Göttinger Händel-Beiträge: Jahrbuch/Yearbook 2015
 9783666278334, 9783647278339, 9783525278338

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Göttinger Händel-Beiträge Begründet von Hans Joachim Marx und im Auftrag der Göttinger Händel-Gesellschaft herausgegeben von Laurenz Lütteken und Wolfgang Sandberger Band XVI Redaktionelle Mitarbeit Ulrike Thiele

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit zehn Abbildungen Umschlagabbildung: Hermann Rudolf Heidel (1811–1865), Georg Friedrich Händel-Denkmal in Halle an der Saale Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0177-7319 ISBN 978-3-647-27833-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Hermann Rudolf Heidel (1811–1865), Georg Friedrich Händel-Denkmal in Halle an der Saale

Hermann Rudolf Heidel (1811–1865), Georg Friedrich Händel-Denkmal in Halle an der Saale 1855 hatte sich ein Händel-Comité zur Vorbereitung des 100. Todestages des Komponisten gegründet, das zugleich zur Errichtung eines Denkmals in Halle aufrief. Der deutsche Bildhauer Heidel, ein Schüler von Ludwig von Schwanthaler in München, erhielt den Auftrag für das Bronze-Standbild. Die überlebensgroße 3,2 Meter hohe und 1500 kg schwere Bronzestatue ist auf einem Marmor-Postament aufgestellt; die Ausrichtung des Denkmals auf dem Halleschen Marktplatz ist mit Bedacht gewählt: Der imposante Händel, der auf einem neben ihm stehenden Notenpult lehnt, schaut erhaben in Richtung London, seiner Hauptwirkungsstätte und Wahlheimat. Die Statue zeigt Händel in künstlerisch aufgefasster Zeittracht, d. h. mit Leibrock, Kniehosen, einem Galanteriedegen an der Seite und unter einer barocken Lockenperücke. Zu den Details des Bildprogramms gehört das rokokoartige Notenpult, auf dem kaum zufällig die Partitur des Messiah liegt. Einer der drei Pultfüße trägt die Jahreszahl 1741, in dem Händel dieses Oratorium komponiert hat. Auf der Rückseite ist als Relief eine Darstellung der Orgel spielenden Cecilia eingearbeitet, die Züge der „schwedischen Nachtigall“ Jenny Lind trägt, die sich mit Konzerten für das Denkmal engagiert hatte. Rechts und links davon sehen wir gleichsam als Repräsentanten der geistlichen und weltlichen Musik den alttestamentlichen Sänger David sowie den antiken Sänger Orpheus, der mit seinem Gesang die wilden Tiere besänftigte, hier: Einhorn und Löwe als Wappentiere Englands. Die Inschrift der Statue lautet schlicht: „HAENDEL“. Auf der Rückseite findet sich der Hinweis: „Errichtet von seinen Verehrern in Deutschland und England“. Tatsächlich erweist sich das Händel-Denkmal nicht nur als deutsche Identifikationsfigur auf dem Weg zur nationalen Einheit, sondern spiegelt auch völkerverständigende Aspekte. In einer Spendenaktion konnten nahezu 8000 Reichstaler für das Denkmal gesammelt werden, wobei je ein Drittel vom Britischen Königshaus und von deutschlandweiten Aufführungen „zum Besten des zu Halle zu errichtenden Händel-Denkmals“ kamen. Eingeweiht wurde das Denkmal am 1. Juli 1859. Unter den Gästen waren Franz Liszt und Robert Franz. Wolfgang Sandberger

Inhalt Wolfgang Sandberger (Lübeck) „Mehr Händel!“ Georg Friedrich Händel am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Einführung zum Symposium der Händel-Festspiele 2014 . . . . . . . . 1 Annette Richards (Cornell) Vereint durch den erhabenen Chor: Das ästhetisch-politische Vermächtnis von Händels Hallelujah im Zeitalter der Personalunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Claus-Dieter Osthövener (Wuppertal) Der religiöse Händel: Händel in der Theologie um 1900 . . . . . . . . 31 Christoph Flamm (Lübeck) Zwischen Schering und Heuß. Händel in der deutschen Musikgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Thomas Irvine (Southhampton) Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914 . . . . . . 55 Inga Mai Groote (Fribourg) ‚niemand sonst konnte ein Volk singen lassen wie er‘: Maurice Bouchors Händel und der französische Kontext . . . . . . . . 77 Christiane Wiesenfeldt (Weimar-Jena) Schiller trifft Händel im „Mythos Weimar“: Zu einem Sonderfall der Händel-Rezeption des frühen 20. Jahrhunderts 93 Lars Klingberg (Halle / Saale) Die Göttinger Händel-Gesellschaft während der NS -Zeit . . . . . . . . 107 Bibliografie der Händel-Literatur 2013/14 . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 150

„Mehr Händel!“ Georg Friedrich Händel am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Einführung zum Symposium der Händel-Festspiele 2014

Wolfgang Sandberger Die Erinnerungskultur 2014 konzentriert sich ganz auf den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch vor 100 Jahren als Auftakt der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise ins Gedächtnis gerufen wird – mit einer unübersehbaren Flut an Publikationen. Im Fokus stehen zunächst historische Darstellungen, die sich vielfach als eine späte Auseinandersetzung mit der sogenannten „Fischer-Kontroverse“ erweisen, jener wirkmächtigen Kontroverse, die der Hamburger Historiker Fritz Fischer schon 1961 mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht ausgelöst hatte.1 Jenseits der politischen und militärischen Fragestellungen interessiert freilich auf einer tieferen mentalitätsgeschichtlichen Ebene die Frage nach der Beteiligung der kulturellen Eliten. Die eigentümliche Zerklüftung des europäischen Kulturlebens um 1900, die in dem allgemein akzeptierten Begriff des „fin de siècle“ immerhin mitschwingt, wurde zweifellos als tiefgreifende Krise der Kultur angesehen. Schon seit den 1890er Jahren lassen sich Tendenzen ausmachen, in denen Vertreter der kulturellen Eliten im Krieg ein Heilmittel für die erstarrte und steril gewordene Kultur gesehen haben.2 Schriftsteller, bildende Künstler und nicht zuletzt Komponisten: Viele Kulturschaffende haben die Mobilmachung und das „Augusterlebnis“ von 1914 begeistert. Die Annäherung an die geistige Atmosphäre jener Jahre wird ganz unmittelbar deutlich in einer Prosasammlung, die Wilhelm Krull jüngst unter dem Titel Krieg – von allen Seiten vorgelegt hat3, einer Sammlung im Spannungsfeld so kontroverser Autoren wie Erich Maria Remarque (mit dem Welterfolg Im Westen nichts Neues) und Ernst Jünger mit seinen Kriegserinnerungen In Stahlgewittern. Noch anschaulicher und gleichsam ‚greifbarer‘ wird die Zeit in der aktuellen Schau des Deutschen Historischen Museums zum Ersten Stellvertretend genannt seien die aktuellen Darstellungen von Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914, London u. a. 2012, aus dem Englischen von Norbert Juraschitz: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013 und Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014. 2 Vgl. grundlegend Wolfgang J. Mommsen: Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2004. 3 Wilhelm Krull (Hg.): Krieg – von allen Seiten. Prosa aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, Göttingen 2013. 1

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Wolfgang Sandberger

Weltkrieg, die wenige Tage vor unserem Symposium in Berlin eröffnet wurde, mit dem durchlöcherten Stahlhelm übrigens von Ernst Jünger, einer Leihgabe aus Marbach. Die Kriegs- und vor allem Vorkriegsjahre, um die es unter dem Vorzeichen der Händel-Rezeption in den folgenden Beiträgen gehen soll, sind eine Zeit von irritierenden Umbrüchen, die ästhetischen Strömungen sind mit Begriffen wie Futurismus, Vitalismus, Symbolismus oder dann Expressionismus nur unvollständig umrissen. Gemeinsam scheint den divergierenden Tendenzen aber eine neue, meist positive Bedeutung von Gewalt und Krieg, wie sie etwa bei dem George-Anhänger Friedrich Gundolf beispielhaft zum Ausdruck kommt: „Der allgemeine duldende frieden ist ein müdes greisenideal. Wo jugend, wandlung, schöpfung möglich und nötig ist, da ist krieg nötig: er ist eine menschliche grundform, wie das wandern, die liebe, das beten und das dichten: er kann durch keine zivilisation überflüssig werden.“4 Viele haben diesem kriegerischen Chor ihre Stimme geliehen, indes in unterschiedlichen Tonlagen und in den unterschiedlichsten Nuancen artikuliert, von melancholischen bis trotzigen Untergangsstimmungen bis hin zu der Heilserwartung einer neuen, gereinigten Zeit. Der unmittelbar drohende Kriegsausbruch hat 1914 dann die divergierenden Erwartungen, Ängste, aber auch Hysterien bestätigt, wenn nicht gar übersteigert. Schauen wir auf die intellektuellen Eliten dieser Jahre, dann neigen tatsächlich viele zu einem Eskapismus, zu einer Zeit- oder Weltflucht, etliche träumen von fernen Zeiten und Kulturräumen mit je eigenen Wertesystemen. Andere formulieren alternative oder irrationale Zukunftsideologien. Schaut man auf die Akteure der musikalischen Bühne, dann spiegeln sich die divergierenden Kräfte in der Musik gleichsam seismographisch wider, was hier nur in knappen Schlagworten, zugegeben assoziativ, in Erinnerung gerufen werden kann, allein wenn wir – wie jüngst in einem Band geschehen5 – eine Zäsur wie 1911/12 herausgreifen. Von den fernöstlich inspirierten Einsamkeitserfahrungen eines Gustav Mahler im Lied von der Erde über Franz Schrekers Das Spielwerk und die Prinzessin, einer Art „Vorspiel zur Apokalypse“6, über die auf den Rosenkavalier folgende Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung, in: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2 (1911), S. 10–35, hier: S. 25; vgl. Robert E. Norton: Politik des Unpolitischen? Gemeinschaftskonzepte im George-Kreis, in: Lucia Scherzenberg (Hg.): Gemeinschaftskonzepte im 20. Jahrhundert zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 2010, S. 117–136. 5 Vgl. Ute Jung-Kaiser u. Matthias Kruse (Hg.): Weltenspiele  – Musik um 1912, Hildesheim 2012. 6 Christopher Hailey: Franz Schrekers Das Spielwerk und die Prinzessin – ein Vorspiel zur Apokalypse, in: Jung-Kaiser / Kruse: Weltenspiele – Musik um 1912 (wie Anm. 5), S. 215. 4

Georg Friedrich Händel am Vorabend des Ersten Weltkriegs

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Ariadne von Richard Strauss, dem Palestrina, an dem Hans Pfitzner seit 1909 arbeitete, und Werken des „zweiten Bach“ Max Reger weitet sich der Blick europäisch: zum britischen Sentiment eines Charles Hubert Parry oder Edward Elgar, zum Schlauen Füchslein von Leoš Janáček, zum späten Claude Debussy oder zu Maurice Ravel bis zur surrealen Sonatine bureaucratique von Erik Satie, nicht zur vergessen die Ballette Petruschka und dann bald darauf der Sacre von Igor Strawinsky. Alexander Skrjabin verfolgt synästhetische Konzepte in seinem Prométhée, Ferruccio Busoni konzipiert den Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Arnold Schönberg seine Harmonielehre etc.. In diesen bizarren Vielklang tönt nun schrill der Schlachtruf hinein: „Mehr Händel!“ Erklungen ist diese Forderung in der „gewaltigen Kriegszeit“ 1915, formuliert von Otto Leßmann in der Allgemeinen Musikzeitung.7 Dabei handelt es sich keineswegs um eine feuilletonistische Marginalie. Leßmann war ein bedeutender Berliner Kritiker, damals bereits siebzig Jahre alt und immer noch Chefredakteur der Allgemeinen Musikzeitung, als „Nestor“ der Berliner Kritik schulbildend und in Sachen Händel durchaus kompetent. Leßmann knüpfte mit seiner „Anregung“ – so der Untertitel seines Artikels – an die Händelfeste in Mainz an, die als „Deutsches Händelfest“ erstmals 1895 stattfanden; 1897, 1906, 1909 und 1913 wurden weitere Feste in Mainz möglich, die von der Kaiserin-Friedrich-Stiftung finanziert worden waren. Der Initiator dieses HändelEngagements war Fritz Volbach, der 1899 mit einer Arbeit über Die Praxis der Händel-Aufführung promoviert worden war. Vor dem Hintergrund, dass darüber hinaus die Händel-Rezeption „bis in den ersten Weltkrieg hinein“8 kaum entwickelt war, kommt dem Artikel Leßmanns gerade aus historischer Perspektive eine Schlüsselrolle zu. Mit der kulturpolitischen Forderung „Mehr Händel!“ nimmt Leßmann tatsächlich direkt Bezug auf den „uns aufgezwungenen männermordenden Riesenkampf um Ehre und Wohlfahrt unseres Vaterlandes“9. In diesem Krieg seien bislang vor allem die Werke Beethovens, allen voran die Eroica und die Egmont-Ouvertüre, der musikalische Widerhall der „bis in ihre Tiefen aufgewühlten Seele“, Beethoven ein Spiegel der „aufgeflammten patriotischen Begeisterung“10. Parallel dazu entwirft Leßmann nun generalstabsmäßig eine Händel-Offensive, wobei er die „Heldenoratorien“ favorisiert: Werke, die mit einer „ergreifenden wie flammenden Sprache von der Not und Otto Leßmann: Mehr Händel!, in: Allgemeine Musikzeitung. Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart, hg. v. Paul Schwers, 7. und 14. Mai 1915, Jg. XLII, Nr. 19 u. 20 Berlin 1915, S. 227–229 u. 239–241. 8 Wolfgang Ruf: Hermann Abert und die Händel-Renaissance, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S.221–231, hier: S. 226. 9 Leßmann: Mehr Händel! (wie Anm. 7), S. 227. 10 Ebd. 7

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Wolfgang Sandberger

Pein des Volkes Israel unter der Bedrohung durch fremde Eroberer“ erzählten, so dass „die uns gegenwärtig beherrschenden Stimmungen ein mächtiges künstlerisches Echo in ihnen [den Oratorien] finden dürften“11. Leßmanns Artikel wurde mehrfach aufgegriffen und weiter diskutiert, so etwa in der Rheinischen Musik- und Theaterzeitung vom Februar 1916.12 Die weiteren Details dieses Artikels sollen hier nicht weiter interessieren, ein wichtiger Punkt aber sei herausgegriffen. In einem späten Reflex der schon ins 18.  Jahrhundert zurück zu verfolgenden Versuche, Händel gleichsam zu repatriieren13, versichert Leßmann, Händel sei sich auch in England seines „Deutschtums bis zum letzten Atemzuge bewusst geblieben“, und trotz der italienischen Oper sei seine Musik letztlich „urdeutsch und kerngesund“14. Damit sind wir mitten im Thema: Händels Musik wird in diesem Artikel fraglos (auch) instrumentalisiert, in diesem Fall aus einer deutsch-nationalen Perspektive. Dabei finden sich bei genauerer Lektüre viele Aspekte wieder, die Juliane Riepe generell aus den „Varianten und Konstanten des Händel-Bildes“15 rekonstruiert hat: Aspekte des Erhabenen, Deutschen, Gemeinschaftsstiftenden, Heroischen und Kämpferischen vor allem. So erweist sich Leßmanns Artikel gleichsam als heuristischer Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu der bislang kaum untersuchten Händel-Rezeption am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Inwieweit spielt Händel überhaupt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Rolle, etwa in den theologischen oder musikhistorischen Debatten in Deutschland? Und wie ist die Tonlage? Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Händel unter rezeptionshistorischen Fragestellungen setzt meist mit der sogenannten Händel-Renaissance der 1920er Jahre ein16, im Blick der Forschung sind mittlerweile auch die Händel-Rezeption während der deutschen Diktaturen, wie die Hallenser Forschungsprojekte zu Händel in der NS -Zeit und im Ebd. Gerhard Tischer: Mehr Händel!, in: Rheinische Musik- und Theaterzeitung, Jg. 1917, Heft 17, 7/8, S. 49 f. 13 Vgl. dazu etwa Laurenz Lütteken: „Stolzer Britten Ruhm“  – Händels Weg nach England, in: GHB XIII, hg. von Hans Joachim Marx und Wolfgang Sandberger, Göttingen 2010, S. 1–16, hier S. 1–3. 14 Leßmann: Mehr Händel! (wie Anm. 7), S. 227. 15 Vgl. Juliane Riepe: Varianten und Konstanten des Händel-Bildes vom 18. bis ins 19. Jahrhundert oder: Il trionfo del tempo e dell’inganno über das, was wir gerne für historische Wahrheit halten würden, in: Sandra Danielczyk u. a. (Hg.): Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens, Hildesheim 2012, S. 157–187. 16 Vgl. etwa Bernhard Helmich: Händel-Fest und „Spiel der 10.000“. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. 1989; Wolfgang Sandberger: Geistliche Musik im profanen Raum: Händel-Oratorien im „kultisch ekstatischen Theater“ der 1920er Jahre, in: Händel-Jahrbuch 2009 (Bd.  55), hg. von der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft e. V., Kassel 2009, S. 323–350. 11

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Georg Friedrich Händel am Vorabend des Ersten Weltkriegs

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SED -Staat zeigen. Die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg ist hingegen vielfach noch Terra incognita17, eine Lücke, die wir mit diesem Symposium

punktuell zu schließen suchen. Ausgangspunkt der Überlegungen von Claus-Dieter Osthövener zum „religiösen Händel in der deutschen Theologie um 1900“ ist der 1892 erschienene Aufsatz von Philipp Spitta zur Wiederbelebung protestantischer Kirchenmusik auf geschichtlicher Grundlage. Sodann skizziert der Beitrag die theologische Sicht auf Händel, in der sich einige der zentralen, modernen Themen der protestantischen Theologie der Jahrhundertwende spiegeln. Parallel dazu untersucht Christoph Flamm die konkrete Rolle, die Händel in der deutschsprachigen Musikgeschichtsschreibung „zwischen Schering und Heuß“ spielte. Musikhistoriker wie Max Unger oder Wilhelm Tappert schlagen dabei einen deutlich aggressiveren Ton an als zeitgleich die Theologen. Danach weitet sich der Blick hin zu zwei strategischen Gegenpolen, was freilich bei einem so kleinen Symposium ebenfalls nur punktuell geschehen kann  – allerdings mit zum Teil verblüffenden Einsichten: Thomas Irvine untersucht die Rolle, die Händel in jenen Jahren im Konzertleben in England, etwa den legendären Promenaden-Konzerten spielte. Inga Mai Groote widmet sich dem französischen Dichter Maurice Bouchor (1855–1929), der sich ab Ende der 1890er-Jahre auch mit Projekten der Musikvermittlung beschäftigte, in denen Händel-Adaptionen – typisch für das Frankreich der Dritten Republik  – im Kontext einer gesellschaftlichen Agenda gesehen werden können. Schließlich nimmt Christiane Wiesenfeldt einen eigentümlichen Sonderfall der Händel-Rezeption in Weimar in den Blick. Am 14. Mai 1905 kam im Deutschen Nationaltheater in Weimar eine Semele-Produktion heraus, in der Schillers Schauspiel und Händels Oratorium gekoppelt waren, eine Aufführung, die brennspiegelartig die Konstanten und Brüche deutscher Kunstpflege am Vorabend des Ersten Weltkrieges zeigt. Auftakt des Symposiums war der Festvortrag von Annette Richards, der sich eines anderen politischen Gedenktages des Jahres 2014 erinnerte, das zugleich das Rahmenthema der Festspiele bildete. In Ergänzung zu den Beiträgen des letzten Bandes der GHB hat sie sich noch einmal der Personalunion zwischen Hannover und England  – sowie ihrer Auswirkungen auf die Wahrnehmung Händels erinnert. Und in Erweiterung des Symposium-Themas wird hier ein Beitrag von Lars Klingberg nochmals abgedruckt, der die Göttinger HändelGesellschaft während der NS -Zeit zum Gegenstand hat.

Auch in dem Band Händel unter Deutschen, Musik-Konzepte. Neue Folge 131, hg. v. Ulrich Tadday, München 2006, spielt dieser Zeitraum keine Rolle.

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Vereint durch den erhabenen Chor: Das ästhetisch-politische Vermächtnis von Händels Hallelujah im Zeitalter der Personalunion Annette Richards (Cornell)

„Am 7. April 1742 war endlich die letzte Probe angesetzt. Nur wenige Anverwandte der Chorsänger aus beiden Kathedralen waren als Zuhörer zugelassen […] Vereinzelt und verstreut saß da ein Paar und dort eine Gruppe auf den leeren Bänken, um das neue Opus des Meisters aus London zu vernehmen […] Aber ein Merkwürdiges geschah, kaum daß die Chöre, klingenden Katarakten gleich, niederzubrausen begannen. Unwillkürlich rückten die einzelnen Gruppen auf den Bänken zusammen und ballten sich allmählich zu einem einzigen dunklen Block des Hörens und Staunens, denn jedem war, als sei die Wucht dieser nie gehörten Musik für ihn, den einzelnen, zuviel, als müsse sie ihn wegschwemmen und wegreißen […] Als das ‚Halleluja‘ zum erstenmal dröhnte, riß es einen empor, und alle wie mit einem Ruck erhoben sich mit ihm; sie fühlten, man konnte nicht an der Erde kleben, angepackt von solcher Gewalt […]“ Stefan Zweig: „Georg Friedrich Händels Auferstehung“ aus Sternstunden der Menschheit (1927)

Die ästhetische Kategorie des Erhabenen fand ihre für das achtzehnte Jahrhun­ dert maßgebliche Deutung in den Schriften von Edmund Burke, der in seinen Theorien den Versuch unternahm, die bedrohlichen, unfassbaren Kräfte der Natur fassbar zu machen – den Menschen quasi Schauder und Staunen in unterhaltsamer Form zu bieten. Händels Musik, wenngleich vor Burkes Zeit geschrieben, wurde zum Inbegriff des klingenden Erhabenen, und der Händel-Kult sowohl in Deutschland als auch in England ist insbesondere der überwältigenden Kraft der ‚erhabenen‘ Chöre geschuldet.1 Angeregt durch Ruth Smiths bahnbrechende Arbeit über die Oratorien begann eine rege Von den zahlreichen Publikationen über die Händel-Rezeption im späteren 18. Jahrhundert seien aufgrund ihrer Relevanz für den vorliegenden Artikel hervorgehoben: Laurenz Lütteken (Hg.): Händel-Rezeption der frühen Goethe-Zeit, Kassel 2000, darin insbesondere Gerhard Splitt: ‚O Händel, stolzer Britten Ruhm, / Doch unser, unser Eigenthum‘: Zur deutschen HändelRezeption um 1750, S. 65–80; Anselm Gerhard: Auf dem Weg zur ‚Kantate des ganzen Menschengeschlechts‘: Voraussetzungen und Folgen der Rezeption von Händels Chören, S. 209–236; Carsten Zelle: Die Ästhetik des Erhabenen und das englische Vorbild in Deutschland nach dem Tod Händels, S. 9–22; außerdem noch Annette Monheim: Händels Oratorien in Nord- und Mitteldeutschland im 18. Jahrhundert, Eisenach 1999.

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wissenschaftliche Debatte über die politische Dimension von Händels öffentlichen Werken. Wissenschaftler deuteten die Oratorien sowohl direkt wie auch allegorisch und setzten sich mit dem Einfluss politischer Ideologien und sozialer Strukturen sowie der Darstellung königlicher Macht auseinander.2 Das Erhabene lässt sich durch seine nicht definierbare Größe definieren. Wir können es hörend erleben, wenn wir Händels Ehrfurcht gebietender Inszenierung monumentaler Effekte lauschen, wie im Coronation Anthem (Zadok the Priest) und im „Hallelujah“-Chor aus dem Messiah. In diesen Werken versteht es der Komponist in unübertrefflicher Weise, den Ausdruck britischer Macht in ein glänzendes religiöses Gewand zu kleiden. George III., einer der längst dienenden Monarchen der englischen Geschichte, brach während des „Hallelujah“-Chors in Tränen aus und erhob sich von Ehrfurcht ergriffen. Der Gedanke, dass George die Textzeile „for he shall reign for ever and ever“ (‚und er soll bis in alle Ewigkeit herrschen‘) wohl auf sich selbst bezogen hatte, ist keineswegs nur ein zynischer Kommentar zu dieser Szene: Händels mitreißende Chöre verkörperten den Ruhm des Georgianischen Großbritanniens.3 Händels Aufstieg in den englischen Olymp stand in enger Verbindung mit den politischen Ereignissen in den Anfangsjahren der Personalunion und in den folgenden Jahrzehnten schritt Händel unter dem Banner der Hannoveranischen Könige eifrig voran: Spielend, so scheint es, gelang ihm der Übergang vom Kapellmeister für den Kurfürsten George zur führenden musikalischen Stimme des aufstrebenden Großbritanniens. Im Erhabenen als einer Kategorie, die die Gegensätze innerhalb der Nation überwindet, als einer transzendentalen wie auch Ehrfurcht gebietenden Kraft, lässt sich erkennen, in welch gewaltigem Ausmaß Händels Musik es vermochte, als verbindende Kraft zwischen Großbritannien und Deutschland, insbesondere Hannover, zu wirken. Die enorme Begeisterung, mit der eine große Schar von herausragenden deutschen Komponisten, Kritikern, Dichtern und Herrschern der Musik Händels huldigte, wurde durch die grenzüberschreitende Faszination mit der Idee des Erhabenen beflügelt, das von englischen und deutschen Denkern als einer internationalen Sprache von überwältigender Wahrheit und Kraft theoretisiert wurde. Die außergewöhnlich große Zahl an Mitwirkenden in diesen Aufführungen verwies zugleich auf die einenden Kräfte des Erhabenen, die diese Logistik und Effekte ermöglichten. Die berührende, ja bewegende Intimität einer Arie wie „I know that my Redeermer liveth“ (,Ich weiß, dass mein Erlöser lebt‘) wäre kaum in der Lage, eine ähnliche – politisch äußerst effektive – Ent Vgl. Ruth Smith: Handel’s Oratorios and Eighteenth-Century Thought, Cambridge 1995. Vgl. William Weber: The 1784 Handel Commemoration as Political Ritual, in: Journal of British Studies 28 (1989), S. 43–69.

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rückung der Massen und ein Gemeinschaftsgefühl hervorzubringen, wie es die großen Chöre vermochten. Wenngleich die enorme Begeisterung für das Händelsche Erhabene selten in Zusammenhang mit der Personalunion gebracht wird, so lässt sich doch ausmachen, wie sehr es die Verbindung zwischen Händels Heimat und seiner Wahlheimat verstärkte, und darüber hinaus eine utopische Vision von internationaler Harmonie entwarf – wohlgemerkt unter britisch-hannoveranischer Dominanz. Aus diesem Blickwinkel ist es wenig verwunderlich, dass Komponisten im politisch fragmentierten Deutschland versuchten, das Erhabene Händels nachzuahmen, selbst dann, wenn sie sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit gerade im Vergleich mit dem Meister zutiefst bewusst waren. In meinem Vortrag möchte ich mich sowohl mit der philosophischen und künstlerischen und politischen Herausforderung auseinandersetzen, die das Händelsche Erhabene für das Georgianische England sowie für Deutschland darstellte, als auch mit dem Echo, das es in den nachfolgenden Jahrhunderten bis in unsere Zeit hervorrief. Dieses Echo überdauerte die Personalunion, die in nicht geringem Maße für das Aufkommen und den Erfolg der Idee des Händelschen Erhabenen verantwortlich zeichnete: Die heute allgemein beliebten Chöre sind sowohl zeitgebunden als auch, wie das Erhabene selbst, zeitlos. Vor fast 300 Jahren, am 20.  Oktober 1714, wurde der Hannoveranische Kurfürst Georg Ludwig englischer König. Der politische und kulturelle Hintergrund, aus dem diese Personalunion hervorging, ermöglichte es einem deutschen Komponisten von italienischen Opern zum größten englischen Komponisten seiner Zeit zu werden und eine musikalische Sprache zu umreißen, die für Jahrhunderte zum Gütesiegel britisch-nationaler Identität wurde. Die Herrschaft der Hannoveraner in England, die Zeit der Personalunion, dauerte über das 18. Jahrhundert hinaus bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts an. Es war das Zeitalter der Georges: George I., der 1714 gekrönt wurde, sein Sohn George II., der ihm 1727 auf dem Thron nachfolgte, dann George III., dessen Herrschaft sich von 1760 bis 1820 erstreckte, sowie der dem Laster verfallene George IV., der bis 1830 regierte. Diese Epoche blieb im kollektiven britischen Gedächtnis als eine Zeit von Eleganz und Pracht erhalten, als Zeit von kulturellen Experimenten und Debatten, als Zeit politischer Offenheit sowie als Zeit von elegantem städtischem Design und von großzügigen Palladianischen Landhäusern: ‚Georgian‘ architecture, ‚Georgian‘ social life, und ‚Georgian‘ culture sind Ideale, denen die englische middle class wie auch die upper class nach wie vor nacheifern. Dabei sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Epoche ein Zeitalter von großen sozialen Unruhen, von Kriegen und von Revolutionen war, eine Zeit, die für Großbritannien sowohl von kolonialen Verlusten (der Ländereien,

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Abb. 1: The Charming Brute. Satyrische Karikatur, c.  1754. Anonym, nach Joseph Goupy. New York Public Library.

aus denen die Vereinigten Staaten wurden) als auch Gewinnen (unter anderem von Indien) geprägt war. In den Disziplinen kultureller und ästhetischer Theorie wurde diese Zeit als das Zeitalter der Empfindsamkeit und des Erhabenen rezipiert. In diesem Zusammenhang kann der andauernde Erfolg von Händels hochgradig politischer Musik wohl kaum als Zufall gewertet werden. Der Diskurs des Erhabenen wurde von Händels Musik auf die Person des Komponisten übertragen, er wurde zum „Man-Mountain“, der andere Komponisten überragt wie Gulliver die Menschen in Liliput.4 Händel war ein Genie Mit diesem zweifelhaften Kompliment preist William Hayes Händel in einem satirischen Pamphlet [Barnabas Gunn]: The Art of Composing Music by a Method Entirely New… suited to the Meanest Capacity, London 1751. Vgl. dazu auch: Claudia Johnson: „Giant HANDEL“ and the Musical Sublime, in: Eighteenth-Century Studies, 19 (1986), S. 515–533.

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Abb. 2: Titelbild. John Mainwaring, Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel (1760)

von großer Statur und ein Mann von unersättlichem Appetit (wie die anonyme Karikatur nach Joseph Groupy, The Charming Brute lebhaft zeigt – Händel als charmanter Grobian, Abb. 1) und seine Erhabenheit trug ihm eine Art Verewigung zu Lebzeiten in Form eines Marmormonuments ein (die Statue von Roubiliac wurde in den Vauxhall Gardens errichtet); ihm ist auch die erste umfassende Biographie gewidmet (Abb. 2), die je für einen Musiker geschrieben wurde (John Mainwarings Werk erschien 1760);5 und schließlich wurde seiner in Konzerten von monumentalen Ausmaßen anlässlich seines hundertsten Geburtstages gedacht. * Im Frühjahr 1785 wurde der junge Preußische Kapellmeister Johann Friedrich Reichardt mit großem Wohlwollen in London empfangen, an einem Hof, der John Mainwaring: Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel. To which is added a catalogue of his works and observations upon them, London 1760.

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auch noch 71 Jahre nach Beginn der Personalunion den kulturellen und musikalischen Austausch zwischen England und Deutschland lebte. George  III., ein großer Musikliebhaber, war bekennender ‚Handelomane‘, desgleichen seine Frau Charlotte, die aus Mecklenburg-Strelitz als Gemahlin für den König ‚importiert‘ worden war, nicht nur aufgrund der politischen Verbindung ihrer Familie zum Haus Hannover, sondern weil auch sie begeisterte Musikliebhaberin und Amateurmusikerin war.6 Gemeinsam waren sie Subskribenten der ersten Ausgabe von Händels Messiah im Jahr 1767. Ebenfalls gemeinsam unterstützten sie die Händel-Gedenkfeiern 1784; der König ließ es sich nicht nehmen, den vom Musikhistoriker Charles Burney verfassten offiziellen Bericht über das Ereignis selbst zu beaufsichtigen  – er erschien im selben Jahr unter dem Titel Account of the Recent Performances at Westminster Abbey. Deutsche Musiker waren besonders geschätzte Mitwirkende bei den regelmäßigen privaten musikalischen Aktivitäten am Hof, wo die Queen ihr eigenes Orchester hatte, dem, wenig überraschend, zahlreiche deutsche Musiker angehörten. Obgleich der Hof Zugang zum zeitgenössischen Musikleben hatte, blieb der längst verstorbene Händel Favorit des Königshauses. Kapellmeister Reichardt fühlte sich geschmeichelt, als er mit Aufführungen seiner eigenen Kompositionen im königlichen Kreis empfangen wurde und sogar eine Einladung erhielt, mit der königlichen Familie den musikalischen Höhepunkt des Jahres, die zweiten Händel-Gedenkfeiern in Westminster Abbey, zu besuchen. „Der Großbrittanische Hof“, so schrieb er, „hat mich  … mit ganz außerordentlichen Zeichen der Gnade aufgenommen, hat mir [sic] in Westminster Abtey die beste selbstgemachte Auswahl aller Händelschen Meisterwerke hören lassen.“7 Diese außergewöhnliche Ehre und die mit ihr verbundenen musikalischen Erlebnisse waren wohl eine nie zuvor dagewesene Möglichkeit für den reisenden Komponisten. An vier Tagen wurden Konzerte gegeben; an den ersten beiden Tagen wurden hauptsächlich Ausschnitte aus Händels Oratorien, und zum Abschluss ein Coronation Anthem musiziert (My Heart is Inditing am ersten Tag, am zweiten Zadok the Priest). Am dritten Tag wurde der Messiah aufgeführt, wobei die Nachfrage für diese Aufführung so groß war, dass sie einige Tage später wiederholt werden musste. Die erste und wichtigste Händel-Gedenkfeier war ein Jahr zuvor abgehalten worden, in jenem Jahr, das für die hundertste Wiederkehr von Händels Geburtsjahr gehalten worden war. Von dieser gigantischen Jubiläumsfeier, die in beispielloser Weise Vgl. Hans Joachim Marx: Die Musik am englischen Hof von George III. (1761–1820), in: Göttinger Händel-Beiträge, 15 (2014), S. 119–143. 7 Zit. nach Werner Rackwitz: Johann Friedrich Reichardt und das Händelfest 1785 in London, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität 9 (1960), S. 511. Vgl. dazu auch Annette Monheim: Händels Oratorien (wie Anm. 1), S. 434. 6

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einem toten Komponisten als Helden huldigte, wurde mit Erstaunen in ganz Europa berichtet. An den Aufführungen waren zumindest 500 Musiker beteiligt, im Publikum saßen Tausende und bei den Veranstaltungen wurden zudem enorme Summen für wohltätige Zwecke eingenommen.8 Die Gedenkfeier im darauffolgenden Jahr, bei der Reichardt sowie der Preußische Kronprinz Wilhelm Heinrich anwesend waren, war mit 607 Instrumentalisten und Sängern noch gigantischer. Reichardt war von den Aufführungen überwältigt: Er hatte Händels Musik zwar bereits zuvor, im Jahr 1774, in Berlin gehört, doch die englischen Aufführungen erreichten aufgrund ihrer Dimension, insbesondere bei den Chören, Effekte, die Reichardt verblüfften: „und ich muß gestehen die großen Händelschen Chöre haben bey der gewaltigen Besetzung von sechshundert Sängern und Spielern eine außerordentliche Wirkung auf mich gemacht, die für meine künftigen Arbeiten von Nutzen sein müßten.“9 Schon wenig später trug das Erleben der Konzerte Früchte. Von Inspiration beflügelt und um seine englischen Gastgeber und das gemeinsame Idol Händel zu ehren, komponierte Reichardt eine Kantate im Händelschen Stil, In Prise [Praise] of Handel. Als Textvorlage wählte er die Begräbnisode des englischen Dichters John Lockman, In the Manes of Handel, die anlässlich von Händels Tod 1759 publiziert worden war.10 Das Gedicht preist den Klang von Händels Musik, indem es die Ankunft des Komponisten in einem Himmel beschreibt, der ihn mit seinen eigenen „wondrous sounds“ empfängt; um diese Szene zu komponieren, versuchte sich Reichardt bewusst in einem Händelschen Idiom. Seine Hommage an den großen Meister bedient sich in besonderem Maß der magischen Effekte des Chores: Anschwellende und wieder verebbende Akkorde deuten die Worte „O wondrous Sounds” (Bsp. 1) und führen über wuchtige unisono-Passagen und stufenweise Aufwärtsbewegung zu einer beeindruckenden abschließenden Chorfuge, deren Thematik, Größe und abschließendes Fortissimo an Händels Pomp und seine vielstimmige Glorie gemahnen, als „Cherubs, in his high praise, thy anthems sung, / And heav’n with thy great hallelujahs rung.“ (Bsp.  2) Wenn es der deutsche Komponist Reichardt vermochte, eine solche selbstbewusst englische Musik zu schreiben, so konnte er sie auch mit nach Deutschland nehmen, stolz wie er auf seine „Handelianisms“, denen er sogar eine tiefgreifende Veränderung seiner Identität als Komponist zuschrieb, nun einmal war. Auch wenn In Prise of Handel unveröffentlicht Details zu den Händel-Gedenkfeiern vgl. Weber: The 1784 Handel Commemoration (wie Anm. 3) und Annette Richards: The 1784 Commemoration and the Charitable Handel, in: Göttinger Händel-Beiträge, 15 (2014), S. 87–105. 9 Vgl. Monheim: Händels Oratorien (wie Anm. 1), S. 434–435. 10 Ebd., S. 435. 8

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Bsp. 1: J. F. Reichardt, aus In Prise of Handel, Chor „O woundrous sounds“, T. 1–10.

blieb, bereitete er doch eine deutsche Version des Textes für eine Aufführung 1786 vor; 1791 publizierte er einen Ausschnitt des Werkes, mit englischem und deutschem Text, in seiner Sammlung Cäcilia.11 * Die Londoner Händel-Gedenkfeiern markierten tatsächlich einen Wendepunkt in der deutschen Händel-Rezeption des späten 18. Jahrhunderts. Deutsche Leser wurden in zahlreichen Berichten in der deutschen Presse von den außergewöhnlichen Ereignissen und der außergewöhnlichen Wirkung von Händels Musik in den groß dimensionierten Aufführungen informiert. 1785 konnten sie sogar eine deutsche Version von Burneys offiziellem Bericht über die Gedenkfeier lesen, da ihn der Braunschweiger Professor Johann Joachim Eschenburg übersetzt hatte.12 Es war deutschen Musikliebhabern somit ­möglich, Ebd., S. 436 f. Vgl. Johann Joachim Eschenburg: Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen und der ihm zu London im Mai und Jun. 1784 angestellten Gedächtnißfeyer, aus dem Englischen übersetzt von Johann Joachim Eschenburg, Berlin und Stettin 1785.

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Bsp. 2: J. F. Reichardt, aus In Prise of Handel, Fuge, „And heaven with thy great Hallelujahs rung“, T. 1–24.

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die unzähligen Facetten dieses ungewöhnlichen Phänomens zu erleben, für sie dargebracht in einer Weise, die die kulturellen Einflüsse zwischen England und Deutschland betonten, war doch Händel ein deutscher Komponist, der von den Briten als nationales Heiligtum und als Stimme der Nation verehrt wurde. Die Gedenkfeiern wurden von einer englischen Gruppe von Händel-Liebhabern konzipiert, jedoch von der Hannoveranischen Königsfamilie ausdrücklich unterstützt. Obwohl sie von den wechselseitigen Beziehungen deutscher und englischer Kultur in der Zeit der Personalunion geprägt waren, zeigten sie doch auch die Grenzen des zeitgenössischen musikalischen Geschmacks in Deutschland. Eschenburg widmete seine Übersetzung der aus Deutschland stammenden Königin Charlotte und nahm im Vorwort auf den kulturellen Transfer zwischen Deutschland und England Bezug, der sowohl durch die Queen selbst symbolisiert wurde, als auch durch den lange verstorbenen, musikalisch jedoch nach wie vor hochpotenten Händel: „Der große Tonkünstler, dessen Verdiensten diese Schrift gewidmet ist, war deutscher Abkunft; wurde schon früh in seinem Vaterlande geschätzt und geliebt; wurde in England mit froher Erwartung aufgenommen; fand dort, je mehr man seinen großen Werth kennen und schätzen lernte, immer allgemeinere und eifrigere Bewunderung; ward Liebling der Nation, die auf seinen Besitz stolz war. Wenn ich es wagen darf, den hohen Namen Ew. Königl. Majestät hier in die Stelle des unsterblichen Händelischen Namens zu setzen; so trifft auch dann alles das aufs wahrste und vollkommenste von Britanniens Königinn zu, was ich itzt von ihm gesagt habe.“13

Eschenburg zufolge sollten die Briten den Deutschen nicht nur dafür dankbar sein, dass letztere ihnen Händel geschenkt hatten, sondern auch für die große Kennerin und Patronin der Künste, die Queen, die die Gedenkfeier ermöglicht hatte. Die Briten seien tatsächlich dankbar für Händel, so Eschenburg weiter, im Gegensatz zu den Deutschen, die die Wertschätzung für den Komponisten seiner Wahlheimat überließen und denen es an nationalem Stolz mangelte, um ihn selbst zu ehren: „– Denn, wir Deutschen -- ungern gesteh ich’s; aber es ist leider! zu wahr, zu augenscheinlich; -- wir Deutschen sind gegen den grossen Künstler, auf den wir so stolz seyn können, lange nicht so dankbar, in der Anerkennung seiner großen Ueberlegenheit lange nicht so einstimmig, so warm und so innig überzeugt, wie eine Nation, auf die sonst National-Vorliebe so mächtig wirkt.“14

Eschenburg: Dr. Karl Burney’s Nachricht (wie Anm. 12), Widmung des Übersetzers, S. [3–4]. Ebd., S. [5].

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Charles Burney hatte bereits mit großem Eifer gezeigt, wie die Wertschätzung der Briten für den ‚deutschen‘ Händel als Indikator für die Qualität britischer Kultur gesehen werden kann. Händels Musik war ein natürliches Pendant zum Charakter der Briten und diente ihnen über einen so langen Zeitraum als Vorbild, dass sie schließlich den Geschmack der britischen Nation bestimmte. Zusammenfassend, meinte Burney, „war [Händel] zwar kein geborner Engländer: er widmete aber den größten Theil seines Lebens dem Dienst unserer Nation, verbesserte unsern Geschmack, ergötzte uns in der Kirche, auf der Bühne, und im Zimmer, und bereicherte uns mit so vielen Arten musikalischer Trefflichkeit, daß wir mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch, in welchem Gefühl, nicht Mode, unsern Beyfall lenkte, kein andres Muster wünschten, noch bedurften.“15

Ein deutscher Beobachter am Ende des 18. Jahrhunderts charakterisierte den Sachverhalt treffend: „Händel, bey dessen Namen die deutsche Brust hoch schlägt, hat den ernsten, männlich, unwandelbaren Geschmack der Britten so gut zu treffen gewußt, daß er, über allen Tadel erhaben, der musikalische Shakespeare der Nation geworden ist.“16

* Die deutsche Kritik an der mangelnden Wertschätzung für Händel in seiner Heimat war zwar übertrieben, doch tatsächlich erschwerte das Fehlen eines politischen Zentrums in Deutschland die Organisation von Feiern von ähnlicher Dimension, sei es nun, um eines Komponisten zu gedenken oder dem nationalen Stolz Ausdruck zu verleihen. Während Händels Opern in Deutschland im späten 18. Jahrhundert kaum bekannt waren, wurden einige Oratorien des Komponisten in deutschen Übersetzungen ab den 1770er Jahren regelmäßig in den nord- und mitteldeutschen Städten Hannover, Berlin, Hamburg und Leipzig aufgeführt.17 Die mächtigen Chöre dieser Werke wurden häufig von deutschen Zuhörern gepriesen, die damit der Tendenz in der britischen Rezeption folgten, in den Händelschen Chören die musikalische Verkörperung des Erhabenen zu sehen.18 In Händels Chören offenbarte sich, dass der Komponist kein gewöhnliches Genie gewesen war, sondern eines, das von gött Ebd., S. [2]. J. C. Hüttner: Zwey tausend Musikmeister in London: The Choral Fund. Händel’s Messias, in: London und Paris 3 (1799), S. 283–286; zit. nach Monheim: Händels Oratorien (wie Anm. 1), S. 312. 17 Siehe Gerhard Splitt: ‚O Händel, stolzer Britten Ruhm‘ (wie Anm. 1), S. 65–80. 18 Vgl. Anselm Gerhard: Auf dem Weg zur ‚Kantate des ganzen Menschengeschlechts‘ (wie Anm. 1), S. 209–236 sowie Carsten Zelle: Die Ästhetik des Erhabenen (wie Anm. 1), S. 9–22. 15

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licher Inspiration erfasst gewesen war, wie Händels Biograph Mainwaring erläuterte: „man kann gar wohl ohne Übermaße sagen, daß die erhabenen Züge, die darinn herrschen, mehr einer Erleuchtung, als bloßen natürlichen Gaben, ähnlich sehen.“19 Als Beweis dafür, dass auch deutsche Zuhörer die Chöre auf diese Art wahrnahmen, kann der ekstatische Bericht des Dichters Johann Heinrich Voss dienen, der Folgendes über sein erstmaliges Erleben von Händels Messiah berichtete – wohlgemerkt über eine Aufführung, die von Carl Philipp Emanuel Bach dirigiert wurde und in der eine vom Hamburger Literaten Christoph Daniel Ebeling und von Deutschlands ‚erhabenem‘ Dichter Johann Gottlieb Klopstock verfasste deutsche Textfassung vorgetragen wurde: „Himmel, welche Musik. […] Gleich das erste begleitete Recitative: Tröstet, tröstet mein Volk! war biß zu Thränen rührend.“ Voss schrieb an seine Geliebte Ernestine Boie: „Aber nichts kam an die Chöre. Mir schlug das Herz fast, wie in Deiner Umarmung, und ich hätte durch die Wolken fliegen mögen. […] Ich hätte 24 Stunden ohne Eßen und Trinken da stehn, und mir bloß den Chor vorspielen laßen mögen. …Ferner das gewaltige Hallelujah so wonnevoll und himmlisch, daß man an dem großen Sabbat im Himmel gegenwärtig zu sein glaubte. …. O Händel! Händel! Wer ist dir gleich unter den Sängern der Erde, der gleich dir, kühnen Flugs, Zaubereyen tönt!“20

In ähnlich enthusiastischem Tonfall hatte der junge, ehrgeizige und bestens über die ästhetischen Theorien seiner Zeitgenossen informierte Johann Friedrich Reichardt über seine emotionale Entrückung und seine physischen Extremreaktionen während einer Aufführung des Oratoriums Judas Maccabaeus 1774 geschrieben: „[…] meine Freude fängt an, ans Schmerzhafte zu grenzen. Nie, nie habe ich das empfunden! Aber ich hörte auch noch nie die Zaubertöne jenes Herzensbezwingers; hörte es nie, wie seine gewaltigen Harmonien die Seelen der Zuhörer mit Furcht vor nahem Donner erfüllen; wie sie ihnen vor Schrecken die Gebeine zittern und das

Mainwaring: Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel (wie Anm. 5), S. 142. Vgl. dazu auch Gerhard: Auf dem Weg zur ‚Kantate des ganzen Menschengeschlechts‘ (wie Anm. 1), S. 215 und Johnson: „Giant HANDEL“ and the Musical Sublime (wie Anm. 4). 20 Brief an Ernestine Boie vom 5. Januar 1776. Vollständig zitiert in Dieter Lohmeier (Hg.): Carl Philipp Emanuel Bach: Musik und Literatur in Norddeutschland; Ausstellung zum 200. Todestag Bachs, Heide in Holstein 1988, S. 68 f. Diese berühmt gewordene Antwort an Händel wurde vielfach rezipiert. Siehe zum Beispiel Gerhard: Auf dem Weg zur ‚Kantate des ganzen Menschengeschlechts‘ (wie Anm. 1), S. 219; Zelle: Die Ästhetik des Erhabenen (wie Anm. 1), S. 17 ff.; Laurenz Lütteken: Das Monolo­gische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998, S. 169–190; Annette Richards: An Enduring Monument: C. P. E. Bach and the Musical Sublime, in: Annette Richards (Hg.): C. P. E. Bach Studies, Cambridge 2006, S. 149–172. 19

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Blut erstarren machen; und wie wieder reine, himmlische Harmonien die Seelen beruhigen, und süßer lieblicher Gesang Ruhe und Wonne in die Herzen gießet, und die Augen mit Thränen der süßesten, edelsten Freude erfüllen.“21

Diese Art, Musik zu erleben, war völlig neu (wenngleich die hier besprochene Musik bereits drei Jahrzehnte zuvor komponiert worden war): Musik, die die Seele mitreißt, weil sie die Natur in ihrer mächtigsten Form oder das Göttliche in seiner beglückendsten Form beschwört, die einen Genuss an der Grenze zum Schmerz hervorruft. Dieses Erleben konnte nur mit Begriffen wie Kraft, physische Lähmung und Entrückung beschrieben werden, also einem Vokabular, das sowohl Voss als auch Reichardt direkt der Gedankenwelt der aktuellsten zeitgenössischen Schriften über Ästhetik entlehnten, dem Diskurs über die Kategorie des Erhabenen. * Was ist dieses ‚Erhabene‘? Wie Edmund Burke 1757 in seinen Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, die den ästhetischen Diskurs in Europa in den Folgejahrzehnten dominierten, erklärt hatte, war das Erhabene der Höhepunkt der Kunst. Es entrückt und reißt mit, es überwältigt, es erweckt Gefühle von Erstaunen, Grauen, Ehrfurcht und Verwunderung. Das Erhabene wirkt sowohl in der Natur – in den Bergen, in Erdbeben und Stürmen, als auch in literarischen Werken  – zum Beispiel in den epischen Oden des Pindar oder, in neuerer Zeit, in den Werken Miltons und Shakespeares.22 Frei nach Burke erläuterte der Berliner Philosoph Johann Georg Sulzer in seiner weitverbreiteten Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771–1774), dass das Erhabene eine Größe und eine Kraft in sich vereint, die unsere Erwartungen übertrifft und uns dadurch überrascht und verzückt; darüber hinaus erklärt Sulzer, „das Erhabene würkt mit starken Schlägen, ist hinreißend und ergreift das Gemüth unwiderstehlich.“23 Das Erhabene ist hier Johann Friedrich Reichardt: Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend, Bd. 2, Frankfurt und Leipzig 1774–1776, (Facs.-Nachdr.) Hildesheim 1977, I, S. 83. 22 Vgl. Edmund Burke: Philosophical Inquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, London 1757; eine bedeutende frühe Rezeption von Burke in Deutschland erfolgte durch Moses Mendelssohn in seinen Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1758, S. 229–267 und Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1764. Vgl. dazu auch Craig Kallendorf, Carsten Zelle und Christine Pries: ‚Erhabene‘, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 1357–1389. Siehe auch Laurenz Lütteken: Carl Philipp Emanuel Bach und das Erhabene in der Musik, in: Lenz Jahrbuch 5 (1995), S. 203–218. 23 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1771, vgl. v .a. Eintrag zu: ‚Erhaben‘, Sp. 455–466. 21

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nicht nur eine überwältigende Gewalt, sondern vereint in sich die Paradoxe von verzückendem Grauen und vergnüglichem Schmerz. Dass Klänge ebenso erhaben sein können, zeigt sich in Stürmen, Katarakten, im Donner, im betäubenden Lärm der Artillerie und im Geschrei der Massen, aber auch in den ‚kunstvollen‘ Klängen der Musik – vielstimmige Musik vereint in komplexem Kontrapunkt oder in majestätischen Hymnen oder in Musik begleitet von heroischen Trompeten und Pauken. Sulzer schreibt: „Auch die Musik, hat das Erhabene der Leidenschaften, auch wohl die ruhige Größe der Seele in ihrer Gewalt. Händel … [hat] es oft erreicht.“24 Der zeitgenössische englische Musikhistoriker Sir John Hawkins beschrieb Händels Errungenschaften noch deutlicher: Vor Händel wusste niemand, ‚dass das Erhabene in der Musik ebenso existiert wie es in der Poesie‘ [„that there is a sublime in music as there is in poetry“].25 Nach Händel wurden die Verbindung von komplexen Texturen und abrupten Kontrasten mit großen, majestätischen Themen, unter Zuhilfenahme von einer großen Schar von Musikern, um eine große Klangfülle zu erreichen, zusammengefasst, also alles, was Händels große Chöre kennzeichnet, als Definition des musikalisch Erhabenen gesehen. Doch Musik dieser Art hatte das englische Publikum lange vor Burkes Abhandlung gehört. Bei seinem London-Besuch 1713, noch als hannoveranischer Kapellmeister, hatte Händel in seinem ersten Monumentalwerk für den englischen Hof, dem Utrechter Te Deum, den Chören eine besondere Rolle zugeteilt: Im Utrechter Te Deum erweiterte er die Anfangsverse der Vorlage, Purcells Te Deum, von zwei Minuten, in denen Solo und Chor alternieren, auf sechs Minuten reine Chormusik. Durch ihren ordentlich aufgepeppten Chorsatz erlangte die Musik ihre nachdrückliche Dichte und Pracht.26 Nur dreizehn Jahre später, für die Krönung von George II 1727, erweiterte der mittlerweile naturalisierte George Frideric Handel in seinen Massenchören die Wucht und Grandeur nochmals und machte sich insbesondere den Effekt großer dynamischer Kontraste zu Nutzen. Das Coronation Anthem, Zadok the Priest, wurde der Inbegriff von Drama und Kraft dieses Stils. Das Anthem beginnt mit einem nebeligen, obskuren Pianissimo, die ausgedehnte Orchestereinleitung mit ihren langsamen arpeggierten Akkorden etabliert eine Atmosphäre verhaltener Vorwegnahme – oder von düsterem Zwielicht vor dem strahlenden Lichteinfall. Schließlich wird die Sanftheit durch eine atemberaubende Detonation unterbrochen, wenn Trompeten, Schlagwerk und Chor im Fortissimo mit gewal Ebd., Sp. 460. Sir John Hawkins: A General History of the Science and Practice of Music, Bd. 2, London 1776, (Facs. Nachdr.) New York, Bd. 2, S. 914; zit. nach Johnson: „Giant HANDEL“ and the Musical Sublime (wie Anm. 4), S. 533. 26 Vgl. Donald Burrows: Handel, Oxford 2012, S. 116 f. 24 25

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tiger Wucht zu den gewaltig schallenden Tönen der einleitenden Worte einsetzen. Bei der Krönung wurde der extreme dynamische Kontrast durch ein Aufgebot von über 40 Sängern und 160 Instrumentalisten verstärkt, nach Donald Burrows „höchstwahrscheinlich das größte Aufgebot von Sängern und Instrumentalisten, das in London, vielleicht sogar in Europa, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu sehen war.“27 Burrows meinte weiter, dass mit den Coronation Anthems „schuf sich Händel eine permanente Nische für eindrucksvolle Chormusik, die mit Begriffen wie ‚groß‘ und ‚erhaben‘ beschrieben wurde. […] Händel vermachte Zadok the Priest an alle weiteren britischen Krönungen.“28 Händels Musik verleiht den Krönungszeremonien den krönenden Ruhm, den bestätigenden Ausdruck königlicher Würde. Zadok, in all seiner Erhabenheit, lieferte buchstäblich den Soundtrack zur britischen Vorstellung von Monarchie.29 Wenn Zadok die ideale Musik zur Krönung eines Königs (oder eine Königin) war, so war der „Hallelujah“-Chor aus dem Messiah Musik, die dazu diente, einen König zu berühren und ihn zu glorifizieren. Bei der Londoner Gedächtnisfeier 1784 war George III. so überwältigt von der Kraft dieses Chors, dass er sich in wundersamer Weise, weinend, erhob. Ein zeitgenössischer Bericht im deutschen Magazin der Musik beschrieb diese außergewöhnliche Szene folgendermaßen: „Die zahlreichen Spieler und Sänger waren fast alle Meister in der Kunst, und nun denke man sich die Wirkung, welche der Chor: Halleluja! Der Herr wird König seyn, hervorbrachte. Als selbiges angefangen ward, stand der König und die ganze Versammlung auf. Die Worte: Herr der Herren, der Götter Gott! von beynahe 300 Sängern und Sängerinnen gesungen, und fast eben so viel Instrumentalisten, darunter 14 Trompeten im Unisono begleitet, riß die ganze Versammlung zu einem so sichtbaren Entzücken hin, daß jeder fast das Bewusstseyn seiner selbst zu verl­ieren schien.“30

Der „Hallelujah“-Chor verkörperte die vielstimmige Entrückung des Erhabenen, mit seinen überwältigenden kontrapunktischen Formationen und seiner kraftvollen Dialektik aus Vielfalt und Einheit. Im Hallelujah weicht die Homogenität der Chor-Ausrufe des „Hallelujah“ den apodiktischen Worten „For the Ebd., S. 159. Ebd., S. 158: „it was the 1727 Coronation Anthems that established a permanent niche for Handel in the English-speaking world as a composer of striking choral music, described in such terms as ‚grand‘ and ‚sublime‘. […] Handel bequeathed Zadok the Priest to every subsequent British coronation.“ 29 Viele Filme der Krönung von Elizabeth II. mit Zadok the Priest als Soundtrack sind auf YouTube zu finden, z.B.: https://www.youtube.com/watch?v=xkWtA4-34VE. 30 Carl Friedrich Cramer (Hg.): Magazin der Musik, 2 (1784), S. 170. 27

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Lord God Omnipotent Reigneth“, und schließlich der wuchtigen Fuge „For he shall live for ever and ever“, wobei der „Hallelujah“-Ausruf die jeweils vorherrschende Textur stets von Neuem unterbricht. In seinem offiziellem Bericht über die Gedenkfeier sah Burney den „Hallelujah“-Chor als Höhepunkt des ganzen Festivals, er sei „the triumph of Handel, of the Commemoration, and of the musical art“ (,der Triumph Händels, der Gedenkfeier, und der musikalischen Kunst‘).31 Angesichts des Hallelujah versagten Worte, erschienen Kommentare als flach, wurde Kritik unmöglich: „Soll ich nicht aber dem Halleluja eine Empfehlung geben?“, schrieb der Leipziger Musikdirektor Johann Adam Hiller 1788. „O nein! Das wäre Beleidigung dieses großen Meisterstücks; Beleidigung der ansehnlichen Versammlungen von Zuhörern, die in London, Berlin und Leipzig entzückt davon waren…“32 Christian Gottlob Neefe, der Bonner Hofmusiker und Lehrer des jungen Beethoven, war so hingerissen von den euphorischen Berichten über diesen Moment, dass sie ihn zu neuen Höhen in seinen eigenen kompositorischen Arbeiten des Jahres 1785 anspornten, in ähnlicher Weise, wie dies bei Reichardt während dessen London-Besuchs der Fall gewesen war. Im selben Jahr brachte Neefe eine zweite Ausgabe seiner Oden und Lieder von Klopstock heraus. Diese zweite Auflage enthielt zwei prächtige neue Werke, durchkomponierte Sätze für vierstimmigen Chor mit Klavierbegleitung, die sich deutlich von den sonstigen Liedern dieser Ausgabe, einfachen Strophenliedern für Solostimme und Klavierbegleitung, abheben.33 Passend zu Klopstocks Odentexten mit den Titeln Dem Unendlichen und Das Große Hallelujah, die sich den wohl erhabensten Themen widmen, imitierte Neefe nicht nur den Monumentalstil von Händels großen Chören, sondern spielt auch direkt auf Händels „Hallelujah“-Chor an. Neefes Großes Hallelujah beginnt mit einem Choralhymnus, der, wie der Komponist vermerkt, „majestätisch“ vorzutragen ist und dazu aufruft, „dem Hocherhabnen, dem Ersten, dem Vater der Schöpfung“ zu huldigen (Bsp. 3). Klopstocks Ode wird in Neefes Händen tatsächlich zu Händels Hallelujah: Eine Solostimme initiiert das lebendige Allegro mit dem Text „Eine Flamme von dem Altar an dem Thron ist in unser Seele geströmt“, diese Solostimme wird jedoch von den affirmativen Tutti-Rufen des Chores, die die „call-and-response“-Gesten von Händels Hallelujah paraphrasieren, unterbrochen (Bsp. 4). Charles Burney: An Account of the Musical Performances in Westminster Abbey, and the Pantheon… in Commemoration of Handel, London 1785, S. 85. Details zu Burneys Bericht siehe Richards: The 1784 Commemoration and the Charitable Handel (wie Anm. 8), S. 87–105. 32 Zit. nach Monheim: Händels Oratorien (wie Anm. 1), S. 600. 33 Christian Gottlob Neefe: Oden von Klopstock, in Musik gesetzt von Neefe, Kurfürstl. Kölln. Hoforganist. Neue sehr vermehrte und verbesserte Ausgabe, Königsberg 1785. 31

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Bsp. 3: J. G. Neefe, Das Grosse Hallelujah, T. 1–14.

Auch Carl Philipp Emanuel Bach nahm von den Londoner Gedenkfeiern Notiz. 1785 ergänzte er seine Bibliothek um Eschenburgs Übersetzung von Burneys Bericht über die Händel-Gedenkfeiern und besaß nun fast alle biographischen Werke über Händel – ein Beleg für das große Interesse, das er diesem Zeitgenossen seines Vaters entgegenbrachte. Im selben Jahr kehrte er aus seinem Ruhestand in die Öffentlichkeit zurück, um zwei große Konzerte in Hamburg Ende 1785 und Anfang 1786 zu organisieren, die sowohl Händel

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Bsp. 4: J. G. Neefe, Das Grosse Hallelujah, T. 27–38.

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Tribut zollten als auch die Errungenschaften der Familie Bach in sakraler Chormusik zur Geltung brachten. Am Programm der Handlungsakademie am 18. Dezember 1785 stand, wie in der Presse berichtet wurde, „Händel’s prächtige 15stimmige Krönungsmusik und Gloria, wie auch dessen Trauermusik, mit deutschen Texten“.34 Auch das vierte und letzte Konzert der Hamburger Saison setzte den Trend zum Monumentalen fort, nun mit Werken der Familie Bach als Eckpfeilern, jedoch auch mit zwei Werken, die bereits als Händels ‚greatest Hits‘ gehandelt wurden. Auf dem Programm des legendären Konzerts standen das Credo aus Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe, ein Werk, das Emanuel Bachs Publikum zuvor nicht bekannt gewesen war, gefolgt von der Arie „Ich weiss, dass mein Erlöser lebt“ und dem „Hallelujah“-Chor aus dem Messiah. Ein Programmpunkt der zweiten Hälfte des Konzerts war Emanuel Bachs eigenes, berühmtes Heilig aus dem Jahr 1776, das er kurz nach der Premiere der deutschsprachigen Version des Messiah geschrieben hatte, zu einer Zeit, in der er sich besonders intensiv mit Händels Messiah auseinandersetzte. Da Emanuel Bach sowohl sein Heilig als auch Händels „Hallelujah“-Chor auf das Programm gesetzt hatte, wurde seine musikalische Rezeption von Händels Errungenschaften besonders deutlich. Der antiphonalen Chor des Heilig bot Emanuel Bach eine ideale Möglichkeit die außergewöhnliche Wirkung von Chormusik mittels eines Dialogs zwischen der himmlischen Macht, repräsentiert durch die Engel, und der irdischen Macht, repräsentiert durch die Völker, zu demonstrieren.35 Mit den ungewöhnlichen harmonischen Rückungen im Stück, deren Effekt Emanuel Bach durch starke dynamische Kontraste und ein großes Aufgebot von Trompeten und Pauken nochmals verdeutlichte, wollte der Komponist auf neue Weise die Erhabenheit göttlicher Verehrung ausdrücken. Die monumentale Schlussfuge des Werks thematisiert die Idee des Lobpreises Gottes durch alle Völker („Alle Lande sind seiner Ehre voll“). Dieser Lobgesang wird durch den himmlischen Gesang der Engel unterbrochen, wodurch Vielfalt in erhabener Einheit und Einheit in erhabener Vielfalt zur Geltung kommen, ein Überwinden der Grenzen zwischen Irdischem und Göttlichem. *

Hamburgische Addreß-Comtoir Nachrichten, 97 Stück, No. 12 (December 1785), S. 775, zit. nach Barbara Wiermann: Carl Philipp Emanuel Bach. Dokumente zu Leben und Wirken aus der zeitgenössischen hamburgischen Presse (1767–1790), Hildesheim 2000, S.  469. Siehe auch Richards: The 1784 Commemoration (wie Anm. 8), S. 101–105. 35 Vgl. Richards: An Enduring Monument (wie Anm. 20), passim, Lütteken, Carl Philipp Emanuel Bach und das Erhabene (wie Anm. 22). 34

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Emanuel Bachs Heilig imaginiert die einende Wirkung gemeinschaftlichen Singens der versammelten Völker. Auch dieser Gedanke passt zum Ethos von Händels Chor, den Menschenmengen, und die musikalische Kraft diese zu kontrollieren, zu eigen sind. Die Menschenmengen beim Händel-Gedenkfest von 1784 stehen im Vordergrund von Burneys Bericht, demzufolge die Konzertbesucher aller Stände sich in die Abbey drängten und drängelten, und rücksichtlos die Türen zu erbrechen drohten. Als schließlich alle Zuhörer Platz genommen hatten, begann die Aufführung mit Zadok the Priest. Wie durch ein Wunder verstummte jedwede Unruhe, und unter dem Bann von Händels Musik erstarrten die Zuhörer, als ob sie sich vor dem Atmen fürchteten, wie es Burney ausdrückte. „And from the time that the first sound of this celebrated, and well-known composition, was heard, to the final close, every hearer seemed afraid of breathing, lest it should obstruct the stream of harmony in its passage to the ear.“ (,Und von da an, da man den ersten Ton dieser berühmten und genug bekannten Komposition hörte, bis zum letzten Schluß derselben, schien jeder Zuhörer sich nicht zu getrauen, Atem zu schöpfen, um den Strom der Harmonie auf seinem Wege zum Ohre nicht zu hemmen.‘)36

Diese Erstarrung und dieses Gebot zu schweigen erzeugte ein Gemeinschaftsgefühl, ein Gefühl, das auf der gemeinsamen emotionalen Reaktion gründete: Wie nie zuvor konnte die versammelte Menschenmenge das Alternieren von wuchtigem Chorsingen und von Zartheit und Intimität in den Solo-Arien erfahren. Durch diese neue Art von intensivem, aufmerksamem Zuhören gebührte dem Händelschen Chor ein besonderer Platz in einer Kultur, die sich in zunehmendem Maße den Idealen von Geselligkeit und Anteilnahme verpflichtet fühlte. Ein Beispiel für diese Tendenz ist Händels Freundin und Bewunderin Mrs. Delaney, die im Zusammenhang mit einer Probe des Messiah in Dublin über ihr Bedürfnis, Musik in Gegenwart eines Freundes zu erleben und zu fühlen, an eine Freundin schrieb: „[…] unser Wohlbefinden bei einer solchen Veranstaltung wird viel größer, wenn wir neben jenen sitzen, die sie in ähnlicher Weise wie wir selbst erleben. […] Erinnerst Du Dich an unseren behaglichen Genuss von Theodora?“37 Burney: An Account of the Musical Performances (wie Anm. 31), S. 26. „[…] it adds greatly to the satisfaction of such an entertainment to be seated by those who have the same relish for it we have ourselves. […] Do you remember our snug enjoyment of Theodora?” Brief von Mrs. Delaney an Mrs. Dewes vom 15. Dezember 1752, zit. nach Otto Erich Deutsch: Handel: A Documentary Biography, New York 1955, S. 728. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Thematik Empfindsamkeit und Geselligkeit im

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Der „behagliche Genuss“ eines Händel-Oratoriums erscheint ein Widerspruch zu sein – und ist weit entfernt von der epidemischen Massenohnmacht in Westminster Abbey: Und doch sind die beiden Wahrnehmungen nah verwandt, da sich in beiden physische Nähe und geistige Übereinstimmung in einen Akt gemeinschaftlichen Hörens verbinden. Physische Nähe und geistige Übereinstimmung prägen auch Reichardts Kommentare zu einer Aufführung von Judas Maccabaeus im Jahr 1774: „Ganz begeistert von Händelischen Harmonien ergreife ich die Feder, um Dir, mein Geliebter, alles zu sagen, was ich an diesem glücklichen Abend empfunden habe. Wäre er mir noch dabey an Deiner Seite verflossen, hätten wir uns durch seelenvolle Blicke und durch heisses Händedrücken unsre Empfindungen wechselsweise mittheilen und sie dadurch erhöhen können…“38

Wir fühlen uns an dieser Stelle an Stefan Zweig erinnert: „Unwillkürlich rückten die einzelnen Gruppen auf den Bänken zusammen und ballten sich allmählich zu einem einzigen dunklen Block des Hörens und Staunens.“ Deutsche und englische Händel-Liebhaber weideten sich sowohl am gemeinschaftlichen Zuhören als auch an der individuellen Offenbarung; ein Teil der Zuhörerschaft von Händels Musik zu sein, und, besonders im 19. Jahrhundert, als Chorsänger Händels Musik zu erleben, war eine aufregende gemeinsame emotionale Erfahrung, ein viel tiefergehendes Erlebnis als das des einsamen Musikhörens. Der Schritt von diesen Überlegungen zum Begreifen des Potenzials von Musik als Motor für soziale Reformen ist kein allzu großer. * Händels Musik verlieh den komplexen politischen, kulturellen und nationalen Kräften des Georgianischen Zeitalters eine gemeinsame Stimme; die Kraft, mit der diese Musik ein Gemeinschaftsgefühl und eine nationale Identität hervorbringen konnte, dauerte lange über den Tod des Komponisten hinaus an, mit einer Resonanz bis hinein ins 19. und 20. Jahrhundert und sogar bis in die Gegenwart. Beim Händel-Gedenkfest 1888 im Crystal Palace in London wurde am 29. Juni das Oratorium Israel in Egypt aufgeführt. In diesem überdimensionierten Glashaus waren 23.722 Zuhörer versammelt, um ein Orchester von über 500 Musikern und einen Chor von 4000 Stimmen zu hören. Von dieser Aufführung gibt es eine Aufnahme – angefertigt von einem Vertreter von Thomas späteren 18. Jahrhundert, vgl. Gillen d’Arcy Wood: Romanticism and Music Culture in Britain, 1770–1840: Virtue and Virtuosity, Cambridge 2010, (Kapitel 1, Seward’s Handel­omania) S. 20–52. 38 Reichardt: Briefe eines aufmerksamen Reisenden (wie Anm. 21), S. 82.

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Edisons Phonographen-Gesellschaft, der sich in London befand, um die neuesten technologischen Wunderdinge dem britischen Markt vorzuführen. Dass ein Händel-Chor für diese Aufnahme ausgewählt wurde, ist von Bedeutung: Dies war Musik in der größten Dimension, die vorstellbar erschien, Musik von größter Lautstärke und Wucht. Der Vertreter konnte zeigen, dass seine Maschine in der Lage war, das Undenkbare zu Wege zu bringen, nämlich in einem kleinen Wachszylinder nicht nur eine Stimme, sondern tausende Stimmen einzufangen.39 Wenngleich es nicht einfach ist, etwas in dieser Aufnahme zu hören (so faszinierend sie auch sein mag, als ein geisterhafter Einblick in eine ferne klingende Vergangenheit), so ist allein die Tatsache ihrer Existenz ein Zeugnis für die Kontinuität der Händelrezeption in England und Deutschland seit Beginn der Personalunion. Die Entscheidung, einen von mehr als 4500 Musikern produzierten Klang aufzunehmen, um damit in bestmöglicher Weise mit dieser ‚Alten Musik‘ die Qualität der neuersten technologischen Erfindung zu zeigen, war nichts anderes als eine Anerkennung der vollendeten Wirkung von Händels Chor: eine Wirkung, die den musikalischen Gesten des Genres innewohnt, die aber auch auf der Verbindung des Genres mit stetig größer werdenden Ansammlungen von Sängern (in zunehmender Weise Amateure) und Menschenmengen als Zuhörern beruht. Beides trug seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum routinemäßigen Lob für diese Musik bei, die das Erhabene sowohl als ästhetische wie auch politische Kategorie verkörpert. Der englische Geistliche Dean Ramsey schrieb im späten 19. Jahrhundert: „Es schien mir immer dass nichts ein stärkerer Beweis für die unermessliche Weite von Händels Ideen und für den kolossalen Charakter seiner Chorwerke ist als ihre Eignung für eine solch immens große Zahl an Mitwirkenden. Sie scheinen gerade zu nach einer Freisetzung dieser Kräfte zu schreien …“40

Wie Ramsey richtig bemerkte, führte die Verbindung von großer Wirkung und großer Zahl zur Auffassung von politischer Macht und militärischer Stärke. Händels Chor war zur Musik der Massen geworden. Aufgrund der Vielzahl der versammelten Stimmen und aufgrund der Zusammenkunft zum Singen und Zuhören war dies Musik der Selbstbestätigung,

Diese Aufnahme ist auf YouTube verfügbar: http://youtu.be/-qDwz3JdD1c. Dean Ramsay: Two Lectures on the Genius of Handel, London 1862, S. 51: „It has always appeared to me that nothing is a stronger proof of the vastness of Handel’s conceptions, and the colossal character of his choral productions, than their suitableness to such immense numbers of performers. They seem beyond all compositions to crave power to set them off.“

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des nationalen Selbstvertrauens, Musik von Macht und Recht. Die militaristische Dimension solcher Menschenmassen zeigte sich in noch beunruhigenderer Weise im 20. Jahrhundert, doch sollten uns diese dunklen Implikationen des Erhabenen, die bereits von Burke in der Mitte des 18. Jahrhunderts erkannt worden waren, nicht davon abhalten, den idealistischen und humanitären Impuls in den Vordergrund zu stellen, der mit dem gemeinschaftlichen Singen und mit dem begeisterten Genuss von Händels Chören verbunden wird. Der rein musikalische Reiz dieser Werke war schon zu Händels Lebzeiten unbestritten und nahezu allgemein anerkannt. Er bleibt ungebrochen, wie wir anhand einer synkopierten Gospel-Version des „Hallelujah“-Chores von der Soulful Celebration sehen können,41 oder in den allgegenwärtigen Flashmobs, die so zahlreich auf Youtube „hochgeladen“ werden und bei denen nichtsahnende Kaufhauskunden und Restaurantbesucher von scheinbaren ad-hoc Aufführungen des „Hallelujah“-Chores überrascht und erfreut werden.42 Händels Chor gehört heute zum Standardrepertoire der wohl demokratischsten, inklusivsten und „most twenty-first-century“ aller musikalischen Gattungen, des Flashmob. Vielleicht bewegen wir uns hier im Grenzbereich zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen, doch Händels Chor wird nun in ähnlicher Weise vom Publikum bei Aldi bestaunt, wie einst von den Massen in Westminster Abbey bei seiner ersten Aufführung  – doch vielleicht nirgendwo so sehr wie in England, dem Land, das so stolz auf diese Musik ist, dass es sie seine eigene nennt. Als der englische Klassikkanal Classic FM auf Sendung ging, als Alternative zu BBC Radio 3, wurde Händels Coronation Anthem, Zadok the Priest, ausgewählt, um die Freischaltung des Senders zu verkünden. 2012, zum 20. Geburtstag des Senders, wurde ein Flashmob in einem Londoner Supermarkt organisiert, bei dem Händels unsterblicher Chor inmitten von Bananen und Kopfsalat erklang und einem erstaunlich vielfältigen, und generationenübergreifenden Publikum ‚auflauerte‘.43 Das mit großer Sorgfalt produzierte Video dieses Flashmob erinnert in erstaunlichem Maß an die Reaktionen zu Händels Chor im 18. Jahrhundert: Die Musik von Zadok bewegt und erstaunt – und entfacht eine allgemeine Begeisterung, die sich über Grenzen von Herkunft, Alter und sozialer Schicht hinwegsetzt – wenngleich sie auch stets etwas Zeitloses, Nobles und typisch Britisches Diese faszinierende Aufführung ist auf YouTube verfügbar: https://www.youtube.com/ watch?v=ajuq2-mUgO0. 42 Wie in einem Einkaufszentrum in der Vorweihnachtszeit (https://www.youtube.com/watch?v= XN_Akuqsv0E), oder am Gänseliesel Markt in Göttingen während der Göttinger Händel Festtage 2012 (https://www.youtube.com/watch?v=HK8MCa15dmo). 43 Siehe http://www.classicfm.com/composers/handel/handel-flash-mob-supermarket. 41

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repräsentiert. Im Zeitalter von sozialen Netzwerken und Youtube, die eine entscheidende Rolle sowohl für den Aufbau von modernen Communities wie auch für die moderne Isolation des Individuums spielen, behält Händels Musik ihre universale Bedeutung. Die Chormusik der Personalunion überlebt in einem unpersönlichen Zeitalter, als Widerhall einer Musik, die größer ist als die Grenzen, die sich ihr entgegensetzen könnten. (Dietmar Friesenegger danke ich ganz herzlich für seine Hilfe mit der deutschen Übersetzung dieses Artikels.)

Der religiöse Händel: Händel in der Theologie um 1900 Claus-Dieter Osthövener (Wuppertal) „Wir leben in einer schwer zu deutenden Zeit. Sind wir Epigonen, sind wir Anfänger eines Neuen, leben wir im ‚Uebergang‘? Die Zukunft wird auf diese Fragen zu antworten suchen, und auch sie wird es wahrscheinlich nicht in eindeutiger Weise können“. Johannes Weiß schrieb dies im Frühjahr 1914 in der Zeitschrift Die Christliche Welt in einem Beitrag über Bachs Kantaten.1 Weiß war zu seiner Zeit ein bekannter Theologe, er sollte im August des Jahres sterben und die von ihm ins Auge gefasste Zukunft nicht mehr erleben. Wie er dachten damals viele, innerhalb und außerhalb der Theologie und der Kirche. Wenn im Folgenden nach Händel in der Theologie um 1900 gefragt werden soll, dann muss zunächst in wenigen Strichen diese Theologie skizziert werden, ihre Fragen und Probleme. Danach gebe ich einen kurzen Überblick über die Quellenlage und die beteiligten Personen, und schließlich versuche ich, das Thema des Beitrags mit einigen Schlaglichtern zu beleuchten. Es wird sich zeigen, dass die theologische Sicht auf Händel sehr genau mit einigen typisch modernen Themen der Theologie zusammenhängt.

Theologie und Kultur um 1900 Um die theologische Lage um die Jahrhundertwende zu verstehen, ist ein Blick auf den Beginn des Jahrhunderts notwendig.2 Ich beginne daher mit Friedrich Schleiermacher, der für dieses (und nicht nur für dieses) Jahrhundert von er­ heblicher Bedeutung war. Er hat 1829 eine grundsätzliche Frage zum Verhältnis von Theologie und Kultur aufgeworfen: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Er selbst verfolgte den geradezu entgegengesetzten Weg, anknüpfend an die Reformation, weit vorausschauend in die Zukunft schrieb er: „Wenn die Reformation […] nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen Johannes Weiß: Bachs Kantaten, in: Die Christliche Welt 1914, Sp. 323–326, hier Sp. 323. Vgl. zum Folgenden Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 5, Gütersloh 1954.

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christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so daß jener diese nicht hindert, und diese nicht jenen ausschließt: so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge.“3 Damit hat Schleiermacher der modernen Theologie gleichsam die Segel gesetzt, doch geriet sie im 19. Jahrhundert in durchaus stürmische Gewässer. Es kam die industrielle Revolution, es kam der endgültige Siegeszug von Technik und Naturwissenschaft, es kam eine gewisse positivistische Geisteshaltung, es kamen innertheologische Debatten hinzu, so dass die Theologie in der zweiten Jahrhunderthälfte sich mit Kritik und Plausibilitätsanfragen an vielen Fronten auseinanderzusetzen hatte. Hier hat Albrecht Ritschl, ein Göttinger Theologe, das Terrain neu sondiert und geordnet, er hat noch einmal die verschiedenen Strömungen ge­bündelt und hat der historischen Theologie eine feste Grundlage verschafft. Neben ihm haben Theologen wie Heinrich Julius Holtzmann und Julius Wellhausen gewirkt, die zu den heftig geführten Debatten um die Bibel, ihre Entstehung und ihre Geltung, Bleibendes beigetragen haben. Adolf von Harnack war in einen ausgiebigen Streit um das Apostolikum, das Glaubensbekenntnis, verwickelt.4 Es war insbesondere die historische Theologie, welche die akademischen, kirchlichen und religiösen Debatten beförderte und strukturierte. Den akademischen Debatten ging ein Aufschwung philologischer Bemühungen zur Seite, die Zeit der großen kritischen Werkausgaben begann, in der Germanistik etwa die Sophienausgabe der Werke Goethes, in der Theologie die Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers. Auch in der Musikwissenschaft sind bedeutende Ausgaben auf hohem Niveau erarbeitet worden. Dazu kam natürlich auch die politische Dimension, die Reichsgründung und der daran anschließende Kulturkampf, der die konfessionelle Auseinandersetzung von Protestantismus und Katholizismus mit nationalen Aspekten und Affekten anreicherte und befeuerte. Von protestantischer Seite wurde häufig genug die Reichsgründung als gleichsam natürliche Folge der Reformation gedeutet, die hier zu ihrer nun auch politischen Erfüllung gelangte. Aber die Theologie musste sich auch mit wirkmächtigen spezifisch modernen Bewegungen auseinandersetzen; erinnert sei hier nur an ein Stichwort, das

Friedrich Schleiermacher: Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: H.-Fr. Traulsen (Hg.): Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, Kritische Gesamtausgabe I/10. Berlin / New York 1990, S. 309–394, hier S. 347, 350 f. 4 Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Bekenntniskritik im Namen des Evangeliums – am Beispiel des Apostolikumstreits, in: Peter Gemeinhardt und Bernd Oberdorfer (Hg.): Gebundene Freiheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, Gütersloh 2008, S. 184–204. 3

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der Historiker Thomas Nipperdey geprägt hat, die sogenannte „vagierende Religiosität“.5 Diese weiß sich nicht mehr den hergebrachten konfessionellen Mustern verpflichtet, sondern setzt Suchbewegungen in Gang, die sich jenseits der traditionellen Milieus ihre verschlungenen Wege bahnen. Das gilt nicht nur für christliche, sondern auch für jüdische Milieus. Solche religiös gefärbten Stimmungen suchten zunehmend außerhalb geprägter Traditionen nach neuen Artikulationsformen.6 Dass dabei der Kunst in allen ihren Schattierungen eine erhebliche Rolle zukam, liegt auf der Hand. Der Theologe Otto Baumgarten hat dies in einem Lexikonartikel über die Lage des Christentums in der Gegenwart auf den Punkt gebracht: „Höchst ungünstig erweist sich für die Selbstbehauptung des Christentums die seit 100 Jahren ungemein gesteigerte ‚Reizsamkeit‘ (Lamprecht), die Zugänglichkeit des Kulturmenschen für eine Unmenge äußerer Reize, die alle ein gewisses Interesse auslösen. Diese Vielseitigkeit der Interessen, die alle den ganzen Menschen für sich beanspruchen – man denke nur an Kunst, Musik, Technik, Sport –, läßt dem religiösen Leben nicht die beherrschende Stelle, die es wo es gesund ist, unbedingt fordert. […] andere Idealgebiete drängen sich ins Zentrum der inneren Bildung und rauben der Seele die Konzentration.“7

Die Religion befand sich also in einer intensiven Konkurrenz mit anderen Sphären des gesellschaftlichen und individuellen Lebens, nicht zuletzt mit der Kunst und daher eben auch: mit der Musik. Neben den historischen Fragen nach der Geltung der Bibel, der Geschichte des Dogmas, der Deutung der Reformation ging es immer auch um die Gestaltung der Kirche und ihre gesellschaftlichen Aufgaben, um die Form der christlichen Verkündigung und hier wiederum um Aufbau und Gestaltung des Gottesdienstes. Und an dieser Stelle kommt naturgemäß die Musik ins Spiel.

Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 521. 6 Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne, in: Andreas Kubik (Hg.): Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit, Göttingen 2011, S. 135–154. 7 Otto Baumgarten: [Art.] Christentum. Seine Lage in der Gegenwart, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 1, Tübingen 1909, Sp. 1681–1690, hier Sp. 1686. 5

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Kirchenmusik und geistliche Musik Fragt man nach den für die religiös interessierte Öffentlichkeit beherrschenden musikalischen Themen um die Jahrhundertwende ist vor allem das Werk Richard Wagners präsent, eines Komponisten, der in hohem Maße weltanschaulich wirksam sein wollte und wirksam gewesen ist. Insbesondere der Parsifal, 1882 uraufgeführt, hat die Diskussion beflügelt.8 Daneben aber sind es vor allen Dingen Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, die diskutiert werden, zumeist auch in eben dieser Zweisamkeit, das ergab sich neben inhaltlichen Aspekten nicht zuletzt aus dem gemeinsamen Jubiläumsjahr 1885, ihrem 200. Geburtstag; ein Jahr übrigens, in dem auch eines älteren Meisters gedacht wurde, nämlich des 300. Geburtstags von Heinrich Schütz. Diese drei Komponisten sind in erster Linie in Fragen der geistlichen, der kirchlichen Musik präsent. Als ein vierter wäre Felix Mendelssohn-Bartholdy zu nennen, dessen 100. Geburtstag ins Jahr 1903 fiel und dessen Oratorien ebenfalls in der öffentlichen Diskussion um die Kirchenmusik in der Moderne behandelt wurden.9 Der Schwerpunkt der hier einschlägigen Debatten liegt im Bereich der Kirchenmusik, vor allem in der Frage, was sie von geistlicher, von religiöser Musik unterscheidet und was die Aufgabe der Musik im Gottesdienst und in der christlichen Verkündigung im weiteren Sinne sein soll. Als Quellen stehen zunächst die Lexika zu Verfügung, die großen protestantischen Nachschlagwerke. Danach erweisen sich vor allem die einschlägigen Zeitschriften als ergiebig. Hierzu gehört die Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, begründet von Friedrich Spitta und Julius Smend, zwei Namen die für die sogenannte ältere liturgische Bewegung stehen, die sich für eine Modernisierung und Intensivierung des christlichen protestantischen Gottesdienstes einsetzte.10 Allerdings ist in diesem Blatt von Händel bei weitem nicht so häufig die Rede, wie es im Blick auf unser Thema wünschenswert gewesen wäre. Eine weitere bedeutsame Zeitschrift ist Die Christliche Welt, eine protestantische Halbmonatsschrift, begründet und über mehrere Jahrzehnte (1887–1941) geleitet von Martin Rade, einem der profiliertesten liberalen Theologen seiner

Vgl. Claus-Dieter Osthövener: Wagners Musikdramen in der protestantischen Diskussion bis 1918, in: Clemens Risi et al. (Hg.): „Wann geht der nächste Schwan?“ Aspekte einer Kulturgeschichte des Wunders, Leipzig 2011, S. 36–50, 234–239. 9 Vgl. die Festrede, die Otto Baumgarten an der Universität Kiel gehalten hat: Felix Mendelssohn-Bartholdy, in: Die Christliche Welt 1909, Sp. 723–729, 784–787, 810–813. 10 Vgl. Konrad Klek: Erlebnis Gottesdienst. Die liturgischen Reformbestrebungen um die Jahrhundertwende unter Führung von Friedrich Spitta und Julius Smend, Göttingen 1996. 8

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Zeit.11 In diesem Periodikum wurden lebhafte Debatten geführt, die sich nicht nur um innerkirchliche Themen bewegten, sondern auch und gerade die genannten Irritationen innerhalb der Moderne aufgriffen und analysierten.12 Um einen musikwissenschaftlichen Rahmen bereitzustellen, der die Diskussionen zu strukturieren erlaubt, beginne ich mit Philipp Spitta.13 Er hat 1892 einen Aufsatzband Zur Musik veröffentlicht, in dem der einschlägige Aufsatz Die Wiederbelebung protestantischer Kirchenmusik auf geschichtlicher Grundlage erschienen ist.14 Er beginnt mit einer relativ harschen These: „Wer die Entwicklung der Musik in der protestantischen Kirche Deutschlands von der Reformation bis zur Gegenwart studirt, muß zu dem Ergebnis gelangen, daß eine protestantische Kirchenmusik schon seit hundert Jahren nicht mehr besteht“.15 Die These verdankt sich einer sehr präzisen, um nicht zu sagen einer engen De­ finition dessen, was Kirchenmusik ist und sein soll: „Kirchenmusik gehört in den Gottesdienst, sie ist durch die Form der Liturgie bedingt und kann aus dieser nicht herausgelöst werden, ohne den wichtigsten Theil ihrer Wirkung, ihrer Verständlichkeit einzubüßen. Immer von neuem verwechselt man sie mit religiöser oder geistlicher Musik. Daß Händel’s Messias Kirchenmusik sei, kann man noch täglich lesen und hören. In Wirklichkeit ist er etwas ganz Anderes. Das Oratorium ist eine allein auf sich beruhende, selbständige Kunstform. Wenn es die Begebenheiten, die es in seiner Weise kunstmäßig gestaltet, mit Vorliebe der Bibel entnimmt, so geschieht dies aus zwei Gründen. Einmal darf bei einem biblischen Stoffe noch immer am sichersten vorausgesetzt werden, daß er ein allgemein bekannter und Theilnahme erregender sei, ein Umstand, der beim Oratorium besonders schwer ins Gewicht fällt. Dann aber verlangt diese Kunstform, soll sie in ihrer Größe und in ihrem umfassenden Formenreichthum berechtigt erscheinen, den höchsten Aufschwung lyrischer Empfindung. Einen solchen ermöglicht am leichtesten ein Stoff, der zu dem höchsten idealen Gute der Menschheit, zur Religion, in naher Beziehung steht, oder dem sich doch ohne Zwang eine religiöse Seite abgewinnen läßt. Aber nothwendig ist ein biblischer Stoff so wenig, daß Händel einige sei-

Vgl. Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evange­ lischen Geistesgeschichte dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952. 12 Es gibt Zeitschriften, die ebenfalls vielversprechend scheinen für eine Diskussion über Händel, wie etwa Das Hochland, begründet 1903 von Carl Muth, eine Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst. Dennoch findet sich im fraglichen Zeitraum (soweit ich sehe) keine Erwähnung Händels. 13 Vgl. vor allem Wolfgang Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas. Ein Beitrag zur Geschichte der Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997. 14 Philipp Spitta: Die Wiederbelebung protestantischer Kirchenmusik auf geschichtlicher Grundlage, in: ders.: Zur Musik, Berlin 1892, S. 29–58. In der Christlichen Welt ist eine Besprechung des Bandes erschienen (ChW 1892, Sp. 1163–1166). 15 Spitta: Die Wiederbelebung protestantischer Kirchenmusik (wie Anm. 14), S. 31. 11

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ner schönsten Oratorien über Begebenheiten aus der antiken Mythologie componiren konnte. […] Diese Form, und also auch Händel’s Messias, stellt Concertmusik dar und gehört somit an den Ort, wo man solche zu machen pflegt.“16

Die Definition stellt sich dadurch als besonders prägnant und handhabbar heraus, dass sie alle inhaltlichen Gesichtspunkte ausblendet, sowohl textlicher, wie erst recht musikalisch-semantischer Art; allein der soziale Ort entscheidet, die liturgische Verwendung. Im selben Sinne äußert sich Spitta in einem älteren Aufsatz über Händel, Bach und Schütz aus deren Jubiläumsjahr 1885: „Bach’s Passionen, Cantaten, Motetten sind protestantische Kirchencompositionen, nicht in jenem verschwommenen Sinne unserer Zeit, welcher kirchlich, geistlich und religiös in einen Begriff zusammenfließen läßt, sondern insofern sie ein Stück der protestantischen Liturgie bilden. Sie sind berechnet, mit den übrigen Bestandtheilen derselben zusammenzuwirken und dulden nur auf die Gefahr hin, unverständlich zu werden, eine Loslösung aus dem Zusammenhange. Händel’s Oratorien stehen frei da als abgerundete Kunstwerke. […] Was die Hauptsache ist: Bach fordert als Zuhörerschaft eine christliche Gemeinde.“17

Das also ist die Grundlage, auf der zustimmend oder ablehnend auch die­ Rezeption Händels in der Theologie stattfindet. Die Art seiner Musik steht in Frage: kirchlich, geistig, religiös oder weltlich; damit aber auch der Ort: Kirche oder Konzertsaal. Nicht zuletzt sind auch die Hörerinnen und Hörer im Blick, die Adressaten der Musik. Bachs Kirchenmusik fordert, nach Spitta, eine christliche Gemeinde. So wird aus dem Kriterium der funktionalen Einbindung in den liturgischen Zusammenhang eine normative Komponente der Musik selbst herauspräpariert, die im Fall einer Aufführung von Bachs Passionsmusiken im Konzertsaal die Musik im funktionalen Nichts enden ließe, nicht anders als wenn Händels Oratorien in einer Kirche erklängen.

Händel in der Theologie um 1900 Damit können wir uns nun dem ‚religiösen Händel‘ um 1900 zuwenden, also derjenigen Diskussion, die sowohl den Komponisten geistlicher Musik würdigt, als ihn auch einzeichnet in die religiös bewegten Debatten der Zeit. Ich beginne mit zwei lexikalischen Befunden. Beide stammen von Heinrich Adolf Ebd., S. 34. Philipp Spitta: Händel, Bach und Schütz (1885), in: ders.: Zur Musik. Berlin 1892, S. 59–92, hier S. 82.

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Köstlin, Professor für praktische Theologie an der Universität Gießen.18 Der erste Artikel stammt aus dem Calwer Kirchenlexikon, einem Handlexikon in zwei Bänden, in dem Köstlin den Personalartikel über Händel geschrieben hat. Händel ist „auf dem Gebiete des bibl. Oratoriums der unerreichte Klassiker, der durch seinen ‚Messias‘ […] mit herzbezwingender Gewalt von der Herrlichkeit und unversieglichen Kraftfülle des Evangeliums zeugt, also wenn auch nicht Kirchenmusiker im engeren Sinne des Wortes, doch ein kraftvoller Zeuge des Evangeliums in protest. Geist, ein Kunstheros, wie ihn nur der Protestantismus hervorbringen konnte“.19 Letzteres zeigt einmal mehr den Schwung und Aufschwung des in der Reichsgründung zur Vollendung gekommenen reformatorischen Kirchentums, das sich ganz unmittelbar an seiner ungebrochenen kulturellen Produktivität freut. Doch stecken in Köstlins Ausführungen auch weiterführende Elemente, wenn er schreibt: „Sofern das bibl. Oratorium entweder eine der großen Heilsthaten Gottes oder eine der ehrwürdigen Heldengestalten der Heilsgeschichte durch die Kunst zu verherr­ lichen und dem Empfinden und Verständnis der Menschen durch die musikalische Interpretation näherzubringen sucht, sofern es also in episch-dramat. Form das Wort Gottes darstellt, darf es als eine besondere Art der objektiven Darreichung und Verkündigung des Wortes betrachtet, auf protest. Boden als ein Gottesdienst im weiteren Sinne, als die künstlerische Feier der Heilsthaten des Herrn bezeichnet werden, deren richtige Heimstätte das Gotteshaus bilden sollte.“20

Hier ist nun eine deutliche Gegenbewegung zu Spitta zu verzeichnen: gerade indem die Musik ihrerseits die Aufgabe der christlichen Verkündigung übernimmt, stellt sie (und ihre Rezeption) eine ganz eigene Art des Gottesdienstes dar und aus eben diesem Grund gehört sie in eine Kirche. Offenkundig handelt es sich bei beiden Autoren um eine funktionale Grundbestimmung, nur dass zum einen die Musik als Funktion der Liturgie betrachtet wird, zum anderen aber die Verkündigung als eine Funktion und Folge der Musik verstanden wird. Im letzteren Fall würde grundsätzlich nichts dagegen sprechen, diese Verkündigungsfunktion auch im Konzertsaal als wirksam zu denken und sie somit den Rezeptionsbesonderheiten der dort versammelten Individuen anheimzustellen. Diesen Schritt allerdings geht Köstlin ausdrücklich nicht. Zehn Jahre später erscheint ein weiterer Artikel von Köstlin, in der dritten Auflage des großen lexikalischen Projekts der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (in 24 Bänden). Personalartikel stehen nicht im Vgl. auch Heinrich Adolf Köstlin: Die Musik als christliche Volksmacht, Heilbronn 1881. Heinrich Adolf Köstlin: [Art.] Georg Friedrich Händel, in: Calwer Kirchenlexikon. Band 1, Calw / Stuttgart 1891, S. 784–785, hier S. 784. 20 Ebd., S. 785. 18 19

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Vordergrund des Interesses in diesem Projekt, daher gibt es zwar einen kurzen Artikel zu Bach, jedoch keinen zu Händel. Wohl aber kommen beide im großen Artikel über Kirchenmusik vor: „Bachs größter Zeitgenosse Georg Friedrich Händel (1685–1759) führt auf dem breiten Strome einer gewaltigen, mächtig ausschreitenden und bei aller musikalischen Tiefe wahrhaft volkstümlichen Musik in seinen biblischen Oratorien die Offen­ barungsgeschichte am Auge des Geistes vorüber. […] sein ‚Messias‘ ist das Evan­ gelium in monumentaler Tonsprache, die musikalische Hochfeier der Christenheit, die gewaltige Evangeliumsverkündigung, Monumentalmotette.“21

Händel fungiert hier gleichsam als ein Dolmetscher des biblischen Wortes und damit als einer der großen Vermittler der Tradition, der sich vor allem durch seine Verständlichkeit und also Volkstümlichkeit auszeichnet. Damit komme ich zur Christlichen Welt und möchte aus zwei Artikeln zitieren, die einige neue Facetten hinzufügen. Der erste stammt aus dem Jahr 1891, geschrieben von Karl Hunnius, einem Berliner Pastor (1856–1930). Es geht um Nachklänge aus der H moll-Messe Johann Sebastian Bachs. Hunnius beginnt mit einer Art Zeitdiagnose: „Unsre Zeit ist vorwiegend eine ästhetisch empfindende, die Kraft ihres religiösen Glaubens ist gering. Werke wie die Kantaten, Choralmotetten, Messen und Passionen Bachs, die dem Reformationszeitalter so viel näher stehen als wir […] atmen noch den großen Geist jener Geistesepoche, zu der wir Nachgeborenen als Glaubenszwerge hinaufsehen müssen […]. Sie besitzen an Oekumenizität der Glaubensfülle und Tiefsinnigkeit der Interpretation des Wortes Gottes etwas von dem heiligen Geist Erfülltes; und eben dieser fehlt leider unsrer kritizistisch zersetzten und pessimistisch geschwächten Art in bedenklicher Weise. Die Versenkung in die Musik Händels und Bachs kann daher für unser aufwachsendes Geschlecht, das den religiösen Idealen meist so kalt und teilnahmslos gegenübersteht, nicht genug empfohlen werden. Die Wiederbelebung der Werke dieser großen Protestanten […] hilft an ihrem Teil wieder ein religiös-sittliches Geschlecht erziehen, das seine Blicke den Geheimnissen des Jenseits zuwendet.“22

Hier wird also eine geradezu volkspädagogische Haltung eingenommen, in die sich die beiden Komponisten eingliedern lassen. Der Reflex auf die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sozial immer sichtbar werdende reale Option, ein Leben ohne Religion führen zu können (die vordem im Abendland allenfalls Heinrich Adolf Köstlin: [Art.] Kirchenmusik, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl. Band 10, Leipzig 1901, S. 443–458, hier S. 457. 22 Karl Hunnius: Nachklänge aus der H moll-Messe Johann Sebastian Bachs, in: Die Christliche Welt 1891, Sp. 648–652, hier Sp. 649. 21

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wenigen Einzelnen zur Verfügung stand), ist deutlich sichtbar. Und auch die Adressaten gerade dieser Erziehung zum jenseitigen Leben werden deutlich genannt: Händel und Bach „werden in unsrer Zeit, die mehr ästhetischen als religiösen Idealen sich zuwendet, zu Zeugen der Offenbarungswahrheit, der Religion und haben ihre Mission gerade an den Gebildeten unter ihren Verächtern zu erfüllen“.23 Die Anspielung auf Schleiermachers Reden Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) ist umso interessanter, als noch Albrecht Ritschl diese Schrift als einen Hauptgrund für die bedenkliche Ästhetisierung der Religion ins Feld führte.24 Hier jedoch soll gerade die musikalische Ästhetik die entscheidende Brücke zur neu zu erschließenden reli­giösen Sphäre schlagen. In eine ähnliche Richtung bewegen sich auch die Gedanken von Julius Smend in seinen Gedanken über geistlichen und kirchlichen Gesang aus dem Jahr 1893. Smend war Professor für praktische Theologie in Straßburg, später dann in Münster. Er schreibt: „Offenbar haben wir die kirchliche als eine Nebenart der geistlichen Musik zu betrachten. Sie sind Schwestern aus einem Haus; und zwar ist die kirchliche die ältere, die geistliche die jüngere Schwester. Wollte man das Gleichnis weiter ausspinnen, so würde man sagen: Die ältere Schwester ist eine klassische Schönheit, die dann und wann etwas strenge Züge haben kann. Die jüngere ist entschieden hübscher; doch scheint sie es hin und wieder auch zu wissen.“25

Beachtenswert ist im Vergleich mit Spitta die in der Geschwistermetapher ausgedrückte Verwandtschaft und durchaus gleiche Berechtigung beider Arten. Wie Köstlin und Hunnius wird der Musik eine hermeneutisch entscheidende Funktion als Dolmetscherin für die Außenstehenden zugeschrieben, denn die „reformatorische Anschauung vom Christentum lässt nicht nur zu, nein, sie fordert sogar, dass der Glaube auch außerhalb der Kirche, im privaten und im Gemeinschaftsleben, sich äußere und ergieße […]. Auf diese Weise entsteht ganz von selbst […] eine geistliche Musik, die der Welt zugewandt ist, und die zum guten Teil einen ganz ausgesprochnermaßen missionirenden Zug haben wird, d. h. den Auftrag, die zu erreichen und im Geiste Christi zu beeinflussen, die die Kirchensprache nicht verstehen und dem kirchlichen Leben entfremdet sind oder dort nicht ihr volles Genüge finden!“26 Hunnius: Nachklänge aus der H moll-Messe Johann Sebastian Bachs (wie Anm. 22), Sp. 649. Vgl. Albrecht Ritschl: Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1874. 25 Julius Smend: Gedanken über geistlichen und kirchlichen Gesang, in: Die Christliche Welt 1893, Sp. 108–112, 127–131, hier Sp. 109. 26 Ebd. Sp. 110. 23 24

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Hier befinden wir uns mitten in einer Diskussion, die in der Aufklärung ihren Anfang nahm, in der Moderne jedoch deutlich dynamisiert wurde und unter dem Banner des „Neuprotestantismus“ (Ernst Troeltsch) die Parole vom „Christentum außerhalb der Kirche“ ausgab, eine Diskussion, die sich auf vielfache Weise mit der genannten „vagierenden Religiosität“ verknüpft und verwebt. Interessant im Blick auf die nationale und konfessionelle Ideologisierung der Zeit ist, dass Smend beidem eine Absage erteilt: „Kennzeichen der geistlichen Musik“ ist, dass sie ‚internationalen Geistes‘ ist“. Und weiter heisst es: „Der geistliche Gesang ist auch interkonfessionell“.27 Allerdings schwenkt Smend später wieder auf die Linie Philipp Spittas ein, wenn er in einem Aufsatz über Kirchenraum und weltliches Konzert schreibt: „Ein Hausrecht hat selbst unser Händel in der Kirche nicht. Wohl ein Gastrecht. Und das soll auch dem edlen Felix Mendelssohn nicht versagt werden. Aber einem Joseph Haydn […] würde ich den Eintritt in unsre Gottesdiensträume standhaft verweigern; dem großen Richard Wagner natürlich auch! […] Was Gott geschieden hat, soll der Mensch nicht zusammenfügen!“28

Am Ende ist Händels Eigenart vor allem durch seine Verständlichkeit, seine Volkstümlichkeit gekennzeichnet. Das ist ein oft genanntes Merkmal, mit dem er sich auch gegen Bach zu profilieren vermag: „Daran ist jedenfalls kein Zweifel möglich, daß dies Werk [sc. der Messias] neben den Bachschen Passionen das bedeutendste und populärste Musikerzeugnis pro­ testantischen Geistes darstellt. […] Bach ist Beter und Prediger zugleich, Händel ist der große geistliche Volksredner. Er hat eine ‚Welt‘mission; er schlägt die Brücke vom Weltlichen zum Geistlichen. Er ist auch dem edlen Weltkinde verständlich und zugänglich. Das ist Bach nicht.“29

Und eben darin ist auch die ambivalente Beurteilung Händels begründet. Seine Popularität kann ein Grund sein, ihn aus den liturgischen Handlungen der Kirchenmusik im engeren Sinne auszuschließen, sie kann aber auch als eine Brücke verstanden werden, um den sowohl den noch religiös Interessierten als auch den säkularen Zeitgenossen eine Welt zu erschließen, die nach und nach zu entschwinden droht.

Smend: Gedanken über geistlichen und kirchlichen Gesang (wie Anm. 25), Sp. 111. Julius Smend: Kirchenraum und weltliches Konzert, in: ders.: Vorträge und Aufsätze zur Liturgie, Hymnologie und Kirchenmusik, Gütersloh 1925, S. 88–95, hier S. 94. 29 Julius Smend: Der ‚Messias‘ von G. F. Händel, in: ders.: Vorträge und Aufsätze zur Liturgie, Hymnologie und Kirchenmusik, Gütersloh 1925, S. 164–172, hier S. 172. 27

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Fazit Die an Schleiermacher ausdrücklich sich anschließende theologische Strömung hat sich selbst als Vermittlungstheologie begriffen und wurde auch als solche bezeichnet. Damit hat sie sich von der konfessionellen Theologie, von der Erweckungstheologie und von der spekulativen Theologe abgegrenzt, nahm aber dennoch einzelne Motive und Momente dieser Strömungen in sich auf. Es scheint nicht unpassend, auf der Grundlage der in wenigen Strichen skizzierten Diskussion Georg Friedrich Händel ebenfalls als Vermittlungstheologen anzusprechen. Damit ist noch kein Urteil darüber gesprochen, in welchem Sinne Händel sich selbst religiös und theologisch eingeordnet hat oder ein­geordnet hätte.30 Aber er konnte um 1900 eine solche Rolle spielen, wenngleich man festhalten muss, daß er nicht im Mittelpunkt einer theologischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kultur gestanden hat. Alsbald sollte sich ohnehin die Perspektive auf Händels Œuvre grundlegend verschieben. Philipp Spitta konnte noch im Jubiläumsjahr 1885 schreiben: „In welcher Gestalt Händel’s Opern einmal wieder unter uns leben werden, ist eine Frage, die sich Niemand jetzt getrauen wird zu beantworten. Aber wenn sie auch selbst nicht wieder lebendig werden sollten, zur Belebung des Sologesangs in den Oratorien werden sie sicher beitragen.“31

Einige Jahrzehnte späte sollten jedoch gerade die Opern zu der wirkmächtigen Händel-Renaissance der 1920er Jahre führen.32 Doch kann die Theologie daran keinen Anstoß nehmen. Denn, um Julius Smend das letzte Wort zu lassen: „Immerfort heilige Musik zu treiben ist ungesund und auf die Dauer nicht durchführbar“.33

Vgl. hierzu Christian Bunners: Theologische Positionen und liturgische Zusammenhänge in der Kirchenmusik der Händel-Zeit, in: Göttinger Händel-Beiträge 5 (1993) S. 47–64; HansJoachim Marx: Händels Religiosität im Kontext der europäischen Konfessionen, in: Händel-Jahrbuch 56 (2010) S. 79–99; Wolfgang Hirschmann: Händel und die Konfessionen – Gedanken zum Konferenzthema, in: Händel-Jahrbuch 59 (2013) S. 21–26. 31 Spitta: Händel, Bach und Schütz (wie Anm.  17), S.  74. Vgl. Julius Smends Bemerkung aus dem Jahr 1925: „eben jetzt erfährt ja auch seine Oper eine staunenerregende Wieder­ erstehung“, Vorträge und Aufsätze (wie Anm. 29), S. 167. 32 Daß sich daneben auch die Oratorien einen neuen und eigenen Ort erschlossen zeigt Wolfgang Sandberger: Geistliche Musik im Profanen Raum: Händel-Oratorien im ‚Kultisch eksta­ tischen Theater‘ der 1920er Jahre, in: Händel-Jahrbuch 55 (2009) S. 323–350. 33 Smend: Gedanken über geistlichen und kirchlichen Gesang (wie Anm. 25), Sp. 131. 30

Zwischen Schering und Heuß. Händel in der deutschen Musikgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts

Christoph Flamm (Lübeck) Das Thema dieses Beitrages ist kein ganz neues. Juliane Riepe hat vor wenigen Jahren auf erfrischende Weise Konstanten und Wandlungen des Händel-Bildes vom 18. bis ins 21. Jahrhundert beschrieben, um nicht zu sagen: entlarvt. Zu den Projektionen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert herrschten, zählt sie unter anderem: Händel der Erhabene, der Deutsche, der Allgemeinverständliche und Gemeinschaftsstiftende, der Heroische und Kämpfer, der Weltmann, der Nichtkirchliche und Diesseitige, das ethische Vorbild und der Erzieher.1 Woher diese Bilder stammen und wie sie in Nationalsozialismus und DDR , aber auch in unsere heutige Zeit weitertransportiert wurden oder mutierten – diese spannende Darstellung bildet die allgemeine Folie für ein Nachdenken über Händel in der deutschen Musikgeschichtsschreibung am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Chronologisch und geographisch näher an unserem Thema liegt Wolfgang Rufs Beschäftigung mit Hermann Abert und der Händel-Renaissance im Händel-Jahrbuch 2002, in dem er zugleich den Status Händels im deutschen Musikleben und in der deutschen Musikforschung vor 1920 aufarbeitet. Ruf resümiert: „Die Händel-Pflege war wie die Händel-Forschung in Deutschland bis in den Ersten Weltkrieg hinein kaum entwickelt; nur an einzelnen Orten überstieg sie das übliche Maß der gelegentlichen Aufführung eines der gängigen Oratorien oder der Darbietung von Kammermusik oder einzelner Arien.“2 Ausnahmen waren die Mainzer Händel-Bewegung, die mit dem sogenannten Deutschen Händelfest 1895 einsetzte, dem 1897 ein zweites folgte, dann das dritte 1900 in Bonn sowie 1906, 1909 und 1913 wieder Feste in Mainz, zudem 1906 eines in Berlin. Der Dirigent und Musikforscher Fritz Volbach, der 1899 über Die Praxis der Händel-Aufführung promoviert wurde, Juliane Riepe: Varianten und Konstanten des Händel-Bildes vom 18. bis ins 21. Jahrhundert oder: Il trionfo del tempo e dell’ inganno über das, was wir gerne für historische Wahrheit halten würden, in: Sandra Danielczyk, Christoph Dennerlein, Sylvia Freydank, Ina Knoth, Mathias Maschat, Lilli Mittner, Karina Seefeldt, Lisbeth Suhrcke (Hg.): Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens, Hildesheim [u. a.] 2012 (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft Bd. 69), S. 157–187, hier S. 184. 2 Wolfgang Ruf: Hermann Abert und die Händel-Renaissance, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 221–231, hier S. 226. 1

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war die treibende Kraft der Mainzer Feste, aber auch er beschränkte sich auf Oratorien, wobei ihn statt Werktreue eine zeittypische Anpassung an moderne Bühnendramatik leitete, was zu tiefgreifenden Eingriffen führte. Während die musikalische Praxis an Händel also nicht vorüberging, und sei es in stereotyper Auswahl und verzerrend, lag die Händel-Forschung nahezu brach. Chrysanders fragmentarische Händel-Biographie rief zumindest einige populärwissenschaftliche Bücher hervor. Wenn von Händel in allgemeinen Darstellungen die Rede war, so fast grundsätzlich in der direkten Gegenüberstellung mit Bach. Franz Brendel hatte diesen Vergleich in seiner einflussreichen Musikgeschichte von 1855 (bzw. seit der 3. Auflage 1860) massiv ausgeführt, und bereits er berief sich dabei zitierend zurück auf Friedrich Rochlitz.3 Angesichts der langen Liste von Autoren, die denselben Vergleich aufgriffen, gewinnt Wolfgang Ruf den Eindruck, „dass Händel von der Musikhistorie zwar als Komponist eigenen Profils wahrgenommen, aber nicht wegen seiner musikhistorischen Leistung, sondern als bloße Kontrastfigur bewertet wurde, die ein feststehendes, von Bach geprägtes Bild der Stilepoche (die man alsbald „Barock“ nannte) komplettieren half.“4 Diese Feststellung ist wohl leicht überspitzt, denn immerhin werden Händel in diesen Vergleichen meist ganz dezidiert Qualitätsmerkmale zugeschrieben, die Bach fehlen  – und umgekehrt. Ruf beschäftigt sich dann speziell mit dem sehr späten Interesse Aberts an Händel, das ihn zwar zur Gründung der Halleschen Händelgesellschaft 1918 bewog, aber kaum auf seine Lehre oder seine Forschungen abgefärbt hat, abgesehen von ein paar allgemeineren Texten, die von der Göttinger Händelopern-Renaissance ausgelöst wurden. Die Suche nach Händel im zeitgenössischen deutschen Musikschrifttum führt zu drei Themenkomplexen, die sich dort in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hauptsächlich abzeichnen: erstens der angemessene Umgang mit Händels Oratorien, zweitens die Entdeckung und Bewertung der Opern sowie drittens Händels nationale Identität und Charakter. Insbesondere die letztere Frage erhält um die Jahre des Weltkriegs eine herausgehobene Bedeutung, aber sie ist bei näherem Hinsehen unlöslich mit den anderen Punkten verbunden, also mit den Bildern, die sich die Musikforschung von Händels Schaffen machte. Es ist unverkennbar, dass die Fixierung auf Händel als Oratorienkomponist (und innerhalb dieser Gattung nochmals speziell auf die Chöre) das Zentrum Franz Brendel: Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Fünfundzwanzig Vorlesungen, 7., neu durchgesehene und vermehrte Auflage, Leipzig 1889, S. 204–207 (Gegenüberstellung nach Rochlitz) und S. 208–226 (Elfte Vorlesung). 4 Ruf: Hermann Abert und die Händel-Renaissance (wie Anm. 2), S. 227.

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des Händelbildes zu Jahrhundertbeginn bildet. Hermann Kretzschmars 1899 in zweiter Auflage erschienene Band zu den Oratorien und weltlichen Chor­ werken innerhalb seines Führers durch den Konzertsaal ist eigentlich eine verkappte Monographie zu Händels Oratorien, denn der weit mehr als 100 Seiten umfassende Abschnitt zu den Werken dieses Komponisten nimmt quantitativ und qualitativ die Stellung eines Buches im Buch ein. Kretzschmars generelle Charakteristik bestätigt Juliane Riepes Liste von Händel-Stereotypen rundum: „[…] im Chor liegt der Schwerpunkt von Händels Oratorienreform. […] mit seinem Chor überragt er alle Vorgänger und durchbricht die Traditionen der italienischen Schule am entschiedensten. Die Verwendung des Chors griff in Mark und ins Wesen des biblischen Oratoriums. Denn Händel bequemt sich nicht dazu wie die französischen Opernkomponisten den Chor zu Tänzen und Aufzügen, zu äusserlichen Tändeleien und Kleinigkeiten zu verbrauchen […]. Jetzt erst trat das israelitische Volk, das bei Zeno und Metastasio im Hintergrund blieb, in den Mittelpunkt der Thaten und Ereignisse, die in diesen Dramen dargestellt wurden. Jetzt erst äusserte das Oratorium die volle Grösse dramatischer und ethischer Wirkungen, deren es fähig war. Auf dieser hohen Aufgabe, die dem Chor im Händel’schen Oratorium zugewiesen ist, beruht sicher ein Theil der starken Wirkung, die er auf alle Gesellschafts- und Bildungskreise übt. Die Grösse der Affekte, die Grösse in Lust und Trauer, die ungekünstelte Einfachheit in Empfindung und Ausdruck kommen mit von dort her. Zum Theil stammen aber diese Vorzüge aus Händel’s persönlicher Natur.“5

Auf bemerkenswerte Weise will Kretzschmar von den Ausdrucksdimensionen der Werke auf die Charaktereigenschaften des Komponisten rückschließen. Damit stand er gewiss nicht allein. Noch Hugo Leichtentritt wird 1924 in seiner großen Händel-Monographie schreiben: „Die ganze Erscheinung Händels atmete Männlichkeit im höchsten Maße. Imponierende Würde, Macht gingen von ihm aus.“6 Das steht in einem denkbar großen Gegensatz zu dem in den allerletzten Jahren aufgekommenen Bild von Händel als einem aus dem Leim gegangenen Zügellosen, der seine unausgelebte Homosexualität mit hemmungsloser Fresssucht kompensierte.7 Diese rezenten Vorstellungen von einer Art aufgedunsenem Superstar des Barock will zur heroisierenden Darstellung des frühen 20. Jahrhunderts schwerlich passen, wo Händel gar mit Beethoven verglichen wurde: So betrachtete Konrad Huschke 1915 in der Neuen Zeitschrift für Musik Beethovens Verhältnis zu Bach und Händel und kam dabei zum Schluss, was dem Jüngeren denn an Händel außer seiner Musik imponierte: „[…] auch dessen unabhängige, reckenhafte, steifnackige und selbstsichere Hermann Kretzschmar: Führer durch den Concertsaal, II. Abtheilung, zweiter Theil: Oratorien und weltliche Chorwerke, 2. Auflage, Leipzig 1899, S. 42. 6 Hugo Leichtentritt: Händel, Stuttgart / Berlin 1924, S. 227. 7 Riepe: Varianten und Konstanten des Händel-Bildes (wie Anm. 1), bes. S. 180–181. 5

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Persönlichkeit. Er war ihm im Charakter nahe verwandt, eine Löwennatur, urwüchsig und knorrig und für alles Heldenhafte, Imposante empfänglich.“8 Am Ende von Fritz Volbachs Monographie aus dem Jahr 1907 wird Händel dementsprechend geradezu zu einer Heilsgestalt verklärt: „Was bedeutet Händel heute uns? Die Antwort gibt uns unsere Zeit selbst. Der Geringschätzung des Meisters ist seit einem Jahrzehnt ein m ä c h t i g e r A u f s c h w u n g gefolgt. In heller Begeisterung huldigt ihm die musikalische Welt mehr denn je und die Urmacht seines Geistes übt von neuem ihren Zauber über die Menschheit. Chrysander war es, der die Anregung zu dieser mächtigen Bewegung gegeben trat, als er im Jahre 1895 sein Lebenswerk bei dem ersten Mainzer Händelfest in die Praxis übersetzen konnte. Mag man mit ihm in seinen Anschauungen übereinstimmen oder nicht, diese Tat allein macht ihn unvergesslich. Ich meine, es war gerade die rechte Zeit dafür. Unsere Zeit war auf dem besten Wege, den Blick für das G r o s s e , G e w a l t i g e zu verlieren. Den Blick der Erde zugewandt, erschienen ihr die tausend Kleinigkeiten, die sich dem nahen Auge einzeln darbieten, erstrebens- und begehrenswert, und darüber vergass sie, dass über ihr sich ein Himmel wölbte, an dem Welten kreisen und Sonnen tönen, gelenkt von der Gottheit Urmacht. Da sandte Gott uns den Helden, der uns lehren soll, den Blick dem Kleinen abzuwenden, emporzuschauen zum Lichte, der unsere Augen öffnen sollte, dass sie, „sonnensichtig“, gleich ihm vermögen hineinzuschauen in den lodernden Glanz, dass wir mit ihm emporschweben in die Welt des E r h a b e n e n , des G ö t t l i c h e n   – H ä n d e l . – “

Es fehlte nicht an Willen, den Träger all dieser positiven Eigenschaften, ungeachtet seiner kosmopolitischen Laufbahn und englischen Staatsbürgerschaft, ganz für die deutsche Kultur zu vereinnahmen. Arnold Schering schrieb 1911 in seiner Geschichte des Oratoriums noch eher verhalten: „Mag immerhin der Deutsche recht behalten, wenn er meint, seinem Händel näher zu stehen als der Engländer […].“9 Auch in der Musikgeschichte bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts betont Schering 1914 die Bedeutung von Händels deutscher Heimat eher verklausuliert: „Diese letztere, die im Herzen Händels stets unvergessen blieb, hat ihm bei allem doch das Schönste, Dauerndste und Unvergänglichste verliehen: den Blick in die Tiefe des Herzens und die Richtung aufs Ewige. Sie geben seinen Werken die Größe, Ruhe und Klarheit, an der sich bis heute noch jede Generation erhoben und gestärkt hat.“10 Konrad Huschke: Beethovens Stellung zu Bach und Händel, in: Neue Zeitschrift für Musik 82 (1915), Nr. 21, S. 185–186, hier S. 186. 9 Arnold Schering: Geschichte des Oratoriums, Leipzig 1911, S. 561. 10 Handbuch der Musikgeschichte bis zum Ausgang des 18.  Jahrhunderts. Auf Grundlage des gleichnamigen Werks von Arrey von Dommer als dessen dritte Auflage bearbeitet von Arnold Schering, Leipzig 1914, S. 689. 8

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Unter dem Eindruck des heraufziehenden und dann ausbrechenden Ersten Weltkriegs geriet Händel als Gegenstand musikhistorischer Betrachtung jedoch in einen sich immer irrsinniger drehenden Mahlstrom chauvinistischer Anschauungen. Die bereitliegenden Bilder des Heroischen und Monumentalen konnten nun im Sinne eines martialischen Deutschtums ausgeschlachtet werden, wobei Händel jetzt aktiv von allen undeutschen Aspekten bereinigt werden musste. Keine einfache Prozedur, sowohl angesichts der vergleichsweise verhaltenen Händel-Rezeption im eigenen Land als auch der immensen Bedeutung und Verankerung des Komponisten in seiner Wahlheimat. Die Vereinnahmung konnte eher beiläufig geschehen wie in Max Ungers Besprechung einer Aufführung des Judas Maccabäus im November 1914 durch den Leipziger Bach-Verein zugunsten der Kriegsnotspende, wo es heißt: „Ein besonders glücklicher Gedanke sowohl der kriegerischen Vorlage halber als auch deshalb, weil es als kräftige Kundgebung gelten konnte, daß wir Händel, den die Engländer so gern ganz mit Beschlag belegen möchten, als den Unseren betrachten. Sorgen wir hinfort aber auch dafür, daß er ganz der Unsere bleibt, indem wir ihn mehr als bisher zu Worte kommen lassen; denn kaum einer unserer bedeutendsten Tondichter ist in Deutschland so arg vernachlässigt worden als gerade Händel.“11

Alles andere als beiläufig beanspruchte Wilhelm Tappert Ende Oktober 1914 in der Neuen Zeitschrift für Musik Händel für Deutschland. In einer furchtbaren Hasstirade, die dem Autor angesichts des drohenden Ausschlusses der Deutschen aus der Internationalen Gesellschaft für Musikforschung entfährt, verspottet Tappert die angebliche Unmusikalität der verfeindeten Kriegsnationen – „für die Tonempfindungen eines Franzmanns oder John Bulls haben unsere Großen keine Meisterwerke geschaffen“ – und schließt sie als Gegenstände wissenschaftlicher Betrachtung aus: „die Ausländer, d. h. unsere ‚Musikfeinde‘ scheiden aus und verdienen nur nebensächliche Berücksichtigung, insofern sie anregend und befruchtend auf das zeitgenössische oder ein nachfolgendes Musikergeschlecht eingewirkt haben. England dürfte ja auch hier in den Hintergrund treten. Händel war und ist trotz des verenglischten H a n d e l ein D e u t s c h e r, und Bach ist in seinen ‚Französischen Suiten‘ so selbständig deutsch fühlend wie in allen seinen Werken, die keine fremde Überschrift tragen. Den Niederländern mit ihrer urwüchsigen, germanischen Kraft fühlen wir uns inniger verwandt als dem geistreichelnden Franzosen, den man wohl dreist ein wenig niedriger einschätzen darf, ohne in japanische Bündlergesinnung zu verfallen.“12 Max Unger: [Rundschau: Leipzig], in: Neue Zeitschrift für Musik 81 (1914), Nr. 44, S. 522. Wilhelm Tappert: Feinde ringsum! Krieg gegen die deutsche Musikwissenschaft, in: Neue Zeitschrift für Musik 81 (1914), Nr. 44, S. 517–518, hier S. 517.

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Ebenso deutlich, wenn auch weniger schäumend vor Hass, wurde Hermann Abert am Neujahrstag 1915 in einem Artikel unter dem Titel Der Krieg und die deutsche Musik für die Zeitschrift Der Tag, in dem er nicht nur Beethoven als Repräsentanten für Deutschlands Kampf, Sieg und Freiheit zeichnete: „Noch eines anderen großen Meisters aber muß hier gedacht werden, der seiner ganzen Kunst- und Weltanschauung nach uns heute wieder besonders angeht: Händel. Es war kein gutes Zeichen für die Gesundheit unseres musikalischen Urteils, daß ein Teil der musikalischen Welt in beschränkter Verehrung Bachs dessen großen Zeitgenossen glaubte mit mehr oder weniger Verachtung ‚strafen‘ zu müssen. Wenn je ein Musiker, so hat er die sittlichen Mächte, die sich im Wandel der Völkerschicksale offenbaren, erkannt und ihr Walten seinem Publikum vor Augen geführt. Mögen ihn äußere Umstände zehnmal nach England geführt haben, die deutschen Grundzüge seines Wesens haben sie nie zu verwischen vermocht. Seine gewaltige Persönlichkeit, der alle Kleinlichkeiten und Schleichwege fremd sind, seine hohe, ethische Kunstauffassung, seine über alles Muckertum hoch erhabene Religiosität, sein inniges Verhältnis zur Natur – das alles ist so ‚unenglisch‘ wie nur möglich, mögen ihn unsere lieben Vettern mit noch so heißem Bemühen für sich in Anspruch nehmen. Gerade er ist ein lehrreiches Beispiel dafür, wie eine Kunst viele internationale Elemente in sich aufnehmen und doch kraft der einem starken und reichen Volkstum entsprossenen Persönlichkeit ihres Schöpfers im edelsten Sinne national bleiben kann. Händel ist aber auch noch nach einer anderen Seite hin der Mann der Gegenwart, nämlich durch den volkstümlichen Grundzug seiner Kunst. Es ist nur natürlich, daß ein Volk, das unter Hintansetzung aller Partei- und Standesunterschiede sich wieder seiner Einheit bewußt geworden ist, auch in der Kunst auf Allgemeinverständlichkeit dringt.“13

Man muss sich allerdings bei der Lektüre solcher Texte aus den Kriegsjahren in Erinnerung rufen, wie aggressiv schon etliche Jahre zuvor Händel funktionalisiert worden war, beispielsweise als Überwinder oder gar Bezwinger der italienischen Musik. Volbachs Monographie von 1907 schildert etwa die frühe Begegnung zwischen Bononcini und dem kindlichen Händel in Berlin wie folgt: „Bereits im Jahre 1696, also mit 11 Jahren sehen wir ihn bewundert, gefeiert ob seiner künstlerischen Leistungen am Berliner Hof. […] Bescheiden geht er zum Flügel und beginnt zu spielen. Atemlos lauschen alle, wie bezaubert von den Tönen, die der Genius diesem Kinde eingibt, und mit heller Begeisterung jubelt man ihm zu, als er geendet. Nur einer stimmt nicht ein in den Beifall: Bononcini. Dieser italienische Komponist war, zugleich mit Ariosti, dem Komponisten und Cembalisten der Hofkapelle, eingeladen worden, den jungen Händel zu hören. Während letzterer nun seiner Freude über das wunderbare Spiel des Knaben begeisterten Ausdruck verleiht, Hermann Abert: Der Krieg und die deutsche Musik, in: Der Tag, 1. Januar 1915; zit. nach Ruf: Hermann Abert und die Händel-Renaissance (wie Anm. 2), S. 228 f.

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steht Bononcini kalt und steif da; kein Wort kommt über seine Lippen. Und selbst, als Händel eine ungemein schwierige Probe als Generalbassspieler mit solcher Bravour ablegt, dass alle ihn staunend umringen, bringt er es kaum zu ein paar anerkennenden Worten. Von diesem Augenblicke aber hatte Händel einen unversöhnlichen Feind, der auch später sein Leben kreuzen sollte. Bononcini mochte es ahnen, dass in Händel ein Siegfried erstanden war, der dereinst Krone und Zepter der Kunst aus dem sonnigen ltalien siegreich nach dem Norden tragen sollte!“14

Dass solche Wagner-geschwängerten Bilder vom Kampf der Musikkulturen nach dem Ersten Weltkrieg verschwinden würden, lässt sich leider nicht ganz bestätigen. Zwar formulierte Hugo Leichtentritt 1924 im Schlusswort seiner monumentalen Händel-Monographie eine dezidierte Absage an den Wunsch der nationalen Zuordnung des Komponisten: „Reklamierte so die Kirche den Freidenker Händel für sich, so erheben auch verschiedene Nationen aus patriotischen Motiven einen Anspruch auf den Weltbürger Händel. Es wird aber weder Deutschland noch England ein Vorzugsrecht auf Händel geltend machen können. Ebensosehr könnte Italien auf ihn Anspruch anmelden, und es dürfte in der Tat eine kaum lösliche Aufgabe sein, abzuschätzen, wo eigentlich der Schwerepunkt der Händelschen Kunstübung liegt. Hat der Baum seiner Kunst die Wurzeln im deutschen Boden, so hat ihm doch die italienische Sonne Licht und Wärme gespendet, und England hat ihn gepflegt, ihm Wasser und Nahrung gegeben. Alle drei Länder zusammen erst haben den Künstler Händel hervorgebracht.“15

Dann aber kommt Leichtentritt doch nochmals auf deutsches Wesen zu sprechen: „Wenn man das seelische Empfinden Händels, sein Menschentum von seiner Kunst abgelöst sich denken könnte, dann sind allerdings diejenigen Züge vorherrschend, die man ‚deutsch‘ nennt: seine undiplomatische, gerade gewachsene, ohne Umschweife aufs Ziel losgehende Weise; der Gegensatz zwischen dem etwas ungeschliffenen äußeren Wesen und dem zarten, zurückhaltenden, seelischen Fühlen; die schwärmerische Liebe zur Natur, zur Landschaft.“16

Sind das nicht genau jene Wesensmerkmale, die Volbach seinem „Siegfried“ der Musikgeschichte zugeschrieben hatte? Auch im Geleitwort, das Alfred Heuß 1925 in das Programmheft des Deutschen Händelfestes in Leipzig schrieb, scheint die Erfahrung von Händel dem Opernkomponisten – und damit dem komponierenden Dramatiker und Psy Fritz Volbach: Georg Friedrich Händel, zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1907, S. 8. 15 Leichtentritt: Händel (wie Anm. 6), S. 844. 16 Ebd. 14

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chologen einzelner Figuren statt staatspolitisch gefärbter Volksmassen – nicht wirklich zu einer Auflösung der pathetischen Vorkriegsstereotypen geführt zu haben; lediglich das Verhältnis Bach-Händel müsse neu überdacht werden. „Wir müssen im Laufe dieses Jahrhunderts dazu gelangen, die beiden, der gleichen Zeit und dem gleichen deutschen Volksstamm entwachsenden Meister, unbeschadet ihrer unermeßlichen Einzelbedeutung, als eine Einheit höheren Grades anzusehen, die in ihrer tiefen Bedeutung zu erkennen, nun eben die Aufgabe einer kommenden Zeit, eines neu werdenden Deutschlands wäre. […] Mit der Zeit werden wir sogar zu ausgesprochenen Bach-Händelfesten gelangen wollen, die uns dann auf die Probe stellen können, ob und inwieweit wir der Bach-Händelschen Doppeleinheit gewachsen sind. Vorläufig sind wir aber noch nicht so weit und tun deshalb sicher gut daran, uns nachdrücklich gerade auch mit Händel allein zu beschäftigen. Denn noch haben wir uns von den verengenden, nationalistischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts zu wenig frei gemacht, um von Innen heraus, also ganz und gar nicht auf modern internationaler Grundlage, die gewaltige Spannweite tiefsten deutschen Wesens erfassen zu können, für welche das gleichzeitige Erscheinen der zwei KontrastKolossalgestalten Bach und Händel das wohl großartigste Beispiel in der deutschen Kulturgeschichte bietet.“17

Im gleichen Jahr 1925 wurde die neue Händelgesellschaft gegründet, die nun nicht mehr „deutsche“ hieß. Hermann Abert führt in seinem programmatischen, posthum im 1. Band des Händel-Jahrbuchs 1928 erschienenen Text über die Aufgaben der Händelforschung hierzu aus: „Ihr leuchtete somit ein freundlicherer Stern als ihrer Vorgängerin, der 1856 von Chrysander und Gervinus ins Leben gerufenen ‚Deutschen Händelgesellschaft‘. Die als solche bald wieder einging und als Erben den einzigen Chrysander hinterließ. Die neue Gesellschaft hat auch auf den Beisatz ‚deutsch‘ verzichtet, da sie sich wohl bewußt ist, daß ihre letzten Ziele nur durch internationale Mitarbeit, vor allem Englands, aber auch Italiens, zu erreichen sind.“18

Man wird das Gefühl jedoch nicht los, dass der internationale Geist der neuen Händel-Gesellschaft mitunter nur ein dünner Firnis war, unter dem tiefverwurzelte alte Nationalismen fortlebten. Zwar entwirft Rudolf Steglich in seiner Einführung in den ersten Band des Händel-Jahrbuchs 1928 ebenfalls die friedfertige Vision einer scientific community:

Alfred Heuß: Zum Geleit!, in: Deutsches Händelfest. Sechsten bis achten Juni 1925 in Leipzig [Programmheft], Leipzig 1925, S. 1–3, hier S. 1 f. 18 Hermann Abert: Die Aufgaben der heutigen Händel-Forschung, in: Händel-Jahrbuch 1 (1928), S. 1–26, hier S. 7. 17

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„Für die Zukunft erhoffen und erbitten wir die Mitarbeit aller, die für das Erlebnis des Händelschen Geistes zu wirken berufen sind, nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt, vornehmlich auch in England, dem Lande, welchem Händel seine Lebensarbeit zunächst widmete, und in Italien, das die Entfaltung des jungen Kom­ ponisten entscheidend förderte. Wir freuen uns, schon in diesem ersten Jahrbuch einen Beitrag aus Händels Wahlheimat bringen zu können. Nicht zuletzt ist es ja dies, worauf Händels Größe und seine Bedeutung für unsere Gegenwart und Zukunft beruht: daß hier ein Mann und ein Werk ist, die, deutschem Boden entstammend und mit ihm stets wurzelhaft verbunden, auch die aus Kräften der Antike gespeiste alte Kultur Italiens und den neuen freiheitlichen Geist des englischen Volkes in sich aufgenommen und mit jener Wurzelkraft vereint haben zu einem neuen, europäischen, weltumspannenden Wesen.“19

Im gleichen Band aber findet sich in seiner umfassenden Darstellung der­ Händel-Operninszenierungen von 1920 bis 1927 folgender Passus: „Anläßlich einer Rundfrage der Mainzer Kaiserin-Friedrich-Stiftung in den ersten Kriegsjahren wies auch der in der vordersten Reihe der jungen Generation der Musikwissenschaftler stehende Hans Joachim Moser in einer Denkschrift auf die Notwendigkeit Händelscher Bühnendarstellung als eine Hauptaufgabe künftiger Händelpflege hin. Er trat auch für szenische Aufführungen geeigneter Oratorien wie des ‚Saul‘ ein. Aber der große Krieg ließ keine Kräfte frei für solche Versuche, so sehr die heroische Kunst Händels gerade auch in dieser Zeit eine Aufgabe zu erfüllen gehabt hätte.“20

Insbesondere in der Verbindung des Heroischen mit dem Männlichen und einsam Kämpferischen, dem aber zugleich eine Naturhaftigkeit, Innigkeit und Tiefsinn zugeschrieben werden, kristallisiert sich in den 1920er Jahren so etwas wie ein implizites Muster deutscher Kultur heraus, für das Händel paradigmatisch stand und das in der NS -Zeit nur noch explizit gemacht werden brauchte. In Alfred Heuß’ Geleitwort zum Leipziger Programmbuch von 1925 liest sich das so: „Ist uns etwa heute einigermaßen klar bewußt, daß dieser glanzvolle Händel einer der einsamsten deutschen Künstler war, die es gibt, weit einsamer als selbst ein Bach inmitten seiner Familie, und daß nur aus dieser geräuschlosen Einsamkeit heraus der eigentliche Händel verstanden werden kann? […] Die Bewunderung [Beethovens] gilt denn auch vor allem jenem Händel, der mit einer ungebrochensten männlichen Sicherheit und Festigkeit die Welt sieht, jenem Händel, dem alle Problema Rudolf Steglich: Einführung, in: Händel-Jahrbuch 1 (1928), S. IV. Rudolf Steglich: Die neue Händel-Opern-Bewegung, in: Händel-Jahrbuch 1 (1928), S. 71–158, hier S. 79 f.

19

20

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tik gänzlich ferne liegt, kurz, der dasteht wie ein Fels. Ist es besonders diese Seite in Händels so reichem Wesen, die unsere Zeit anzuziehen beginnt, und besitzt sie nicht nur Sehnsucht nach dem männlichen Manne, sondern auch den Willen dazu, dann wird und kann die neue Händelbewegung einen Untergrund erhalten, dessen Händel bedarf, um seinem tiefsten Wesen gemäß wirken zu können. Um lediglich einer unsicheren, gierig nach Neuem schnappenden Zeit ein paar künstlerische Anregungen zu geben, dazu müßte uns Händel zu gut sein. So sind denn heutige Händelfeste nicht nur etwas klassische Heiteres und Großes, sondern vor allem auch etwas sehr Ernstes. Es heißt da auch, dem männlichsten, in der Schule von Europas Hauptvölkern erprobten Meister der Tonkunst gegenüberzutreten und sich zu prüfen, ob man ebenfalls etwas von dieser prometheusartigen Feuerkraft in sich spürt. Ist dies der Fall, dann kann es einmal dem zukünftigen deutschen Volke nicht fehlen.“21

Neben allem unschönen Vorgeschmack auf den Jargon der nationalsozia­ listischen Kulturpflege steckt in diesen Zeilen noch etwas anderes, nämlich die Idee von Händel als einem Erzieher oder dem Publikum als einer Masse zu Erziehender, also letztlich von der deutschen Kultur als einem Mittel der Erziehung durch Ernst statt Heiterkeit. Diese Dimension taucht in leichter Abwandlung auch in Aberts Aufsatz zu den Aufgaben der Händelforschung 1928 auf, wo er die Praxis des Bearbeitens der Händel-Opern in Bausch und Bogen ablehnt und stattdessen historische Treue einfordert: „[…] alle bisherigen Neubearbeitungen haben den Originalen mehr oder minder Gewalt angetan, sei es mit der Brutalität des echten Banausen, sei es mit der linken Hand des Sachkundigen, der sich seiner Verantwortung voll bewußt ist.“22 „Vor allem aber kann nicht genug davor gewarnt werden, daß wir an die Händelschen Opern mit modernen musikdramatischen Ansprüchen herantreten. Es gibt keinen ärgeren Fehler, als den Versuch, sie dem modernen Publikum mundgerecht zu machen, und gerade er ist bei den neueren Aufführungen am allermeisten begangen worden. Es kommt aber gar nicht darauf an, möglichst viele Händelsche Opern aufzuführen, sondern nur darauf, daß uns das Wesen der Händelschen Kunst, die Größe der in ihr beschlossenen Kunst- und Weltanschauung wieder zugänglich und lebendig werde. Das erreichen wir aber nicht, indem wir sie in den Schlamm der ewig wechselnden Tagesströmungen herabzerren, sondern indem wir das Publikum zu ihrer Höhe hinaufheben. Daß es aber bei dieser Erziehungsarbeit nicht ohne starkes Durchsieben abgeht, sollten wir nie vergessen. Wer nicht den guten Willen hat, sich zu Händel erziehen zu lassen, kommt für die Händelarbeit nicht in Frage; ihm zuliebe aber den Meister irgendwie zurechtzustutzen ist eine Versündigung an seiner Kunst.“23 Heuß: Zum Geleit! (wie Anm. 17), S. 3. Abert: Die Aufgaben der heutigen Händel-Forschung (wie Anm. 18), S. 2. 23 Ebd., S. 16. 21

22

Händel in der Musikgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts

53

Natürlich ist hier nirgends von deutschen Idealen ausdrücklich die Rede, aber die Kernbegriffe und selbst der aggressive, freud- und mitleidlose Tonfall von Aberts Aufgabenstellung der Händelforschung lassen sich unschwer als jahrzehntealtes Erbe deutschen Musikschrifttums erkennen. Und eben dieses aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert tradierte Konglomerat von Projektionen und Stereotypen deutscher Musikkultur am Beispiel Händel ist es, das nach der Machtergreifung unheilvoll durch den braunen Blätterwald rauschte. Beispiele dafür sind Alfred Heuß’ Aufsatz Händel und Bach als zwei Seiten deutschen Wesens aus dem Jahr 1934, in dem die Oratorien als rein politische Werke interpretiert werden: „Wer auch heute nicht von [den Musikern] die Größe, das Einzigartige bei Händel zu fühlen und zu erkennen vermag oder es zu lernen beginnt, bleibt klein und kann eigentlich auch das heutige Deutschland nicht verstehen. Und weiterhin weiß und fühlt er auch nicht, was das heutige deutsche Volk instinktiv in der Kunst sucht, ein Echo seines neu und frisch aufblühenden Volks- und Staatsglaubens. Schenkt ihm echte, feurige und starke Aufführungen Händelscher Oratorien […] und ihr werdet erleben, wie dieser Händel in seiner einfachen und dennoch tiefsinnigen Musik die Hörer zu packen weiß. Der heutige Staat hat das Nötige getan, um die Grundlage für das innere Verständnis gerade der staatspolitischen Oratorien zu schaffen, es liegt nun an den Musikern, gerade hierin dem Staat und Volk zu geben, was des Staates und des Volkes ist. […] Und um Händel gehts heute noch ganz besonders. Wir bedürfen seiner, um frei, stolz und offenen Blicks auf dieser Erde stehen zu können, mitten im Umkreis anderer Völker und heute damit beschäftigt, uns gleich einem Händel, von Innen heraus unsere Stellung zu befestigen, auf daß wir ein Volk werden, wie es dieser große Mann geschildert hat, und gerade auch als friedliches Volk.“24

Dass in den darauffolgenden Jahren der Wunsch nach der Friedlichkeit des deutschen Volkes mehr als unerfüllt geblieben ist, mag als makabre Bestätigung dafür dienen, dass die ideelle Verbindung von Händel und nationalis­ tischem Deutschtum eine erzwungene war. Aber genau diese Linie findet sich dann auch am Schluss von Rudolf Steglichs kleiner Händel-Monographie aus dem Jahr 1939, wo der Autor nicht zuletzt die Präsenz jüdischer Namen und Themen in den Oratorien überspielen muss. „Hier spricht der in jenem Deutschland unzeitgemäße Geist, der Händels ganzes Werk erfüllt, im Oratorium aber seinen höchsten Ausdruck gefunden hat: ein kämpferischer, fest im gewachsenen Boden gegründeter und doch weltumspannender Geist, ein Geist, der für die große Aufgabe, zu der er berufen ist, nicht nur mit 24

Alfred Heuß: Händel und Bach als zwei Seiten deutschen Wesens, in: Zeitschrift für Musik 101 (1934), S. 489–494, hier S. 493.

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Worten und Gefühlen und Gedanken und gutem Willen, sondern mit ganzer Tat sich vollpersönlich einsetzt, herzhaft und wehrhaft. Wie schmerzlich wäre es, wenn nun, in einem neuen, anderen Deutschland, dieser Händelsche Geist gerade mit seinen größten Werken nicht endlich vollkräftig wirken könnte der fremden Herkunft gewisser Namen und Geschichten wegen! Nicht diese Namen sind wesentlich, wir brauchen sie nicht. Die Menschen, die sie tragen, sind in Händels Werk von u n s e r m Fleisch und Blut. D a s ist wesentlich. Darauf zu verzichten, hieße Verzicht auf eine der mächtigsten Kraftquellen, die uns die deutsche Kunst bisher geschenkt hat.“25

Michael Werner hat im Händel-Jahrbuch 1996 eindrucksvoll dargestellt, wie „[f]ast sämtliche für die Händelrezeption der dreißiger Jahre wichtigen Inhalte […] aus den zwanziger Jahren übernommen“26 wurden, dass also hier wie anderswo Kontinuitäten wirksam waren, die es nicht erlauben, von einem eigenen Händelbild der Nationalsozialisten zu sprechen. Man kann wohl mit Juliane Riepe noch deutlich weiter gehen und den Nachweis führen, dass zwar nicht alle, aber doch wesentliche Inhalte bereits des Händelbildes der 1920er Jahre auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückzuführen sind. Das allseits so genannte lange 19. Jahrhundert war in diesem Sinne, auf dem Gebiet der HändelDeutung, geradezu verflucht lang.

25

Rudolf Steglich: Georg Friedrich Händel. Leben und Werk, Leipzig 1939, S. 76. Michael Werner: „Sehnsucht und Erfüllung unserer Zeit“. Aspekte deutscher Händelrezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Händel-Jahrbuch 42 (1996), S. 18–38, hier S. 19.

26

Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914 Thomas Irvine (Southhampton) The Queen’s Hall Promenade Concerts, the direct predecessors of today’s BBC Proms, were in the first two decades of their history not a central site of Handel reception. There were bigger audiences elsewhere: in massive performances at the Chrystal Palace in South London, traditional choir festivals in the provinces and dozens of smaller Promenade Concert series throughout Britain. Nonetheless, it is worth investigating how Handel’s music was received at the Queen’s Hall Proms around 1900. The makers of the Proms took a new approach to Handel. They placed his music in new contexts, shaping the tastes of new audiences. The result, I will argue here, was assignment of Handel to a different part of the canon of serious – and sometimes not-so-serious – music. In a recent monograph Mark Everist has re-opened discussions about how audiences and critics construct music and its histories.1 Everist’s intervention depends on the sub-division of reception history into the study of reception proper and “effect”. The German terms Rezeption and Wirkung, as he points out, are somewhat clearer: Rezeption is what journalists and other writers do; it encompasses the construction of a composer that emerges from criticism, philosophical reflection and all other writing about music. Wirkung, on the other hand, is what happens when musicians interpret music for audiences or composers arrange, adapt or are influenced by previous music, concretising its effect.2 In this essay I attend to both. I wish to avoid what Everist calls “the documentary impulse”, that is yielding “to the attraction of simply recording the existence of sites of reception”.3 At the Proms in the twenty years before the outbreak of the First World War, Rezeption and Wirkung came together to create a fluid set of constructions of Handel. I will argue here that these can only be understood in the wider context of changes in British musical culture.

Mark Everist: Mozart’s Ghosts: Haunting the Halls of Musical Culture, Oxford and New York 2013. Here Everist draws on his own previous theoretical work, notably: Nicholas Cook / Mark Everist: Reception Theories, Canonic Discourses and Musical Value, in: Rethinking Music, eds. Cook / Everist, Oxford 1999, pp. 378–402. See the latter for rich references to wider literature on musical reception theory, including important contributions in German. 2 See ibid., pp. 379 f. 3 Everist: Mozart’s Ghosts (see note 1), pp. 12 f. 1

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Thus this essay also aims to contribute to on-going discussions about the socalled English Musical Renaissance. The changing currents of performance, arrangement and discussion of Handel’s music around 1900 offer a test of the thesis advanced by Robert Stradling and Merieon Hughes in their book The English Musical Renaissance 1840–1940: Constructing a National Music, namely that in the years around 1900 a new critical consensus emerged around “English Music”.4 This music had three qualities. The first was the search for a native compositional tradition whose roots stretched back to the middle ages.5 The second was the orientation of leading critics such as Hubert Parry, Director of the Royal College of Music in South Kensington and later Professor of Music at Oxford University, to the “best” German models (Bach and Beethoven, not Handel and Mendelssohn). Parry felt that these composers represented a more “evolved” path to musical modernity.6 The third, and today most familiar, was the use by younger composers of “English” folk materials.7 All three of these points of consensus excluded Handel, whose music until then had been at the centre of British musical life. So to understand better the changes in Handel reception around 1900 is to test Hughes and Stradling’s notion of Handel’s relative decline in prestige. In the contours of this process – which were in the case of Handel’s at best supporting role in the repertoire of the Proms sometimes rather odd – one recognises the emergence of Handel’s current place in musical culture.

Robert Stradling / Merieon Hughes: The English Musical Renaissance 1840–1940: Constructi­ng a National Music (Second Edition), Manchester 2002. Their book provoked controversy: see Alain Frogley: Review Article: Re-writing the Renaissance: History, Imperialism and British Music since 1840, in: Music & Letters 84 (2003), pp.  241–257. My argument intersects with Colin Eatock: The Crystal Palace Concerts: Canon Formation and the English Musical Renaissance, in: 19th-Century Music 34 (2010), pp. 87–105. Eatock argues that the Renaissance was powered also from below in that mass audiences at the Handel festivals in Chrystal Palace were able to make their musical preferences clear through “plebiscites” and “selection evenings”. It would be instructive, but beyond the scope of this essay, to compare British Handel reception ca. 1900 with the situation in France, where performances of the oratorios were infused with national feeling even after the French defeat in 1870. See Katharine Ellis: Interpreting the Musical Past: Early Music in Nineteenth-Century France, Oxford / New York 2005, chapter seven (Baroque Choral Music: The Popular and the Profound). 5 George Grove, founding editor of the eponymous dictionary, suggested in a speech written for the Duke of Albany in 1882 that the medieval song Summer Is Icumen In was “the germ of modern music”: Stradling / Hughes: The English Musical Renaissance (see note 4), pp. 28 f. 6 On Parry’s proposal that Bach, not Handel, was the wellspring of “evolved” music see Stradling / Hughes: The English Musical Renaissance (see note 4), pp. 36 f. 7 See ibid., pp. 98 f. and passim. 4

Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914

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Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914 The conductor Henry J. Wood (after whom today’s BBC Proms are named), the impresario Robert Newman and the Anglo-German banker Sir Edgar Speyer steered the Proms though most of their first twenty years.8 None of the three saw the Proms as an important forum in which to explore Handel’s music. In the twenty seasons between the first concerts at the 2,500-seat concert hall in West London and the outbreak of the Great War, Wood and his colleagues programmed Handel only sparingly. In this period works by the composer appear 259 times (see Table 1). 61 of these are performances of the famous “Largo” from Xerxes HWV 40 in an arrangement by Joseph Hellmesberger Sr. for violin, harp and string orchestra.9 Another twenty are made up by a single recitative and aria from Acis and ­Galatea HWV 49 (“I rage, I melt, I burn…O ruddier than the cherry” from Act II). By contrast, the Queen’s Hall Proms audience heard excerpts from Wagner’s Die Meistersinger 329 times in the same period. The Musical Times’s preview of the 1913 season gives a sense of Handel’s place in the pantheon of better-know composers that year. With ten performances he comes in last, tied with Schubert, Grieg and Elgar. The concert on 26 August 1913 is typical (see Table 3). The trumpet aria “Let the bright Seraphim” from Samson HWV 57 is sandwiched between two movements of Brahms’s second serenade and the world premiere of two of Cyril Scott’s orchestral poems.

For overviews of the history of the Queen’s Hall, later BBC Promenade Concerts, see David Cox: The Henry Wood Proms, London 1980; Jenny Doctor: The Parataxis of ‘British Musical Modernism, in: The Musical Quarterly 91/1–2 (2008), pp. 89–115; Jenny Doctor / Nicholas Kenyon / David Wright (eds.): The Proms: A New History, London 2007; and Robert Elkin: The Queen’s Hall, 1893–1941, London 1944. On Wood see Arthur Jacobs / Henry J. Wood: Maker of the Proms, London 1994. On Newman see Simon McVeigh: ‘An Audience for HighClass Music’: Promoters and Entrepreneurs in Late Nineteenth-Century London, in: The Musician as Entrepreneur, 1700–1914: Managers, Charlatans, and Idealists ed. William Weber, Bloomington 2004, pp. 179 f.; and Leanne Langley: Building an Orchestra, Creating an Audience: Robert Newman and the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1926, in: The Proms: A New History eds. Doctor / Kenyon / Wright, pp. 32–73. Speyer’s interesting place in London’s music history remains to be thoroughly explored. 9 This particular arrangement was long  a favourite of London concertgoers: it won almost twenty per cent of the votes in the 1880 “plebiscite” held at the Chrystal Palace to determine the public’s favourite pieces of music. See Eatock: The Chrystal Palace Concerts (see note 4), p. 100. 8

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Table 1. Performances of works by Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914. Opera titles represent performances of one aria only. There were 28 further performances of single works. Source: The Proms Archive, http://www.bbc.co.uk/proms/ archive, accessed 22 December 2014. Work

Number of Performances

“Largo” from Serse, HW V 40 (arr. Joseph Hellmesberger)

61

“I rage, I melt, I burn…O ruddier than the cherry” Acis and Galatea, HW V 49

26

“Let the bright Seraphim” from Samson, HW V 57 (arr. Henry Wood)

16

Judas Maccabaeus, HW V 63 (arr. Henry Wood)

13

Rinaldo, HW V 7 (arr. Henry Wood)

13

Berenice, HW V 38

9

Serse, HW V 40 (arr. Henry Wood)

9

Atalanta, HW V 35 (arr. Henry Wood)

8

Ezio, HW V 29 (arr. Henry Wood)

8

Jephtha, HW V 70 (arr. Henry Wood)

7

Scipione, HW V 20 (arr. Henry Wood)

7

Acis and Galatea, HW V 49

6

Giulio Cesare in Egitto, HW V 17 (arr. Henry Wood)

6

L’ Allegro, il Penseroso ed il Moderato, HW V 55 (arr. Henry Wood)

4

Semele, HW V 58 (arr. Henry Wood)

4

Sosarme, re di Media, HW V 30 (arr. Henry Wood)

4

Joshua, HW V 64 (arr. Henry Wood)

3

Partenope, HW V 27 (arr. Henry Wood)

3

Tamerlano, HW V 18 (arr. Henry Wood)

3

Water Music Suite No. 2 in D Major, HW V 349

3

Atalanta, HW V 35 (arr. unknown)

2

Concerto for Organ in B flat major, HW V 290, Op 4.2 (arr. Henry Wood)

2

Ezio, HW V 29 (arr. unknown)

2

Occasional Oratorio, HW V 62

2

Ottone, re di Germania, HW V 15 (arr. Henry Wood)

2

Rodelinda, regina d’e’ Longobardi, HW V 19 (arr. Henry Wood)

2

Serse, HW V 40 (arr. unknown for voice and piano)

2

‘Dettingen’ Te Deum, HW V 283 (arr. Henry Wood)

2

Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914

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Table 2.  Number of appearances in the 1913 Queen’s Hall Promenade Concerts Programme, by composer. Source: Occasional Notes, in: The Musical Times 54 (August 1913), p. 516. Composer Wagner

Number of Appearances on Programmes 116

Beethoven

41

J. S. Bach

24

Tschaikovsky

24

Saint-Saëns

20

Dvorak

17

Mozart

16

Mendelssohn

16

Brahms

16

Liszt

12

Richard Strauss

12

Weber

11

Berlioz

11

Handel

10

Schubert

10

Grieg

10

Elgar

10

60

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Table 3.  Queen’s Hall Promenade Concerts, 26 August 1913. Source: The Proms Archive, http://www.bbc.co.uk/proms/archive, consulted 22 December 2014. Part 1

Part 2

Otto Nicolai Die lustigen Weiber von Windsor Overture

Pyotr Ilyich Tchaikovsky The Nutcracker, Suite, Op 71a Frederick Kiddle, celesta

Johannes Brahms Serenade No. 1 in D major, Op 11 No. 4a Minuet I–Minuet II

Charles-François Gounod La reine de Saba Recitative & aria “Inspirez-moi, race divine…Prête-moi ton aide”, Act 2

George Frideric Handel Samson, HW V 57 (arr. Henry Wood)  Aria “Let the bright Seraphim” Act 3 No 26 Cyril Scott Poems (version for orchestra) Nos. 4 & 5 “Twilight of the year” (World premiere)  “Paradise birds” (World premiere)  Henry Vieuxtemps Concerto for Violin No. 1 in E major, Op 10 Herman Koenig, violin

Bedřich Smetana Má vlast No. 2 “Vltava” Cyril Scott Poems (version for orchestra) No. 5 “Paradise birds” (repeated by request) Richard Wagner Die Walküre “Walkürenritt” (orchestral synthesis) Act 3 Scene 1 Karl Goldmark Overture “In Italien”, Op 49 Eva Dell’Acqua Chanson provençale Agnes Christa, soprano Frederick Kiddle, piano Arthur Sullivan The Martyr of Antioch (arr. for voice and piano) Aria “Come, Margarita, come” Hardy Williamson, tenor Frederick Kiddle, piano Antonín Dvořák 8 Slavonic Dances, Op 46 No. 1 in C major

Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914

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Wood’s arrangement of the aria from Samson dates back at least to 1902 (the date it was first performed in the Queen’s Hall Proms).10 His score of this arrangement in the Henry Wood Collection at the Royal Academy of Music gives evidence of his approach to performing Handel. Woods orchestrated the piece for three flutes, two oboes, two clarinets, two bassoons, four horns, three trombones, timpani, organ and full strings.11 Sometimes Handel’s music offered contrast and novelty in the lighter second parts of Proms programmes.12 One suspects this was the case with the arrangement for euphonium and piano of the aria “Oh Ruddier than the Cherry” from Acis and Galatea. As we have seen, this work was the second-most performed work by Handel at the Queen’s Hall Proms up to August 1914. The arrangement for euphonium appears on the programmes of the Proms six times in this period. The first time was in 1902, in the second half of a programme that began with no less than seven significant excerpts from Wagner’s Tannhäuser, Tristan und Isolde, Siegfried, Die Walküre and Götterdämmerung, plus the Huldigungsmarch WWV 97 and two of the Wesendonck-Lieder. After all the noise of the first half Handel’s aria arranged for euphonium – a favourite instrument of the British brass-band movement – would have seemed both a moment of relative quiet and a return to the familiar, amusing and popular. In all six concerts the soloist was one Walter Reynolds, who made 167 appearances as a soloist at the Queen’s Hall Proms between 1898 and 1923, 165 of these in the period under discussion here.13 In this period the most iconic of all of Handel’s music, the Messiah, appears only once. On 19 August, five days after the outbreak of war, Woods added a performance of the bass aria “Why Do the Nations So Furiously Rage Together” between Schumann’s A minor Piano Concerto and Brahms’s First Symphony.14 A final instance of Handel reception at the Queen’s Hall Proms before 1914 is not reflected in these statistics. This is Wood’s own Fantasia on British Sea Songs, which includes a long quotation of “See, the Conqu’ring Hero Comes” from Judas Maccabaeus HWV 63 in the penultimate section, just before Wood’s setting of Thomas Arne’s “Rule Britannia”. The Fantasia appears  The Proms Archive, http://www.bbc.co.uk/proms/archive, consulted 22 December 2014. George Frederic Handel arr. Henry Wood: “Let the Bright Seraphim” from Samson HWV 57. GB-Lam MS 2455. 12 See Langley: Building an Orchestra (see note 8). 13 http://www.bbc.co.uk/proms/archive/search/performers/walter-reynolds/1, consulted 24 December 2014. 14 The Proms Archive, http://www.bbc.co.uk/proms/archive/search/1910s/1914/august-19/2413, consulted 30 December 2014. It is not clear how Wood ended this excerpt, which concludes on a half cadence before the chorus “Let us Break our Bonds Asunder”. 10 11

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Table 4.  Queen’s Hall Promenade Concerts, 3 September 1902. Source: The Proms Archive, http://www.bbc.co.uk/proms/archive, consulted 22 December 2014. Part 1

Part 2

Richard Wagner Huldigungsmarsch, WWV 97

Arthur Sullivan The Yeomen of the Guard, “Grand Fantasia” (arr. unknown)

Tannhäuser No. 1 Overture Tannhäuser No. 2 “Venusberg Music”, Act 1 Scene 1 Wesendonck-Lieder No. 3 “Im Treibhaus”

Amy Elise Horrocks “An Idle Poet” (Proms premiere)  Frederic Cowen Album of Twelve Songs Set 1 No. 10 “Love me if I live”

Wesendonck-Lieder No. 5 “Träume” George Frideric Handel Tristan und Isolde “Prelude and Liebestod” Acis and Galatea, HW V 49 (arr. for euphonium and piano) Aria “O ruddier than the cherry”, Act 2 (Proms premiere Siegfried No. 16 “Nothung! Nothung! Neidliches Schwert!” Act 1 Scene 3 of this arrangement) Walter Reynolds, euphonium Percy Pitt, piano Siegfried “Hoho! Hoho! Hohei!” Act 1 Scene 3 No. 17a Léo Délibes Naïla “Pas des Fleurs”, “Ciro Pinsuti” Die Walküre “Walkürenritt” (orchestral synthesis) Act 3 Scene 1 William Henry Squire Götterdämmerung “Dawn and Siegfried’s The Yeomanry Patrol Rhine Journey” (abridged concert version)

25 times in the programmes between its composition in 1905 and 1914. In this final season it was given four times, no doubt as an expression of the Proms’ patriotic fervour.15 Counted as Handel, Wood’s Fantasia counts as the third-most frequently performed of the composer’s works in this period at the Queen’s Hall Proms, behind only the “Largo” from Xerxes and the comic bass aria from Acis and Galatea.

The Proms Archive, http://www.bbc.co.uk/proms/archive, consulted 30 December 2014.

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Attitudes of Handel Reception in Britain, 1895–1914 The way Wood and his colleagues programmed Handel was entirely untypical of the composer’s place in fin de siècle Britain. Their Handel reception can only be understood in light of a spectrum of additional perspectives. These perspectives can be divided into six sometimes overlapping attitudes: “massive”, “popular”, “pious”, “antiquarian”, “tory” and “liberal”. I use these labels heuristically, as ideal types. Nonetheless I will argue here that performers, listeners and critics tended to construct their own Handel discourses in light of their commitment to, or experiences with, these perspectives. Massive Handel No form of Handel reception at the time was better known than the “massive”. Gigantic performances of the composer’s oratorios had played a central role in British concert life since the first performance with massed forces of the Messiah in Westminster Abbey at the Handel commemorations of 1784.16 Indeed, performances of the work were primary sites for the formation of British national sentiment in music. The triennial London Handel Festival of 1912, the last before war, was just the latest in a long and established tradition. Since the 1850s the Festival, which always included a performance of the Messiah, had taken place at the Chrystal Palace in South London, a huge structure of glass and steel that was built in Hyde Park for the Great Exhibition of 1851 and moved south across the Thames to Sydenham in 1854.17 Here it dominated the landscape – and increasingly the cityscape – until it was destroyed by fire in 1936. Concerts at the Festival were of staggering size. The choir consisted of over 3000 singers: many came in complete vocal ensembles from the provinces numbering hundreds each. The orchestra was about 500 strong, and a little more than half were amateurs. After 1906 the other half was provided by the London Symphony Orchestra, formed in 1904 by players from Wood’s Queen’s Hall Orchestra who were unable to accept the conductor’s stipulation that they attend all rehearsals and concerts themselves and not send deputies in their place.18 The Festivals consisted of a public rehearsal See William Weber: The 1784 Handel Commemoration as Political Ritual, in: Journal of British Studies 28/1 (1989), pp. 43–69. 17 See Michael Musgrave: The Musical Life of the Crystal Palace, Cambridge 1995; Annette Landgraf: Der Kristallpalast und seine Bedeutung für die Aufführung von Händels Musik, in: Händel-Jahrbuch 55 (2009), pp. 275–286 and Eatock: The Chrystal Palace Concerts (see note 4). 18 Musgrave: The Musical Life of Chrystal Palace (see note 17), p. 55. 16

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followed by three evening performances. At these, in addition to the Messiah, Chrystal Palace audiences heard one of the other canonical oratorios and a “selection evening” of lesser-known Handelian works. Provincial Handel festivals often followed the same structure, if with smaller forces. Although by 1912 sometimes the subject of critical dispute, such massive performances were by no means in decline. The anonymous critic at the Musical Times wrote of the 1912 festival: The great triennial Handel Festival […] once again proved that the immortal composer still maintains his extraordinary hold on the British public. Perhaps it would be safe to assert that he is still the most popular composer in the world.19

Popular Handel In the decades before 1914 British audiences heard Handel’s music in  a bewildering array of contexts. The core oratorio repertory sounded from tiny churches and chapels from Bournemouth to Aberdeen and in festival performances that rivalled the monstrous numbers at the Chrystal Palace. Across the United Kingdom audience experienced Handel daily, either in person in concerts and in church. They also read about him in the press. Table 5 lists 23 reports of Handel performances across Britain on one single day, 23 June 1900.20 Many of these texts inform readers about the triennial Handel Festival then taking place at Chrystal Palace; two mention a Café chantant to be held after hours there featuring the latest vaudeville performers from America. A number describe the use of Handel’s music in the funeral services for Catherine Glynne Gladstone, who was buried on 19 June 1900 in Westminster Abbey next to her husband the former Prime Minister William Gladstone. In one of the reports Handel himself, personified by his memorial, features as a listener surprised to hear something not from the Messiah: [the] music lifted up its voice once more, and Handel, on his monument in Poet’s corner, heard, for the nonce, not ‘I know that my Redeemer liveth’ but ‘Their bodies are buried in peace; their names liveth evermore’—strains which have given like assurance round many an illustrious grave since they were prepared for a Royal entombment.21 The Handel Festival, Crystal Palace, in: The Musical Times 53/834 (August 1912), p. 522. This cross-section is a result of a full-text keyword search for the term „Handel“ in the database British Newspapers 1600–1950, (http://gale.cengage.co.uk/british-newspapers-1600 1950.aspx, accessed 30 December 2014). Given the absence of results from major cities like Birmingham and Manchester it is likely that there were many more reports of Handel’s music in the British press that day. 21 The reference is to the Funeral Anthem for Queen Caroline HWV 264. The Late Mrs Gladstone, in: Cheshire Observer, 23 June 1900, p. 7. 19

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Other reports focus on the use of Handel’s music at the London Festival to stir patriotic feelings around recent British victories in South Africa. Table 5. Reports in the British press mentioning Handel, 23 June 1900. Source: British Newspapers 1600–1950 www.gale.cengage.co.uk/british-newspapers-16001950.aspx, accessed 30 December 2014. Title

Publication

Comments

“American Music Halls”

The Era (London), s.p.

Discusses vaudeville Performances held following the Handel Festival at the Café Chantant, Chrystal Palace

“Funeral of Mrs Gladstone”

North Wales Chronicle (Bangor), p. 3

“The Handel Festival” Leicester Chronicle and the Leicestershire Mercury, s.p. [no title]

The Bristol Mercury and Daily Post, s.p.

Short report mentioning that this year’s performance of Judas Maccabaeus at the Handel Festival was “in celebration of British victories in South Africa”

“Church Services for To-Morrow”

The Morning Post (London), p. 5

Music in London church services

“College Chapel Services”

Jackson’s Oxford Journal, s.p.

Music in college chapel services, Oxford University

“Concerts of the Week: Royal Society of Musicians”

The Era (London), s.p.

Report on the annual festival of the society mentioning Handel’s role in its foundation.

“Great Harwood and Rishton Notes”

The Weekly Standard and Express (Blackburn), p. 3

Reports singing of “See the Conquering Heroes Come” (sic.) at an annual choir sermon service in “commemoration of soldiers in South Africa”

“Our Musical Notes”

The Weekly Standard and Express (Blackburn), p. 8

“Handel Festival”

Cheshire Observer (Chester), p. 8

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Title

Publication

Comments

“Handel Triennial Festival”

The Era (London), s.p.

“Mr Manns Conducting”

The Penny Illustrated Paper and Illustrated Times (London), p. 388

“Mrs Gladstone’s Burial”

The Wrexham Advertiser, and North Wales News (Wrexham, Wales), p. 3

“Chester Triennial Music Festival”

Cheshire ObserPreview of 1900 festival to include perver (Chester), p. 8 formance of the Messiah.

“Handel Festival”

The Morning Post (London), p. 1

“Our London Letter”

Isle of Wight Ob- Report on Handel Festival server (Ryde), s.p.

“Our Musical Column”

The Weekly Stan­ dard and Express (Blackburn), s.p.

Cartoon of August Manns conducting at Chrystal Palace, with caption praising “fine passages of Judas Maccabaeus given to celebrate triumphs in South Africa”

Notice of that evening’s performance of Israel in Egypt at the Handel Festival, with advertisement of vaudeville performances to follow (see “American Music Halls”, above)

Report on Handel Festival

“The Handel Festival” The Leeds Mercury, s.p. “St Frideswide’s Organ”

Jackson’s Oxford Journal, s.p.

Report of the performance of Handel at the dedication of a rebuilt organ

“The Handel Festival” The Graphic (London), s.p. “The Late Mrs Gladstone”

Cheshire Observer (Chester), s.p.

“Theatrical Mems.”

The Bristol Mercury and Daily Post, s.p.

“With Pen and Pencil: The Leeds Mercury, s.p. Notes on Current Topics”

Report on Handel Festival

Report on Handel Festival

Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914

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Given such broad public interest it comes as no surprise that some reviews in the popular musical press read like reports of sporting events. In the Musical Times review of Henry Wood’s own performance of the Messiah at the 1912 Birmingham Music Festival, an anonymous critic offers readers a blow-blow account of Wood’s interpretative choices, complete with metronome markings and descriptions of dynamics (the reviewer notes Wood’s ending of the chorus “Surely he hath borne our griefs” with the “customary diminuendo”).22 The critic assumes a certain familiarity with the work, which is not a surprise when one considers how many of these readers would have sung the Messiah themselves. Nonetheless, colourful descriptions of particular moments are striking. At the end of the chorus “All we like sheep”, the reviewer writes, “the Adagio Coda by which Handel so gloriously redeemed the chorus from triviality was sung with gorgeous tone, if with no mood colour”.23 All in all, around 1900 the public resonance Handel’s music was of a breadth and depth unparalleled before or since. Pious Handel The “pious” connotations of Handel’s oratorios were another crucial element of his music’s appeal. By 1900 Handel’s music was clearly a vehicle of moral betterment for parts of the British public. The Rev. Hugh Haweis, who led a congregation in the fashionable Marylebone district of London, used a substantial portrait of Handel in his widely read book Music and Morals to defend music’s overall moral utility. Haweis presents Handel not as a genial artist, but as a simple, contented citizen: a paragon of religion and upstanding Christian moral character, “a man of inflexible integrity, of solid genius and sterling benevolence; a man fitted to cope with the puerilities of fashion, singularly generous to foes, singularly faithful to friends”.24 Such pious approaches to Handel’s music troubled critics like the young George Bernard Shaw. Shaw wrote in 1891 “that he had long since recognised the impossibility of obtaining justice for [the Messiah] in  a Christian country”. He would rather “import a choir of heathens, restrained by no consider-

The Birmingham Musical Festival, in: The Musical Times 53 (November 1912), pp. 722–27, here p. 723. 23 Ibid. 24 Hugh Haweis: Music and Morals, London 1871, pp. 140–228, here 221. On Haweis see Elizabeth Baigent: Haweis, Hugh Reginald (1838–1901), in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford University Press 2004 (http://www.oxforddnb.com/view/article/33763, accessed 30 December 2014). See also the discussion in Stradling / Hughes: The English Musical Renaissance (see note 4), pp. 6–8. 22

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ations of propriety from attacking the choruses with unembarrassed sincerity of dramatic expression”.25 The problem, for Shaw, was that Britons, who have all learnt the Messiah in church, don’t know about the real power of Handel’s music: […] we know rather less about him in England than they do in the Andaman Islands, since the Andamans are only unconscious of him, whereas we are misconscious. To hear a thousand respectable young English persons joggling through “For He shall purify the sons of Levi”, or lumbering along with “Hallelujah” as if it were a superior sort of family coach is ludicrous enough; but when the nation proceeds to brag of these unwieldy choral impostures, these attempts to make the brute force of a thousand throats do what can only be done by artistic insight and skill, then I really lose patience. Why, instead of wasting huge sums on the multitudinous dullness called a Handel Festival, does not somebody set up a thoroughly rehearsed and exhaustively studied performance of the “Messiah” with a chorus of twenty capable artists? Most of us would be glad to hear the work seriously performed once before we die.26

Antiquarian Handel As Shaw wrote these lines the first stirrings of an “antiquarian” approach to Handel were making themselves heard. The conductor Arthur Henry Mann, director of music at King’s College Cambridge, organised productions of the Messiah with original forces (that is not in Mozart’s or another arrangement) in the King’s College chapel starting in 1894.27 In 1914 the critic John F. Runciman, a Wagnerite in the Shavian mould, recalled: But when twenty or more years ago Dr. Mann gave the work at Cambridge the majesty of it, its dramatic power and sheer beauty were revealed, to me at any rate, for the first time. Mozart was discarded; as near as possible an approximation to the Handelian instruments was employed; and the relative sizes of chorus and band were more in accordance with Handel’s intention than ever had been the case before, though both were much larger. Neither Handel nor Bach had a choir of a hundred voices. Serious musicians at once saw the immense gain to the music; and since then Sir ­Frederick Bridge has followed Dr. Mann’s plan at the Albert Hall.28

George Bernard Shaw: Panto in Bristol, in: Shaw’s Music: The Complete Musical Criticism in Three Volumes ed. Dan H. Lawrence, London 1981, vol. II p. 245. Originally in: The World, 21 January 1891. 26 Ibid. 27 See Donald Burrows: Handel: Messiah, Cambridge 1991, pp. 52 f. 28 John F. Runciman: New Lamps for Old, in: The Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art 116 (1 November 1913), p. 551. 25

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Mann’s concerts did inspire some important advances in Handel scholarship, notably the rediscovery of the Foundling Hospital Messiah score.29 By themselves, however, it is difficult to imagine them as direct precursors of today’s “historically informed” performances. For one thing, despite Runcimann’s enthusiasm for Frederick Bridge’s interpretations, it took decades for such historical performances of Handel to have anything like the significant presence they enjoy in today’s concert life. The roots of today’s antiquarian Handel performance lie just as much in Oskar Hagen’s Handel opera renaissance in Germany after the First World War (and Edward Dent’s parallel productions in interwar Britain) as they do in Mann’s experiments. Indeed, Wood’s arrangements of individual numbers from Handel operas, created without antiquarian aspirations, are themselves early documents of the modern reception of Handel’s dramatic music. Tory Handel Perhaps the “antiquarian” approach found less resonance because of the unbroken tradition of Handel performance in Britain that went back to the composer’s death, often in socially exclusive contexts. The appreciation and performance of Handel’s music by upper-class connoisseurs had a long history that began with the amateur concerts of the “Academy of Antient Music” in the late eighteenth century.30 This tradition continued throughout the nineteenth, and was personified at the century’s end by the work and writing of the Conservative politician Arthur J. Balfour, Prime Minister from 1902–1905 and later, as wartime Foreign Secretary, author of the Balfour Declaration of 1917 supporting the foundation of a Jewish “national home” in Palestine. Balfour was a committed Handelian. In younger years he even personally guaranteed a performance of Belshazzar HWV 61 at the Albert Hall.31 Mary Gladstone, the Prime Minister’s daughter, recorded in her diary that the young Balfour’s response to a performance at Chrystal Palace was “so keen and intense as almost amounted to pain”.32 In 1887, several years after he had entered the House of Commons, he contributed a substantial essay on the composer to the Edinburgh Review that was Burrows: Messiah (see note 27), p. 53. See Weber: The Handel Commemoration as Political Ritual (see note 136) and William Weber: The Rise of Musical Classics in Eighteenth-Century England: A Study in Canon, Ritual and Ideology, Oxford 1992, chapter eight. 31 Kenneth Young / Arthur James Balfour: The Happy Life of the Politician, Prime Minister, Statesman and Philosopher, 1848–1930, London 1964, p. 28. 32 Ibid., p. 29. 29

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reprinted five years later in a collection of speeches and essays.33 Balfour’s Handel essay, which runs to more than seventy pages, deserves an article of its own.34 Balfour opens with a defence of the composer to charges of inferiority to J. S. Bach, conceding that Handel’s “characteristic weakness” was “towards melodious and facile, though always vigorous, commonplace”, but that Bach’s was “towards a crabbed and somewhat ungrateful treatment of his materials”.35 Balfour ascribes Handel’s facility to a need to be popular; in a long section he traces how Handel used the decline of Italian opera as a profit-making concern in London to change to the (for Balfour) more aesthetically valuable genre of oratorio.36 Balfour then uses this transition to oratorio to introduce a thorough discussion of the composer’s self-borrowing, with the aim of dismissing criticism such borrowing may elicit on aesthetic grounds.37 Balfour sees Handel as a deeply serious composer out of step with his frivolous times. Who would have guessed, he writes, that at the very moment Pope was producing the most finished of his satires, music should have been performed in London, which, in the qualities of imagination and sublimity, we cannot parallel in the literary world without going back to “Paradise Lost”.38

In the end, Handel’s value lies in the link to a glorious music past that endures despite the “evolution” of modern music. Against the odds, Handel’s unexpectedly remains of present concern without even a hint of antiquarianism: Artistic evolution will […] surely despoil us of the masterpieces of music. Let us, then, rejoice that we live in an age to whose ears the sublimest creations of the modern imagination, in the only art that owes nothing to antiquity, have not yet grown flat and unprofitable; that we are not driven to rake painfully among the ashes of the past in order to detect some faint traces of that fire of inspiration which once dazzled the world; that for us “Israel” and the “Messiah” are still “immortal”, because they live in our affections, not because the lie in honourable sepulture upon the shelves of our museums.39

The (unspoken) object of Balfour’s critique is a new critical orthodoxy in Britain whose primary tenet was “evolution” in music. Most of the prominent Arthur J. Balfour: “Handel” in Essays and Addresses by the Right Honourable Arthur J. Balfour, MP, LL.D, FRS, Edinburgh 1893, pp. 111–184. 34 To my knowledge the essay has never been discussed in the Handel literature. 35 Balfour: “Handel” in Essays and Addresses (see note 33), p. 143. 36 Ibid., pp. 144–153. 37 Ibid. 38 Ibid., p. 173. 39 Ibid., p. 184. 33

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spokesmen of this orthodoxy came from the ranks of the so-called English Musical Renaissance. As we have seen, one position protagonists of the Renaissance shared was a prejudice against Handel (and Mendelssohn, with whom Handel was often linked). Leading figures of the Renaissance found themselves torn between their training in Handelian and Mendelssohnian idioms and their sense that English music required new, more “evolved” models. Hubert Parry’s relationship with Handel was typical. On the one hand he was a strong proponent of the Bach revival, and composed a satirical pseudo-Handelian passage depicting the conservative pedantry of the god Jupiter in his first oratorio Prometheus Unbound, considered by contemporaries such Edward Elgar to be the inauguration of musical modernism in Britain.40 On the other there are many instances in Parry’s work that betray the continued influence of Handelian models.41 Perhaps Balfour’s venture into Handel scholarship, and his to view Handel whose music survives despite evolution, was motivated by a need to speak up against the values Parry and his colleagues in the Renaissance had begun to promulgate. This critique must have been born of dialog. Balfour knew Parry well. They were born in the same year and had been at Eton together. After university (Cambridge for Balfour, Oxford for Parry) the two met again as neighbours in London who shared a passion for music. Balfour, a man of very significant wealth, was preparing a career in politics; Parry worked for a time in the insurance business before devoting himself full-time to composition. In the year Parry wound up his commercial activities Balfour hosted a public evening of Parry’s music at his home in Carlton Gardens, a breakthrough for the young composer. They continued to meet each other socially and at official functions right up to Parry’s death in 1918.42 That they held opposing political and aesthetic views would have been obvious to both.

See Thomas Irvine: ‘Behold that twilight realm, as in a glass, the future.’ Charles Hubert Parrys ‘Prometheus Unbound’, eine musikalische Moderne für England?, in: Laurenz Lütteken (ed.): Der entfesselte Prometheus. Der antike Mythos in der Musik um 1900, (Kassel: forthcoming). 41 For instance the oratorio Judith: see Jeremy Dibble: C. Hubert H. Parry: His Life and Music, Oxford 1992, pp. 269–270. 42 See Dibble: C. Hubert H. Parry (see note 41), pp. 168–171 and passim. 40

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Liberal Handel By the eve of the war there was a sense among some observers that Handel had had his day. As the critic Cecil Cowper put it in 1914: The prevailing opinion abroad is still that the innate conservatism of England prevents her from surrendering her heart to any other than that old god, Handel. Fifty, nay forty years ago such an opinion was not altogether groundless. It was true, then, that the average music-lover did not question the supremacy of Handel. The composer of the “Messiah” was regarded as holding the position of  a musical Shakespeare, with Mendelssohn ranking as Tennyson. Wagner is the man who changed all that, more than anyone else. When more cultivated amateurs began to be enthusiastic about “Ring” Festivals, and the inhabitants of country halls and parsonages took tickets at their local Triennial Festival for the Wagner Selection day rather than for “Judas Maccabaeus”, the tide had turned. We can remember when the monster music-meeting at the Chrystal Palace agitated the breast of all musical England; when, for months before it was due, its delights where the subject of common conversation. This year it happens that we have not heard it mentioned by a single person, and it also the case that we have not known a single person who has attended the last three or four Handel Festivals (for we have not the honour of acquaintance with Mr. Arthur Balfour).43

One answer to such a critique would be to take a more liberal approach, such as the one Henry Wood and his colleagues took at the Queen’s Hall Proms. They placed Handel alongside other “great” composers – and among the moderns. Unlike the makers of the Handel Festivals, the makers of the Proms treated Handel as just one historical composer among many. Radical critics like Runciman, reviewing a performance at the Proms, were not convinced: Sir Henry Wood, I say, by his genius instinctively rendered this tremendous work [Mozart’s E-flat symphony] but in accompanying a Handel air he had just shown how this thing should not be done. “Sound an alarm”, with its inane preliminary recitative, is one of Handel’s tamest songs. When Handel composed “Judas Maccabeus” England was passing through a sort of Boer war frenzy. Britons never, never, never would be slaves. No one wanted them to be slaves; but they were sailing or tramping round the world asking the nations to try and make them slaves; they were like an Irishman inviting all and sundry to tread on the tail of his coat. Handel, a very astute German, therefore wrote us patriotic songs. Moreover Handel knew that even in his day there was a very considerable Jewish population in London; and he knew that in composing “Judas” he was composing a work that would draw numberless gentlemen who were anxious for others to go and fight – fight goodness knows who – for their

Cecil Cowper: Music, in: The Academy (6 July 1912), p. 16.

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lost country. The success of “Judas” justified him; but what interests us today is that to a stupid libretto Handel composed a long, uninspired oratorio full of a perfectly demoniacal energy; he had the war fever on him and he wanted the Jewish shekels. He got rid of the fever, I trust – at least he never tried the same thing again; and he certainly, as we have his own words to prove, got the Jewish money. So he wrote this rumpty-tumpty “Sound an alarm” – which served. Sir Henry Wood treated it as a fragment from “Tristan and Isolda”. I would not have believed so much false sentiment could have been infused into such a stale old piece of music.44

Runciman, as we have seen, approved of antiquarian attempts to revive Handel in more “original” guises. But he was clearly not impressed with Wood’s attempts to bring Handel into the otherwise “modern” world of the Queen’s Hall Proms, hence his displeasure (echoing Shaw’s critique of “lumbering” Messiahs) with Wood conducting Handel as if it were Wagner. He makes his displeasure all the clearer by couching it in harsh political terms, especially by accusing Handel of selling out to “Jewish money”. It is hard to tell if thus casual anti-Semitism was a consequence of Wagnerism, dislike for Wood’s wealthy German-Jewish patron Edgar Speyer or political prejudice against “jingoistic” Toryism of Balfour’s stripe, which Runciman claims to hear in this performance of Handel’s music. Perhaps it was all three. In any case, Runciman’s specifically political language suggests that politics was a legitimate subtext in Handel reception at the Queen’s Hall Promenade Concerts. For a critic like Runciman, this kind of Handel was neither politically nor aesthetically appropriate music in a setting where audiences were more likely to hear Mozart and Wagner.

A Handel for the Future? Wood and his colleagues seem not to have responded to this critique directly. They let their programming speak for itself. For its creators, the Queen’s Hall Proms served two purposes: raising national musical consciousness for the new (particularly Wagner and newer British composers) and finding a sensible place for the old. Wood and his colleagues no longer styled Handel as the figure of national musical identification. For them he was  a reminder of specifically British musical greatness worthy of the company of the most modern international composers. Their Handel was a familiar historical figure; he wrapped the Promenade Concerts’ modernity in  a reassuring national flag, comforting their audiences in between more bracing bouts of “modern music”. At the 44

John F. Runciman: Modern Classical Music, in: Saturday Review of Politics, Literature, Science and Art 116 (September 6, 1913), pp. 295 f., here p. 295.

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Proms Handel also entertained: hence the repetition of the familiar, sometimes in guises that even today’s most hardened historian of reception would recognise as trivial. In this essay I have proposed six strands of Handel reception as foils for the approach taken to Handel at the Queen’s Hall Proms. Each is a construction that draws on a particular sense of what Handel means historically. Those caught up in the popular and religious strands, unaware of their own ideological position, naturalised their practices of receiving Handel. Their Handel was a Handel of the “now”. Balfour’s Tory Handel shares this sense but leavens it with a portion of nostalgia for Handel’s immanent demise as “present” music. The antiquarian attitude, on the other hand, was intended as ideology critique. Critics like Shaw and Runciman applauded it for liberating Handel from the chains of his traditional reception. All of these reflected in sound the choices of concert organisers and the enthusiasm of the public, either in great numbers as at Chrystal Palace, fervent singing at a local church, or small groups of academic Handel lovers. The liberal positions position is, on the other hand, a symptom of critical debate about the place of Handel in the pantheon of great music and the role Handel has to play in musical practices of all kinds. Woods, Newman and Speyer avoided the touchstones of the massive, national Handel, concentrating instead mainly on a few familiar “hits” like the “Largo” from Xerxes. They only once programmed the Messiah, and then only in a tiny excerpt in a very specific circumstance. They certainly did not cultivate the pious attitude. Wood’s manner of re-scoring Handel alone was enough to make him enemies in the antiquarian camp. His commitment to modern music, above all Wagner, placed him in opposition to Tories like Balfour. If anything the Handel at the Proms on the eve of the Great War represented an attempt to make the composer palatable for liberal England: an England open to the modern, suspicious of traditionalists if not necessarily of tradition, moderate in religion and ready to be entertained.45 The liberal public wanted their Handel, to be sure, but they wanted him integrated into a wider pantheon of musical greats, as  a reminder of what had been but not  a blockade of what might come next. So Wood’s Handel was a historical composer, but also part of an entertaining evening. This finding is a challenge Merieon Hughes and Robert Stradling’s sometimes simplistic model of British musical life around 1900, namely that a coterie of powerful opinion-makers controlled it from positions in dominant institutions like the Royal College of Music. Wood and his colleagues operated at a 45

For an overview of British liberalism in the years before 1914 see George Dangerfield: The Strange Death of Liberal England, 1910–1914, New York 1935.

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distance from the professional networks in South Kensington. Especially in regard to Handel they were as likely to favour familiar comforts as they were to project Germanic seriousness. But Hughes and Stradling are right about Handel reception. At least at the Proms, it was in decline. The material I have presented here confirms their thesis this relative decline was an index of change. The Handel that emerges from the entanglement of Wirkung and Rezeption at the Queen’s Hall Proms foreshadows some, but not all aspects, of Handel reception today. As is now routinely the case, up to 1914 Handel at the Queen’s Hall Proms took on the role of a secular classical composer with a special national status. But the audiences there also had permission to experience Handel as popular – even trivial – entertainment in a concert setting. Wood and his colleagues freed their listeners from both the routine approach to Handel diagnosed by the liberal Shaw and the overbearing sense of aesthetic greatness articulated by Arthur Balfour. At the Queen’s Hall Proms performers and audiences allowed themselves, perhaps for the first time since Handel’s death, to enjoy Handel without national feeling, religious obligation or mass veneration. It is telling that only in a moment of national emergency did the Messiah – locus of so many discourses in British Handel reception – appear on the Proms programme, in the performance of “Why do the nations so furiously rage together” in August 1914. Today’s Handel is above all an artefact of the antiquarian approach, whose pre-war experiments blossomed into the revival of Handel’s operas after the war in both Germany and Britain and contributed directly to the historical performance movement that has dominated Handel performance since the 1960s. But Wood’s essentially liberal Handel echoes still, but mixed with Tory confidence in Handel’s musical immortality. Audiences today no longer have much of an opportunity to experience Handel in Wood’s manner, re-scored for a gigantic orchestra, and – dare I say it – it is a shame that no one has heard the famous “Largo” on the euphonium in a serious performance context for some time. But the cultural work Woods, with Newman and Speyer, did set the scene for a new approach. Working together with their audiences they found a way to save Handel, on the cusp of musical modernity, from collapsing the under weight of his own prestige.

‚niemand sonst konnte ein Volk singen lassen wie er‘: Maurice Bouchors Händel und der französische Kontext Inga Mai Groote (Fribourg) Auf den ersten Blick mag es überraschen, einen Literaten als Gewährsmann für musikalische Händelrezeption in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg aufzurufen, aber die Verbindung besteht und erlaubt Einblick in eine interessante intellektuelle Konstellation. Maurice Bouchor, der von 1855 bis 1929 lebte und im Musikleben noch am ehesten als Textdichter zu Ernest Chaussons 1892 beendetem Poème de l’amour et de la mer geläufig ist, gehörte literarisch unkonventionellen Zirkeln an und schrieb einige Texte für das Marionettentheater von Henry Signoret. Er beschäftigte sich zudem zeitweilig mit verschiedenen Religionen, engagierte sich in der Bewegung der Universités populaires und widmete sich ab Ende der 1890er Jahre besonders intensiv pädagogischen Projekten, vor allem der Zusammenstellung und Herausgabe von Liedsammlungen für die Schulen der Dritten Republik. Mit Händel befasste sich Bouchor intensiv und verstärkt in den Jahren kurz nach 1900 in einer Form, in der prononciert eine gesellschaftliche Agenda mit dieser Musik verbunden werden sollte, die für die Zeit um 1900 in Frankreich typisch ist. ‚Bouchors Händel‘ manifestiert sich daher in Form interessanter Adaptationen, nämlich indem er Musik Händels als Musik zu Schauspielen verwendet oder kontrafaziert, mit neu unterlegten Texten, in Chor-Anthologien aufnimmt. Ein Beispiel für diese aktualisierende Aneignung bildet die Schauspielmusik für ein allegorisches Drama von 1908 nach einem korsischen Volksmärchen, Il faut mourir.1 Hier wird der Aufzug der trauernden Freunde des Protagonisten unterlegt mit dem Trauermarsch aus Händels Saul, der in Frankreich seinerzeit wohl eines der bekanntesten und geschätztesten Stücke Händels war; für andere Momente der Handlung werden Nummern von Schumann, Mozart und Beethoven verwendet. Diese Form der Aneignung Händels aus der Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts soll im Folgenden genauer betrachtet und innerhalb der französischen Auseinandersetzung mit Händel kontextualisiert werden. Vorauszuschicken ist, dass für eine eventuelle kompositorische Anknüpfung wie auch für die ideelle Auseinandersetzung mit alter Musik mit dem franzö Maurice Bouchor: Il faut mourir. Drame en vers, en cinq tableaux, Poésie de Maurice B ­ ouchor, musique de Haendel, Rameau, Mozart, Beethoven, Schumann, Paris 1908.

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sischen Barock Modelle zur Verfügung standen, die stärker einen national geprägten Blick auf die Musikgeschichte förderten: Sie werden verkörpert in der Oper durch Jean-Baptiste Lully (solange man ihn nicht als Italiener sah) und Jean-Philippe Rameau, in der Klaviermusik etwa durch François Couperin und die französischen Clavécinisten – daher ist in Frankreich Händel in dieser Hinsicht viel weniger wichtig als besonders Rameau, der seit den 1890er Jahren neu ediert, immer wieder aufgeführt und auch zum Referenzpunkt in ästhetischen Diskussionen genommen wurde.2 Direkte kompositorische Reaktionen sind daher auch eher selten, die Mehrzahl der französischen Musikalien mit Händelbezug um 1900 sind – neben Ausgaben3 – Arrangements von Werken für Kammermusik- und andere Besetzungen, zum Teil mit Bezug zum bereits in Konzerten präsenten Repertoire.4 Daneben gibt es einige Orgelwerke, die von der Blüte der französischen Orgelschule und dem Bau von Konzertsaal-Orgeln ab 1878 profitierten. Die herausragenden Organisten wie Alexandre Guilmant oder Charles-Marie Widor spielten immer wieder in ihren Recitals einzelne Werke von Händel: Guilmant schrieb bereits 1861 eine Marche religieuse sur un thème de Handel5 über den Chor „Lift up your heads“ aus dem Messias – also ein Arrangement eines der gut bekannten Stücke – und einige Jahre später den Grand Choeur – Alla Händel aus op. 186, der den Duktus der Händelschen Chor-Märsche aufgreift. Eine ähnliche Bezugnahme auf diesen Schreibstil ist beispielsweise auch im Chor „Fêtons Ulysse“ aus der Schauspielmusik von Charles Gounod zu François Ponsards Ulysse (1852) zu beobachten. Bedeutsam für spätere französische Händel-Bilder sind diese Werke insofern, als sie die starke Dominanz der Oratorien in der Wahrnehmung seines Werks bestätigen. *

Vgl. zur Rameau-Rezeption Christine Wassermann: Die Wiederentdeckung Rameaus in Frankreich im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Musikwissenschaft 50 (1993), S. 164–186, und Catrina Flint de Médicis: Nationalism and Early Music at the French Fin de Siècle. Three Case Studies, in: Nineteenth-Century Music Review 1 (2004), H. 2, S. 43–66. 3 Vgl. die Zusammenstellung bei Herbert Schneider: Händel und Frankreich – Frankreich und Händel, in: Göttinger Händel-Beiträge 14 (2012), S. 23–49. 4 Beispielsweise Célèbre Menuet de F. G. Haendel. Transcrit pour piano par Camille Chevillard, Paris  1896 (E. & Cie. 2713), „Seule Edition conforme à l’Exécution des Concerts Lamoureux“. 5 Alexandre Guilmant: Pièces dans différents styles pour orgue, livraison 1, op. 15, Paris [1865], Nr. 2. 6 Alexandre Guilmant: Pièces dans différents styles pour orgue, livraison 4, op. 18, Paris [1866], Nr. 1. 2

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Doch zurück zu Maurice Bouchor:7 Er trat seit den 1870er Jahren als Literat in die Öffentlichkeit und gehörte verschiedenen Zirkeln wie den Hydropathes an, die sich gegen die idealisierte Kunstauffassung wie bei den Parnassiens bildeten. Später engagierte er sich aus einer laizistisch-sozialistischen Haltung heraus vor allem für die volksbildende und schulische Erziehung. Ein erstes nachhaltiges ‚Händel-Erlebnis‘ hatte Bouchor wohl im Jahr 1887, als er gemeinsam mit einem Freund nach Basel fuhr, um eine Aufführung von Israel in Egypt durch den Basler Gesangverein zu hören.8 Darüber publizierte Bouchor einen ausführlichen Bericht, der zugleich Werk- und Aufführungsbesprechung und persönliche Rechenschaft über das Erlebnis dieser Musik ist, wie gleich der Beginn mit seiner Idealisierung des Basel-Erlebnisses erkennen lässt: „Croyez-moi, Baille, prenons l’habitude de retourner dans cette hospitalière ville de Bâle, où il nous est permis de nous laver de toutes les turpitudes contemporaines qui nous écœurent dans l’un de ces grands fleuves de la musique, Bach ou Hændel, larges et sereins comme le fleuve des Amazones, sacrés comme le Gange et purifiants comme lui. Ne disons pas trop de mal de Wagner: contentons-nous d’échapper, fût-ce pour quelques heures, à son influence qui n’est pas toujours bienfaisante. Entre deux auditions d’un chef-d’œuvre riche en fugues immenses, regardons couler le Rhin, pâmons-nous devant le Saint Georges de la cathédrale ou devant le Saint Martin […]; étudions les dessins de Holbein, admirables de vie et de science, de force et de vérité; ne négligeons pas d’arroser de quelque vin rose le saumon du Rhin […] faisons résonner discrètement, dans le silence du musée gothique, l’épinette ou le virginal; esquissons le sujet de mainte fugue de Bach sur des touches creusées par les terribles galops d’anciens pandours du clavicorde; enfin laissons-nous vivre, respirons un air paisible, perdons tout souvenir des littératures et musiques faisandées dont le parfum vaut celui de certaines cuisines parisiennes à dix-neuf sous, […]. En ce béni mois de juin 1887, nous avons goûté la fraîcheur d’une de nos oasis de musique, […]. Car notre Paris ignore Hændel, malgré les belles exécutions du Messie et de Judas Macchabée, données par M. Lamoureux, il y a une douzaine d’années, et auxquelles, hélas! je n’assistais point, la lumière n’ayant pas été faite alors dans ma misérable cervelle. Pourtant j’abominais l’Opéra; ses pompes m’étaient en horreur, et cette instinctive répulsion trahissait une âme prédestinée. Je devais un jour m’épanouir à la musique, me passionner pour les fugues.“9

Für eine Werkübersicht: Qui êtes-vous? Annuaire des contemporains, notices biographiques, Bd. 3, Paris 1924, S. 101 f. 8 Das Konzert fand am 4. Juni 1887 im Münster statt, vgl. Rudolf Thommen: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens des Basler Gesangvereins, 1824–1924, Basel 1924, S. 50; seit Ende der 1870er Jahre waren mehrfach Werke Händels vollständig aufgeführt worden ( Josua, Herakles, Messias, Alexanderfest). 9 Maurice Bouchor: Israël en Égypte. Étude sur un oratorio de G. F. Hændel, Paris 1888, S. 7–9. 7

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Basel erscheint hier als Ort unverdorbener, reiner Kunst, der Besucher hört nicht nur das Händelsche Werk, sondern kann sich auch bei der Betrachtung des Flusses und der Kunstwerke alter Meister (nebst gutem Essen) erquicken; Basel bildet damit einen starken Kontrast zu ‚gut abgehangener‘ oder schon einen haut-goût habender Pariser Literatur. Bouchor fährt fort, Paris ignoriere Händel, trotz einiger guter Aufführungen bei den Konzerten von Charles Lamoureux zwölf Jahre zuvor (auf die noch einmal zurückzukommen ist). Selbst wenn Bouchor zugeben muss, die damaligen Aufführungen verpasst zu haben, betont er seine Abscheu vor der Oper, womit er eine klare ästhetische Positionierung als Distanzierung von einem wichigen Strang der französischen musikalischen Leitkultur vornimmt und sich stattdessen einer explizit antidekadenten Kunst zuwendet. Interessant ist Bouchors weitere Interpretation:10 er betont die historischen Grundlagen des musikalischen Werkes – hier: die Leiden der Israeliten unter der Herrschaft der Ägypter und die Befreiung –, die von den klagenden Chören des Beginns zur triumphierenden Freude am Ende des Werkes führt. Denn, so fährt Bouchor fort, damit mische sich idealerweise ‚das Ideale mit dem Realen‘, wie ‚in jedem großen Musikwerk‘. Ein derartiger Bezug zur Lebenswelt – gerade beim Hören ‚alter‘ Musik durch einen Pariser Musikkenner, der der Realität des Wagnérisme daheim dadurch gerade entgehen wollte – überrascht vielleicht, wird aber, wie im Weiteren zu sehen sein wird, eine Konstante in Bouchors Auffassung von Händel bleiben. Inwiefern war es 1887 tatsächlich notwendig, bis Basel zu fahren, um eine gute Aufführung eines Händelschen Oratoriums zu hören? Händel war in Paris im 19. Jahrhundert mitnichten völlig unbekannt. Betrachtet man das Konzertrepertoire, so erscheinen ab den 1830er Jahren immer wieder Auszüge, vor allem aus den wichtigsten Oratorien (Alexanderfest, Messias, Samson, Saul) – so „J’imagine qu’un nombre indéterminé de siècles après qu’eut été accomplie la délivrance d’Israël, il plut à Jéhova (ou encore à Dieu le Père) de se donner un spectacle idéal de cet événement, où il avait joué le rôle décisif. Il y a bien, dans les plaintes qui ouvrent l’œuvre magnifique, un accent de douleur poignante; mais on peut supposer que les patriarches, confesseurs et martyrs passés ou futurs, les saints et les saintes, les choeurs de Séraphins et de Trônes qui exécutèrent le sublime ouvrage eurent l’art de s’identifier avec les souffrances du peuple hébreu, écrasé par la pesante domination de l’Égypte. L’idéal se mêle ici merveilleusement au réel, comme dans toute grande œuvre musicale. Les choeurs relatifs aux plaies qui frappèrent la terre de Cham respirent à la fois une profonde terreur de la puissance divine et une joie sauvage de voir châtier le monstre des eaux, le pharaon blotti vainement sous les roseaux du grand fleuve, lui et tout son peuple de crocodiles. Mais le chant de triomphe de la fin est bien une transcription des joies de la terre faite à l’usage des armées du ciel; l’exultation en est à la fois humaine et divine, et quelles trompettes, je vous prie, autres que celles des archanges pourraient faire éclater ces cris de lumière et ces resplendissantes clameurs?“ (vgl. Bouchor: Israël en Égypte, [wie Anm. 9], S. 12 f.)

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wohl bei etablierten Konzertgesellschaften wie der Société des Concerts du Conservatoire als auch bei kleinen Veranstaltern und einigen großen Musik­salons.11 Vereinzelt erklangen auch andere geistliche Werke, in deren Wahrnehmung zuweilen die Monumentalität eine große Rolle spielte, zugleich aber auch eine Abgehobenheit von einem konkreten geistlichen Hintergrund; das illustriert etwa Hector Berlioz’ Kommentar 1840 zum Jubilate HWV 279 – Händel sei eine Art Hohepriester und seine Musik ein gewissermaßen objektivierter Ausdruck des Gotteslobs.12 In den 1860er Jahren kamen verschiedene große Werke hinzu, 1867 die Cäcilienode, 1869 die Brockespassion, 1872 Acis und Galatea. Daran anschließend begann die – von Bouchor erwähnte, aber nicht gehörte – Serie von Aufführungen unter der Leitung von Charles Lamoureux, einem der wichtigsten Dirigenten dieser Zeit in Paris, der verschiedene Konzertgesellschaften leitete. 1873 begründete er die Société de l’ harmonie sacrée und führte in den beiden folgenden Jahren den Messias und Judas Makkabäus auf, in neuen französischen Übersetzungen von Victor Wilder, einem Musikkritiker, der seit Anfang der 1860er in Paris verschiedene Zeitungen, unter anderem den Ménestrel, schrieb und uns eher als Wagner-Übersetzer geläufig ist. Dies waren Konzerte für ein großes Publikum, die im Cirque des Champs-Elysées stattfanden. Aufschlussreich für uns ist hier aber auch die Reaktion des Publikums: Diese Konzert stifteten ein Gemeinschaftsgefühl und wurden fast wie ein Kult erlebt (so Paul Valéry: „La musique produit artificellement ce que produisent les grandes joies ou les grandes tristesses publiques […] le concert Lamoureux était l’évènement hebdomadaire, qui sanctifiait les fidèles de l’art, et particulièrement les poètes“13) – gerade Händel dürfte für diese Art der Vergesellschaftung tatsächlich besonders geeignet gewesen sein.14 Überblickt man insgesamt die Entwicklung in der französischen Chor- und Alte-Musik-Bewegung, so war im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Verschiebung vom Repertoire des 16. zum 18. Jahrhundert zu erkennen, gewissermaßen von Palestrina zu Händel, wie es Katherine Ellis überzeugend analysiert hat,15 und diese Verschiebung war mit unterschiedlichen sozialen und ästhetischen Konnotationen verbunden: War die Musik des 16.  Jahrhunderts von Zum Überblick vgl. Katharine Ellis: Interpreting the Musical Past: Early Music in NineteenthCentury France, Oxford 2008, S. 82–110 u. 209–240, sowie Schneider: Händel und Frankreich (wie Anm. 3). 12 Zit. nach Schneider: Händel und Frankreich (wie Anm. 3), S. 37: „Haendel est un pontife, il lui faut les grands temples. Toujours noble, toujours calme, il chante sans passion. Sa religion est simple et sévère; elle ne s’abandonne jamais aux rêveries extatiques, aux joies de l’amour céleste: c’est à peine si elle prie; elle borne sa tâche à louer Dieu fort.“ 13 Zit. nach Schneider: Händel und Frankreich (wie Anm. 3), S. 39. 14 Vgl. dazu auch Beitrag von Annette Richards in diesem Band, S. 7–30. 15 Ausführlich Ellis: Interpreting the Musical Past (wie Anm. 11), v. a. Kap. 6 und 7. 11

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kleineren Amateur-Chören, häufig mit einem hohen Anteil von Angehörigen der Aristokratie und besseren Gesellschaft, oft auch aus dem katholischen Milieu, gepflegt worden, so wurde dagegen gerade das Interesse an Händel – der die auch tatsächlich leichter aufführbare Musik bot – von populäreren Chören und größeren Publikumsschichten getragen. Lamoureux’ Konzerte sind ein gutes Beispiel, Gesamtaufführungen von Oratorien blieben dennoch eher die Ausnahme. Bezeichnend ist etwa, dass 1891 die Société des Grandes Auditions musicales de France, die mit Unterstützung der Comtesse de Greffulhe, einer der wichtigsten Mäzeninnen ihrer Zeit, immer wieder große Projekte zugunsten ihrer Meinung nach zu wenig bekannter Musik unternahm, Israel in Egypt (ebenfalls in der Übersetzung Wilders) aufführte, fast zeitgleich mit Kampagnen für Wagner-Gesamtaufführungen. (1909 erschien unter ihrer Ägide auch noch ein Klavierauszug zu Saul, nun mit einem französischen Text von Bouchor.16) Händels Musik selbst bot sich auch aus französischer Sicht als ein Bild von männlicher Kraft und Reinheit dar; wegen ihrer kompositorischen Fasslichkeit – die Sätze sind nicht übertrieben kontrapunktisch, harmonisch nicht zu komplex – eignete sie sich als Gegenbild zu ‚modernen‘ Dekadenzerscheinungen und damit unter anderem zu wagnerisch-postwagnerischer Harmonik. Die Kritiker der 1870er und 1880er Jahre besprachen die Werke Händels recht konsistent in diesem Sinne.17 Die Wurzeln dieser Lesart reichen allerdings weiter zurück, bis zu den biographischen Darstellungen von Victor Schœlcher oder Maurice Germa in den 1860er Jahren: Händel wurde zugeschrieben, die geistliche Musik vermenschlicht zu haben (das ergab sich aus dem starken Gewicht auf den Oratorien), und seine Werke boten Vorbilder für Beständigkeit und Bestimmtheit, für Kampfesmut (diese im Moment recht grob gefassten Begriffe umreißen recht gut die vorherrschende Auffassung und bilden auch noch die Basis, um die Äußerungen um die Wende zum 20. Jahrhundert verstehen zu können) – und daraus ergab sich ihr großes Potenzial, im wahrsten Sinne des Wortes populär zu werden und aufklärerische und republikanische Ideen zu verbinden.18 Dass man 1887 nach Basel fuhr, ist daher verständlich, wenn man eine vollständige Oratorienaufführung hören wollte – dass man aber die Musik Hän Georg Friedrich Händel: Saül, oratorio en 3 parties, réduction au piano par Alexandre Guilmant, poésie française de Maurice Bouchor, Paris[1909]. 17 Vgl. Ellis: Interpreting the Musical Past (wie Anm. 11), S. 221–223. 18 Vgl. hierzu (mit ausführlicherer Behandlung der älteren und deutschen Rezeption) auch Anselm Gerhard: Auf dem Weg zur ‚Kantate des ganzen Menschengeschlechts‘. Voraussetzungen und Folgen der Rezeption, in: Gudrun Busch, Laurenz Lütteken (Hg.): Händel-Rezeption der frühen Goethe-Zeit (= Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft 9), Kassel 2000, S. 209–236, v. a. S. 228–234.  16

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dels als kongenialen Ausdruck allgemein-menschlicher Situationen und Empfindungen verstand und seine Musik als erhebend, rein und nicht dekadent empfand, ist ein Gedanke, mit dem Bouchor im Pariser Milieu insgesamt nicht allein stand. Auf der beschriebenen Basis konnte um die Wende zum 20.  Jahrhundert und gerade im Werk von Bouchor eine starke ‚Pädagogisierung‘ Händels stattfinden; gemeint ist damit die Anwendung dieser populären Qualitäten der Händelschen Musik zum Zweck der Popularisierung, der Vermittlung von Werten. In diesem Kontext ist außer Bouchor auch Romain Rolland zu erwähnen, der ja nicht nur Pazifist und Literat war, sondern in einem wichtigen Maße auch Musikschriftsteller und Musikwissenschaftler: Er hatte als Dissertation die Operngeschichte von Lully bis Scarlatti behandelt, schrieb 1903 eine Beethoven-Biographie und veröffentlichte 1908 eine Serie von Komponisten­ essays, Musiciens d’autrefois und Musiciens d’aujourdhui, daneben aber auch einen imposanten Musikerroman, Jean-Christophe, in dem die Karriere eines Musikers nachgezeichnet, aber auch eine Vielzahl anderer Themen möglichst detailliert und implizit didaktisch abgehandelt wurde. Daneben war Rolland Verfasser der kompakten und zahlreiche Übersetzungen und Neuauflagen erlebenden Biographie Händel (erstmals 1910 erschienen).19 Rolland lernte Händels Musik 1884 mit Auszügen aus dem Alexanderfest kennen, also ähnlich wie Bouchor.20 Daneben pflegte er bekanntlich eine sehr idealisierte Zuneigung zu Deutschland, dessen Tradition für ihn von Goethe und Beethoven ver­körpert wurde; daneben hielt er zwar Händel und Gluck hoch, aber beide waren natürlich Musiker, die trotz deutscher Herkunft vor allem in anderen Ländern wirkten. In jedem Fall interessant ist, dass der Autor die Musik zu einem über sich hinausweisenden Zweck benutzt – ähnlich wie bei Marcel Proust die musikalischen Verweise zur Erkundung seiner Gefühlswelt dienen und damit introvertiert bleiben, ist bei Rolland eine Wendung nach außen festzustellen, wobei die Musik zu einem Kommunikationsmittel mit der Welt wird.21 Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass sich Rolland für Musik bei Massenveranstaltungen interessierte, gerade in Gestalt der revolutionären Volksfeste („J’aime cette sorte de paganisme révolutionnaire, ces divinisations d’hommes, ces chants de gloire et de liberté dans une église désaffectée. La

Romain Rolland: Haendel, Paris 11910. Vgl. Schneider: Händel und Frankreich (wie Anm. 3), S. 42. 20 Alain Corbellari: Les mots sous les notes: musicologie littéraire et poétique musicale dans l’œuvre de Romain Rolland (=Histoire des idées et critique littéraire 462), Genf 2010, S. 26. 21 Vgl. Corbellari: Les Mots sous les notes (wie Anm. 20), S. 50 (unter Berufung auf Dominique Fernandez). 19

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Marseillaise et les musiques triomphales de Berlioz me plaisent sous ces voûtes pompeuses“22); hier scheint eine deutliche Parallele zu Bouchors Position auf. Diese Art von Engagement schlägt sich nun auch in Rollands Händel-Biographie nieder, die wie seine Musiker-Essays von einer gewissen Ambivalenz geprägt ist: Auf der einen Seite sind die Darstellungen historisch gut dokumentiert und das Ergebnis wissenschaftlicher Beschäftigung mit ihren Gegenständen, andererseits tritt darin jedoch Rollands eigenes Programm sehr deutlich zu Tage.23 Und dieses besteht im eben erwähnten Engagement der Musik für die Gesellschaft (hier ist nicht der Ort, um über Rollands sonstige Aktivitäten zu sprechen, aber dass sein Einsatz als engagierter Intellektueller für Frieden und Völkerverständigung in ähnlicher Weise seine Schriften prägt, liegt auf der Hand). Für Rolland ist Händel der ideale Künstler (man kann in der Realität an Beethoven, in der Fiktion an die in Jean-Christophe entworfene Figur denken), da er in seiner Kunst Werte vermitteln kann.24 Er wird für Rolland zum fast perfekten Modell, da er Kraft und Schlichtheit seiner Musik mit wenn nicht Weltbürgertum, so doch zumindest mit ausgeprägtem Europeanismus verbindet: Rolland spricht von Händels gesundem Genius („grande santé du génie“), von Kraft und Energie, durch die sich seine Musik von der Produktion der barocken Zeitgenossen, etwa von der nur auf ‚plaisir‘ zielenden Kunst eines Reinhard Keiser, unterscheiden würde. Zudem sieht Rolland in Händels Karriere, in der Ablösung vom aristokratischen Mäzenat, einen Schritt zur Popularität, zudem hat sie wahrhaft europäische Dimensionen (im Unterschied zu Bach, der auf die deutsche Kultur beschränkt bleibt), aufgrund derer sich eine universalere Zugänglichkeit seiner Werke ergibt, die ein gewissermaßen ‚objektiveres‘ Niveau erreichen und deshalb zum Fortschritt der Menschheit beitragen könnte. Nach Rollands Ansicht braucht Fortschritt Erneuerung, die aber nur aus dem Volk kommen kann, wohingegen Eliten für ihn die Dekadenz verkörpern, die die Verbesserung gerade verhindert: Deshalb kann Händel als ‚volkstümliche‘ Kunst besonders gut wirken. Händel galt für Rolland – geradezu prometheisch – als „une sorte de Beethoven enchaîné“25. An diese Lesart schliesst sich nun recht gut Bouchors Umgang mit Händel in seinen pädagogisch-ethischen Umtextierungen an; unter seinen jüngeren Publikationen finden sich zahlreiche Theaterstücke mit Musik oder An-

Zit. nach Corbellari: Les Mots sous les notes (wie Anm. 20), S. 59 (zu Hugo-Gedenkfeier). Vgl. zum im Folgenden resümierten Händelbild Rollands Timothée Picard: La figure de Haendel dans l’ imaginaire littéraire. Autour d’une étude de Roman Rolland, in: Etudes Rollandiennes 22 (2009), S. 5–24. 24 Vgl. Picard: La figure de Haendel (wie Anm. 23), S. 8. 25 Romain Rolland: Haendel, Paris 1975, S. 159. 22 23

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thologien für den Gebrauch besonders in Schulen26 und ähnlichen Kontexten, etwa der Arbeiterbildung.27 Wichtig für seine Händel-Adaptionen ist vor allem der Zyklus Le Poème de la vie humaine, eine vierteilige Anthologie von Chorstücken, die zum überwiegenden Teil Textierungen von Werken des 18. und 19.  Jahrhunderts sind und dabei eine bemerkenswert hohe Anzahl von Auszügen aus Werken Händels bieten. Hinzu kommen Sätze von Jules de Brayer, einem auch mit Debussy befreundeten Organisten und Mitarbeiter des Dirigenten Charles Lamoureux, der in diversen Projekten Bouchors für die musikalischen Anteile verantwortlich zeichnete. Dass Händels Musik eine besondere Rolle zukommt, ist daran zu erkennen, dass die Anzahl seiner Sätze in den letzten Teilen des Werkes zunimmt, die sich stärker mit Idealen und Werten beschäftigen,28 während die ersten beiden Teile eher mit dem Lebenslauf und der realen Lebenswelt befasst waren. Die allerletzte Stelle, ein Chor über die Einigkeit des Menschengeschlechts, ist allerdings mit dem Finale aus Beethovens Fidelio besetzt. Maurice Bouchor, Le Poème de la Vie humaine [in 4 Teilen]: Première série. De la naissance au mariage, Paris (Siné) 1902 Deuxième série. La Cité. Musique de Haendel, Beethoven, Gossec, Méhul, ­Schubert, Mendelssohn, Schumann; Mélodie alsacienne. Transcriptions par Jules de Brayer, Paris (Siné) 1905 Troisième série: De l’Age viril jusqu’ à la mort. Musique de Bach, Haendel, Gluck, Haydn, Mozart, Lesueur, Schubert, Schumann, Mélodie anglaise. Transcription par Jules de Brayer, poème de Maurice Bouchor, Paris (Siné) 1903 Quatrième série: L’Idéal. Musique de Bach, Haendel, Rameau, Beethoven […]; Transcription par Jules De Brayer, poème de Maurice Bouchor, Paris (Siné) 1906 Für den Bereich des Theaters ist das ‚laizistische und soziale‘ Mysterienspiel A la recherche d’un juste von 1903 typisch (wiederum in Zusammenarbeit mit Brayer);29 auch dort wird eine Nummer aus einem von Händels Oratorien,

Zu Bouchours Liedern für die Schule vgl. Bernard Cousin: L’Enfant et la chanson. Une histoire de la chanson d’enfant, Paris 1988, v. a. S. 130–147. 27 Vgl. Stephen Leberstein: Schools of Revolt: Syndicalist Education and Workers’ Culture in Pre‐ World War I France, in: Paedagogica Historica. International Journal of the History of Education 35 (1999), S. 23–39, hier S. 33. 28 Dass dies von Bouchor beabsichtigt ist, geht aus seinem Kommentar zu La Cité Nr.  IX, „Liberté“, S. 55, hervor, wonach gerade im vierten Teil, L’Idéal, der Anteil von Händel noch einmal steigen werde. 29 Maurice Bouchor: A la recherche d’un juste. Mystère laique et social par Maurice Bouchor. Partition. Musique transcrite ou composée par Jules de Brayer, Paris [1903]. 26

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„The people that walked in darkness“ aus dem Messiah, eingebunden, wobei der Grund für die Auswahl im für die Situation im Drama passenden Text zu suchen ist. 1 Prélude: Händel 2 Sortie de François: Mélodie populaire 3 Sortie du Seigneur Dieu et de Guillaume: Händel II. Tableau 4 Prelude: Noël Français 5 Sortie de Saint Pierre: depuis le même Noël 6 Entrée de la Mort: d’après Mozart 7 Sortie de Guillaume: J. de B. 8 Sortie de la Mort: d’après Mozart III. Tableau 9 Prélude: Händel [„The people that walked in darkness“] 10 Changement de décor: Beethoven 11 Mélodrame: J. de B. 12 Sortie de Guillaume: J. de B. IV. Tableau 13 Prélude: J. de B. 14 Chanson finale, solo et chœur à l’unisson: Air de M. B. Waren schon Bouchors Theaterstücke häufig fabelartig auf bestimmte archetypische menschliche Situationen konzentriert, so zeigt sich gerade im Poème de la vie humaine die Verbindung der Stationen eines Lebenslaufs mit dazu passenden verallgemeinernden Betrachtungen, nun allerdings ohne gesprochenen Text, sondern in Form einer Anthologie von Chorsätzen. Dabei wird die beschriebene Auswahl- und Kontrafakturpraxis erheblich umfassender umgesetzt, verbunden mit der Vermittlung eines recht expliziten sozialpolitischen und ethischen Programms. In diesen Sammlungen kommen daher auch wichtige Strömungen der Erziehungspolitik der Dritten Republik mit Bemühungen gerade im Schulgesang und der Volkserziehung zusammen, wie sie der überzeugte Republikaner Bouchor grundsätzlich vertrat  – dass sich gerade Händel für eine derartig laizistische Lesart eignete, zeichnete sich schon an den zuvor erwähnten Beispielen ab. Aber auch abgesehen von Bouchors Person ist im französischen Schulwesen zu dieser Zeit eine gründliche Neuausrichtung nach republikanischen Idealen festzustellen: Anfang der 1880er Jahre hatte der Ministerpräsident Jules Ferry wichtige Gesetze und Projekte auf den Weg gebracht, um das Schulwesen kirchenunabhängig zu machen; seine Reformen zielten daneben auf kostenfreie Zugänglichkeit der Bildung und möglichst breiten allgemeinen Schulbesuch. Immer wieder wurde in diesem Kontext gerade

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dem gemeinsamen Singen großes Gewicht zugemessen.30 Musik wurde als Pflichtfach installiert, und man versuchte gerade den Schullehrern auch eine hinreichende musikalische Ausbildung mitzugeben, damit sie mit ihren Klassen singen konnten. Besonders in den Jahren um 1900 erschienen zahlreiche Vokalmusik-Anthologien für den Schulgebrauch; etwas später zunehmend auch Sammlungen von Volksliedern verschiedener Regionen (gipfelnd 1917 in der – übrigens ebenfalls von Bouchor und Brayer besorgten – Anthologie de la chanson populaire française, anglaise et russe, die die militären Bündnispartner musikalisch miteinander vereinte31). Anhand von Bouchors Publikationen lässt sich dem nun hinzufügen, dass auch Auszüge aus dem klassischen Repertoire dabei eine wichtigere Rolle spielen sollten. Die Konzeption und die Stückauswahl in Poème de la vie humaine werden von Bouchor in einem ausführlichen Vorwort kommentiert, sowohl im Hinblick auf die Stücke selbst als auch auf ihre Ausführung; diese Vorworte sind für die Lehrer oder Chorleiter bestimmt, die die Stücke einüben. Einige dieser Kommentare können die typischen Auffassungen hinter Bouchors Projekt verdeutlichen: „L’Espérance du peuple“ (in II: La Cité, s. Anhang Nr. 1)32 ist eine Neutextie­ rung von „The people that walked in darkness“ (dem Satz aus dem Messias, der auch in A la recherche d’un juste verwendet wurde), „Nos maîtres nous ont dit quittez un fol espoir“. Hier beginnt der Kommentar mit dem Hinweis auf die Universalität Händels, der Chor sei ‚eine Welt‘. Bouchor betont die Klarheit der Händelschen Komposition, die allerdings von den Ausführenden gründlich zu erarbeiten sei, so wie auch die dramatische Wirkung der Generalpause zwischen erstem und zweitem Teil  unbedingt zu berücksichtigen sei. Inhaltlich handele es sich um die Beschreibung einer im Leiden verhafteten Welt, bevor die Hoffnung triumphierend beschworen werde; hierfür zieht der Autor einen Vergleich zwischen der Vielstimmigkeit des Chores und der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle mit ihren Propheten und Sibyllen, verweist also auf ein älteres Meisterwerk der bildenden Kunst, um die Wirkung der Polyphonie zu beschreiben.

Zum Überblick vgl. Michèle Alten: L’ introuvable identité disciplinaire de la musique scolaire en France sous la IIIe République, in: Paedagogica Historica: International Journal of the History of Education 40 (2004), S.  279–291. 31 Maurice Bouchor: Anthologie de la chanson populaire française, anglaise et russe, avec une introduction. Paroles et mélodies transcrites par Maurice Bouchor. Harmonisations par Jules de Brayer, Paris 1917. 32 Maurice Bouchor: Le Poème de la Vie humaine [in 4 Teilen], Paris 1902–1906, hier II La Cité, S. 20 (zu Nr. XVIII). 30

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In anderen Fällen ist die Verknüpfung zwischen der Situierung im ursprünglichen Werk, dem historischen Hintergrund und einer Anwendung auf die Gegenwart noch stärker, so in „Le Cri du peuple opprimé“ (II, s. Anhang Nr. 2).33 Hier thematisiert Bouchor den historischen Abstand zwischen der Zeitebene des Stoffes (Judas Maccabaeus, der allerdings bereits politisch lesbare Parallelen zum Jakobitenaufstand 1746 bot) und der Entstehungszeit der Komposition, der aber dadurch überwunden werde, dass die zum Ausdruck gebrachten Ängste von Händel in allgemein-menschlicher Weise ausgedrückt worden seien; daraus lässt sich implizit die universale Gültigkeit der Händelschen Musik auch für Bouchors Gegenwart ableiten. Das Verhältnis von ‚modernen‘ Verhältnissen und ‚alter‘ Musik kommt noch pointierter bei einem zur Feier des 14.  Juli bestimmten Stück, „Liberté“ (s. Anhang Nr.  3)34, zur Sprache. Hier tritt Bouchor einem feierlich-steifen Bild des Komponisten ‚mit Perücke‘ entgegen. Diese Wahrnehmung sei verursacht durch schlechte Kenntnis und schlechte Aufführungen, liege aber auch in seiner Gesundheit, Kraft und Geradlinigkeit begründet, die den wohl als dekadent zu verstehenden Eigenschaften der ‚modernen‘ Musik (Chromatik, Modulationen, Nervosität und Komplexität) gegenübergestellt werden. In Wahrheit jedoch sei Händel dazu in der Lage, die Empfindungen der Gemeinschaft wirkungsvoll auszudrücken (hierher stammt das titelgebende Zitat: niemand habe ein Volk so sprechen, singen oder schreien lassen können wie Händel in seinen Oratorien), weshalb Bouchor ihm ebenfalls moderne kollektive Empfindungen zugewiesen habe, wobei es nicht um einen hübschen, sondern den wahrhaftigen Ausdruck gehe; daher sei Händel zu volkstümlicher Großartigkeit („Popularité dans la grandeur“) fähig. Dass es allerdings nicht ausschließlich um kollektive Emotionen geht, sondern auch menschliche Regungen eines Individuums in Händels Musik allgemeingültigen Ausdruck gefunden haben können, wird beispielsweise an „Salut tombeau“ (III, s. Anhang Nr. 4) deutlich,35 auf die Arie „Shall I in Mamre’s fertile plain“ des Caleb aus Josua, die als ruhiger, tiefempfundener Abschied beschrieben wird. Auch hier werden damit aufführungstechnische Hinweise verbunden, das Stück kann solistisch oder chorisch aufgeführt werden. In L’Idéal (Le Triomphe du peuple)36 kommt Bouchor noch einmal auf die historische Situation von Händel selbst zurück, auf die Tatsache, dass er aufgrund der Aktualität seiner biblischen Stoffe und der kräftigen Fröhlichkeit als Deutscher zum englischen Nationalkomponisten werden konnte. Bouchor be Bouchor: Le Poème (wie Anm. 32), II La Cité, S. 19. Bouchor: Le Poème (wie Anm. 32), II La Cité, S. 17. 35 Bouchor: Le Poème (wie Anm. 32), III De l’Age viril jusqu’ à la mort, S. 31 f. 36 Bouchor: Le Poème (wie Anm. 32), IV L’Idéal. 33

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richtet aber auch von seiner eigenen Wahrnehmung der englischen HändelFestivals (so eine Aufführung des Judas Maccabaeus in Whitechapel), bei denen er die demokratischen Qualitäten von Händels Musik, die sich gerade nicht nur an aristokratische oder snobistische Kreise richtete, zu schätzen gelernt habe. Daneben werden wiederum Judas Maccabaeus (dort Hymne an die Freiheit), der Marsch aus Rinaldo für einen 1.-Mai-Chor sowie Nummern aus dem Messias für besinnliche und freudige Betrachtungen („He shall feed his flock“, „For unto us a child is born“) herangezogen. Insgesamt ist in der Konzeption von Le Poème de la vie humaine zu erkennen, wie archetypische Lebensstationen behandelt werden, verbunden mit Stücken, die Werte wie Freiheit oder auch Menschenrechte vermitteln sollen. Bouchor greift dabei auf den Kanon der klassischen Musik zurück, von Bach und Händel über Gluck, Mozart, Haydn und Beethoven bis Schumann; diesen überwiegend ‚deutschen‘ Komponisten werden allerdings wichtige nachrevolutionäre Franzosen (Lesueur, Gossec, Méhul) beigesellt, durch die massenwirksame Traditionen wie die Revolutionsfeiern evoziert werden. Die Chöre und Gesänge können damit eine doppelte Funktion erfüllen – einerseits machen sie mit Ausschnitten aus Meisterwerken vertraut, andererseits kann mittels zumindest zum Teil bereits bekannter Musik über die Texte ein ethisch-moralisches Programm vermittelt werden. Gerade die Verbindung von Händels Musik mit Idealen von Klarheit und Kraft und deshalb auch Popularität bestätigt sich dabei auch implizit, wie eine von Rolland wiedergegebene Anekdote über Bouchors HändelPflege illustriert: Ein Chorleiter habe zunächst einen Chor zu unbestimmt und weich singen lassen, da er von einer geradelinig-kräftigen Ausführung befürchtet hätte, sie sei ‚zu populär‘.37 Dass ausgerechnet Händel dabei die Rolle desjenigen zukommt, der universelle menschliche Regungen und ganz besonders kollektive Empfindungen artikulieren könne, entspricht der republikanischen Lesart Händels bereits im späten 19.  Jahrhundert, wurde von Bouchor allerdings noch einmal pädagogisch aktualisiert und in eine Art an­gewandte AlteMusik-Schule umgeformt.

Romain Rolland: Musiciens d’aujord’ hui, Paris 81919, S. 264: Maurice Bouchor raconte cette anecdote typique: „Le chef d’une bonne chorale d’hommes, que j’avais priée d’exécuter un chœur de Hœndel, y mettait je ne sais quoi de mou et d’indécis; je lui en glissai timidement l’observation, en essayant de faire ressortir ce qu’il y a de franchise et de carrure dans l’idée musicale: – ‚Ah! très bien, me dit-il, si c’est ça que vous voulez, c’est facile; je craignais que ce ne fût trop populaire‘.“

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Anhang Kommentare Bouchors zu Händel-Sätzen in Le Poème de la vie humaine 1. La Cite, Nr. XVIII. L’Espérance du peuple „Ah! ah! voici encore notre Haendel! Ce chœur formidable est un monde. Tout cela est merveilleusement ordonné, clair, limpide; mais je ne dis pas que, pour le rendre tel à l’auditeur, il ne faille pas travailler. Particulièrement dans les passages fugués, où les parties s’enchevêtrent d’une façon si touffue, où il y a vraiement à boire et à manger, il faut que chacun soit bien sûr de son affaire, pour que tous les dessins entrecroisés restent nets et que l’ensemble se dégage lumineux. Oui, un monde… Un monde en travail, d’abord, un monde en souffrance, dans ce sombre début en ut mineur; puis un frémissement court dans la masse, il y a des espérances mêlées d’angoisses, de brusques élans, des cris, de terribles impatiences… Un brusque silence de deux temps; puis encore deux temps de silence, pour attaquer l’ère nouvelle, qui en aura quatre. Cela fait quatre temps à compter, dans un silence absolu, un anxieux silence de l’accompagnement comme des voix. Ne trichez pas, je vous en prie, m’abrégez pas: l’attente est longue, mais il faut qu’elle le soit. Et puis, brusquement, large et clair, éclate le magnifique majeur à quatre temps, le choral splendide sur lequel nous crierons notre foi, presque notre victoire. Ensuite, c’est un prodigieux enchevêtrement de ce choral, passant d’une partie à l’autre, avec la grande phrase à vocalises, qui ondule joyeusement, comme un sillon de lumière. On ne se lasserait pas de chanter ni d’écouter; mais il faut pourtant finir. Alors les voix se ramassent de nouveau, se dispersent en fusées rapides, se concentrent une dernière fois pour clamer les vastes accords de la fin… Ah! mes enfants, si tout à coup les prophètes et les sibylles de Michel-Ange se mettaient à chanter au plafond e la Sixtine, je crois bien qu’ils chanteraient ça! Tonnerre! Quelle musique! […]“ 2. La Cité, Nr. XI. Le Cri des nations opprimées „Le peuple hébreu, Judas Macchabée, la musique de Haendel, tout cela, me dira-t-on encore, est bien lointain. Et vous y associez – par voie d’allusion – des événements aussi modernes que le massacre des Arméniens, les conquêtes coloniales, les beautés de la récente expédition de Chine… Très bien, répondrai-je; mais la musique de Haendel est de deux mille ans plus jeune que les événements évoquées par elle d’une façon si émouvante: cela vous gêne-t-il? Moi, pas du tout. Dans son large cœur d’homme, qui avait un sentiment profond des grandes passions de la foule, de ses angoisses, de ses colères, de ses joies, le maître a re-

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trouvé l’accent d’un peuple en détresse; et croyez-vous qu’un autre peuple en détresse, à deux mille deux cents ans d’intervalle, crie bien différemment? Hændel a écrit comme on écrivait au dix-huitième siècle, c’est entendu, mais comme ‚on‘ y écrivait quand ‚on‘ avait du génie, et le sien en particulier; telle page de son œuvre  a vieilli et sent l’époque, c’est encore entendu; mais telle autre, où l’analyse retrouverait pourtant des éléments analogues, est restée aussi jeune, aussi vivante, aussi expressive que lorsqu’elle fut créée; peut-être est-elle mieux comprise aujourd’hui, et la beauté en est-elle plus saisissante, justement parce que l’on voit à quel point elle date peu, malgré le temps écoulé! Et bien, je m’empare de cette page, et à mon tour je fais crier les nations que l’on égorge par rapine ou par point d’honneur, comme il faisait crier d’autres nations, comme des nations anciennes avaient réellement crié… Et puis après? Trouvez-moi donc, dans ce chœur d’une si poignante émotion, une ligne qui sente le scolastique, une mesure qui ne vive pas, qui ne palpite pas, qui ne crie pas d’angoisse et de pitié!“ 3. La Cité, Nr IX : Liberté! Chant pour le 14 juillet „Dans cette partie, si moderne par le sujet, de notre Poème, une large place a été faite au vieux maître Haendel. Voilà qui surprendra les personnes – il y en a beaucoup en France, parmi celles qui s’occupent de musique – persuadées que Haendel est un compositeur uniformément solennel, une perruque très vénérable, mais enfin une perruque. Il doit cette fâcheuse réputation auprès de certains, d’une part, à ce qu’il est souvent mal connu et mal exécuté chez nous; d’autre part, à ses qualités mêmes de santé, de robustesse, de franchise, de carrure. Avec lui pas de chromatisme douloureux, pas de modulations à outrance, pas la moindre névrose, pas de ‚modern style‘ alangui et compliqué; […] J’ai confié à Haendel l’expression de sentiments très modernes, quand ils étaient puissamment collectifs. Personne, à mon avis, n’a su faire parler, chanter, crier un peuple comme l’auteur de Judas Macchabée et d’Israel en Egypte. Dans l’interprétation des œuvres du maître, il ne faut rien d’étriqué, de mesquin; cela va sans dire; essayer de le rendre ‚joli‘ serait absurde; Haendel est large et grand; mais il ne faut pas non plus s’évertuer à le faire solennel quand il ne l’est pas. Il faut palpiter et pleurer avec lui dans cette sublime lamentation qui est devenue notre Cri des nations opprimés; il faut être joyeux, cordial, populaire avec lui dans notre Liberté! Popularité dans la grandeur.“ 4. De l’Age viril jusqu’ à la mort, Nr. XVI. Salut, tombeau! „Plus que jamais je dois éviter les incursions dans le fond de mon sujet, qui devient ici – jusqu’à la fin du volume – une méditation devant la Mort. On sait à peu près comment on entre dans un sujet de cette nature; mais comment on en

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sortira, c’est une autre affaire. Donc, réservant pour le futur commentaire du Poème de la Vie humaine ce que j’essaierai de dire sur cette question, je vais parler musique uniquement. La force et la grandeur sont les plus évidentes qualités de Haendel: cette double marque du maître est puissament empreinte sur l’air de Caleb (extrait de Josué) qui est devenu notre: Salut, tombeau! Grandeur faite de simplicité; force pleine de calme, de douceur, de beauté. C’est d’une âme sereine que le vieillard ‚plein de jours‘ dit adieu à la vie, ne laissant paraître l’attendrissement de son âme qu’à ces paroles: O mes enfants… […] Et c’est d’ailleurs sans tristesse qu’il bénit ses bien-aimés, comme il bénit la vie en la quittant […].“

Schiller trifft Händel im „Mythos Weimar“: Zu einem Sonderfall der Händel-Rezeption des frühen 20. Jahrhunderts Christiane Wiesenfeldt (Weimar-Jena) Selbst in ihrem einzigen gemeinsamen Lebensjahr 1759 hätten sich der Dichter Friedrich Schiller und der Komponist Georg Friedrich Händel nicht be­gegnen können: Der Komponist starb am 14. April mit 74 Jahren hochbetagt in London, und erst am 10.  November des Jahres erblickte der zukünftige Dichter in Marbach am Neckar das Licht der Welt. Beide repräsentieren auch in ihrem Schaffen grundverschiedene, scheinbar anschlusslose europäische Zeitalter: feudalistisch, mondän und patriarchalisch das eine, humanistisch, fragil und aufklärerisch das andere. Verbunden waren beide Protagonisten und beide Zeiten indes  – neben vielem anderen  – durch eine besondere Affinität zum Mythos, eine Affinität, die sich in der Wahl mythischer Sujets in ihrer Kunst ebenso niederschlug wie in der sie umgebenden Inszenierung historischer, institutioneller und staatlicher Mythisierung, freilich jeweils anders akzentuiert und mit einem anderen Blick auf das Phänomen, sei es als (oft ironisch ge­ brochener) Spiegel machtpolitischer Realität (bei Händel) oder als lebensnahes Lehrstück mit Erkenntnispotenzial (bei Schiller). Der Mythos bzw. die Inszenierung des Mythos schlägt sodann auch die Brücke von diesen beiden Protagonisten und ihren Zeiten zu dem Themenkreis um 1900: Hier, in einer neoromantischen Phase der Fragilität mit fin-desiècle-Gefühl, Eskapismus und einschüchternder Moderne, wurde – wie oft zuvor – der Mythos zum Hort der Realitätsflucht, zur Folie reflexiver Selbstvergewisserung, zum Emblem nationaler Identifikation und nicht zuletzt (wieder einmal) zum sehnsuchtsvollen Ideal eines versunkenen Paradieses stilisiert. Dass dies alles zusammen eine verlässliche Trägerschicht für die ab den 1920er Jahren sodann boomende Händel- und Schiller-Rezeption wurde, ist breit erforscht, ebenso die Verformungen und Auswüchse, die diese annehmen konnten. Weniger deutlich wurde bislang, inwiefern der Mythos selbst, als in der Geschichte immer wieder reaktivierter Reflexionsraum von Kunst, gleichsam als Konstante gewandelte Geschichte spiegeln kann, wie also die kreative Neuverwertung mythischer Figuren auf den Kunstbegriff der Zeit rückschließen lässt. Mythos kann schlicht ornamental eingesetzt werden, als mythisierte Legendenerzählung glaubensbildend wirken, er kann über seinen Gegenstand selbst mythologisieren (und damit rational wirken), und er kann sich

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demonstrativ anti-mythisch verhalten. Und er kann nicht zuletzt selbst zum Mythos werden. Ein solcher Moment, in dem historische Mythenrezeptionen unterschiedlicher Zeiten aufeinandertreffen, und in dem der Mythos im Mythos in­szeniert wird, und das alles in einem erneut mythosaffinen Raum stattfindet, mit Hang zur mythischen Inszenierung und mythologisch reflektierenden Interpretation, entsteht am 14. Mai 1905 (vgl. Abb. 1). Wie in einem Brennspiegel werden an diesem Tag im Deutschen Nationaltheater in Weimar zwei Zeitalter in die Jetztzeit katapultiert, treffen Händel und Schiller dann doch noch im Mythos zusammen: zunächst inhaltlich, denn beide haben sich  – 1744, sodann 1780 – der Sagenfigur Semele angenommen, sodann medial, denn aus Oratorium und Schauspiel wird ein Hybrid geschmiedet, und schließlich ideologisch als Vehikel deutscher Ideale in der Klassikerstadt Weimar, die insbesondere um 1900 massiv um ihre eigene kulturelle Mythologisierung bemüht war. An diesem Semele-Ereignis 1905 lassen sich sowohl Konstanten, Brüche als auch Paradoxa deutscher Kunstpflege am Vorabend des ersten Weltkrieges exemplarisch aufzeigen. * * * Bereits die Uraufführung von Händels Semele am 10. Februar 1744 im Covent Garden legte mit ihrer verwirrenden Gattungsdefinition von Händel selbst – „after the manner of an Oratorio“  – den Grundstein für eine bis heute an­ haltende Debatte, ob es sich denn bei dem Stück um eine Oper oder ein Oratorium handele. Konzipiert als musikalisches Drama war es weder eindeutig eine Oper, da nicht szenisch gedacht und komponiert, noch aufgrund des weltlichen Themas ein Oratorium. Zugleich zeigte es sich musikalisch ebenfalls zwitterhaft: Verweisen die zunehmend zurückgehenden, aber bedeutungsvollen Chorpartien auf eine Tendenz zum Oratorium, lassen die 14 Da capo-Arien von insgesamt 25 an die Oper denken; hinzu kommt ein stets kommentierender Charakter der Musik, nicht nur in den Rezitativen, was für beide textgebundene Gattungen zumindest ungewöhnlich ist. Der Biograph Mainwaring versuchte 1760 eine definitorische Balance, indem er Semele als „an English Opera, but called an Oratorio“1 betitelte, was wenig hilfreich war. Der Katalog der heute nachweisbaren Bezeichnungen umfasst des Weiteren Drama, Oratorio Masque, Baroque Music Drama, Choral Opera, English Opera, Logical Oratorio, Secular Oratorio, Mythical Oratorio.2 John Mainwaring: Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel. To which is added a catalogue of his works, London 1760, S. 152. 2 Vgl. Todd S. Gilman: Handel’s Hercules and its Semiosis, in: The Musical Quarterly 81 (1997), S. 449 f. 1

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Abb. 1: Theaterzettel des Großherzoglichen Hoftheaters Weimar, 14. Mai 1905 (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar Nr. 2114, Bl. 180; Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

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Dass Zeitzeugen wie der Earl of Egmont, der das Stück zweimal hörte, „called it an opera on the first night and an oratorio ten month later“3, trug ebenso wenig zur Lösung des Gattungsdilemmas bei wie Silke Leopolds Kompromissvorschlag eines „Hördramas“.4 Das Werk war insgesamt ein Problemfall und für den Komponisten ein bitterer Misserfolg: Schon eine frühere Fassung des Librettos von William Congleve – basierend auf Ovids Metamorphosen (III. Buch, 253–315) – wurde von John Eccles vertont, dessen Werk nie zur Aufführung gelangte. Newburgh Hamilton überarbeitete das Libretto sodann für Händel, der weniger breite Opernszenen wie Eccles, sondern  – wie erwähnt  – eine musikalische Zeichnung der Charaktere, Seelenbewegungen und Handlungen anstrebte. Nach nur sechs Bühnenpräsenzen, allesamt 1744 (viermal Covent Garden, zweimal Haymarket), verschwand Semele für fast 100 Jahre aus den europäischen Theatern, bis Julius Rietz das Werk 1842 in Düsseldorf wiederaufführte. Nach der Publikation 1860 im Rahmen der Händelausgabe Chrysanders gelangte es immerhin 1874 in Halle, 1878 in Cambridge, 1907 in Karlsruhe, 1913 wiederum in Halle und 1923 in Leipzig auf die Bühnen, bevor endlich seine erste szenische Aufführung 1925 in Cambridge stattfand.5 Die Weimarer HybridAufführung von 1905 wird nirgends erwähnt  – sie ist bislang unbeachtet geblieben. Aber auch mit ihr ist Händels Semele selbst im so Händelaffinen frühen 20. Jahrhundert kaum als Erfolgsgeschichte zu verbuchen. Händels Semele bietet im zentralen Erzählstrang die Geschichte von Jupiter / Zeus, der eine seiner vielen irdischen Liebschaften (eben Semele)  durch eine Intrige von Göttergattin Juno / Hera einbüßt. Letztere tarnt sich und überredet Semele, von Jupiter als Beweis seiner Liebe die Unsterblichkeit einzufordern, ihn also in seiner wahren Gestalt zu erblicken, was  – wie Semele nicht wissen kann – ihren Tod bedeutet. Es kommt dazu, Semele stirbt den Tod der Irdischen, das Götterpaar findet zusammen, die alte Ordnung ist wieder hergestellt. Semele schenkt zuvor noch dem Freudenspender Bacchus das Leben und hinterlässt damit ein lebensbejahendes Moment: lieto fine. Insgesamt also eine Geschichte einer im Wortsinn un-möglichen Beziehung, die sich über den ihr zukommenden Status einer Liebschaft erheben will und daran scheitert: die Postulierung eines feudalistischen Idealzustandes. Dass Händel damit

Winton Dean: Handels Dramatic Oratorios and Masques, London 1995, S. 365. Silke Leopold: Booklet zu Semele, Deutsche Grammophon 1984, S. 24. 5 Nach dem Händel-Lexikon (Laaber 2011, S. 678) wurde Händels Semele erstmals 1937 szenisch gegeben, Hans Joachim Marx nennt in seinem Band Händels Oratorien, Oden und Seneraten (Göttingen 1998) indes schon eine szenische Aufführung in Cambridge aus dem Jahre 1925 (vgl. S. 214). 3 4

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möglicherweise auf die seinerzeitige Liebschaft des englischen Königs anspielte, gibt dem Stück eine restaurative Note, ist aber sicher nicht der Grund für sein Scheitern auf der Bühne. * * * Schillers 1780 um fast 40 Jahre später entstandene Semele, die ebenfalls auf Ovids Metamorphosen fußt, ohne dass Schiller Händels Entwurf gekannt haben kann, ereilte ein noch drastischeres Bühnenschicksal: Sie wurde zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht aufgeführt und gelangte erst 1900 in Berlin erstmals in Szene, sodann 1905 in unserem Weimarer Kontext. Ähnlich wie bei Händel gibt es auch hier eine, vom Schöpfer selbst nicht ganz unverschuldete Gattungsdiskussion: Schiller bezeichnete seine Semele im Erstdruck als „lyrische Operette“, was nach Gottsched eine kleine Oper für höfische Aufführungen in Anlehnung an die Serenata ist.6 Der im Titel explizit gemachte Musikbezug äußert sich in dem als „Arie“ bezeichneten Anfangsmonolog der Juno, einer sogenannten „Sinfonie“ zwischen den Akten (also wohl einer „Zwischenaktmusik“) sowie im zweiten Teil in Hinweisen auf nicht-diegetische Musik wie: „Die Musik begleitet die Erscheinung“ (von Zeus’ Regenbogen-Zauber) oder „Musik begleitet hier und in Zukunft den Zauber“ usw. Dass es dennoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dauerte, bis ein Komponist (Franz Curti) sich daran machte, aus dem Stoff eine Oper zu kreieren, könnte man mit Ludwig Finscher damit erklären, dass Schiller hier bereits selbst den Versuch unternommen habe, „die sinnliche Macht der Musik in Worte und Verse umzusetzen“, also „eine aus Worten komponierte Oper“ zu schaffen.7 Nichtsdestotrotz bleibt die reine Versmaßanalyse diesbezüglich problematisch, zu sehr ist auch Schillers Semele von ihren Affekten gefangen, die sie (zu oft) aus dem metastasianischen Maß treten lässt. Die Rezeption hatte – wie Schiller rückblickend auch selbst – mit diesem Stück ihre Probleme. Karl Grün kritisierte sie 1844 im Vergleich mit Goethes Iphigenie als „unplastisch“ und „stümperhaft“8, und noch 1914 verurteilte Alfred Heuß Schillers Stück als „triviales Jugendwerk“, als „Travestie“.9 Erst Jahr Vgl. dazu Ludwig Finscher: Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers ‚Semele‘, in: Schiller und die höfische Welt, hg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack, Tübingen 1990, S. 148–155. 7 Ebd., S. 153. 8 Karl Grün: Friedrich Schiller als Mensch, Geschichtsschreiber, Denker und Dichter, Leipzig 1849, S.  497 f.: „Jeder gebildete Leser, der die Mythologie versteht und Göthes [sic] ‚Iphigenia‘ kennt, darf die ‚Semele‘ nur lesen, um ihrer ganzen unplastischen Stümperhaftigkeit innezuwerden.“ 9 Alfred Heuß: Das Semele-Problem bei Congreve und Händel, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 15 (1913), S. 143–156, hier: S. 146. 6

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zehnte später konnte Thomas Mann Semele in seinem berühmten Vortrag ‚Versuch über Schiller‘ zärtlich „meine erste literarische Liebe“10 nennen, und heute gilt Schillers Stück in den Worten des Germanisten Peter André Alt als „weiblicher Prometheus“, als Heldin „mit der düsteren Aura des Opfers“.11 Anders als bei Händel ist Schillers Lesart der Semele konzentrierter und neu akzentuiert. War Jupiter bei Händel mit dem Potentaten und dessen Mächterelevanz assoziiert, dem die bürgerliche Geliebte anmaßend fordernd gegenübertritt, ist Jupiter bei Schiller eine Figur mit Empfindungen und Neigungen (Z. 435  f.: „Was Allmacht, Ewigkeit, Unsterblichkeit, ein Gott? / Ohne Liebe?“), und er durchleidet die unabwendbare Bestrafung seiner Geliebten merklich. Ein lieto fine wird vermieden, indem das nur zwei-szenige Stück mit Semeles Tod und nicht etwa Bacchus’ Geburt schließt – ein durchweg deprimierendes Ende. Ein mythischer Modellfall wird zum aufgeklärten Lehrstück umgedeutet, der Mensch zerbricht am Götterwesen, der Gott fühlt sich zum Irdischen magisch hingezogen. * * * Was die Weimarer bewogen hat, zur Jahrhundertfeier von Schillers Todestag am 9. Mai 1905 ausgerechnet Schillers und Händels Semele in einem Hybriden zusammenzuführen, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Möglicherweise muss man sich mit dem pragmatischen Grund zufrieden geben, nach dem Schillers Stück nach zeitgenössischem Usus schlicht eine Schauspielmusik benötigte, die man bei Händel extrahieren zu können glaubte. Eine Weimarer HändelPflege gab es bis 1900 so gut wie nicht, in einer Stadt, die mit Johann Sebastian Bach (neben zahlreichen anderen Namen) genügend kulturelle Identifikationsmodelle ihr Eigen nennen konnte. Was auch der Grund gewesen sein mochte: 1905 erging an Ferdinand Hummel in Berlin der Auftrag, aus Händels Semele eine brauchbare Schauspielmusik zu erstellen. Das eingesandte Ergebnis, heute im Bestand des Thüringischen Landesmusikarchivs, weist folgenden Titel auf (vgl. Abb. 2): „‚Semele‘ von Georg Friedrich Händel / für die deutsche Bühne, zu Schillers Dichtung ‚Semele‘ / eingerichtet u. bearbeitet / von Ferdinand Hummel“. Zusatz: „Dieses Exemplar ist nur für die Großherzogliche Hoftheaterbühne zu Weimar bestimmt! Das Exemplar darf weder verkauft – verschenkt noch verliehen werden!“ Die Exklusivität musste garantiert werden – dieses Sondermodell war nur für Weimar bestimmt, wo es immerhin bis 1911 sechsmal gegeben wurde.

Thomas Mann: Nachlese. Prosa 1951–1955, Frankfurt a. M. 1956, S. 118. Peter André Alt: Schiller, Leben, Werk, Zeit, München 2000, 2 Bde., hier: Bd. 1, S. 238.

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Abb. 2: Semele von Georg Friedrich Händel / für die deutsche Bühne, zu Schillers Dichtung Semele / eingerichtet u. bearbeitet / von Ferdinand Hummel (Hochschularchiv / Thüringisches Landesmusikarchiv DNT 669a; Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Wie ging Hummel vor, um die so ganz unterschiedlichen Konzepte zu vereinen? Zunächst wäre denkbar gewesen, sich allein auf Händels Akte 2 und 3 zu beziehen (unter Auslassung des lieto fine), um jene Musik zu verwenden, die inhaltlich mit Schillers Handlung am ehesten korreliert. Händels 1. Akt han-

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delt von Semeles Entführung durch Zeus und kommt bei Schiller so nicht vor. Auch bieten Händels insgesamt 85 Nummern (auch abzüglich der ersten 26 aus dem 1. Akt) reichlich Stoff, um die beiden Szenen bei Schiller musikalisch einzufassen. Hummel indes beginnt vorn, zunächst bei der Ouvertüre (vgl. Tabelle), von der er den dritten Teil, die Gavotte, ersatzlos streicht. Das mag im ersten Moment einleuchten, da der frohe Tanzcharakter bei Händels Handlung sich nicht zu Schillers düsterer Finalkonstruktion fügt. Indes spiegelt die Dreiteiligkeit bei Händel weniger den dreiteiligen Plot (Entführung und Liebe – Intrige und Tod – Restitution der herrschenden Verhältnisse), sondern die drei sozialen Ebenen des Stückes: Maestoso (Zeus), Allegro (Semele)  und Gavotte (Götter), oder drei Temperamente: Maestoso (aufstrebende Semele), Allegro (niederwerfende Realität) und Gavotte (Restitution der Verhältnisse). So gesehen ist die Streichung nicht unbedingt zwingend für Schillers Lesart, allerdings womöglich auch dem Zeitfaktor einer ansonsten zu großen Kopflastigkeit geschuldet. Den ersten Hinweis auf Musik gibt Schiller sodann mit dem Begriff „Arie“ beim ersten Auftreten der empörten Juno selbst. Hummel wählt als Entrée der ersten Szene die verkürzte Variante von Händels Nr. 2 aus dessen Akt 1, geht also strikt chronologisch vor. Bei Händel war dies ein „Accompagnato der Priester“, die erschreckt von der sich plötzlich bewegenden Juno am Altar zurückweichen: „Behold! Auspicious flashes rise, Juno accepts our sacrifice; The grateful odour swift ascends, And see, the golden image bends!“12

Dies hat freilich mit der bei Schiller zu Beginn im Tonfall einer „Arie“ monologisierenden und Ränke schmiedenden Juno nichts zu tun, auch wenn Hummel hier den Sprechtext Junos teilweise in die Musik integriert. Die Serie der Brüche setzt sich fort. Die nur insgesamt sieben von Hummel bei Händel extrahierten und in Schillers Handlung integrierten musikalischen Passagen machen nicht nur einen Bruchteil seines Werkes aus, sondern dekonstruieren weitenteils seine Handlung, seine Charakterzeichnung, vor allem den subtil skizzierten Text-Musik-Bezug. In Weimar gerät dieses schauspielmusikalische Modell zum beliebigen Setzkastenprinzip: So wird das an Nr. 6 benötigte 19-taktige „Erdbeben“, zu dem auch Schiller Musik vorschlug, von Hummel aus Händels Nr. 15 aus dem 1. Akt extrahiert, ursprünglich ein

12

Georg Friedrich Händel: Semele. An oratorio 1744. Melville 1860, 1. Akt, 1. Szene, S. 1.

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Tabelle: Synopse der Fassungen von Händels Semele (1744) und Händels Semele in der Weimarer Fassung Hummels von 1905 Händel (Originalausgabe 1744)

Händel (nach Hummel, 1905)

1. Overture a) Maestoso b) Allegro c) Gavotte

Nr. 1 Ouvertüre a) Maestoso b) Allegro [Gavotte entfällt]

Nr. 2 Largo – Pomposo (12 Takte) 2. Largo e pomposo (23 Takte) (Accompagnato Priester: „O seht, die hei- (Juno: „Hinweg den geflügelten Wagen“) lige Glut flammt auf“) 3. Chorus of Priests

[entfällt]

[…] 14. Recitative Nr. 15 Chorus of Priests (19 Takte) (Chorus: „Fort, fort, lasst ab, das Opfer zu begehen“)

Nr. 6 Presto (19 Takte) [„Erdbeben“]

16. Recitative

[entfällt]

[…] 24. Recitative 25. Chorus of Priests and Augurs (64 Takte) (Chor: „Heil, heil, heil, König heil!“)

Nr. 3 Allegro (40 Takte + neuer 5-taktiger Schluss) (Juno: „Horch, ihre Tritte“ ... [Semele:] „Die Sonne neigt sich schon“)

26. Air and Chorus

[entfällt]

[…] 33. Accompagnato 34. Air (63 Takte) (Juno: „Fort, fort, Iris, fort von hier“)

Nr. 4 Arie [Sinfonia] (63 Takte) (dazu: 23 Takte Überleitung, mit Orgel)

35. Air

[entfällt]

[…] 49. Chorus of Nymphs and Swains 50. Sinfonia (18 Takte)

Nr. 5 Sinfonia [„Musik beim Erscheinen des Regenbogens“] (9 Takte) (Semele: „O unaussprechlich glücklich wär’ / Die Tochter Kadmus’, wärst Du Zeus – O weh! / Du bist nicht Zeus!“)

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Händel (Originalausgabe 1744)

Händel (nach Hummel, 1905)

51. Accompagnato

[entfällt]

[…] 74. Air Nr. 6a (4 Takte) [„Nacht“, Wiederholung aus der Ouvertüre] Nr. 75 Accompagnato (14 Takte ...) (Jupiter: „Weh, wohin eilt sie nun“)

Nr. 7 Largo und piano (14 Takte ...) (Zeus: „O diese Rose stirbt“)

Nr. 8 Largo (... 18 Takte) [Nr. 75] Piano e largo (... 18 Takte) (Jupiter: „Dahin, dem raschen Sinn sinkt (Zeus: „Nein triumphieren soll sie nicht ... Sie stirbt“) sie zum Opfer hin“) 76. Air

[entfällt]

[…] 85. Chorus of Priests

Priesterchor, der sich zum lauten Donnerschlag vom zertrümmerten Juno-Altar eingeschüchtert zurückzieht. Hier scheint allein der musikalische Ausdruck die Auswahl entschieden zu haben, aus den Vokal- werden Instrumentalstimmen. Den anderen Fällen liegt ebenfalls scheinbar Zweckmäßigkeit zugrunde. Der bei Schiller zentrale Figurenwechsel beim ersten Auftreten von der sich zurückziehenden, hass-sprühenden Juno zur verliebten Semele umgibt Hummel – ohne dass er hier einem Hinweis Schillers auf einen Musikbezug folgt – mit Musik aus (immer noch) Händels 1. Akt: Aus dem dortigen 64-taktigen Chor der Priester und Auguren (Nr. 25), die den Thebanischen König Cadmos hymnisch begrüßen, extrahiert Hummel die ersten 40 Takte unter Auslassung des Chores und komponiert eine neue fünftaktige Schlusskadenz dazu (Nr. 3). Nicht nur dass Cadmos bei Schiller als Figur nicht vorkommt, auch die in Schillers Szenenwechsel enthaltene Stimmungsdichotomie aus äußerlichem Racheschwur (Juno) und innerlicher Liebesreflexion (Semele)  wird durch die Königshymne auch nicht ansatzweise eingefangen, es sei denn, man wollte ihren triumphierenden Duktus als vorausschauenden Kommentar zu Junos (letztlich ja erfolgreichen) Drohungen hören. Möglicherweise erklärt dies, warum Hummel Junos Sprechtext partiell in die Musik integriert. Die von Schiller als Zwischenaktsmusik angedachte Sinfonia übernimmt Hummel exakt aus Junos Arie Nr. 34 („Hence, Iris hence away“, nun endlich auch aus Akt 2), wo die Göttergattin ihre Ränke mit Iris schmiedet und sich

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triumphierend-rachelüstern gibt. Bei Schiller indes ist im 1.  Akt jenes Täuschungsmanöver der verkleideten Juno, die Semele den verheerenden Rat gibt, schon abgeschlossen, während die beiden Nebenbuhlerinnen sich bei Händel noch nicht einmal begegnet sind. Möglicherweise erwartete man von Hummel, dass er Junos berühmte Bravourarie irgendwo unterbrachte, in Weimar wird nun aber nicht gesungen, sondern Junos Solopartie von einem Englisch Horn übernommen. Die von Händel selbst komponierten Zwischenaktsmusiken Nr. 27 und 50 Sinfonia wählt Hummel hier gerade nicht, was einerseits für die abweichende dramatische Konzeption konsequent erscheint, andererseits aber umso merkwürdiger anmutet, da er die Sinfonia Nr. 50 von Händels Zwischenaktsmusik zwischen Akt 2 und 3 als Steinbruch für eine 9-taktige kurze Sequenz für Schillers „Musik beim Erscheinen des Regenbogens“ benutzt (Nr. 5). Einem Kurzzitat aus den Ouvertüre-Takten (zum Stichwort „Nacht“ als Nr. 6a) folgt in Hummels Bearbeitung als letztes eine Doppelnummer (7 und 8), die er aus Händels Nr. 75, dem Accompagnato Jupiters exakt übernommen hat. Jupiter gibt hier seiner Trauer über Semeles Tod Ausdruck, eine intensive, dreiminütige musikalische Trauerode, die – wie Junos Wutarie – zu den Höhepunkten der Händel’schen Komposition gehört. Interessant ist, dass hier, und womöglich nur hier, Händel und Schiller zusammenfinden: Nicht nur schreibt Hummel Sprechtext zur Musik vor, auch decken sich die inhaltlichen Konzeptionen, ohne dass dies so intendiert gewesen sein mag. Jupiters Gesang ist intensiv, nach innen gerichtet (wie Schiller ihn auch getextet hat), geradezu weich und voller Trauer – die im Händel’schen lieto fine restituierte Götterehe ist hier keinesfalls absehbar, der Komponist versenkt sich ganz in die Vertonung des Leidens. Hier kommen Händels und Schillers Lesart auch textlich zusammen, und hier macht die Zusammenführung von Sprechtext und Trauermusik dramatisch ihren Sinn. Händel: So welkt auch dieser Rose Pracht Im Glanze meiner Göttermacht13 Schiller: Oh, diese Rose stirbt! […] Fluch über meine Herrlichkeit, die Dich verblendete! Fluch über meine Größe, die Dich zerschmettert!14

Händel: Semele, 4. Akt 5. Szene (wie Anm. 12), S. 10. Friedrich Schiller: Semele, in: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Berliner Ausgabe 2, hg. von Hans-Günther Thalheim und einem Kollektiv an Mitarbeitern, Berlin 1981, 2. Szene, S. 26.

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Händels Schlusswendung tritt in den Hintergrund, Schillers Lesart des sensiblen, sich nach menschlichem Dasein sehnenden Gottes dominiert letztendlich, getragen von Händels selbstreflexiver, innerlicher Musik. * * * Trotz der überzeugenden Zusammenführung am Schluss kann von sensibler Auseinandersetzung mit der Händel’schen Partitur, geschweige denn einer Rücksichtnahme auf ihre musikdramatische Konzeption kaum gesprochen werden. Was komplett ausbleibt, ist ein musikalischer Rekurs auf die eigentliche Hauptfigur Semele. Die bei Schiller als belehrtes Opfer gezeichnete Figur, die bei Händel mehrfach unterschiedlich musikalisch konturiert auftritt, verbleibt in der Weimarer Hybridfassung gänzlich ohne Musik. Neben den instrumentalen Musikparts Nr. 1, 4, 5 und 6 sind nur Junos (Nr. 2 und 3) und Jupiters Texte (Nr. 7 und 8) mit Musik eingefasst. Ihre Wandlungen und inneren Bewegungen werden daher herausgestellt, Semeles Rolle verbleibt allein im Sprechtext. Dadurch entsteht eine merkwürdige Querständigkeit: Hatte Händels Semele die seinerzeit als angemessen empfundene Konsequenz für ihre Anmaßung zu tragen, blieb Schillers Semele ein Opfer herrschender Umstände, aus dessen Fallbeispiel zu lernen ist. Dass in der Weimarer Hybridfassung Semele unverschnörkelt, ohne musikalisches Medium und Katalysator von Stimmungen erscheint, stellt sie kontrastierend, ja man könnte sagen schutzlos, den anderen, musikalisch partiell pompös eingefassten Figuren der Götterwelt gegenüber. Der reine kunstvolle Schiller’sche Text, der ihr verbleibt, macht sie und ihr Erlebnis damit transparent, unmittelbarer, nicht umkleidet von Effekten und nicht gestört von Äußerlichkeiten – Mythos als Didaktikum. Möglicherweise liegt hierin ein Schlüssel zur Deutung dieses merkwürdigen Sonderfalls. Ein anderer Schlüssel mag in den Umständen zu suchen sein, in denen anlässlich des Schillerfestes in Weimar über die Zukunft des Nationaltheaters debattiert wurde, da ein Neubau des maroden Spielhauses anstand. Hier wurden nicht wenige Stimmen laut, einen „Schillerbund zur Begründung und Erhaltung einer Nationalbühne für die deutsche Jugend in Weimar“ ins Leben zu rufen, um – als Antipoden zum Musiktheater in Bayreuth – ein reines Schauspielhaus zu etablieren. Dass dieser Plan, in der Weimarischen Zeitung hitzig debattiert und vorangetrieben von dem Literarturhistoriker und Nationalisten Adolf Bartels15, sich letztendlich nicht durchsetzte, steht auf einem anderen Bartels publizierte noch im selben Jahr eine Schrift mit dem Titel Das Weimarische Hoftheater als Nationalbühne für die deutsche Jugend, in der er diese Konzeption vorstellte. Vgl. Adolf Bartels: Das Weimarische Hoftheater als Nationalbühne für die deutsche Jugend: eine Denkschrift, Weimar 1906.

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Abb. 3: Fotographie vom Festabend des Schiller-Festes vom 14. Mai 1905, Weimarer Hoftheater (Stadtarchiv Weimar, Sign. StadtA Weimar, 63 1-K/5; Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Blatt. Die Schiller-Emphase jener Tage war unmittelbar verquickt mit der Meinung deutscher Kulturhoheit, die sich  – nach der Meinung vieler Weimarer (und Deutscher) – zunächst und vor allem in der Literatur und nicht in der Musik realisierte (für den musikalischen Part deutscher Kulturhoheit wurde Bayreuth als verantwortlich genannt). Dass Händels Musik in dem SemeleKonzept nurmehr ein nützliches Vehikel dieser gänzlich in Mythos getauchten Schiller-Emphase diente und dramaturgisch somit auch geschickt als feudal klingender, göttlicher Antipode zum Sprechtext der Hauptfigur platziert werden konnte, leuchtet vor diesem Hintergrund umso mehr ein. Eine Fotographie des Festabends vom 14. Mai 1905 (vgl. Abb. 3) zeigt die Theatertruppe inmitten der Zuschauer auf der Bühne, im Hintergrund der Thebanische Palast als Kulisse, vorn Jupiter (Max Grube), Juno (Martha Schiffel) und Semele (Auguste Scholz), links der Götterbote Merkur. Gerahmt ist die Szene von zahlreichen weiteren Darstellern des am selben Abend gegebenen Maskenzugs von Goethe, eine Schau mythologischer Figuren wie Eros, Tragödie, Komödie etc. Im Zentrum des Arrangements war eine (wie in der Tagespresse zu lesen war) „Kolossal-Schiller-Büste“ platziert, die weihevoll bekränzt wurde. Die abschließenden Worte der Weimarischen Zeitung zum Festakt zei-

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gen, wie sehr der Mythos bereits national aufgetakelt war: „Möge Weimar und der deutschen Welt aus diesen nun abgeschlossenen und hinter uns liegenden begeisternden Tagen für die deutschen Ideale und für alles Große und Schöne der umfangreichste Nutzen erblühen!“16 Nur zwei Jahre später erhielt Weimar mit dem Deutschen Nationaltheater von 1907 einen neuen Raum für diese „deutschen Ideale“ und mit Peter Raabe einen Generalmusikdirektor, der später zum Präsidenten der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer aufsteigen sollte. Händel spielte in dem ganzen Konzept „deutscher Ideale“ indes keine Rolle, die Händel-Pflege im „Mythos Weimar“ blieb auch in den folgenden Jahrzehnten weiterhin marginal und auf Einzelfälle beschränkt, wenn auch nicht mehr derart spektakulär wie 1905.

Weimarische Zeitung, 15. Mai 1905, Titelseite.

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Die Göttinger Händel-Gesellschaft während der NS-Zeit* Lars Klingberg (Halle / Saale) Zur Geschichte der Göttinger Händel-Gesellschaft während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur gibt es bisher fast keine expliziten Untersuchungen.1 Auch Berichte von Zeitzeugen mit Bezugnahme auf die politischen Verhältnisse der genannten Zeit sind kaum bekannt. Dies ist umso verwunderlicher, als die wenigen veröffentlichten Zeugnisse Grund zu der Annahme geben, dass die Gesellschaft den Zumutungen des Regimes erfolgreich widerstanden hätte – und somit keinen Grund gehabt hätte, ihre Vergangenheit während der Zeit der NS -Herrschaft zu verschweigen oder zu verleugnen. Bereits wenige Monate nach Kriegsende erklärte der langjährige geschäftsführende Vorsitzende der Gesellschaft, der Jurist Walter Meyerhoff (1890– 1977), der kurz zuvor vom Landgerichtsrat zum Landgerichtspräsidenten befördert worden war, in seinem an die britische Militärregierung gerichteten Antrag auf Wiederzulassung der Gesellschaft: „Die Göttinger Händel-Gesellschaft ist die einzige in Deutschland noch bestehende Händel-Gesellschaft, die auch in den letzten 12 Jahren die Pflege von Händels Werk nur auf Grund privater Initiative und unbekümmert um politische Weisungen fortgeführt hat. Der Vorsitzende hat den Versuchen des Kreisleiters, im Jahre * Durchgesehener Wiederabdruck eines unter demselben Titel im Händel-Jahrbuch 60 (2014), S. 179–215, erschienenen Aufsatzes. 1 Die einzige Ausnahme bildet ein Text von zwei Seiten Umfang: der Abschnitt Versuch des Widerstands: Die Göttinger Händel-Gesellschaft im Beitrag von Karin Busemann: Nonkonformismus versus Gleichschaltung. Beispiele aus dem Musikleben, in: Hinrich Bergmeier und Günter Katzenberger (Hg.): Kulturaustreibung. Die Einflußnahme des Nationalsozialismus auf Kunst und Kultur in Niedersachsen. Eine Dokumentation zur gleichnamigen Ausstellung, Hamburg 1993, S. 116–125, hier S. 120 f. Die Dissertation von David Michael Imhoof: Guns, opera, and movies: Local culture in interwar Germany, Göttingen 1919–1938, Austin 2000, enthält zwar ein umfangreiches Kapitel über die Geschichte der Göttinger Händel-Festspiele (International Performance on a Local Stage: The Göttingen Händel Opera Festival, 1920–1937, S. 44–150), jedoch wird darin die Rolle der Gesellschaft nicht näher unter die Lupe genommen. In dem von Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe und Susanne Spiegler verfassten Band Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014 (=Studien der Stiftung Händel-Haus 2), habe ich unter dem Titel Zwischen Anpassung und Verweigerung: Die Göttinger Händel-Gesellschaft während der NS-Zeit eine kurze Studie über die Thematik sowie 21 zugehörige Dokumente veröffentlicht (Kapitel 2.a, enthalten in Teil 1, S. 380–432). Bei Zitaten aus den in diesem Band abgedruckten Dokumenten gebe ich im Folgenden auch die Dokumentnummern mit an.

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1944 die Gesellschaft an sich zu reißen, mit Erfolg Widerstand geleistet, wurde allerdings dafür als Arbeiter in eine Fabrik geschickt. Die Gesellschaft ist niemals nach dem nationalsozialistischen Führerprinzip, sondern von dem von der Mitgliederversammlung gewählten dreigliederigen Vorstand geleitet worden; sie hat auch in den vergangenen 12 Jahren niemanden wegen seiner Rasse von der Mitgliedschaft ausgeschlossen und hat noch jetzt in Gestalt des Oberbibliothekars Joachim in Göttingen ein jüdisches Mitglied, das in den letzten 12 Jahren alle Rechte eines Mitgliedes genossen hat. Da wir unsere Arbeit unverzüglich aufnehmen möchten, wären wir für baldige Genehmigung dankbar. Unser musikalischer Leiter ist Fritz Lehmann, Musikdirektor der Stadt Wuppertal.“2

Über die Vorgänge von 1944 äußerte sich Meyerhoff wenige Wochen später auch in einem ebenfalls an die britische Militärregierung gerichteten Leumundszeugnis für Fritz Lehmann (1904–1956), mit dem er den Dirigenten, der 1937 der NSDAP beigetreten war, vom Verdacht, ein aktiver Nationalsozialist gewesen zu sein, zu befreien suchte (wobei er beteuerte, von Lehmanns Parteimitgliedschaft selbst erst im Oktober 1945 Kenntnis erlangt zu haben): „The Kreisleiter Dr. Gengler claimed to become the head of the Göttingen Handel Society in 1944 and are demanded the performances, done by himself, taking place under the name of the Göttingen Handel-Society. Fritz Lehmann, who had been the artistic manager of the Handel Society since ten years, retracted his co-operation and his adaptions as well. The Kreisleiter declared this being a provocation and threatened to forbid him any conduction in the whole of the Gau.“3

In späteren Jahren war dann Meyerhoff in seinen öffentlichen Äußerungen über die Geschichte der Gesellschaft bzw. über die Geschichte der Göttinger Händel-Festspiele sehr zurückhaltend in Bezug auf die politischen Umstände während der NS -Zeit. Nur beiläufig kam er etwa im Jahr 1960 auf den 1944 ausgetragenen Konflikt mit dem NSDAP-Kreisleiter zu sprechen, und zwar auf der Mitgliederversammlung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft in Halle Walter Meyerhoff an Military Government Detachment 126, 9.10.1945, Stadtarchiv Göttingen (im Folgenden: StA Göttingen), Bestand: Stadtverwaltung und Militärregierung (Büro des OB / OStD) 1945–1949, D 39, Bl. 48; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S.  430 f. (Dok.  2.a.20). Vgl. Jens-Uwe Brinkmann: „Nach Jahren der Entbehrung  …“ Kultur und Schule, in: Göttingen 1945. Kriegsende und Neubeginn. Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum. 31.  März – 28.  Juli 1985, Göttingen 1985, S.  215– 256, hier S.  232; sowie Busemann: Nonkonformismus versus Gleichschaltung (wie Anm.  1), S. 121. 3 Meyerhoff an Military Government Detachment 126, 1.12.1945, StA Göttingen, Dep. 109 Nr. 105; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 431 f. (Dok. 2.a.21). 2

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(Saale), auf der er sich zu Wort meldete, um eine ostdeutsche Kalte-KriegsAttacke abzuwehren. Er wandte sich gegen eine den Mitgliedern dieser Gesellschaft zur Abstimmung vorgelegte Erklärung, die darauf abzielte, die Verhältnisse in der Bundesrepublik mit denen im NS -Staat gleichzusetzen, indem sie westdeutsche Händel-Ausgaben auf eine Ebene mit den antisemitischen Oratorienbearbeitungen der NS -Zeit stellte.4 Um seinen Äußerungen mehr Legitimität zu geben und sie vor Missdeutungen zu schützen, machte Meyerhoff auch darauf aufmerksam, dass er während der NS -Zeit selber antisemitischen Angriffen ausgesetzt gewesen sei: „Zur Person darf ich vielleicht – was ich sonst nie erwähne – sagen, dass ich glaube, des Antisemitismus unverdächtig zu sein, da ich selbst das Ziel antisemitischer Angriffe war und [da ich,] weil ich dem Kreisleiter die Auslieferung der Göttinger Händel-Gesellschaft verweigerte, allerhand auszustehen hatte, was hier nicht weiter hergehört.“5

In seinen in den 1960er Jahren publizierten Rückblicken auf die Geschichte der Göttinger Händel-Gesellschaft6 und der von ihr veranstalteten Festspiele7 erwähnte Meyerhoff das heikle Themenfeld mit keinem einzigen Wort. Erst in der Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum der Festspiele 1970 – Meyerhoff war inzwischen fast 80 Jahre alt und führte in der Gesellschaft noch immer den Vorsitz – schreibt er: „Es war nicht leicht, die Göttinger Händel-Gesellschaft und die von ihr getragenen Göttinger Händel-Festspiele durch die Zeit der Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 hindurchzusteuern. Zunächst ließ man das Bestehende unbeeinflußt gewähren und förderte es sogar. Unter der Stabführung von Fritz Lehmann konnten wir 1934 im Stadtpark Händels Pastoral ‚Acis und Galatea‘ nach der Originalfassung szenisch aufführen. Im Göttinger Händel-Fest 1935 brachten Fritz Lehmann und Dr. Hanns Niedecken-Gebhard die Oper ‚Parthenope‘ auf die Bühne.

Siehe dazu Gert Richter: Annotationen zur Händelpflege im politischen System der DDR, in: Georg Friedrich Händel – ein Lebensinhalt. Gedenkschrift für Bernd Baselt (1934–1993), Halle (Saale) u. a. 1995 (=Schriften des Händel-Hauses in Halle 11), S. 343–358, hier S. 349. 5 Transkription nach der im Händel-Haus Halle (Saale) aufbewahrten Tonbandaufzeichnung; vgl. auch das stenographische Protokoll Diskussion der Mitgliederversammlung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft am Montag, dem 25.4.1960, Stiftung Händel-Haus, Halle (Saale), Bibliothek, Bestand: Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, Signatur: 1a.4. 6 Walter Meyerhoff: 30 Jahre Göttinger Händel-Gesellschaft E. V., in: ders. (Hg.): Göttinger Händelfestspiele 1961. 25. bis 30. Juni. Programm, [Göttingen 1961], S. 4 f. 7 Walter Meyerhoff: 45 Jahre Göttinger Händelfestspiele, in: ders. (Hg.): 45 Jahre Göttinger Händelfestspiele. Göttinger Händelfestspiele 1965. 20.  bis 24.  Juni. Programm, [Göttingen 1965], S. 4–8. 4

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Das Programm der Opern-Festspiele wurde durch die Abendmusik im Freien auf der Freilichtbühne des Kaiser-Wilhelm-Parks, die schon Oskar Hagen improvisiert hatte, sowie durch das Oratorium ‚Triumph der Zeit und der Wahrheit‘ erweitert. 1937 folgte die Oper ‚Scipio‘. In diesem Jahr legte der Präsident der Reichsmusikkammer, Peter Raabe, Wert darauf, ein Konzert der Göttinger Händel-Festspiele zu dirigieren. 1938 brachten wir die Oper ‚Ptolomäus‘ zur Erstaufführung. Im Kriege konnten wir nur Gedenkkonzerte veranstalten. 1944 versuchte die Kreisleitung der NSDAP im Sinne der von ihr betriebenen Gleichschaltung, die Göttinger HändelGesellschaft an sich zu reißen. Da der künstlerische Leiter Fritz Lehmann und der geschäftsführende Vorsitzende sich nicht gefügig zeigten, bekam die Göttinger Händel-Gesellschaft für das bevorstehende Konzert keinen Termin, die Kreisleitung veranstaltete ihrerseits zur üblichen Sommerzeit eine Händelwoche und reagierte in der damals üblichen Art auf den geleisteten ‚Widerstand‘. Erst nach dem Zusammenbruch war wieder die Freiheit zur künstlerischen Betätigung gegeben.“8

Meyerhoffs Metapher vom „Hindurchsteuern“ durch die Gewaltherrschaft war auch zuvor schon sinngemäß von einem zeitgenössischen Beobachter gebraucht worden: von dem Theaterwissenschaftler Carl Niessen. Meyerhoff hätte es verstanden, so Niessens Fazit 1953, „das mit einer Fülle von musikalischem Wohllaut befrachtete Theaterschifflein durch die Klippen der zentralistisch normierenden Kulturpolitik des dritten Reiches zu steuern“.9 Die von Meyerhoff geschilderten Ereignisse des Jahres 1944 werden 1970 auch erstmals in Meyerhoffs anlässlich des Jubiläums erneut publizierten Chronik der Göttinger Händel-Festspiele erwähnt;10 in der 1953 erschienenen vorherigen Fassung war hingegen das Jahr 1944 komplett ausgelassen worden.11 Der 1970 ergänzte Abschnitt hat folgenden Wortlaut: „Die mit einem Kammerkonzert und einem Vortragsabend vorbereiteten Händeltage 1944 wollte die Kreisleitung der NSDAP im Zuge der von ihr betriebenen ‚Gleichschaltung‘ der Göttinger Händel-Gesellschaft unter dem Vorsitz des Kreisleiters Dr. Gengler in eine von ihr veranstaltete Händel-Festspielwoche einbeziehen. Walter Meyerhoff: 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele, in: ders. (Hg.): 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele. Festschrift, Kassel u. a. 1970, S. 98–112, hier S. 104 f. 9 Carl Niessen: Das Szenische in den Göttinger Händel-Festspielen, in: Die Göttinger HändelFestspiele. Festschrift, Göttingen 1953, S. 27–36, hier S. 27. 10 Meyerhoff: Chronik der Göttinger Händel-Festspiele 1920–1970, in: 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele. Festschrift (wie Anm. 8), S. 186–207, hier S. 192 f. 11 Meyerhoff: Chronik der Göttinger Händelfestspiele nach dem Archiv der Göttinger HändelGesellschaft e. V., in: Die Göttinger Händel-Festspiele. Festschrift (wie Anm. 9), S. 41–53, hier S.  50. Auch dieser Fassung war bereits eine frühere Fassung vorausgegangen: die ebenfalls von Meyerhoff verfasste Chronik der Göttinger Händelfestspiele 1920–1940 nach dem Archiv der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V., in: Universitätsbund Göttingen e. V. Mittei­ lungen, 21 (1941), Heft 1, S. 7–18. 8

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Da Fritz Lehmann zur Mitwirkung in einer nicht unter seiner künstlerischen Verantwortung geplanten Händelwoche nicht bereit war, fand diese als Veranstaltung der NSDAP statt. Die Göttinger Händel-Gesellschaft sollte für ihr Kammerkonzert einen Termin in den Ferien bekommen. Dieses konnte daher erst nach dem Zusammenbruch der Gewaltherrschaft im Jahre 1945 stattfinden. Lediglich der Vortrag von Professor Dr.  Rudolf Gerber wurde in diese Festwoche übernommen. Diesen Vortrag vom Juni 1944 drucken wir in dankbarem Gedenken an diesen integren Gelehrten in unserer Festschrift zur 50-Jahrfeier ab.“12

Glaubt man den zitierten Aussagen Meyerhoffs, so hat es sich bei der Göttinger Händel-Gesellschaft um einen der seltenen Fälle von Resistenz gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie und gegenüber dem Bestreben des NS Regimes, zivilgesellschaftliche Institutionen seiner Herrschaft zu unterwerfen, gehandelt. Bekanntlich musste das Regime bei der „Gleichschaltung“ nichtstaatlicher Organisationen in den meisten Fällen keine großen Energien aufwenden. Widerstand gab es nur selten, in der Regel war sogar von den Institutionen selbst die Initiative zur Unterwerfung ausgegangen.13 Wirft man einen Blick in die archivalische Hinterlassenschaft der Göttinger Händel-Gesellschaft und in Dokumente weiterer Archive, so lassen sich tatsächlich manche der Meyerhoffschen Aussagen verifizieren. Zudem fällt auf, dass die von Vertretern der Gesellschaft, insbesondere von Meyerhoff selbst geführte Korrespondenz frei von den damals üblichen, Systemaffirmation demonstrierenden sprachlichen Floskeln ist. Das trifft auch zu für die Programmhefte und Festschriften, in denen sich solche Floskeln nur in Grußworten von Politikern finden.14 Der von Meyerhoff erwähnte Göttinger NSDAP-Kreisleiter Thomas G ­ engler (1901–1974), ein besonders fanatischer Nationalsozialist,15 denunzierte Meyer Meyerhoff: Chronik der Göttinger Händel-Festspiele 1920–1970 (wie Anm. 10), S. 192. Von dieser Fassung ist später ein unveränderter Nachdruck erschienen (in: Horst-Peter Hesse [Hg.]: 60 Jahre Göttinger Händel-Festspiele 1920–1980. 20. bis 26. Juni 1980. Programme und Konzert-Einführungen, [Göttingen 1980], S. 62–83), der durch eine Fortsetzungschronik ergänzt wurde (Heinz Motel: Chronik der Göttinger Händel-Festspiele 1971–1979, ebd., S. 84–95). 13 Siehe z. B. Dietrich Beyrau: Einführung, in: ders. (Hg.): Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000, S. 9–42, hier S. 24. 14 Siehe vor allem die als Sonderhefte der Niedersächsischen Hochschul-Zeitung erschienenen Programmhefte der Händel-Festspiele von 1935 bis 1938. 15 Siehe im Band 1945 der Chronik der Stadt Göttingen, erstellt vom Stadtarchiv Göttingen, für die Zeit vor 1900, erarbeitet 1953 von Wilhelm van Kempen, Typoskript im Stadtarchiv Göttingen (auch als Online-Fassung: www.stadtarchiv.goettingen.de/frames/fr_chronik.htm), unter dem, 1. April (S. 8): „Zwischen dem Kreisleiter und dem Oberbürgermeister bestand seit Jahren eine versteckte und doch allgemein bekannte, heftige Gegnerschaft, letztlich begründet in dem Fanatismus des Kreisleiters und der auf Verständigung zielenden ruhigen Art des Oberbürgermeisters.“ 12

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hoff mehrfach bei den Sicherheitsbehörden. So schrieb er am 26. Februar 1940 an die Außendienststelle Göttingen der Geheimen Staatspolizei: „Meyerhoff ist kein Parteigenosse; seit 1933 war er förderndes Mitglied der SS und SA , schied dann jedoch als Mischling 2. Grades aus. Vor der Machtübernahme war er gegen die Bewegung eingestellt und hat vermutlich der Zentrumspartei angehört. Er ist Katholik und hat der katholischen Kirche eine große Stiftung gemacht. […] Die politische Zuverlässigkeit des Landgerichtsrats Meyerhoff kann seitens der Kreisleitung Göttingen nicht bejaht werden.“16

Kreisleiter Gengler, der aus Berichten anderer Denunzianten erfahren hatte, dass Meyerhoffs Großvater väterlicherseits ein „Volljude“ gewesen sei17 und dass Meyerhoff „in geradezu brüskierender Weise“ den „Deutschen Gruß“ verweigern würde,18 initiierte immer wieder kleinere Schikanen gegen ihn. So versuchte er, Meyerhoffs Aufnahme in den NS -Rechtswahrerbund rückgängig zu machen19 und ihm den Jagdschein aberkennen zu lassen – ein Versuch übrigens, der gescheitert ist, weil der Göttinger Kreisjägermeister Zivilcourage besaß und sich diesem Ansinnen verweigerte.20 Auch der von Meyerhoff später erwähnte Arbeitseinsatz – es handelte sich um einen Mitte September 1944 beginnenden Einsatz in der Rüstungsindustrie21 im Anschluss an einen vom 7. bis 15. September dauernden Einsatz als Schipper in Holland22 – gelangte Geng-

Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover (im Folgenden: HStA Hannover), Hann. 310 I Nr. 459, Bl. 7. Zu den vielfältigen Schikanen von NS-Dienststellen gegen Meyerhoff siehe Cordula Tollmien: Nationalsozialismus in Göttingen (1933–1945), in: Ernst Böhme et al. (Hg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, hg. von Rudolf von Thadden und Günter J. Trittel unter Mitwirkung von Marc-Dietrich Ohse, Göttingen 1999, S. 127–273, hier S. 216 f. 17 Beurteilung Meyerhoffs durch den Kreispersonalamtsleiter der NSDAP-Kreisleitung Göttingen, 16.4.1937, HStA Hannover, Hann. 310 I Nr. 459, Bl. 22. 18 Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Göttingen „Weender Tor“ der NSDAP an Gengler, 21.12.1937, HStA Hannover, Hann. 310 I Nr. 459, Bl. 21. 19 Gengler an das Gaurechtsamt in Hannover, 10.11.1937, HStA Hannover, Hann.  310  I Nr. 459, Bl. 20. 20 Kreisjägermeister H. Henze an Gengler, 21.6.1938, HStA Hannover, Hann. 310 I Nr. 459, Bl. 16. 21 Meyerhoff bezeichnete später die Zeit seiner Dienstverpflichtung („im Herbst 1944, seines Richteramts entsetzt, als Arbeiter in eine Rüstungsfabrik verpflichtet“) als „Zeit äußerer und innerer Wandlungen“, während der er die deutschen Schriften des Mystikers Heinrich Seuse entdeckte, die ihm als Vorbild eigener Gedichte dienten: Walter Meyerhoff: Das Weltkind und Der Diener der Ewigen Weisheit. Mystische Sonette, Celle 1947, die Zitate hier S. [128]. 22 So Meyerhoff in Briefen an Fritz Lehmann, 7.  und 17.9.1944, StA Göttingen, Bestand: Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 71 bzw. Bl. 67. 16

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ler zur Kenntnis.23 Dass es sich dabei um eine persönliche Strafmaßnahme gegen Meyerhoff gehandelt hätte, lässt sich allerdings durch Aktenfunde nicht belegen. Da zu dieser Zeit derartige Arbeitseinsätze zum Alltag des „Totalen Krieges“ gehörten  – am 1.  August 1944 hatte das Göttinger Arbeitsamt alle für einen Kriegseinsatz in Frage kommenden Männer und Frauen im arbeitsfähigen Alter zur sofortigen Meldung aufgefordert –,24 kann es sich durchaus um eine Maßnahme gehandelt haben, die ohne das Eingreifen des Kreisleiters zustande kam. Trotz aller Schwierigkeiten behielt Meyerhoff bis zum Ende der NS -Herrschaft seine Stellung im Göttinger Landgericht, wenn er auch von Beförderungen ausgeschlossen war. Am 21. und 22. Oktober 1949 fand in ebendiesem Gericht ein Strafprozess gegen Gengler statt, in dessen Ergebnis der ehemalige NSDAP-Kreisleiter wegen versuchter schwerer Freiheitsberaubung zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt wurde. Er war der Absicht angeklagt worden, unmittelbar vor dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Göttingen Anfang April 1945 mehrere der Partei missliebige Persönlichkeiten der Stadt, darunter auch Walter Meyerhoff, verhaften und in den Harz abtransportieren zu lassen.25 * Die ersten Nachrichten von dem von Meyerhoff berichteten Versuch Genglers, sich der Göttinger Händel-Gesellschaft zu bemächtigen, erreichten Meyerhoff, der damals im Vorstand der Gesellschaft die Geschäfte führte, Ende April 1944. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten zu den alljährlichen Festspielterminen im Sommer keine Opernaufführungen mehr stattgefunden. Zwar setzte der Dirigent Fritz Lehmann, der seit 1934 als künstlerischer Leiter der Händel-Festspiele wirkte und seit 1935 die von ihm in Göttingen aufgeführten Opern selbst eingerichtet hatte, seine Editionstätigkeit für neue Werke fort – wiederum unter Benutzung von Textübersetzungen der Romanistin Emilie Dahnk (später verheiratete Dahnk-Baroffio) –, jedoch bestand jetzt kaum noch die Aussicht auf baldige Aufführung von kompletten Opern, zumal die NS -Kulturpolitik die Abhaltung von Festspielen während des Krieges generell für unerwünscht erklärt hatte.26 Aktennotiz für den Kreisleiter von SS-Untersturmführer Großmann (Leitaußenstelle Göttingen des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS), 5.9.1944, HStA Hannover, Hann. 310 I Nr. 459, Bl. 1. 24 [Kempen]: Chronik der Stadt Göttingen 1944 (wie Anm. 15), 1. August (S. 448). 25 [Kempen]: Chronik der Stadt Göttingen 1949 (wie Anm. 15), 22. Oktober (S. 117 f.). 26 So Meyerhoff des Öfteren in Briefen und Aktennotizen während des Krieges, z. B. im Brief an den Göttinger Oberbürgermeister Albert Gnade vom 18.  März 1942, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 175. 23

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Bereits 1939 wurden die Festspiele nur noch in kleinerem Rahmen als zweitägiges Göttinger Händel-Fest mit Kammer- und Orchesterkonzerten veranstaltet  – zunächst war sogar erwogen worden, 1939 gänzlich zu pausieren –,27 nachdem die besonders opulenten Festspiele im Jahr zuvor der Gesellschaft ein großes finanzielles Defizit eingebracht hatten. Auch der Plan, „mit gesammelter Kraft 1940 die 20jährige Wiederkehr des Tages der ersten Händelopernfestspiele in Göttingen im großen Rahmen zu begehen“28 – vorgesehen war u. a. die Aufführung der Oper Ariadne (Arianna in Creta HWV  32)  –, zerschlug sich, da der Göttinger Oberbürgermeister die Abhaltung einer Festwoche während des Krieges nicht für angemessen hielt;29 stattdessen fand 1940 nur eine kleine Gedenkfeier in Form eines Kammerkonzerts (mit Kantaten und Instrumentalmusik) und einer Gedenkrede des Vorsitzenden des Göttinger Universitätsbundes, Karl Brandi, statt. Ein Kammerkonzert ähnlichen Charakters war auch für das Jahr 1941 geplant; wegen Erkrankung des künstlerischen Leiters Fritz Lehmann musste es jedoch ausfallen und wurde auf das darauffolgende Jahr verschoben. Als Förderer fungierten in den Jahren 1940 und 1942 die Provinz Hannover, die Stadt Göttingen und der Universitätsbund. Auch das für 1943 vorgesehene Kammerkonzert musste entfallen. Der Grund dafür war diesmal, dass das gesamte Aufführungsmaterial in Lehmanns Wuppertaler Wohnung durch Bombenschäden vernichtet worden war. Mit dem später von Lehmann wiederhergestellten Material (zwei italienische Kantaten Händels) plante die Gesellschaft daraufhin, das Konzert im folgenden Jahr nachzuholen.30 Darüber hinaus war für 1944 ein auf das Programm thematisch abgestimmter Vortrag des Ordinarius für Musikwissenschaft der Göttinger Universität, Rudolf Gerber, vorgesehen, für den sich die Gesellschaft eine musikalische Umrahmung durch die Akademische Orchestervereinigung (AOV ) wünschte. Dieses an der Göttinger Universität existierende Laienorchester war mit den Händel-Festspielen bereits seit 1920 verbunden und hatte bis 1934 die fast alleinige Basis aller ein Orchester erfordernden Festspielaufführungen gebildet.

Meyerhoff an den Göttinger Oberbürgermeister Bruno Jung, 17.11.1938, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 72. 28 Ebd.; vgl. Busemann: Nonkonformismus versus Gleichschaltung (wie Anm. 1), S. 120 f. 29 Meyerhoff an den Göttinger Oberbürgermeister Gnade, 27.4.1940, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 155. 30 Meyerhoff an den Göttinger Oberbürgermeister Gnade, 20.4.1944, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 183. 27

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Noch bevor Meyerhoff die Künstlerverträge mit den Ausführenden des Kammerkonzerts abgeschlossen hatte, meldete sich der NSDAP-Kreisleiter bei ihm. Am 3. Mai 1944 berichtete Meyerhoff davon in einem Brief an Lehmann: „Am 28. April rief mich der Kreisleiter an und teilte mir auf die Benachrichtigung unseres Konzertplanes hin mit, wir sollten noch nicht mit den Solisten abschließen, da die Gauleitung für Göttingen ein größeres Händelfest, vielleicht von einer Woche plane. Näheres sollte ich in einigen Tagen hören. Zu dieser Planung sind wir nicht zugezogen worden, auch die AOV und Prof. Gerber wissen nichts davon, es scheint eine in Hannover ausgedachte Sache zu sein. Es scheint so, als ob man dort von unserer Existenz nichts weiß. Wahrscheinlicher ist, dass man nichts davon wissen will, denn es besteht ja schon seit langem die Absicht, uns tot zu machen oder aufzu­saugen. […] In dieser Situation schien es mir das Richtigste zu sein, den Vorschlag zu machen, unser Konzert als selbständige Veranstaltung in die vom Gau geplanten Händeltage einzubeziehen. Ich habe das gleich am Telefon beim Kreisleiter angeregt und er sagte, er wollte sich dafür einsetzen.“31

Später gelang es Meyerhoff auch noch, den Kreisleiter dafür zu gewinnen, den Vortrag Gerbers bei der Planung des Händelfests mit zu berücksichtigen.32 Auf Wunsch Genglers sollten darüber hinaus auch die damals von der AOV geplanten Veranstaltungen in dieses einwöchige Musikfest einbezogen werden, und zwar am 1.  und 2.  Juli. An den folgenden Tagen sollten dann die vom Kreis- bzw. Gauleiter organisierten Konzerte stattfinden, und für den 8. Juli war schließlich das von der Gesellschaft vorbereitete Konzert vorgesehen.33 Mit seinem Versuch, die Händel-Tage auf die letzte Juniwoche zu legen, um zu vermeiden, dass dieses Konzert in die Schulferien fällt,34 hatte Meyerhoff bei Gengler keinen Erfolg. Existentielle Gefahr drohte der Göttinger Händel-Gesellschaft allerdings weniger durch die Konkurrenzveranstaltung der NSDAP als durch den gleichzeitig von den Initiatoren dieser Veranstaltung unternommenen Versuch einer ‚Neuorganisation‘ der Gesellschaft. Die Initiative zu diesem Übernahmeversuch war vom Gauleiter des NSDAP-Gaus Südhannover-Braunschweig, Hartmann Lauterbacher (1909–1988), ausgegangen, dem damals jüngsten Gauleiter Deutschlands, der zugleich auch Oberpräsident der preußischen Provinz StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XX a, Bl. 49 f.; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 409 f. (Dok. 2.a.15). 32 Meyerhoff an Lehmann, 11.5.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XX a, Bl. 58. 33 Ebd. 34 Meyerhoff an Gengler, 7.5.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd. XX a, Bl. 57. 31

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Hannover und ein ebenso tatkräftiger wie fanatischer Nationalsozialist war. Offenbar im Zuge der von ihm vorgenommenen „Reorganisation von Partei und Gau“35 schwebte ihm eine Bündelung aller Händel-Aktivitäten seines Gaus vor; außer Göttingen sollte das auch Hannover und Braunschweig betreffen. Zu diesem Zweck sollte in Hannover eine Art Dachorganisation gebildet werden. Dem Einwand des Göttinger Kreisleiters, dass die Existenz der Universität und die Tradition der Händel-Renaissance für Göttingen als Standort sprächen, trug Lauterbacher Rechnung und legte darüber hinaus fest, dass seitens der Universität der Rektor und der Ordinarius für Musikwissenschaft, Rudolf Gerber, die „Gründung und Berufung einer Dachorganisation“ zu übernehmen hätten; Meyerhoff bot er die Mitarbeit in dieser neuen Organisation an, die dieser daraufhin auch zusagte.36 Auf Vorschlag Genglers bestimmte der Gauleiter außerdem, „dass der jeweilige Professor der Musikwissenschaft an der Universität Göttingen der Vorsitzende dieser Dachorganisation werden solle“.37 Ferner sollte nach dem Willen Lauterbachers in den drei örtlichen Gesellschaften „der jeweilige Hoheitsträger der Partei“  – in Göttingen somit Kreisleiter Gengler – den Vorsitz übernehmen.38 Dass Meyerhoff gegenüber dieser Initiative schwere Bedenken hatte, versteht sich von selbst. So offenbarte er in einem Brief an das Vorstandsmitglied der Göttinger Händel-Gesellschaft, Rudolf Gerber: „Das bedrohliche für die ganze Händelarbeit ist m. E. der bisher noch nicht näher begründete Wunsch des Kreisleiters, Vorsitzender (d. h. also wohl: alleiniger Vorstand) der Händel-Gesellschaft zu werden. Auch wenn man uns gütigst die praktische Durchführung weiterhin überläßt, sind wir dann in der Planung und Durchführung auch in jeder Kleinigkeit, namentlich in den wichtigsten Dingen der künstlerischen Leitung und Rollenbesetzung von seiner Willkür abhängig, können auch jeder Zeit abberufen werden. Das ganze Ergebnis unserer jahrzehntelangen Bemühungen fiele damit ohne ersichtlichen Grund dem Kreisleiter oder den Leuten, die er damit beauftragt, in den Schoß, und die Durchführung der einheitlichen Linie wäre schwer gefährdet.“39 Siehe Tollmien: Nationalsozialismus in Göttingen (wie Anm. 16), S. 258. Aktenvermerk des Göttinger Oberbürgermeisters Albert Gnade, 20.5.1944, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 186; Aktenvermerk Meyerhoffs, 25.5.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 198 f. 37 Aktenvermerk Meyerhoffs über eine Besprechung am 8. Juni 1944 in der NSDAP-Kreisleitung Göttingen, o. D., StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd.  XXI, nach Bl.  197; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 417–423 (Dok. 2.a.18). 38 Ebd. 39 Meyerhoff an Gerber, 25.5.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd. XXI, Bl. 182. 35

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Als taktisches Vorgehen empfahl Meyerhoff, „eine Form zu finden, die den Wünschen des Kreisleiters entgegen kommt, aber unsere Selbständigkeit unangetastet läßt“.40 In diesem Sinne argumentierte er in einer Denkschrift, dass zur Übernahme des Vorsitzes durch Gengler eine Neuwahl des Vorstands, eventuell sogar eine Satzungsänderung erforderlich sei, was nur durch die Mitgliederversammlung geschehen könne. Mitgliederversammlungen jedoch dürften derzeit aufgrund eines generellen Verbots (Zweite Verordnung über die Einschränkung von Mitgliederversammlungen vom 23.  Dezember 1943, Deutsches RGBl. I S. 686) nicht stattfinden. Da außerdem Gengler bereits dem erweiterten Vorstand angehöre, möge der Vorstand einen anderen Weg vorschlagen, dessen Wunsch Genüge zu tun, etwa die Übernahme des Ehrenvorsitzes, sodass der bisherige Vorstand weiter amtieren könne.41 Meyerhoffs Bedenken gegenüber Gengler waren umso größer, als er in ihm den eigentlichen Initiator des Übernahmeversuchs vermutete. Einem Vertrauten eröffnete er: „Ich vermute, daß das, was man mit der GHG vorhat, im Wesentlichen örtliche Pläne des Kreisleiters sind, der wie ich vertraulich erfahren habe, schon vor längerer Zeit erklärt hat, daß er einen Staatsstreich gegen die GHG plane. Dabei beruft er sich allerdings immer auf Aufträge und Wünsche des Gauleiters.“42

Zunächst schien sich alles in der von Meyerhoff befürchteten Richtung zu entwickeln: Gengler ließ einen Vertreter ausrichten, dass er die Übernahme des Vorsitzes in der Göttinger Händel-Gesellschaft schon bis zum 1.  Juli 1944, also bis zum Beginn der Händel-Tage anstrebe.43 Weiter übermittelte er seinen Wunsch, dass die Gesellschaft als formeller Veranstalter der gesam Ebd. Meyerhoff: Denkschrift über die Geschichte und den Stand der Händelarbeit in Göttingen (gerichtet an den Rektor der Georg-August-Universität Göttingen, Hans Drexler), 6.6.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 179; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 411–417 (Dok. 2.a.17). 42 Meyerhoff an den Schokoladenfabrikanten und Kunstmäzen Bernhard Sprengel, 15.6.1944, HStA Hannover, Dep.  105 Acc.  2/80 Nr.  245. Im selben Brief bat Meyerhoff Sprengel darum, dessen „Vertrauensmann“ zu Hilfe zu rufen – offenbar besaß Sprengel gute Beziehungen zu Regierungskreisen in Hannover. Dieser Bitte kam Sprengel auch nach, doch bestätigte der (in der Korrespondenz nicht beim Namen genannte)  „Vertrauensmann“ lediglich Sprengels eigene Ansicht, „daß wir hier in Hannover in der Sache nichts tun können“ (Sprengel an Meyerhoff, 24.6.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 133). 43 Aktenvermerk Meyerhoffs, 25.5.1944 (wie Anm. 36). Gengler ließ sich durch seinen Pressereferenten, den 1911 geborenen Kurt Berenbrock (biographische Auskunft des Stadtarchivs Göttingen) vertreten. 40 41

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ten Festwoche – und damit auch der von ihr nicht vorbereiteten Teile – fungieren solle.44 Diese Forderung wurde von Meyerhoff entschieden abgelehnt. Er begründete seine Ablehnung u. a. damit, dass die Göttinger Händel-Gesellschaft bei einer solchen Konstellation die Verantwortung für die vom Göttinger Stadttheater für die Händel-Tage vorgesehene Aufführung der Oper Agrippina (HWV 6) in der Bearbeitung von Hellmuth Christian Wolff übernehmen müsste – eine Fassung, die einst Wolff ebendieser Gesellschaft zur Auf­führung bei den Göttinger Händel-Festspielen 1942 angeboten hätte, die jedoch damals von ihr zurückgewiesen worden sei.45 Der musikwissenschaftliche Berater der Gesellschaft, Hermann Zenck, sowie ihr künstlerischer Leiter, Fritz Lehmann, hätten diese Fassung „als nicht der Göttinger Linie der originalgetreuen Wiedergabe entsprechend abgelehnt“, weil Wolff die Improvisationen in den Da capi auskomponiert und „die Gesamtoper stark ins komische verbogen“ habe.46 (An anderer Stelle47 sprach Meyerhoff von einer „Umbiegung ins Possenhafte“48.) 1943 hätte die Gesellschaft dann sogar auch eine Aufführung dieser Fassung als Gastspiel des Stadttheaters Halle zu den Göttinger Händel-Fest­ spielen abgelehnt.49 Auf einer Sitzung am 8.  Juni 1944 in der Göttinger NSDAP-Kreisleitung kam es schließlich zum Eklat mit Gengler, als Meyerhoff dem Kreisleiter eröffnete, dass Lehmann „unter den neu geschilderten Voraussetzungen“ die Zusage zu dem am 8.  Juli vorgesehenen Kantatenkonzert widerrufen und sein dies­ Ebd. Aktenvermerk Meyerhoffs, o. D. (wie Anm. 37). 46 Ebd. 47 Walter Meyerhoff: Kurze Darstellung der Händelpflege in Deutschland insbesondere durch die Händelgesellschaften und an Händelopern, [September 1944; die auf der letzten Seite dieses Typoskripts handschriftlich von Meyerhoff vorgenommene Datierung auf den 21.9.1942 ist falsch, vermutlich muss das richtige Datum 21.9.1944 heißen], StA Göttingen, Dep. 109 Nr. 105; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm.  1), Teil  1, S.  424–429 (Dok.  2.a.19). Von dieser auf Wunsch von Fritz Lehmann geschriebenen Darstellung – Lehmann erbat von Meyerhoff am 3. August 1944 Unterlagen über Händelgesellschaften (StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd.  XXI, Bl.  93)  – sandte Meyerhoff am 29.  September einen Durchschlag an Lehmann (ebd., Bl. 49) und eine Abschrift an Karl Brandi (ebd., Bl. 62), nachdem er Rudolf Gerber schon am 26. September eine Abschrift zugesandt hatte (ebd., Bl. 63). 48 Nach Wolffs eigener Darstellung stand hinter dieser Bearbeitung ein politischer Hintergedanke: „Diese Satire gegen die Maßlosigkeit politischen Machtstrebens in der Person der ‚Agrippina‘ wurde von dem hallischen Publikum damals durchaus als Kritik an den politischen Zuständen in Deutschland aufgefaßt und dankbar quittiert.“ (Hellmuth Christian Wolff: Die Händel-Oper auf der modernen Bühne. Ein Beitrag zu Geschichte und Praxis der Opern-Bearbeitung und -Inszenierung in der Zeit von 1920 bis 1956, Leipzig 1957, S. 22). 49 Aktenvermerk Meyerhoffs, o. D. (wie Anm. 37). 44 45

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bezügliches Aufführungsmaterial zurückgezogen habe.50 (Ohnehin hatte sich Lehmann zuvor nur schwer entschließen können, der Aufführung zuzustimmen.)51 Die weiteren Äußerungen auf der Sitzung fasste Meyerhoff hinterher in einem Aktenvermerk folgendermaßen zusammen: „Der Kreisleiter erklärte darauf, die Händelwoche finde statt[,] und zwar werde nunmehr als Veranstalter die Kreisleitung auftreten. Er betrachtete den Brief als eine Provokation und werde gegen Lehmann Schritte unternehmen.52 Der Intendant sprach von Sabotage.53 Als ich den Kreisleiter darauf hinwies, daß Fritz Lehmann, wenn unsere Veranstaltung unter GHG gelaufen wäre, mitgewirkt hätte, sagte er mir, ob wir nicht das Führerprinzip hätten oder ein liberalistischer Club wären.“54

Wie von Gengler angekündigt, wurde die Festwoche – ihre letztliche Bezeichnung war Göttinger Händel-Tage 1944 – als Veranstaltung der NSDAP-Kreisleitung ausgewiesen. Trotz des Konflikts mit Meyerhoff scheint es seitens des Kreisleiters keine weiteren Versuche der Einmischung in die Belange der Göttinger Händel-Gesellschaft gegeben zu haben, jedenfalls lassen sich in den (von Kriegsverlusten verschont gebliebenen) Unterlagen der Gesellschaft keine derartigen Bemühungen nachweisen. Einzig unternahm der Gauleiter noch einen Versuch zur Etablierung seiner Idee einer „Dachorganisation“, in deren Arbeit er auch Fritz Lehmann einbinden wollte.55 Auf seinen Wunsch hin fand im Anschluss an die Händel-Tage eine Besprechung Lehmanns mit dem Generalintendanten Gustav Rudolf Sellner in Hannover über die künftige Händel-Arbeit im Gau statt.56 Ebd.; das Zitat aus Lehmanns Absagebrief an Meyerhoff vom 5.6.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 167; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 410 f. (Dok. 2.a.16). 51 Lehmann an Meyerhoff, 29.5.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 195. 52 Ob es solche „Schritte“ gegeben hat und ob Gengler wirklich Lehmann mit einem für den gesamten Gau geltenden Dirigierverbot gedroht hat, wie Meyerhoff später behauptete (siehe das obige Zitat aus Meyerhoffs Leumundszeugnis über Lehmann), ließ sich nicht verifizieren. 53 Der damalige Intendant des Göttinger Stadttheaters, Hans Karl Friedrich, stand in dem geschilderten Interessenskonflikt auf der Seite Genglers – vermutlich auch infolge der privilegierten Stellung, die sein Theater im Programm der Händel-Tage einnehmen durfte. Zur Rolle des städtischen Orchesters bei den Händel-Tagen siehe Burkhard Egdorf: Von der Stadtmusik im 19. Jahrhundert bis zur Gründung des Göttinger Symphonie-Orchesters. Ein Beitrag zur kommunalen Musikgeschichte Göttingens, Göttingen 1989, S. 187 f. 54 Aktenvermerk Meyerhoffs, o. D. (wie Anm. 37). 55 Meyerhoff an Lehmann, 30.6.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 127. 56 Lehmann an Meyerhoff, 9.7.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd.  XXI, Bl.  111; siehe auch Meyerhoff an Sprengel, 6.  und 10.7.1944, HStA Hannover, Dep. 105 Acc. 2/80 Nr. 245. 50

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Bald darauf sorgte die Entwicklung des Kriegsgeschehens für das Ende weiterer Planungen des Musikbetriebs. Am 8. August 1944 wurden in der Stadt Göttingen alle Vorbereitungen des Theater- und Konzertlebens ausgesetzt,57 und am 1. September desselben Jahres trat die von Joseph Goebbels als „Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“ verfügte Schließung fast aller deutschen Theater in Kraft, was auch zur Schließung des Göttinger Stadt­ theaters führte.58 Am 30. August 1944 berichtete Lehmann, dass der Rektor der Göttinger Universität bezüglich der „Dachorganisation“ vorgeschlagen habe, „die weiteren Überlegungen über die Göttinger Händelfrage auf einen späteren Termin zu verschieben“ – eine Ansicht, der sich Lehmann in einem Antwortschreiben angeschlossen habe.59 Meyerhoff berichtete diese Nachricht wenige Tage später Rudolf Gerber und fügte erleichtert hinzu: „Wir dürfen also wohl diesen Zwischenfall einstweilen als erledigt betrachten.“60 – Meyerhoff sollte recht behalten. Das immer wieder verschobene Kantatenkonzert konnte Fritz Lehmann schließlich doch noch realisieren, freilich erst nach Kriegsende. Es war dies zugleich die erste öffentliche Veranstaltung der Göttinger Händel-Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1946 konnten dann in Göttingen auch wieder Händel-Festspiele stattfinden, in denen Lehmann die ebenfalls schon seit Jahren vorgesehene Aufführung der von ihm eingerichteten Händel-Oper Ariadne nachholte. * Die geschilderte gemeinsame Aktion des Gauleiters und des Kreisleiters war nicht der einzige Versuch von NSDAP-Funktionären, sich der Göttinger Händel-Pflege zu bemächtigen. Bereits im Jahr 1939 hatte es eine vergleichbare Aktion zur Beseitigung der Autonomie der Göttinger Händel-Gesellschaft als der privaten Trägerin der Göttinger Händel-Festspiele gegeben. Bevor ich über diese Ereignisse berichte, erscheint es zunächst erforderlich, der Frage nachzugehen, wie es zur Trägerschaft durch die Gesellschaft gekommen war. Bekanntlich sind die seit 1920 veranstalteten Festspiele das Ergebnis einer Privatinitiative: der Initiative Oskar Hagens. Als Veranstalter und Förderer

[Kempen]: Chronik der Stadt Göttingen 1944 (wie Anm. 15), 8. August (S. 448). Siehe Burkhard Egdorf: Von der Stadtmusik (wie Anm. 53), S. 189. 59 Lehmann an Meyerhoff, 30.8.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XXI, Bl. 80. 60 Meyerhoff an Gerber, 5.9.1944, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd. XXI, Bl. 73. 57

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fungierte von Beginn an der Göttinger Universitätsbund. Dass Hagen ohne zusätzliche Förderer auskam, verdankte er dem Umstand, dass die benötigten finanziellen Mittel während der ersten Festspiele außerordentlich gering waren. Die Instrumentalisten, sämtlich musikalische Laien aus dem Umfeld der Universität, spielten ehrenamtlich; die Gesangssolisten kamen zu „unendlich bescheidenen Honoraren“ (wie es ein zeitgenössischer Berichterstatter formulierte) und wurden von Göttinger Familien beherbergt.61 Für die Einrichtung des Aufführungsmaterials, einschließlich der Übersetzung des Textes, sowie für die Einstudierung und die musikalische Leitung der Aufführungen fielen während der Ära Hagen Zeit keine Kosten an, weil es sich um Tätigkeiten handelte, die der unermüdliche Initiator der Festspiele allein bewältigte. Bereits die im Jahr 1920 stattgefundenen Aufführungen der Hagenschen Bearbeitung der Rodelinde (Rodelinda, Regina de’ Longobardi HWV  19) waren überaus erfolgreich verlaufen. Offensichtlich hatte Hagen, der 35 größtenteils sehr lobend gehaltene Zeitungsberichte über dieses Ereignis ermitteln konnte,62 einen Nerv seiner Zeit getroffen. In der Folge begründete Hagens Initiative nicht nur in Göttingen eine Tradition, sondern löste zugleich zahlreiche Nachahmungen aus. Die Göttinger Fassungen der von 1920 bis 1924 wiedererweckten Händel-Opern  – neben der Rodelinde waren dies Otto und Theophano (Ottone, Re di Germania HWV 15), Julius Cäsar (Giulio Cesare in Egitto HWV 17) und Xerxes (Serse HWV 40) – wurden in vielen Städten nachgespielt. Bis 1927 war Rodelinde bereits auf 21 Bühnen 136mal, Julius Cäsar auf 33 Bühnen 222mal aufgeführt worden; die Gesamtzahl der Händelopernaufführungen betrug 593.63 Über die Gründe dieses Erfolges wurde von Beteiligten und zeitgenössischen Beobachtern viel spekuliert. Beispielsweise äußerte sich ein Vierteljahrhundert später Walter Meyerhoff folgendermaßen: „Man wird sagen dürfen, daß die seelische Lage in Deutschland nach dem verlorenen Weltkriege für die Wiedererweckung Händels einen besonders günstigen Boden abgab. Seine Einfachheit, seine Kraft und Größe hatten in dieser Zeit der Zerfah-

Karl Brandi: Die Beziehungen der Landesuniversität zum niedersächsischen Lebensraum; Ziele und Möglichkeiten des Universitätsbundes, in: Universitätsbund Göttingen. Mitteilungen, 15. Jg., Heft 1 (15. Oktober 1933), S. 7–22, hier S. 10. 62 Oskar Hagen: Die deutsche Uraufführung von G. Fr. Händels Musikdrama Rodelinde im Göttinger Stadttheater am 26. Juni 1920, veranstaltet vom Universitätsbund, in: Universitätsbund Göttingen. Mitteilungen, 2. Jg., Heft 1 (1. Oktober 1920), S. 21–35. 63 Alfred Bertholet: Georg Friedrich Händel. Rede zur Feier des 250-jährigen Geburtstages Georg Friedrich Händels, in: Universitätsbund Göttingen e. V. Mitteilungen, 17.  Jg. (1935), Heft  1, S. 1–6, hier S. 2 f. 61

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renheit und Mutlosigkeit vielen etwas zu geben, und nach dem Verlust von äußerer Macht und Größe flüchtete man in die inneren seelischen Bereiche und suchte Trost und Mut in den meisterhaften Schilderungen menschlicher Affekte in Händels Opern.“64

Doch kam Hagen auch mit seinen Bearbeitungen den Erwartungen des Publi­ kums entgegen. Seine Textübersetzung von Rodelinde ist, wie Rudolf Steglich es nannte, „gestört durch naturalistische und empfindsame Einbrüche“.65 Vergleichbar mit den praktischen Ausgaben Friedrich Chrysanders fügte Hagen der Partitur Zeichen für Phrasierung, Dynamik und Artikulation hinzu. Vor allem aber nahm er starke Kürzungen vor. So hatte er in Rodelinde u. a. alle Arien zweier Nebenfiguren gestrichen; nach seinen Worten hatte die musikalisch-dramaturgische Einrichtung „alles, was dem klaren und raschen Verlauf der dramatischen Aktion im Wege stehen konnte, auszuscheiden“.66 Diese um der dramatischen Wirkung willen vorgenommenen Änderungen erregten bald die musikwissenschaftliche Kritik.67 Bereits vor den Festspielen des Jahres 1922 wurde erstmals ein Regisseur verpflichtet, der fortan für lange Zeit die Göttinger Händel-Opern-Inszenierungen prägen sollte: der damals gerade an die Städtischen Bühnen Hannover berufene Hanns Niedecken-Gebhard (1889–1954). Besonders erfolgreich und zahlreiche Nachahmungen auslösend war die Bearbeitung des Julius Cäsar (Erstaufführung 1922), was neben dem Sujet auch durch Hagens noch stärkeres Bemühen um geraffte Handlung und zugleich neuzeitlich-psychologische Entwicklung verursacht gewesen sein mag. Erstmals wurde hier vom Mittel der Durchtextierung der Arien Gebrauch gemacht – ein Mittel, das nach dem Zweiten Weltkrieg zum prägenden Merkmal der Händel-Opern-Bearbeitungen des hallischen Regisseurs Heinz Rückert werden sollte. NiedeckenGebhard überarbeitete aber auch die Inszenierungen der bereits früher von­ Hagen aufgeführten und nun wieder ins Programm genommenen Opern. Als Veranstalter der Händelopern-Festspiele, wie sie seit 1921 genannt wurden, fungierte der Universitätsbund nur bis 1923. Er blieb jedoch den Festspielen auch danach eng verbunden, was nicht zuletzt durch den Umstand zum Ausdruck kam, dass sein Vorsitzender, der Historiker Karl Brandi (1868–1946), Walter Meyerhoff: Die Göttinger Händel-Opern-Festspiele 1946, in: Göttinger Händel-OpernFestspiele 1946, [Festschrift], Göttingen [1946], S. 5–7. 65 Rudolf Steglich: Die neue Händel-Opern-Bewegung, in: Händel-Jahrbuch 1 (1928), S. 71–158, hier S. 87 f. 66 Hagen: Die deutsche Uraufführung (wie Anm. 62), S. 29. 67 Rudolf Steglich: Die Göttinger Händelopern-Renaissance, Teil I: Von 1920 bis 1934, in: Musica 10 (1956), S. 585–587. 64

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dem neu geschaffenen Gremium angehörte, in dessen Händen bereits im Frühjahr 1924 die Vorbereitung der Festspiele lagen.68 Es war dies ein Kuratorium, das am 15.  August 1924 zur Bildung der Festspielgemeinde  – einer losen Vereinigung von Händel-Freunden, die mit ihren Beiträgen die Festspiele förderten – aufrief.69 Vorsitzender des Kuratoriums war Alfred Bertholet (1868–1951), ein Schweizer reformierter Theologe, der 1914 als Professor nach Göttingen gekommen war. Als Laienmusiker war Bertholet mit Hagen bereits früh verbunden gewesen: Schon 1919 hatte er an dessen Hausmusikabenden teilgenommen und dann bei Brandi (der auch damals schon den Vorsitz des Universitätsbundes inne hatte)  um Unterstützung des Plans zur Aufführung einer Händel-Oper geworben.70 Später wirkte er unter Hagens Leitung auch bei den Opernaufführungen mit.71 Nachdem schon Hagens Weggang in die USA 1925 eine Krisensituation geschaffen hatte, in deren Folge in diesem Jahr die Göttinger Festspiele ausfielen und durch ein Händelkonzert unter Leitung von Wolfgang Stechow und Solodarbietungen von Georg A. Walter ersetzt wurden, löste im Jahr 1928 Bertholets Weggang – er folgte einem Ruf an die Universität Berlin – eine erneute Krise aus: Wiederum mussten für ein Jahr (1929) die Festspiele ausfallen. Ohne Bertholets treibende Kraft war die Festspielgemeinde nach dessen Weggang „zerfallen“, wie Meyerhoff später konstatierte.72 Nach dem Weggang Hagens übernahm Rudolf Schulz-Dornburg die musikalische Leitung der Göttinger Händel-Opern-Aufführungen. Als Regisseur war weiterhin Hanns NiedeckenGebhard tätig, der aus Münster, wo er von 1924 bis 1927 Intendant war, seine Tanzgruppe und seinen Bühnenbildner Heinrich Heckroth nach Göttingen mitbrachte. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu einem dramatischen Einbruch der Händel-Opernpflege, den zeitgenössische Beobachter als Krise deuteten.73 In Göttingen fanden zwar im Jahr 1930 wieder Festspiele

Steglich: Die neue Händel-Opern-Bewegung (wie Anm. 65), S. 119 f. Im Gegensatz dazu erscheint in Meyerhoffs Chronik (wie Anm. 10) für die Festspiele von 1924 noch der Universitätsbund als Träger (hier S. 187), was sich durch den Schriftverkehr zur Veranstaltung der Göttinger Händel-Festspiele (StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 16 Bd. 1) widerlegen lässt. 69 Meyerhoff: Chronik (wie Anm. 10), S. 187. 70 Bertholet: Georg Friedrich Händel (wie Anm. 63), S. 2. 71 So ist aus Hagens Bericht über die Rodelinde-Aufführungen von 1920 (wie Anm. 62) zu erfahren, dass Bertholet als Sologeiger mitwirkte. 72 Meyerhoff: Chronik (wie Anm. 10), S. 188. 73 So insbesondere mit Bezug auf Händelopernaufführungen in Berlin und Leipzig Rudolf Steglich: Über die gegenwärtige Krise der Händelpflege, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 10 (1927/28), S. 632–641. 68

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statt, doch sollten sich diese als ein missglücktes Experiment erweisen.74 Die Geschäftsführung lag jetzt bei dem Göttinger Regierungsdirektor i. R. Adolf Rath (1863–1945);75 die künstlerische Leitung hatte Hanns Niedecken-Gebhard inne, der aus finanziellen Gründen versuchte, die Festspieltradition zu retten, indem er der Händel-Pflege nur noch einen Nebenschauplatz im Programm einräumte.76 Offenbar hatte ein Spendenaufruf im Herbst des Vorjahres77 nicht den erhofften Erfolg gebracht. Im Mittelpunkt der jetzt in Göttinger Festspiele umbenannten Veranstaltungsreihe standen Inszenierungen von Shakespeares Ein Sommernachtstraum (3  Aufführungen) und Goethes Urfaust (2 Aufführungen) mit Laienspielern sowie Tänzern als Darsteller. Trotz des Verzichts auf Opernaufführungen erwiesen sich die Festspiele von 1930 auch in finanzieller Hinsicht als Misserfolg. Angesichts dessen hat sich die Idee durchgesetzt, die lose Form der Festspielgemeinde aufzugeben und die Göttinger Händel-Freunde zur „Begründung einer mit Rechtscharakter ausgestatteten Händelgesellschaft“ aufzurufen.78 Die Gründung der Göttinger Händelgesellschaft e. V. erfolgte dann am 17. Februar 1931, und am 12. März 1931 wurde der neue Verein ins Vereinsregister des Amtsgerichts Göttingen eingetragen. In ihren Satzungen bestimmte die Gesellschaft es als ihre Aufgabe, „die Überlieferung der Göttinger Händelfestspiele“ zu pflegen und auszubauen, „insbesondere durch Veranstaltung von Konzerten und Festspielen“, und sie betrachtete es „als Ehrenpflicht, für berechtigte Forderungen aus den früheren Festspielen nach Maßgabe der verfügbaren Mittel einzutreten“.79 In der Tat bestand die anfängliche Tätigkeit der Gesellschaft lediglich darin, die Schulden abzudecken und Erinnerungskonzerte auszurichten.80 Für Opernaufführungen fehlte das Geld. Das zeigte sich schon 1931, als sich Niedecken-Gebhards Plan, neben einem Festkonzert zum 25-jährigen Bestehen der AOV auch eine Neueinstudierung der Oper Xerxes (Serse HWV  40) und

Meyerhoff: Denkschrift, 6.6.1944 (wie Anm.  41); ders.: Kurze Darstellung (wie Anm.  47); ders.: 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele (wie Anm. 8), S. 104. Siehe auch die Dissertation von Imhoof: Guns, opera, and movies (wie Anm. 1), S. 109–113. 75 Rath war von 1920 bis 1925 Landrat des Kreises Wittlage und seit 1925 Regierungsdirektor bei der Regierung in Minden (Mitteilung des Stadtarchivs Göttingen). 76 Hanns Niedecken-Gebhard: Göttinger Festspiele 1930. Eine Rechtfertigung und ein Bekenntnis, in: Göttinger Festspiele 1930 [Programm], S. 10–12. 77 Erhalten sind Fassungen vom Oktober 1929 (StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 16 Bd. 1, Bl. 116–118) und November 1929 (ebd., Bl. 111 f.). 78 Göttinger Händelgesellschaft, gedruckter Entwurf eines Aufrufs, November 1930, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 16 Bd. 1, Bl. 176. 79 Satzungen der Göttinger Händelgesellschaft e. V., StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 16 Bd. 1, Bl. 181. 80 Meyerhoff: Kurze Darstellung (wie Anm. 47). 74

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Tanzspiele zu veranstalten,81 nicht realisieren ließ. Bis 1933 versuchte die Gesellschaft, die Tradition der Händel-Festspiele aufrecht zu erhalten, indem sie im Sommer Orchesterkonzerte, Kammermusikaufführungen und szenische Aufführung von Kantaten veranstaltete. Als Dirigent tat sich dabei der bereits erwähnte Kunsthistoriker Wolfgang Stechow (1896–1974) hervor, auf den ich an späterer Stelle noch ausführlich zu sprechen komme. Im Jahr 1934 setzte ein aufführungspraktischer Wandel ein, der mit einer zweiten Blütezeit der Göttinger Händel-Festspiele einher gehen sollte: Fritz Lehmann, der auch früher schon gelegentlich zu den Händel-Festspielen dirigiert hatte, entwickelte als neuer künstlerischer Leiter zusammen mit dem im selben Jahr in Göttingen zum Extraordinarius berufenen Musikwissenschaftler Hermann Zenck (1898–1950) die „Göttinger Linie der originalgetreuen Wiedergabe“,82 die zumeist mit dem Begriff „Werktreue“ bezeichnet wurde und deren markantestes Merkmal die strichlose Aufführung von Händels Opern und Kantaten war. Walter Meyerhoff berichtete später, wie es ihm während eines nächtlichen Spaziergangs in Halle am 24. Februar 1935 gelang, den Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard dafür zu gewinnen, das Konzept der strichlosen Aufführungen mitzutragen.83 Zwar hatte dieses Bemühen Erfolg, doch ließ sich Niedecken-Gebhard vermutlich mehr aus Treue zu Göttingen als aus innerer Überzeugung auf dieses Konzept ein, mit dem er sich nie ganz identifizierte und über das er sich später distanziert äußerte: „Man glaubte sich verpflichtet, die Händelpartitur wortwörtlich wiedergeben zu müssen. Man verfiel dem verlockenden Begriff der ‚Werktreue‘, ohne zu merken, daß man eigentlich nur buchstabengetreu wurde. […] Es wäre richtig und dringend wünschenswert gewesen, die völlig strichlose Händeloper zu Studienzwecken für Musikund Theaterwissenschaftler einmal durchzuführen. Es war falsch, daraus ein Prinzip für die Aufführungspraxis zu machen.“84

Niedecken-Gebhards Kritik gewinnt aus heutiger Sicht insofern eine gewisse Berechtigung, als in Lehmanns Konzept die strichlose Wiedergabe zum maßgebenden Kriterium von ‚Originaltreue‘ wurde, während andere Parameter historischer Aufführungspraxis vernachlässigt wurden, insbesondere die Verwendung historischer Instrumente und entsprechender Spieltechniken. Auch wurden Händels Vokalwerke nach wie vor nicht in der Originalsprache inter Händel-Festspiele 1931?, Zeitungsausschnitt, undatiert [ca. Februar / März 1931], StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. I d, Bl. 129. 82 Aktenvermerk Meyerhoffs, o. D. (wie Anm. 37). 83 Meyerhoff: 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele (wie Anm. 8), S. 105. 84 Niedecken-Gebhard: Ein Rückblick. Dreißig Jahre Händelrenaissance (wie Anm. 9), S. 20–26, hier S. 24 f. 81

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pretiert, wenn auch die Übersetzungen Dahnks sich durch wesentlich größere Nähe zum Original auszeichneten als die Nachdichtungen Hagens. Charakteristisch für den neuen ‚statuarischen Stil‘ von Niedecken-Gebhards Händel-Inszenierungen wurde die stilisierte Adaption historischer Vorbilder, was mit einer weitgehenden Zurücknahme der einst für Niedecken-Gebhard so typischen Dimension der Bewegung verbunden war. Das zeigte sich vor allem im Verharren der Sänger in posierender Haltung während der Arien. So äußerte sich der Regisseur beispielsweise über seine Inszenierung der Oper Scipio (Publio Cornelio Scipione HWV 20) im Jahr 1937 folgendermaßen: „In Anlehnung an die Aufführungspraxis der Händelzeit wird alle szenische Bewegung in das Rezitativ verlegt und die Arien mehr oder minder konzertant behandelt. Die Personen werden einzig vor gemalten Prospekten in ihren reichen Kostümen agieren.“85

Die erste Inszenierung im neuen Stil war 1935 Parthenope (Partenope HWV 27); 1936 folgten Wiederaufnahmen früherer Göttinger Produktionen, darunter eine Neuinszenierung der zuerst 1934 aufgeführten Masque Acis und Galatea (Acis and Galatea HWV 49) als „konzertantes Kammerspiel“, und auf die bereits erwähnte Scipio-Aufführung von 1937 folgte 1938 Ptolomäus (Tolomeo, re di Egitto HWV 25). Es drängt sich die Frage auf, in welcher Weise der radikale Wille zur Originaltreue im Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen in Deutschland nach der Errichtung der NS -Diktatur gestanden hat. Sicherlich wäre es unangemessen, wenn man diesen Willen als Symptom von ‚innerer Emigration‘ deuten würde, doch scheint es mir nicht übertrieben zu sein, von einer demonstrativen Flucht in die künstlerische Autonomie zu sprechen. Denkbar ist auch, dass sich Lehmann, Zenck und Meyerhoff von einer aufführungspraktischen Bewegung inspirieren ließen, die 1933 für NS -Gegner dadurch an Attraktivität gewann, dass sie von deutsch-christlichen Aktivisten bekämpft wurde: die in den 1920er Jahren einsetzende Orgelbewegung bzw. überhaupt die damalige Wiederentdeckung der Kirchenmusik der Reformationszeit. Die Opponenten der Orgelbewegung, die sich bereits während der Weimarer Republik organisiert hatten,86 verbündeten sich nun mit den neuen politischen Machthabern – Niedecken-Gebhard: Die szenischen Aufgaben in Göttingen 1937, in: Niedersächsische Hochschul-Zeitung, Sommersemester 1937, Heft 2 (Juni 1937), S. 7 f., hier S. 8. 86 Jörg Fischer spricht von einer „Orgel-Gegenbewegung“ (ders.: Geschichtlichkeit – Kulturkritik – Autonomieverlust. Bewegungen um die Orgel in der Weimarer Republik, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.): Orgel und Ideologie. Bericht über das fünfte Colloquium der Walcker-Stiftung für orgelwissenschaftliche Forschung 5.–7. Mai 1983 in Göttweig, Murrhardt 1984 [=Veröffentlichungen der Walcker-Stiftung 9], S. 133–156, hier S. 134).

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offenbar in der Hoffnung, mit deren Hilfe ihren unter demokratischen Verhältnissen aussichtslosen Kampf für sich entscheiden zu können. Als besonders provokativ tat sich dabei ein Berliner Kirchenmusiker hervor: Hans-Georg Görner (1908–1984). Er war 1933 Fachberater für Kirchenmusik im Kampfbund für deutsche Kultur und Fachleiter für Kirchenmusik bei der Reichsleitung der Deutschen Christen und wurde bald auch Präsident des (deutsch-christlichen) Reichsverbandes evangelischer Kirchenmusiker Deutschlands.87 Bereits im Frühjahr 1933 hatte er eine Zeitschrift gegründet – Kirchenmusik im dritten Reich –, in der er zusammen mit Gleichgesinnten sein Unverständnis über die von der Orgelbewegung propagierte Wiederentdeckung und Restaurierung älterer Orgeln äußerte und die Hinwendung zu älterer Musik als „schranken­ losen Historismus“ schmähte: „Wer kritiklos ein verklungenes Zeitalter herbeiwünscht, beweist damit, wie sehr es ihm an neuen, zukunftsreichen Gedanken mangelt.“88 Die Ausfälle Görners und seines nicht minder polemischen Gesinnungsgenossen Theodor Herzberg in Kirchenmusik im dritten Reich veranlassten im Mai 1933 die führenden Vertreter der evangelischen Kirchenmusik zu einer öffentlichen Erklärung,89 mit der sie „davor warnen“ wollten, „diese Herren als Berater der nationalen Bewegung und der Deutschen Christen zu verwenden“.90 Auffallend ist, dass Walter Meyerhoff sich merklich einem Rechtfertigungsdruck für das neue aufführungspraktische Konzept der Göttinger HändelFestspiele ausgesetzt sah. Das zeigte sich in dem Bemühen, den Vorwurf abzuwehren, dieses Konzept sei zu elitär und stünde deshalb den Bestrebungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik entgegen. So wies er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den großen Erfolg der Göttinger Aufführungen hin, der das Festhalten an diesem Konzept rechtfertige. Besondere Unterstützung Lars Klingberg: Kirchenmusik im Dritten Reich. Fallbeispiel Hans-Georg Görner, in: Ingeborg Allihn und Wilhelm Poeschel (Hg.): Wie mit vollen Chören. 500 Jahre Kirchenmusik in Berlins historischer Mitte, Beeskow 2010, S. 192–211, hier S. 194. 88 Hans-Georg Görner: Die Kirchenmusik im Kampf um die Erweckung der deutschen Seele, in: Hans-Georg Görner (Hg.): Kirchenmusik im dritten Reich. Anregungen und Richtlinien, [1. Folge], S. 2–5, hier S. 2. 89 Erklärung. (Zu dem Flugblatt „Kirchenmusik im dritten Reich“), Berlin [1933]; Wiederabdruck der darüber hinaus auch in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Erklärung in: Joseph Wulf: Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. / Berlin 1989 (Joseph Wulf: Kultur im Dritten Reich 5), S. 65–67; wiederabgedruckt auch in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 2, S. 661–663 (Dok. 5.a.6.b). 90 So der Organist Wolfgang Auler in seinem im Namen der Unterzeichner an den Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, gerichteten Begleitschreiben zur Erklärung, 20.5.1933, Bundesarchiv, R 55/1138, Bl. 37; vgl. die Abschrift in: Fred K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, 2. Edition, Auprès de Zombry 2009, S. 225. 87

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fand er in diesem Bemühen (wie überhaupt in allen Angelegenheiten der Händel-Festspiele) in der Person des Musikbeauftragten der Stadt Göttingen, Wilhelm van Kempen (1894–1981). Beispielsweise bemühte sich Kempen 1936 in einem Schreiben an den Göttinger Oberbürgermeister nachdrücklich darum, Vorbehalte gegenüber der strichlosen Aufführungspraxis auszuräumen. Er verteidigte den „Göttinger Händel-Stil“ („die Werke Händels hier in Göttingen ohne Bearbeitung, d. h. originalgetreu wiederzugeben“) und verwies auf das positive Presseecho der Aufführungen.91 1935 wies er die Beschwerde eines Göttinger Musiklehrers zurück, der die im selben Jahr bevorstehenden Händel-Festspiele als „nicht im nationalsozialistischen Sinne“ und Werk einer „Judenklique“ bezeichnet hatte.92 Bevor Kempen 1934 nach Göttingen kam, um das dortige Stadtarchiv zu leiten, war er in seiner Heimatstadt Dessau sowie in mehreren anderen anhaltinischen Städten als Kunsthistoriker tätig gewesen und hatte sich auch im großen Umfang publizistisch betätigt. Dabei hatte er lokale kunsthistorische und denkmalpflegerische Themen bevorzugt; er hatte sich aber auch für Künstler eingesetzt, die später von den Nationalsozialisten verfemt wurden, etwa Käthe Kollwitz und Max Liebermann, und er war ein Befürworter der Übernahme des Bauhauses durch die Stadt Dessau.93 Seine Berufung zum Städtischen Musikbeauftragten im Oktober 1934 verdankte er der Unterstützung der Göttinger Stadtverwaltung, insbesondere des Bürgermeisters Albert Gnade (1886–1966). Seine Nominierung durch die Stadt zum Nachfolger des zurückgetretenen Musikbeauftragten Paul Stiegler hatte eine jahrelange Machtprobe mit der NSDAP-Kreisleitung und der Reichsmusikkammer ausgelöst, weil die Kreisleitung den parteilosen Kandidaten nicht akzeptierte und Bürgermeister Gnade den daraufhin vom Amt für Konzertwesen als Kandidaten vorgeschlagenen NS -Aktivisten Josef Wilhelm Kindervater (1891–1968) ablehnte. Erst im August 1936 erklärte sich das Amt für Konzertwesen mit der Ernennung Kempens als Musikbeauftragten einverstanden, der bis dahin diese Tätigkeit nur kommissarisch hatte ausüben dürfen.94

Kempen an Jung, 14.7.1936, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 16 Bd. 1, Bl. 264–266. Kempen an Paul Stephan, 3.6.1935, StA Göttingen, AHR I E 2, 13 Nr. 21 Bd. 1, Bl. 278. Stephan (1892–1980) war seit 1927 Musikpädagoge an der Personnschule, einer Mittelschule für Mädchen in Göttingen. Außerdem war er langjähriger Leiter des Göttinger Frauenchores (Mitteilung des Stadtarchivs Göttingen). 93 Siehe die (auch eine Liste der Publikationen Kempens enthaltene)  biographische Abhandlung von Wilhelm Wegener: Dr. phil. Wilhelm van Kempen, in: Göttinger Jahrbuch 3 (1954), S. 10–17. 94 Ausführlich zu diesem Machtkampf (anhand von Unterlagen aus dem Stadtarchiv Göttingen, AHR  I E  2,  13 Nr.  17): Busemann: Nonkonformismus versus Gleichschaltung (wie Anm. 1), S. 116 f. 91

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Von 1935 an konnte sich die Göttinger Händel-Gesellschaft erstmals einer staatlichen finanziellen Förderung erfreuen. Die Folge davon war, dass die Händel-Festspiele nun so opulent wie nie zuvor ausgestaltet werden konnten. Nachdem in den Jahren 1937 und 1938 das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda einer der Hauptförderer gewesen war, richtete Meyerhoff an dieses Ministerium auch für 1939 einen Antrag auf Bezuschussung. Wie bisher übermittelte er den Antrag nicht auf direktem Weg, sondern beschritt den Dienstweg und wandte sich deshalb an das Reichspropagandaamt (RPA) des Gaus Südhannover-Braunschweig.95 Diesmal unterstützte diese NSDAP-Institution den Antrag jedoch nicht, sondern sah sich stattdessen veranlasst, eine Offensive zur Übernahme der Gesellschaft durch das NS -Regime zu starten. Federführend war dabei der Kulturreferent des RPA , Oskar Liskowsky,96 der vermutlich im Auftrag seines Vorgesetzten, des RPA-Leiters Herbert Huxhagen handelte.97 Gemeinsam mit Liskowsky agierte außerdem der Landesleiter der Reichsmusikkammer, Karl Rolan (1904–1944). Beide Herren, Liskowsky und Rolan, wurden am 16. Mai 1939 bei Meyerhoff vorstellig, um ihre Forderungen vorzubringen. Meyerhoff berichtete darüber am Tag darauf in einem Brief an Fritz Lehmann. Demnach sollten die Händel-Festspiele künftig in die Gaukulturpolitik eingeschaltet werden und „durch Einsetzen der Parteipropaganda zu einer über das ganze Reich verbreiteten Veranstaltung“ gemacht werden. Dafür solle die Organisation geändert werden: „Der künftige Vorstand der Händel-Gesellschaft, der ernannt und nicht gewählt werden soll, soll aus dem Oberbürgermeister, einem Vertreter des Rektors und einem Vertreter des Reichspropagandaamtes bestehen. Ferner soll ein künstlerischer Beirat aus zahlreichen, an Händel interessierten Personen aus dem ganzen Reich berufen werden.“98

Am 22.  Mai 1939 brachte Liskowsky seine Forderungen in einer „Kurz­ gefassten Denkschrift“ zu Papier, in der er eine „Reorganisation“ der Göttinger Meyerhoff an das Reichspropagandaamt Südhannover-Braunschweig mit Anlage an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, 20.2.1939, StA Göttingen, AHR  I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 96–98. 96 Für die Ermittlung des Vornamens des stets nur als „Dr. Liskowsky“ aktenkundig gewordenen Kulturreferenten danke ich dem Niedersächsischen Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover. 97 Das geht indirekt aus einem Schreiben Liskowskys an den Göttinger Oberbürgermeister Bruno Jung vom 27. März 1939 hervor (StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 110). 98 Meyerhoff an Lehmann, 17.5.1939, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XVIII, Bl. 363; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 399 f. (Dok. 2.a.11). 95

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Händel-Gesellschaft und entsprechende Satzungsänderungen verlangte.99 Dabei verfuhr er mit der Gesellschaft so, als ob es sich bei ihr um eine nachgeordnete Verwaltungseinrichtung seiner Behörde und nicht um eine selbständige Organisation handeln würde. Mit der Begründung, die Gesellschaft befinde sich in einer „gefährdeten finanziellen Lage“, die ein „sofortiges Eingreifen“ erforderlich mache, rechtfertigte er die von ihm detailliert geplante „organisatorische Umformung“. Notwendig sei „die Umbildung der bisherigen Führung der GHG zu einem repräsentativen Gremium“. Die bisherigen Vorstandsmitglieder müssten durch politisch einflussreiche Personen (die Liskowsky teilweise sogar namentlich aufführte) ersetzt werden. So war vorgesehen, das Amt eines Präsidenten zu schaffen, der vom Göttinger Oberbürgermeister im Einvernehmen mit dem Leiter des Reichspropagandaamts zu ernennen sei und der dann – wiederum im Einvernehmen mit dem RPA – die übrigen sechs Vorstandsmitglieder zu ernennen hätte. Da der Oberbürgermeister zugleich auch diejenige Person sein sollte, die für das Präsidentenamt in Aussicht genommen wurde, war die absurde Konstellation vorgezeichnet, dass sich der Präsident selbst ernennt. „Erster Vorsitzender“ sollte Liskowskys Vertrauter Rolan als „Vertrauensmann“ des RPA werden; zu seinen Stellvertretern sollten Vertrauensmänner der Universität und des Oberpräsidenten ernannt werden, während der Sachbearbeiter in der NSDAP-Kreisleitung Dr. Crome100 als „Vertrauensmann der Kreisleitung“ zum Geschäftsführenden Vorstandsmitglied ernannt werden sollte. Meyerhoff sollte nicht gänzlich fallengelassen werden, sondern als „Schriftführer und Justitiar“ weiterhin im Vorstand Verwendung finden. Für eine einzuberufende außerordentliche Mitgliederversammlung, auf der die geforderten Änderungen beschlossen werden sollten, legte Liskowsky einen genauen Termin – den 1. Juni 1939 – und sogar auch schon die Tagesordnung fest.101 Einen ähnlich gearteten Gleichschaltungsversuch hatte dasselbe Reichs­ propagandaamt kurz zuvor schon gegenüber einem anderen im Gau Südhannover-Braunschweig ansässigen Kulturverein unternommen, nämlich gegenüber der Wilhelm-Busch-Gesellschaft in Hannover. Auch hier war vorgesehen, den Vorstand und die Geschäftsführung komplett auszuwechseln. Für eine Übergangszeit sollte Landeskulturwalter Herbert Huxhagen als 1. Vorsitzender installiert werden und die „notwendige Reorganisation der Satzungen

Oskar Liskowsky: Kurzgefasste Denkschrift zur Reorganisation der Göttinger Händelgesellschaft e. V., 22.5.1939, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 112–118; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 400–403 (Dok. 2.a.12). 100 Möglicherweise handelte es sich um den Archäologen Johann Friedrich Crome (1906–1962). 101 Liskowsky: Kurzgefasste Denkschrift (wie Anm. 99). 99

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und des Vorstandswesens“ leiten (so Oskar Liskowsky am 17. Januar 1939 an den hannoverschen Oberbürgermeister Henricus Haltenhoff), anschließend sollte Haltenhoff selbst den Vorsitz übernehmen.102 In diesem Fall endete der Machtkampf Ende Februar 1939 mit einem Kompromiss: Einerseits wurde beschlossen, den (der Partei missliebigen) bisherigen Vorsitzenden, den früheren Oberbürgermeister Arthur Menge, durch Haltenhoff abzulösen sowie weitere Personen in den Vorstand bzw. in einem Ehrenausschuss aufzunehmen, andererseits konnten die beiden Vorstandsmitglieder Walther Lampe und Emil Conrad, die sich gegen die Pläne des Reichspropagandaamts vehement gewehrt hatten, ihre Ämter behalten.103 Im Fall der Göttinger Händel-Gesellschaft entwickelten sich die Dinge hingegen anders. Zunächst reagierte Meyerhoff auf die genannte Denkschrift mit einer detaillierten Stellungnahme, in der er die Positionen und Forderungen des RPA zurückwies.104 Dabei operierte er sehr geschickt. So erklärte er sich mit der Absicht, „die Göttinger Händel-Gesellschaft auf breitere Grundlage zu stellen“, durchaus einverstanden und stellte „die hierfür zu findende Form“ den „Stellen, die künftig über die Geschicke der Göttinger Händelfestspiele bestimmen wollen“, anheim. Andererseits verlangte er von Liskowsky eine Darlegung der „kulturpolitischen Gründe“, die angeblich die „organisatorische Umformung“ notwendig machten, und er verwahrte sich dagegen, dass die Umformung „unter der sachlich nicht zutreffenden Angabe erfolgt, die Göttinger Händel-Gesellschaft stehe infolge Überschuldung und finanzieller Fehldispositionen vor dem Zusammenbruche“. Punkt für Punkt wies er nach, dass die in der Denkschrift gegebene „Darstellung der finanziellen Gesamtlage“ auf „teils unvollständigen, teils mißverstandenen Unterlagen“ beruhe und daher zu einem „unrichtigen Ergebnis“ gekommen sei. Schließlich verlangte er eine Verschiebung der „Umformung“ auf die Zeit nach dem Händel-Fest und beantragte eine Besprechung des Vorstandes mit dem neuen Oberbürgermeister Albert Gnade. Auch solle der Termin der von Liskowsky geforderten Mitgliederversammlung in Absprache mit dem Oberbürgermeister vereinbart werden. In einer Replik akzeptierte Liskowsky dieses Vorgehen und ersuchte Meyerhoff, den Termin der Mitgliederversammlung „keinesfalls später als Ende Juni Zitiert in Monika Herlt: 75 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft – eine Chronik, in: Satire. Mitteilungen der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Nr. 69 (2005), S. 9–33, hier S. 13 f. 103 Ebd., S. 14. 104 Walter Meyerhoff, Stellungnahme zur Denkschrift des Reichspropagandaamtes Gau Südhannover-Braunschweig betreffend die Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. vom 22.  Mai 1939 X 10025, 24.5.1939, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 120–126; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 404–407 (Dok. 2.a.13). 102

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festzusetzen“, damit die Vorbereitungsarbeiten für die Händel-Festspiele des folgenden Jahres von Anfang an „der neuen Führung zu überlassen, die sicher nichts verabsäumen wird, um tatkräftige und leistungsfähige Persönlichkeiten heranzuziehen, die gewillt und in der Lage sind, die künftigen Göttinger Händel-Festspiele politisch, künstlerisch und wissenschaftlich unter Wahrung der lebenskräftigen traditionellen Elemente zu einem nationalsozialistischen Musikfest von ganz besonderer Bedeutung auszugestalten“.105 Meyerhoff befürchtete nun, wie er Hanns Niedecken-Gebhard anvertraute, „daß […] die jungen Leute in Hannover nicht nur die bisherige Form der Organisation, also die private Initiative beseitigen wollen, sondern daß auch ein Wechsel in der künstlerischen Leitung beabsichtigt ist, daß man also Lehmann und Sie ausschiffen will“.106 Doch überraschenderweise verlief diese Auseinandersetzung, die zunächst so forsch begonnen hatte, schon nach wenigen Wochen im Sande, sodass letztlich die geforderte „Reorganisation“ nicht zustande kam. Zunächst wandte sich Meyerhoff an Niedecken-Gebhard und bat ihn, im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda zu sondieren, „wie man dort die Sache beurteilt“.107 Niedecken-Gebhard nahm daraufhin Kontakt zum Leiter der Abteilung Musik dieses Ministeriums, Heinz Drewes, auf,108 während Meyerhoff selbst sich an den Präsidenten der Reichsmusikkammer, Peter Raabe, wandte,109 von dem ihm bekannt war, dass bei einem ähnlichen Gleichschaltungsversuch gegenüber einer privaten Musikvereinigung – dem sogenannten Schlossverein in Osnabrück – erfolgreich interveniert hatte.110 Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es dann NiedeckenGebhard, Drewes zu sprechen, der ihm zusicherte, die Herren aus Hanno Liskowsky an die Göttinger Händel-Gesellschaft, 30.5.1939, StA Göttingen, AHR  I E  2,  6 Nr.  29, Bl.  138–142; vgl. Busemann: Nonkonformismus versus Gleichschaltung (wie Anm.  1), S.  121; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 408 f. (Dok. 2.a.14). 106 Meyerhoff an Niedecken-Gebhard, 2.6.1939, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 5; vgl. Bernhard Helmich: Händel-Fest und „Spiel der 10.000“. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. u. a. 1989 (=Europäische Hochschulschriften, Reihe XXX, Bd. 32), S. 196. 107 Meyerhoff an Niedecken-Gebhard, 24.5.1939, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 5, Bl. 330. 108 Niedecken-Gebhard an Meyerhoff, 31.5.1939, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XVIII, nach Bl. 281. 109 Meyerhoff an Peter Raabe, 7.6.1939, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XVIII, Bl. 234. 110 Das berichtete Meyerhoff Niedecken-Gebhard am 3.6.1939, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 5. 105

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ver dazu bewegen zu wollen, „einen Eingriff in die bestehenden Verhältnisse möglichst behutsam vorzunehmen“.111 Meyerhoff bat auch Kreisleiter Thomas Gengler um Hilfe,112 der sich daraufhin telefonisch bei Meyerhoff meldete und zu einer Besprechung mit Oberbürgermeister Gnade riet.113 Der entscheidende Grund für das Scheitern von Liskowsky und Rolan dürfte darin bestanden haben, dass ihr Vorstoß keine Unterstützung in der Göttinger Stadtverwaltung, ja noch nicht einmal in der Göttinger Kreisleitung der NSDAP fand. Kreisleiter Gengler ließ durchblicken, dass er die „vom Reichspropagandaamt vorgeschlagene Form“ „nicht für richtig“ halte, weil er die Entstehung von „zuviel Stellen, die mitreden und nichts schaffen“, befürchte.114 Oberbürgermeister Albert Gnade, der von Liskowsky um die Be­urteilung der Denkschrift gebeten wurde,115 an den sich allerdings auch Meyerhoff hilfesuchend gewandt hatte, reagierte in seltener Interessensgleichheit mit seinem alten Widersacher116 Gengler ähnlich zögerlich117 – wie auch sein Stellvertreter, Bürgermeister Franz Claaßen, den Meyerhoff ebenfalls um Rücksprache ersucht hatte.118 Offenbar hatte Gnade die Taktik verfolgt, Liskowsky möglichst lange hinzuhalten und den Vorgang während der Urlaubszeit auszusitzen. So heißt es in einer Aktennotiz Claaßens über ein Gespräch, zu dem sich Liskowsky und dessen Vertreter Rolan Mitte Juni 1939 bei Gnade eingefunden hatten: „Auf die Frage, welche Persönlichkeit evtl. für die Leitung der Händel-Gesellschaft in Frage komme, konnte sich Herr Oberbürgermeister im Augenblick noch nicht erklären.“119 Und auf einer Aktennotiz Claaßens vom 24. Juli 1939 findet sich

Niedecken-Gebhard an Meyerhoff, 8.6.1939, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XVIII, Bl. 225. 112 Meyerhoff an Gengler, 12.6.1939, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XVIII, Bl. 206. 113 Aktennotiz Meyerhoffs, 14.6.1939, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. XVIII, Bl. 180. 114 Ebd. 115 Liskowsky an Gnade, 22.5.1939, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 111. 116 Gnade hatte bereits seit 1934 ein gestörtes Verhältnis zur Göttinger Kreisleitung  – siehe Tollmien: Nationalsozialismus in Göttingen (wie Anm. 16), S. 258. Siehe auch Anm. 15. Im Herbst 1934 hatte Gengler beim Gaugericht Südhannover-Braunschweig in Hannover den Ausschluss Gnades aus der Partei beantragt. Zwar war dieses Parteigericht dem Antrag am 2.  Januar 1945 gefolgt, doch Gnade wandte sich danach an das Oberste Parteigericht in München, das ihn am 34. Mai 1935 frei sprach (Ulrich Popplow: Die Friedensjahre: Göttingen 1933–1939, in: Göttingen unterm Hakenkreuz. Nationalsozialistischer Alltag in einer deutschen Stadt – Texte und Materialien –, Göttingen 1983, S. 59–80, hier S. 67–70). 117 Meyerhoff an Gnade, 24.5.1939, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 119. 118 Meyerhoff an Claaßen, 24.5.1939, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 127. 119 Aktenvermerk Claaßens, 21.6.1939, StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 143. 111

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ein Bearbeitungsvermerk Gnades mit einer an Claaßen gerichteten Empfehlung: „Nun müssen wir warten bis die Tage der Spannung vorüber sind.“120 Einen Tag später berichtete Meyerhoff Liskowsky, dass noch immer die Antworten des Kreisleiters und des Oberbürgermeisters ausstünden, sodass der Gesamtvorstand der Göttinger Händel-Gesellschaft noch keine Entscheidung bezüglich der geforderten „Änderung der Organisation“ getroffen habe.121 Vermutlich erwies sich dann der Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 als ein Ereignis, das den Erfolg der eingeschlagenen Hinhaltetaktik zusätzlich beförderte. * Angesichts der beiden von der Gesellschaft erfolgreich abgewehrten Übernahmeversuche der NSDAP scheint außer Frage zu stehen, dass wir es bei der Göttinger Händel-Gesellschaft mit der seltenen Ausnahme einer allen Versuchen zur Gleichschaltung widerstehenden und der nationalsozialistischen Ideologie gegenüber immunen Vereinigung zu tun haben. Doch wenn wir die drei verschiedenen Fassungen von Meyerhoffs Chronik der Göttinger Händel-Festspiele122 miteinander hinsichtlich der Einträge zu den 1930er Jahren vergleichen, so fallen beim näherer Betrachtung einige bemerkenswerte Unterschiede auf, die über die wenigen generellen Änderungen der Fassungen123 hinausgehen: An mehreren Stellen hat Meyerhoff in den beiden Nachkriegsfassungen substantielle Kürzungen gegenüber der Fassung von 1941 vorgenommen. Die meisten dieser Kürzungen finden sich bereits in der Fassung von 1953. 1970 hat Meyerhoff darüber hinaus auch noch eine weitere inzwischen politisch anrüchig gewordene Passage in der Chronik gestrichen. Dies betrifft die Teilnahme der Gesellschaft an den Feierlichkeiten zum 200-jährigen Gründungsjubiläum der Göttinger Georg-August-Universität im Jahr 1937. Nicht nur hatten im selben Jahr die Händel-Festspiele im Zeichen der Jubiläumsfeierlichkeiten gestanden, die Gesellschaft beteiligte sich auch ganz unmittelbar an dieser Propagandaveranstaltung des NS -Regimes. So wirkte das Festspielorchester an beiden „Staatsakten“ am 26. Juni mit: an der „Feierstunde der Universität“ (mit einer Auftragskomposition von Wolfgang

StA Göttingen, AHR I E 2, 6 Nr. 29, Bl. 146. Meyerhoff an Liskowsky, 25.7.1939, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Niedecken-Gebhard, Box 5. 122 Diese Fassungen sind 1941, 1953 und 1970 erschienen (s. Anm. 10 und 11). 123 Generell hat Meyerhoff 1970 darauf verzichtet, das jeweils benutzte Aufführungsmaterial und die jeweils erschienenen Festschriften zu vermerken, ferner ersetzte er den Begriff „Trachten“ durch „Kostüme“. 120 121

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Fortner) und am „Empfang durch die Stadt“ (mit einer Auftragskomposition von Werner Egk).124 Bereits 1953 strich Meyerhoff in den Angaben zum Jahr 1935 den Hinweis darauf, dass die damaligen Händel-Festspiele „im Rahmen der von der Reichsmusikkammer durchgeführten Bach-Händel-Schütz-Feier 1935“ und „unter der Schirmherrschaft des Herrn Reichsministers Rust“ stattfanden und dass der Präsidialrat der Reichsmusikkammer, Heinz Ihlert, am 23.  Juni 1935 in Göttingen eine „Festansprache“ gehalten hatte.125 Die Beteiligung Göttingens an der Deutschen Bach-Händel-Schütz-Feier 1935 war übrigens seitens der Reichsmusikkammer zunächst gar nicht vorgesehen gewesen, weil nach deren ursprünglichem Plan Veranstaltungen nur in solchen Städten stattfinden sollten, die „in einer Beziehung zum Leben von Bach, Händel und Schütz stehen“.126 Erst nachträglich konnten Meyerhoff und Kempen mit Unterstützung des Oberbürgermeisters Bruno Jung die Aufnahme der Göttinger Händel-Festspiele ins Programm der Reichs-Feier erreichen.127 Die umfangreichsten Retuschen an der Festspielchronik betreffen jedoch das Jahr 1933. Folgender Abschnitt der Fassung von 1941 ist in den Nachkriegsfassungen ersatzlos gestrichen worden: „Juni 1933: Umbildung des Vorstandes der Göttinger Händelgesellschaft e. V. Regierungspräsident Dr. Muhs übernimmt den Ehrenvorsitz, Prof. Dr. Plischke den Vorsitz. In den Vorstand treten ein: Kreisleiter Dr. Gengler; Bürgermeister Gnade; der städtische Musikbeauftragte, Archivdirektor Dr. Wilhelm van Kempen; der Direktor des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität, Professor Dr. Hermann Zenck; er ist seither der musikwissenschaftliche Fachberater der Göttinger HändelGesellschaft. Landgerichtsrat Walter Meyerhoff wird als geschäftsführendes Vorstandsmitglied wieder gewählt.“128

Was war geschehen? In der Tat übernahm damals der Regierungspräsident in Hildesheim den Ehrenvorsitz der Gesellschaft, und es traten Meyerhoffs späte Claudia Engmann und Bernd Wiechert: Erbe und Auftrag  – Die Musik bei der Zweihundertjahrfeier der Göttinger Universität im Jahre 1937, in: Göttinger Jahrbuch  40 (1992), S. 253–279; vgl. auch die spätere Kurzfassung unter den Titel Musikalische Feiergestaltung im Nationalsozialismus. Das 200jährige Jubiläum der Göttinger Universität 1937 (wie Anm. 1), S. 126–129. 125 Meyerhoff: Chronik, 1941 (wie Anm. 11), S. 13. 126 Friedrich Mahling: Deutsche Bach-Händel-Schütz-Feier 1935, in: Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer  2 (1935), S. 3; wiederabgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe /  Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 104–106 (Dok. 1.a.11.c). 127 Siehe die entsprechende Korrespondenz Kempens, StA Göttingen, AHR I E 2, 13 Nr. 21 Bd. 1. 128 Meyerhoff: Chronik, 1941 (wie Anm. 11), S. 12. 124

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rer Widersacher Gengler sowie der Leiter der Göttinger Ortsgruppe des Kampfbundes für deutsche Kultur in den Vorstand ein. Angesichts des couragierten Verhaltens Meyerhoffs in den Jahren 1939 und 1944 scheint kaum vorstellbar zu sein, dass diese Veränderungen mit seiner Billigung vonstatten gegangen sein könnten. Jedoch belegen die Quellen, dass alles sogar noch schlimmer war: Meyerhoff hat diese Entwicklung nicht nur gewollt, er hat sogar selbst die Initiative dazu ergriffen. Angesichts der nationalsozialistischen Machtübernahme glaubte er, die Tradition der Göttinger Händel-Festspiele nur durch die Selbstgleichschaltung der Göttinger Händel-Gesellschaft bewahren zu können. Die Vorbereitungen dazu hatte er im Alleingang betrieben. Er begann damit, nachdem Wolfgang Stechow am 25.  April 1933 sein Amt als Leiter der AOV niedergelegt hatte.129 Dieser Rücktritt hatte allein politische Gründe. Als Sohn einer jüdischen Mutter130 war Stechow „angesichts der politischen Umwälzungen als Dirigent der Akademischen Orchester-Vereinigung nicht mehr zu halten“, wie es Meyerhoff später formulierte.131 Aus Meyerhoffs Sicht hätte Stechow durch diesen Rücktritt auch automatisch sein Recht auf weiteres Verbleiben im Vorstand der Händel-Gesellschaft verwirkt und müsse deshalb dort durch dessen Nachfolger Wilhelm Heukeshoven (der zuvor Stechows Vertreter als Dirigent der AOV war) ersetzt werden. Wie fragwürdig diese (von S­ techow nicht geteilte)132 Argumentation war, die man wohl am treffendsten mit der psychoanalytischen Kategorie der „Rationalisierung“ charakterisieren kann, wird deutlich, wenn man sich Stechows Verbundenheit mit der

Stechow an Meyerhoff, 25.4.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 225; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 390 (Dok. 2.a.1). 130 Sie entstammte der Familie Mendelssohn Bartholdy (Werner Bischof: 100 Jahre Geschichte der AOV  – 1906 bis 2006, in: 100 Jahre Akademische OrchesterVereinigung Göttingen ­1906–2006, hg. vom Vorstand der Akademischen Orchestervereinigung Göttingen, Redaktion: Brigitte Harder, Göttingen 2006, S. 13–32, hier S. 19; siehe auch Willi und Minnie Rehkopf: Die Akademische Orchestervereinigung Göttingen, in: 75 Jahre Akademische Orchestervereinigung Göttingen 1906–1981, hg. vom Vorstand der Akademischen Orchestervereinigung Göttingen, verantwortlich für den Inhalt: Werner Bischof, Göttingen 1981, S. 19–35, hier S. 29). 131 Meyerhoff an Niedecken-Gebhard, 13.7.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 137 f.; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 395 f. (Dok. 2.a.7). 132 In einem Brief, in dem er Meyerhoff am 25. April 1933 über seinen Rücktritt als Leiter der AOV informierte (wie Anm. 129), ließ Stechow die Frage seiner weiteren Mitgliedschaft im Vorstand der Göttinger Händel-Gesellschaft ausdrücklich offen, indem er erklärte: „Über meine Stellung der Händelgemeinde gegenüber hoffe ich mich mit Ihnen nächstens einmal persönlich aussprechen zu dürfen.“ 129

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Göttinger Händel-Renaissance seit ihren Anfängen bewusst macht. Als einstiger Mitarbeiter ­Oskar Hagens an der Göttinger Universität hatte er schon 1919 als Cellist Hagens privates Kammermusikensemble komplettiert, zu dem außer Hagen auch dessen Frau Thyra Hagen-Leisner und Alfred Bertholet gehörten. Ab 1920 wirkte er dann an den Händel-Festspielen mit. Als Musiker beherrschte er vier Instrumente;133 noch am 14. Februar 1933 ist er in einem von Heukeshoven dirigierten Konzert als Solist in Mozarts G-Dur-Klavierkonzert KV 453 aufgetreten.134 Ebenso wie Hagen machte Stechow jedoch die Musik nie zu seinem Hauptberuf. Nachdem er sich 1926 an der Göttinger Universität habilitiert hatte, wurde er 1931 ebendort Extraordinarius. Dass sein Zeitvertrag an der Universität auch nach der NS -Machtübernahme noch mehrfach verlängert wurde, verdankte er der vehementen Unterstützung seines Institutsdirektors Georg Graf Vitzthum von Eckstädt (1880–1945),135 der von seinen Schülern gleichermaßen als feinsinniger, empfindsamer und kultivierter Mensch wie als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten mit ausgesprochen positiver Einstellung zu jüdischen Mitbürgern beschrieben wurde.136 Im Herbst 1936 konnte Stechow eine Einladung der Universität in Madison (Wisconsin) zu einer Vorlesungsreihe wahrnehmen  – vermutlich vermittelt durch

Ulrike Wollenhaupt-Schmidt: „Hitler hat die Bäume geschüttelt und Amerika hat ihre Früchte geerntet.“ Zur Geschichte des Kunstgeschichtlichen Seminars während des Nationalsozialismus, in: Heinrich Becker, Hans-Joachim Dahms und Cornelia Wegeler (Hg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2., erw. Aufl., München 1998, S. 469–490, hier S. 471; vgl. auch Anikó Szabó: Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Geschichte des Landes Niedersachsen [nach 1945] 15), S. 362 f. 134 Werner Bischof: Ein Eckpfeiler in der Kulturlandschaft: Die AOV Göttingen, in: Göttinger Monatsblätter, Heft 89 (Juli 1981), S. 11–13, hier S. 11. In einer von der AOV selbst besorgten Publikation zu ihrer Geschichte, der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen, wurde der dunkelste Punkt der eigenen Geschichte nicht aufgearbeitet. Das trifft insbesondere zu für den Beitrag der Zeitzeugen Willi und Minnie Rehkopf: Die Akademische Orchestervereinigung Göttingen (wie Anm. 130). 135 Wollenhaupt-Schmidt: „Hitler hat die Bäume geschüttelt und Amerika hat ihre Früchte geerntet.“ (wie Anm. 133), S. 475. 136 Ebd., S. 476. Wolfgang Stechow äußerte sich in einem Nachruf (Georg Graf Vitzthum von Eckstädt, in: College Art Journal 5 (1946), S. 241 f.) über diese Eigenschaften seines Lehrers folgendermaßen: „With the advent of political and academic tyranny in Germany, there began for him  a period of intense mental suffering which with the destruction wrought by the war, must inevitably have increased during his last years. Vitzthum was a liberal of the deepest conviction, a true friend of his friends, and one of the most courageous and uncompromising men on any German campus; none of his friends will ever forget that on the very day on which new and more stringent anti-Semitic laws were enacted by the Nazi government, he boarded a train to Berlin and, heedless of the consequences to himself, assured Max Liebermann of his inalienable friendship and admiration.“ 133

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den an derselben Universität tätigen Oskar Hagen – und nutzte dies zur Emigration in die USA .137 Meyerhoffs Ziel war es, den Vorstand der Händel-Gesellschaft komplett umzubauen. Insbesondere beabsichtigte er, die repräsentierenden Vorstands­ mitglieder – „unsere Vertretungen nach außen“, wie er sie in einem Brief an Niedecken-Gebhard nannte – „auf andere Grundlage zu stellen und mit den neuen Dingen in Einklang zu bringen“.138 In Vorbereitung auf eine Neuwahl des Vorstandes forderte er die Vorstandsmitglieder dazu auf, ihre Posten zur Verfügung zu stellen, um den Weg für Neubesetzungen freizumachen; er selbst ging dabei mit gutem Beispiel voran.139 Erst nachträglich informierte er die Vorstandsmitglieder darüber, dass er eigenmächtig längst begonnen hatte, Verhandlungen mit Nachfolgekandidaten zu führen – „mit Persönlichkeiten, die den neuen Dingen nahe stehen, aber doch die Gewähr bieten, daß sie im alten Sinne weiterarbeiten“.140 Wie andere sich 1933 selbst gleichschaltende Kulturvereine auch, suchte Meyerhoff damals Anschluss an den Kampfbund für deutsche Kultur.141 Bereits am 30.  Mai hatte er dem Göttinger Ortsgruppenleiter Hans Plischke ­(1890–1972) seinen Wunsch übermittelt, mit ihm „über die Zukunft der Händelgesellschaft im Rahmen des Kampfbundes für deutsche Kultur zu sprechen“.142 Außerdem bat er ihn, „in irgendeiner Form in den Vorstand der Göttinger Händelgesellschaft einzutreten“.143 Letztlich übernahm Plischke dann den Vorsitz in der Gesellschaft. So dürfte Meyerhoff eine am 10. Oktober 1933 an alle kulturellen Vereine in Göttingen ergangene Aufforderung der Kreispropagandaleitung der Göttinger NSDAP zum geschlossenen Eintritt in den Kampfbund144 nicht als eine Gleichschaltungsmaßnahme angesehen haben, Wollenhaupt-Schmidt: „Hitler hat die Bäume geschüttelt und Amerika hat ihre Früchte ge­ erntet.“ (wie Anm. 135), S. 475. 138 Meyerhoff an Niedecken-Gebhard, 13.7.1933 (wie Anm. 131). 139 Meyerhoff an die Mitglieder des Vorstandes der Göttinger Händel-Gesellschaft, 13.6.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 191; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 392 (Dok. 2.a.3). 140 Ebd. 141 So z. B. der Marburger Konzertverein; siehe Michael Walter: Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919–1945, Stuttgart / Weimar 1995, Reprint ebd. 2000, S. 57–64. 142 Meyerhoff an Plischke, 30.5.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 199 f. 143 Ebd. 144 Dieses an die Vorstände der kulturellen Vereine Göttingens gerichtete Schreiben (StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 103) ist unterzeichnet von Anton Woltjes (Kreispropagandaleiter) und Hans Plischke (Kampfbund für deutsche Kultur, Ortsgruppe Göttingen). 137

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gegen die man sich wehren müsste. Bereits wenige Tage später kam die Gesellschaft dieser Aufforderung nach.145 Ursprünglich hatte Meyerhoff das Amt des Vorsitzenden dem neuen Regierungspräsidenten in Hildesheim, Hermann Muhs (1894–1962), ange­boten. Im Gegenzug erklärte er seine Bereitschaft, seinen eigenen Platz im Vorstand gegebenenfalls zu räumen: „Selbstverständlich bin ich persönlich bereit zurückzutreten, wenn dies im Interesse der Sache liegt. Mir liegt nur daran, die mir anvertraute wertvolle Tradition in die Zukunft hinüberzuleiten.“146 Muhs lehnte jedoch dieses Angebot aus Arbeitsüberlastung ab. Ohnehin würde ein Eintritt in den Vorstand für ihn nur in Frage kommen, so erklärte er, „wenn in der Händelgesellschaft nicht Juden als aktive Mitglieder vorhanden sind“.147 Er war aber zur Übernahme des Ehrenvorsitzes bereit.148 Angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung und des Rücktritts Stechows hatte Meyerhoff sich auch zur Änderung der Konzertpläne der Göttinger Händel-Gesellschaft entschlossen: „Die Entwicklung der letzten Monate hat uns veranlaßt“, so Meyerhoff im Juni 1933 in einem Rundschreiben an die Mitglieder, „unsere ursprünglich für diesen Sommer vorbereiteten Pläne zurückzustellen“.149 (Geplant gewesen war, Bachs Kantate Der zufriedengestellte Aeolus BWV 205 szenisch aufzuführen.)150 Stattdessen wurde am 11. Juli unter dem Titel Stunde deutscher Musik ein „Werbeabend“ veranstaltet, der unter dem Protektorat des Rektors der Georg-August-Universität stand. In einem Brief an Stechow versuchte Meyerhoff, die von ihm eingeleitete Selbstgleichschaltung der Gesellschaft als unumgängliche Maßnahme der Zukunftssicherung zu rechtfertigen. Er wagte es nicht, seinem wichtigsten Vorstandsmitglied mitzuteilen, dass er ihn in seinen Verhandlungen über die Neu Laut Eintrittserklärung (StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd.  II, Bl. 100) erfolgte der Eintritt am 24.10.1933. 146 Meyerhoff an Muhs, 8.5.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd. II, Bl. 218 f.; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 390–392 (Dok. 2.a.2). 147 Muhs an Meyerhoff, 13.6.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr.  47, Bd. II, Bl. 177 f. 148 Ebd. 149 StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 154. 150 Zu den Gründen der Absage äußerte sich Meyerhoff am 13. Juli 1933 in einem Brief an Niedecken-Gebhard (wie Anm.  131): „Der dann aufgetauchte Plan, den ‚zufriedengestellten Aeolus‘, eine weltliche Kantate von Bach von Solisten und Tänzern unter Leitung von Fräulein [Inge] Herting, einer früheren Schülerin von Ihnen, die übrigens seit kurzem Ballettmeisterin am Kölner-Opernhaus geworden ist, aufzuführen, scheiterte an der Kostenfrage, da wir hier keinen geeigneten Chor haben. Außerdem schien es gewagt, in dieser unruhigen Zeit, wo alles mit Politik überbeschäftigt ist, größere Sachen herauszubringen, deren Verbundenheit mit der heutigen Zeit zunächst noch zweifelhaft ist oder jedenfalls vielleicht falsch verstanden worden wäre.“ 145

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besetzung des Vorstandes von vornherein als Auszuscheidenden vorgesehen hatte. Auch fand er nicht den Mut, ihn offen zum Verzicht auf eine erneute Kandidatur aufzufordern; offenbar hoffte er, dass Stechow sich aus eigener Einsicht zum Verzicht entschließen würde: „Sie können sich denken, daß ich Ihr Ausscheiden aus der A. O. V. nach unserer jahre­langen reibungslosen Zusammenarbeit außerordentlich bedauert habe. Auch die Händelgesellschaft wird nicht umhin können, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen, wenn sie überhaupt weiter wirken soll. Ich habe daher mit dem neuen Rektor, mit Professor Plischke und anderen jetzt maßgebenden Persönlichkeiten verhandelt, und es besteht begründete Aussicht, daß unsere Arbeit in der Vergangenheit nicht vergeblich war, sondern in die Zukunft hinübergeleitet werden kann. Um dies zu ermöglichen, müssen wir in der Personenfrage allerdings uns den neuen Dingen anpassen. Ich werde versuchen, diese Überleitung möglichst so vorzunehmen, daß kein Bruch in der Überlieferung entsteht.“151

Die Wahl des neuen Vorstandes erfolgte dann auf einer Mitgliederversammlung am 6. Juli genau nach Meyerhoffs Vorstellungen. Hinterher fand Meyerhoff in einem Brief an Stechow folgende gewundene Worte der Rechtfertigung und des Bedauerns: „Ich habe Ihre Wiederwahl vorgeschlagen, hielt es aber, wie Sie voraussahen für vorsichtiger, zunächst von Ihrer Wiederwahl Abstand zu nehmen. Dabei ist ausdrücklich zum Ausdruck gebracht worden, daß wir hoffen, in einigen Jahren so weit zu sein, daß wir solche Rücksichten nicht mehr zu nehmen brauchen. Ich bin ferner beauftragt, der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß Sie, der Sie mit der Händelbewegung von ihrem Beginne ab verwachsen sind, Ihren wertvollen Rat uns auch weiterhin zur Verfügung stellen werden. Ferner bin ich beauftragt, Ihnen namens der Händel-Gesellschaft herzlichen Dank für Ihre wertvolle Kulturarbeit auszusprechen.“152

Dass die von Walter Meyerhoff 1933 vorgenommene Selbstgleichschaltung der Göttinger Händel-Gesellschaft ein peinlicher Akt der Unterwerfung unter die neuen Machthaber war und dass Meyerhoff durch sein unsolidarisches Verhalten gegenüber Wolfgang Stechow moralische Schuld auf sich geladen hat, dürfte außer Zweifel stehen, jedoch sollte bei der gerechten Bewertung dieser Vorgänge mitbedacht werden, dass die damalige Aufnahme von Funk Meyerhoff an Stechow, 15.6.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 184; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 393 (Dok. 2.a.4). 152 Meyerhoff an Stechow, 13.7.1933, StA Göttingen, Kleine Erwerbungen / Nachlässe Nr. 47, Bd. II, Bl. 136; abgedruckt in: Gerlach / Klingberg / Riepe / Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 1), Teil 1, S. 394 (Dok. 2.a.6). 151

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tionsträgern des NS -Regimes in den Vorstand möglicherweise bei den späteren existenzgefährdenden Situationen zur Rettung der Gesellschaft als einer selbständigen Organisation beigetragen hat. Denn die Tatsache, dass 1939 die Übernahmepläne des Reichspropagandaamts keine Unterstützung durch Gengler und Gnade fanden und dass 1944 Gengler letztlich davon Abstand nahm, Meyerhoff zu verdrängen, dürfte auch damit zu erklären sein, dass beide Personen sich der Gesellschaft infolge ihrer dortigen Vorstandsfunktionen zu sehr verbunden fühlten, um sie rücksichtslos fallen zu lassen.

Bibliografie der Händel-Literatur 2013/14 Die folgende bibliografische Zusammenstellung enthält die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Leben, Werk und Wirkung Georg Friedrich Händels aus den Jahren 2013/14. Außerdem sind einige Titel aus den Jahren zuvor nachgetragen, die in der Händel-Literatur bisher nicht beachtet worden sind. Von der Erwähnung allgemein gehaltener biographischer Publikationen wurde ebenso abgesehen wie von Werkeinführungen in Konzertprogrammen, zu Compact Disc-Einspielungen u. ä. Die Bibliographie schließt an diejenige in Band XV unmittelbar an. Eine vollständige Zusammenfassung der Händel-Literatur aus den Jahren 1959 bis 2009 von Hans Joachim Marx ist als selbständige Publikation 2009 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienen. Die nachstehend aufgeführten Sammelpublikationen sind mit folgenden Kurztiteln zitiert: The Handel Institute London – Newsletter 24 (2013) The Handel Institute London – Newsletter 25 (2014) Göttinger Händel-Beiträge 15 (2014) Göttinger Händel-Beiträge. Begründet von Hans Joachim Marx und im Auftrag der Göttinger Händel-Gesellschaft herausgegeben von Laurenz Lütteken und Wolfgang Sandberger, Bd. XV, Redaktionelle Mitarbeit von Anorthe Kremers und Susanne Cox, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. Haendel après Haendel: Construction, renommée, influence de Haendel et de la figure Haendélienne (2013) Degott, Pierre / Dubois, Pierre (Hrsg.), Haendel après Haendel: Construction, renommée, influence de Haendel et de la figure Haendélienne (Tagungsbericht des Symposions an der Universität Tours, 18.–20. Oktober 2012), Revue Musicorum 14 (Tours 2013) Händel-Jahrbuch 60 (2014) Händel-Jahrbuch. Hrsg. von der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft e. V. Internationale Vereinigung, Sitz Halle (Saale)  in Verbindung mit der Stiftung Händel-Haus, Sitz Halle (Saale), 60. Jahrgang, Kassel usw.: Bärenreiter, 2014.

Biographisches, Historisches, Quellenstudien Baldwin, Olive / Wilson, Thelma, Handel, Eccles, and the birthday celebrations for Queen Anne in 1711, in:Musical Times 154 (2013), S. 77–84. Bazler, Corbett, The comedies of opera seria: Handel’s post-Academy operas, PhD Columbia University, New York, 2013. Bermbach, Udo, ‚Vor dem Willen zur Macht beugt sich das Recht‘. Zu Händels Agrippina, in: Ders., Opernsplitter. Aufsätze. Essays, Würzburg 2005, S. 91–98. Burrows, Donald / Coffey, Helen / Greencombe, John / Hicks, Anthony (Hrsg.), George Frideric Handel. Collected Documents. Vol. 1, 1609–1725, Cambridge: Cambridge University Press 2013, vol. 2, 1726–1734, ebd., 2014. Busch, Werner, Händel und der Wandel der Konversation, in: Ders., Englishness. Beiträge zur englischen Kunst des 18. Jahrhunderts von Hogarth bis Romney, Berlin / München 2010, S. 9–31. Harris, Ellen T., George Frideric Handel: a life with friends, New York: Norton & Company, 2014. Hunter, David, Handel at Exton, Rutland, in: The Handel Institute London  – Newsletter 25 (2014), S. [6–7].

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Berichtigung Bedauerlicherweise wurde im letzten Band der GHB, dem Jahrbuch 2014, der Beitrag von Ruth Smith, Dedications of Opera and Oratorio Librettos to the Royal Family, 1711–46, S. 69–86, fehlerhaft publiziert. Durch ein technisches Versehen wurde der im Titel angebrachte Verweis (Fußnote 1) ‚verschluckt‘ und stattdessen der Text von Fußnote 2 doppelt publiziert. Dieses ärgerliche Versehen und die daraus resultierenden Folgefehler im Fußnotenapparat bedauern die Herausgeber. Die erste Seite des Beitrags von Ruth Smith sei hier noch einmal korrekt wiedergegeben:

Dedications of Opera and Oratorio Librettos to the Royal Family, 1711–461 Ruth Smith (Cambridge) In the eighteenth century a published poem, novel or play might sit in booksellers’ outlets with no guarantee of being seen, let alone read, by a public beyond its subscribers, if any.2 But the wordbook (libretto) of a publicly performed piece of highend music theatre – an opera or oratorio – was bought, in the theatre or in advance, by a large proportion of its audience, and read, and sometimes even kept, by at least some of them. So we can posit that for an author wishing to be publicly associated with a notable patron, and / or for a patron wishing to be seen to be gracious, or prestigious, or discriminating, or all three, the dedication of an opera or oratorio wordbook would have been regarded as beneficial, whether or not any money changed hands. That would have been particularly true for Italian opera productions in London in the first part of the eighteenth century, given the prestige of Italian opera, or the prestige with which opera’s interested parties hoped to endow it in the public mind.

Music theatre as national good The international status accruing from high-quality opera is a reason given for the establishment of the Royal Academy in its prospectus (1719): Opera’s … are an Encouragement and Support to an Art [music] that has been cherished by all Polite Nations. They carry along with them some Marks of Publick Magnificence and are the great Entertainment which Strangers [visiting foreigners] share in. Therefore it seems very strange that this great and opulent City hath not been able to support Publick Spectacles of this sort for any considerable time.3 1

For this essay I am indebted to the editors of this volume for prescribing a topic with which I was largely unfamiliar; consequently I am also very indebted to those who read it in draft and improved it with references and information: Jane Clark, Helen Coffey, Ellen Harris, and, particularly, Robert Hume, David Hunter and Carole Taylor. I am especially grateful to T. V. Buttrey for translations of the often contorted Italian of the opera dedications. 2 For the years 1710–1740 an average annual London production of up to 2000 letterpress publications can be deduced from the tables in James Raven, The business of books: booksellers and the English book trade, 1450–1850 (New Haven and London, 2007), p. 149, and Michael F. Suarez, ‘Towards a bibliometric analysis of the surviving record’, The Cambridge history of the book in Britain, vol. 5, 1695–1830, eds. Michael F. Suarez & Michael L. Turner (Cambridge, 2009), pp. 39–65. The listings in Henry R. Plomer, A dictionary of the printers and booksellers who were at work in England, Scotland and Ireland from 1726 to 1775 (Oxford, 1932), suggest that during the course of 1725–50 nearly 300 booksellers operated in London. 3 PRO LC 7/3, ff 46–7, published by Judith Milhous and Robert D. Hume, ‘New light on Handel and the Royal Academy of Music in 1720’, Theatre journal 35/2 (1983), pp. 149–67, here p. 165.

Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft Im Rahmen der Mitgliederversammlung der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. wurde ein neuer Vorstand gewählt. Gerhard Scharner, Sigrid Jacobi, Dr. Dagmar Schlapeit-Beck und Prof. Dr. Andreas Waczkat, deren Amtszeit auslief, wurden von den Mitgliedern im Amt bestätigt. Zudem konnte Barbara Mirow für eine Mitarbeit im Vorstand gewonnen werden. Sie ist Programmchefin von NDR Kultur und den Händel-Festspielen auf besondere Weise verbunden: „Es ist ein kühnes und wichtiges musikalisches Unterfangen, in jedem Jahr eine Händel-Oper in einer Neuinszenierung auf die Bühne zu bringen. Dies erfordert auch kulturpolitisch großes Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit und Enthusiasmus. Wir freuen uns, dass NDR Kultur schon über 40 Jahre – seit 1971 – musikalischer Partner ist. Es gibt für mich auch biografisch einen besonderen Berührungspunkt mit den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen. So gehörte mein Urgroßvater seinerzeit zu den Gründern bzw. Finanziers der Festspiele. Sehr gerne unterstütze ich die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen durch eine Mitarbeit in der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V.“. Bei seiner konstituierenden Sitzung am 17.9. hat der Vorstand Gerhard Scharner und Wolfgang Sandberger als (stellvertretende)  Vorsitzende bzw. Geschäfts­ führende Vorstände bestätigt. Kaum drei Monate nach der Premiere bei den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen 2014 ist mit der Oper Faramondo im September bereits die zweite CD der Festspiel-Edition in Zusammenarbeit mit Note 1, Accent und NDR Kultur erschienen. Die Pressestimmen sind exzellent – „Artfully paced and brilliantly detailed“ urteilte beispielsweise das BBC Music Magazine. Die CD ist – wie auch der Mitschnitt von Siroe, Re di Persia von 2013 – im Fachhandel und in der Geschäftsstelle der Gesellschaft im Hainholzweg 3 erhältlich. Im März 2014 erscheint dann bereits der Mitschnitt des Oratoriums Joshua. Auch 2014 durfte sich das Publikum wieder auf vier vielversprechende Nachwuchsensembles in der Göttinger Reihe Historischer Musik in der Aula der Universität freuen. Beim Konzert des Schweizer AbChordis Ensembles am 15.  Januar 2015 konnte ein besonderen Ehrengast begrüßt werden: die Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur Dr. Gabriele HeinenKljajić, die auch die Schirmherrschaft über den Wettbewerb übernommen hat: „Ich finde es vorbildlich, mit welch großem Engagement sich die Göttinger Händel-Gesellschaft gemeinsam mit Partnern aus ganz Europa für junge

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Ensembles einsetzt“. Welches Ensemble die „Göttinger Reihe Historischer Musik“ gewinnen wird und damit am 23. Mai 2015 bei den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen auftreten darf, klärt sich nach dem letzten Konzert am 5. März 2015. Der Wettbewerb, der mittlerweile seit über zehn Jahren besteht, erhält seit 2014 eine noch stärkere internationale Ausrichtung. Unter dem Titel „eeemerging“ haben sich die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen und die Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. mit sieben internationalen Partnern zu einem Projekt-Netzwerk zusammengeschlossen und ein europäisches Stipendienprogramm entwickelt. Ziel ist es, junge Ensembles für Alte Musik nicht nur musikalisch zu fördern, sondern sie u. a. auch auf Gebieten wie Marketing und Musikvermittlung professionell auf den internationalen Markt vorzubereiten. Für dieses ambitionierte Vorhaben erhalten die Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. und die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen eine Förderung der Europäischen Union aus dem Programm „Kreatives Europa“ – gemeinsam mit der Europäischen Barockakademie Ambronay (Frankreich), Ghislieri Musica in Pavia (Italien), dem Early Music Centre of the National University of Music of Bucharest (Rumänien), Ars Ramovš Ljubljana (Slowenien), dem National Centre for Early Music in York (Großbritannien), dem Riga Early Music Centre (Lettland) und der französischen Filmproduktionsgesellschaft Ozango aus Strasbourg. Ziele der Kooperationspartner sind u. a. die besten aufstrebenden Ensembles Europas aufzuspüren und ihnen ein spezialisiertes Wissen zu den Arbeitsbereichen Organisation, Marketing und Musikvermittlung zu geben. Die in einem strengen Verfahren ausgewählten Ensembles können das Stipendienprogramm bis maximal drei Jahre in Anspruch nehmen. 1,5 ist wahrlich kein schlechter Notendurchschnitt. 120 Seiten stark ist die Auswertung der repräsentativen Umfrage, die das Geographische Institut der Georg-August-Universität im Rahmen der letzten Internationalen HändelFestspiele Göttingen unter rund 700 Besuchern und Mitgliedern durchgeführt hat. Dabei standen Fragen nach der künstlerischen Qualität, der Atmosphäre, den Veranstaltungsorten oder dem Informationsangebot ebenso im Fokus wie die Infrastruktur. Eine Frage, die auch unsere Mitglieder immer wieder interessiert: 50 % eine historische Inszenierung der Oper, 50 % eine zeitgenössische oder beide Formen im Wechsel. Herzlichen Dank an alle, die sich an der Umfrage beteiligt haben. Fast 100 Künstler aus zahlreichen Göttinger Kultureinrichtungen verwandelten bei der KUNST Gala am 25. Januar 2015 die Stadthalle in eine lebendige

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Flaniermeile. Als „Special Guest“ begeisterte Ulrike Schneider, die Haupt­ darstellerin aus der Oper Agrippina, das Göttinger Publikum schon vor der Premiere. Beim Händel-Talk konnten sich interessierte Besucher bei Wein und hochkarätiger Musik mit anderen Gästen, Künstlern und Musikexperten austauschen. Zwei Gesprächsrunden zu verschiedenen Themen steigerten über das Frühjahr 2015 die Vorfreude auf die Festspiele. Vom 14.  bis zum 25.  Mai 2015 dreht sich bei den Internationalen HändelFestspielen Göttingen alles um das Motto „Heldinnen!?“. Schirmherr ist erneut der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. Im Zentrum steht die Oper Agrippina  – der Künstlerische Leiter Laurence Cummings dirigiert bei der Premiere am 15. Mai 2015 und den fünf weiteren Vorstellungen das aus internationalen Spitzenkräften der Barockmusikszene zusammengesetzte FestspielOrchester Göttingen. Neben den Oratorien Theodora und Deborah steht auch ein Auftritt des jungen Spitzen-Ensembles Ghislieri Musica aus Pavia auf dem Programm. Weitere Star-Gäste in Göttingen und der Region sind S ­ arah ­Connolly, Carolyn Sampson, María Espada, Hille Perl, Donna Leon, Dorothee O ­ berlinger, Ann Hallenberg, Robin Blaze und Maurice­ Steger. Insgesamt präsentieren die Festspiele ca. 100 Veranstaltungen, davon über 30 Konzerte und Opernvorstellungen mit insgesamt rund 550 Künstlern. Bei einem Sonderkonzert am 14. November 2015 wird nach langer Zeit endlich wieder Publikumsliebling Dominique Labelle in Göttingen zu Gast sein. Gemeinsam mit Laurence Cummings und Mitgliedern des FestspielOrchesters Göttingen wird sie mit Arien von Händel schon auf den Festspieljahrgang 2016 einstimmen. Dann rücken übrigens die Netzwerke um Händels Person und in seinen Werken in den Mittelpunkt. Unter anderem können Sie die Oper­ Imeneo und das Oratorium Susannah erleben. Wolfgang Sandberger / Tobias Wolff