join him in leading a graduate political science seminar at Berlin’s Free University. There too, at every point, we went back and forth over Arendt’s sentences, again and again, finding and building a kind of awakeness between all present. This is surely not a conventional form of reflection. What Arendt’s texts teach, when used this way, is a life of the mind between people, and thus fully apparent or brought to life. That it happens when one is with others, rather than in isolation, reading and thinking silently to oneself, I would argue, is a sorely neglected potential in Arendt’s works. One learns this moving from vantage to vantage, and so, the fact and event of plurality. Heuer, from our experience, called this “judgment,” properly following Arendt’s formulations. But I have experienced
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something more. We do not judge the text, each other, or the world. We think amidst and because of them, for them. We are there to experience each other because of a shared, stable object in front of us, around a table that “relates and separates us.” Each person brings to the table where they are, have been, and might soon be. Yes, they have withdrawn, in a manner of speaking, from the world. But the table is Arendt’s metaphor of public space for a reason. At it, we hear and experience the structuring of words, their agitations, and most of all, their contest, as one between people, and so of the worldliness we have in common. Resistance and friction proliferate, relentlessly distinguishing us from each other. One sees and hears how important others are, how completely crucial. The gathering becomes a rehearsing of “the unpremeditated, attentive facing up to, and resisting of, reality – whatever it may be.” The “reality,” of course, is double: it is Arendt’s implacable text before us and all of us gathered there, around the table. That Arendt’s “texts” are “exercises” could be said of nearly every sentence, observation, fact, and reference Arendt put forth. The effort of the “working group” clarifies this. Someone claims this thing she said is great, another that it is fanciful or simply wrong. Every theoretical debate is interrupted by return to the text. The re-animation of thinking, trapped in frozen words, demands one think again, against the grain of Arendt’s own words. All becomes real. But here one discovers something even stranger. When read aloud, Arendt seems to thwart the building of mere concepts. Again and again, one experiences and practices the “facing up to, and resisting of” what is “between us.” This, I believe, is a proto-political experience. It is of others. Participants may dismiss her as wrong, or want to treat her as a philosopher, anything to avoid the experience of all she draws into question. But the resistance produces the aliveness, I believe, at the heart of both “thinking” and the “political.” Each question is anticipated and addressed in ensuing paragraphs, opening up further questions and demands. At every confusion, we return to let her words lead, for the words in front of us are shared. It is as if she had anticipated, in her words, the challenges, rejections, and disputes her sentences produce, only to address them in what follows, placing every solidity achieved again in question – precisely as the world does with us if we try to think it. The tendency of the mind to move forward automatically without the friction of the world is halted. One is forced to stop and think because of what Arendt wrote and said.
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6 The Aim of her Writings It was Arendt’s dare to say that no reflection or examination exists in the world without some kind of dismantling. In this, her writing style suggests a near-relentless alertness, not only to the world and the import of thinking in it, but of how people experience what she wrote as she winds from vantage to vantage, dismantling. It is impossible not to experience this moving, this undoing, and the life it summons. If she offers any safe harbor, it is one of mutuality and the web of relations brought to life. The consequence is bracing. What is dislodged is any deadness assumed to be thinking, that sense inherited from specialist activity and knowledge accumulation, organized for mastery and citation, deployed for role or status. Some have called Arendt’s work philosophizing. My experience suggests something much more basic and accessible to anyone: the ability to experience thinking and resisting, through words that are not, in themselves, complicated or unfamiliar. The space for contest and resistance needs to be sustained and animated with care. Those who like to show off knowledge, if not interrupted, discourage shy members of the group from saying what they think. It is the quiet members who often have the most to offer. Their struggling with thinking is obvious. The protection of coming forward energizes, because, after a while, people shed accustomed roles, habits, and their social selves. A political equality is formed. Contrary to most educational practices, to bring this home, I openly encourage what one would have to call confusion. I experience this when reading Arendt constantly. But I trust her, and I insist on this trust. It is about sustaining resistances, and Arendt makes this safe and even encourages it. One will disagree about a phrase. In the end, however, one has the experience of a stable object that relates us, that activates precisely by summoning every vantage on it and in it. It is good to be perplexed, for being perplexed is a doorway, not to loss but to “resisting and facing up to” what is right there in front of us. Why did Arendt write her works the way she did? What was she aiming for? It seems unlikely it was for withdrawal from the world. This working “method” suggest one aim was to activate being alive to others, in present and past, even if the doing, the activity, is made possible by stepping back, together, from routines. Working group too is surely a kind of routine, but the experience is of thinking come what may. It is different from the mental activity demanded by job, employment, status, economics, and protocol. Hearing and listening, resisting and experiencing are demanded, secondary sources are forbidden. Those who have long experience with Arendt and discourse around her, joining our sessions, find
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this difficult, but really no more than the beginners. Expertise has no bearing. As a result, the way “authority” is established is vital. It arises in fostering resistance, openness, and disclosure. The facilitator demands returning to the text, bringing to the front each person, one after the other, comfortable in every hesitation and aversion. As group composition shifts over months, people develop friendships, discover commonalities, and return. Projects and potentials emerge. But it is also true that others who have attempted this method, having worked with us, discover it is not so easy. There is no aim for what a session should produce or where it will end up, or how many times we might “go back.” This inevitably brings laughter, for new participants can’t help saying, “we already did that,” only to discover in fact it must be done again. In the end, this constitutes a kind of leading to thinking. It is work, and as Arendt stated, it is in work that “worldliness” arises. No thing is “made” but the experience of being there with table, words, and others. Most importantly, it is safe to give up a notion I believe is antithetical to thinking, that one needs to be better at something than others, that one ought to be – or needs to be – the “one who knows.” Reality is depth and pursuit of depth between us. It is to find our way to a world we are alienated and even driven from.
7 Conclusion How is it, when we read texts by Arendt aloud, one senses that politics and thinking might be able to meet? The sense arises in awakeness. Each person stands disclosed as crucial, lending their difference so we can become aware of what is in front of us. This awareness and practice is fundamental to real politics. The table and text teach us to protect our differences and show why they matter. For a public space, a political space, must be safe for a certain kind of activity. That activity is to experience, strangely – for one is speaking here about thinking and politics – coming together as adults responsible for what is in front of us. This forms a kind of proto-polis, a proto-citizenship, if in raw, embryonic form. The gathering builds a preliminary, or propadeutic, leading into politics. Politics is about people meeting concerned with what is between them and in front of them, and how to conduct oneself in the face of this. That is what these working groups reveal. It is no doubt scandalous to reframe Arendt’s boldest question, but can thinking, through experience as a person among others, examining and reflecting, condition us against evil? It is uncertain. But we can experience a practice that teaches thinking, that teaches us, as it were, to overcome “thoughtlessness,” by
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seeing we can face what is right there, in front of us. I believe Arendt shows how to do this, and deliberately. The experience of undoing thoughtlessness is real when one withdraws and comes back. Her words show this, one can see and hear this. “Withdrawal from the world” and concern for the polis, for thinking in a body politic, do not have to supersede each other. Arendt placed them beside each other, in each work and in different works, precisely so we would be made to think, judge, be responsible, and not know. Arendt’s texts are the most successful of all the works I have attempted to do this with, and I am increasingly certain this is not by chance. In her works, sentences and words and concerns are placed near each other to turn us about. By experiencing this, we discover, for a few hours, cut off from the daily round, that we become more “human,” and deeper, when we, all of us, are blocked from fabricating the most fantastic ideas about things, instead hearing and seeing what is in front of us, “out of order” in our plurality, present to each other in difference. We are face to face with something grand whose purpose, whose event and fact, seeks to undo radical alienation from the world, to bring back to us the claim on us of events and facts. The path of this risky venture is opened up for us by Arendt, and for a few precious hours, cut off from the world but fully in it, we go there.